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]]> Fischer, Theobald. Beiträge zur Physischen
Geographie der Mittelmeerlöuder. S. 428.
"
Florenz, K. Geschichte der japan. Literatur. S.415.,
"
Frey, Karl. Michelangelo Buonarroti. S. 33.
"
> s sind in unsrer heutigen mit Riesenschritten vorwärtstreibenden
Zeit nicht mehr die großen Heere allein, die unser Interesse in
Anspruch nehmen, wenn es sich um Fragen der Landesverteidigung
handelt, sondern es ist nicht minder die fortschreitende Entwicklung
I der Flotten, die uns beschäftigt und unsre volle Aufmerksamkeit
verlangt, wenn wir uns ein Bild machen wollen von den Machtmitteln, über
die die Staaten verfügen zur Wahrung und zum Schutze ihrer Grenzen und
Rechte. Während aber auch in Laienkreisen häufig sehr gute Kenntnisse über
das eigne und manches fremde Heer verbreitet sind, fehlen solche, zuweilen
selbst in militärischen Kreisen, über die Mariner der Welt. Ein kurzer Rück¬
blick und Ausblick auf diesem Gebiete mögen darum die etwa vorhandnen Lücken
ausfüllen und das allgemeine Interesse für die schwimmenden Wehrkräfte der
Nationen stärken.
Die Fortschritte, die die deutsche Flotte in ihrem Ausbau während des
Jahres 1907 gemacht hat, sind fast auf allen Gebieten zahlreich gewesen, sodaß
sie mit einem nicht unwesentlichen Zuwachs und vielfachen Verbesserungen in
das neue Jahr treten konnte. Was zunächst die im Laufe des vorigen Jahres
in Dienst gestellten Schiffe anlangt, so rechnen dazu das Linienschiff Pommern,
der große Kreuzer Scharnhorst, die kleinen Kreuzer Danzig und Königsberg,
außerdem drei Hilfsschiffe. Dazu sind bis jetzt in diesem Jahre das Linienschiff
Hannover, daH Mitte Februar aus dem Probcfahrtsverhältnis entlassen wurde,
der große Kreuzer Gneisenau, der am 20. Februar mit den Probefahrten be¬
gonnen hat, und der Bergungsdampfer Vulkan hinzugekommen. Unsre Kriegs¬
flotte hat danach im Zeitraum eines Jahres eine Vermehrung von zehn Schiffen
erhalten. Die Zahl der Stapellüufe war im vorigen Jahre nicht groß, denn
außer den erwähnten drei Hilfsschiffen wurden nur die beiden kleinen Kreuzer
Stettin und Dresden zu Wasser gelassen. Von diesen Fahrzeugen konnte
Stettin schon im Oktober v. I. mit seinen Probefahrten beginnen. Für die
nächsten Stapelläufe kommen in Frage, nachdem erst am 7. März die Nassau,
das erste der 18000-Tonnen-Schiffe unsrer Flotte, zu Wasser gelassen worden
ist, das Linienschiff Ersatz Sachsen, der große Kreuzer L (voraussichtlich am
11. April d. I.) und der kleine Kreuzer Ersatz Pfeil, und behufs baldiger Dienst¬
bereitschaft handelt es sich um die Linienschiffe Schleswig-Holstein und Schlesien
sowie um die kleinen Kreuzer Stuttgart und Nürnberg. Außer diesen Schiffen
sind-mif Grund der im vorigen Jahre vom Reichstag bewilligten Mittel noch
im ersten Baustadium die Linienschiffe Ersatz Württemberg und Ersatz Baden,
der große Kreuzer V, die kleinen Kreuzer Ersatz Greif und Ersatz Jagd sowie
eine Torpedobvotsflvttille.
Diesen Wegen des Fortschritts in der Entwicklung der deutschen Kriegs¬
flotte schließt sich das für das Jahr 1903 vom Reichstag angenommne Flotten¬
budget und die mit ihm verbundne neue Marinevorlage an. In dem Etat sind
die ersten Raten für drei Linienschiffe, Ersatzbauten für Oldenburg, Siegfried
und Beowulf, für einen großen und zwei kleine Kreuzer sowie für ein Flu߬
kanonenboot und zwölf Hochseetorpedoboote gefordert worden; außerdem wurden
7 Millionen zur Beschaffung von Unterseebooten und zu Versuchen damit
bewilligt, nachdem das von der Germaniawerft hergestellte erste deutsche
Unterseeboot II 1 zu so befriedigenden Ergebnissen geführt hat. Nach der neuen
Marinevorlnge sollen wir bis zum Jahre 1914 in den Besitz eines Doppel¬
geschwaders von zusammen sechzehn Linienschiffen des sogenannten Dreadnought-
typs kommen. Die Erhöhung des Geldbedarfs durch diese neue Vorlage
entspricht ungefähr den durch die Vorlage von 1906 geschaffnen Verhältnissen,
die die Leistungsfähigkeit der Marine um etwa 35 Prozent gegen früher zu
steigern bestimmt war. Auch der Personalbestand der Flotte wird nach dem
diesjährigen Etat wieder erhöht werden, indem er auf 50323 Köpfe gebracht
worden ist, was einem Mehr von 3576 Mann gegen das Jahr 1907 gleichkommt.
Die größten Mehreinstellungen werden bei den Matrosendivisionen stattfinden;
diese werden sich allein auf 3043 Köpfe stellen; es werden dann folgen die
Matrosenartillerie mit 182 Mann, die Marineinfanterie mit 136 Köpfen, während
die Mannschaften der Beklcidungsümter um 48 Mann verringert werden.
Die im vergangnen Jahre in Hochseeslotte unbenannte aktive Schlachtflotte
hat nunmehr die beiden letzten Linienschiffe der Brandenbnrgklasse gegen Pommern
und Hannover umgetauscht. Hierdurch gewinnt sie nicht allein an Kampfkraft
und Homogenität, sondern es wird auch die Höchstgeschwindigkeit des Flotten¬
verbandes um 1,5 Seemeilen erhöht. Die Zusammensetzung der Hochseeflotte
für 1908 ist folgende: außer dem Flottenflaggschiff Deutschland enthält das
erste und das zweite Geschwader acht und sieben Linienschiffe und je einen
kleinen Kreuzer und die Aufklärnngsschiffe, die in zwei Gruppen gegliedert sind,
von denen eine jede fünf Kreuzer zählt.
Einen weitern Fortschritt in organisatorischer Hinsicht hat die deutsche
Marine durch die Erweiterung des Minenwesens gemacht, das durch die Lehren
des russisch-japanischen Kriegs außerordentlich an.Bedeutung gewonnen hat.
Die ersten Anfänge nach dieser Richtung bildeten im Jahre 1905 die Aufstellung
einer Minenkompagnie und bald darauf die Formation einer Minensuchdivision.
Die Erfahrungen ergaben, daß bei den hohen Anforderungen, die an diese
neuen Einheiten gestellt werden mußten, mit den vorhandnen Kräften nicht
auszukommen sei. Infolgedessen wurden im vorjährigen Etat die Erweiterung
der Minenkompagnie durch Aufstellung einer zweiten Kompagnie zur Minen¬
abteilung und die Bildung einer zweiten Minensuchdivision vom Reichstag
genehmigt. Die Minenabteilung, für den Dienst an Land bestimmt, hat, abgesehn
von den Offizieren, eine etatsmüßige Stärke von 11 Oberdcckoffiziercn, 21 Deck¬
offizieren, 2 Feldwebeln, 4 Vizefeldwebeln und 609 Unteroffizieren und Gemeinen.
Jede Minensuchdivision setzt sich aus zwölf Torpedobooten, einschließlich eines
Führerbootes, zusammen, alle drei Minenformationen sind in Cuxhaven stationiert.
Nachdem demnächst der zweite Minendampfer Albatroß in Dienst gestellt sein
wird, wird voraussichtlich noch in diesem Jahre jede der beiden Minensuch-
divisionen mit einem Dampfer versehen werden.
Als wesentliche Neuerung in der deutschen Marine, deren Vorteile sich erst
in diesem und in den folgenden Jahren bemerkbar machen werden, sind endlich
noch die neuen Bestimmungen über Einstellung und Ausbildung der Schiffs¬
jungen zu nennen. Die Hauptquelle für den seemännischen Unteroffizier- und
Deckoffizierersatz bildet bekanntlich die Schiffsjungendivision in Friedrichsort.
Bisher dauerte die Ausbildung der Schiffsjungen anderthalb Jahre; doch hat
diese Zeit nicht immer genügt, die wünschenswerte seemännische und moralische
Durchbildung zu erreichen. Es ist deshalb für die Zukunft eine Gesamtcms-
bildungszcit von zwei Jahren in Aussicht genommen, und mit dieser Ausbildungs¬
verlängerung soll zugleich der Übergang zu einer grundsätzlichen Ausbildungs¬
änderung eingeleitet werden. Der Anfang damit ist schon im vorigen Früh¬
jahr mit der Einstellung der Freya als modernes Schulschiff an Stelle der
bisherigen Schiffe der Stoschklasse gemacht worden. In diesem Jahre sollen zu
denselben Zwecken noch die Viktoria Luise und Hertha hinzukommen, und 1909
sollen die Hansa und die Vineta als weiterer Bestand zum Schulschiffmaterial
übertreten. Der veränderte Ausbildungsplan hat außerdem eine Verlegung - des
Einstellüngstevmins der Schiffsjungen vom Frühjahr auf den Herbst not¬
wendig gemacht. ^ ,, ^ .
An der Spitze der Hauptseemächte steht der Zahl der Schiffe nach immer
noch die englische Flotte. Trotz aller Abrüstungs-und Friedensbeteuerungen
wird der Grundsatz des „Zweimächteverhältnisses" nicht nur nicht aus der Hand
gegeben, sondern im Gegenteil noch weiter ausgedehnt. Das-ist in unzwei¬
deutigster Form nach dem Ergebnis der Haager Friedenskonferenz im
Herbst v. I. in die Erscheinung getreten. Denn kaum hatten diese Beratungen
ehr Ende gefunden, da trat die englische Admiralität mit dem Beschluß hervor,
noch das dritte der im Marinehaushalt von 1907/08 ncugefordertcn drei
Linienschiffe in Bau zu geben. Bei den Beratungen im Parlament über diesen
Etat war ausgesprochen worden, daß das Schicksal dieses dritten Linienschiffes
von dem britischen Abrüstungsvorschlag, der im Haag gemacht werden sollte,
abhängig zu machen sei. In Wirklichkeit aber hatten Negierung und Volks¬
vertreter wohl von vornherein auch mit diesem Schiff gerechnet. Denn nur so
erklärt es sich, daß der Baubeginn der beiden im vorigen Frühjahr fest be¬
willigten Schiffe bis jetzt hinausgeschoben worden ist. Man will die drei Schiffe
zusammen bauen, um einheitlich bauen zu können und bei allen dreien die
jüngsten Erfahrungen auszunutzen. Die Schiffe sollen einen verbesserten
Dreadnought-Typ darstellen und deren Maße nicht unwesentlich übertreffen.
Über die schwere Armierung gehen die Angaben noch auseinander. Während
die einen wissen wollen, daß, trotz aller Dementis, die Aufstellung neuer Ge¬
schütze von 34,3 Zentimeter Kaliber beabsichtigt sei, melden andre Nachrichten,
daß für die schweren Geschütze der neuen Schiffe das bisherige Kaliber von
30,5 Zentimeter beibehalten und nur ihre Nohrlünge von 45 auf 50 Kaliber
erhöht werde. Se. Vincent, Collingwood und Vanguard, von denen die erste
am 30. Dezember v. I. in Portsmouth begonnen wurde, die zweite am
3. Februar d. I. in Devonport in Angriff genommen ist und Vanguard auf einer
Privatwerft bald folgen wird, sollen danach ein Deplacement von 20900 Tonnen
(Dreadnought 19500 Tonnen) erhalten, eine Länge von 152,4 Metern und
eine Breite von 25,6 Metern haben und mit 10 30,5-Zentimeter-K/50-Ge-
schützen und 20 10,2-Zentimeter-Geschützen bestückt werden. Außer diesen drei
Linienschiffen sind im vorjährigen Marineetat noch ein schneller ungepanzerter
Kreuzer, fünf Hochseetorpedvbootszerstörer, zwölf Torpedoboote erster Klasse
und zwölf Unterseeboote gefordert worden; es ist also nahezu das gleiche Pro¬
gramm aufgestellt gewesen, wie es im Jahre 1906 vorlag.
Die Zahl der im Jahre 1907 zur Ablieferung gelangten Schiffe ist nicht
groß und steht in dieser Hinsicht hinter dem vorhergehenden Jahre zurück.
Erstmalig in Dienst gestellt wurden das Linienschiff Dreadnought, die Panzer¬
kreuzer Warrior, Achilles, Natal und Cochrane, acht Unterseeboote vom L-Typ
und das Werkstattschiff Cyclops. Zahlreich sind dagegen die Stapelläufe
großer Schiffe gewesen, denn die drei Linienschiffe der Temeraire-Klasse und
vier Panzerkreuzer, darunter drei von der vielbesprochnen Jnvincible-Klasse
(17527 Tonnen), wurden zu Wasser gelassen. Es wird von Interesse sein,
ob sich die Erwartungen der Admiralität bestätigen, daß diese sieben Schiffe,
dazu noch die Schlachtschiffe Lord Nelson und Agamemnon, die 1906 vom
Stapel gelaufen sind, und die Panzerkreuzer Shannon und Defence schon in
diesem Jahre in die Front treten können. Dadurch würde die englische Flotte
im Jahre 1908 einen Zuwachs von fünf Linienschiffen und sechs Panzerkreuzern
erhalten.
Von einer Einschränkung der englischen Flottenrüstungen ist nach dem
jetzt vorliegenden Marinebudget für das Etatsjahr 1903/09 vorläufig noch keine
Rede; weist es doch eine Steigerung von 31419000 Pfund Sterling auf
32319500 Pfund auf. Verhältnismäßig klein ist allerdings die Zahl der
Schiffe, die im neuen Rechnungsjahr auf Stapel gelegt werden sollen; nämlich
an großen Schiffen nur zwei (ein Schlachtschiff vom verbesserten Dreadnought-
typ und ein Panzerkreuzer). Diese geringe Zahl hat aber sehr wohl ihre Be¬
gründung, da die Werften noch reichlich von den vorigen Jahren her mit Bau¬
aufträgen versehen sind, und die fortgesetzten Streiks der Arbeiter auf den
Werften die Fertigstellung dieser Schiffe nicht gerade begünstigen. Außerdem ist
von amtlicher englischer Seite schon erklärt worden, daß im Etatsjahr 1909/10
wieder verstärkte Flottenneubauaufträge in Frage stehn. Angeblich sollen allein
sechs Linienschiffe gefordert werden. Auch wird man in der Annahme nicht
fehlgehn, daß weitere Konstruktionsneuerungen bei den Schiffen, über die
gegenwärtig noch nicht endgiltig entschieden ist, mit ein Grund für die dies¬
maligen verhältnismäßig bescheidnen Forderungen waren. ,
Groß dagegen ist die Zahl der neugeforderten schnellen und geschützten
kleinen Kreuzer, nämlich sechs. Die englische Flottenleitung holt jetzt in dieser
Frage nach, was sie in den letzten Jahren zugunsten des Baues der großen
Schiffe verabsäumt hat. Interessant ist es. daß man die kleinen Kreuzer heute
wieder mehr zur Geltung kommen läßt, die für den Aufklärungsdienst so un¬
erläßlich sind, und die immerhin ein wichtiges Glied in der gesamten Schlacht-
flotte bilden. Auf deu weitern Ausbau der Torpedobootsflottillen wird nach
wie vor das größte Gewicht gelegt; es sollen nicht weniger als sechzehn Zer¬
störer auf Stapel gelegt werden, obgleich die englischen Flottenlisten gerade
von diesen Schiffen eine recht bedeutende Menge aufweisen. Wie sehr man
in der englischen Flottenleitung gerade dem Unterseebootswesen das größte
Interesse widmet, beweist die Bereitstellung von einer halben Million Pfund
für diese Zwecke.
Die wesentlichste Neuerung, die die englische Flotte neuerdings durch¬
geführt hat, ist die Neuverteilung der Geschwader. Ihre Zweckmäßigkeit wird
sich in vollem Umfang erst im Laufe dieses Jahres zeigen können, da im
vorigen Jahre an den ersten Bestimmungen häufig Änderungen vorgenommen
werden mußten, die teils durch die Einstellung inzwischen fertig gewordner
Schiffe, teils durch die im Verlaufe von Übungen gesammelten Erfahrungen
veranlaßt worden sind. Gegenwärtig werden unterschieden: die Kanalflotte,
die sich aus vierzehn Linienschiffen und dem ersten Kreuzergeschwader, mit vier
Panzerkreuzern zusammensetzt, dann die Atlantische Flotte mit sechs Linien¬
schiffen und dem zweiten Kreuzergeschwader mit vier Panzerkreuzern , ferner
die Mittelmeerflotte mit sechs Linienschiffen und dem dritten und vierten
Kreuzergeschwäder mit vier und drei Pattzerkreuzern und drei geschützten
Kreuzern ab endlich die Heimatflotte. Sie bildet den wesentlichsten Teil der
Mnzen Neuorganisation und setzt sich zusammen aus drei Divisionen (die Norx-i
-portsmouth- und Devonportdivision) von Linienschiffen mit zusammen achtzehn
Schiffen und dem fünften Panzerkreuzergeschwader, ferner aus den drei Reserve-
torpedobootsflottillcn der drei großen Kriegshafen sowie aus den in den Häfen
von Portsmouth und Devonport gebildeten Lpsois-I Lervios Vessels Division^
dazu gehören heute dreizehn ältere Linienschiffe mit vermindertem Mannschasts-
stande, die im Kriegsfall schon vier Tage nach erfolgten, Mobilmachungsbefehl
verwendungsbereit sein sollen.
Beider französischen Flotte hat sich im vorigen Jahre Minister Thomson
weiter bemüht, die vielen Fehler und Versäumnisse seines Vorgängers Pelletan
allmählich wieder gut zu machen. Seine Bemühungen, die natürlich noch nicht
am Ziele sein können, sind von allen Parteien und von der Presse anerkannt
worden. Erreicht hat der Minister bis jetzt, daß sämtliche Neubauten aus dem
Flottengesetz des Jahres 1900, deren Fertigstellung M. Pelletan solange ver¬
zögert hatte, endlich abgeliefert und zum wesentlichen Teil schon in den Front¬
dienst übernommen worden sind. . Das gilt insbesondre von den Linien¬
schiffen Republique, Patrie und Democratie, die schon dem Mittelmcergeschwader
angehören, während die drei übrigen Justice, Liberte und Verite nach den
schon vollendeten Probefahrten noch im Laufe dieses Frühjahrs den Front¬
dienst aufnehmen sollen. Von den fünf Panzerkreuzern des Bauprogramms
von 1900 stehn drei, Leon Gambetta, Jules Ferry und Victor Hugo, schon
in Dienst, und Jules Michelet und Ernest Renan haben ihre Probefahrten
nahezu beendet. Die nächsten Neubauten großer Schiffe, die jetzt an die Reihe
kommen, sind die sechs Linienschiffe der Dantonklasse; von ihnen konnten die
letzten vier erst im vorigen Jahre vergeben werden, da die Entwürfe immer¬
fort geändert wurden. Auf diese Weise wird die französische Flotte nicht vor
dem Jahre 1910 mit einem Zuwachs an Linienschiffen rechnen können. Über
die Neubauten für dieses Jahr hat sich der Minister im Parlament dahin aus¬
gesprochen, daß Forderungen für große Schiffe schon deshalb nicht gestellt
werden können, weil sämtliche Staats- und Privatwerften durch die ihnen zu
Ende des Jahres 1906 zugeteilten Aufträge derart für das Jahr 1908 in An¬
spruch genommen seien, daß sie keine neuen Bestellungen annehmen könnten.
Auf der andern Seite sei es aber nötig, in der Herstellung kleiner Schiffs¬
einheiten, namentlich der Torpedo- und Unterseebootsflottillen, fortzuschreiten,
um allmählich den Stand zu erreichen, der im Interesse der Landesverteidigung
unerläßlich sei. Nach diesen Grundsätzen forderte M. Thomson alles in allem
für dieses Jahr nur die Mittel zur Herstellung von zehn Torpedobootszerstörern
und fünf Unterseebooten. ' ^ ^ , , - / > i , .
In der deutschen Presse ist nun vielfach die Ansicht verbreitet worden, die
französische Regierung beabsichtigte, zu dem Marineetat für 1903 noch mit
einem sehr bedeutenden Nachtragskredit hervorzutreten. Das ist ein Irrtum.
Der oberste Marinerat hat dagegen schon -jetzt ein neues Flottenprogramm,
das mit dem Jahre 1909 in Kraft treten soll, aufgestellt, über das auch schon
Einzelheiten in die Öffentlichkeit gedrungen sind. In der Hauptsache handelt
es sich dabei um den Bau von sechs Schlachtschiffen, die eine Wasserverdrängung
von 20000 bis 21000 Tonnen erhalten und, mit Turbinenmaschinen versehen,
eine Geschwindigkeit von 20 Knoten erreichen sollen. Auch die Armierung
dieser Schiffe scheint schon festzustehn. Es ist darüber in den Sitzungen des
obersten Marinerats zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen zwischen den
Gegnern und den Anhängern einer nur einkalibrigen Bestückung für die schwere
Artillerie und über den Wegfall der mittlern Artillerie. Das Ergebnis ist,
daß die zu beantragenden sechs Schlachtschiffe mit je sechs 30,5 Zentimeter-, acht
24 Zentimeter- und achtzehn 10 Zentimeter-Geschützen ausgerüstet werden sollen.
Unter den organisatorischen Maßnahmen bei der französischen Flotte ist
die Neuverteilung der Geschwader hervorzuheben. Danach setzt sich das Mittel¬
meergeschwader aus zwölf modernen Schlachtschiffen und sechs Panzerkreuzern
zusammen, von denen jedoch nur je die Hälfte das ganze Jahr mit voller
Bemannung, die andre Hälfte mit verringerten Stande in Dienst gehalten
wird. Das Geschwader des Atlantischen Ozeans wird aus zwei Divisionen
von je zwei Panzerkreuzern gebildet, außerdem sind in den Häfen der Nord¬
küste noch drei ältere Linienschiffe Und neun Küstenpanzer als Reserve stationiert.
Zum asiatischen Geschwader endlich zählen nur ein Panzerkreuzer und drei
geschützte Kreuzer.
Die Flotte der Vereinigten Staaten von Nordamerika stand gegen Ende
des vorigen Jahres und steht erst recht heute unter dem Zeichen der Fahrt des
atlantischen Geschwaders von Hampton Roads nach San Franzisko, einer
Entfernung von 15772 Seemeilen, die in der Zeit vom 16. Dezember v. I.
bis zum 10. April d. I. zurückgelegt werden soll. Durch dieses schwierige
Unternehmen, an dem allein sechzehn Linienschiffe beteiligt sind, und das zur
Vereinigung fast des gesamten Bestandes der amerikanischen Flotte in den
Gewässern des Stillen Ozeans führen wird, hat die Union am besten bewiesen,
daß alle Gerüchte über die Rückständigkeit und Minderwertigkeit ihres Kriegs¬
schiffmaterials aus schlecht unterrichteten Quellen verbreitet worden sind. Aller¬
dings hat es ja Zeiten gegeben, wo der Kriegsschiffbau in Amerika ins Stocken
geraten war, und wo auch die Wertschätzung einer starken Flotte an den ma߬
gebenden Stellen nicht klar genug erkannt schien. Aber seitdem Präsident
Noosevelt am Staatsruder steht, sind diese trüben Bilder vom Horizont ver¬
schwunden, und alle Hände sind an der Arbeit, dem Sternenbanner auch auf
dem Meere seinen hohen Rang zu erhalten. Nur ein Vorwurf ist erhoben
worden, daß wenn nämlich Admiral Evans demnächst an der kalifornischen
Küste eine so starke Macht von neunzehn Schlachtschiffen, zehn Panzerkreuzern
und sieben geschützten Kreuzern unter seinem Befehl vereinigen werde, die Ost¬
küste der Vereinigten Staaten auf lange Zeit ohne hinreichenden Schutz sei.
Dieser Einwand trifft jedoch nicht zu. wie aus den letzten amtlichen Ver¬
öffentlichungen hervorgeht. Hiernach steht an dieser Küste, ganz abgesehen
von den vierundzwanzig befestigten Häfen, die gegen jeden Angriff gut armiert
sind, zunächst der nicht unbeträchtliche Restbestand des atlantischen Geschwaders
aus vier Linienschiffen, zwei Panzerkreuzern, drei geschützten Kreuzern und
zwölf Unterseebooten zu sofortiger Verwendung bereit. Und dann ist doch
noch die stattliche Anzahl von neun großen und vielen kleinen Neubauten
vorhanden, die sehr wohl den Kern eines ganz neuen atlantischen Geschwaders
bilden können. Von den neun großen Schiffen sind die Linienschiffe Mississippi,
Idaho und New Hampshire (die beiden ersten von je 13200 Tonnen, das
letzte von 16250 Tonnen) sowie die beiden Panzerkreuzer North Carolina
und Montana von je 16000 Tonnen in diesem Augenblick schon so gut wie
verwendungsbereit. Die Linienschiffe South Carolina und Michigan von
je 12620 Tonnen sollen im Laufe des nächsten Jahres abgeliefert werden,
und die beiden jüngsten Neubauten aus dem letzten Etat New Aork (früher
Delaware) und North Dakota von 20000 Tonnen sind schon ziemlich weit
vorgeschritten.
Trotzdem also die amerikanische Flotte, wie aus dieser kurzen Übersicht
hervorgehn dürfte, zahlreich und mächtig ist, halten Präsident Roosevelt und
mit ihm die Regierung dafür, daß auf dem Wege der Schiffsvermehrung
weiter gegangen und angestrebt werden müsse, daß die amerikanische Flotte all¬
mählich den zweiten Platz unter den Seemächten erreiche. In Ausführung
dieser Gedankenrichtung hatte der Staatssekretär für die Flotte, Metccilf, dem
Kongreß einen Voranschlag für das Etatsjahr 1908/09 vorgelegt, der allein
für den Bau neuer Schiffe die hohe Forderung von mehr als 69 Millionen
Dollar enthielt. Es sollten dafür u. ni. nicht weniger als vier Schlachtschiffe
gebaut werden, und Mr. Metcalf hatte dazu erklärt, daß sich seine Forderungen
im wesentlichen auf den Bericht des SörMg.1 Log.r<Z ok t-Ks Mo^ und des
Loarä ok (üovstruotion stützten, die übereinstimmend die Dringlichkeit der bean¬
tragten Neubauten befürwortet hätten. Der Ausschuß des Repräsentanten¬
hauses, der sich zunächst mit dem Programm des Ministers zu beschäftigen
und es zu prüfen hatte, scheint aber von der Notwendigkeit so hoher Be¬
willigungen nicht in gleichem Maße überzeugt zu sein wie die Antragsteller.
Denn er hat unter Betonung der allgemein friedlichen politischen Lage und mit
dem Hinweis auf das Wünschenswerte einer Einschränkung der Rüstungen bei
allen Nationen nur zwei Schlachtschiffe vom DelawaretYP und außerdem noch
zehn Zerstörer und acht Unterseeboote für das nächste Etatsjahr bewilligt.
Die italienische Flotte hat dank der Energie und Tüchtigkeit des
Marineministers Mirabello im Jahre 1907 mancherlei bemerkenswerte Fort¬
schritte gemacht. Die Früchte dieser Rührigkeit sowohl auf organisatorischem
wie auf schiffbautechnischem Gebiet werden sich allerdings wohl erst im Laufe
der Jahre bemerkbar machen, denn ein solcher Stillstand wie der, in den das
gesamte Marinewesen Italiens aus vielen, schon oft besprochnen Gründen ge¬
raten war, läßt sich nicht mit einem Male überwinden. So wird also auch
der Zuwachs an großen Schiffen, den die Flotte Italiens erhalten soll, erst in
diesem Jahre einen etwas nennenswerter,! Umfang annehmen und die beiden
Schlachtschiffe Vittorio Emanuele und Napoli vom Regina Elena-Typ um¬
fassen; außerdem werden die Panzerkreuzer San Marco, Amalfi und San
Giorgio schon im Frühjahr zu Wasser gelassen, um zusammen mit dem Kreuzer
Pisa desselben Typs Ende 1909 in den Flottenbestand eingereiht zu werden.
Zu demselben Zeitpunkt soll das vierte Schiff der Regina Elena-Klasse, die
Roma, dienstbereit sein. Im Gegensatz zu diesen zuversichtlich erwarteten Ver¬
mehrungen des Schiffsbestandes der italienischen Flotte in den Jahren 1908
und 1909, ist im Jahre 1907 nur das Schlachtschiff Regina Elena nach mehr
als sechsjähriger Bauzeit hinzugekommen, außerdem noch an kleinern Schiffen
fünfzehn Torpedoboote und sieben Unterseeboote. Was weitere Neubauten an¬
langt, so stehen dafür die in den Etats von 1907/08 und 1908/09 bewilligten
Mittel zur Verfügung. Sie sollen zunächst für das im November v. I. auf
Stapel gelegte Linienschiff ^ von 19000 Tonnen verwandt werden, denn
allein in diesem Jahre wurden dafür 6 Millionen Lire bewilligt. Mit diesem
Tonnengehalt eines Schiffes tut die italienische Marine einen gewaltigen
Sprung'nach vorwärts, erreichen doch die vier erwähnten Schiffe vom Regina
Elena-Typ nur ein Deplacement von 12630 Tonnen. Auch die Bestückung des
neuen Schlachtschiffes, das im Jahre 1910 zur Ablieferung gelangen soll, ist
sehr stark vorgesehen und soll mit zwölf 30.5-Zentimeter-Geschützen selbst die eng¬
lischen Schlachtschiffneubauten übertreffen; daneben sollen 30000 dem Schiff
eine Schnelligkeit von 23 Knoten geben. Aber Minister Mirabello hat noch um¬
fangreichere Pläne vor. Als im vorigen Jahre von den österreichischen Delega¬
tionen der Bau von drei Panzerschiffen mit einem Deplacement von je 14500
Tonnen beschlossen wurde, hieß es im italienischen Parlament, daß gegenüber
diesen Verstärkungen der benachbarten Macht die eignen Flottenrüstüngen viel
zu geringfügig seien und dringend einer Verstärkung bedürften. Der Minister
hat daraufhin ein neues Flottengesetz bearbeitet, das der Volksvertretung schon
längst vorgelegen hätte, wenn Herr Mirabello nicht durch Krankheit daran
verhindert gewesen wäre. Immerhin ist aus der Vorlage schon bekannt ge¬
worden, daß sie drei Linienschiffe vom ^--Typ, sechs Kreuzer von 3000 Tonnen
und 28 Knoten Fahrgeschwindigkeit und eine Anzahl von Torpedobooten
fordert. Es fragt sich nur, wann diese neuen Schlachtschiffe, wenn sie erst
bewilligt sind, in Angriff genommen werden, und zu welchem Zeitpunkt auf
ihre Fertigstellung bestimmt zu rechnen ist. Diese Frage gilt übrigens auch
für die sich noch in Bau befindenden Schiffe. Hier wird Minister Mirabello
zeigen müssen, daß er ein ganzer Mann ist, denn um die Schnelligkeit im
Schiffbau ist es in Italien, wie wir ja schon bei der Regina Elena gesehen
haben, bis jetzt nicht besonders günstig bestellt, trotzdem daß es die Behörden
mahl an Eifer fehlen lassen und von allen Seiten auf Beschleunigung gedrängt
wird. Ein Hindernis ist, daß die Herstellung der Panzerplatten nicht gleich¬
mäßig sichergestellt ist und ihre Qualität oft zu Beanstandungen Veranlassung
Grenbo
gibt. Auch die jährlich zunehmende Verminderung des Arbeitspersonals in
den Arsenälen, das am 1. Juli 1900 noch 17186 Köpfe betrug, seitdem all-
mühlich herabgesetzt worden ist und gegenwärtig nur noch 14165 Mann be¬
trügt, ist natürlich einer schnellen Fertigstellung der Schiffe nicht günstig und
zieht die Lieferfristen in die Länge. Es erscheint deshalb unter den obwaltenden
Umständen wenig glaubwürdig, daß im Parlament ein Antrag eingebracht
werden soll, der die Arbeiterzahl in den Arsenälen noch weiter vermindert und
bis auf 12000 Köpfe herabdrückt.
Die japanische Marine hat seit dem siegreichen Kriege mit Rußland
nicht stillgestanden. Im Gegenteil ist sie fortgesetzt tätig, durch Bestellungen
im Auslande und bei der eignen Industrie ihren Schiffsbestand zu vermehren.
Die Fortschritte auf den Werften im Lande durch den Bau großer Schiffe
würden dazu voraussichtlich noch umfangreicher sein, wenn die Einrichtungen,
namentlich zur Herstellung des Panzermaterials, ausreichten, und wenn nicht
die Ausbesserungen der den Russen abgenommnen Schiffe und des während
des Krieges beschädigten eignen Schiffsmaterials so viel Zeit und Arbeits¬
kräfte in Anspruch nehmen würden. Trotz allen Fleißes und emsiger Tätigkeit
auch während des vergangnen Jahres sind die vierzehn russischen Schiffe auch
heute noch nicht alle ausgebessert, und bei einzelnen von ihnen soll es noch
dazu zweifelhaft sein, ob sie sich nach beendeter Arbeit im aktiven Flottendienst
werden verwenden lassen. Es kann also sein, daß hier Mühe und Kosten
teilweise ohne Nutzen verbraucht worden sind. Sehr zufriedenstellend äußert
sich dagegen die japanische Presse, daß es der Kunst und den Mitteln der
heimischen Industrie gelungen ist, das durch einen Unglücksfall nach dem Kriege
schwer beschädigte Schlachtschiff Mikasa von 15400 Tonnen, nachdem es längere
Zeit für verloren angesehen wurde, wieder vollkommen dienstbereit herzustellen.
Rechnet man dazu die sechs ehemaligen russischen Schlachtschiffe, die einrangiert
worden sind, dann verfügt die japanische Flotte heute über vierzehn Linien¬
schiffe mit einem Deplacement von zusammen 191400 Tonnen.
Sehr schwer ist es, sich ein zuverlässiges Bild von der Weiterentwicklung
der japanischen Marine, das heißt von den Bauprogramms zu machen, die
entweder vom Parlament schon angenommen sind oder erst in den Entwürfen
vorliegen. Der Grund für diese Unsicherheit in den Nachrichten liegt erstens
darin, daß die Japaner nach wie vor alle militärischen Mitteilungen so geheim
wie nur irgend denkbar halten und es ganz gern sehen, wenn möglichst viel
widersprechende Angaben verbreitet werden. Auf der andern Seite macht aber
auch die Finanzlage des Landes manchen Strich durch die Regierungövoran-
schläge, und daher kommt es wohl auch, daß die Verwirklichung mancher Pläne
des Marineministers, deren Annahme so gut wie sicher schien, und die auch
schon bekannt gegeben wurden, hinausgeschoben werden muß. Dadurch wird
natürlich die Genauigkeit der Berichterstattung erschwert. So liegen auch die
Dinge in diesem Augenblick. Im Jahre 1903 wurde vom Parlament ein
Flottengesetz angenommen, nach dem bis zum Jahre 1913/14 drei Linienschiffe,
zwei Panzerkreuzer und zwei kleine Kreuzer gebaut werden sollten. Aber schon
im vorigen Jahre kam die Regierung zu der Auffassung, daß dies Programm
lange nicht ausreiche, die Flotte auf den Stand zu bringen, den sie andern
großen Seemächten gegenüber unbedingt einnehmen müsse. Es wurde deshalb
1907 ein neues Flottengesetz eingebracht und von der Volksvertretung ge¬
nehmigt. Darin wurden die hohen Beträge von 367,5 Millionen Mark zum
Ersatz für im Kriege gegen Rußland verloren gegangnen Schiffe und weitere
160.8 Millionen für den Ersatz veralteter Schiffe gefordert. Diese Mittel
sollten sich auf die Jahre bis 1913/14 verteilen und dafür, außer den im
Programm von 1903 bewilligten und nahezu vollendeten Schiffen, noch zwei
Linienschiffe, zwei Panzerkreuzer, zwei Kreuzer zweiter Klasse, fünf Torpedoboots¬
zerstörer und zwei Unterseeboote gebaut werden. Zugleich wurde der Bau¬
beginn für diese Linienschiffe und Panzerkreuzer auf den Beginn dieses Jahres
festgesetzt und die Bestellung auf die beiden Unterseeboote an die englische
Firma Vickers vergeben. Wo die vier großen Schiffe gebaut werden sollen,
ist nicht bekannt. Nur soviel verlautete bisher, daß die Linienschiffe ein De¬
placement von 20500 Tonnen erhalten und mit zehn 30,5-, zehn 15,2- und
zwölf 12-Zentimeter-Geschützen bestückt werden sollten; für die beiden Panzer¬
kreuzer wurde ein Deplacement von 18650 Tonnen und eine Bestückung mit
vier 30,5-, acht 25.4-, acht 15- und zehn 12-Zentimeter-Geschützen genannt.
Auch das ist bekannt, daß die beiden Unterseeboote schon fertig und auf dein
Wege nach Japan sind. Inzwischen hat sich aber herausgestellt, daß Japan
die ihm durch das Staatsbudget auferlegten hohen Lasten nicht tragen kann,
und daß eine Verminderung eintreten muß, wenn das Land nicht in eine ernste
Notlage gebracht werden soll. Es ist deshalb von der Regierung ein jährlicher
Abschlag von 85 Millionen Mark beschlossen worden, wovon zwölf Millionen
auf das Marinebudget von 1908/09 entfallen. Dieses bleibt dann immer noch
in der Höhe von 105 Millionen Mark bestehn. Damit ist auch das neue
Flottengesetz, das wir vorhin erwähnt haben, nicht etwa aufgegeben, sondern
nur der Endtermin wird auf mehrere Jahre hinausgeschoben. Was aber auf¬
fallend an diesen Nachrichten ist, das ist. daß zugleich verbreitet wird, das
Flottengesetz von 1907 sei wesentlich erweitert worden, denn es sollten vier
Linienschiffe von 20800 Tonnen und 20 Knoten Fahrgeschwindigkeit, fünf
Panzerkreuzer von 18500 Tonnen und 25 Knoten, zwei Aufklärungsschiffe
von 4800 Tonnen und 26 Knoten und vier Zerstörer von 890 Tonnen und
26 Knoten gebaut werden. Die neun großen Schiffe sollten Turbinenantrieb
erhalten. Bestätigen sich diese Angaben aus guter Quelle, dann rückt Japan
mit einem neuen Zuwachs an sieben Linienschiffen und sieben Panzerkreuzern
schon an die dritte Stelle unter den Hauptseemächten.
Von einer großen russischen Flotte kann man eigentlich nur in der
Vergangenheit sprechen. Denn nachdem Nußland im Kriege gegen Japan
sechsundfünfzig seiner besten Schiffe verloren hat, setzt sich sein heutiger Bestand
an großen Schiffen, die fertig sind, nur noch aus 6 Linienschiffen und 4 Panzer¬
kreuzern zusammen. Und an Zuwachs stehen demnächst nur vier Linienschiffe
und drei Panzerkreuzer in Aussicht. Nun geht ja allerdings schon lange das
Gerücht, Rußland wolle sich eine neue große Flotte schaffen. Aber die Pläne
haben viele Gegner und zurzeit noch keine greifbare Gestalt angenommen. Das
Programm, das der Reichsduma gegenwärtig vorliegt, beschränkt sich auch nur
auf die Summe von 457 Millionen Rubel, die, auf vier Jahre verteilt, nur
für die notwendigsten Ersatzschiffe, darunter in erster Linie vier Schlachtschiffe,
bestimmt sein sollen. Es werden deshalb im besten Fall wohl noch Jahre
vergehn, ehe die russische Flotte ihren frühern Platz unter den Hauptsee-
müchten wiedererlangt haben kann.
>in Gleichgewicht der Staaten, das dauern könne, hat Friedrich
der Große gesagt, lasse sich gar nicht denken. Wie wahr dieser
Satz ist, zeigt sich so recht erst in unsrer Zeit, wo in immer
kürzer werdenden Intervallen die Machtverhältnisse der souveränen
! Staaten zueinander verschoben werden. Neben dem Dreibund ist
der Zweibund Rußland-Frankreich entstanden, dann die französisch-britische
Entente, das britisch-japanische Bündnis, die britisch-russische Abmachung über
Asien, und neuerdings wird über eine internationale Festlegung des status «.no
der Nordsee- und Ostseegebiete verhandelt. Alles ist im Fluß. Während des
russisch-japanischen Kriegs stand die öffentliche Meinung Amerikas ganz auf
feiten Japans, dessen Siege wie die eignen gefeiert wurden. IZis^ ars g^Kein^
our bärtig, hieß es in den Aankeeblättern. Und jetzt scheint eine blutige Ab¬
rechnung zwischen der amerikanischen Union und Japan nur eine Frage der
Zeit zu sein. Wer will sagen, welche Entwicklung Japan noch nehmen, und
ob sich insbesondre China in ähnlich schnellem Tempo die technischen Hilfsmittel
der europäischen Kultur samt den Waffen aneignen wird. Immer mehr werden
sich die prophetischen Worte Goethes verwirklichen:
Es ist mit Freuden zu begrüßen, daß der durch seine großen Forschungs¬
reisen und seine politischen Aufsätze bekannte Münchner Privatdozent Dr. Wirth
eine Geschichte Asiens*) veröffentlicht hat, die nicht nur interessante Aufschlüsse
über die Geschichte der einzelnen asiatischen Länder, über den Kampf der
Weltreligionen, die Entwicklung Chinas und den Rassenaufbau Asiens gibt,
sondern in meisterhafter Weise die Wechselwirkungen der einzelnen Länder und
Kulturen und ihre Verknüpfung mit Europa zur Darstellung bringt. Wirth
wendet sich einerseits gegen die Überschätzung des Orients, an der so viele
modern sein wollende Politiker kranken, warnt aber andrerseits davor, Asien
zu verachten, weil wir ihm gegenwärtig in Krieg, Wissenschaft und Handel
überlegen sind.
Das Wirthsche Werk besteht aus zwei Bänden. Der erste Band behandelt
die Zeit von den Anfängen bis 1790, der zweite die Europäerherrschaft. Die
Urkultur stammt nach Wirths Ansicht vom untern Euphrat und Tigris. Von
dort habe sich die Kultur nach allen Himmelsrichtungen in Wellenbewegung
verbreitet, zunächst nach Arabien, dem Mittelländischen Meer und nach dem
ältesten Ägypten, sodann nach Südarabien und Indien, weiter, doch stehe hier
weder das Ob noch das Wann fest, nach China und endlich, in späterer Zeit,
möglicherweise bis Amerika.
Diese Hypothese hat gegenwärtig wenige Anhänger, ist aber für jeden, der
sowohl die altägyptischen als auch die altmcxikanischen Altertümer an Ort und
Stelle gesehn hat. wahrscheinlich, denn die Ähnlichkeit zwischen diesen Denk¬
mälern einer längst entschwundnen Zeit ist in.der Tat ganz erstaunlich.
Alexander von Humboldt erwähnt in seinem politischen Essay über Neuspanien
die alte Überlieferung, wonach die im mexikanischen Staate Morelos gelegne,
mit Hieroglyphen bedeckte Pyramide von Xochicalco ein Denkmal bilden solle
zur Erinnerung an den Untergang des Kontinents Atlantis, der sich einst
zwischen Afrika und Amerika erstreckt habe und durch die große Sintflut bis
auf die übrig gebliebner Inseln untergegangen sei. Außerdem ist nicht zu ver¬
kennen, daß die Rassenühnlichkeit der Japaner und Mexikaner sehr groß ist,
und daß sich Wechselwirkungen zwischen ihren Kunsthandwerker auch jetzt
noch feststellen lassen. Jedenfalls ist aber hier noch ein weites Feld der
Tätigkeit für die Geschichtforscher, die sich bis jetzt nur wenig mit diesen
Fragen beschäftigt haben.
Goethe hat in den Noten und Abhandlungen zum bessern Verständnis des
Westöstlichen Divans in genialer Weise ein teils philosophisches teils historisches
Mosaikgemülde von der orientalischen Kultur, soweit sie damals erforscht war,
geschaffen, um, wie er sagt, die Aufmerksamkeit dorthin zu lenken, woher so
manches Große, Schöne und Gute seit Jahrtausenden zu uns gelangte, woher
täglich mehr zu erhoffen ist. Assyrien, Babylonien und Ägypten blieben, da
die Keilschriften- und Hieroglyphenforschung damals eben erst ihren Anfang
genommen hatte, außerhalb der Goethischen Betrachtung, aber die naive Dicht¬
kunst des Alten Testaments, der Einfluß Alexanders des Großen und der
Diadochen, das Prophetentum Mohammeds, die reichhaltige Geschichte Persiens,
die Entwicklung der Seldschucken und Mongolen sind von ihm mit einem fabel¬
haften Fleiß und mit erstaunlichen Details geschildert. Dabei wünschte Goethe
als ein Reisender angesehn zu werden, dem es zum Lobe gereicht, wenn er sich
der fremden Landesart mit Neigung bequemt und deren Sitten anzunehmen
versteht.
In demselben Geiste hat Wirth seine Geschichte geschrieben, die an vielen
Stellen den naturwahren Charakter der Erzählung eines Reisenden trägt. Er
faßt den Verlauf der Geschichte Asiens im übrigen auf als einen fortdauernden
Kampf zwischen Bildung und Barbarei und zieht interessante Parallelen zu
dem Kampf der Mittelmeerkultur gegen die germanischen und slawischen Barbaren
und der spätern christlichen Völker gegen den Islam und die Tataren. Die
geographischen Einflüsse auf die Entwicklung der asiatischen Völker werden
ganz im Stile Ratzels nachgewiesen.
Asien zerfällt geographisch in zwei große Hälften. Der Süden, von hafen¬
reichen Küsten umgeben, ist der Sitz der Kulturvölker. Der Norden wird bis
zum Aufkommen der Russen von Nomadenvölkern bewohnt, die einer eignen
Kultur ermangeln. Der strategische Vorteil der Lage ist aber auf feiten des
Nordens, dessen Rücken durch Eismeer und Tundren gedeckt, dessen Flanken
durch Steppen und Urwälder geschützt sind. Mehr als einmal erobern die
Nomaden den Süden. Der Süden rächt sich dadurch, daß er mit seiner
Kultur den Sinn der Nomaden bezwingt. Das Gegenstück zu den Eroberungen
der Naturvölker bilden die Semiten: Assyrer, Phönizier, Juden und Araber.
Von Südwesten vordringend werden sie in Vorderasien mächtig, die Assyrer
durch ihre Kriegsmacht, die Phönizier durch den Handel, die Juden durch ihren
Glauben, die Araber durch alle drei Machtfaktoren. Die Heere der Araber
rücken bis zum Indus vor, und ihre Religion faßt beinahe in ganz Asien Fuß.
Für uns bedeutsamer ist das geschichtliche Verhältnis Asiens zu den andern
Kontinenten, von denen zunächst Afrika in Betracht kommt. Politische und
andre Wechselwirkungen finden mit Ägypten statt. Das Goldland Ophir
wird entdeckt. Ostasrikanische Sklaven werden in Südasien eingeführt. Araber,
Perser, Inder und Malaien wandern nach Ostafrika aus. Noch wichtiger ist
das Verhältnis Asiens zu Europa. Lange Zeit hindurch — bis zu Alexander
dem Großen — empfängt Europa ohne Gegengabe asiatische Kultureinwirkung,
besonders in künstlerischer und religiöser Hinsicht. Später ist der Strom frucht¬
baren Wechselaustausches, wenn auch bald schwächer bald stärker fließend,
zwischen Orient und Occident niemals unterbrochen gewesen. Die Europäer¬
herrschaft beginnt mit dem Jahre 1790. Die Anstrengungen der Portugiesen
und Spanier hatten keinen entscheidenden Erfolg gehabt. Erst das Fußfassen
Englands ändert die Lage von Grund aus. England gewinnt den Süden Asiens,
Rußland den Norden, Frankreich den Südosten, Holländer und Amerikaner die
Inseln. Zuletzt erhält auch Deutschland ein gepachtetes Plätzchen an der Sonne.
In der Gegenwart aber versprechen das erwachende Nationalgefühl der Japaner
und Chinesen und die panislamische Bewegung dem alternden Asien neue
Kraft. Die Asiaten haben aufgehört, den Europären blindlings zu gehorchen.
Die nächsten Jahrhunderte werden eine gewaltige Auseinandersetzung zwischen
Occident und Orient sehn, an der diesesmal auch die Neue Welt, Amerika,
teilnehmen wird.
Die asiatische Geschichte wird von Wirth eingeteilt in: das mesopotamische
Zeitalter, die Kämpfe der Arier gegen Babylon, die Epoche von Sadi hoangti
bis Attila, die Zeit der westöstlichen Hochentwicklung, und in die Epoche des
Übergewichts der Nordvölker, auf die dann die Europüerherrschaft folgt.
Die historischen Tatsachen werden von Wirth mit zahlreichen Bemerkungen
über Kultur und Zivilisation durchzogen. Insbesondre weist er nach, daß sich
trotz der Rassenverschiedenheit Ähnlichkeiten der äußern Zivilisation finden, die
allen Asiaten gemeinsam sind. So findet sich die Tracht der altpersischen Bogen¬
schützen wieder bei den Kukis der Japaner, die viereckige UmWallung persischer
Städte in dem gleichen Befestigungsshstems Chinas. Die Gewohnheit der
Karawansereien und die Benutzung des Kameldungs trifft man fast überall vom
Ägüischen Meere bis zum Stillen Ozean, ebenso das Zeltlager mit seinem eigen¬
artigen Leben, das dann sogar in festen Städten wie Konstantinopel bei¬
behalten wird.
Zu den äußern Ähnlichkeiten fügten sich aber im Laufe der Jahrhunderte
innere hinzu, durch die unvermerkt eine geistige Wahlverwandtschaft zwischen
den Ariern und den Fremden angebahnt wurde. So wurden die Perser, von deren
Tüchtigkeit Herodot so viel Rühmliches zu erzählen weiß, nach anderthalb
Jahrhunderten derart durch babylonisches Wohlleben entnervt, daß sie den
Griechen als verächtliche Weichlinge erschienen. Die Durchdringung mit fremden
Vorstellungen und Gewohnheiten hat es schließlich dahin gebracht, daß die
Ostarier nach zwölf Jahrhunderten eigner Entwicklung gänzlich von den semitischen
Arabern und dann von den Türken überwältigt wurden. Der große Aufschwung
des Orients erfolgte dann von den Küsten Japans bis zu den Tschadländeru
und bis an die atlantischen Gestade Marokkos. Das erste bedeutsame Zeichen,
das den Niedergang des Orients verkündete, war die Niederlage der Türken
vor Wien. Auf sie folgten, wie Wirth mit Recht hervorhebt, das Vordringen
der Russen in der Kirgisensteppe und die europäischen Festsetzungen in Indien
und Australien. Dabei hatten die Europäer unter sich harte Kämpfe auszu-
fechten, ehe dem überlebenden Sieger Südasien als Beute anheimfiel. Die
Holländer gründeten 1602 ihre Ostindische Kompagnie, besetzten Batavia auf
Java 1619, Kapstadt 1652, Ceylon 1656 und waren 1690 auf der Hohe ihrer
Kolonialmacht, auf der sie sich ungefähr bis 1750 erhielten. Inzwischen waren
die Franzosen in Indien erschienen und hatten sich dort festgesetzt. Holländer
und Franzosen wurden von England darauf fast ihres ganzen Kolonialbesitzes
beraubt. Nußland faßt 1792 festen Fuß am ganzen Nordufer des Schwarzen
Meeres und dringt in stetig sich anschließenden Etappen immer tiefer ins Innere
von Asien vor. Der Kampf der Europäer um Asien findet von 1792 ab bis
in die Gegenwart fast ausschließlich zwischen Rußland und England statt. Als
sekundäre erscheint von Zeit zu Zeit Frankreich, bald dem einen bald dem
andern beistehend.
Jetzt endlich glauben voreilige Zeitungschreiber den englisch-russischen Kampf
durch das jüngste diplomatische Abkommen für beendet oder doch auf längere
Zeit für aufgehoben einsehn zu können, aber jeder Kenner der dortigen Ver¬
hältnisse weiß, daß Rußlands Sieg in Asien über England nur eine Frage
der Zeit und ebenso unabwendbar ist wie eine Naturkraft. Gerade augen¬
blicklich machen die Russen große kolonisatorische Fortschritte in Zentralasien,
sind aber klug genug, sie möglichst zu verschleiern.
Bei den Russen hält mit der Zunahme der Auswanderung auch die des
eignen Gebiets gleichet! Schritt. Allerdings gehn jetzt die nach Amerika aus¬
wandernden Russen ihrer Heimat verloren, aber was will das besagen gegen¬
über der riesigen Auswanderung nach Asien. Von 1823 bis 1388 wurden
782000 Menschen nach Sibirien verbannt. Andre Hunderttausende sind frei¬
willig eingewandert. Die Verbannten waren, wie Wirth auf die Autorität
Jadrinzeffs gestützt angibt, wenig fruchtbar. Der Kern der jetzigen Bevölkerung
stammt von freiwilligen Ansiedlern und von Kosaken. Rußlands Bevölkerungs¬
zuwachs beträgt 1'/^ Millionen jährlich, seine Gebietsvergrößerung seit Peters
des Großen Zeit 90 Quadratmeter täglich. So wenig wie der unglückliche
Ausgang des Krimkriegs, so wenig hat die Erschöpfung Rußlands nach dem
türkischen Kriege sein weiteres Vorschreiten in Asien verhindert.
Überall in Asien haben es die Russen verstanden, die Bevölkerung der
neueroberten Gebiete sich schnell zu assimilieren, indem sie ungleich den Eng¬
ländern nirgends den Herrenstandpunkt einnahmen und die nationalen Eigen¬
tümlichkeiten sorgsam schonten. So haben die Russen anch regelmäßig die besten
Offiziere und Beamten, die sie hatten, zur asiatischen Kolonisation verwandt.
Sie wurden bei ihrer erfolgreichen Kolonisierung wesentlich durch die Tat¬
sache unterstützt, daß die neuen Gebiete unmittelbar mit dein Mutterlande zu¬
sammenhängen, während die deutschen Kolonien durch das weite Meer von der
Heimat getrennt sind.
Die Russen folgten, wie Wirth sehr richtig hervorhebt, bei ihrem
kolonisatorischen Vordringen in Asien regelmäßig der Linie des geringsten
Widerstandes. Sie fochten mit halbwilden, schlecht bewaffneten Horden. Nur
einmal in der ganzen Zeit besiegten sie einen ebenbürtigen Gegner, Karl den
Zwölften von Schweden bei Pultawa, aber die Schweden waren durch Märsche
und Mangel ermattet und nur ein Viertel so stark wie ihre Gegner. Oft
haben die Russen auch das ihnen mißgünstige Waffenglück in der Weise
korrigiert, daß sie den feindlichen Heerführer mit Gold bestachen. So erkaufte
Peter der Große, auf den Rat seiner aus der Hefe des Volkes von ihm er¬
wählten Gemahlin Katharina, von den Türken, die sein Heer eingeschlossen
hatten, den Frieden vom Pruth.
Das Hauptverdienst der Russen ist ihre kaninchenartige Fruchtbarkeit:
uumoro xolleut. Wirth führt den überzeugenden Nachweis, daß die Menge
der Russen meist zu gering bewertet wird. Die Bevölkerung des ganzen Reiches
wird immer nach dem Zensus von 1897 angegeben, obwohl dieser längst über¬
holt ist; die Anzahl der Russen wird selbst in einheimischen Veröffentlichungen
nur auf 65, in deutschen auf 70 bis 80 Millionen Seelen geschätzt. Ungeheuer
war die Vermehrung im neunzehnten Jahrhundert. Die gesamte Bevölkerung
des russischen Reiches, zu deren Vermehrung allerdings auch das wachsende
Areal beitrug, belief sich auf:
Die Russen im ganzen Reich, Kleinrussen eingerechnet, schätzt Wirth auf
94 Millionen. Es stehn:
Die Polen und andern Slawen in Nußland werden auf etwa 8 Millionen
geschätzt.
Die Menge der Russen hat sie nicht vor Niederlagen geschützt. Mit
feinem politischem Verständnis weist aber Wirth darauf hin, daß man die un¬
geheure passive Widerstandskraft immer in Rechnung stellen muß. Bei Zorn¬
dorf und bei Borodino konnten die größten Feldherren Europas den Russen
keine vernichtende Niederlage beibringen. Ähnlich war es bei Liaoyang. Der
Anfang russischer Schwäche in der Weltpolitik liegt nach Dr. Wirths Ansicht,
die sicher viel für sich hat, in der beginnenden Emanzipation im Innern.
Zur Selbstverwaltung sei das Zarenreich, sei das russische Volk seiner An¬
lage, seiner gesellschaftlichen Schichtung, seiner Bildung nach unreif. Die
gegenwärtigen Unruhen könnten also höchstens zu einer Verschärfung der
Militärdespotie führen. Was aber dem Reiche den Hals brechen würde, das
sei das unaufhaltsame Erwachen des Nationalismus bei Burjäten und
Georgiern, bei Finnen und Tscherkessen, und eine Verstärkung des ohnehin
schon regen Volksgefühls bei Polen, Deutschen und Armeniern. Der Na¬
tionalitätenhader werde Nußland zerstören.
Von verschiednen Seiten ist Dr. Wirth wegen seiner Hypothese von der
Gefährlichkeit des Erwachens der Völker angegriffen worden, so unter anderm
von Kaether im „Tag". Ein solches Erwachen niedrer Völker sei nur zu
vergleichen, meint dieser, mit der Anmaßung eines beschränkten Proletariers,
der, erfüllt von den unverstandnen Lehren der Gleichheitstheorie, sich plötzlich
als Übermensch fühle und bar jeglichen Autoritätsgefühls sich jedem Geistes¬
aristokraten gleich fühle, ein Dünkel, der aber nichts an seiner Beschränktheit
ändere. Die Tatsachen haben unzweifelhaft Wirth recht gegeben. Wer will
heute noch leugnen, daß asiatische Völker erwachen, und daß sich die Wellen¬
bewegungen der japanischen Erfolge schon in Indien und in der islamischen
Welt zu äußern beginnen? Der verschlagne „Bismarck des fernen Ostens",
Li-sung-tschang, sagte einmal: Es ist töricht von euch Weißen, daß ihr uns
aus unserm Schlummer aufwecken wollt. Ihr werdet es bereuen, wenn wir
einmal erwacht sind, und werdet dann den frühern Schlummer zurückwünschen.
Wer zweifelt jetzt noch daran, daß sich diese Worte schneller verwirklichten,
als die meisten Politiker, fast allein der Deutsche Kaiser ausgenommen, an¬
genommen haben!
Es ist geradezu eine politische Tat, daß Wirth die gelbe Gefahr ihrem wahren
Charakter nach geschildert, zugleich aber auch mit Nachdruck darauf hingewiesen
hat, daß Asien immer überschätzt wird und noch sehr weit von einer Welt¬
herrschaft entfernt ist. Der Philosoph könne Nassensympathien hegen, der
Politiker dürfe nur Staaten in Rechnung stellen. Was in hundert Jahren
geschehen werde, darum könnten und dürften wir nicht sorgen. Wer hätte
vor neunzig Jahren geahnt, daß unser heißer Haß gegen Napoleon zunächst
lediglich die Vergrößerung Englands zur Folge haben würde? Wer 1870,
daß es jetzt Franzosen gebe, die sich ein Staatsoberhaupt wie den Deutschen
Kaiser wünschen? Wir dürften deshalb nicht dem Rade der Zeiten in die
Speichen greifen, denn wir wüßten kaum, von wannen es gekommen, und viel
weniger, wohin es fahren würde. Was in hundert Jahren sein werde, wisse
Gott allein. Unsre Pflicht gehe nicht weiter, als unser Auge reiche und
reichen könne, und unser Wille gehöre nicht einer unsichern, unenträselbaren
Zukunft, sondern einer lebendigen Gegenwart.
Das sind goldne Worte, die gegenüber den Phantasien unsrer Tages¬
presse beherzigt zu werden verdienen. Alle wirklichen Kenner des fernen
Ostens sind mit Wirth der Ansicht, daß das plötzliche Emporkommen Japans
nur eine Episode in der Weltgeschichte ist, daß sich China nie dazu hergeben
wird, von den von ihm seit Jahrtausenden verachteten Japanern, die nie
etwas aus sich selbst geschaffen, sondern immer nur die Kulturen andrer äffen-
artig angenommen haben, sich organisieren oder gar politisch ans Gängelband
nehmen zu lassen. Es ist ja nicht ausgeschlossen, daß Japan die jetzige mili¬
tärische Schwäche Chinas noch einmal benutzt, um es mit Krieg zu überziehen
und auszuplündern, aber auf die Dauer — und die Weltgeschichte rechnet
nur mit Jahrhunderten — wird China doch über Japan, das nur etwa ein
Zehntel so reich an Menschen und nur etwa ein Fünfzigste! so reich an
Kapital und an Naturschätzen ist, triumphieren und seine frühere dominierende
Stellung im Osten wieder einnehmen. Der Gegensatz zwischen China und
Japan wird für absehbare Zeit ein Hinübergreifen der asiatischen Völker in
die politischen Verhältnisse Europas unmöglich machen. Diese Sorge können
wir deshalb getrost unsern Nachkommen überlassen.
Dagegen ist es richtig, die chinesische und japanische Auswandrung nach
Kräften zu verhindern. In der amerikanischen Union erließ man zuerst Gesetze
gegen die chinesische Einwandrung 1380, dann in Australien, hierauf in
Kanada. Wirth erwähnt, daß die Auswandrung der Chinesen schon im
sechzehnten Jahrhundert begann und sich zunächst nach den asiatischen Inseln
richtete. Einen neuen Anstoß erhielt die Bewegung durch die überseeische
Ausbreitung der Europäer und die Entdeckung von reichen Goldfeldern.
Seit 1848 gingen Zehntausende von Zopfträgern nach Kalifornien, seit den
fünfziger Jahren nach Australien und Australasien, seit 1860 nach dem Ussuri
und Amur und weiter nach Hawaii und Südamerika. Diese Auswandrer
kehrten allerdings fast alle wieder zurück. seßhaft wurden dagegen die
Chinesen in Tonkin. Hinterindien. Arran sowie auf den Philippinen und den
Sundainseln. Für die ältern Ansiedler stellten die Chinesen überall eine ernste
Gefahr dar.
Die japanische Auswandrung begann ebenfalls sehr früh. Lange vor
Kolumbus fuhren japanische Schiffe nach Mexiko, wo Cortez die von ihnen
gebrachten Porzellanvasen vorfand, und nach Kambodscha. Der Japaner
Matsuamai unternahm Ende des fünfzehnten Jahrhunderts einen Zug nach
Sachalin. Man begann mit den Anwohnern des Amur einen regen Handel
und tauschte Jakutenmädchen gegen kostbare Pelze ein. Der Japaner Kiufiro
ging 1613 bis 1615 ebenfalls mit einer Expedition nach Sachalin, das von
Europäern zuerst de Vries 1643 besuchte. Eine nicht unbeträchtliche Aus¬
wandrung fand nach den Philippinen statt. Die Abschließung Japans gegen
das Ausland verhinderte dann lange Zeit hindurch eine Auswandrung, die
erst im letzten Jahrhundert wieder einsetzte und sich bis heute in nie geahnter
Weise gesteigert hat.
Für uns Deutsche ist es besonders lästig, daß die Japaner neuerdings
auch nach Teilen Südamerikas auswandern, die bisher fast ausschließlich von
Europäern besiedelt wurden. Schon jetzt ersieht man aber aus den mexikanischen,
peruanischen und brasilianischen Zeitungen, daß keineswegs alle Teile der Be¬
völkerung mit der japanischen Einwandrung einverstanden sind. Es dürfte sich
also dasselbe Schauspiel wie in der Union auch in Südamerika wiederholen
und damit der japanischen Einwandrung ein frühes Ende bereitet werden.
Dagegen wird ihre Einwandrung nach den Philippinen und andern asiatischen
und australasiatischcn Inseln kaum zu verhindern sein. Für die Aankees
waren jedenfalls die Erwerbungen des spanischen Krieges ein richtiges Danaer¬
geschenk.
Mit gleicher Meisterschaft wie die gelbe Gefahr des Ostens beurteilt
Wirth die panislamische Bewegung im Westen Asiens. Ebenso wie M. Hart¬
mann*) faßt er den Islamismus mehr als Kulturbewegung auf, als einen
Reflex und als eine Reaktion auf die christliche Kultur des Abendlandes, die
immer kräftiger auf Asien einzuwirken beginnt. So richtig es aber auch ist,
daß sich der Panislamismus nicht nach der Weltherrschaft reckt, so falsch wäre
es doch, die Kraft der Türkei zu unterschätzen und anzunehmen, daß ihre
asiatischen Besitzungen in absehbarer Zeit die Beute einer europäischen Macht
werden könnten. Militärisch haben die Türken ihre alte Kraft im Russen-
und im Hellenenkrieg aufs neue glänzend bewährt. Auch haben sie alle Ver¬
suche der Christenheit, die armenischen Metzeleien zu rächen, erfolgreich zurück¬
gewiesen. Finanziell haben sie ihre Kraft neuerdings durch den Bau der
Hedschasbahn bewiesen, die ausschließlich mit Subskriptionsgeldern aus der
ganzen islamischen Welt ausgeführt wird und schon ihrer Vollendung ent¬
gegengeht, allerdings nur infolge der Tatkraft des deutschen Ingenieurs
Meißner Pascha. Die Hedschasbahn hat aber nicht nur eine religiöse und
wirtschaftliche, sondern auch eine eminente politische Bedeutung, da durch sie
die strategische Verbindung mit Arabien wiederhergestellt und die britische
Stellung in Ägypten wirksam flankiert wird.
Die Eisenbahnen haben das gesamte wirtschaftliche Leben der Türkei
merkbar gehoben. Für die deutschen Schienenpläne waren die beiden Besuche
des Kaisers von hohem Werte. Die Pforte war, wie Wirth mit Recht be¬
tont, lange Zeit zweifelhaft, ob sie die Taurus- und Bagdadbahn nicht an
England geben sollte. Die Freundschaft des Sultans mit dem Kaiser ließ
1901 die Entscheidung für Deutschland fallen. Vorher waren schon die
anatolischen Bahnen mit deutschem Gelde gebaut. Je dichter aber das asiatische
Eisenbahnnetz der Türkei wird, desto größer wird auch die Möglichkeit für sie,
ihre Truppen zu konzentrieren und an die gerade bedrohte Grenze zu werfen.
Eine europäische Invasion der asiatischen Türkei darf schon jetzt als aus¬
geschlossen betrachtet werden. Von Tag zu Tage mehr wird die Türkei eine
Macht werden, die bei der internationalen Politik eine gewichtige Rolle spielt.
Als eigenstes Verdienst unsers Kaisers muß es gelten, daß er es mit genialen
Blick verstanden hat, sich die Freundschaft des Sultans zur rechten Zeit zu
erwerben.
Sehr interessant sind die historischen Betrachtungen Wirths, in denen er
ausführt, wie von jeher die Westarier mit Asiaten vereint geschlagen oder mit
ihnen Bündnisse abgeschlossen haben; in der Urzeit mit den Chatti, später mit
den Hunnen. Chriemhild heiratet Attila. Stilicho hatte hunnische Söldner.
Karl der Große stand in Beziehungen zu Harun al Raschid und zu den
spanischen Mauren. Byzanz verband sich mit Chazaren, Türken, Petschenegen.
Friedrich der Zweite, der bedeutendste aller Hohenstaufen, war der Freund
Kauns, Franz der Erste, ja sogar der Papst reizten die Hohe Pforte gegen Karl
den Fünften. Venedig ging mit den Türken, andre italienische Städte mit
Marokko. Schweden, England, Frankreich und Preußen waren wiederholt
Bundesgenossen des Padischah. Weshalb soll also der Kaiser nicht der Freund
der Türkei sein, wenn er es im deutschen Interesse für ratsam erachtet!
Pessimistischer als Wirth geht Vosberg-Rekow *) an die Beurteilung
der Beziehungen zwischen der europäischen und asiatischen Kultur- und Geistes¬
welt in ihrer Rückwirkung auf Welthandel und Weltpolitik. Es kommt ihm
zustatten. daß er seit Jahren im Präsidium der Deutschasiatischen Gesellschaft
gewirkt hat. Er kann mit dem doppelten Sachverständnis des National-
ökonomen und des Orientkenners auftreten. Von Weltpolitik, Weltmarkt und
Weltmachtstellung handeln seine Betrachtungen, ferner von den Hochstraßen
des Verkehrs, der Arbeit der Technik und der Technik der Arbeit, dem alten
und dem neuen Deutschland, der wirtschaftlichen Rangordnung der Staaten,
der weißen und der gelben Rasse, dem Geheimnis des Buddha und schlie߬
lich vom Kriege im Osten und von der Zukunft Europas auf dem asiatischen
Markte.
Der Pessimismus des Verfassers zieht sich leider durch das ganze sonst
so vortrefflich geschriebne Werk. Was soll man dazu sagen, wenn Vosberg-
Rekow im Kassandraton ausruft: „Nach Lage der Dinge wird uns die erste
Rolle im Bereich der Kulturvölker nicht mehr beschieden sein"? Das ist doch
eine durch nichts berechtigte Prophezeiung, und sogar unsre Konkurrenten sind
vom Gegenteil überzeugt. Es ist immer eine heikle Sache mit dem Prophezeien,
und der Verfasser würde es sich sicher bald abgewöhnen, wenn er nur einige
Monate auf irgendeinem wichtigen diplomatischen Posten selbständig zu be¬
richten hätte. Ein Teil seiner Prophezeiungen hat sich schon heute, kurze
Zeit nach dem Erscheinen seines Buches, als irrig herausgestellt, so zum
Beispiel seine Ideen von dem Wachstum der Sozialdemokratie, die inzwischen
die großartige Niederlage bei den Reichstagswahlen- erlitten hat. Außerdem
begeht er den Fehler, Ideen, die für das Privatleben passen mögen, auf das
Leben der Völker anzuwenden. Er meint, wir Deutschen, die ja doch nie
die erste Rolle auf dem Welttheater spielen könnten, sollten uns bei dem
Gedanken bescheiden, daß nicht der der glücklichste ist, der das meiste an sich
reißt, sondern der, dem es gelingt, die ihm von der Natur verliehenen Fähig¬
keiten voll auszunutzen und damit die Grundlage seines Wesens harmonisch
auszugestalten. Solche Ideen sind vielleicht gut für das einzelne Individuum,
aber grundfalsch für einen Staat. Was hülfe es dem Deutschen Reiche, sich
innerlich harmonisch auszugestalten, wenn es nicht zugleich auch die Macht
seines Heeres und seiner Flotte erweiterte, um diese innere Harmonie jederzeit
vor einem Angriffe von außen her erfolgreich schützen zu können? Unsre
ganze Kultur würde in Stücke geschlagen und vernichtet werden, wenn die
andern Weltmächte eine Wahrscheinlichkeit des Erfolges gegen uns sehen
könnten. Das hat uns die Geschichte gelehrt, und nie dürfen wir vergessen,
daß uns unsre geographische Lage zwingt, vor allem immer für die Unüber¬
windlichkeit unsers Heeres und für die Vergrößerung unsrer Flotte zu sorgen
und erst dann weltbürgerlichen Träumen nachzuhängen.
Überall da, wo der Verfasser objektiv bleibt, sind seine Schilderungen
klar und einwandfrei. Mit großer Anschaulichkeit spricht er von den großen
asiatischen Eisenbahnen. Er erwähnt, daß die sibirische Eisenbahn wegen ihres
sehr leichten Oberbauch und der häufigen Entgleisungen, trotz ihrer Kriegs¬
leistung (die selbst der japanische Kriegsminister als über Erwarten großartig
bezeichnet hat) nicht als ein vollwertiges Verkehrsmittel gelten kann. Mit
Recht hält er die Bagdadbahn für viel bedeutender für den Weltverkehr als
die sibirische Eisenbahn.
Die gelbe Gefahr schätzt Vosberg-Rekow durchaus richtig ein und kommt
zu dem Schluß, daß die weiße Rasse (zu der ja auch wir Deutschen gehören),
die sich heute im Besitz der überlegnen Arbeitsmethoden befindet, den zur
Passivität neigenden Asiaten überwunden haben wird, ehe dieser sich die
Methoden angeeignet haben kann, und daß infolgedessen nicht die europäische
Produktion vor der asiatischen die Segel wird streichen müssen, sondern daß
die^ asiatische Produktion erliegen und erst emporblühen wird, wenn sie sich
unter der Herrschaft des europäischen Geistes die westliche Kultur innerlich
assimiliert hat. Auch der Ansicht des Verfassers, daß eine Abschließung
Chinas durch Japan China selbst nicht dulden wird, und daß der chinesische
Kaufmann im Welthandel immer den sich durch den Mangel jeglicher Ver¬
tragstreue auszeichnenden Japaner in den Schatten stellen wird, wird jeder
Kenner des fernen Ostens zustimmen. Lignitz, der in der Deutschen
Kolonialzeitung im Gegensatz hierzu ausführt, der Japaner sei viel zu klug,
um nicht zu wissen, daß ehrlich am längsten währt, würde sich durch Befragen
irgendeines deutschen, englischen oder amerikanischen Kaufmanns, der mit den
Japanern Handelsgeschäfte getrieben hat, überzeugen können, daß Vosberg-
Rekow völlig richtig urteilt, wenn er sagt: „Der chinesische Kaufmann ist
ebenso ernst zu nehmen, ist ebenso treu und zuverlässig, wie der Japaner un¬
zuverlässig ist."
Zutreffend sind auch die Schlußbetrcichtnngen, in denen das Werk aus¬
klingt. Nosberg - Rekow widerlegt hier den Standpunkt gewisser politischer
Parteien, wonach wir Europäer keinen Rechtstitel Hütten, friedlichen Völkern
ins Land zu brechen und ihnen unsre Kulturformen aufzudrängen, mit
dem Hinweis, daß nur die Kultur wahrhaft groß und fortschrittlich genannt
werden kann, die in ihrem innersten Wesen davon durchdrungen ist, daß ihre
Ziele die höchsten sind und von den Zielen keiner andern übertroffen werden,
n der letzten Zeit ist man an maßgebenden Stellen in Berlin
damit beschäftigt, für das Gerichtswesen in unsern Kolonien das
Recht für die Neger festzustellen. Da diese wohl eine gewisse
Gerichtsbarkeit unter sich kennen, wird es darauf ankommen
müssen, sich die Rechtsanschauungen der Neger zu eigen zu
machen, wenn man die Negersecle vollkommen versteh» will. Es dürfte deshalb
interessieren, von den Gebräuchen bei der Ncgerjustiz der Eingebornen in
Britisch-Zentralafrika etwas zu erfahren. Dieses Land wird von verschiednen
Stämmen bewohnt, die jedoch alle zu der bekannten Bantunegergruppe ge¬
hören. Unter den hauptsächlichsten Stämmen finden wir am Westufer des
Nyassasces die Aw-emba, Angoni, A-longa, A-chipeta. A-chewa, am südlichen
Teile des Sees, sowie an den Ufern des Shircflusscs die bedeutende Gruppe
der Anyanja, ferner die Makololo und vor allem die Yaoncger. Swahili¬
neger sind nur in geringem Maße vertreten.
Wir wollen nun zuerst betrachten, wie sich im allgemeinen die Hand¬
habung der Justiz durch die Neger des Protektorats bis zur Einrichtung einer
geordneten Verwaltung durch die Engländer im Laufe der neunziger Jahre
vollzog. Begehen wir uns in ein Negerdorf! Inmitten der vielen Hütten
sehen wir einen offnen Raum, den ein mächtiger Baum von großem Umfange
beschattet. Wegen eines Streitfalles begibt sich der Dorfrat, der aus den
ältern Männern des Dorfes besteht, unter Führung des Dorfhäuptlings auf
diesen Platz. Beide Parteien bringen nun ihre Sache vor, ohne sich, im
Gegensatz zu unsern heimischen Gerichtshöfen, gegenseitig zu unterbrechen.
Ihre große Beredsamkeit, ihre unglaubliche Zungengewandtheit in der Vor-
bringung von Gründen für und wider ist bewundernswert. Darin zeichnen
sich nicht nur die beiden Parteien aus, nein sogar die Natsmänner, die, mit
Ausnahme des Häuptlings, auch meist Parteigänger sind, lassen nichts zu
wünschen übrig. Die Anwälte, zumeist ältere, erfahrne Männer aus der Ver¬
wandtschaft, plädieren — Frauen dürfen ihre Fälle vor Gericht nur durch
Männer vertreten lassen —; der Häuptling fällt sein Urteil und sorgt sofort
für die Vollstreckung. Die Entscheidung wird im allgemeinen weise gefällt.
Die Neger verstehn in der Tat, fein zu differenzieren, und uns sind mehrere
salomonische Urteile bekannt. Daher kommt es, daß weitaus in den meisten
Fällen die Sprüche des Dorfgerichts von beiden Parteien angenommen werden.
Es geschieht jedoch auch, daß der Verurteilte seiner Gemeinschaft entflieht und
von neuem sein Recht bei einem andern Potentaten sucht.
Man verfährt in vorstehender Weise bei allgemeinen Fällen von nicht
großer Bedeutung. Ist jedoch eine Sache für das Wohl eines größern
Distrikts oder gar eines Stammes von besondrer Bedeutung, so wird der
Häuptling eines solchen Distrikts, umgeben von seinen Unterhäuptlingen,
schließlich aber der erste Häuptling selbst das Recht sprechen und das Urteil
ausführen. Die Argumente sind dann äußerst subtil und sehr anschaulich.
In den Dörfern nahe bei dem Aufenthaltsort eines größern Häuptlings wird
gleich direkt dessen Entscheidung angerufen.
Hieraus geht hervor, daß eine gewisse Gerichtsführung dem Neger wohl
bekannt ist. Von Natur aus träge und faul, furchtsam und gleichgiltig, zieht
er es vor, sich dem Urteile seiner ihn streng, fast autokratisch regierenden
Häuptlinge zu unterwerfen. Ihre Entscheidung ist endgiltig. Die mächtigen
„Könige" der großen Stämme wie Angoni, Aw-emba, Mcikololo usw. jedoch
kümmern sich nicht um einen „Gerichtsrat", ihr Wille ist Gesetz. Berichtet
doch Sir Harry Johnston, daß vor nicht ganz zehn Jahren noch bei den
A-lunda- und Aw-cmbanegern Hände und Ohren für ganz geringe Vergehen
abgeschnitten wurden. Doch diese Fälle sind selten und als Ausnahme zu
betrachten; meist wird der Häuptling nicht so despotisch regieren und wichtige
Urteile nur dann füllen und vollstrecken, sobald er seine Unterhäuptlinge und
andre Ratgeber befragt hat.
Oft wird bei Verbrechen eine Art „Gottesurteil" angewandt. Fast im
ganzen heidnischen Afrika ist es den Negern bekannt und wird allgemein ge¬
braucht. Es ist eine furchtbar grausame, schreckliche Methode. Beschuldigt
jemand einen andern Menschen, ihn durch Zauberei krank gemacht oder
vielleicht sein Weib zur Untreue verführt zu haben, so muß der Angeklagte
Gift nehmen. Überall wird dasselbe Gift zu diesem Zwecke benutzt. In
Britisch-Zentralafrika ist es als Muavi oder Mwai bekannt. Es wird aus
der Rinde des Lr^tnropvleuro. xnineensö zubereitet, indem die Rinde in einem
kleinen hölzernen Mörser mit einem hölzernen Stößel zerrieben wird. Soll
das furchtbare Muavi gegeben werden, so rührt der Giftmischer, oft ein altes
Weib, die gewonnene Substanz mit Wasser an, und die frisch zubereitete
Flüssigkeit muß der Angeklagte trinken. Gibt der Giftmischer eine kleinere
Dosis, so wird das Gift wieder ausgebrochen, hat der Mischer aber eine Ab¬
neigung gegen den armen Angeklagten, so gibt er eine größere Dosis, die in
kurzer Zeit sicher den Tod herbeiführt. Diese Methode wird meist dann
gebraucht, wenn der Häuptling bei schwierigen Fällen nicht wagt, ein Todes¬
urteil auszusprechen. Es werden aber auch andre Arten „Gottesurteile" heraus¬
gefordert, um die Schuld oder Unschuld eines des Diebstayls oder des Ehe¬
bruchs angeklagten zu beweisen. Die Hand zum Beispiel wird in kochendes
Wasser gehalten.
Der Neger fällt ungern ein Todesurteil. Ist es aber ausgesprochen,
und ist der Angeklagte unfähig, das Mucwigift wieder auszubrechen, so läßt
der Blutdurst des Negers und die Freude an den Qualen andrer die Aus¬
führung äußerst grausam werden. Der Unglückliche wird von der ihn um¬
gebenden Menge überfallen, mit Speeren durchstochen, zertreten und zuletzt
geköpft. Verurteilte Zauberer und Ehebrecher werden verbrannt.
Nun. nachdem Missionen im Lande ihre Arbeiten aufgenommen, nachdem
die Engländer seit zehn Jahren dem Protektorat eine geordnete Verwaltung
gegeben und das Land fast ganz pazifiziert haben, hat dieser grausame, rohe
Zustand aufgehört. Die Häuptlinge haben an Ansehen verloren, und all¬
mählich hat die Negierung das Justizwesen in ihre Hände genommen. In wie
glücklicher Weise sie diese Aufgabe durchgeführt und gelöst hat. soll im nach¬
stehenden geschildert werden. Die Justizverwaltung, soweit die Neger in Frage
kommen, liegt in den Händen der „Collectors"; in Deutsch-Ostafrika würden
wir Bezirksamtmann sagen. Der Collector residiert in den größern Plätzen
der verschiednen Bezirke. Wir haben hier die bemerkenswerte Tatsache, daß
eine Anzahl Engländer, deren eine Aufgabe ist, die Hüttensteuer einzutreiben,
Wege zu bauen und in Ordnung zu halten, andrerseits ohne besondre juristische
Ausbildung hier draußen in der patriarchalischsten Weise über nahezu eine
Million Menschen einer ganz verschiednen Rasse Recht sprechen. Nur Todes¬
urteile und etwa verhängte Gefängnisstrafen für eine Reihe von Jahren sollen
vom Richter des obersten Gerichtshofes in Blantyre sowie vom „Commissioner",
d. i. Gouverneur des Protektorats, bestätigt werden. In allen andern Fällen,
d. h. in solchen, die im Leben des Negers beständig vorkommen, ist die
Autorität des Collectors supreme und seine Entscheidungen unanfechtbar.
Natürlich werden Gerichtsfälle unter Europäern oder solche Fälle, in die Weiße
verwickelt, und für deren Entscheidung juristische Kenntnisse absolut notwendig
sind, dem Richter des obersten Gerichtshofes überwiesen.
Von Leuten zu Hause, die mit den Verhältnissen in Zentralafrika nicht
vertraut sind, könnte nun der Einwurf erhoben werden, daß ein System, in
dem nicht juristisch gebildete Weiße den Negern Recht sprechen, in sich ge¬
wisse Gefahren bergen könnte. Tatsächlich aber hat die Negierung mit der
Einführung dieses Systems eine sehr glückliche Hand gehabt; es arbeitet in
geradezu idealer Weise mit dem größten Erfolge. Um jedoch diesen zu er¬
reichen, müssen alle Collectors eine Prüfung in der Landessprache Chi-
Nyanja, früher sogar noch in Ki-Suahili ablegen. Den jungen Engländern,
die ohne Vorkenntnisse in der Landessprache von der britischen Regierung
hierher geschickt werden, wird ein Jahr Zeit gegeben, sich die nötigen Kennt¬
nisse in der Sprache, in den Sitten und Gebräuchen dieser Neger anzueignen.
Nachdem sie dann die so erworbnen Kenntnisse durch die erwähnte, nicht leichte
Prüfung bewiesen haben, werden sie zu „Assistant Collectors" ernannt und
dem Collector eines größern Distrikts zur weitern Unterweisung beigeordnet,
oder ihnen wird in manchen Fällen schon ein kleinerer Posten als selbständiger
Collector anvertraut.
Nun, die Neger haben sich schnell daran gewöhnt, daß jetzt der Weiße
ihnen Recht spricht, denn sie beugen sich willig dem jeweilig herrschenden
infolge ihrer minderwertigen Charaktereigenschaften. Weiter haben sie nach
und nach eingesehen, daß der Weiße unparteiisch in jeder Richtung urteilt.
Einst dem Spruche ihrer Häuptlinge unterworfen, die, als in der Gemeinschaft
lebend, doch mehr oder weniger am Ausgange des Streitfalles interessiert
waren, sind die Neger jetzt von der vollkommnen Aufrichtigkeit und Ehrlich¬
keit des weißen Richters überzeugt. Ja sie haben ein so großes Vertrauen
in ihn, daß, wie uns H. L. Duff in seinem Buche über Nyassaland berichtet,
zwei Neger einst aus einem sechzig Kilometer entfernten Dorfe zu ihm kamen,
um ihn einen ausgebrochnen Zank über den Besitz einiger Fische im Werte
von zehn bis zwanzig Pfennigen schlichten zu lassen. Natürlich wird eine
Entschädigung vom Neger für die Bemühung eines Collectors nicht ver¬
langt. Daher kommt es auch, daß die Neger, schon durch ihre Freude an
Prozessen und an der dadurch verursachten Aufregung, eifrigen und häufigen
Gebrauch von diesen Gerichten machen.
Wir wollen jetzt auf die verschiednen am Gerichte vorkommenden Fälle
eingehn. Sie sind sehr einfach, denn alle Neger haben mehr oder weniger
dieselben Sitten und Gebräuche; keiner ist bedeutend reicher oder ärmer als
der andre. Ihre Geisteskräfte find gering; sie stehn nicht viel über den Tieren,
und heute noch leben sie zusammen gleich einer Horde Tiere. Unter ge¬
gebnen Umstünden würden sie alle in gleicher Weise handeln. Schon die
große Unwissenheit, Gleichgiltigkeit, ihr Mangel ein Verstand und auch die
geringe Versuchung lassen die kriminalen Vorkommnisse bedeutend einfacher er¬
scheinen.
Die hauptsächlichsten Verbrechen, die früher mit dem Tode geahndet
wurden, sind Mord, Überfall, Raub von Menschen und Gütern, Diebstahl,
Ehebruch oder Verführung dazu. Beabsichtigte Morde, deren Einzelheiten
lange vorher schon ausgedacht worden sind, geschehen sehr selten und haben
in der letzten Zeit fast ganz aufgehört. Dennoch glaubt man, daß nicht wenig
Neger noch heute in geheimer Weise, ohne daß jemals etwas zu unsrer
Kenntnis davon gelangt, getötet werden. Eine der entsetzlichsten Methoden ist
bekannt unter dem Namen ssvaterg,. Das unglückliche Opfer wird gebunden
und geknebelt und durch allmähliches Einführen eines Grashalmes oder spitzen
Stabes in den Körper getötet. Wird diese äußerst grausame Operation mit
der nötigen Sorgfalt ausgeführt, so wird, nach H. L. Duff, dieses Verbrechen
niemals aufgeklärt werden können, denn der Körper zeigt keine äußern Merk¬
male dieser furchtbaren Quälerei. Die Wirkung des schrecklichen Giftes
Muavi wurde früher oft als Gottesgericht angesehen. Glücklicherweise ist
durch Aufklärung seitens der Missionen und durch nachdrückliche Bestrafung
solcher Giftmischer durch die Regierung der Gebrauch des Muavi bedeutend
zurückgegangen. War es doch nach Sir Harry Johnston in früherer Zeit die
Ursache von mehr als der Hälfte aller Todesfälle; es starben viel weniger
Menschen zum Beispiel durch die immer im Lande wütenden Kriege oder gar
durch natürliche Ursachen.
Da das Negergesetz einem Beleidigten oder Bestohlnen im Falle von
Ehebruch, Verführung oder Diebstahl gestattete, sich sein Recht selbst zu holen,
so waren Totschlüge sehr häufig. Es ist ja für diese Selbsthilfe auch eine
gewisse Berechtigung vorhanden — bei unsern Ehrbegriffen daheim zum Bei¬
spiel wird ein in der Ehe betrogner, falls er ein schlechter Schütze ist,
außerdem noch vom Verführer im Duell erschossen! Abgesehen vom Totschläge
käme für unsre Betrachtung als größtes Verbrechen noch die Sklaverei hinzu.
In den Grenzen dieses Landes ist sie jedoch in keiner Weise mehr vorhanden.*)
Es kommen jedoch sehr häufig bei den zentralafrikanischen Negern Überfälle
und Schlägereien vor. Wir kennen aber nur sehr wenig Fülle, in denen
Weiße von Schwarzen angegriffen oder auch nur bedroht wurden.
Früher wurde der geringste Diebstahl nach Negergesetz mit dem Tode be¬
straft; heute hat eine humanere Auffassung Platz gegriffen. In den letzten
Jahren sind die vor der sogenannten Bona, dem Negierungswohnsitz des
Collectors, verhandelten Diebstahlfälle erschrecklich angewachsen, was teil¬
weise der milden Beurteilung der Diebstähle durch die Europäer zuzuschreiben
ist. Früher unweigerlich dem Tode verfallen, wird heute der schwarze Dieb
in saubere Gefängnisse gesteckt, erhält dort reichliche Nahrung und ausreichende
Ruhe. Was will der Neger mehr? Er betrachtet darum eine Gefängnisstrafe
als nichts Entehrendes; im Gegenteil, die sorgsame Behandlung durch den
Weißen läßt ihn die Gefängniszeit als eine Sommerfrische, wie Dr. Karl Peters
sagte, als eine gewisse Erholung erscheinen. Leider hat man im Britisch-
Zentralafrika-Protektorate versuchsweise die Strafe durch Peitschenhiebe (mit
der Nilpferdpeitsche: Kiboto) vor wenig Jahren ausgegeben. Es hat sich dieses
schnell darin geäußert, daß der Neger dem Weißen gegenüber äußerst frech,
anmaßend geworden ist. Der Diebstahl von Gütern, die einem Weißen ge¬
hören, wird von Schwarzen als erlaubt betrachtet, und des Europäers eigne
Diener stehlen gewöhnlich am meisten. Auf der Stelle bestrafen, wie die
Neger es unter sich zu tun pflegen, darf der Weiße nicht. Der Schwarze würde
einfach zur „Bona" laufen, und der Weiße hätte dem Diebe ein Schmerzens¬
geld und der Regierung eine Strafe zu zahlen. Einbruchdiebstähle geschehen
sehr selten. Güterraub jedoch passiert häusig, und nur gar zu oft erfahren
wir, daß die Lastenträger, auf denen der ganze Verkehr in Britisch-Zentralafrika
beruht, mit den ihnen anvertrauten Gütern spurlos verschwunden sind. Mut¬
willige Beschädigung von fremdem Eigentum ist den Gerichten hier unbekannt.
Doch werden zum Beispiel Wachthunde der Europäer von den Schwarzen mit
Vorliebe durch Gift aus dem Wege geschafft.
Am meisten hat aber der Collector in solchen Gerichtssachen zu ent¬
scheiden, die das „ewig Weibliche" betreffen. Raub, Verführung und Wieder¬
herstellung der Ehe — das sind die häufigsten Fälle. Nach H. L. Duff handelten
im Verwaltungsjahre 1901/02 im Distrikte Zomba von einer Gesamtsumme von
669 Gerichtsentscheidungen nicht weniger als 417 vom wertvollsten Besitze
des Mannes, dem Weibe. Der Neger ist entfernt von dem Gedanken, ein
Weib zu unterhalten, im Gegenteil, es muß ihn füttern. Das Weib hat alle
rauhen und schmutzigen Arbeiten gewissenhaft auszuführen. Die harte Feld¬
arbeit liegt der Frau ob. Währenddessen liegt der Herr des Hauses vor seiner
Hütte und läßt sich von der Sonne bescheinen. Seine Weiber schenken ihm
in der Regel viele Kinder, die, da sie billig zu unterhalten sind, von ihm als
wertvoller Zugang geschätzt werden, denn die Kinder beginnen schon im frühen
Alter, den Müttern mitzuhelfen. Am wertvollsten sind die Töchter, die vor
oder bald nach der Geburt schon vom Vater an einen zukünftigen Ehemann
verschachert werden.
Es darf jedoch nicht etwa geglaubt werden, daß der Neger irgendeinen
Begriff von Moral hat. Ist zum Beispiel eins seiner Weiber von einem
andern Neger verführt worden, so wird er ihn nur deswegen töten, weil er
seinem Besitze, seinem Eigentum eine Beschädigung zugefügt hat. Ja er
ist unter Umstünden sogar bereit, sich durch eine Geldentschädigung versöhnen
zu lassen.
Bei der Beurteilung von Streitigkeiten zwischen Eheleuten werden von
den Collectors folgende Punkte als Pflichten eines jeden Ehegatten be¬
trachtet. Nach Negerrecht hat der Mann dem Weib ein oder mehrere Tücher
zu geben (was ihn jedoch nicht mehr als zwei bis drei Mark im Jahre kosten
dürfte); er hat die Hütte roh fertigzustellen; dem Weibe liegt die Vollendung
ob, indem sie das rohe Gestell mit verschiednen Lagen Gras zu bedecken hat.
Weiter hat der Mann die Hüttensteuer zu zahlen, das heißt drei Mark, falls
er für einen Europäer mindestens einen Kalendermonat gearbeitet hat; im
andern Falle sind sechs Mark zu entrichten. Weiter soll er im allgemeinen
sein Weib beschützen. Dieses dagegen hat viel härtere Pflichten zu erfüllen.
Es muß Wasser tragen. Feuerholz suchen. Lasten weiterschaffen, Mais stampfen,
Mehl daraus machen, das Essen kochen und das Bier brauen. Wie schon weiter
oben gesagt worden ist, hat die Frau den größten Teil der Feldarbeit aus¬
zuführen. Sterben ihre Kinder, oder streitet sie gern, so kann der Ehemann
ti« Frau ihrem Vater zurückschicken und das „Heiratsgeld" zurückverlangen.
Von den täglich vorkommenden Gerichtsverhandlungen, die reine Privat¬
sachen betreffen, wollen wir hier weiter nicht berichten. Sie sind zu gering¬
fügig und unbedeutend. Es handelt sich dabei meist um mein und dein, und
solche Fälle werden in der Regel durch eine väterliche Ermahnung des Collectors
in Güte zu allseitiger Zufriedenheit aus der Welt geschafft.
Wir haben nun gesehen, wie es die praktischen Engländer im Britisch-
Zentralafrika-Protektorat verstanden haben, sich bei der Ausübung der Justiz den
Negern gegenüber nicht nur von deren Jahrtausende alten Rechtsanschauungen
leiten zu lassen, sondern auch dem Empfinden der Neger so weit entgegenzu¬
kommen, daß ihnen das Recht direkt von den Collectors gesprochen wird,
die unmittelbar der Negierung unterstehn und andrerseits in inniger Fühlung
mit der schwarzen Bevölkerung leben.*)
Jedoch — und das ist auch hier der springende Punkt — sind die Eng¬
länder aus Humanitätsduselei in der milden Behandlung der Neger zu weit
gegangen. Die Prügelstrafe ist, wenn auch nur versuchsweise, vor einiger
Zeit abgeschafft worden. Und doch empfängt der Neger solche Strafe willig,
sobald er einsieht, daß er sie verdient hat. In den Augen der Neger sind
die Weißen natürlich in Afrika die Eroberer. Eine milde Behandlung durch
den Sieger kennt er nicht und erwartet er auch nicht. Güte des Weißen
legt er als Schwäche aus. Ist dem Neger aber schon etwas zugestanden, so
empfindet er eine Abweichung davon schwer. Bekannt ist, daß die Portugiesen
das Kolonialvolk sind, das seine farbigen Untertanen am besten zu behandeln
weiß. Ihnen gilt als erster Grundsatz, daß der Weiße dem Neger gegenüber
immer superior stehn muß. Es ist undenkbar, daß sie einen Schwarzen gegen
einen Weißen zeugen lassen; der Schwarze ist eben der geborne Lügner. Ein
Beispiel aus der portugiesischen Praxis mag hier interessieren. Ein Portugiese
findet in der Hütte seiner schwarzen Konkubine einen fremden Neger. Dem
Gerichte vorgeführt, erhält er nur für das Betreten eines dem Weißen ge¬
hörenden Platzes fünfundzwanzig Peitschenhiebe und sechs Monate Kettenhast,
da er einen Mangel an Respekt den Weißen gegenüber gezeigt hat.
Wir schließen unsre aus eigner Erfahrung in Afrika gemachten Aus¬
führungen mit der Hoffnung, daß die amtliche Kommission für die Feststellung
des Rechts für die Neger in den deutschen Kolonien als Grundprinzip andre
Bestimmungen für die Schwarzen als für die Weißen festsetzen wird, da wir
den Neger so lange nicht unsern „schwarzen Bruder" nennen können, als sein
Geist, sein Denken und Fühlen nicht die Höhe des Weißen erreicht haben.
W» TT
W> ir möchten von mehreren neuen Literaturwerken erzählen^ die, zum
>Teil von geschichtlicher Grundlage aus, dem gegenwärtigen leb¬
haften Interesse an bildender Kunst dienen und den Sinn für
das Schöne klären wollen.
Das Unternehmen, von dem zuerst die Rede sein soll, ist
allerdings keine Tagesarbeit, sondern vielleicht ein Jahrhundertdienst. Bei
Wilhelm Engelmann in Leipzig hat zu erscheinen begonnen „Allgemeines Lexikon
der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart". Der vorliegende
erste Band — Dr. Ulrich Thieme und Dr. Felix Becker, beide in Leipzig, zeichnen
als Herausgeber und haben dreihundert Fachgelehrte des In- und Auslandes,
darunter viele von erstem Range, zur Mitarbeit gewonnen — ist das erste fertig
ausgeführte Stück eines großartig entworfnen Denkmals der kunstgeschichtlichen
Wissenschaft am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Jede Spalte der hier
veröffentlichten sechshundert Seiten, gewöhnlich mit einer Reihe von Artikeln
von Fachgelehrten bedeckt, legt Zeugnis ab von Spezialkenntnis einer Anzahl
von Kunstwerken, Vertrautheit mit einer oft großen Quellenliteratur und Einblick
in das Ganze der Kunstentwicklung. Welch ein Fortschritt der Technik der
Wissenschaft im Laufe der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, wenn
man Naglers 1852 abgeschlossenes, seinerzeit so rühmliches Künstlerlexikon ver¬
gleicht! Das neue Werk, auf zwanzig Bände disponiert, nimmt im besondern
Julius Meyers nur bis zum dritten Bande gediehene gleichnamige Arbeit wieder
auf; doch gewährt es den jetzt lebenden Künstlern, von denen viele es durch
eigne Angaben unterstützt haben, einen breitern Raum und hat auch die ost¬
asiatische Kunst einbezogen. Eine Menge Forschungsergebnisse werden hier zum
erstenmal veröffentlicht. Dank der hohen Zahl der Mitarbeiter kann von zu
großer Eintönigkeit in der Behandlung keine Rede sein; bei den weniger be¬
kannten Namen ist möglichst objektiver Gehalt erstrebt, bei größern manchmal — zum
Beispiel bei Oswald Ueberhand — nur eine treffende Gesamtcharakteristik gegeben,
ohne ein einziges Einzelwerk namhaft zu machen (dafür treten dann Hin¬
weise auf Kataloge von Gesamtausstellungen u. tgi. ein). Im ganzen sollen
150000 Künstler und Kunsthandwerker behandelt werden. Allein auf den Namen
Adam kommen, um von dem einzelnen eine Vorstellung zu geben, gegen hundert
Artikel. 42 davon betreffen französische, 32 deutsche Meister; die beiden englischen
Joseph Adam, wohl Vater und Sohn, hätten sich vielleicht noch besser zu«
einander passend fassen lassen. Im ganzen sind wir nach Einsicht in den vorliegenden
ersten Band der Meinung, daß dieses Unternehmen, so erwünscht und nützlich
es allen eindringendem Interessen für bildende Kunst entgegenkommt, heute nicht
besser ausgeführt werden könnte, und wünschen ihm guten Fortgang, günstige
Teilnahme und dankbare Benutzung.
Gehört ein solches Werk zunächst in alle öffentlichen Sammlungen und statt¬
lichem Liebhaberbibliotheken, so halten wir „Die Kunst der Jahrhunderte" — einen
über achthundert Seiten starken, bis gegen Ende der italienischen Hochrenaissance
erzählenden Band von Anton Kisa (Spemann) — für besonders geeignetem
wissenschaftlich anspruchslosern Kreisen aus ihm vorzulesen. Kisa gibt in fließender,
zum Teil altfeuilletonistischer Erzählungsweise alles das, was neuerdings, um
für spezielle moderne Zwecke Raum zu gewinnen, aus den Kunstgeschichten
weggelassen zu werden pflegt, besonders Kulturunterbau und Anekdoten. Als
ich Gymnasiast war, war es in unsrer Schule Brauch, den Klassenlehrer in der
letzten Stunde vor Weihnachten zu bitten, etwas vorzulesen oder vorlesen zu
lassen. Die Stimmung dieser Dezembernachmittagsstunde, in einer sich unmittelbar
vor Weihnachten gelassen und traulich beisammen fühlenden Sekunda bei einem
Dutzend leise singender Gasflammen, hat für mich Kisas Buch. Was er und
wie er von Karls des Großen Kunstpflege oder von Michelangelo, von Pompeji
oder von Bernward von Hildesheim erzählt — mit Seitenlängen Zitaten aus
Bulwer, Goethe, Taine, Vasari — oder von den Gebrüdern Boisseree als Ein¬
leitung zur altdeutschen Malerei, als ob er mit ihnen in dem alten Kölner
Schutt herumgestöbert Hütte, das enthält so viel Erfahrung und wird so behaglich
geboten, daß es für den Neuling wohl besonders anziehend und unterrichtend ist.
Als eine moderne Ergänzung zu Kisa könnte man das neuste Buch des
kunstschriftstellerisch recht fruchtbaren Königsberger Professors Haendcke bezeichnen
„Kunstanalysen aus neunzehn Jahrhunderten" (G. Westermann). Haendcke, nun
auch zu der Gefolgschaft jener modernen Kunsthistorikergruppe zu zählen, die
eigentlich nur mit künstlerischem Bewußtsein sehen lehren will, verzichtet auf das
biographische und anekdotische, ja auch auf den historischen Zusammenhang und
fragt bloß: Was kann ich über dieses oder jenes Kunstwerk aussagen so. daß
ich feine charakteristischsten Reize auf mein Auge ausspreche? Man hat diese
Frage bis jetzt mit voller Energie erst an eine kleine Anzahl hervorragender
Werke klassischer Zeiten und ihrer Nachbarschaft und an Modernes gestellt;
Haendcke legt sie hier zum erstenmal systematisch einem Gang durch die gesamte
Kunstgeschichte der christlichen Zeitrechnung zugrunde. Natürlich kann er da nur
auswählen; von Dürers Gemälden zum Beispiel bespricht er nur das Nosen-
kranzfest. den Dresdner Christus und die Apostel, von denen Rembrandts nur
die Mühle, die Berliner Susanna und die erste Anatomie. Da ihn aber dabei
gute Illustrationen, zum Schluß auch ein paar farbige unterstützen, kommt
mancherlei lehrreiches zur Sprache. Das Buch ist jedoch nur ein Versuch.
Oft bleibt der Verfasser noch im Geistreichen stecken, oft ist auch die Betrachtung
und die aus ihr fließende Darstellung zu ungenau. Von Tintorettos bekanntem
„Hochzeitmahl zu Kana" sagt Haendcke: „Ganz an das ^so) Ende eines lang und
gerade in den Raum hineingeführten Tisches sitzt der Heiland, sodaß die Auf¬
merksamkeit des Beschauers keineswegs ihm zuerst entgegeneile. Künstlerisch hat
Tintoretto aber den Herrn dadurch zum Zentralpunkt gemacht, daß er sämtliche
Richtungslinien der Architektur sich im Haupte Christi schneiden läßt." In der
Tat fällt der Blick — nach einem ersten zerstreuten Schauen — sofort unfehlbar
auf Christus: man sieht die Tafel entlang senkrecht in die Tiefe dorthin, wo
vor dunkelm Grunde die kleine Heilandfigur im Heiligenschein sichtbar wird, weil
sich in der Nähe — nicht auf ihm, das wäre ein der Tintorettoschen Barock¬
kunst nicht gemäßer, zu primitiver Effekt gewesen — die perspektivischen Linien
sammeln, auf der Brust eines mitten im linken Fenster in der letzten Tiefe des
Saales stehenden Mannes. Oder um ein modernes Beispiel zu wählen: wie
kann man an Mittels Sciemann mit den Worten heranführen wollen: „Eine
absolut reizlose Landschaft, ein wenig belebter, kalter Himmel, ein unbestelltes
Feld, auf ihm der schreitende Mann", wenn der Blick auf einen weiträumiger,
hinten zum Hügel ansteigenden, in der Bestellung befindlichen Acker gegeben
wird, dessen schlichte, aber große Eigenschaften eben seine Reize sind, und wo sogar
die romantische Note nicht fehlt, indem vorn dem tätigen Gegenwartsarbeiter in
der Ferne der verfallne Turm einer einstigen Ritterburg, unmittelbar neben dem
Bauernhut in das Bild gestellt, kontrastiert wird, die Turmwand die hellste
Stelle, der Bauernkopf die dunkelste des Bildes, von Gestrüpp, Vogelschwarm
und Gewölktreiben zu schweigen. Auf all die folgenden subjektiven Bemerkungen
„in der Bewegung des rechten Armes liegt ein Ausdruck von Größe, um nicht
zu sagen von Schöpfergröße; ja die ganze Figur atmet diese Großheit" ver¬
zichten wir gern und sagen schließlich, daß der Hauptwert dieses — bestechend
ausgestatteten — Buches in seiner immerhin deutlichen Absicht liegt.
Zwei Monographien seien nun betrachtet. Martin spähn, der bekannte
Straßburger katholische Historiker, hat einen eigentümlichen Versuch gemacht,
das Entstehen von Michelangelos Malereien in der Sixtinischen Kapelle, das
in den letzten Jahren wiederholt Gegenstand eines eindringenden, rein kunst¬
wissenschaftlicher Studiums gewesen ist, nun wiederum auf das engste mit der
Papstgeschichte jener Jahre und — einem Bestandteil der römischen Liturgie zu
verknüpfen. Er glaubt, in der Karsonnabendliturgie das anregende Erlebnis für
den Maler zu seiner großen Konzeption gefunden zu haben. Uns haben diese
Darlegungen nicht so eingeleuchtet, wie wir es von einer solchen Hypothese
erwarten müssen. spähn preist zwar jene Liturgie lebhaft; wer aber von der
römischen Kirchenmusik um 1500 eine vollständigere Vorstellung hat, kann in
ihr nur ein musikalisch sehr bescheidnes und ganz im Schatten stehendes
Stückchen sehn, dessen überladner Text sich wohl nur zufällig in einigen Punkten
mit Michelangelos Darstellungen berührt. Überall, wo Spahn im Verlauf seiner
ausführlichen Verfolgung der Entstehung der Teile der Deckenmalerei jene
Liturgie — immer nur mit einer allgemeinen Erwähnung — heranzieht, haben
wir uns durch diese Zitierungen nicht im mindesten gefördert gefühlt. Und auch
in manchen weitern Einzeldeutungen an jener Decke, wo uns Spahn ohne die
Liturgie zu Hilfe kommen will, sehn wir ihn mitunter für einen katholischen
Historiker doppelt befremdliche Irrwege einschlagen, so wenn der Prophet Daniel
an dieser Stelle als „das schaffende Künstlertum" aufgefaßt, sein einfachstes
Schreiben zu einem „Kreidezeichnen" uminterpretiert wird usw. Michelangelos
Arbeit ist wohl hauptsächlich als großartige bewußte Ergänzung dessen auf¬
zufassen, was er an Wandmalereien in der Sixtinischen Kapelle schon vorfand,
so sehr er sich imstande fühlte, es künstlerisch zu übertreffen. Auf seine ArbÄts-
stimmungm scheint uns allerdings Spahns sorgfältige Heranziehung der Geschichte
Julius des Zweiten einiges neue Licht zu werfen.
Mit andrer Empfindung möchte man von dem jüngst erschienenen ersten
Bande des großen Michelangelowerkes des Berliner Professors Karl Frey
sprechend) Frey ist seit bald dreißig Jahren um die eingehendste Kenntnis von
Michelangelos Leben und Werken bemüht; zahlreiche Studien in Kunstzeit¬
schriften. Ausgaben altitalischer Biographen, der Gedichte Michelangelos, neuer¬
dings auch seiner Zeichnungen bezeugen es. Andre lebende Gelehrten, die sich
mit Michelangelo beschäftigt haben, auch z- B. spähn, arbeiten zu einem guten
Teil mit dem von Frey aufbereiteten Material. Nun will Frey, der so fleißig
gesät hat, jetzt hier selbst ernten. Und was wir erhalten, ist nichts mehr und
nichts weniger als das vollständigste deutsche Werk über den größten ita¬
lienischen Künstler. Frey führt eine bestimmte, klare, ruhige Sprache, er gehört
keiner kunstwissenschaftlicher Moderichtung an; überall beim Lesen des Buches
hat man das Gefühl, sich in einem vertrauenswürdiger Verkehr zu befinden.
Wir sind geneigt, sein Werk, obwohl erst der Anfang von ihm vorliegt, der
letzten großen deutschen Michelangeloarbeit, der von H. Thode. vorzuziehen. Der
Verfasser ist jedenfalls unsers Dankes und des Dankes der Leser gewiß, auch
wenn sie sich hier und da wie wir zur Kritik aufgefordert fühlen sollten. Viel¬
leicht dürfen wir auf einige solche Punkte hier etwas eingehn, zum Beispiel Freys
Entscheidung der Frage: Verstand Michelangelo Latein? Im Haupttext wird sie
etwas brüsk erledigt: „Latein hatte Michelagniolo nicht verstanden" (warum
das Plusquamperfektum?). In dem Ueberhand kommt Frey zu dem etwas
anders lautenden Ergebnis, daß sich Michelangelo mit einem gelegentlich eigen¬
händig niedergeschriebnen Hexameter — Vallo 1volo8 vo.1g.u8a toto mioki rmllus
in orth (die spätmittelalterliche Orthographie ist nicht tragisch zu nehmen) —
„ gerade nicht als einen berühmten Lateiner" gezeigt habe. Und doch war er einer
der besten Kenner der Bibel? d. h. in Italien der Vulgata? Man wird wohl
zugeben können, daß ihm das damals mit großen Ansprüchen auftretende cicero-
nianische Humanistenlatein nicht eigentlich bekannt war; aber ihm die Kenntnis
des spätmittelalterlichen Umgangslatein abzusprechen halten wir für verfehlt. Es
ist dies eine Frage der allgemeinen kulturgeschichtlichen Bildung, ebenso wie
folgendes eine Probe auf die Echtheit der literarischen Empfindlichkeit des Ver¬
fassers ist. Auf Seite 90 sagt Frey: „Wenn nach Lessings Vorgange von
Enthusiasten behauptet worden ist, Raffael wäre doch der göttliche Meister ge¬
worden, würde er auch ohne Hände auf die Welt gekommen sein, so vermag ich
mir diese Perspektive nicht recht vorzustellen." Dazu halten wir zunächst für
gut, die namenlosen Enthusiasten einmal auszuschalten und den Satz, den
Lessing den Maler Conti sprechen läßt, wörtlich zu zitieren: „Meinen Sie,
Prinz, daß Nasfael nicht das größte malerische Genie gewesen wäre, wenn er
unglücklicherweise ohne Hände wäre geboren worden?" Zu beachten ist, daß
auf diese Frage keine Antwort erfolgt. Und dann bitten wir den Leser, bei
Frey Seite 142 den Satz aus einem Briefe Michelangelos aus dem Oktober
1542 nachzulesen: 8i äipiMv col osrusllo 6 non von 1s mani, man malt mit
dem Hirn und nicht mit den Händen. Das ist ja Lessings Gedanke, hier wie
dort im Munde eines echten Künstlers. Was sagt Professor Frey zu dieser
Perspektive? Aber auch auf das bloße rechte Sehen wird man die Kritik beim
Lesen von Freys Werk zu erstrecken haben. Die Treppe eines bekannten Jugend¬
reliefs Michelangelos zum Beispiel (Madonna an der Treppe) ist von dem Künstler
nicht, wie Frey will, steil hinauf und in einem spitzen Winkel jenseits sofort
wieder absteigend dargestellt, sondern setzt sich nach erreichter Höhe zunächst eben
fort. Und der Berliner Giovannino soll immer noch von Michelangelo sein?
Von dem großen italienischen Genie zu einem kleinern deutschen, zu Philipp
Otto Runge. Die Jahrhundertausstellung klingt ja noch immer nach, und dem
einen oder dem andern ihrer Besucher mag die neu gewonnene Bekanntschaft
mit dem Maler Runge das interessanteste Erlebnis 1906 in Berlin gewesen sein.
Wir aber sind glücklich, Goethes klassische Worte über ihn, indem wir die
individuell-persönlichen Beziehungen ausscheiden, unterschreiben zu können: „Es
ist ein Individuum, wie sie selten geboren werden. Sein vorzüglich Talent, sein
wahres treues Wesen, als Künstler und Mensch, erweckt Neigung und Anhäng¬
lichkeit bei uns, und wenn seine Richtung ihn von dem Wege ablenkt, den wir
für den rechten halten, so erregt es in uns kein Mißfallen, sondern wir be¬
gleiten ihn gern, wohin seine eigentümliche Art ihn trägt." Den Menschen
Runge, wie wir ihn aus seinen Kunstwerken nur ahnen und fühlen, und wie
ihn der Gelehrte aus der zweibändigen Sammlung seiner Schriften besser kennt,
die 1840/41 sein ältester Bruder in Hamburg herausgab, bringt uns das neuste
(16.) Bändchen der „Statuen deutscher Kultur" (München, Beck) in freundlicher
und glücklicher Weise nahe: „Philipp Otto Runge, Gedanken und Gedichte."
Ausgewählt von Emil Sulger-Gebirg. Wir geben daraus hier eine der letzten
und reifsten Äußerungen Runges über Künstlersinn aus dein Anfang des
Jahres 1810 weiter: „Das Studium der Alten und das Entwickeln aller Stufen
der Kunst daraus ist zwar sehr gut; es kann aber dem Künstler nichts helfen,
wenn er nicht dahin kommt oder gebracht wird, den gegenwärtigen Moment des
Daseins mit allen Schmerzen und Freuden zu fassen und zu betrachten; wenn nicht
alles, was ihm begegnet, persönliche Berührung mit der weitesten Ferne und dem
innersten Kern seines Daseins, mit der ältesten Vergangenheit und der herrlichsten
Zukunft wird, die ihn nicht zerstört, sondern stets vollkommener formiert."
Das gälte nicht fast ganz auch heute noch? Merkwürdig, wie der Anfang
des neunzehnten Jahrhunderts dem Anfang des zwanzigsten so besondre Nahrung
gibt. Bis in unsre Wohnungskultur herein. Ein neues Buch von Joseph August
Lux, der unsern Lesern durch den flotten Aufsatz „Zur Psychologie der Mode"
bekannt ist. ganz im Sinne dieses Aufsatzes geschrieben, „Geschmack im Alltag"
(Dresden, Kühtmann), bringt unter anderm manche Beispiele guter Zimmerein¬
richtung und reiner Möbelformen aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts.
Lux führt namentlich den Kampf gegen die unechten Sezessionsmöbel mit
Temperament — und mit Recht. Schlechtes und gutes, links und rechts ab¬
gebildet, mit ein paar Spott- und Lobworten gleich darunter: schon dieser
Jllustrationsteil des Buches ist geeignet, gut bildend zu wirken. Dabei sind wir
weit davon entfernt, alle Urteile des Verfassers zu unsern zu machen. Es
erscheinen da zum Beispiel auch Gartenbänke von einem Lobstrahl getroffen, bei
deren bloßem Anblick wir unbehagliche Empfindungen im Rücken und sonst spüren,
und mit denen wir. wenn es sein müßte, die körperliche Bekanntschaft auf das
geringste Maß beschränken würden. Folgende von Lux als gutes Musterbeispiel
reproduzierte Künstlereinladung, deren gewaltig plumpe Randschnörkel und kaum
entzifferbare Schrift wir hier nicht wiedergeben können:
verabscheuen wir schon wegen ihrer Zerreißung der Worte und der Syntax an den
Zeilenenden. Vielleicht auch schade für die Wirkung des Buches, daß der Ver¬
fasser die in Österreich geschriebn«» Abschnitte nicht umgearbeitet hat, auch sprachlich,
einiges ist geradezu unverständlich.*) Trotzdem empfehlen wir das Buch unsern
Lesern wegen feines anregenden Tones, seiner gesunden Absicht und des vielen
direkt Brauchbaren darin. Ach, wem allen möchte ich allein das nette kleine
Kapitel über das Porträt ins Gemüt hinein vorlesen!
Noch stehn wir am Anfang des Jahres, und so sei Gegenwart und Ver¬
gangenheit noch einmal verbunden mit dem Hinweis auf solche Kalender, die
Landschaftkunst und Heimatkunstgeschichte Pflegen und — ein erfreuliches Zeichen
der Zeit — hier und dort in deutschen Gegenden jetzt aufkommen. Man sollte da
nicht immer bloß den Kalender der eignen Heimat für sich kaufen, sondern auch
nach auswärts verschenken, der Tante in Hamburg zum Beispiel einmal den
Leipziger Kalender und dem Freund im Elsaß die „Altfränkischen Bilder"
(Würzburg, Stürtz), die nun schon ins vierzehnte Jahr gehn.
lürde man nur Journale literarischen Inhalts zu Gesicht be¬
kommen und beurteilte nach ihnen unsre Zeit, so könnte man
leicht zu der Ansicht verführt werden, unsre Kultur mache große
und gediegne Fortschritte, und die Welt habe schon einen Höhe¬
punkt in der Erleuchtung der Geister erreicht. Woche für Woche
> werfe ich einen forschenden Blick in die massenhaft anschwellenden
Ankündigungen von Büchern; ich bemerke eine große Menge von Buchhändler¬
firmen, die eifrig bemüht sind, jeder Art von Büchern Vorschub zu leisten,
alten wie neuen; ich sehe unzählige Namen von Autoren, tätig in jedem
Gebiet der Literatur.*) Viel von dem Annoncierten entlarvt sich von selbst als
nur von ephemeren oder von gar keinem Wert; aber welche Masse wird ge¬
druckt, um die Aufmerksamkeit der Gebildeten und Wißbegierigen zu erregen!
Dem großen Publikum wird eine Reihe klassischer Autoren dargeboten, sehr
schön in der Ausstattung und spottbillig im Preise. Wahrlich! niemals
breitete man früher vor den Augen der Kenner solche Schätze aus, so wohl¬
feil und so geschmackvoll. Für die reichen Leute stehn pompöse Bände zur
Verfügung, Prachtausgaben, wahre Kunstwerke, auf deren Herstellung ohne
Rücksicht auf die Kosten die unglaublichste Sorgfalt und Geschicklichkeit ver¬
wandt worden ist. Wieder in andern Büchern ist die Weisheit aller Völker und
Zeitalter aufgespeichert; mag einer irgendein Studium ergriffen haben, er
wird hier alles finden, was er zu wissen begehrt, was jemals und auf jedem
Gebiet die Gelehrsamkeit zutage gefördert hat. Die Wissenschaft bringt ihre
neusten Entdeckungen am Himmel und auf der Erde auf den Markt, sie
spricht eine Sprache, verständlich sowohl für den Philosophen in seiner Studier¬
stube wie für das Volk auf dem Marktplatz. Zahllose Publikationen ent¬
halten ergötzliche, phantasievolle Essays oder witzigen und geistreichen Kleinkram,
eine Blumenlese aus allen Bereichen menschlichen Interesses. Novellisten
dienen einem andern Geschmack; sie nehmen in der Tat den Ehrenplatz in
den Katalogen der Buchhändler ein. Wer kann sie zählen? wer kann be¬
rechnen, wie viele Leser sie haben? Auch Verseschmiede gibt es; wer aber
genauer zusieht, der wird bemerken, daß die heutigen Dichter wenig Anklang
mehr bei dem Publikum finden. An Reisebeschreibungen ist ebenfalls kein
Mangel; doch die Begierde nach Informationen über ferne Länder dürfte
viel geringer sein als das Verlangen nach spannenden Romanen.
Denkt man über all das eben Gesagte etwas nach, so müßte man zu dem
Glauben kommen, daß es geistige Interessen sind, die in der Gegenwart die
Hauptrolle spielen. Finden sich doch immer Käufer fiir die Unmasse von
Büchern, die die Druckerpresse ununterbrochen in die Welt befördert! Wie
wäre es möglich, daß ein so großartiges Geschäft blüht und gedeiht, wenn
nicht ein intensives geistiges Bedürfnis in der ganzen Nation vorhanden
wäre? Es steht ja fest, daß sich die Pnvatbibliotheken in den Städten und
auf dem Lande täglich vermehren, daß weite Volkskreise einen großen Teil
ihrer Zeit auf Lesen verwenden, und daß am meisten literarischer Ehrgeiz zu
energischer Tätigkeit antreibt. ^ » . ^-- ^>
So verhält es sich in der Gegenwart. Genügt dies, um mit Zuversicht
in die Zukunft unsrer Kultur bUckcn zu können? Man bedenke zw
erstens, daß das an und für sich bedeutende literar.sche Geschäft relativ
ziemlich beschränkt ist. und zweitens, daß üterar,sche Leistungen durchaus kein
stichhaltiger Beweis von jener geistigen Beschaffenheit sind, die einem wirklich
hochgebildeten Menschen eigen sein muß.
Man lege die Fachzeitschriften beiseite und nehme nur die Morgen- und
Abendblätter zur H?ut sie geben den einzig richtigen Maßstab. Man lese
die Zeitungen die drei oder einen halben Penny kosten und denke darüber
nach, was darinnen steht. Möglich, daß ewige Buches
sollte die Erwähnung auch einigermaßen befriedigend sem. so vergleiche man
dagegen den Raum, den sie einnimmt, mit jenem, der den materiellen Inter¬
essen gewidmet ist. Ein verschwindend geringer Bruchteil des Publikums
liest mit Aufmerksamkeit den Abschnitt über neu erschienene Bücher zu Ende;
von weitaus der Mehrzahl kann man annehmen, daß sie es gar nicht bemerken
würde, wenn von morgen an kein einziges Buch mehr gedruckt würde. So
sind denn tatsächlich die vielen Ankündigungen der vortrefflichsten Werke nur
für ein paar tausend Engländer bestimmt, und die sind über den ganzen Erd¬
kreis verstreut, sodaß manche der interessantesten Bucher höchstens in ewigen
hundert Exemplaren Absatz finden. Nimmt man alle Frauen und Männer aus
dem ganzen großen britischen Weltreich zusammen, für die der Genuß gediegner
Geistesprodukte ein unentbehrliches Bedürfnis :se. so konnte man sie alle mit¬
einander zweifelsohne ganz bequem in der Alber Halle unterbringen.
Andrerseits ist es nicht offenbar, daß unsre Zeit nach geistiger Ver-
vollkommnuna strebt? Ist nicht die Vorliebe für literarische Erzeugnisse em
Beweis dafür? War zu irgendeiner Zeit die wissenschaftliche wie die schöne
Literatur so weit verbreitet wie jetzt? Übe nicht die Minorität der hervorragend
Intelligenten allerwärts einen tiefgehenden Einfluß aus? Stehn diese nicht
an der Spitze und weisen die Wege, und fügt sich ihnen nicht die Menge,
wenn auch unstetig und zögernd? , -v, ... »,
Gern möchte ichs glauben. Wenn mich das Bezweifeln trübe stimmt,
muntere ich mich auf und sage zu mir: Denke an die doch zahlreich vorhandnen
Männer voll Verstand! Denke daran, wie sie sich überall bemühen, Licht zu
verbreiten! Sollte es da möglich sein, daß ihr edles Bestreben von blinder
Brutalität immer wieder vereitelt wird, noch dazu in einem Zeitalter weit
vorgeschrittener Kultur? Einverstanden. Aber sind diese Verständigen und
Aufgeklärten, sind die Autoren, Forscher, Professoren und alle übrigen Hoch¬
gebildeten immer ein Muster der Gerechtigkeits- und Friedensliebe, von tadel¬
losem Benehmen und reinsten Sitten? Sind sie wirklich die Repräsentanten all
der Tugenden, auf denen die wahre Zivilisation beruht?
Ich muß dies verneinen. Es offenbart sich hier der Irrtum von rein
theoretischen Einsichten. Die praktische Erfahrung belehrt uns jederzeit, daß
eine bedeutende Persönlichkeit zwei Seiten haben kann, eine durch Intelligenz
ausgezeichnete und eine in Moralität minderwertige. Ein Altertümler zum
Beispiel kann ein großer Gelehrter sein und sich doch um die höchsten Güter
der Menschheit gar nicht kümmern. Ein Historiker oder Biograph, ja selbst
ein Poet kann ein Börsenspekulant, ein Salonbummler, ein wütender Chauvinist
oder ein gewissenloser Intrigant sein. Und was die „Leuchten der Wissen¬
schaft" betrifft, welcher Optimist möchte behaupten, daß sie immer die Pfade
der höchsten Tugend wandeln?
Jsts demnach mit den führenden Geistern schlecht bestellt, so sieht es bei
denen, die auf ihre Worte hören, nicht viel besser aus. Das lesende Pu¬
blikum — welch ein Jammer! Es wird kaum ein so findiger Statistiker auf¬
zutreiben sein, der nachzuweisen vermöchte, daß unter einem Dutzend Menschen,
die gehaltvolle Bücher lesen, auch nur einer ist, der sie mit Verständnis liest.
Hat wirklich jemand die naive Ansicht, daß die vortrefflichen und vornehmen
Werke, die in stattlicher Anzahl eine willkommne Aufucchme in weiten Kreisen
gefunden haben, so hochgeschätzt werden, wie sie verdienen? Man bedenke: die
Leute, die solche Bücher kaufen, tun es, weil es die Mode erheischt, oder weil sie
damit prunken wollen, oder weil sie stolz auf ihren nobeln Geschmack sind;
andre verlockt ein recht schöner Einband; auch nimmt es sich gut aus, damit
ein feines Geschenk zu machen. Vor allem aber muß man sich vorstellen, wie
groß die Menge ist, die ohne Spur von Wißbegierde und ohne innern Drang
Bücher kauft, jenes Heer der Halbgebildeten, das so charakteristisch für unsre
Zeit und zugleich eine so drohende Gefahr für die Zukunft ist. Mit Vergnügen
will ich einräumen, daß es darunter einige gibt, deren Sinnes- und Gemüts¬
art ihrem Leseeifer entspricht; ihnen — zehn unter zehntausend! — drücke ich
in brüderlicher Liebe die Hand. Aber wie kann ich als Vorboten einer schönern
Zukunft jene faden Burschen ansehen, die von Literatur schwatzen, die Bücher¬
titel und Autornamen in ihrer Dummheit verstümmeln oder mit affektiert
näselndem Ton den Rhhthmus eines Gedichts verhunzen?
Man sagt,,,die Halbbildung werde eine Vollbildung werden; wir befänden
uns in einem Übergangsstadium von der alten traurigen Zeit, wo sich nur
wenige akademischer Bildung erfreuen konnten, zu einer glücklichen Zukunft,
wo die ganze Jugend auf das ergiebigste unterrichtet werden würde. Diesen
hoffnungsvollen Aussichten steht leider im Wege, daß Unterricht und Erziehung
Dinge sind, für die sich nicht viele eignen. Man kann lehren und predigen,
soviel man will, nur ein geringer Prozentsatz wird Nutzen daraus ziehen.
Auf dürrem Boden gedeiht keine reiche Ernte. Der gewöhnliche Mensch bleibt
ein gewöhnlicher Kerl; wird er sich mehr und mehr seiner Macht bewußt, macht
er sich geltend in der Öffentlichkeit, bekommt er alle materiellen Mittel des
Landes in seine Hand, wehe! Dann tritt in Wirklichkeit ein Zustand ein, der
jetzt schon als fernes Gespenst jeden Engländer mit Bangen erfüllt.
Ein alter Bekannter, der Schriftsteller N,, besuchte mich neulich; schon
sein Anblick tat mir wohl. Man sieht ihm an, daß er mehr Freudiges erlebt
hat als die meisten Menschen. Niemals litt er unter übermäßig harten Be¬
drängnissen, die etwa seine Gesundheit angegriffen oder semen Geist beunruhigt
hätten Sogar an seine schlimmsten Zeiten denkt er mit Behagen zurück; denn
in seinen schlimmsten Zeiten brauchte er nur etwas fester zu arbeiten, um eine
Fünfpsundnote zu verdienen, wenn er auch acht immer ganz sicher war, sie
zu bekommen. Jetzt geht es ihm ausgezeichnet; 2000 Pfund Sterling nahm
er im letzten Jahr als Honorar ein. übrigens eine nicht so enorme Summe
in Anbetracht der Riesensummen, die ewige Autoren einstreichen, aber doch
eine sehr respektable für einen Schriftsteller, der nicht dem Geschmack des großen
Haufens huldigt. ..Zweitausend Pfund in einem Jahr." Ich sah meinen
Freund voll Hochachtung an. Er ist für mich da» großartigste Beispiel litera¬
rischen Erfolgs. Wahrlich! ein Autor, der nach manchen Enttäuschungen endlich
durch ehrenvolle und tüchtige Arbeit so reichlichen Lohn erntet gehört zu den
beneidenswertesten Ausnahmen. Dazu verdient er die Masse Gew in,t fabel¬
hafter Leichtigkeit und Bequemlichkeit. Zwei oder höchstens drei Stunden des
Tags am Schreibtisch, und nicht einmal an jedem Tag genügen ihm voll¬
ständig. Natürlich hat er anch seine uZruchtbaren Zeiten quält sich und
macht Mißgriffe; doch steht das nicht rin Verhältnis zu den Perioden genialen
und fröhlichen Schaffens. Jedesmal, wenn ich ihn sehe steht er gesunder aus.
In den letzten Jahren trieb er mit Eifer Gymnastik und ging viel auf Reisen.
Er lebt glücklich mit Weib und Kindern. Daß er imstande ist. der ohnehin
komfortabeln Existenz seiner Familie noch alle möglichen Extravergnugungen
hinzuzufügen, erhält ihn in konstant heiterer Stimmung; auch Fall früh-
zeit g n Tod s hat er reichliche Vorsorge getroffen Freunde und Bekannte
hat er so viel, wie er will; sie setzen sich gern an seine gastliche Tafel. Weit
und breit ist er beliebt, mit Genugtuung Hort er sich gerade von denen loben,
auf die er etwas hält. Dabei hütet er ich. W Renommee durch öffent¬
liches Auftreten aufs Spiel zusetzen; er befürchtet, möglicherweise zu mißfalle
Ihm ist mehr daran gelegen, ein wirklich gutes Buch zu schreiben, als viel
Geld zu verdienen. Seine Kritiken sind noch immer in demselben kecken und
freimütiger Ton gehalten wie in jenen Tagen, wo sein jährliches Einkommen
kaum einige hundert Pfund betrug. Er vergeudet seine Mußestunden nicht
mit der Lektüre banaler modernster Literatur; was er liest, sind Werke von
Bedeutung, mögen sie alt oder nen sein, und er vertieft sich in ste mit jugend¬
licher Energie. Er gehört zu den Menschen, dieich liebe. Ob er auch mich
liebt, weiß ich nicht, ist mir auch gleichgiltig^ Jedenfalls findet er Gefallen
um meiner Gesellschaft, denn sonst käme er nicht zu nur nach Devon. Er steht
in mir seine eigne, glücklich überwundne Vergangenheit leibhaftig vor seinen
Augen, und darum interessiert er sich für mich. Da er um zehn Jahre junger
ist. gelte ich ihm als ein bemoostes Haupt, und er behandelt mich, wie mich
dünkt, mit etwas zuviel Ehrerbietung. Einig- meiner Arbeiten schätzt er
ziemlich hoch, doch scheint er zu denken, 'es hatte gerade noch zu rechter Zeit
aufgehört und darin hat er sicherlich recht. Ware ich acht kürzlich em solcher
Gluckspinsel gewesen und müßte noch jetzt mein täglich Brot sauer verdienen,
wir wurden uns wahrscheinlich viel seltner sehen. Er ist eme sehr zartfühlende
Seele; es würde ihm peinlich sein, vor einem verkommnen Journalisten aus
Grubstreet, wie ich es bin. seine geistige Überlegenheit aus Unachtsamkeit oder
zufällig merken zu lassen, und für mich wäre der Gedanke nicht minder peinlich,
daß er nur anstandshalber die Bekanntschaft mit mir fortsetzt. So aber, wie
es jetzt steht, sind wir wirklich zwei recht gute Freunde, die, durch nichts geniert,
sich am Beisammensein und an gegenseitiger Unterhaltung für ein paar Tage
erfreuen. Dabei schmeichelt es meiner Eitelkeit, daß ich ihm ein anständiges Schlaf¬
zimmer anbieten und ein schmackhaftes Mittagessen vorsetzen kann. Außerdem
befinde ich mich in der angenehmen Lage, eine Einladung in sein elegantes
Heim jederzeit ohne Beschämung oder Verlegenheit annehmen zu können.
Doch diese 2000 Pfund Sterling wollen mir durchaus nicht aus dem
Kopf. Hätte ich in frühern Jahren ebensoviel verdient, was wäre wohl aus
mir geworden? Etwas gutes? — gewiß; aber in welcher Weise? Vielleicht
wäre ich ein Gesellschaftsmensch geworden, der feine Diners gibt und sich
brüstet, Mitglied eines vornehmen Klubs zu sein. Oder sollte ich es dennoch
vorgezogen haben, in die Einsamkeit mich zurückzuziehn, um ein so beschau¬
liches Leben zu führen, wie es mir jetzt beschieden ist? Wahrscheinlich das
letztere. Als ich zwanzig Jahre alt war, sagte ich oft: Wie herrlich wird es
sein, wenn du dereinst ein Vermögen von 1000 Pfund Sterling dein eigen
nennen kannst! Niemals bin ich in den Besitz einer so großen oder annähernd
so großen Summe gekommen, und niemals werde ich sie haben. Unerfüllbar
war der Wunsch meiner Jugend nicht, sondern nur — naiv.
In London gibt es wohl keinen zwanzigjährigen, guterzognen und gründ¬
lich unterrichteten Jüngling mehr, der, wie ich seinerzeit, in einer Dachkammer
wohnen möchte, um mit Schriftstellern sein Leben zu fristen, und der dabei
trotz seiner Armut voll glühenden Strebens festen Mutes in die Zukunft schaut.
Was ich in den letzten Jahren über jugendliche Schriftsteller gelesen und gehört
habe, zeigt sie mir in einem ganz andern Licht. In Dachkammern wohnen sie
jedenfalls nicht, auch warten sie nicht mit Hangen und Bangen auf einen Tag
großen Erfolges. In feinen Restaurants befindet sich ihr Hauptquartier, wo sie
die Kritiker, die ihnen schmeicheln, reichlich bewirten; sie sitzen auf den teuersten
Plätzen in den Theatern und bewohnen elegante Etagen, wo sie sich gelegentlich
für eine illustrierte Zeitung photographieren lassen. Dünkt ihnen ihre Wohnung
nicht anständig genug, so halten sie sich unter Tags in einem vornehmen Klub
auf. Ihr exquisiter Anzug erlaubt ihnen, in Gartengesellschaften und in Drawing
Rooms zu erscheinen und schützt ihr Benehmen vor hämischen Glossen.
Kürzlich erfuhr ich aus einem biographischen Feuilleton, daß der junge
Herr Soundso oder das Fräulein Soundso, deren Erstlingswerke allgemeines
Aufsehen erregt hatten, bei dem und jenem Lord eingeführt wurden; doch
nirgends fand ich eine Andeutung, daß sie vorher harte Zeiten durchgemacht,
gehungert und gefroren hätten. Ich fürchte, die Bahn der Schriftstellerei ist
jetzt recht glatt geebnet worden. Denn ein junger Mensch, der vermöge seiner
Erziehung mit der höhern Mittelklasse auf gleichem Fuße steht, gerät in diesen
Tagen höchst selten in arge Bedrängnis, falls er die Schriftstellerei zum Beruf
erwählt. Aber gerade darin steckt die Wurzel alles Übels. Man sieht die
Schriftstellerei als einen Beruf oder eine Profession an, die sich ebenso leicht
erlernen läßt wie etwa Theologie oder Jurisprudenz. Will ein Jüngling
Schriftsteller werden, so willigt sein Vater ohne Umstände ein, und sein Onkel
gewährt den nötigen Zuschuß. Von einem Rechtsanwalt hörte ich neulich
sogar erzählen, er gebe jährlich ein paar hundert Pfund für den Unterricht
seines Sohnes im Romanschreiber aus, und der Lehrer sei noch dazu kein
hervorragender Meister in seiner Kunst. Das gibt zu denken; es ist gewiß ein
bemerkenswertes Faktum und charakterisiert die moderne Literatenwirtschaft.
Es ist ja nicht unbedingt nötig, um gute Bücher zu schreiben, daß man
hungert. Doch ich kann mir nicht helfen, ich hege ein entschiednes Mißtrauen
gegen solche Schriftsteller, die gewohnt sind, nur auf scimmetweicheu Teppichen
durchs Leben zu spazieren. Ich keime zwei oder drei unter ihnen, die noch
etwas wie ein Gewissen haben und etwas von Schöpferkraft in sich spüren;
ihnen möchte ich, um sie vor Verwöhnung und Verweichlichung zu bewahren,
ein recht tüchtiges Mißgeschick an den Hals wünschen, das sie hilflos And
freundlos auf die Straße hinausstieße. Möglich, daß sie dabei zugrunde gehn.
Aber ist diese Möglichkeit nicht weitaus der unentrinnbaren Gewißheit vor-
zuziehn, daß ihre Seelen bei dem üppigen und leichtsinnigen Schlaraffenleben
im Fett ersticken und verderben? ^ . ^ . ., .
Ich möchte wissen, ob die ziemlich allgemein verbreitete Ansicht richtig ist,
daß Anthony Trollopes Selbstbiographie in gewissem Grade schuld daran ist,
daß er und seine Werke so bald nach seinem Tode der Vergessenheit anheim¬
fielen. Unwahrscheinlich ist es mir nicht, da es nur ein weiterer Beweis für
die „ungeheure Dummheit" des Publikums wäre In Wahrheit konnte doch
die Vortrefflichkeit von Trollopes Werken dadurch nicht beeinträchtigt werden,
daß man erfährt, wie sie entstanden sind! Trollope war ein bewunderungs¬
würdiger Schriftsteller der realistischen Schule; wird auch sein Name nicht
mehr genannt völlig vergessen wird er me werden Er hatte wie alle Novellisten
von Ruf zwei Arten von Verehrern: die einen lasen ihn wegen seines manchmal
geradezu stupenden Stils, die audern. das heißt die große Menge der Arte.ls-
losen, wegen der leichten und angenehmen Unterhaltung die er bot.
Erfreulich übrigens wäre der Gedanke daß „das ungeheuer dumme
Publikum" aus dem Grunde hauptsächlich Anstoß an seiner Autobiographie
genommen habe, weil sie Enthüllungen über seine Technik beim Schriftstellern
bringt, die für den Laien widerwärtig sein müssen und mir für den Fachmann den
Reiz des Amüsanten haben. Denn wenn man zum Beispiel belehrt wird, sich
den Dichter Trollope vorzustellen, wie er mit der Uhr in der Hand genau
aufpaßt, daß er in jeder Viertelstunde ja mehr schreibe als in der vomus-
gegangnen. so gibt das ein so lächerliches Bub und es haftet so fest, daß es
innuer wieder vor den Augen des Lesers auftauchen wird, auch wenn er das
beste Werk des großen Mannes zur Hand minuit.
Das in das Handwerk der Schriftstellerei uneingeweihte und ganz ahnungs¬
lose Publikum jener Tage wurde durch Trollopes Bekenntnisse unangenehm
überrascht und verstimmt; es sand keinen Gefallen daran, wenn er in diesen
scherzhaft erzählte, er habe den Redakteur einer Zeitschrift ^
u liefern hatte, mit der damals ungewöhnlichen Frage in das höchste Erstaunen
versetzt, wie viel tausend Worte der Essay entha ten sollte Se^
sich gewöhnt, von den Schriftstellern selb allerlei Pckautes über ihre Werk¬
stattpraxis aufgetischt zu bekommen. Es ist eme ^ournali tenschule entstanden,
die es sich - man möchte fast sagen - .absichtlich zur Aufgabe macht ihren
Beruf in Mißkredit zu bringen. Elende Wmkelagenten drangen sich bei Autoren
ein, die sich bisher eines namhaften Rufes erfreuten. M aber von Kümmer¬
nissen und vom Alter niedergedrückt sind, um sie zu flüchtigen, doch pekuniär
vorteilhaften Arbeiten zu verleiten. ^ ^ >- ^ ^ ^
Niemand weiß besser als ich. daß das Verhältnis der Schriftsteller zu
den Verlegern einer gründlichen Reform bedarf und daß die angesehensten
Autoren in den Verhandlungen mit den angesehensten Verlegern immer den
kürzern ziehn und ewig ziehn werden. Bei ewigem Entgegenkommen von
beiden Seiten wäre gewiß diesen Mißständen einigermaßen abzuhelfen. Em
grob auftretendes Genie wie Trollope konnte seine Ansprüche durchsetzen, jeden¬
falls einen gehörigen Anteil an dem Gewinn aus seinen Werken erpressen.
Noch besser verstand es übrigens Dickens, da er schlau mit geschäftsgewandt
und überdies von einem ihm eng befreundeten Advokaten unterstützt wär- er
verdiente an seinen Büchern sogar mehr, als sein Buchhändler und machte dabei
das Unrecht, das ihm früher angetan worden war, wieder gut.
Forster hat in seinem IM ok vio^eus manche genaue Schilderungen über
seine Absonderlichkeiten gebracht: unter welchen Vorbereitungen er sich zum Bei¬
spiel an den Schreibtisch setzte, wie viele Stunden er dort saß, wie er in der
Arbeit nicht vorwärts kommen konnte, wenn er nicht bestimmte kleine Schmuck¬
sachen vor Augen hatte, und wie unentbehrlich ihm blaue Tinte und Kielfedern
waren. Wird ein einziger Leser durch die Berichte von solchen Wunderlich¬
keiten in seiner Verehrung und Liebe zu Dickens gestört oder abgekühlt?
Ich glaube kaum. Das Bild, das sie uns von einem höchst sorgfältig dich¬
tenden Autor geben, ist doch wesentlich verschieden von jenem, das uns den
behäbigen Trollope zeigt, wie er die zu schreibenden Worte nach der Minuten¬
zahl berechnet. Wahrlich: Trollope hat sich durch den Ton und Stil seiner
Memoiren sehr geschadet; sie bekunden deutlich eine Inferiorität des Geistes
und Charakters. Von Dickens Persönlichkeit erhält man einen entschieden
andern Eindruck- Wenn man auch weiß, daß er noch am Ende seines Lebens
habgierig danach trachtete, sein ohnehin ansehnliches Vermögen um ein erkleck¬
liches zu vermehren (wobei er leider nicht dem unseligen Einfluß seiner Zeiten
und seiner literarischen Genossen zu widerstehn vermochte), so bleibt man doch
begeistert für ihn in der Überzeugung, daß er seine Werke mit dem Genie und
dem Feuer eines rechten Künstlers geschaffen, was bei Trollope durchaus nicht
der Fall war, der sehr methodisch verfuhr. Dickens war auch methodisch, weil
ohne eine methodische Anlage große Romane nicht geschrieben werden können.
Aber auf ein Bemessen der Wortzahl nach der Uhr ließ er sich nicht ein. Das
Bild, das durch seine Briefe so anschaulich wird, wie er an seinem Schreibtisch
sitzt und arbeitet, ist so köstlich und bezaubernd wie kaum ein andres in der
Geschichte der Literatur. Es hat einen bemerkenswerten Platz in den Herzen
aller eingenommen, die Dickens mit Bewunderung gelesen und gründlich ver¬
standen haben. Und so wird es unvergeßlich für immer bleiben-
>c> sitze ich nun schon den ganzen Morgen in meiner Erdhütte und
bin noch nicht ein einzigesmal zu Schuß gekommen. Vögel zeigen
sich genug, der Hühnerhabicht, auf den ich es solange abgesehen
habe, ist schon zum drittenmal mit ungestümem Flug vorüber ge¬
strichen, drüben über dem Walde tauchen immer wieder von neuem
kein paar wütend krächzende Rabenkrähen auf, und über mir, hoch
in der blauen Frühlingsluft, zieht seit einer halben Stunde ein schwarzer Milan
seine Kreise. Manchmal scheint er unbeweglich zu stehn, nur wenn ich ihn durch
das Jagdglas scharf ins Auge fasse, erkenne ich das leise Zittern seiner Schwingen
und die geringen Veränderungen in der Stellung des gegabelten Stoßes, dessen
Federn sich bald fächerförmig ausbreiten, bald wieder zusammenlegen.
^Überhaupt ist der Himmel zeitweise so stark belebt, wie man ihn eben nur
im April, der Hauptreisezeit der Vogelwelt, zu sehen Gelegenheit hat. Aber von
den gefiederten Räubern, die im Gefolge der großen Singvögelschwärme auf den
uralten Wanderstraßen droben im klaren Äther dahinziehen, will heute keiner stoßen.
An meinem wackern alten Uhu, der draußen vor der Schießluke auf seiner Krücke
an einer langen Leine angefesselt sitzt, liegt das nicht, er markiert jeden einzelnen
seiner vorüberstreichenden Erbfeinde und nimmt, wenn sich ein größerer Vogel zeigt,
die Verteidigungsstellung ein, die sonst den Gegner unfehlbar zum Angriff reizt.
Die großen Bernsteinaugen blinzeln ohne Unterlaß nach oben, bald legt er den
Kopf so weit nach hinten, daß die spitzen Ohrfedern völlig verschwinden, und daß
an der Kehle das sonst verborgne weiße Gefieder sichtbar wird, bald duckt er sich
nieder und breitet die Schwingen, bald springt er mit schwerem Plumps auf den
Boden, verwandelt sich in eine Federkugel und schwankt, einem gereizten Stachelschwein
zum Verwechseln ähnlich, mit knappendem Schnabel und sonderbarem Rauschen von
einem Fuß auf den andern. Aber seine Herausforderungen sind umsonst: die Wandrer
droben im Blau sind heute nicht kampflustig, ihr Herz hat heute offenbar nur Raum
für die Sehnsucht nach der Heimat und für die allgewaltige Liebe.
Ich merke schon: ich werde heute abend ohne Beute heimziehen. Was tuts?
Der Tag ist dennoch kein Verlorner. Wenn die Doppelflinte untätig in der Ecke
steht, schweifen die Gedanken desto freier und lustiger ins Weite. Und wo könnte
man sich dem Genusse des Phantasierens ungestörter überlassen als hier draußen
in der Krähenhütte? Kein menschlicher Laut dringt bis hierher, und wenn ich
nicht ab und zu auf der Landstraße in weiter, weiter Ferne ein Bauernfuhrwerk
dähinrollen sähe, könnte ich mir einbilden, auf der weiten Welt allein zu sein.
" Heute kommt mir immer wieder dierömieampagnanennn,oer
vielmehr ein bestimmter Tag, den ich vor Jahren in diesem grandiosen Reiche der
Einsamkeit und des Schweigens verleben durfte. Schon heute früh, als ich die
Erdstufen hinabstieg und die mit Schilfbündeln bekleidete Tür öffnete, mußte ich
an die armselige Schilfhütte bei Malafede denken, die an jenem Tage so be¬
deutungsvoll für mich wurde. Und um, wo der schwarze Milan vor dem weißen
Wölkchen steht, fällt mir der düstre Adler ein, den ich damals, als er auf einem
gefallnen Schafe tröpfle, durch mein Nahen verscheuchte, und den ich dann wohl
eine Stunde lang als einen dunkeln Punkt am fahlblauer Campagnahimmel über
dem verlassenen Mahle schweben sah. Und schmeckt der rote Menzenberger aus
metner Feldflasche nicht auffallend nach dem rubinhellen römischen Landwein, den
man mir in jener Hütte einst kredenzte? Sonderbar! Es drängt mich förmlich,
nach neuen Ähnlichkeiten zu suchen. Was hat die Campagna nur mit dieser wohl¬
angebauten sächsischen Landschaft zwischen Pleiße und Mulde zu tun?
Ich lasse den Blick durch die Schießluke ins Freie schweifen. Das kleine
Landschaftsbild, das sich mir in dem engen Rahmen zeigt, habe ich wohl schon
ein paar hundertmal betrachtet. Im Vordergrund leicht gewelltes Land, braune
Sturzäcker, grüne Saatfelder, zur Seite, wo sich die Parese nach Westen wendet,
sumpfige Wiesen mit vereinzelten Pappeln und Erlenbüschen, in der Ferne links
schwarzer Nadelwald, gerade vor mir, am Horizont, niedrige Hügel, die letzten
schwachen Ausläufer des Erzgebirges. Da die Schießluke dicht über dem Boden
angebracht ist, nimmt der Vordergrund in dem Bildchen den meisten Raum ein.
Aber die Aussicht ist wegen der Lage der Hütte auf der Erdwelle dennoch so
umfassend, daß ich ein Gebiet von vielen Stunden Umkreis vor mir habe.
rtrautunobeannt.kenne
Alle die Dinge da draußen sind mir ve d whlk Ich
jeden Baum, jeden Strauch, jeden Grenzstein, jedes Grasbüschel, das sich nur ein
paar Finger breit über seine Umgebung erhebt. Ich weiß, daß wenn der Wind
nur ein klein wenig nach Südwesten umschlägt, eine bestimmte Ranke an der
Brombeerhecke drüben auf dem Ackerrain auf und nieder schwanken wird, als ob
sie mir winken wollte, ich weiß, welchen Stand die Sonne einnehmen muß, wenn
die graugrünen Wasserlachen drunten auf den Parthenwiesen aufleuchten sollen wie
unergründlich tiefe Seen oder wie die blauen Augen nordischer Frauen.
Und gerade jetzt, wo ich hinschaue, spiegeln sie den azurnen Frühlingshimmel
wieder, und da ist es seltsam genug, daß ich trotzdem an ein Paar nachtschwarzer
Augen denken muß. Es scheint, ich soll die Erinnerung an jenen Campagnatag nicht
loswerden.
Vielleicht ist die ungewöhnlich laue, mit Feuchtigkeit gesättigte Lust daran
schuld. Auch damals wehte der Wind aus Süden, freilich mit dem Unterschiede,
daß er seinen Gehalt an Wasser aus dem Tyrrhenischen Meer, nicht aus regen¬
feuchten deutsche» Wäldern aufgesogen hatte. Gewiß, es muß an der Luftstimmung
liegen! Sehen die Hügel dort bei Klinga und Großsteinberg in ihrem veilchen¬
blauen Duft nicht genau so aus wie die Albanerberge? Und sind die hoch-
getürmtm Wolkenmassen, die sich dort am Horizonte nordwärts wälzen, nicht ge¬
treue Ebenbilder der wunderbaren atmosphärischen Gebilde, die das Auge des
Campagnawandrers immer wieder auf sich lenken und mit ihren ewig wechselnden
Beleuchtungseffekten wie eine lustige Wandeldekoration jener verödeten Schaubühne
der Weltgeschichte wirken?
Es hilft nichts, ich kann mich dem Banne der Erinnerung nicht entziehen,
und da mir der Himmel keinen Habicht, keine Weihe, nicht einmal einen erbärm¬
lichen Sperber zur Ablenkung sendet, so will ich mich ihr getrost hingeben und
alle Einzelheiten an meinem innern Auge vorüberziehen lassen. Daß der Schluß
Resignation heißt, scheint mir jetzt ebenso wenig schlecht wie damals. Er paßte
zur Campagna, die von tausend begrabnen Hoffnungen erzählt, und paßt zur
Krähenhütte, wenn alle Mühe des Hüttkers und seines bernsteinäugigen Jagd¬
gehilfen vergebens sind.
Es war ein Tag wie heute, als ich, den Lodenmantel über den Schultern,
aus der Porta San Paolo auf der alten Via Ostiensis hinauswanderte, um den
Galerien und Kirchen, den Bibliotheken und Archiven, dem Lärm des Korsos und
dem Geschwätz der Kaffeehäuser einmal gründlich zu entfliehen und die Gegend
aufzusuchen, wo der gelbe Tiber zwischen schwarzen Sümpfen und blaugrünen
Schilfdickichten unschlüssig dem Meere zuschleicht.
San Paolo fuori lag hinter mir, der Eukalyptushain der Trappisten von
Tre Fontane blieb mit seinen vom Winde leicht bewegten Wipfeln hinter einer
Erdwelle zu meiner Linken, und die Vignen an den Abhängen über dem rechten
Flußufer traten in schier greifbare Nähe. Die Straße war wenig belebt; hier
und da begegnete mir ein berittener Hirt im braunen Kragenmantel, die Beine
mit Fellen umwickelt und die lange Lanze in der Rechten, oder das Fuhrwerk
eines Weinhändlers mit aufgeputztem Maultier und buntbemaltem Lederdach.
Ich sah diesen malerischen Gestalten nach und versank, wenn sie meinem
Auge entschwunden waren, wieder in die Betrachtung der Landschaft, die mich in
mehr als einer Hinsicht an Motive auf den Bildern Claude Lorrains erinnerte.
Plötzlich vernahm ich hinter mir munteres Pferdegetrappel. Ich blieb stehn
und schaute mich um. Da nahte eine Kavalkade von eleganten und offenbar sehr
vornehmen Herren, unter denen ich bei nähern, Zusehen auch ein paar Damen
entdeckte. Diese und die meisten der Herren waren allem Anschein nach Mit¬
glieder des römischen Hochadels, drei oder vier der Reiter mochten, ihrem Äußern
nach, reiche Engländer sein. In einiger Entfernung folgten mehrere Reitknechte,
von denen verschiedne auf der Linken einen jagdgerecht gefesselten und mit der Haube
versehenen Falken trugen. ^.
Der ganze Aufzug interessierte mich im höchsten Grade. Kein Zweifel: diese
Gesellschaft war auf dem Wege zur Tibermündung, um in den Sümpfen von Ostia
oder von Maccarese dem ritterlichen Vergnügen der Beizjagd zu huldigen. Daß
dieser edle, leider aber auch so kostspielige Sport in England und Frankreich noch
in Blüte steht, war mir wohlbekannt, daß er auch in Italien Anhänger habe,
wußte ich jedoch nicht. Vermutlich hatten ihn die Engländer, die die Campagna
ja längst als das ideale Gelände sür jede Art des Sports zu schätzen wissen, hierher
verpflanzt und in den römischen Aristokraten begeisterte Jünger gefunden.
Die Gesellschaft ließ ihre Pferde — es waren durchweg edle Hunter — in
einen gemächlichen Schritt fallen, sodaß ich Gelegenheit hatte, eine geraume Weile
an ihrer Seite zu bleiben und meine Betrachtungen anzustellen. Zunächst nahm
ich die Reitknechte oder richtiger wohl: die Falkoniere in Augenschein, war es
doch das erstemal, daß mir Vertreter dieses so seltnen Berufs begegneten. Sie
handhabten nach alter Falknersitte den Zügel und der Rechten und trugen an einem
Gürtel Falknertasche und Federspiel, die mit ehren bunten Aufputz seltsam genug
gegen die hechtgraue, sehr diskret gehaltne Livree abstachen Von den fünf ^
Waren drei von einer dunkeln Art. zwei Mes fast rein weiße Isländer, sicherlich
Vögel von bedeutendem Wert. Sie saßen mi glatt angelegtem Gefieder geduldig
auf der mit einem derben Stulphandschuh bekleideten Hand bref Trägers. unab¬
lässig bemüht, bei der schaukelnden Bewegung das Gleichgewicht zu bewahren. In
solchen Augenblicken konnte ich das leise Klingen der silbernen Glöckchen vernehmen,
die sie an den gelben Fängen trugen. ^. , „ ^ . ^ ^
Nachdem ich mich über die edeln Gesch Pfe. ihren Schmuck und die Au-
ordnung ihrer Fessel genügend unterrichtet hatte beschleunigte ich meine Schritte,
um nun auch die Jagdgesellschaft selbst ein wenig zu mustern Meter den Herren
verdienten die meiste Beachtung entschieden die Engländer: schlanke sehnige Ge¬
stalten mit magern, glattrasierten Gesichtern. Leute, denen man ansah, daß für ste
Leben und Sport Begriffe von derselben Bedeutung waren. Unter den Römern
fiel mir einer durch seine nachlässige Haltung und den müden und dabei kalten
Ausdruck seines im übrigen nicht unschönen Antlitzes auf. Es war wohl der
dekadente Sproß eines alten Dynastengeschlechts, das seine Leidenschaft in den
Kämpfen des Mittelalters gründlich verbraucht und dem letzten Träger des großen
Namens nichts als den baufälligen Familienpalazzo, em paar Landgüter im Agro
Romano. eine gehörige Portion hochmütiger Beschränktheit und den rassigen Kopf
mit dem scharfen Profil hinterlassen hatte. Dieser Herr stützte sich zuweilen auf
den Sattelknopf und wandte sich mit ein paar kurzen, eigentümlich schroff klingenden
Worten einer seitwärts hinter ihm reitenden Dame zu ....
überielmi
Als ich diese näher ins Auge faßte, f ch etwas wie ein freudiger
Schreck. Soviel Schönheit und Anmut, wie dieses blutjunge Weib verkörperte,
hatte ich in dem an Franenreizen doch gewiß nicht armen Rom noch nicht gesehen.
Mit einer Grazie, die dennoch einer wahrhaft fürstlichen Haltung nicht entbehrte,
saß sie in einem meisterhaft gearbeiteten, enganschließenden schwarzen Reitkleid auf
ihrem kräftigen Goldfuchs. Ihr Körper zeigte durchaus mädchenhafte Formen, und
der feine Kopf mit der Fülle des leichtgekrausten, mattschwarzen Haars und den
strahlenden dunkeln Augen erinnerte lebhaft an die schöne Nichte des Kardinals
Mazarin, Maria Mancini. nur daß in den Zügen etwas kindliches lag. das mich
in meiner Annahme, sie müsse die Gattin des hochmütigen Kavaliers sein, für eine
Weise irre werden ließ. Aber dann fiel mir ein, daß für eine Unverheiratete
nach römischer Anschauung in einer solchen Gesellschaft kein Platz sei, und daß sie
also trotz ihrer sechzehn Jahre — älter war sie auf keinen Fall! — verheiratet
sein müsse. , ^
'
Ich sah das berückende junge Weib vielleicht langer an, als unbedingt nötig
gewesen wäre. Eine der andern Amazonen warf mir deshalb einen wohlverdienten
halb erstaunten, halb geringschätzigen Blick zu, sie selbst aber streifte mich nur mit
einem Blitze ihrer herrlichen Augen und schaute dann, obwohl ich noch eine kleine
Strecke weit unmittelbar neben ihr herging, ohne mich weiter zu beachten, geradeaus.
Jedenfalls gewann ich die Überzeugung, daß sie über meine schlecht verhehlte Be¬
wunderung ihrer reizenden kleinen Person nachsichtiger dachte als ihre weniger
anmutige und weniger junge Begleiterin. Daß die Herren von dem fremden
Wandrer nicht die geringste Notiz nahmen, versteht sich von selbst. Was kümmerte
sie der arme Teufel, der im Staube der Landstraße zu Fuße dahintrottete!
Jetzt hob einer der vordersten Reiter die Hand, die Gesellschaft setzte sich in
scharfen Trab, die silbernen Glöckchen ertönten für einen Augenblick lauter — dann
war das bewegte Bild hinter der Schilfmuzäunung einer einsamen Tennte ver¬
schwunden.
Was würde ich damals für einen Gaul gegeben haben! Man hätte mir
nicht verwehren können, der Kavalkade in einiger Entfernung zu folgen und als
stiller Beobachter an der königlichen Lust der Beizjagd teilzunehmen, wenn der
edle, wehrhafte Falk den aus dem Rohre aufsteigenden Reiher jählings anfällt,
bey sich emporschraubenden in schnellerm Fluge überholt und ihn mit der Über¬
legenheit des geübten Fechters aus dem Reiche der Luft zur Erde niederzwingt.
Ja, das alles würde ich gesehen haben, und dann — ja dann hätte ich mich
wohl auch noch ein paar Stunden an dem Anblick der stolzen jungen Römerin
erfreuen dürfen, obgleich ich kaum noch nötig gehabt hätte, mir ihr Bild
tiefer und dauernder einzuprägen, als es in jenen wenigen Minuten schon ge¬
schehen walv
Aber was half das alles! Ein Pferd war nicht zur Stelle, und so pilgerte
ich denn nach einem wehmütigen Blick auf meine bestaubten Stiefel rüstig die Straße
nach Ostia weiter.
Der Wind hat nachgelassen, die Wolken am Horizont ziehen langsamer, aber
dafür verbirgt auch die Sonne, die jetzt ihren höchsten Stand erreicht hat, immer
häufiger ihr Antlitz. Der Uhu sitzt stocksteif auf seiner Krücke und schließt für
Sekunden die runden Augen. Er weiß, daß um die Mittagsstunde die ganze
Natur schlummert, und daß ihm jetzt am allerwenigsten ein Angriff droht. Am
Himmel zeigt sich nichts, soweit ich ihn auch zu überschauen vermag; sogar
die Lerchen, die den ganzen Morgen ihre endlos langen Kanzonen erschallen
ließen, sind verstummt und halten zwischen den braunen Schollen des Sturzackers
ihre Ruhe.
Hin und wieder fallen breite Schatten über das Land, dazwischen schimmert
im frischesten Grün die junge Saat, und in weiter Ferne leuchtet der viereckige
weiße Turm des Kirchleins von Großsteinberg auf — genau wie eine der Vignen
oder Kapellen auf den Hängen des Albanergebirges.
"
Tiefe Stille weit und breit. Was hindert mich also, den Faden metner Er¬
innerungen weiter zu spinnen?
Damals verzehrte ich mein frugales Mahl, das, wenn ich nicht irre, aus einem
Stück geräucherten Thunfisches und steinharten römischem Weizenbrod bestand, im
Schatten des Brückenbogens von Refolta, damals waren ein paar Wiedehopfe, die,
unbekümmert um meine Nähe, die Abfälle eines verlaßnen Hirtenlagers durchsuchten,
meine Tischgesellschaft, heute muß ich mich mit einem brandroten Feldmäuslein be¬
gnügen, das harmlos-dreist, als hätte es noch nie etwas von der Bosheit des
Menschengeschlechts vernommen, aus der Verschalung der Hüllenwand zum Vorschein
kommt und sich die auf die schmale Kante eines Brettes gelegten Wurst- und Brot¬
krümlein ohne jede Ziererei zu Gemüte führt, ^ „
Jetzt freilich bin ich durch den Uhu, den ich da draußen nicht unbewacht sitzen
lassen kann, und den ich ebensowenig zu so zeitiger Stunde in seinen engen
Tragkorb sperren möchte, an meine dunkle Hütte gebannt; an jenem Camvagnatage
Wanderte ich Noch manche römische Meile nach Westen bis ich von den Hügeln der
Macchia den Spiegel des Meeres aufglänzen sah. das hier seine mit weißen Schäum-
kttmmen geschmückten Wogen noch genau so unermüdlich an den von Pinienwäldern
umkränzten Strand rollt wie zu den Zeiten wo der Mngere Plunus von der^Halle
seines laurentinischen Landgutes aus als einer der ersten die Reize der Landschaft
mit Bewußtsein genoß. Was gab es da nicht alles zu schauen Die langgestreckte,
nur schwach ausgebuchtete Küste von Fiumicino bis Porto dAnzio^
haste Ostia einst der Kriegs- und Handelshafen Roms, icht em armseliges Nest
an einem fieberschwangern Sumpfe, die mittelalterlichen Wart urme von San Michele.
Bovacciano. Paterno. Vajanica und San Lorenzo und die stattliche, wegen der
Seeräuber befestigte Tennte des Hauses Chigi. Castel Fnsano!
Ich schweifte ziellos durch dieses unermeßliche von der Geschichte tausendfach
geheiligt Gebie und sog den herben Duft des Meeres der steh hier in.t dem
ha zigen Geruch der Pinien und dem süßen Arom d^ Macchiagew°esse.>s wilden
Thymians und der mannigfachen Heidekräuter vermocht, begierig em. Ich ließ die
Blicke über das sanftgewellte Land schweifen mit der geheimen Hoffnung, irg^
hinter den grauen Schilfdickichten oder den braunen Hügeln den Goldfuchs meiner
schönen Römerin auftauchen zu sehen, ich spähte W,. Hummel empor an dem steh
möglicherweise einer der Beizfalken hätte zeigen tonnen, der nur wie der Polar¬
stern dem Schiffer, zu einem Orientierungspunkte auf meiner Fahrt durch die er¬
starrten Wellen der Campagna geworden wäre.
Da gewahrte ich, daß die Sonne schon bedenklich gesunken war, daß die
Albanerberge ihre veilchenblauen Tinten gegen ein gesättigtes Violett eingetauscht
hatten, und daß im Süden, von den Pontinen her schwere bleigraue Wetterwolken
aufstiegen. Nun galt es. sobald wie mögt'es die Straße wieder zu erreichen oder
einen Unterschlupf, eine Ruine oder eine Hirtenhütte ausfindig zu machen, wo ich
das drohende Unwetter vorübergehn lassen und zur Not auch die Nacht zubringen
^
Den ganzen Tag über hatte ich unter der Wärme nicht zu leiden gehabt
jetzt, wo ich meine Schritte beschleunigte, merkte ich den lähmenden H°»es des
Scirokko. der so plötzlich und unerwartet kommt wie das Unglück. Man sagt, daß
er gewöhnlich keinen Regen und nur ganz ausnahmsweife ein regelrechtes Gewitter
bringe, aber ich selbst hatte schon einmal Gelegenhe.t gehabt, diese Ausnahme am
eignen Leibe zu erfahren, und es verlangte mich nicht im geringsten danach, es auf
eine zweite Probe ankommen zu lassen. ^ . ... ^ . ^ ^a
Seltsam' Jetzt gerade, wo ich an das Cmpagnagewitter denke, ertönt in
der Ferne ein schwaches, langgezognes Grollen. Die Sonne blinzelt zwar noch
durch die blendendweißen Wolkenballen, aber die vielen Hunderte von Saatkrähen
die drüben hinter den Wiesen so eifrig die Furchen eines frischumgepflugten Ackers
abgesucht haben, erheben sich nach und nach und fliegen einzeln oder in kleinen
Gesellschaften dem schützenden Walde zu. Ohne einen tüchtigen Regenguß wird es
heute also sicherlich nicht abgehn. Ich freue mich ordentlich darauf, denn so ein
Frühlingsgewitter ist ein wahres Labsal, es ist, als ob der Schöpfer wieder einmal
mit eigner Hand in den Lauf der Natur eingrisfe und das große unsichtbare Rad,
das die Säfte der Pflanzen emportreibt und Knospen, Grünen und Blühen regelt,
mit einem einzigen gewaltigen Ruck um eine ganze Drehung weiterbrächte.
Hier in der Hütte bin ich geschützt, und dem Uhu ist ein lauwarmes Dusche¬
bad immer willkommen. Er lüftet schon das dichte weiche Federkleid, schüttelt sich
und starrt mit halbgeöffneten Schnabel erwartungsvoll gen Süden.
Damals wäre ich selbst einem sehr ausgiebigen Duschebad Wohl kaum ent¬
ronnen, wenn ich nicht ganz zufällig in einer Senkung des Geländes eine Schilf¬
hütte entdeckt hätte, deren Bewohner mich mit antiker Gastfreundschaft aufnahmen.
Es war der bescheidenste Wohnraum, dessen sich Menschen, die den Zustand ur¬
sprünglicher Wildheit eben erst überwunden haben, überhaupt bedienen können.
Wände und Dach bestanden aus dem langen, breitblättriger Rohr, wie es der
nächste Sumpf in unerschöpflicher Fülle darbot, und als Fußboden diente die Erde,
die unter den Tritten von Mensch und Tier zu einem tennenartigen Estrich ge¬
glättet und erhärtet war. In der Mitte des fensterlosen Gelasses brannte ein kleines
Feuer, daneben diente ein schmales Brett, das auf vier in den Boden getriebnen
Pfählen befestigt war, als Tisch, an dem man ans einer ähnlich hergerichteten Bank
nicht gerade bequem sitzen konnte. Zur Seite, dicht an der Schilfwand und kaum
einen Fuß hoch über dem Boden, war ein beinahe quadratischer Holzrahmen an¬
gebracht und mit einem Geflecht aus Riemen, Stricken und Zweigen, das einen
ganzen Berg vou Ziegen- und Schaffellen trug, bespannt: die gemeinsame Lagerstatt
der Bewohner, soweit sie Menschen oder, wie Beppo, der Hausherr, wiederholt be¬
tonte: Christen waren. Die übrigen nichtchristlichen Hausgenossen, ein halbes
Dutzend schwarzer, hochbeiniger und ungewöhnlich temperamentvoller Schweine, drei
Wolfshunde, ein Truthahn und etliche Hühner, mußten zusehen, wo sie eine Ruhe¬
stätte fanden.
Als ich die Hütte betrat, herrschte natürlich noch das munterste Leben. Beppo,
das Urbild eines Campngnahirten mit starkem Wollhaar und krausem Vollbart,
stand, aus dem roten Tonkopf seiner Rohrpfeife sparsam-bedächtig Rauchwölkchen
passend, in der Tür und schaute nach dein Wetter. Seine Frau, eine üppige
Matrone, kauerte am Feuer und kochte die Abendsuppe: ein nicht gerade einladendes
Gemisch von Milch, Lammblut und Knoblauch. Wenn es wahr ist, daß Kinder der
Reichtum armer Leute sind, so waren Beppo und seine Martuccia die reinen
Millionäre, denn aus jedem Winkel des mir anfangs so finster erscheinenden Raumes
kamen immer neue Würmlein in jedem Stadium des kindlichen Alters, der Be¬
kleidung und der Unsauberkeit zum Vorschein. Überall lag, saß, krabbelte oder
balgte sich die braune Brut, und dabei schlummerte der Säugling in seinem Span¬
korb, während Agnese, die älteste, ein mageres Wesen von etwa vierzehn Jahren,
auf dem Tische saß und ihr straffes rabenschwarzes Haar zu einem Zopfe flocht.
Daran, daß Martuceia in eine Scherbe mit gelbgrauem Salz griff und sehr
langsam eine Prise dieses in Italien ach so teuern Gewürzes in die brodelnde
Suppe krümelte, erkannte ich ihre Absicht, mich zum Mahle einzuladen. Ich kam
ihr jedoch zuvor, indem ich sie. um ein Stück Brot, ein wenig Schafkäse und einen
Mezzolitro roten Weines bat, wobei ich sie mit „Padrona" anredete und mir den
Anschein gab, als ob ich die Hütte für eine der einfachsten Campagnaosterien, sie
selbst mithin für die Wirtin hielte. Eine Brotrinde war wirklich da, ein Krüglein
stark nach Pech schmeckenden Weines auch, statt des Schafkäses brachte sie mir
jedoch einen Büffelkäse, der eine Delikatesse für alle Freunde eines kräftigen MöjMs-
pariüms sein. muß.
Ich setzte mich an den Tisch, zog mein Messer heraus und begann meinen
müden Leib mit Speise und Trank zu stärken, wobei ich von zweiundzwanzig Kinder-,
zwölf Schweine- und sechs Hundeaugen neugierig-begehrlich betrachtet wurde.
Als ich gesättigt War. erhob ich mich und trat zu Beppo an die Tür, denn
das Bedürfnis nach frischer Luft machte sich in dieser Atmosphäre von Rauch, über¬
gekochter Milch, Käse, trocknenden Tierhäuten und schmutzigen Kleidern mit elemen¬
tarer Gewalt geltend. ,
Der Himmel war bleigrau mit einem schwefelgelben Streif am Horizont, das
Schilf des Hüttendaches und das des nahen Sumpfes rauschte, der Wind Pfiff und
seufzte, und von der nicht allzufernen Landstraße stieg eine weiße Staubwolke auf
und glitt wie das geblähte Segel einer Tiberbarke über die Ebene dahin.
Beppo streckte die flache Hand aus. Wahrhaftig, es fielen schon die ersten,
Haselnußgrößen Tropfen. Wo mochte jetzt die elegante Jagdgesellschaft sein? Der
Gedanke an meine schöne Unbekannte nahm mich so ausschließlich in Auspruch, daß
ich auf die Unterhaltung meines Gastfreundes nur mit sehr geteilter Aufmerksamkeit
einging. "„^ , ^5^ v.:^^^
Plötzlich faßte ich einen Entschluß, für den der gute Beppo, wie ich seinen
erstaunten Augen anmerkte, nicht das geringste Verständnis hatte. Ich warf meinen
Mantel über hie Schultern, stülpte den Hut auf und stieg mit raschen Schritten zu
dem Hügel hinter der Hütte empor. Von dort mußte ich die Straße-und? eine
weite Strecke des welligen Landes überschauen können,, , - .-v, ,
(Zur Beendigung des Streits zwischen Reichstag und Presse. Der Reichs¬
kanzler über die auswärtige Politik.' Fürst Bülow über das Wahlrecht. Die
Monarchenbegegnung in Venedig. Fürst Bülow in Wien.) . ^ /
Im Reichstage hat Fürst Bülow verschiedentlich das Wort ergriffen. Er sprach
am 24. März über die auswärtige Politik des Reichs und am 26. über innere
Fragen, insbesondre die Frage des preußischen Wahlrechts. Schon am Montag Kr
vergangnen Woche verhandelte der Reichstag über den Etat der Reichskanzlei und
des Auswärtigen Amts und erwartete, daß Fürst Bülow in die Debatten eingreifen
werde. Aber es geschah nicht, denn noch bestand der merkwürdige Zustand fort,
von dem wir in der vorigen Woche berichten mußten, der Kriegszustand zwischen
Reichstag und Journalistentribüne, der erst am Dienstag Abend beigelegt wurde.
Man kann es dem Reichskanzler nicht verdenken, daß er abwartete, bis die Beendigung
dieses Streits in sichrer Aussicht stand.
Über den Krieg zwischen Parlament und Tribüne haben wir neulich schon das
Notwendigste gesagt. Es ist nur einiges noch nachzutragen. Im Reichstage suchte
man sich bei der Halsstarrigkeit des Abgeordneten Grober über das Unbehagliche
der Lage damit hinwegzuhelfen, daß man nun auch der Presse gegenüber eine über¬
mäßige Empfindlichkeit zeigte und sich wegen einzelner Zeitungsartikel, in denen dem
Reichstage — natürlich hier und da auch in nicht eben taktvoller und gelinder
Form — bittere Wahrheiten gesagt wurden, stark entrüstete. Das war verfehlt
und bedauerlich, weil dadurch die Beilegung des Zwists unnötig hingehalten
wurde, und es lag auch kein rechter Grund dazu vor, denn die Gesamthaltung der
Presse, die doch nur nach den großen, anständigen Blättern beurteilt werden kann,
war maßvoll. Nach unsrer Meinung war die merkwürdigste Erfahrung bei der
ganzen Sache, daß der Reichstag das Vorgefallne nur unter dem Gesichtspunkt zu
betrachten schien, die Vertretung des deutschen Volks kämpfe hier um ihr Ansehen
gegen eine außenstehende Macht, die ihr eine Demütigung bereiten wolle. Diese
Vorstellung schien das Haus wie eine fixe Idee zu beherrschen. Denn sonst kann
man sich gar nicht erklären, daß den Mitgliedern des Reichstags nicht sofort am
ersten Tage zum Bewußtsein kam, wie außerordentlich gleichgiltig es in solchem Falle
eigentlich war, wer von der Beleidigung eines Reichstagsabgeordneten getroffen
wurde. Mit dem Augenblick, wo sich der Reichstag auf den Standpunkt stellte,
es entspreche nicht der Würde des Hauses, daß überhaupt ein rüdes Schimpfwort
gegen dort beschäftigte Personen gefallen sei, hätte das Parlament als Körperschaft
das Spiel gewonnen gehabt. Das Haus hätte damit sein Ansehen gewahrt, und
die Genugtuung, die die Journalisten im Interesse einer mit ihrer Berufsehre
vereinbaren Wetterführung ihrer Arbeit zu fordern hatten, wäre darin eingeschlossen
gewesen. Denn den Journalisten konnte es nicht darum zu tun sein, ihre Arbeit
von den geregelten oder nicht geregelten Beziehungen zu einem einzelnen Reichstags¬
abgeordneten abhängig zu machen; sie wollten nur bei ihrer harten, aufreibenden
und undankbaren Arbeit die Sicherheit haben, daß die im Präsidium verkörperte
Polizeigewalt des Hauses in demselben Maße, wie sonst die Ordnung im Hause
gehandhabt wird, auch sie vor Beleidigungen schützt. Das ist auch in der Beendigung
des Streits zum Ausdruck gekommen. Der Abgeordnete Grober hat, wie die ihm
ergebne Presse sofort frohlockend feststellte, seine Entschuldigung nicht an die Be¬
leidigten, sondern an seine Kollege» im Hause gerichtet, und trotzdem haben sich die
Journalisten dadurch befriedigt erklärt, weil es für sie das Wesentliche war, daß eine
Entschuldigung überhaupt erfolgte, und daß die Fraktionen sie gefordert hatten.
Damit war für die Journalisten die Bedingung gegeben, unter der sie in diesem
Hause mit Ehren weiterarbeiten konnten, und es war richtig und logisch, daß sie
nun das Interesse der Öffentlichkeit, in deren Dienst sie standen, höher stellten als
den Wunsch, von einem einzelnen Mitgliede des Reichstags weitere Rechenschaft zu
fordern. Mit dem Abgeordneten Grober ist die anständige Presse ohnehin für alle
Zeiten fertig. Er hatte nach seiner Stellung und seinem öffentlichen Wirken doppelte
und dreifache Veranlassung, Beleidigungen sorgfältig zu vermeiden. Als ihm trotz¬
dem ein Schimpfwort entschlüpft war, hielt er es sechs Tage lang nicht für notwendig,
sich zu entschuldigen. Endlich dazu gedrängt, flüchtete er sich hinter den Kniff, sich
nicht denen gegenüber zu entschuldigen, die er beleidigt hatte, sondern seine Erklärung
an eine andre Stelle zu richten. Und dann duldet er es, daß seine Parteipresse
rühmend darauf hinweist, daß er mit seiner Erklärung seine Gegner übers Ohr
gehauen habe. Mit einem Manne, der so handelt, braucht man sich in Zukunft
nicht weiter zu beschäftigen.
Sehr bemerkenswert ist die moralische Unterstützung, die die beleidigten Journa¬
listen beim Publikum gefunden haben. Fast allgemein wurde es selbstverständlich
gefunden, daß sie die Berichterstattung einstellten, obwohl doch gewiß vielen Menschen
die Meinung sehr nahe lag, daß es ihnen höchst gleichgiltig sei, was sich die
„Zeitungschreiber" gefallen lassen wollten oder nicht, daß sie aber für ihr gutes
Geld in ihrer Zeitung einen Reichstagsbericht verlangen könnten. Daß sich diese
Meinung kaum hervorwagte, ist sehr bezeichnend, aber nicht für das Verhältnis
von Publikum und Presse, sondern für das von Publikum und Reichstag. Niemand
wird ernsthaft unsre parlamentarischen Einrichtungen missen wollen, und man ist
für die Zusammensetzung und die Leistungen des Reichstags lebhaft interessiert,
aber an der Art, wie verhandelt wird, hat niemand Freude, und man empfindet
es beinahe als Wohltat, wenn man von den Einzelheiten des endlosen Geredes
einmal ein paar Tage verschont wird.
Am Dienstag konnte also Fürst Bülow die erwartete Auseinandersetzung über
die großen Fragen der auswärtigen Politik geben. Er faßte sich freilich ziemlich
kurz, und das lag wohl an der Natur der Fragen, die im Mittelpunkt des allge¬
meinen Interesses stehn. Sie gestatten gegenwärtig nicht, daß man allzuviel dar¬
über sagt. Das gilt vor allem für die Verhältnisse in Marokko. Die Vorgänge
dort haben bei uns in weiten Kreisen den Eindruck erweckt, daß das Verfahren
der französischen Regierung nicht ganz im Einklang steht mit ihren offiziellen An¬
kündigungen. Diesen Eindruck ohne das Gewicht unwiderleglicher Beweise in diesem
Augenblick offiziell zu bestätigen wäre eine unverantwortliche Leichtfertigkeit gewesen;
die Berechtigung des in der Öffentlichkeit erregten Eindrucks zu leugnen war jedoch
ebensowenig möglich. War doch in der französischen Kammer selbst der Vorwurf
einer zweideutigen Politik gegen die Regierung der Republik geschleudert worden.
Dies in Verbindung mit den Nachrichten, die der Telegraph täglich aus Marokko
bringt, mußte allerdings bei unsrer öffentlichen Meinung Beunruhigung erwecken.
Fürst Bülow begnügte sich deshalb damit, die Richtlinien seines Handelns kurz
auseinanderzusetzen. Er erkannte an, daß die französische Regierung bisher stets
in loyaler Weise Aufklärung über die Gründe ihres Vorgehens gegeben habe, und
erklärte, daß die deutsche Regierung infolgedessen die möglichste Weitherzigkeit in
der Auslegung der Algecirascikte walten lasse, da sie die Schwierigkeiten zugebe,
die der buchstäblichen Ausführung dieser Akte einstweilen entgegenstehn. Die Ent¬
schlossenheit freilich, die zu Recht bestehenden Verträge aufrechtzuerhalten, wo deutsche
Rechte und Interessen in Frage kommen, mußte dabei gleichzeitig betont werden.
Wie sich nun die Anwendung dieser Grundsätze der deutschen Politik im einzelnen
für die nächste Zukunft gestalten wird, darüber konnte unmöglich jetzt etwas gesagt
werden.
Der zweite schwierige Punkt der auswärtigen Politik ist Mazedonien. Die
Ausführungen des Reichskanzlers über diese Frage boten aufmerksamen deutschen
Zeitungslesern wohl kaum etwas Neues, aber sie waren dennoch wichtig, weil sie
für das Ausland die Auffassungen der deutschen Politik authentisch klarlegten. In
kaum einem der den Balkanstaaten zunächst liegenden europäischen Länder hegt man
ein so brennendes Interesse für die mazedonische Frage wie in England. Der
englische Vorschlag auf Einsetzung eines Generalgouverneurs ist von Sir Edward
Grey überaus vorsichtig formuliert worden, aber die in der liberalen Presse ver-
tretnen Kreise der öffentlichen Meinung in England haben sich zum Teil sehr hitzig
dafür eingesetzt. Hier spielt eben die englische Eigentümlichkeit mit, gerade da, wo
ein unmittelbares, reales oder — wenn man so will — materielles Interesse für
England kaum vorliegt, sich mit einer gewissen Leidenschaft einer Gefühlspolitik
hinzugeben, die auf gewissen traditionellen Vorstellungen von vermeintlichen Pflichten
gegen Freiheit, Christentum und ähnliche Ideale beruht. Das gibt mitunter in
der praktischen Politik Englands die seltsamsten Widersprüche. Die englischen
Staatsmänner, besonders die konservativen, haben sich auch, wenn es die Umstände
erheischten, nie abhalten lassen, mohammedanische Fürsten und Völker unter ihren
Schutz zu nehmen oder sich mit ihnen zu verbinden, freilich zum Abscheu der er¬
wähnten Gefühlspolitiker. Für diese, namentlich soweit sie mit gewissen religiösen
Sonderbewegungen in Beziehung stehn, ist der Sultan der Türkei eben der „große
Mörder" oder der Antichrist. Man muß das wissen, um zu versteh», wie das
diese Richtung vertretende liberale Blatt, die of-ilz? Isovs, seinen sonst ganz ver¬
ständigen Standpunkt gegenüber der deutschen Politik plötzlich verlassen und in den
heftigsten Berserkerzorn gegen Deutschland geraten konnte, weil Fürst Bülow sehr
richtig auseinandergesetzt hatte, daß es sich bei den mazedonischen Unruhen gar nicht
um Bedrückung christlicher Untertanen der Türkei durch die mohammedanische Re¬
gierung handle, sondern, um Eifersüchteleien und Feindschaften zwischen den ver-
schiednen Volksstämmen, wobei vielfach Christen gegen Christen und Mohammedaner
gegen Mohammedaner stünden. Deshalb sei, so hatte Fürst Bülow weiter gemeint,
das beste Mittel zur Herstellung besserer Zustände die Unterstützung der Autorität
der türkischen Regierung, die durch die Einigkeit der Mächte dazu gebracht werden
müßte, freiwillig ihre Zustimmung zu vernünftigen Reformen zu geben. Dagegen
sollten Neuerungen vermieden werden, die „die Landeshoheit des Sultans gefährden
und dadurch die Türkei und ihre mohammedanische Bevölkerung zum äußersten
Widerstand reizen würden". Dieser Standpunkt, der die Aufrechterhaltung des
Ltaws c^no im Auge hat, setzt allerdings die Verwerfung des englischen Vorschlags
voraus, die Unterstützung der bisherigen russischen und österreichisch-ungarischen
Balkanpolitik und die Begünstigung des österreichischen Sandschäkbahnprojekts, erstens
weil dieses Projekt innerhalb der Rechte liegt, die Österreich schon im Berliner
Bertrage 1878 zugestanden worden sind, und sodann weil jede Förderung der fried¬
lichen Verkehrsinteressen auf die Beruhigung der davon berührten Landstriche
günstig einwirken muß. Wenn ein Teil der englischen Presse über die ablehnende
Haltung Deutschlands zu dem Vorschlage des englischen Kabinetts eine übermäßig
heftige Sprache führte so kann das nur dahin führen, daß Deutschland in dieser
Frage noch größere Zurückhaltung übt, als sie ihm ohnehin schon ratsam erscheint.
Daß die gegenwärtigen englisch-deutschen Beziehungen unter etwaigen Meinungs¬
verschiedenheiten über die Orientfrage leiden könnten, glauben wir nicht, denn die
Lage ist gar nicht danach angetan. Zunächst stehn Rußland und Österreich-
Ungarn,, die im Begriff sind, sich über einen besondern Vorschlag zu einigen, der
englischen Orientpolitik gegenüber. Es ist unmöglich, daß die englische Politik in
der Verschlechterung ihrer Beziehungen zu Deutschland ein Mittel sehen könnte, die
Gegenvorschläge Österreich-Ungarns und Rußlands zu beseitigen und die eignen
Vorschläge an einer Stelle durchzudrücken, wo sie viel stärkere Interessengegensätze
zu überwinden hat. Deshalb kann man die scharfen Urteile der englischen Presse
über die deutsche Orientpolitik sehr kühl und gelassen betrachten.
Wenn Fürst Bülow in dem einen Teil seiner Rede vielen englischen Be¬
urteilern einen Verdruß bereitet hat, so wird die Art, wie er den Brief des Kaisers
an Lord Tweedmouth besprach, und wie er im Anschluß daran die deutsch-englischen
Beziehungen und die britische Nation selbst beurteilte, die vernünftigen Leute jen¬
seits des Kanals angenehm berührt- haben. Ausbrüche der Nervosität werden immer
noch von Zeit zu Zeit die ruhige Entwicklung eines auf Realitäten beruhenden
Verhältnisses zwischen Deutschland und England unterbrechen, aber man darf hoffen/
daß diese überflüssigen Intermezzi kürzer und seltner werden. .'
. Zwei Tage später sprach der Reichskanzler über Fragen der innern Politik
und insbesondre über das preußische Wahlrecht. Im preußischen Abgeordneten-'
Hause hatte Fürst Bülow in seiner Eigenschaft als Ministerpräsident am 10. Januar
jene Erklärung abgegeben, die von den Liberalen zum Ausgangspunkt ihrer Agi¬
tation gemacht wurde. Es galt nun. diese Frage - nicht soweit sie eine Ein¬
richtung des preußischen Staats betraf, sondern^ ihrem Zusammenhang mit der
Reichspolitik - noch einmal zu beleuchten. Der Reichskanzler hat sich dieser Aufgabe
in einer besonders glänzenden Weise entledigt. Er leugnete keineswegs die Reform¬
bedürftigkeit des preußischen Wahlrechts, aber er widersetzte sich der Neigung, die
Frage des Wahlrechts nach einer Schablone zu regeln, und wies nach, daß in allen
Teilen der Gesetzgebung, an denen jeder deutsche Re^
interessiert sei. das Recht der Wählermassen i.v ausgedehntem Maße zum Ausdruck
komme. Denn diese Gesetzgebung ist Reichssache^ und gegen^das Neichstagswahl-
recht wird ja kein Einwand erhoben. ..Im Reiche handelt eS sich um die großen
nationalen Aufgaben, um Heer und Flotte, um Kolonien und^Soz.alpolit.k; in den
Einzelstaaten um Kirche. Schule und Verwaltung." „Im Reiche werden die großen
Verbrauchsabgaben erhoben, an denen jeder Konsument mehr oder wemger beteiligt
ist. in den Einzelstaaten waltet die direkte Besteuerung nach dem Maße der Leistung
sähigkeit vor.- Darum ist hier ein Wahlrecht ^auf breitester Basis gerechtfertigt,
dort eine gewisse Abstufung des Wahlrechts nicht unbillig. ^ , ^''
. Auch die Wirknn en der fchMonenhaften Übe^agung ^
rechts auf Preußen stellte Fürst BKlow ^
radikalen Wahlrechtsr form wollen die Sozialdemokratie ,in preußischen Abgeordneten¬
hause verlaten sehr. Der Reichskanzler spielte aus d.e Theor.- an. d-e man.n
^rankreick. die des roten Meeres" nennt. Der sozialdeMokratischen Hochflut,
kÄn'Ast d ^n ^le W^rde die Ebbe -o.gen und denn werde der liberale
Weizen blühen - so meinen die Liberalen, aber das widerspricht ^en geschicht¬
liche. Erfahrungen. Wenn nicht ganz außergewöhnliche Fügungen der Umstände
eintreten - der Reichskanzler drückte sich scherzhaft aus: Wenn man acht Moses,
und Aron zu Führern hat ...» -. Pflegt man im roten Meer" z» ersaufe...
Auch wir glauben daß die zärtliche Fürsorge en.es Teils unsrer Liberalew für ti
Sozial mokratie auf einem gründlich falschen Rechenexempel beruht. Der Liberal sans
kann nnr wieder erstarken, wenn er jetzt die ihm gebotne Gelege>.he,t z.^
Mitarbeit an der Gesetzgebung - eine Gelegenheit, w.e sie nach^
darischen Grundsätzen einer Minderheitspartei sonst k°»in zutellwird — recht ausg.eb.g
wahrnimmt. Jetzt will die sich um Theodor Barth fchqrende Gruppe innerhalb der
Freisinnigen Vereinigung die Lostrennung von der großem Parte, vorbereiten und
eine eigne Partei gründen. Das ist ein ganz vernünftiger Gedanke. Vielleicht sinden
sich dann die andern freisinnigen Gruppen leichter zusammen wenn sie sich von
den ..Demagogen" - mit diesem zwar wenig liebenswürdigen. aber treffenden
Namen bezeichnet die Freisinnige Zeitung ^die neue Panei die die Herren
von Gerlach und Dr. Breitscheid ans den Schild erhoben hat - freigemacht haben.
Freilich klären werden sich die Verhältnisse wohl erst nach den preußischen Land-
^
erKaiser hat in der letzten Woche seine Frühjahrsreise nach dem Mittelnieer
angetreten und ist in Venedig mit König Viktor En.anuel zusammeiigekommen. Es
bestand kein besondrer Anlaß, der dieser Begegnung eine politische Bete^w.,g in
dem Sinne gegeben hätte, daß sie um bestimmter Besprechung
worden wäre. Aber die herzliche Begrüßung, die natürlich auch von selbst^ die Ge¬
legenheit M-einer politischen Aussprache gibt. ,se an sich bedeutungsvoll und wichtig
genug. Eben in diesen Tagen weilt Fürst Bülow w Wien. .,». dem Freiherrn
von Aehrenthal seinen Besuch zu erwidern. Auch hier ist es keine bestimn.te Einzel-
frage, die die beiden Staatsmänner zusammenführt. Aber auf beiden Seiten wird
der Nutzen einer ausgiebigen persönlichen Aussprache über alle wichtigen Fragen
der großen Politik angenehm empfunden werden.
Von den (bei Eugen Salzer in Heilbronn erscheinenden)
Naturwissenschaftlichen Vorträgen für die Gebildeten aller Stände, die
Johannes Reinke herausgibt, gehn uns die soeben (1908) erschienenen Bändchen 2
und 3 zu. Jedes enthält drei Vorträge. Der erste des zweiten Bändchens gibt
unter dem Titel: Was wissen wir von der Natur, und was können wir von ihr
wissen? eine populäre Erkenntnistheorie in der Form eines Abrisses der Geschichte
oder Entwicklung dieser Wissenschaft. Die Überschrift des zweiten lautet: Natur
und Gottesidee. Die Natur ist immer allen großen Naturforschern, soweit sie un¬
befangen waren, erschienen als „Anleitung zum Glauben an Gott; als Gottes
Wort, in andern Buchstaben geschrieben, als die Hand des Menschen sie malt. Zu
diesem unerschütterlichen Glauben fügt die Wissenschaft einen andern Glaubenssatz
hinzu; er lautet: Gott regiert in der Natur nur durch die Natur, und ihre Ge¬
setze sind Gottes Gesetze." Der dritte Vortrag behandelt die Stellung Kants zum
naturphilosophischen Theismus. Nach Anführung eines Bekenntnisses Friedrichs des
Großen zu diesem Theismus bekennt Reinke, es sei ihm unbegreiflich, wie so viele
Gebildete einem kosmologischen Atheismus huldigen können, noch unbegreiflicher,
daß sich heute so viele Naturforscher, besonders Biologen, unter diesen Atheisten
befinden, aber den Gipfel seiner Verwunderung bildet es, „wenn man protestantische
Geistliche verkünden hört, es sei vergeblich und unmöglich, Gott aus der Natur
erkennen zu wollen; wenn angesehene protestantische Theologen von einer Ent-
götterung der Natur durch die Wissenschaft sprechen, wenn sie in dogmatischer
Form erklären: es gibt keine Offenbarung durch Dinge." Wer auch nur eine
große liberale Zeitung, etwa die Frankfurter, aufmerksam verfolgt, die ein gediegnes
populärwissenschaftliches Feuilleton hat, wird längst bemerkt haben, wie manche
Naturforscher Kant nur darum so inbrünstig verehren, weil er uns vom Glauben
an Gott befreit, sie sagen gewöhnlich lieber, den Glauben an das Wunder un¬
möglich gemacht habe oder so ähnlich. Reinke zeigt, wie wenig begründet diese
Art von Kantverehrung ist. Freilich hat der große Kritiker auch dem Atheismus
Waffen geliefert, aber Reinke weist überzeugend nach, daß Kant immer nur in
Augenblicken, wo er sich selbst nicht verstand und sich selbst nicht treu war, nach
der linken Seite hin abgerutscht ist. Im ersten und im dritten Vortrage des
dritten Bändchens wird gezeigt, wie weit die Mechanistik in der Biologie an¬
gewandt werden kann. Im ersten wird von der Weltbetrachtung des großen
Physikers Hertz ausgegangen, in beiden dargestellt, welche Bedeutung die „Maschinen¬
struktur" für den Organismus hat, die den in den Organismus eintretenden Energie¬
strom zwingt, in einer bestimmten Richtung zu wirken, ähnlich wie dies der Mensch
tut, wenn er durch die Mühle den Bach, durch die Wanduhr die Schwerkraft, durch
die Taschenuhr die Federkraft seinen Zwecken dienstbar macht. Erst durch die
lichtvolle Auseinandersetzung im dritten Vortrage ist mir der Unterschied von Kraft
und Energie völlig klar geworden. Derselbe Vortrag nötigt mich, einen Irrtum
einzugestehu. Ich habe bei mehreren Gelegenheiten geäußert, die Baukunst der
Arbeitbiene könne nicht ererbt sein, weil weder die Drohne noch die Königin diese
Kunst übe und die Arbeitbienen sich nicht fortpflanzten; nach Reinke haben wir
uns den Arbeittrieb in der Königin latent zu denken. Die instinktiven Kräfte
können vorgestellt werden als durch die Systembedingungen des Organismus er-
zeugt, d.h. durch seine Konfiguration, durch die unsichtbare Struktur des Proto.
vlasmas Der Weite Vortrag beschreibt und kritisiert das energetische Weltbild,
w e es namentlich Ostwald zu entwerfen sich bemüht. Wir können nur w eder-
holen- wer diese Vorträge studiert, empfängt gründliche und zuverlässige Belehrung
Das Thema ist
seit der Jahrhundertansstellung lebendig, deren Ergebnisse vorm Jahre die Publi-
ation de Ausstellungskommission mit einer großen Zahl kleiner Schwarzwech-
reproduktionen festzuhalten versuchte. Aber die F°rb ' W es , s Bild - echter
und freudiger - beginnt uns nun die neuste Sammelpublikatim, des Seemannschen
Verlags zu entrollen ..Deutsche Malerei des neunzehnten JahrhundeM tue in
20 Heften je 5 großen farbigen Blättern im Laufe von 1908 erscheinen soll!
Das^ces us' vorliegende Heft enthält Nachbildungen der wunderhübsche
bachtale in des trefflichen Schwarzwaldlentema ers Has ma n. des Katers-Hlummer-
liedes von Feuerbach, einer ganz schlichten, sein und nchig gesehenen Weidenwid-
schaft von dem Frankfurter Burnitz. eines mttresanten Jngendgema des Max
Ki.gers und eines in dernen Stillebens von Chart s Schund^ Vier von diesen
G matten befinden sich in Privatbesitz; die zwei, die wir mit den Originalen ver¬
gliche konnten. h b n uns durch ihre große Treue des farb gen Einzels w.e
Z»^^
SMÄM«
»er ^ ^bes^ ne.!:.
JaLgang von Seemanns ..Meistern der Farbe» ö» abonnieren wo sich z^B. im
ersten Heft zu den Deutschen Kaulbach und J""k der Beider an Seb^ Franzose
Besnard. der Holländer Israels .ab der Schweizer Rndisuhli gesellen.
Eine der
dornenvollsten Fragen sür jeden italienischen Mimst st s Relig.ons-
unt ^ Dornenvoll, weil man irgendeine L p.ng in der nächsten Zeit
wird finden aus en und weil diese Lösung schwerlich die beiden großen Parteien
Uedi^ Ac sich das Italien der Gegenwart in Religionssachen spaltet:
Katholiken und Antiklerikale. >, r, - - ^ c>
Die Auflehnung der Geister gegen die römische K.rede in den letzten fünfzig
Jahren ist ung Heuer gewesen. Nun hat sich aber der Gesetzgeber und im Verein
mit ihm das Pa lammt aus Furcht vor schlimmern Folgen wohl gehütet das Gesetz
mit dem Geist der Zeit in Einklang zu bringen. Daraus ist die sonderbare und
bedenkliche Lage der Gegenwart erwachsen. ^ , . . . <
beatinder
De erst Artikel des Grundgesetzes desg
Tat: ..Die k tholische. apostolische, römische Reügwn i die einzige Religion des
Staates. Die andern jetzt bestehenden Kulte sind entsprechend den Gesetzen gedul et."
Dieser im Jahre 1848 von Karl Albert erlassen Artikel entspricht den heutigen
Verhältnissen Italiens nicht mehr, weder dem Ge se noch dem Buchstaben nach.
Diesem nicht, sofern die Kassation durch Erlaß on^
alle Kulte dem katholische» gleichstellte; jenem nicht weil sich ti^ starke Hälfte der
Staatsbürger, insbesondre unter den gebildeten Klassen, in Wahrheit von der
Kirche losgesagt hat.
Das Gesetz, das noch heute den öffentlichen Unterricht regelt/ist das alte Gesetz
lLaicui vom Jahre 1859. das mit Rücksicht auf die damaligen Bedürfnisse anordneten
dqß-'j,r Zxn,,BoMchulen>^ .des^Königreichs den Kindern neben -den übrigen Stoffen
auch Unterricht in der katholischen Religion erteilt werde. Dieses Gesetz wurde
sodann von einem spätern dahin modifiziert, daß der Religionsunterricht nicht mehr
als obligatorisch, sondern nur noch als fakultativ betrachtet wurde. Damit war den
Gemeinden die Verpflichtung auferlegt, dieses Fach in ihren Schulen nur für solche
Kinder geben zu lassen, deren Eltern dies ausdrücklich -wünschten. Das Gesetz war
aber so unklar redigier:, daß es die verschiedensten Auslegungen erlaubte. ^ 7 -
- - Auf alle Fälle übersah das Gesetz eine Tatsache von nicht zu unterschätzender
Bedeutung, nämlich die Frage: Sind die Volksschullehrer die geeigneten Persön¬
lichkeiten zur Erteilung dieses Unterrichts? Wer den italienischen Lehrkörper, namentlich
dessen männlichen Teil, auch nur einigermaßen kennt, muß diese Frage ohne weiteres
verneinen. Der Materialismus und religiöse Jndifferentismus sind in diesen Kreisen
wett verbreitet. Nun kann es aber für eine Religion, mag sie heißen, wie sie
will, nichts schädlicheres geben, als daß die Unterweisung in ihren Anfmigs--
gründen von Personen erteilt wird, die ihr ohne eigne Persönliche Anteilnahme oder
gar mit ausgesprochnen Unglauben gegenüberstehn. So wird heutzutage dieser
Unterrichtszweig in vielen Schulen von Lehrern und Schülern als eine lächerliche
Sache behandelt; in andern Schulen ist wohlweislich den Lehrern die Freiheit
gelassen, ihn zu erteilen oder nicht, während er in einer weitern Anzahl trotz des
Gesetzes, ohne Umstände abgeschafft worden ist. . ^
Übrigens beschränkt er sich auch da, wo er ernstlich erteilt wird, auf das
Hersagen einiger Gebete und das Auswendiglernen des Katechismus der betreffenden
Diözese. Also nirgends etwas wirklich Lebenskräftiges und segensreiches! Unter
den tausend Beispielen einer erstaunlichen Unwissenheit auf diesem Gebiete nur einen
selbst erlebten Fall: fragt mich da eines Tages ein zwölfjähriger Junge, der seinen
Kurs im Religionsunterricht ganz durchgemacht hatte, ob Moses noch lebe!
Indessen wird überall für und gegen diesen Unterricht eine lebhafte Agitation
entfaltet. Liberale, Radikale und Sozialisten, unterstützt von der in Italien sehr
mächtigen Freimaurerei, wirken auf seine Abschaffung hin. Auch hat der Abgeordnete
Bissolati die Angelegenheit zum Gegenstand einer Bewegung gemacht, die nächstens
in der Kammer zur Debatte gestellt wird. Daraufhin hat der Gemeinderat von
Rom neulich in einer Sitzung folgende Tagesordnung angenommen:
„Der Gemeinderat von Rom beantragt, die Negierung und das Parlament
wollen im Zusammenhang mit dem bestehenden Gesetz ausdrücklich erklären, daß jede
Form eines konfessionellen Unterrichts aus der Primär- (Elementar-) schule aus¬
geschlossen sein soll. < ^/
„ , Jede Voraussage wäre verfrüht. Sicher ist aber bis jetzt so viel, daß die
katholische Partei zum erstenmal mit allen ihren geheimen und öffentlichen Kräften
zur Verteidigung ihrer Privilegien auf dem Kampfplatz erscheinen wird, und ihr
Sieg gehört nicht zu den Unmöglichkeiten. Aber auch ihr Sieg wäre mehr ein
Sieg in der Form als in der Sache, da der Unterricht in ihren religiösen Grund¬
gedanken ja nicht von ihrem Klerus erteilt wird. Da scheinen uns die katholischen
Modernisten konsequenter zu sein, die unter den besondern Verhältnissen Italiens
vollständige Trennung von Kirche und Staat anstreben: staatlichen Allgemein¬
>le Wandlungen ans dem innerpolitischen Gebiete in beiden Teilen
der Habsburgischen Monarchie erschienen in den letzten Jahren
recht bedeutend, so bedeutend sogar, daß wieder einmal die Auf¬
lösung des Dualismus und damit der Anfang vom Ende an-
> gekündigt wurde. Diese Melodie hört man aber schon seit Jahren,
und was hat sich denn endlich in dieser Zeit der Jeremiaden, gegenseitigen
Anfeindungen, Beschuldigungen und Klagen nach allen Seiten geändert?
Eigentlich soviel wie nichts, und dem unbeteiligten Zuschauer fängt die
Sache an nach und nach etwas langweilig zu werden. Gewiß war wieder
einmal das Verhältnis zwischen Österreich und Ungarn in Unsicherheit geraten,
aber das ist in frühern Jahrhunderten schon vielfach der Fall gewesen, und
die ungarischen Stände haben dem Hause Habsburg oft noch viel feindseliger
gegenübergestanden als letzthin der ungarische Reichstag. Wenn es so ge¬
schienen hat, als dränge Ungarn auf wirtschaftliche und militärische Scheidung
hin, so liegt das daran, daß augenblicklich dort eine Richtung die parla¬
mentarische Oberhand gewonnen hatte, der die Ausgleichsgedanken Andrassys
und Death fremd waren. Aber was sie an regierender Stelle zu leisten ver¬
mochte, hatte nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür geboten, daß sie sich
dauernd erhalten könnte. Wirtschaftliche Selbständigkeit ohne militärische hätte
überhaupt wenig Wert, und die letzte gibt es nicht, weder unter Kaiser Franz
Joseph noch unter einem seiner Nachfolger, und bei der Haltung der Armee
schon gar nicht. Man muß, um ein Wort Bismarcks zu gebrauchen, solche
Konflikte nicht zu tragisch nehmen, darf sich auch nicht dadurch beirren
lassen, daß die verbreitetsten Wiener Blätter, die die parlamentarische Macht¬
erweiterungsbestrebungen in Ungarn „aus Prinzip" unterstützen, schon seit
Jahren die Miene vornehmen, als sei die Einheit der Armee bereits auf¬
gegeben. Es muß schon darum falsch sein, weil von diesem Moment an
Österreich-Ungarn bündnisunfähig geworden wäre. Das ist aber keineswegs
der Fall, bisher hat selbst die seit Jahren eingestandne Rückständigkeit des
Artilleriematerials die Habsburgische Monarchie nicht bündnisunfähig gemacht.
Nirgends droht eine äußere Gefahr, und die Verbündeten konnten in Ruhe
abwarten, bis die magyarischen Heißsporne ihre durch die Macht der Phrase
errungne Stellung wieder eingebüßt oder vernünftigem Leuten Platz gemacht
hatten, nachdem das Volk zu der Einsicht gekommen war, daß es sich auf
Jrrpfaden bewegte.
Man hatte allerdings in den letzten Jahren die Agitation etwas eilig
betrieben, weil man dem in vielen Dingen nachgiebig gewesnen hochbetagten
Kaiser Franz Joseph noch etwas abzupressen gedachte, was sicher kein Nach¬
folger gewähren würde. Es kann aber niemand von den Habsburger», er¬
warten, daß sie etwa, anders als die Hohenzollern, in der Frage der Hoheit
über die Armee nachgeben würden. Wer die Vorgänge der letzten Jahre mit
unbefangnen Auge verfolgt hat, der muß die Festigkeit des greisen Monarchen
anerkennen, mit der er unerschütterlich wie einst Kaiser Wilhelm der Erste an
seiner Armee festhält, obwohl er fast auf keiner Seite Unterstützung fand, ein
Meer von Entstellungen und indirekten Angriffen ihn umgab, und er seinen
Lieblingsgedanken, daß er wenigstens Ungarn glücklich gemacht habe, mit
Schmerz als Täuschung erkennen mußte. Wer ihm aber in der Heeresfrage
den Vorwurf der Unentschiedenheit macht, der sagt die Unwahrheit. Und
wenn er morgen als oberster Kriegsherr den aus Ungarn rekrutierten Regi¬
mentern Fahnen mit seinen Abzeichen als König von Ungarn verleihen will,
so wird das noch lange keine Teilung der Armee bedeuten, aber die ungarischen
Regimenter werden sich unter den neuen Fahnen ebenso tapfer schlagen wie
unter den jetzigen Feldzeichen, geradeso wie einst die bayrischen, sächsischen,
braunschweigischen usw. Regimenter mit ihren Fahnen neben den preußischen.
Davon hängt die Tüchtigkeit eines Heeres durchaus nicht ab, wohl aber
davon, daß es einen Kriegsherrn hat, der die Sache versteht und von einem
höhern Standpunkte aus betrachtet, und daß nicht wechselnde parlamentarische
Kriegsminister ihre Privatliebhabereien daran erproben, wie die Zustände ge¬
wisser Armeen und Flotten leider lehren. Kaiser Franz Joseph hat den
Magyaren in den letzten vierzig Jahren wahrlich keinen Anlaß gegeben, mit
ihm unzufrieden zu sein. Er hat in allen nicht ausschlaggebenden Fragen
ihnen stets nachgegeben, weil sie immer einen korrekten parlamentarischen
Aufmarsch in Szene zu setzen verstanden, was in der andern Reichshälfte
allemal verunglückte. Nur als sie die militärische Oberhoheit der Krone be¬
rührten, war der Konflikt da. Das Rechtsverhältnis zwischen Österreich und
Ungarn gründet sich auf die Pragmatische Sanktion von 1723, nach der unter
Aufrechterhaltung der Selbständigkeit Ungarns dieses mit den österreichischen
Erbländer nur durch die Person des Herrschers und den Zweck der gemein¬
samen Verteidigung und Sicherheit verbunden wird. Daraus ergibt sich, daß
die Leitung der äußern Politik und des Kriegswesens gemeinsam sein muß,
daß aber beide Neichshälften kein einheitliches Wirtschaftsgebiet zu bilden
brauchen.
An dieseni durch die dualistischen Vertrüge von 1867 bestätigten Ver¬
hältnis hat Kaiser Franz Joseph immer festgehalten. Die zum Zwecke parla¬
mentarischen Machterwerbs in Wien und Budapest im Einverständnis wirkende
Presse ist freilich unausgesetzt bemüht gewesen, teils aus falscher Auffassung,
teils aus andern Gründen die Lage anders und namentlich den Monarchen
als schwankend darzustellen. Das ist aber durchaus unberechtigt. Um die
heutige Lage klar zu machen, ist eine kurze Darstellung der Vorgänge der
letzten Jahre nötig. Die herrschende Clique in Ungarn, die sich die liberale
Partei nannte, hatte nach und nach, um der immer mehr gegen sie an¬
wachsenden Opposition zu begegnen, mit den magyarischen Richtungen
paktieren müssen, die aus mehr oder weniger ernsten und klaren Gründen für
die politische und wirtschaftliche Selbständigkeit Ungarns agitierten. Szell
hatte durch die Aufnahme der solche Forderungen vertretenden Nationalpartei
in die liberale Partei diese zwar ungemein vergrößert, aber auch den Konflikt
mit der Krone unvermeidlich gemacht. Es folgte dann der Sturz Szclls, das
Doppelspiel der liberalen Partei, im stillen Einverständnis mit der Unab¬
hängigkeitspartei durch deren Obstruktion im Reichstag einen Teil der un¬
garischen Militärforderungen doch zu erpressen, darauf am 16. September 1903
der Armeebefehl von Chlopy. Die Liberalen, die seit geraumer Zeit wußten,
daß der Monarch außer den dem Ministerium Szell schon gemachten Zu¬
geständnissen in militärischen Dingen nichts weiter bewilligen werde, sahen
sich nun vor die Wahl gestellt, entweder offen zur Opposition überzugehn
oder sich dadurch in der Regierung zu erhalten, daß sie sich für die militärischen
Forderungen der Krone einsetzten. Sie entschieden sich für das letzte, und
nachdem sie sich des ihnen persönlich unangenehmen, weil zu kaiserlich ge¬
sinnten Ministerpräsidenten Khuen-Hedervary entledigt hatten, begann unter
Stephan Tisza die Schlußkatastrvphe der liberalen Partei. Er suchte anfangs
mit gekünstelter Auslegungen seiner militärischen Abmachungen die erbitterten
Unabhängigen von der Obstruktion abzubringen, als sich aber diese überzeugten,
daß jene Errungenschaften auch nicht im entferntesten den magyarischen Wünschen
entsprachen, brach die heftigste Obstruktion aus, worauf am 5. Januar 1905
der Reichstag aufgelöst wurde. Die Wahlen am 26. Januar brachten einen
so vollständigen Sieg der vereinigten Oppositionsparteien, daß sich kurz danach
die liberale Partei auflöste.
Eine maß- und ziellose Agitation hatte nun wohl einen durchschlagenden
Wahlerfolg errungen, der aber zunächst nicht auszunützen war. Der Kampf
hatte eigentlich dem langjährigen Terrorismus und den wirtschaftlichen Sünden
der liberalen Partei gegolten und war nur in der letzten Zeit infolge der
zwiespältigen Haltung der liberalen Führer in den Streit um die Heeres¬
frage und die wirtschaftliche Selbständigkeit des Landes ausgeartet. Jetzt sah
es allerdings so aus, als ob das Programm der Unabhängigkeitspartei ge¬
siegt habe. Das konnte aber höchstens für die militärischen Fragen gelten,
die Mehrheit der neugewählten stand dagegen auf dem Boden des Ausgleichs,
infolge des Wahlkampfs allerdings noch in zwei für den Augenblick sehr er¬
bitterten Lagern. Ein solcher Zustand bedürfte der Abklärung, denn an eine
Übernahme der Regierung durch die Führer der siegreichen Koalition auf
Grund ihres Wahlprogramms war nicht zu denken. Darum hatten die zahl¬
reichen Konferenzen der ungarischen Koalitionsführer in der Wiener Hofburg
kein Ergebnis, der Kaiser beharrte in den Heeresfragen auf seinem Stand¬
punkte. Erst am 19. Mai berief er zur Führung der Geschäfte das „außer¬
parlamentarische" Ministerium Fejervary, worüber in der Presse hüben wie
drüben nicht geringer Lärm gemacht wurde. Das Abgeordnetenhaus protestierte,
die meisten Komitate und Städte verweigerten die Steuern und die Rekruten,
aber die Bevölkerung blieb ruhig. Im Verlauf des Sommers machte nun
der Minister des Innern mehrfach Andeutungen, daß man mit der Einführung
des allgemeinen Wahlrechts vorgehn werde. Damit wäre freilich die Herr¬
schaft der ungarischen Clique — einerlei, ob sie jetzt zur Minorität oder
Majorität gehörte —, die bisher die politische Gewalt in Händen gehabt
hätte, beseitigt worden; doch verlautete klugerweise in der Öffentlichkeit darüber
kein Wort. Obgleich sich Fejervary selbst noch nicht für das allgemeine
Wahlrecht ausgesprochen hatte, schien es für die herrschende Clique doch die
höchste Zeit, das gefährliche Ministerium loszuwerden, und die Führer der
Koalition wurden von der ungarischen Aristokratie im stillen bestürmt, in der
Armeefrage nachzugeben. Nachdem die Geneigtheit dazu der Wiener Hofburg
bekannt gegeben worden war, trat nach der parlamentarischen Schablone das
Ministerium zurück, und die Führer der Koalition wurden zu Verhandlungen
nach Wien berufen. Da sie aber glaubten, nach der Beseitigung Fejervarys
sei nun für sie das Feld ohne weiteres frei, ließen sie sich am 21. September
vom Ausschuß der Koalition überreden, ihre alten Forderungen militärischen
Inhalts wieder aufzunehmen.
Darauf folgte am 23. September der berühmte Empfang in der Hofburg
zu Wien, bei dem der Monarch die Herren kurz abfertigte und sie mit einem
schriftlichen Ultimatum entließ, in dem alle weitern militärischen Zugeständnisse
wiederholt abgelehnt wurden. Die Presse, die von den geheimen Vorver¬
handlungen nichts wußte und bisher schon immer die Sachlage zugunsten der
ungarischen parlamentarischen Machtcrweiterungsgelüste ausgelegt hatte, verlor
dieser Tatsache gegenüber alles Urteil und alle Objektivität und konnte oder
wollte sie sich nur durch eine plötzliche Sinnesänderung des Monarchen er¬
klären, während die Schwenkung ganz auf der andern Seite lag. Am
18. Oktober wurde das Ministerium Fejervary förmlich wieder eingesetzt, es
kam im Lande wohl zu einigen leichten Unruhen, da aber die sozialdemo¬
kratischen Massen wegen des allgemeinen Stimmrechts für das Ministerium
Partei nahmen, waren größere politische Demonstrationen nicht ins Werk zu
setzen. Die gesamte innere politische Tätigkeit geriet nun allerdings ins
Stocken, und da durch duldendes Zuwarten die Koalition nicht zum Einlenken
gebracht worden war, begann Baron Fejervary mit dem Jahre 1906, die
Zügel der Regierung etwas straffer anzuziehen. Zunächst wurden die wider¬
spenstigsten Obergespane beseitigt und durch Vertrauensmänner der Krone er¬
setzt, was einige Ausschreitungen, Demonstrationen und Lärm in den Zeitungen
zur Folge hatte und verschiedne Vermittlungsversuche und Verhandlungen mit
sich brachte, die jedoch zu nichts führten, da Kaiser Franz Joseph von seiner
Hauptforderung: Fallenlassen aller militärischen Begehren, nicht abging. Am
13. Februar empfing Fejervary bei der Audienz in Wien zwei königliche Ver¬
ordnungen, nach denen am 19. Februar der ungarische Reichstag aufgelöst
und am 1. März die Handelsverträge mit Deutschland und Italien in Kraft
gesetzt werden sollten. Als königlicher Kommissar für die Reichstagsauslösung
wurde der frühere Honvedminister General Nyiry bestimmt. Man stöhnte in
Ungarn über den „Absolutismus", beschloß aber, unter Protest der Gewalt
zu weichen. So ging die Reichstagsauflösung ganz ruhig hin, und die
trotzigen Militärforderer mußten erleben, daß dies unter dem Schutze von
Honveds, die auf die ungarische Verfassung beeidet sind und magyarisch
kommandiert werden — es waren allerdings der Vorsicht halber Rumänen —,
geschah. Die Börse begleitete das Ereignis mit einer ausgesprochnen Hauffe,
was übrigens für das Verständnis des nun folgenden von Wichtigkeit ist.
Die Negierung rechtfertigte sich in einer Veröffentlichung an die Be¬
völkerung mit der Notwendigkeit der Beseitigung eines Zustandes, der in der
Weigerung der parlamentarischen Mehrheit, die Regierung zu übernehmen,
seinen Ursprung habe. Protestversammlungen und der Straßenverkauf der
Zeitungen in Budapest wurden verboten, einige kecke Blätter konfisziert, die
letzten oppositionellen Obergespane entfernt. Die Koalition gab am 27. Februar
zu ihrer Rechtfertigung noch ein zahmes „Manifest an die Nation" heraus,
in dem sie versicherte, sie sei bis an die äußerste Grenze der Nachgiebigkeit
gegangen. Einige Änderungen im Ministerium schienen aber anzudeuten, daß
sich Baron Fejervary auf eine längere Dauer seines Kabinetts einrichte, auch
vereinbarte er mit einigen hauptstädtischen Banken einen Kontokorrenttredit
von 100 Millionen, um den bedeutenden Ausfall an direkten Steuern zu
decken. Die Koalition verdammte das unpatriotische Verhalten der Banken
und setzte nun alle Hoffnung noch auf den 11. April, an welchem Tage nach
den Bestimmungen der Verfassung für regelmäßige Zustünde die Neuwahlen
ausgeschrieben werden mußten. Das Ministerium erließ aber am 15. März,
dem Gedenktag der Verfassung von 1848, eine Bekanntmachung des Inhalts,
die Negierung werde erst dann zu Neuwahlen schreiten, wenn sie sicher sei,
daß der neue Reichstag nicht einen völligen Umsturz der öffentlichen Ordnung
und des staatlichen Ansehens bedeuten würde. Der dagegen protestierende
Ausschuß der Koalition wurde aufgelöst. Die Presse warf die Frage der
Verletzung des Krönungseids auf und suchte die Mär zu verbreiten, der
Papst habe den König vom Verfassungseid entbunden. Als aber alles nichts
half, und am 3. April in einem Kronrate in Wien, an dem auch die gemein¬
samen Minister teilnahmen, beschlossen worden war, die Neuwahlen in Ungarn
nicht auszuschreiben, entschieden sich die Führer der Koalition, in erster Linie
Kossuth, dazu, in Verhandlungen mit der Krone einzutreten. Alle Kenner
Ungarns waren längst darüber einig gewesen, daß der große Konflikt einen
sehr theatralischen Abschluß nehmen werde, es handelt sich bloß noch darum,
ihn geschickt in Szene zu setzen; an Regisseuren und an ausreichender parla¬
mentarischer Staffage war kein Mangel. In Ungarn ist jene Sorte von
Politikern, die das öffentliche Leben als Geschäft betreiben und darum für
jede neue Mehrheit zu haben sind, zahlreicher als anderswo. Auf diese kann
jede neue Richtung, die zur Herrschaft gelangt, zählen.
In der ersten Aprilwoche wurden Kossuth und Graf Andrassy zu Ver¬
handlungen nach Wien berufen, die nun einen überraschend schnellen Verlauf
nahmen und auf Grund der Indemnität für alle Verfügungen des Ministeriums
Fejervary, der Bewilligung der Rekruten und der Durchführung der Wahl¬
reform unter selbstverständlicher Ausscheidung der Kommandosprache geführt
wurden. Um das Zustandekommen der Einigung soll sich besonders Polonyi
bemüht haben. Wekerle wurde als künftiger Ministerpräsident bezeichnet, und
Schwierigkeiten ergaben sich eigentlich nur bei der Zusammensetzung des
Kabinetts. Es liefen dabei sehr verschiedne Strömungen nebeneinander her.
Neben ehrlichen Bestrebungen, den Frieden zu suchen, waren verschleierte Ge¬
lüste, recht bald wieder zu den parlamentarischen Fleischtöpfen zurückkehren
zu können, und Intrigen, die agrarische katholische Volkspartei auszuschließen,
tätig. Was darüber an die Öffentlichkeit kam, entspricht sicher nicht der voll¬
ständigen Wahrheit. Die Presse in Wien und in Budapest war einmütig in
der Versicherung, daß die Koalition große Opfer gebracht habe, um den
drohenden Absolutismus vom Lande fernzuhalten, im übrigen sei ihr Sieg
vollständig. Die Krone habe in allen Punkten nachgegeben; anerkannt wurde
höchstens, daß sie sich gescheut habe, durch Wahrung des Termins vom
11. April die Verfassung zu verletzen, was doch kaum entscheidend gewesen
sein dürfte. Diese Anschauungen wurden so einstimmig in den Blättern ver¬
treten, daß sie allgemein geglaubt wurden. Und sie waren doch ebenso irrig
wie alle frühern Mitteilungen der Presse über die jeweilige Lage des Ver-
fassungskonslikts zwischen der Krone und dem ungarischen Reichstage. Eine
geradezu lächerliche Ausstreuung war offenbar die, daß die Zurückstellung der
Kommandofrage einen Sieg der Koalition bedeute. Bei unbefangner Be¬
urteilung der Entwicklung dieser ganzen Angelegenheit kann man doch nur
zu dem Schlüsse kommen, daß die Formel der Zurückstellung nichts andres
als eine von der Krone zugestandne goldne Brücke war, über die die Führer der
Koalition zu den Ministersesseln schreiten konnten, ohne vor dem ungarischen
Volke zugestehn zu müssen, wie weit sie nachgegeben hatten. Es stellte sich
auch schon nach wenigen Monaten heraus, daß sie einen Teil der militärischen
Abmachungen einfach verschwiegen hatten, gerade wie zu Tiszas Zeiten.
- ^ In Ungarn war der Jnbel groß. Als am 9. April die schon in Wien ver¬
eidigten Minister nach Budapest zurückkehrten, war die Stadt festlich beflaggt,
etwa hunderttausend Menschen jubelten dicht gedrängt in den Straßen, die
Menge spannte Wekerle, Kossuth und Polonyi die Pferde aus und ließ zur
Abwechslung wieder einmal den „konstitutionellen" König hochleben. Man
wird die große Begeisterung wohl in der Hauptsache auf die allgemeine Be¬
friedigung über die Beseitigung einer höchst unerquicklich gewordnen Lage und
auf das Friedensbedürfnis der Bevölkerung zu schreiben haben, der die aus¬
geworfne Militärfrage, wie die Ereignisse gezeigt haben, ziemlich unverständlich,
wenn nicht gleichgiltig war. In Wirklichkeit mußte das neue Ministerium
die bisherige Rekrutenziffer bewilligen und hatte sich noch — was aber
zunächst verschwiegen blieb — verpflichtet, im dringenden Falle auch eine
Erhöhung zuzugestehn, ferner mußte es das Zollbündnis mit Österreich bis
1917 verlängern, dem Ministerium Fejervary Indemnität erteilen und das
allgemeine Wahlrecht durchführen. Unter diesen Bedingungen, und noch dazu
ohne das allgemeine Wahlrecht, hätte die Koalition die Regierung schon
vierzehn Monate früher antreten können. Es gehört eine besondre politische
Beanlagung dazu, das als einen Sieg der Koalition über die Krone anzu¬
sehen, aber die Presse belehrte einstimmig die Bevölkerung in diesem Sinne.
Die Abklärung der Parteien, von der schon gesprochen worden ist, war in¬
zwischen vor sich gegangen, wenn auch nur im Sinne der an der Fortdauer
der bisherigen parlamentarischen Wirtschaft Beteiligten und Interessierten.
Die Führung dabei hatte die ungarische Großfinanz, die schon unter der
liberalen Parteiherrschaft die eigentliche politische Leitung in der Hand gehabt
hatte, und der nichts daran lag, daß die Koalition in ihrer gesunden
agrarischen Richtung zur Negierung kam. Die Finanzwelt hatte, um ihre
Macht zu zeigen, schon Fejervary unterstützt, aber bloß um der Koalition vor
Augen zu führen, daß sie ohne die Börse ohnmächtig sei. Der Wink wurde
verstanden, mußte ja auch verstanden werden, und danach kam nach und
nach die Verständigung zustande, bei der unter dem Namen der Koalition
die einstige parlamentarische Herrschaft wiederhergestellt wurde. Der Name
Wekerle sagt alles. So wurde aus dem Wahlsieg über die liberale Partei
einfach die Fortsetzung der bisherigen innern Politik unter den Führern der
gewählten Mehrheit, die wieder von dem ehemaligen liberalen Minister und
Vertrauensmann der Börse, Wekerle, geführt wurden. Die Heeresfragen hatte
man, soweit sie dringlicher Natur waren, bewilligt, die große Streitfrage aber
vertagt. Die Hoffnungen auf wirtschaftliche Reformen, um derentwillen das
Volk die Herrschaft der liberalen Partei gebrochen hatte, werden sich nicht ver¬
wirklichen.
Die Neuwahlen, die nun sofort ausgeschrieben wurden, brachten der
Kossuthpartei für sich allein die Mehrheit im Hause; die Gewählten waren
aber bei weitem nicht alle echte Kossuthianer. Wenn man in Betracht zieht,
daß gleich nach der Eröffnung der Session nicht weniger als 172 Abgeordneten
(von 453) die Diäten gepfändet wurden, läßt sich verstehn, wie viele ein wirt¬
schaftliches Interesse daran hatten, daß die Parlamentsmühle wieder klapperte
und Diäten lieferte, und daß sie sich der ausschlaggebenden Partei anschlössen.
Dazu kamen noch die zahlreichen Industriellen, die für ihre Unternehmungen
Staatsunterstützungen genossen hatten, unter Fejervary aber nichts erhalten
konnten, weil man ihm die Steuern verweigerte. Hier lagen die haupt¬
sächlichsten Triebfedern für die beschleunigte Inszenierung des „Siegeß der
Koalition" und der Wiederbelebung des Parlamentarismus. Das Haus er¬
ledigte im Fluge die Handelsverträge und die Rekrutenbewilligung. Um seineu
Landsleuten zu schmeicheln, hatte Wekerle bei der Negierungsübernahme aus¬
bedungen, daß der Zolltarif nur als ungarischer und nicht als gemeinsamer
„inartikuliert", d. h. zum Gesetz erklärt werden solle. Der österreichische Minister¬
präsident Fürst Hohenlohe benutzte zwar diesen Umstand, um zurückzutreten,
in Österreich entstand auch große Aufregung darüber, die sich aber legte, als
man dahinter kam, daß dieser formelle Unterschied in Wirklichkeit wenig zu
besage» hat. Die Ende Oktober 1906 erfolgende Ernennung des neuen
gemeinsamen Kriegsministers Feldzeugmeister Schönaich unter der ausdrück¬
lichen Bezeichnung als „Reichskriegsminister", die sein Vorgänger Feldzeug¬
meister von Pitreich auf Einwendung der Ungarn „der Kürze halber" hatte
fallen lassen, zeigte, daß die Krone in der Heeresfrage keineswegs nachgegeben
hatte. Das bewies auch die weitere Tatsache, die kurz danach bekannt
wurde, daß das Koalitionsministerium eine Verpflichtung auf Erhöhung der
Rekrutenziffer übernommen hatte. Das Stutzen der Bevölkerung darüber
wurde aber durch den allgemeinen nationalen Freudentaumel übertönt, mit
dem die Überführung der Gebeine Rakoczys und seiner Verbannungsgenossen
nach Ungarn ins Werk gesetzt wurde. Sonst wurden die parlamentarischen
und Regierungsgeschäfte schlecht und recht fortgeführt, man begnügte sich mit
der Erledigung der laufenden gesetzgeberischen und Regierungsarbeiten, das
Ministerium entledigte sich des immer zweifelhafter gewordnen Polonyi, dem
öffentlich Dinge vorgeworfen wurden, die auch in den korruptesten Perioden
des ungarischen Parteiregiments als unerhört gegolten Hütten. Bezeichnend
ist es übrigens, daß bis heute noch kein gerichtlicher Schritt gegen den ehren¬
werten Herrn erfolgt ist. Er ist eben, wenn auch ein etwas anrüchiges, Mit¬
glied der herrschenden Clique und erfreut sich der Gunst der Börse.
Wem nicht aller Sinn für politische Ironie abhanden gekommen ist, den
müssen die weitern Wandlungen ergötzen, zu denen die Notwendigkeit, sich in
der Herrschaft zu erhalten, die herrschende Partei nötigte. Die Krone wünschte
ini Interesse der Aufrechterhaltung der Monarchie und der Erfüllung ihrer
Bündnisverpflichtungen die Erneuerung des Ausgleichs auf weitere zehn Jahre.
Ein Wunsch der Krone ist den Ungarn niemals als besonders zwingend er¬
schienen, aber jeder vernünftige Mensch jenseits der Leitha war gar nicht
im unklaren darüber, daß der Ausgleich eine dringende Notwendigkeit für das
Land ist, da sich sonst die schleichende volkswirtschaftliche Krise zu einer ge¬
waltigen Katastrophe entwickeln mußte. Gerade die Verwirrung, die durch
die politische Hetze der koalierten Parteien drei Jahre hindurch betrieben worden
war, hatte in verderblicher Weise gewirkt. Die Koalitionsregierung mußte
darum im eignen Staatsinteresse alles tun, um den Ausgleich durchzusetzen.
Nun verdankt aber die Unabhängigkeitspartei gerade ihre heutige Größe nur
der unermüdlichen Agitation für das vermeintliche zukünftige magyarische
Paradies mit der wirtschaftlichen und politischen Loslösung von Österreich.
Jetzt mußte sie einen Ausgleich durchführen, der Ungarn bis zum Jahre 1917
und nach aller Wahrscheinlichkeit auch über diesen Termin hinaus an Öster¬
reich bindet. Der Treppenwitz der Weltgeschichte könnte gar kein vernichtenderes
Beispiel für den Unverstand leerer politischer Agitationen erfinden als dieses
wohlverdiente Schicksal der ungarischen Koalitionsregierung, die noch immer
so hieß, obgleich sie eigentlich keine mehr war. Die Verhandlungen, über den
Ausgleich, die schon im September 1906 begonnen hatten, wurden zu wieder¬
holten malen abgebrochen, und die gedruckte öffentliche Meinung gab ebenso
oft ihr Urteil dahin ab, daß sie gänzlich aussichtslos seien. Wenn das
„Glanzkabinett", das so genannt wurde, weil ein Kossuth darin saß, wirklich
ein Ministerium der Koalition gewesen wäre, war diese Ansicht auch ganz
richtig, aber das war es ja schon bei seiner Entstehung nicht mehr, und
Franz Kossuth, der als Träger des Namens seines Vaters erst 1894 mit
dessen Asche ins Land zurückgekehrt und sofort an die Spitze der Kossuth-
partei gestellt worden war, teilt aus Neigung und langjähriger Erfahrung
im Auslande weder ihre intransigenten noch revolutionären Bestrebungen.
Trotz der bittern Notwendigkeit, den Ausgleich abschließen zu müssen, hätte
das Ministerium freilich gern gesehen, wenn es die österreichischen Unter¬
händler hätte übervorteilen können, aber es fand in Freiherrn von Beck einen
ebenbürtigen Gegner. Es kam darum ein gerechter Ausgleich zustande, der
beide Teile befriedigen konnte.
Die Welt war aber doch einigermaßen überrascht, als bekannt wurde,
daß am 5. Oktober der Ausgleich zwischen beiden Ministerien vereinbart worden
war. Es braucht hier nicht verschwiegen zu werden, daß gerade in diesen
Tagen im Befinden des greisen Kaisers Franz Joseph eine Verschlimmerung
eingetreten war, die bei dem hohen Alter des Monarchen ernste Befürchtungen
erweckte. Vom Nachfolger ließ sich kaum eine den Ungarn günstigere Stimmung
in den Ausgleichsfragen erwarten. Es ist überflüssig, hier auf die Be¬
stimmungen des Ausgleichs einzugehn, da diese das Ausland nicht berühren;
dagegen waren alle wahren Freunde der Habsburgischen Monarchie aufrichtig
erfreut, daß nach zehnjährigen Kämpfen dem Reiche eine Friedensperiode in
Aussicht stand, die ihm gestatten würde, wenigstens das gänzlich verwilderte
parlamentarische Leben wieder in Ordnung zu bringen. Denn obgleich in
beiden Reichshälften der Ausgleich einer großen Mehrheit sicher war, mußte
er doch durch außergewöhnliche parlamentarische Maßnahmen durchgesetzt
werden: in Wien durch einen Dringlichkeitsantrag, damit er neben der Unzahl
andrer Dringlichkeitsanträge überhaupt zur Beratung gelangen konnte, in
Pest durch ein sogenanntes Ermächtigungsgesetz/ durch das in einer en bloo-
Beratung die Obstruktion der Kroaten gebrochen wurde. Die Kroaten ob--
struieren, weil ihnen auf den ihr Land durchziehenden Staatsbahnen die un¬
garische Sprache als Dienstspräche aufgedrängt werden soll. Nach 'dem
Charakter des vom Mntevrichtsminifter Grafen Äppottyi für Ungarn durch¬
geführten Untcrrichtsgesetzes > das alle nationalen Schulen der Willkür der
ungarischen Behörden überliefert, haben sie alle Ursache, den milden Aus¬
legungen, die der Handelsminister Kossuth seiner Sprachenverordnung für die
Staatsbahnen gegeben hat, gründlich zu mißtrauen. Zur Strafe ist der kroa¬
tische Landtag aufgelöst worden, und' das Königreich Kroatien hat seit wenigen
Monaten schon den dritten Baums. Es unterliegt wohl kaum einem Zweifel,
daß das Ministerium nur darum einen so scharfen Ton gegen die Nationali¬
täten angenommen hat, um seine Mannen unter dem Banner des magyarischen
Chauvinismus möglichst zusammenzuhalten, denn unter den alten echten
KossuthianerN befanden sich viele, die die Ausgleichsaktion nicht umeinander
wollten, und denen der althergebrachte Parteigrundsatz: Los von Osterreich
über alle wirtschaftlichen Nöte des Landes ging. Einige zwanzig sind aus
der Partei ausgetreten und bereiten Nun neben gewissen Eigenbrötlern, wie
Baron Banffy, der immer noch hofft, daß für ihn noch einmal eine neue
ministerielle Ära kommen Müsse, dem Ministerium bedeutende Schwierigkeiten.
Diese können sehr groß werden, da endlich einmal die Heeresfragen zur Ent¬
scheidung gebracht werden-müssen. Das Kabinett wird sich aber in der Herrschaft
zu erhalten suchen; doch sind theatralische Wendungen auch für die nächste Zeit
le Politik ist ihrer Natur nach ein Geschäft der Öffentlichkeit.
Oder vielmehr die Geschäfte der Öffentlichkeit, des gemeinen
Wesens, find Politik. Wer sich daran beteiligen will, der muß
in das blendende Licht und die scharfe Luft der Öffentlichkeit
'huiüils.-'-'-W "-sei.' 'Reichs-- -oder-' Landtagsabgeördneter, - Stadt¬
verordneter oder Stadtrat, Bürgermeister. Landrat oder Minister, so erfährt
er bald, daß der kluge Philister ihn verlacht, umstellt, beschimpft, um so mehr,
je größer sein Einfluß ist. Auch wer' eine Partei, das ist einen politischen
Gesamtwillen, organisiert oder führt, für einen Kandidaten ,' eine. Partei, eine
Sache öffentlich spricht oder eintritt, der muß in die Öffentlichkeit hinaus, weil
eben die Politik ein eminent öffentliches Geschäft ist. Jeder, der.das wagt,
wird aus der Öffentlichkeit nicht ohne Wunden heimkehren, sein Name/,,sein
Geschäft, seine Gesundheit werden gefährdet und meist verletzt. Wie im
Nibelungenlied keine Helden ohne Wunden, so gibt es auch in der Politik keinen
Krieger ohne Wunden. Die Politik ist der Männerkrieg im Frieden. Wer das
fürchtet, der bleibe bei Muttern und^ überlasse es stärkern Leuten.
Ist aber die Politik ihrer Natur nach ein Geschäft der Öffentlichkeit, darf
dann der, der ursprünglich die Geschicke des Volkes entscheidet, der Wähler,
vor der Luft der Öffentlichkeit geschützt werden? , ?-
Wenn ein großes Volk regiert werden soll, so gehört dazu ein mächtiges
Befehlsorgan, ein Willenskörper, wo der höhere Wille immer -dem-.niedern
befiehlt, mit breiter Front nach unten gewandt, aber von oben geleitet von
einem einzigen höchsten Willen, das ist: die Regierung und ihr Beamtenkörper.
So muß es sein, wenn die chaotische Kraft des Volks vernunftmäßig geordnet
und zur Wirkung auf die Wirklichkeit zusammengefaßt werden soll. Nur ein
Wille kann befehlen. ,
Wenn aber ein großes Volk sich selbst regieren will, so muß-vor diesen
Willenskörper, der von oben nach unten befiehlt, ein andrer Willenskörper
treten, der von unten nach oben wählt, in immer wiederholter Wahl, im harten
Gefecht der Meinungen die eine Willensrichtung aus dem Chaos aller Willen
gebiert, die den obersten befehlenden Willen beeinflußt oder geradezu leitet.
Das Wahlrecht ist die Form, das ewig lebendige Parteiwesen ist der Inhalt
dieser Handlung, und das neue Willensorgan, die gewählte Volksvertretung,
ist ihr Resultat. Kleine organische Volksteile, Städte, Kreise, Provinzen, können
diesen Bau des aufsteigenden und absteigenden Willens für die engern Auf¬
gaben der Selbstverwaltung innerhalb des großen Staatswesens wiederholen.
Eine Volksvertretung wird nicht nur gewählt, um die Meinungen und
Wünsche des Volkes durch die Wahl möglichst genau, ungefälscht und un¬
geschminkt zum Ausdruck zu bringen; sondern aus der Urwasi soll-schließlich
ein willenskräftiger Verwaltungskörper hervorgehn, der den obersten höchsten
Willen mit ja oder nein entscheidend bestimmt. Freilich die Tyrannis, das
napoleonische Cüsarentum. der Imperialismus will weiter nichts von der Wahl
als eine Photographie, ein getreues Abbild der Meinungen und Wünsche des
Volkes, als totes Material für seine Entschlüsse. Aber die Selbstverwaltung
will keine Photographie von Meinungen, sondern eine Auslese der Willens¬
richtungen, bis im Kampfe der stärkste, reifste und klarste Wille, ein Dauerwille
hervorkommt- Der Cäsar zählt die Stimmen; die Selbstverwaltung WÄnscht ihre
Kraft und Dauer gemessen. Jenes geschieht vielleicht besser in der geheimen
Wahl, dieses in der öffentlichen. Allerdings der wirtschaftlich Schwache, der
intellektuell Schwache und vor allen Dingen der Träge, der Willensschwäche
werden in diesem Kampfe erstickt, erdrückt, besiegt. Die schwachen Willen fallen
aus, bleiben zu Haus, je wichtiger die Entscheidung, um so mehr. Der Freund
und Fürsprecher der geheimen Wahl meint, damit werde der Staat belogen.
O nein, wer zu schwach ist zur öffentlichen Abstimmung, der ist auch als
Wähler zu schwach zum Mitregieren, einem Geschäfte, bei dem man seinen
Gegnern trotzen können muß. Im Gegenteil, wenn die Schwachen anstimmen
etwa weil die Wahlpflicht sie zwingt, so wird der Staat getäuscht über die
Kraft der Hand, die als Majorität nach seinem Steuerruder greift.
Es ist eine alte Weisheit, daß nur die Freien sich selbst regieren können.
In unsrer verwickelten Wirtschaft, wo beinahe jeder auf irgendwelche Weise
abhängig ist, fehlt diese Freiheit vielen Leuten auf jeder Stufe der Gesellschaft.
Ganze Freiheit gibt es vielleicht für niemand. Ein organisierter Arbeiter ist
gegenüber seinem Brodherrn frei, seinen Kameraden gegenüber unfrei. Der
Beamte mit seiner festen Besoldung ist dem Publikum gegenüber sehr frei, aber
seinen Vorgesetzten gegenüber nicht. Ein Geschäftsmann ist dem einzelnen
gegenüber sehr frei, aber abhängig vom Wohlwollen der Menge, das ihm eine
einzige Verleumdung seines Geschäfts für immer rauben kann. Nach dem Grade
seiner Freiheit soll jeder in der Selbstverwaltung mithandeln, und wie frei er
ist, das bestimmt er selbst an der Gefahr in der Öffentlichkeit. Wer nicht frei
genug ist, daß er öffentlich wählen kann, der wähle geheim? Nein, der werde
so frei, daß er öffentlich wählen kann. Dann erst darf er mithandeln. Freiheit
kann nur da sein, wo die Öffentlichkeit ganz ausgeschlossen ist? Nein, Freiheit
ist nur da, wo die Öffentlichkeit vertragen wird.
Es gibt in der Öffentlichkeit keinen andern Schutz und keine andre Hilfe
für die schwachen Willen, als daß sie sich zusammenschließen, organisieren und
gegenseitig schützen. So werden sie stark. Und da jedermann nur unvollkommen
frei ist, so braucht jeder diese Anlehnung. Der weniger freie kriecht beim stärker
freien unter und allesamt in einer großen Partei. Es ist die Aufgabe des
Parteiwesens, alle Willensrichtungen zu organisieren, die überhaupt darstellbar
sind, sie zusammenzufassen und dem einzelnen Schutz zu gewähren im großen
Heere. Wo es wirkliche Selbstverwaltung des Volkes geben soll, da müssen
alle diese Parteisplitter wiederum zusammengeschlossen werden in zwei große
gleichstarke Parteien, die einander gegenüberstehn. Jede schwache Existenz findet
dann Schutz gegen die rohe Gewalt der einen Partei bei der gleichstarken
Kraft der andern, der gequälte Arbeiter links, der umstellte Arbeitgeber rechts.
Bei einem politisch fähigen und reifen Volke führt dieser bewaffnete Friede
dazu, daß Gewalttaten, Mißhandlungen durch und in der Öffentlichkeit seltner
werden. Die Erziehung des Volkes in der Öffentlichkeit ist der einzige Schutz
gegen die Gefahr der Öffentlichkeit; nicht aber die Geheimhaltung der Wahl.
Denn diese Geheimhaltung bleibt immer unwahr. Jede Partei braucht Öffent¬
lichkeit. Um zu leben, muß jede Partei immer versuchen, das Wahlgeheimnis
zu lüften. Wo die Wahl geheim ist, braucht sie schlechte Mittel, um dahinter
zu kommen, Mittel, gegen die es schließlich keine andre Wehr gibt als die
Flucht in die Öffentlichkeit. Auch wo die Wahl geheim ist, muß man sich mit
einer gewissen Vorsicht isolieren, das heißt vom öffentlichen Leben fernhalten,
damit nicht Haltung, Mitsprechen, Gesellschaft die Gesinnung verraten. Allerdings
bei der geheimen Abstimmung ist ein friedliches soziales Dasein möglich, aber
das ist ein unpolitisches Dasein. Solches Dasein, wo man von der Politik
nichts zu wissen braucht, ist auch unter der Tyrannis möglich. Wer die geheime
Wahl will, der will politische Unmündigkeit und Unfähigkeit des Volkes. In
der politischen Wirklichkeit ist nur das Volk frei, das die Öffentlichkeit
nicht fürchtet.
Das Regieren ist mehr eine Aufgabe des Willens als eine der Intelligenz.
Für eine bestimmte Aufgabe gibt es wohl viele Intelligenzen, Anschauungen,
Meinungen; aber immer nur zwei Willen: Entweder, Oder, Ja oder Nein,
Rechts oder Links. Darum gibt es im wirklichen politischen Leben immer nur
zwei Parteien. Nur wo zwei große Parteien, durch dauerndes, immer wieder¬
holtes Auskämpfen in der Öffentlichkeit zu willensbeständigen Körperschaften
geworden, auf dem Platze stehn, kann das Volk mit diesen beiden Willens¬
instrumenten wirklich selbst den Willen der höchsten Gewalt, der Regierung,
bestimmen. Solche regierungsfähige Parteien, dauerhafte willenskräftige Organe
des Volkes entstehn nur in der vollsten Öffentlichkeit. Dagegen, wo Geheim¬
haltung der Wahl die Hauptsache ist, da entsteht ein Chaos ohnmächtiger
Parteien, das die Unzahl impotenter Stimmungen des Volkes photographiert,
nach langen Intervallen Augenblicksaufnahmen anstellt, das aber politischen
Wert nur hat als Material für die Autokratie der höchsten Gewalt.
Wenn ein Volk sich selbst regieren soll, so braucht es immer eine Aristokratie
irgendwelcher Art. Es muß immer eine Auslese aus sich treffen, nicht der im
gemeinen Sinne des Wortes Intelligentesten, sondern derer, die den stärksten,
reinsten, ehrlichsten Willen oder Glauben für eine Sache haben. Diese sind die
politischen Führer. Um festzustehn, müssen sie frei sein, frei geboren oder frei
geworden sein. Diese Freiheit ist nicht notwendig die Folge des Reichtums oder
der vornehmen Geburt, zum Beispiel nicht beim Hofadel. Man kann auch durch
eigne Charakterkraft und durch wirtschaftliche Kraft frei sein. Solche Freien sind
die Allerfreiesten nach oben und nach unten. Diese Freien werden durch eine
Art Auslese im öffentlichen Leben gefunden und durch die Mitarbeit in den
Selbstverwaltungsorganen erprobt. Denn nur die wirklich freien halten es in
der Öffentlichkeit dauernd aus. Dagegen aus der geheimen Wahl gehn Ab¬
geordnete, Parteiführer, Politiker hervor, die unfähig sind zur politischen
Dauerarbeit, die nur ein vorübergehendes Dasein haben, Mandatare eines
dunkeln und sehr veränderlichen Massenwillens. Auf diese Parteiführer lädt sich
das ganze Geschimpfe eines für die Öffentlichkeit nicht erzognen Volkes ab.
Weil der Wühler geschützt ist, ist der Politiker vogelfrei, und vornehme Leute,
die zur wirklichen Politik taugen, sind für diese Posten nicht zu haben. Es
passen hinein nur die impotenten Schreier, die an die eigentliche Aufgabe des
Politikers, das Handeln, Regieren, Verwalter nicht heran wollen. Wer wird
denn auf den Markt gehn und sich beschimpfen lassen für eine Partei, deren
Mannen es für anständiger halten, im Dunkeln zu bleiben! Das tun wohl
Berufspolitiker und Journalisten, unfreie Kostgänger der Politik, aber der freie
Bürger nicht. Er will durch das Vertrauen seiner nächsten Mitbürger ge¬
zwungen werden. Sonst ist ihm die Politik ein unanständiges Geschäft.
Alle Volksvertretungen haben das Recht der Geldbewilligung, und damit
haben sie, die Verfassung mag sonst sein, wie sie will, die höchste Entscheidung,
das letzte Ja und Nein in ihren Händen. Wenn sie nun doch so ohnmächtig
sind, wie zum Beispiel der deutsche Reichstag, so liegt es sicher nicht an ihrer
Bescheidenheit — denn machthungrig ist jede politische Körperschaft —, sondern
an ihrer Unfähigkeit. Diese Unfähigkeit kommt aus ihrer Geburt, aus der
Wahl. Der deutsche Reichstag ist zur Selbstverwaltung unfähig, er könnte die
starke Zentralgewalt nicht selbst darstellen, die ihm gegenübersteht. Das
preußische Abgeordnetenhaus ist schou viel fähiger. Es übt starken Einfluß auf
die Regierung aus. Am fähigsten zur wirklichen Politik war das aristokratische
englische Parlament, wie es einst war.
Die öffentliche oder geheime Wahl hat weder wesentliches konservatives
noch liberales Interesse. Konservativ oder liberal — diese Fremdwörter passen
nicht, sie sind zu geringen Ranges für die Vornehmheit des Problems. Wählen
wir deutsche Wörter.
Wer die Freiheit liebt, der muß für die Öffentlichkeit der Wahl als des
Uraltes alles, politischen, das ist öffentlichen Lebens sein. Die Freiheit besteht
und gedeiht nur in dem beständigen Kampf und in der Gefahr der Öffentlich¬
keit. Einem Volke, das an geheime Stimmabgabe gewöhnt ist, kann jeder
neue Gewalthaber, jeder fremde Eroberer, jede revolutionäre Partei, jeder
despotische Fürst oder Minister sein bißchen Freiheit nehmen, indem er das
Wahlgeheimnis durchbricht und mit diesem leichten Handstreich das dürftige
Gerüst des Volkswillens über den Haufen wirft. Ein solches Volk ist sofort ohne
Organisation, ohne Führer, eine willenlose Masse für die vorhandne Gewalt.
Es läuft vielleicht auf die Straße — und wird besiegt. Dagegen ist ein für die
Öffentlichkeit erzognes Volk überhaupt nicht zu knechten; es hat immer Führer,
ist immer organisiert, es kämpft drei Menschenalter und unterliegt nicht — siehe
den Kampf der Niederlande —> dreimal besiegt, bildet es die öffentliche Gewalt
immer wieder von neuem selbst. ^ ' .-
Ein einzelner kann seine kleine persönliche Freiheit wohl auch von. einem
Tyrannen in Empfang nehmen als Belohnung für sein unpolitisches Dasein;
aber ein Volk als Ganzes findet seine Freiheit nur bei seiner ureigner immer
neu erlesnen, in der Öffentlichkeit immer neu erprobten Aristokratie. Jede reine
Demokratie hat einen klaren starken Willen nur in seltnen Augenblicken. Für
gewöhnlich wird sie regiert, wo sie zu regieren meint. Und wenn sie wirklich
politisch zu leben versucht, wird sie nach kurzem Spektakel von irgendeinem
Tyrannen überwunden. Das ist die Geschichte aller Revolutionen. Ein Volk,
das sich wirklich selbst verwalten will, muß sich eine Aristokratie schaffen. Das
geschieht durch Dauerauslese der freiesten, vornehmsten Willenskräfte in der
Öffentlichkeit des politischen Lebens. Diese Auslese hat schon bei. den Wählern
anzufangen. Darum heißt die Losung : Hier geheime Wahl, Demokratie, Despo¬
tismus; hier öffentliche Wahl, Aristokratie und Freiheit. Nun, deutsches Volk,
wähle, aber denke daran, daß alle germanische Kultur bisher eine aristokratische
Kultur auf der möglichst breiten Basis der Gemeinfreiheit gewesen ist. Die
Zukunft gehört dem Volke, das in der kommenden atomisierenden demokratischen
Kultur am längsten seine politische Gesundheit, d. i. eine aristokratische Or¬
ganisation behält.
iebuhr und Mommsen haben die Grundlagen der römischen
Geschichte für alle Zeiten gemauert (mancher behauptet freilich,
sie bröckelten schon ab); aber im Auf- und Ausbau bleibt noch
genug zu tun übrig: Lösung von Zweifeln, Ersatz älterer
Hypothesen durch neue, befriedigendere (denn die Geschichts¬
forschung ist von dem Zwange zur Verwendung von Hypothesen so wenig
ausgenommen wie irgendeine andre Wissenschaft), Berichtigung kleiner Irr¬
tümer. Außerdem eröffnen neue Erfahrungen, so besonders die volkswirtschaft¬
lichen und sozialen unsrer Zeit, von denen Mommsen erst im spätern -Alter
einen Teil erlebt hat, auch neue Einblicke in die Zustände. und Umwälzungen
früherer Zeiten. Und endlich müssen doch die alten Geschichten jedem neuen
Geschlecht aufs neue erzählt werden, und Mommsens monumentales Wert ist
überhaupt kein Lesebuch für das Volk. In allen diesen Beziehungen befriedigt
das-Werk, das Lombrosos Schwiegersohn, der Soziologe Guglielmo Ferrero
unternommen hat, und von dem die ersten beiden Bände in autorisierter Über¬
setzung von Max Pannwitz (bei Julius Hoffmann in Stuttgart) erschienen sind:
Größe und Niedergang Roms (erster Band: Wie Rom Weltreich wurde;
zweiter Band: Julius Cäsar). Wie die Leser schon aus dem Titel schließen
können, hat sich der Autor nicht Mommsens, sondern Gibbons Aufgabe gesollt,
doch deckt sich der von ihm behandelte Zeitraum auch mit dem des berühmten
veolm« Ana IÄ1 nicht ganz. Dessen Verfasser beginnt mit Augustus und den
Antonium und erzählt bis zur Eroberung Konstantinopels, auch die letzten
Regungen des römischen Republikanergeistes im Mittelalter und seine endgiltige
Bändigung durch die Päpste mit einschließend, Ferrero nimmt das Ende des
hannibalischen Krieges zum Ausgangspunkt, fertigt die Zeit bis zu den
gracchischen Unruhen summarisch ab, stellt von da an die Ereignisse ausführlich
dar und wird wahrscheinlich mit dem Untergange des weströmischen Reiches
schließen, denn sein Werk ist nur auf sechs Bände berechnet (es sind Bände
kleinen Formats von durchschnittlich 400 Seiten), während Gibbon bis zu dem
genannten Zeitpunkte fünf, für das übrige sieben ungefähr ebensolche Bände
gebraucht hat.
Die neuen Konjekturen, Auffassungen und Hypothesen Ferreros werden
die Fachzeitschriften kritisieren. Den Durchschnittsleser fesselt außer der an¬
genehmen Erzählung besonders die Beleuchtung der politischen, sozialen, ethischen
und ökonomischen Zustände und Bewegungen vom Standpunkte des modernen
Beurteilers aus. Man spürt den Herzschlag und die Sorge des italienischen
Patrioten in dem warmen Preise der altrömischen Bauerntugend, jener wirklich
guten alten Zeit, wo Italien von Rom aus nicht bloß mit dem Schwerte,
sondern auf die einzige, dauernden Erfolg versprechende Weise, mit dem Pfluge
erobert wurde, wo „Genie, Wahnsinn und Verbrechen, kurz alles, was nicht
in den Rahmen der Überlieferung paßte, nach Möglichkeit ausgeschaltet wurde;
Formalismus, Empirismus und roher Aberglaube den Inbegriff aller Weisheit
zu bilden" schienen. „VKil Rom es fertig brachte, barbarisch zu sein ohne die
Laster der Barbarei, darum überwand es so viele gebildetere, aber durch die
Laster ihrer eignen Kultur geschwächte Völker. Die alte römische Gesellschaft
läßt sich mit gewissen Mönchsorden vergleichen, bei denen in äußerst sinnreicher
Weise Lehre, Beispiel, gegenseitige Kontrolle und Furcht zusammenwirken." So
ist es zu erklären, daß im zweiten Punischen Kriege Rom den Sieg davon¬
trug; „die Tugenden einer Reihe spießbürgerlicher Geschlechter triumphierten
über die geniale Größe eines einzelnen." Die Hauptursache von Hannibals
Unterliegen wird wohl gewesen sein, daß das Unternehmen von vornherein
aussichtslos war; nur eben ein Genie konnte es fertig bringen, sich fünfzehn
Jahre lang mit einem kleinen Heere, ohne natürlichen Stützpunkt, ohne stete
Verbindung mit der Heimat, in einem feindlichen, politisch und militärisch gut
organisierten Lande zu halten. Daß Rom nach diesem Siege und den damit
verketteten gewaltigen Erfolgen in Spanien und Afrika „mit einem guten Teil
seiner konservativen Schrullen aufgeräumt hat", ist bekannt. Trotzdem war es
nach Ferrero uicht die gewandelte römische Bürger- und Bauernschaft, die von
da an zur Weltpolitik, zum Imperialismus überging, sondern gegen das Wider¬
streben der wahrhaft römischen Bevölkerung, die immer noch nicht von den
Sitten und der Politik der Väter lassen wollte, hat „ein kosmopolitischer
Pöbel, den der Zufall ^ ans fremden Ländern nach Rom geweht hatte, die
endgiltige Wendung herbeigeführt". Unsre Zeit interessiert sich besonders lebhaft
für den Untergang des Bauernstandes, den nach dein zweiten Punischen Kriege
die Latifundienwirtschaft mit Sklavenscharen und die Getreideeinfuhr verschuldet
haben sollen. Der erste Sündenbock wird von den Bodenbesitzreformern, der
zweite von den Agrariern bevorzugt. Doch der römische Stadtpöbel der
gracchischeu und der Kaiserzeit bestand freilich zum Teil aus Nachkommen
römischer Bauern (zum bei weitem größern Teil aus Sklaven und Freigelaßnen
außeritalischer Abstammung), aber Bauern, sowohl Besitzer als Pächter, gab es
trotzdem die ganze Zeit über in Italien. Die Anklage gegen die Latifundien
hat Friedländer auf das richtige Maß zurückgeführt. Er schreibt (im 1. Bande
der 6. Auflage seiner Sittengeschichte Roms S. 368), weil sich namentlich der
Gemüse- und Weinban, der den Kleinbetrieb fordert, gut rentierte, hätten die
Großgrundbesitzer ihre Ländereien meist geteilt verpachtet. „Auch damals also
war die Kleinwirtschaft wie von jeher und wie auch heutzutage im italischen
Landbau die vorherrschende Form: die Großwirtschaft bestand regelmäßig aus
einem Komplex von Kleinwirtschaften. Für die kleinen Eigentümer aber, wohl
auch in einigem Umfang für die Selbstwirtschaft der Gutsherren, waren im Laufe
der Zeit mehr und mehr Kleinpächter eingetreten, und der ältere Plinius kann
bei seinem bekannten Ausspruch, daß der Großgrundbesitz Italien zugrunde
gerichtet habe und nun anch die Provinzen, wohl nur an die Verdrängung
der kleine« Eigentümer durch Pächter gedacht haben. Doch daß er auch hier,
wie so oft, übertrieben hat. zeigen namentlich zwei Obligationsurkunden über
die von Trajan zur Erziehung freigeborner Kinder unbemittelter Eltern be¬
willigten Kapitalien, für die Landgüter verpfändet waren, und zwar in der
Gegend von Veleja (bei Parma> und Placentia und in der Gegend von
Benevent. In der letzten war die Banernwirtschaft noch vorwiegend; von
fünfzig Besitzern der verpfändeten Grundstücke waren nur zwei Großbesitzer
mit Komplexen im Werte von 451000 und 501000 Sesterzen >^die erste Summe
beträgt nicht ganz 100000 Mark, die zweite etwas darüber); neun besaßen
Güter im Werte von 100000 bis 400000 Sesterzen, die übrigen kleinere. Der
römische Morgen (ein Viertclhektar) galt 1000 Sesterzen »'odaß also die oben
erwähnten »Großbesitzer« nur 450 bis 500 Morgen, nach heutigem ostelbischem
Sprachgebrauch Großbauergüter hatten). Ein sehr viel beträchtlicherer Teil
des alten Klcmbesitzes war in der Ämilia an Großbesitzer übergegangen, wahr¬
scheinlich weil die reichen Fluren der Polandschaft das Kapital mehr anlockten
als das Hirpinische Hügelland. Von 52 Besitzern hatten dort die knappe Hälfte
Güter von weniger als 100000 Sesterzen ^100 Morgenj, ungefähr ebenso-
viele solche von 100000 bis 400000, ein Fünftel darüber, darunter drei von
mehr als einer Million s1000 Morgenj. Am einträglichsten war übrigens in
Italien für den Landwirt auch damals der Weinbau. Das Anlagekapital für
sieben preußische Morgen Weinland betrug mit Einschluß des Sklaven, der'sie
als Winzer zu besorgen hatte, der Weinstöcke und des Inventars und der
Zinsen zweier Jahre, in denen die Weinstöcke noch nicht trugen, 32480 Sesterzen
(7065 Mark), und dieses Kapital verzinste sich nach Columella bei guter Kultur
mit etwa 18 Prozent, während außerdem der Verkauf der Setzlinge noch eine
erhebliche Rente gewährte."
Wie diese einträgliche Wein- (und Ol-)kultur entstanden ist, findet man bei
Ferrero ausführlich dargestellt. Die ersten außeritalischen Eroberungen hatten
einen gewaltigen Kulturfortschritt zur Folge, wie man es gewöhnlich nennt,
wenn sich ein Volk bei wachsendem Reichtum und im Verkehr mit schon luxuriös
lebenden Völkern mehr und feinere Bedürfnisse angewöhnt. Die Steigerung
der Bedürfnisse steigerte den Zwang zu Geldausgaben, und es stellte sich die
uns wohlbekannte Not der Landwirtschaft, das heißt der Landwirte ein, deren
Einnahmen für das erhöhte Ausgabeubudget uicht mehr reichten. Diese Not
wurde durch die gracchischeu Reformen erhöht, weil die Untersuchung der
Eigentumsrechte der Nutznießer und die Aussonderung des Staatsackers Um¬
stände, Störunge» und Kosten verursachte. „Zahlreiche Grundbesitzer zwang
die Notlage, sich nach einträglichem Kulturen umzusehn, und da sie nicht mehr
bestehn konnten, wenn sie nach der bisherigen Weise Wein und Oliven für den
eignen Bedarf und Getreide für den Verkauf produzierten, so singen sie jetzt
an, umgekehrt Getreide nur für den Hausgebranch, Ol und Wein aber für den
Verkauf zu bauen. Beide Produkte galten mehr und ließen sich leichter in der
Ferne absetzen." Und gerade in diesen heilsamen Umwandlungsprozeß griff
nun wieder die gracchische Reform, die stellenweise eine Neuverteilung der
Grundstücke forderte, störend ein. „Die großen wirtschaftlichen Krisen sind im
Laufe der Geschichte nicht durch geniale Gesetzgeber, sondern durch die Völker
selbst gelöst worden, indem diese durch Arbeit den Reichtum vergrößerten.
Unglücklicherweise wurden viele italische Landwirte, als sie gerade im Begriff
waren, sich den veränderten Verhältnissen anzupassen , darin durch einen über¬
eifriger Gesetzmacher gestört und sollten nun ihren schönen Weinberg gegen
ein sumpfiges Gebiet umtauschen", wogegen die teils Geschädigten, teils Be¬
drohten bei Scipio Ämilianus Hilfe suchten, der denn auch mit Änderungen
der Gesetzgebung einschritt. Daß die Umwandlung des landwirtschaftlichen
Betriebs in die Zeit zwischen 130 und 120 fällt, folgert Ferrero aus einer
Angabe des ältern Plinius. Dieser erzählt, man habe im Jahre 121 infolge
der reichen Weinernte zum erstenmale die Wirkung dieser Umgestaltung wahr¬
genommen. Da der Rebstock langsam wächst, müsse die neue Kultur mehrere
Jahre vorher begonnen haben. Plinius sage nichts von Ölbäumen, „da aber
der Ölbaum nach der Rebe die einträglichste Frucht der neuen Kulturart war,
und da schon Cato vom Rückgang des Körncrbcmes und der Ausbreitung der
Oliveuzucht spricht, so ist mau berechtigt anzunehmen, daß sich der Anbau der
beiden Produkte gleichzeitig ausgedehnt hat."
Ferrero gehört also nicht zu den Lobrednern der Gracchen; ihr Heilmittel
sei in ein Gift umgeschlagen, habe die Zersetzung gefördert. Auch die pergamenischc
Erbschaft, die die Gracchen in bester Absicht fürs Volk nutzbar zu machen ver¬
suchten, habe geschadet. Zudem hatte Cajus „mit dem Gesetze über Asien sdas
den Senat in der Verteilung und Verwaltung der Provinzen beschränktes für
die römischen Kapitalisten ein neues und sehr gewinnreiches Geschäftsgebiet
geschaffen. In Rom bildeten sich zahlreiche Gesellschaften zur Pachtung der
dortigen Abgaben, und geschickte Geldleute legten darin ihr Kapital an. sodaß
nach der militärischen und merkantilen hier auch die finanzielle Ausdehnung des
Imperialismus erfolgte. In allen Familien der Mittelklasse — diese muß noch
zahlreich gewesen sein, obwohl sich wahrscheinlich die Fruchtbarkeit von Geschlecht
zu Geschlecht minderte — verließen viele Kinder, von der Dürftigkeit der länd¬
lichen Verhältnisse abgestoßen, das väterliche Haus; sie gingen in die benachbarte
Stadt oder nach Rom, um dort als Handwerker oder Händler ihren Unterhalt
zu erwerben; oder sie traten freiwillig ins Heer oder wurden ausgehoben und
suchten ihr Glück in fernen Ländern. Die Kolonien italischer Kaufleute um
das Mittelmeer herum wurden immer zahlreicher; etwa um diese Zeit entstand
auch eine in Alexandrien. Viele Italiener wanderten nach Asien; dort betrieben
sie im Auftrage der großen Püchtergesellschaften kleine Geldgeschäfte, daneben
auch Sklavenhandel und den Ein- und Verkauf von asiatischen Produkten,
denn die Nachfrage nach solchen stieg immer mehr in Rom. Oft schickten die
Väter, um ihren Kindern ein besseres Los zu bereiten, diese, auch wenn sie
sich das Geld dazu leihen mußten, zum Studium in die Stadt, damit sie dort
die Redekunst erlernten, sich als Anwälte einen Namen machten, die Aufmerk¬
samkeit reicher und mächtiger Leute auf sich ziehen und mit deren Hilfe zu
Ämtern und Würden gelangen könnten. So ging diese Klasse von mittlern
Grundbesitzern und Bauern, die einen so großen Teil der Halbinsel urbar
gemacht, die den Hannibal besiegt hatte, allmählich zugrunde. In ganz Italien
wurden die kleinen Güter in den Händen gieriger Unternehmer zu ausgedehnten
Besitzungen vereinigt; diese Herren setzten an die Stelle der freien, faul, ehr¬
geizig und aufsässig gewordnen Arbeiter Sklaven, sodaß die freie Bevölkerung
vom Lande abwanderte, um in den Städten Italiens oder in den Provinzen
ihr Glück zu suchen oder auch nach Rom zu gehn und dort politischen Einfluß
zu gewinnen" oder ein Schmarotzerleben zu führen. Ganz wie bei uns heute;
fehlen doch auch die Sklaven nicht, die slawischen und die italienischen Wander¬
arbeiter. Daß die Latifundien die kleinen freien Besitzer entweder nicht ganz
verdrängt haben, oder daß sich ein neuer Stand von solchen gebildet hat, und
daß der Großbesitz je länger desto weniger den Großbetrieb bedeutete, haben
wir von Friedlünder vernommen, und auch Ferrero gibt das später gelegentlich
zu. Sehr heilsam hat nach ihm das Gesetz des Volkstribunen Spurius Thorius
vom Jahre 111 gewirkt, das „die letzten Spuren des alten Agrarkommunismus
beseitigte und fast den gesamten Boden Italiens zu Privateigentum machte".
Gleich nach Erlaß des Gesetzes „stiegen die Grundstücke im Preise; die ver¬
schuldeten Grundbesitzer konnten ihr Land verkaufen, von dem sie vorher nur
die Naturalnutzung hatten; wer Kapital in den Boden gesteckt hatte, fühlte
sich beruhigt, und der Handel mit Grundstücken nahm einen lebhaften Auf¬
schwung".
Freilich traten bei dieser Umwälzung, wie in der untern und mittlern
Schicht, so auch in der obern neue Geschlechter an die Stelle der alten, und
das war kein Unglück. „Es gibt keine Klasse, die vollständiger das Gefühl
für das, was gut und böse ist, verliert, als eine verschuldete, bedürftige Aristo¬
kratie, die, voll Neid gegen eine Plutokratie eben aufgeschossener Millionäre,
nur danach trachtet, den Vorrang, den Luxus und die Genüsse noch festzuhalten,
wenn die Armut schon anklopft. Rom hatte von seiner Aristokratie manches
schändliche zu sehen bekommen . . . Aber die Achtung vor einer uralten Aristo¬
kratie wie die Bewunderung für einen Staat, dessen Macht eine Reihe von
Jahrhunderten überdauert hat, haften im Volksgemüt noch lange nach dem
Beginne des Verfalls, und so machte sich Rom noch immer Illusionen über
seinen Adel, wie es heute ein Land tut, dessen Nobilität in ähnlicher Weise
dem Untergange entgegengeht, ich meine England." Kenner Englands mögen
entscheiden, ob der Verfasser Recht hat. Von der Manischen Restauration,
die Mommsen gepriesen hat, sagt Ferrero: in Wirklichkeit habe gar keine
aristokratische Restauration stattgefunden, „denn die römische Aristokratie existierte
nicht mehr; sondern in Asien wie in Italien und im ganzen Reiche handelte
es sich nur um den zügellosen und bluttriefenden Triumph einer kleinen Schar
von Meuchelmördern, Sklaven, adlichen Bettlern, gewissenlosen Abenteurern,
spitzbübischen Wucherern und feilen Söldnern über ein ungeheures Reich von
Millionen Unterdrückter, die in einem Wutanfall einen vergeblichen Befreiungs-
versuch unternommen hatten". Unter den Mitteln, mit denen sich die herunter-
gekommnen Adelssprößlinge über Wasser zu halten versuchten, zählt Ferrero
auch Heiraten mit Töchtern der neue» Nobilität auf, zu der die größern
Grundbesitzer gehörten. Diese neuen Landwirte waren intelligent und fleißig;
sie studierten die Schriften der griechischen Agronomen und das Lehrbuch der
Landwirtschaft des Karthagers Mago, von dem der Senat eine lateinische
Übersetzung veranstaltet hatte. Sie liehen, wenn sie unbemittelt waren, „ein
kleines Kapital, pflanzten Öl und Wein und strebten nach rationeller Boden¬
nutzung". Aber nur uuter vielen Mißerfolge» ging es vorwärts. „Mangel
an Erfahrung, die UnVollkommenheit des Straßennetzes, wucherische Zinsen,
der unorganisierte Zustand des Handels standen ihrem Erfolg im Wege und
ließen oft gerade die unternehmendsten Landwirte Schiffbruch leiden." Die
lex Lxuris, luoria, die durch Sicherung des Eigentumsrechts zu großen Auf¬
wendungen für die Bodenkultur ermutigte, hat auf diese Weise viele einzelne
in Armut gestürzt. Eine neue Wendung führte die Erschöpfung Asiens durch
die allzu rasche Ausplünderung herbei. In den siebziger Jahren waren dort
keine Reichtümer mehr zu holen, und nun wandte sich das Kapital in Masse
dein eignen Lande zu. „Damit begann in Italien eine fieberhafte Steigerung
des landwirtschaftlichen Betriebs, die im Laufe eines Jahrhunderts die um 130
begonnene Umwandlung der Bodenkultur vollendete. Alle großen und mittlern
Grundbesitzer kauften Sklaven; aber sie verfuhren nun beim Ankauf mit einer
ehedem unbekannten Sorgfalt, indem sie neben der rohen Muskelkraft, die nur
für schwere körperliche Anstrengungen und für die Arbeithäuser taugte, intelli¬
gente Handwerker und Landwirte suchten, die besser behandelt wurden und im¬
stande waren, durch bessere Methoden den Ertrag der Landwirtschaft zu heben."
„Damals war Rhodus der Weltmarkt für Wein; Griechenland, die Insel¬
welt des Ägäischen Meeres und Kleinasien waren das Burgund und die
Champagne der alten Welt; diese Länder führten den Göttertrank in die
Gegenden aus, wo die Traube nicht reifte, oder wo die Wohlhabenden das
schlechtere einheimische Gewächs verschmähten. Unter den Sklavenscharen, die
Sulla aus Asien nach Italien verkauft hatte, die von Seeräubern, vou ita¬
lischen Staatspüchtern und Kaufleuten nach Italien verschleppt worden waren,
fanden sich viele Landleute, die sich auf die Pflege des Weinstocks und des
Ölbaums verstanden. Kapitalisten, die sich in den Provinzen bereichert hatten,
bemittelte Grundbesitzer, darunter auch noch solche vom alten Adel, machten
die Entdeckung, daß man recht wohl bei Benutzung orientalischer Sklaven mit
den östlichen Weinproduzenten konkurrieren könne, besonders da der Konsum
von Wein und Öl in Italien stetig stieg. Sie ließen also Neben und Öl-
bäume in günstigen Lagen anpflanzen und wählten dabei für den Absatz gut
gelegne Gegenden aus: in der Nähe des Meeres oder einer Heerstraße, so in
der Romagna und in Sizilien. Wanderherden waren im vorhergehenden Jahr¬
hundert die beliebteste Gewinnauelle des Adels gewesen, aber sie paßten nur
in die schöne Zeit des g^er publicus und der wirtschaftlichen Sorglosigkeit.
Je teurer jedoch der Boden und je kostspieliger das Leben in Italien wurde,
desto mehr sah mau sich in die Notwendigkeit versetzt, die Viehzucht zu heben,
intelligentem und sachverständigen Leuten die Tiere anzuvertrauen, sich um
gute Rassen, passende Kreuzungen, Auswahl des Futters und hygienische
Fragen zu bemühen. So besaß Attikus ausgedehnte Besitzungen und zahllose
Herden in Epirus. Man machte Versuche mit Veredlung der Pferde- und
Eselrassen. Statthalter und Offiziere fingen an, in den Gegenden, in die sie
ihre militärischen oder Verwaltnngspflichten führten, den Pflanzen und Haus¬
tiere» und ihrer Pflege Beachtung zu schenken."
Im Jahre 52 führten die Kaufleute zum erstenmale italisches Öl in
die Provinzen ans. (Wer nicht die ganze Chronologie im Kopfe hat. den
kostet es an dieser und an andern Stellen einige Mühe, herauszubekommen,
welches Jahr mit „diesem unruhvollen" oder einem ähnlich bezeichneten Jahre
gemeint ist. In größern Geschichtswerken sollte auf jeder Seite die Jahres¬
zahl an den Rand gesetzt werden.) „Die Tatsache schien den Zeitgenossen nicht
sehr wichtig, sie beachteten sie kaum im politischen Kampfgetümmel, und wir
würden gar nichts davon wissen, hätte sie uns nicht einer der fleißigsten Ge¬
lehrten der alten Welt überliefert. (Plinius in seiner Naturgeschichte XV, 1.)
Aber diese Tatsache hat doch ihre Bedeutuug. da sie uns zeigt, daß selbst in¬
mitten dieses furchtbaren politischen Auflösungsprozesses und neben einigen
militärischen und politischen Persönlichkeiten, deren Taten die Geschichtsbücher
füllen, zahllose Menschen, die keinen Namen hinterlassen haben, unermüdlich
weiter arbeiteten an der Umgestaltung des italischen Ackerbaues und Gewerb-
fleißes. Freigelassene, kleine und mittlere Grundbesitzer, Ausgewandertes,
frühere Legionssoldaten, Zenturionen erwarben mit ihren Ersparnissen ein
Stück Land von verschuldeten großen Aristokratenfamilien, kauften Sklaven
und betrieben den Ackerbau nach verbesserten Methoden oder trieben Handel
und führten neue Kunstfertigkeiten und Gewerbe ein. Die Fortschritte des
Olivenbaues, über die Plinius berichtet hin zweiten bis siebenten Kapitel des
fünfzehnten Buches), und die des Weinbaues wären nicht möglich gewesen,
hätte sich nicht zwischen dem Großgrundbesitz und den ihr Land selbst be¬
dauerten kleinen Landwirten eine mittlere Klasse von Grundbesitzern gebildet,
die mit kleinem Kapital und mit Hilfe intelligenter Sklaven die hochentwickelten
Kulturwcisen des Orients anwandten. Die Kleinbauern hätten es nicht ver¬
standen, und die Großgrundbesitzer hätten ungeheure Kapitalien gebraucht, wenn
sie Wein, Oliven und andre Fruchtbäume im großen hätten kultivieren und
die dazu erforderlichen Bauten hätten errichten wollen. ^Er sagt an einer
andern Stelle, für diese höhern Sklaven habe man auch anständige Wohnungen
schaffen müssen. Der Großgrundbesitzer brauchte ja nicht sein ganzes Areal
zum Wein-, Öl-, Obst- und Gemüsebau zu verwenden und konnte außerdem
durch parzcllenweise Verpachtung die neue Kulturart fördern, was denn auch
tatsächlich geschehen ist.j Auch konnten sie sich in der Regel nicht selbst um
ihre Güter kümmern, was für einen gedeihlichen Betrieb so notwendig ist.
Spekulanten, reiche Wucherer, Literaten, berühmte Politiker oder Offiziere,
andre vornehme Stadtherren mochten aus Laune oder weil es Mode war,
diese neuen Kulturen selbst probieren; für gewöhnlich jedoch paßte den Gro߬
grundbesitzern, wenn ihre Güter nicht in der Nähe einer Stadt lagen, nichts
besser als die Viehzucht. So ließen die großen Herren Roms in den damals
noch ausgedehnten Wäldern und auf den weiten Wiesen des Polcmdes und
Süditaliens, das seit Hannibals Zeit ziemlich menschenleer geblieben war, riesige
Herden weiden. sDie Ursache davon, daß in der Poebene der Großgrundbesitz
besonders stark um sich griff, scheint also nicht, wie Friedländer meint, ihre
Fruchtbarkeit gewesen zu sein, sondern der Umstand, daß sie sich noch im Natur-
zustande befand, noch Weideland war.) Die großen Vieh- und Weidebesitzer
wie Domitius Änobarbns machten den noch begüterten Teil des römischen
Adels aus und waren das Rückgrat der konservativen Partei. Dagegen waren
alle Fortschritte im intensiven Anbau das Werk bescheidner Grundbesitzer der
mittlern Klasse, die nicht mehr ärmlich lebten, nicht mehr mit einer starken
Familie das Land selbst bebauten, sondern einen guten Teil des Jahres in
der benachbarten Stadt zubrachten, ihre Sklaven oder voloni unter scharfer
Aufsicht hielten, ledig blieben oder doch wenig Kinder hatten und aus ihrem
Grundbesitz möglichst viel Geld zogen." Und diese Umgestaltung der Land¬
wirtschaft brachte zugleich den gewerblichen Fortschritt in Gang. Der neue
Landwirt war anspruchsvoll, begnügte sich nicht mit den Kleidern und Geräten,
die seine dannen, seine Sklavenschaft herzustellen vermochte, wollte besseres
haben, und die Nachfrage nach Gewerbeerzeugnissen, nach Luxusartikeln, der
die Einfuhr nicht mehr genügte, ermunterte zum Gewerbebetrieb für den Markt.
Kapitalisten richteten Werkstätten ein, in denen sie qualifizierte Sklaven be¬
schäftigten, und aus Freigelassenen bildete sich ein Stand von kleinen Hand¬
werkern. Ganz Norditalien verlegte sich auf die Keramik, weiter südlich tat
Arezzo dasselbe, in Padua und Verona fabrizierte man Teppiche, die sehr
gesucht wurden, die Großgrundbesitzer von Parma und Modena, auf deren
Grundstücken große Schafherden weideten, ließen Wollstoffe anfertigen, Faenza
lieferte Leinenwaren, Neapel Parfümerien, die Insel Elba Eisenwaren.
Wir sehen, wenn auch die Bürgerkriege Verheerungen angerichtet haben,
war doch die ökonomische und die landwirtschaftliche Lage beim Untergange der
Republik gar nicht schlecht. Eben weil man ökonomisch geworden war, zog
man sich von der Politik zurück und überließ diese gern einer regierenden
Oligarchie oder einem Monarchen — wie Europa seit 1870, meint Ferrero.
Insbesondre hatte das Latifundienwcsen keine die gesunde Entwicklung hemmende
Ausbreitung gewonnen, und wo es übermäßig entwickelt war, wurde seinen
schlimmen Wirkungen durch das Pachtsystem vorgebeugt. Man darf eben den
rhetorischen Darstellungen der Parteiführer, Volkstribunen, Moralisten und
Isuäatores tsmpoiis avei im alten Rom so wenig jedes Wort glauben wie
denen unsrer heutigen Zeit. Die beiden wirklichen Übel waren die Ansammlung
eines schmarotzenden Pöbels in Rom, der zu nichts taugte, also auch nicht
zur innern Kolonisation, und daß statt Lohnarbeitern Sklaven beschäftigt
wurden. Das hatte zwar seine Bequemlichkeiten für die Großgrundbesitzer
und Großunternehmer, Bequemlichkeiten, wegen deren diese von manchem ihrer
heutigen Standesgenossen beneidet werden mögen, wirkte aber doch, wie heute
allgemein anerkannt wird, auch abgesehen von allen ethischen Erwägungen im
ganzen verderblich. Übrigens würde die Sklaverei, als nach Vollendung der
Eroberungen die Zufuhr frischer Ware aufhörte, durch die zahlreichen Frei¬
lassungen und die von der wirtschaftlichen Entwicklung erzwungne Verwandlung
des wirkliche» Sklaven in einen bloß hörigen Kolonen mit der Zeit von selbst
verschwunden sein, wenn nicht die Stürme der Völkerwanderung, die Raub-
züge asiatischer und nordischer Barbaren und der Islam den Menschenraub
und Menschenhandel aufs neue in Gang gebracht hätten.
Wenden wir uns nun der andern angeblichen Ursache des vermeintlichen
Untergangs des italischen Bauernstandes zu, so hat sie nach Ferrero gar
nicht existiert; in einer besondern Abhandlung beweist er, daß das Altertum
den Getreidehandel im heutigen Sinne nicht gekannt hat. Er stützt sich be¬
sonders auf gelegentliche Äußerungen Zceuophons und des Redners Demosthenes.
In dessen Zeit vermochte der attische Boden die cmgewachsne Bevölkerung
Athens nicht mehr zu ernähren, und es mußten alljährlich 400000 bis
500000 Hektoliter Brotkorn eingeführt werden. Das konnte aber nur durch
strenge Maßregeln des Staates möglich gemacht werden. Unter Androhung
harter Strafen wurde den Kaufleuten und Reedern, die ätherische Waren aus-
führten, befohlen, als Rückfracht Getreide zu laden, und es kam vor, daß ein
Kapitän, der seine in der Krim gekaufte Getreideladung statt im Piräus in
einem Hafen außerhalb Attikas gelöscht hatte, mit dem Tode bestraft wurde.
„Während die meisten heutigen Industriestaaten die Einfuhr von Zerealien
durch Schutzzölle zu hemmen suchen, war Athen bestrebt, mit allen Mitteln
der Diplomatie und durch Kriege die ununterbrochne, reichliche Getreideeinfuhr
zu sichern." Der Getreidehandel war eben so unbequem, riskant und un¬
rentabel, daß sich kein Kaufmann aus freier Wahl damit abgeben mochte.
Nur sehr wenig Länder erzeugten manchmal einen Überschuß über den eignen
Bedarf; für gewöhnlich deckte die Ernte nur eben zur Not das heimische Be¬
dürfnis; aber dieses wurde eben auch gewöhnlich von der eignen Landwirt¬
schaft befriedigt. Es fehlte dem Händler also zunächst sowohl die feste Bezugs¬
quelle wie der feste Absatzmarkt. Die wenigen, die sich auf den faulen Handel
einließen, spekulierten auf die Hungersnöte, die bald in diesem, bald in jenem
Lande infolge einer Mißernte ausbrachen. Der heutige private Getreidehandel
ist die gleichmäßig arbeitende Maschine zur Versorgung der an beständiger
Unterproduktion leidenden Länder aus den Ländern der ebenso beständigen
Überschüsse. Beide Gebiete sind konstant und allgemein bekannt; zwischen
Einkauf- und Absatzmarkt bestehn feste Beziehungen (daß Rußland immer noch
von seiner autokratischen Regierung zwangsweise in der Gruppe der Export¬
länder festgehalten wird, auch seitdem es aus einem Lande periodischer ein
solches der ständigen Hungersnöte geworden ist, kann als eine unerhörte
Anomalie keinen Einwurf gegen die Gesetzmäßigkeit und Natürlichkeit des
Gesamtzustcmdcs abgeben). Und die Arbeit dieser Maschinerie gleicht die Preise
der verschiednen Länder aus. Nur im Wechsel der Jahre schwankt der Welt¬
preis mit dem Ertrage der Welternten, und nur auf diesen Wechsel in der
Zeit kann sich die Spekulation aufbauen. Die Spekulation des Altertums
gründete sich nicht auf temporelle sondern auf lokale Unterschiede: auf den
Unterschied der Getreidepreise zwischen einem Lande, das zufällig Überschüsse
hatte, und einem andern, das zufällig an einer Hungersnot litt. Solch ein
Doppelzufall schuf natürlich so gewaltige Preisdifferenzen, daß ein Geschäft
schon gewagt werden konnte, das, wie gesagt, für gewöhnlich ein faules Ge¬
schäft war. Denn infolge der Geldknappheit und der dadurch verursachten
Höhe des Zinsfußes sowie wegen der Kleinheit und Langsamkeit der Schiffe
waren die Kosten sogar beim Wassertransport — um wievielmehr beim Land¬
transport — sehr groß, und nicht minder groß waren die Gefahren von See¬
räubern, feindlichen Kriegsschiffen, den häufigen Freveltaten eines im ganzen
barbarischen Rechtszustandes und — bei der UnVollkommenheit der Schiff-
fahrtskunst — von den Stürmen. Deshalb beschränkte sich der damalige
Auslandshandel auf Waren, die bei kleinem Umfang hohen Wert hatten, und
da sie nicht zur Notdurft des Lebens gehörten, nur von wohlhabenden Ab¬
nehmern gekauft wurden, die bereit waren, sie noch weit über ihren Wert zu
bezahlen, sodaß ein Gewinn herausspringen konnte, der das Risiko aufwog.
Ferrero hat seinen Beweis vorzugsweise aus Nachrichten über den Handel
Athens im vierten und dritten Jahrhundert v. Chr. gegründet, aber, schreibt
er, da sich die Zustände in dieser Hinsicht bis zu der hier in Betracht kommenden
Zeit nicht geändert hätten und für alle Mittelmeerländer dieselben gewesen
seien, so dürfe man ihn auch auf Italien anwenden. „Wenn im vierten Jahr¬
hundert das Getreide aus Pontus und Ägypten nicht ohne einen Zuschuß
vom Staat oder von reichen Händlern, die freiwillig oder gezwungen einen
Teil der Kosten trugen, nach dem so gut wie am Meere liegenden Athen, das
damals eine große und, reiche Stadt war, transportiert werden konnte, wie
sollte dann zwei Jahrhunderte später ägyptisches Getreide im Innern Italiens,
in den Gebirgsstcidten der Apenninen oder im zisalpinischen Gallien verkauft
werden können? Bei so weitem Transport wäre das Getreide so teuer ge¬
worden, daß es mit dem einheimischen schlechterdings nicht Hütte konkurrieren
können. Die Transportkosten und die Handelsinteressen schützten damals den
Getreidebau besser, als es heute die Schutzzölle vermögen; sie schützten ihn so
gut, daß man in Rom wie in Athen von Staats wegen für die Einfuhr
sorgen mußte." Zu der Furcht vor den periodischen Hungersnöten gesellte
sich das ständige Bedürfnis der Großstadt Rom, deren Bevölkerung bei dem
beschriebnen Zustande des freien Handels und des heimischen Ackerbaus von
diesen beiden schlechterdings nicht ernährt werden konnte. (Außer Rom gab
es keine Großstadt in Italien und konnte es keine geben; die Angaben über
große Einwohnerzahlen einiger Städte des Altertums, die nicht zu den all¬
bekannten wenigen Weltstädten gehörten, müssen, bemerkt Ferrero, als über¬
trieben angesehen werden.) Diese Sorge für die Verproviantierung Roms
hatte zur Folge, daß die Regierung solche Länder, die dafür in Betracht
kamen, durch die Diplomatie an sich fesseln oder, was noch einfacher war,
erobern mußte; so besonders Ägypten; von dort besorgte dann der Staat die
Einfuhr. Und die Eroberungen wiederum konnten mir etappenweise von einer
natürlichen Kornkammer zur andern fortschreiten, da die Heere mit den Er¬
zeugnissen des Landes, in dem sie gerade standen, ernährt werden mußten,
Verproviantierung von der Heimat aus unmöglich war.
Da man unmöglich zugeben kann, schließt der Verfasser seine Beweis¬
führung, „der italische Ackerbau sei vom Jahre 150 v. Chr. an durch die
Konkurrenz des ausländischen Getreides zugrunde gerichtet worden, so nehme
ich an, daß die Verteuerung des Lebensunterhalts die Ursache dieser Krisis
gewesen ist". Nach dem oben gesagten ist nicht etwa die Landwirtschaft zu¬
grunde gegangen, sondern es hat eben nur der alte Zustand aufgehört, wo
der Landmann außer dem Getreide für seinen und seiner Familie Bedarf noch
einen kleinen Überschuß für die Versorgung des nächsten Städtchens erlangte,
und wo das daraus gelöste Geld für die Befriedigung seiner bescheidnen Be¬
dürfnisse genügte. Indem die Ausbreitung feinerer Kulturen, die einen höhern
Gewinn abwarfen, den Körnerbau einschränkte, kann man Ferrero zugeben,
daß diese Umwälzung eine große Ähnlichkeit mit dem habe, was wir heute
erleben. Dagegen erscheint es verfehlt, wenn er gerade Italien und Nußland
als Beweise anführt; nur England gibt das klassische Beispiel für diesen Um¬
wandlungsprozeß ab, und Deutschland kann deswegen an zweiter Stelle ge¬
nannt werden, weil der Körnerbau durch die Industrialisierung und die ver¬
feinerte Lebenshaltung zwar bis jetzt noch nicht wesentlich eingeschränkt worden
ist, ihn aber die beiden genannten Ursachen zusammen mit der ausländischen
Konkurrenz, oder was dasselbe ist, der Vervollkommnung der Transporttechnik,
unrentabler und unzulänglicher gemacht haben. Ferrero schreibt: „So stammt
beispielsweise die wirtschaftliche Krisis, unter der Italien in den letzten zwanzig
Jahren gelitten hat. von der Steigerung der Ausgaben, als Folge der Ein¬
führung der anglo-französischen industriellen Zivilisation in die landwirtschaft¬
liche Gesellschaft." Dieser Satz hat nur dann einen Sinn, wenn mit der
landwirtschaftlichen Gesellschaft die italienischen Grundherren gemeint sind, die
bekanntlich als Politiker und Pflastertreter in der Stadt leben und infolge
gesteigerter Bedürfnisse aus ihren Pächtern einen höhern Pachtzins heraus¬
zuschlagen suchen; denn daß diese armen Pächter selbst durch die Steigerung
ihrer eignen Luxusbedürfnisse zu einer Änderung der Anbauweise gezwungen
worden wären, davon kann um so weniger die Rede sein, da sie sich ja schon
vor der Krisis hauptsächlich auf Wein, Öl und Südfrüchte verlegt haben. Die
schlimmste Steigerung der Ausgaben bestand übrigens nicht in der vom Mehr¬
bedarf an Luxusartikeln herrührenden, sondern in der von der Politik er-
zwungnen, der Ausgaben für Militär und Marine. „Ist nicht in Nußland
das gleiche nach 1863 eingetreten?" Auch hier ist nicht die Zunahme an
Komfort und Luxus schuld — im Gegenteil verursacht deren Fehlen zum Teil
die Not —, sondern die auswärtige Politik in der hier oft dargelegten Weise.
Auch hat gar keine Umwälzung der Landwirtschaft, keine Einschränkung des
dem Körnerbau gewidmeten Areals stattgefunden; vielmehr rührt das Elend
des zum größten Teil aus Bauern bestehenden russischen Volkes gerade daher,
daß diese heilsame Umwälzung aus bekannten Ursachen nicht in Fluß kommen
kann. An einer andern Stelle schreibt Ferrero: „Aber wenn die moderne
Zivilisation von ähnlichen Widersprüchen gequält und zerrissen wird, so lief
das antike Italien Gefahr, daran zugrunde zu gehen." Der darauf folgende
Versuch, den Unterschied zu erklären, ist im ganzen gelungen, doch tritt der
Hauptunterschied nicht klar genug hervor. Er besteht darin, daß das antike
Kapital in viel zu großem Umfange auf Wucher, mit einem viel zu kleinen
Teil auf Produktion verwandt wurde, und daß die antike Anschauung, Lebens¬
weise und Gesellschaftsordnung den Weg zur Vervollkommnung der Technik,
also zur Steigerung der Produktivität der Arbeit versperrten.
Mommsens berühmte Charakteristiken der großen Männer Roms im zweiten
und ersten Jahrhundert v. Chr. haben ihrerzeit gewaltiges Aufsehen erregt, aber
wohl niemals die allgemeine und ungelenke Zustimmung der übrigen Historiker
gefunden; diese sind bei dem Urteil geblieben, das eine unbefangne Lektüre der
Quellen schon vor Mommsen ziemlich festgestellt hatte, und auch Ferrero schließt
sich dieser oommrmis oximo an. Aber wenn seine Darstellung in dieser Be¬
ziehung wenig absolut neues bringt, so ist sie doch so schön, daß einzelne seiner
Charakterbilder in die deutschen Lesebücher unsrer Mittelschulen aufgenommen
zu werden verdienten. Wer Cicero als Menschen bei der Lektüre seiner Briefe
liebgewonnen hat, freut sich der pietätvollen Sorgfalt, mit der dieser be¬
deutende Mann, den Mommsen so grausam abgeschlachtet hatte, hier behandelt
wird, wie seine Verdienste anerkannt, seine Entwicklungsphasen verfolgt, die
Stadien seiner literarischen Produktion mit den politischen Ereignissen in
Zusammenhang gebracht werden. Sulla, den Mommsen so hoch gestellt hat,
erscheint als ein kalter, grausamer Despot, und seine Reform als ein Werk
von geringem Wert und kurzer Dauer. Sehr hoch wird Lucullus gewertet,
seine Leistung an sich und in ihren Wirkungen der Napoleons verglichen;
Cäsar und Pompejus, seine Schüler, Hütten geerntet, was er gesät. Cäsars
alles überragende Größe wird im ganzen natürlich nach Gebühr gewürdigt,
sein Charakter, seine Leistungen und Erfolge — und die sehr oft übersehenen
Mißerfolge aber werden vielfach anders dargestellt, als es gewöhnlich ge¬
schieht. Mommsen hatte geschrieben: „Er war zwar ein großer Redner, Schrift«
steiler und Feldherr, aber jedes davon ist er nur geworden, weil er ein
vollendeter Staatsmann war." Unser Italiener dagegen: „Er war kein Staats¬
mann, weil dies in einer Demokratie unmöglich war, wo usw." Über die
Art und Weise, wie sich Cäsar — wider Willen — in den langwierigen
gallischen Krieg verwickelt habe, wird eine ganz neue Hypothese aufgestellt,
dieser Krieg selbst aber und die ihm als Wirkung folgende Romanisicrung
Galliens als der Anfang der „europäischen Zivilisation" (soll heißen: der
Zivilisierung der damaligen europäischen Barbaren) gepriesen; man dürfe sagen,
„daß sich in den leidvollen Tagen der Belagerung Alesias das Geschick der
europäischen Zivilisation entschieden hat", wo wir wiederum lieber sagen
würden: das Schicksal Europas. — Das Rätsel des Untergangs der an¬
tiken Welt ist ja schon von Otto secat einigermaßen aufgehellt worden, von
Ferreros nächsten Bänden dürfen wir weitere Aufhellungen erwarten. . j
?it Absicht sage ich so und nicht: die neue Baukunst; denn die
ist noch nicht recht da. Aber sie will kommen, sie hat Vorläufer
mit guter Botschaft und glaubwürdigen Zeugnissen gesandt, sie
hat Propheten und Wahrsager erweckt, und im Volke der Laien
regt sich langsam aber unverkennbar erstarkend eine Zuversicht
zum neuen Leben in der Baukunst, eine neue Baugesinnung.
Es könnte einem Angst werden um die Lebenskraft dieser Gesinnung, wenn
man ihren stark theoretischen, bewußt geweckten Ursprung bedenkt. Aber es waren
wohl auch in frühern Zeiten des Stilübergangs immer erst Einzelne, die vom
Hauche des neuen Geistes berührt und fähig wurden zur Forderung oder gleich
zur Schöpfung neuer Formen für diesen Geist. Die Bewußtheit unsers heutigen
Lebens, das auf Selbstanalyse bedacht ist wie keines vor ihm, hat auch die
bewußte Theorie vor die Praxis der neuen Formensprache gesetzt, der unsre
Architektur zustrebt. Wir wollen die Frage offen lassen, ob die gesteigerte Öffent¬
lichkeit in solchen Kultur- und Kunstwandlungen mehr geschadet oder genutzt
hat. Denkt man an den großartigsten Versuch, eine neue Baugesinnung in der
breitesten Öffentlichkeit zu wecken, an die Dresdner Kunstgewerbeausstellung des
Jahres 1906 zurück, so ist man geneigt, den Nutzen der konzentrierter Öffent¬
lichkeit, der eine solche Ausstellung ausgesetzt ist, höher anzuschlagen als den
Schaden, den sie allenfalls durch Festlegung der Phantasie stiften kann. Nun
ist gar noch ein Sammelwerk über die Ausstellung erschienen (München, Vruck-
mann, 15 Mark gebunden), das die dort empfangner Eindrücke zu vertiefen
lind praktisch nutzbar zu machen bestimmt ist. Nach den einleitenden Aufsätzen
von Schumacher, Gurlitt, Muthesius, Naumann u. a. folgen an 460 Abbil¬
dungen, die eine Auswahl der besten Räume und Einzelstücke zeigen. Die
Formen werden klar, aber die Farben? Wie schwer sind sie aus den ein¬
farbigen Rasterdrucken ohne die geringsten Angaben zu rekonstruieren? Ich
glaube doch, daß solche Sammelwerke den Sprung ins Farbige werden wagen
müssen, wenn sie wirklich nutzen wollen. Wie oft ist nur die Farbe das einigende
Element, das die Formen erst verständlich macht. Ein besondrer Vorwurf ist
demi vorzüglich ausgestatteten Werke auf Grund dieses Mangels nicht zu machen,
solange es ihn mit fast all unsern illustrierten Zeitschriften, soweit sie Kunst¬
gewerbliches zeigen, teilt.
Kürzlich las ich in einem Berliner Blatte eine Anzeige ungefähr folgenden
Inhalts: ein Junggeselle bot seine Wohnungseinrichtung, bestehend aus drei
Zimmern, zum Kaufe an. Einer der ersten modernen Künstler hatte sie ihm
vor kurzem beschafft, aber nun war der Besitzer, ein Beamter, versetzt worden,
und da die Einrichtung für die bisherigen Mieträume zugeschnitten war, wollte
er die Harmonie nicht ohne Not zerstören.
Die Annonce scheint mir bezeichnend für eine ganz bestimmte Stellung des
Publikums oder doch eines gewissen Bruchteils vom Publikum zum neuen
Kunstgewerbe, zur modernen Wohnungsfrage überhaupt.
Auf der einen Seite haben wir die Produzenten, die künstlerischen Ver¬
treter des neuen Stils, oder besser der neuen, nicht mehr „stilvollen", sondern
möglichst zweckentsprechenden Gebrauchskunst. Auf der andern Seite hat sich
ein ziemlich ansehnliches Häuflein von Leuten zusammengefunden, die das plato¬
nische Freundschaftsverhältnis zu den hübschen Räumen und Dingen auf den
Ausstellungen satt haben und sich rechtschaffen auf die neue Art einrichten
wollen. Sie wollen womöglich nicht nur einzelne Möbel, sie wollen ganze
Räume ohne störendes Zubehör. Oho, sagt da eine sehr kräftige Stimme —
und wir? Und in stattlicher Reihe marschieren die Hausbesitzer auf und stellen
sich zwischen Produzenten und Konsumenten. Unsre Mietpaläste haben die
schönsten Räume von der Welt, sagen sie. Was soll nur das ewige Gerede
von der „Raumkunst"? Wir können euch die eine Etage oder gar nur die
halbe, die ihr uns aus den Zinshäusern abnehmen wollt, doch nicht eigens in
lauter Raumkunst verwandeln? Wände, Türen und Fenster stehn da, wie sie
stehn. Zu verrücken und umzugestalten ist hier nichts, höchstens tapezieren
lassen können wir. Da seufzt denn das Publikum, kauft sich die einzelnen
Möbelstücke je nach Geschmack zusammen und „gestaltet" mit ihnen, so gut es
eben gehn will, das städtische Nomadenheim. Wer weiß denn auch, wie lange
man darin wird Hausen können! Vereinzelte aber holen sich trotz alledem einen
Raumkünstler heran, damit er ihnen eine Einheit in der Wohnung schaffe. Das
sind dann jene, die, gleich dem oben zitierten Herrn, große Mühe aufwenden
müssen, wenn sie ans irgendeinem zwingenden Grunde ihre Wohnung wieder
loswerden wollen.
Dieser Grund, der für einen großen Teil unsrer Mitbürger besteht, für
die meisten höhern Beamten und Offiziere zum Beispiel, aber auch für zahl¬
reiche Angehörige der kaufmännischen, gewerblichen und Arbeiterkreise, dieser
Grund ist es auch, der die Bauentwicklung des Eigenhauses für die einzelne
Familie so sehr zurückhält. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen der Seßhaftig¬
keit sind nur für einen Teil der Bevölkerung gegeben. Sehen wir vom flachen
Lande ab, beschränken wir uns auf die Städte, und im besondern auf die größern
Städte als die natürlichen Ansatzpunkte für die neue Baugesinnung, so schätzen
wir noch niedrig, wenn wir das Verhältnis der Grundstücksbesitzer zu den Mietern
wie eins zu fünf annehmen. In manchen Vierteln dürfte das Verhältnis eins
zu zehn nichts seltnes sein.
Es ist aber wohl kein Zweifel, daß bei der subjektivistischen Richtung des
gesamten modernen Lebens die Sehnsucht nach Freiheit in den eignen vier
Wänden von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zunehmen wird. Wir Stadtmenschen sind
ja eigentlich noch gar keine richtigen Städter, wir sind einstweilen ganz über¬
wiegend Landflüchtige, vom reichen Tisch des freien Landes als überzählig
Verstoßne, und das uralte Bauernblut des Germanen wird sich auch nicht gar
so schnell an das steinerne Meer der Stadt gewöhnen, es wird immer wieder
hinaus verlangen ins freie Feld und in den rauschenden Wald. Und so wird
die modernste Form der Hörigkeit: die Wohnhörigkeit, ebenso überwunden werden
wie die frühern unfreien Lebensverhältnisse der Ahnen auch. Erscheint die Miet¬
kaserne wirklich schon als der Weisheit letzter Schluß? Wenn auch nicht
überall das Eigenhaus an ihre Stelle treten kann — das Einzelwohnhaus ist
kein unerreichbares Ideal, und ein besseres, scheint mir, als die kollektivistisch
bewirtschaftete Zinskaserne mit ihren Zentralen fürs Stiefelputzen, Kaffeekochen
und Kindererziehen.
Einstweilen freilich ist der rein kapitalistisch arbeitende Grundbesitz, nament¬
lich um unsre aufblühenden Großstädte herum, in schier unbezwinglicher Position.
Alles, was irgendwie als Bauland in Betracht kommt und Nutzen verspricht, hat
die Spekulation entweder unmittelbar in Beschlag genommen oder mittelbar
übermäßig im Wert gesteigert. Berlin kann sein besondres Lied davon singen.
Der Spekulationswert kann aber nur zum allerkleinsten Teile durch den Ertrag
von Einzelwohnhäusern gedeckt werden, zumeist muß die Mietkaserne das Terrain
erschließen und die erstrebte Dividende abwerfen. Wenn (der leider früh ver¬
storbne) Paul Voigt das Anwachsen des Bodenwerts innerhalb der deutschen
Großstädte für die Jahre 1870 bis 1898 auf siebeneinhalb Milliarden Mark
Zuwachswerte berechnet, so schätzen wir heute mit zehn Milliarden kaum zu
hoch, und die Wertsteigcrung des Bodens rund um die Stadtgrenzen dürfte
jenem Betrage allermindestens gleichkommen. Somit scheinen die Aussichten für
die allgemeine Umgestaltung unsers Wohnungswesens auf Grund des Einzel¬
wohnhauses noch recht trübe. Und mit einiger Sehnsucht schauen wir nach
England hinüber, wo zwar neuerdings in einzelnen Städten das kontinentale
Etagenmiethaus an Boden gewinnt, die überwältigende Mehrheit der Be¬
völkerung aber nach wie vor am überlieferten Einzelwohnhause festhält. Allein
die Hoffnung auf den Ausbau des städtischen Vorortverkehrs läßt uns an
die Verwirklichung des Ideals glauben, daß nach und nach auch der nomadi¬
sierende so gut wie der ansässige Städter sein Haus für sich werde genießen
können.
Zu diesen Gedanken regt ein Werk über „Das Einzelwohnhaus der Neu¬
zeit" an, das E. Haenel und H. Tscharmann kürzlich herausgegeben haben (Leipzig,
I. I, Weber, 7 Mark 50 Pf. gebunden). Haenel leitet den Band kunst¬
historisch und ästhetisch, Tscharmann durch praktische Ratschläge ein. Dann
genießen wir an 218 Abbildungen und sechs farbigen Tafeln eine Reihe meist
recht vortrefflicher baulicher Beispiele in Umrissen und Grundrissen der einzelnen
Geschosse mit genauen Angaben des verwandten Materials, der Raumgestaltung
und der Baukosten. Diese bewegen sich innerhalb der Grenzen von etwa 12000
bis 135000 Mark, meist ohne den Bodenwert. Abgesehn von ein paar eng¬
lischen Vorbildern handelt es sich um lauter ausgeführte Bauten auf deutschem
Boden. Wir staunen, erstens: wieviel tüchtige Werke uns die paar letzten Jahre
beschert haben; zum andern: wie wohlfeil unsre besten Meister bauen können.
Schon um diese noch selten bekannte Tatsache weit zu verbreiten, muß mau
dem Werke den besten Erfolg wünschen. Aber auch sonst verdient es eine
unumwundne Empfehlung. Wir werden mit Hilfe eines solchen Buches voll
baulicher Tatsachen der Wohnungsfrage viel entschiedner begegnen lernen. Viel¬
leicht werden wir dadurch erst für eine Beschäftigung mit dieser ernstesten unsrer
sozialen Fragen gewonnen, wenn wir die Möglichkeit, uns ein Einzelhaus zu
bauen oder zu mieten, nicht mehr fern in den Wolken, sondern standfest auf
der Erde sehn.
Ebensowenig wie sich Haenel und Tscharmann an die Fachleute wenden,
tut das Viktor Zobel in seinen praktischen Ratschlägen zur „Bürgerlichen Haus¬
baukunst" (München, Callwey, 1 Mark 20 Pf.). Er bespricht gleichsam mit dem
Leser das, was dem Planen eines Hauses vorausgehn muß, er spricht wie ein
guter und sachkundiger Freund das Haus in allen seinen Teilen und Zusammen¬
hängen durch: wozu Türen und Fenster dienen, wie Treppen und Vorplatze,
Speicherräume und Keller anzulegen sind, nach welchen Grundsätzen man den
Hausrat wählen und nicht wählen soll — alles sehr vernünftig und ästhetisch
zuverlässig, kurz und bündig dabei und ohne bevormundende Schulmeisterei.
„Vademekum" nannte man solche Taschenbücher früher. In derselben sachlichen
Tonart referiert Zobel über „Gärten und Gartengestaltung" (ebenda, 1 Mark
20 Pf.), und weil, wer sich ein Haus baut, auch einen Garten als grünes Kleid
um ihn herumlegen wird, so kommt allerdings auch auf den Zuschnitt dieses
Gewandes viel an. Wir haben an Gartenkultur außerordentlich viel verlernt —
wers nicht glaubt, der vergleiche Schultze-Naumburgs drastische Beispiele und
Gegenbeispiele (Kulturarbeiten, Bd. 2) und halte danach Umschau in der nächsten
Nachbarschaft. Das Empfinden für den Garten als Ausdruck, als eine Er¬
weiterung des Hauses in die Natur hinaus wird bei den wenigsten neuen An¬
lagen bestimmend hervortreten. Die neue Baugesinnung aber will von den
Brezelwcgen, den künstlichen Ruinen, Grotten und romantischen Brücken, von
der ganzen „malerischen" Behandlung unsrer Landschaftsgärtnerei auf einem
Raume, der oft nur für ein paar Rosenhecke ausreicht, nicht viel wissen, sie
verlangt wieder einen architektonischen Rhythmus und klare Verhältnisse auch
hier, und darum setzt sie den Architekten in sein altes künstlerisches Herrenrecht
auch über den Garten ein. Er wird freilich nur im Einvernehmen mit einem
tüchtigen Gärtner etwas Ganzes zustande bringen. Gute, schlichte Regeln und
Beispiele für ein solches friedliches Zusammenarbeiten gibt der Kölner Garten¬
direktor Fritz Encke in seinem neuen Werke „Der Hausgarten" (Jena, Diederichs),
während Willy Lange und Otto Stahr die „Gartengestaltung der Neuzeit"
sehr einläßlich mit zahlreichen, zum Teil farbigen Abbildungen und genauen
Pflanzentabellen vom gärtnerischen Standpunkt aus behandeln (Leipzig, I. I,
Weber). Für den Laien ist die Fülle der Möglichkeiten, die die Verfasser des
stattlichen Bandes auf 400 Seiten (mit 277 Abildungen) ausbreiten, etwas ver¬
wirrend. Auch neigt Lange entschieden mehr zu den überwundnen Geschmacks¬
formen der Landschaftsgärtnerei, zur malerischen Selbstherrlichkeit der Vegetation,
als sich mit unsern heutigen Bedürfnissen nach strengerer Stilisierung verein¬
baren läßt.
Der sogenannte „Naturgarten", dem Lange den größten Raum vor andern
Gestaltungen widmet, ist doch eigentlich ein Widerspruch in sich: wenn die
freie Natur zum Garten gebändigt wird, so ist sie eben nicht mehr „freie"
Natur, ist sie künstlerisches Ausdrucksmittel für den Menschen. Lange ist
hier ästhetisch recht unsicher, was um so peinlicher hervortritt, als er fort¬
während „Gesetze" aus seinen Grundsätzen abstrahiert. Über Grundsätze läßt
sich streiten, Gesetze müssen feststehn, sonst sind sie lächerlich. „Bei Fels¬
gestaltungen im Garten werden wir uns mit der Erreichung von Naturwahr¬
heit im Garten begnügen müssen." Was heißt das, wo von Gestaltung die
Rede ist?
„Das Alte hat für uns sinnige Bedeutung, und wo es nicht vorhanden
ist, kann es bisweilen, z. B. mittels alter Stämme, Mauerreste, mit künstlerischem
Takt geschaffen werden, ohne daß man in hohle Kulissenreißerei verfällt." Ich
fürchte doch, daß man drein verfallen wird, wenn man etwa durch alte Birken-
stümpfe, „Reste hier scheinbar gefällter Bäume, die Einheitlichkeit zwischen Garten¬
natur und Menschenwerk für das künstlerische Gefühl herstellen" will. Rat¬
schläge wie der, daß die Kleinbauten des Gartens in demselben künstlerischen
„Stil" gehalten seien wie das Haus, sind ebenso veraltet wie die Warnung vor
kräftigem Farbenstrich, die dann ein Stück weiter unten wieder aufgehoben wird.
Also Vorsicht überall da, wo Lange den Garten sozusagen als Gesamtkunstwerk
behandelt. Wo er als Gärtner, als Botaniker, als Fachmann im engern Sinne
spricht, da ist das mitgeteilte Material lehrreich, die Erfahrungen sind wert¬
voll, und das Gefühl für das Sonderleben der Pflanzen ist so lebendig, daß
man in jedem Falle von dem Buche Nutzen ziehn wird. Es ist sehr bedauerlich,
daß diese reichen gärtnerischen Möglichkeiten auf den Fachausstellungen nicht mehr
hervortreten: die Dresdner Internationale Gartenbau-Ausstellung des vorigen
Jahres zeigte noch so gut wie gar keinen Fortschritt über die übliche Renom-
misterei mit kostbaren Treibhausgewächsen hinaus. Rhododendren, Azaleen oder
Orchideen, mögen sie noch so massenhaft aufgestellt werden, helfen noch nicht
einmal die Blumenzucht anregen, geschweige denn den Garten künstlerisch ge¬
stalten. Die mit großem Aufwand angekündigte und mit allerhand inter¬
nationalen Gartenideen gewürzte Ausstellung schien sich recht absichtlich außer¬
halb der neuen Strömungen gestellt zu haben, die unser Kunstleben, und nicht
zuletzt von Dresden aus, so segensreich befruchten.
»le Stadt, in der ich wohne, wird von vielen Menschen für lang¬
weilig und häßlich gehalten. Besonders finden sich die Menschen, die
von anderswo her, von Berlin, von Frankfurt, aus Hannover kommen,
oft beklagenswert, hier eine Zeit lang ihr Leben vertrauern zu müsse»,
und sie jammern über alles, was ihnen hier wunderlich erscheint. Ich
gebe zu, daß hier manches anders ist als in Berlin, in Frankfurt,
und wie die andern Großstädte heißen mögen, aber wenn ich durch die alten Straßen
Monas wandle, dann freue ich mich, hierher gezogen zu sein. Die Stadt gefällt
mir gut, und im ganzen und großen möchte ich sie nicht anders haben.
Lang streckt sie sich an der Elbe dahin, steigt am Hafen terrassenförmig auf
und zeigt in dieser Gegend ein Gewirr von krausen alten Gassen. Das ist das alte
Altona, das hier noch existiert, und dem es gleichgiltig ist, ob sich hier und da ein
häßlicher Neubau zwischen die alten Giebel geklemmt hat; denn in dieser Gegend
werden die Häuser unbeschreiblich klein und die Straßen schief bleiben. Hier ist es,
wo vor jedem Hause eine mehr oder weniger große Katze sitzt, wo es ganz kleine
Läden gibt, die abends nur durch eine Petroleumlampe erhellt werden, wo die
Menschen an Sommerabenden auf ihrem Beischlag sitzen und nicht an das zwanzigste
Jahrhundert mit seinen neuen Errungenschaften zu denken scheinen, wo es nach Teer,
nach Seetang und nach Fischen riecht, wo sich die Kinder noch Lakritzenwasser
machen und es als echten Malaga anbieten.
In dieses alte Altona kommen die Fremden nicht und auch kaum die Ein¬
heimischen. Die meisten wenden sich der Elbchaussee zu, auf der es an schönen Tagen
von Menschen und von Automobilen wimmelt, wo es bunte Kleider und neue Hüte zu
bewundern gibt, aber wo es nichts gibt, worüber man nachdenken könnte. Höchstens
darüber, daß so viele Menschen trotz der schlechten Zeiten nichts zu tun haben.
Da gehe ich lieber an den alten Fachwerkhäusern vorüber und denke an Steenbock.
Steenbock war ein Schwedengeneral, der gegen Dänemark wütete, eines Wintertages
Altona besetzte und es an allen vier Ecke» anzünden ließ zur Strafe dafür, daß
die Dänen die Stadt Stade eingeäschert hatten. Dieses geschah im Anfang
des achtzehnten Jahrhunderts. Bis dahin hatte Altona alte hübsche Patrizierhäuser
wie andre Hafenstädte, hatte hohe Giebel, wie sie in Hamburg noch zum Teil heute
bewundert werden, und in den Häusern gab es gediegnen, kostbaren Hausrat. Aber
Steenbock ließ in diese schönen Häuser Teer und Pech und Stroh tragen und dann
die ganze Geschichte anstecken. Man kann sich denken, daß die Altonaer alles taten,
dieses entsetzliche Unheil von ihrer Stadt abzuwenden, aber alle Bitten des Bürger¬
meisters und des Rates waren umsonst. Der Schwede, der vor der Stadt sein
Lager aufgeschlagen hatte, wollte die Stadt um einmal brennen sehen. Es nützte
auch nichts, daß ein Altonaer Pastor zu ihm ging und ihn fußfällig bat, sein ent¬
setzliches Vorhaben aufzugeben. Der General lachte über den Geistlichen, über
seine große Perücke, die sich bei dem Fußfall verschoben hatte, und erklärte, nur
für so und soviel tausend Dukaten wolle er sich den Fall überlegen. Die Altonaer
waren aber so ausgeplündert, daß sie diese Forderung nicht befriedigen konnten.
Der Pastor stand also auf und ging zurück in die Stadt, von der schon brennende
Dächer die Arbeit der Soldaten zeigten.
Leb wohl! rief ihm der General nach. Da kehrte sich der Pastor um, hob die
Hand und sprach den kirchlichen Segen, den der Geistliche am Sarge eines Toten
spricht. Dann ging er heim. Die Stadt brannte zum großen Teil ab; frierend standen
die Einwohner auf den Straßen umher oder retteten sich in die Umgegend. Einige
Leute suchten zu stehlen, was sie kriegen konnten, andre verkrochen sich in irgend¬
eine Ecke und ließen alles über sich ergehn. Als es Nacht wurde, befahl Steenbock,
daß es nun mit dem Brennen genug sein sollte, und wer wollte, durste sich die
Feuerstätte betrachten, die ehemals sein behagliches Haus gewesen war. Allmählich
krochen die Bewohner auch wieder aus ihren Verstecken hervor, und die Hamburger,
in deren Mauern die Pest wütete, und andre Nachbarn schickten Hilfe. Doch dazu¬
mal ging alles mit Langsamkeit. Die dänische Regierung gab der armen Stadt
wohl allerhand Gerechtsame, damit die Häuser bald wieder aufgebaut werden
könnten; aber etliche Jahre vergingen doch, ehe sie sich darüber klar war, welcher
Art diese Gerechtsame sein sollten, und manche arme Familie ist verdorben und
gestorben, ehe sie wieder ein Dach über dem Kopfe hatte. Andre klebten sich rasch
irgendein Fachwerkhäuschen zusammen. Mit kleinen, schiefen Fenstern, mit steilen
Leitern, die Treppen vorstellen sollten, mit Dächern, die vom Sturm gleich krumm
gebogen wurden. Aber es waren Häuser, es war ein Unterschlupf, und von diesen
Häusern ist noch heute eine ganze Menge zu finden.
Auf diese Art ist Mona dazu gekommen, daß seine alten Straßen den Eindruck
der Dürftigkeit machen. Auch die Bevölkerung hat damals schwer gelitten. Sorgen
und Kummer, Not und Elend haben in sie ihre Zeichen gegraben, und es hat vieler
Jahre bedurft, in diese schiefen Gassen wieder den alten fröhlichen Gleichmut zu
bringen,, der eine Holsteneigenschaft ist.
Steenbock soll noch manchmal um Mitternacht durch diese alten Straßen fahren.
Bergauf, bergab, wie es gerade kommt, in einem Wagen, aus dem gelegentlich
Flammen schlagen, und mit einem Kutscher, der keinen Kopf hat. Ich habe ihn noch
nicht gesehen, was wohl daher kommt, weil ich noch nie um Mitternacht durch die
Meine oder die Große Papagoyen- oder durch die Dreierstraße gegangen bin. Aber
ich weiß von dem Schweden, daß er sehr bald nach dem Brande Monas starb.
Vielleicht hat ihm der Sterbesegen des Pastors etwas im Magen gelegen. Vielleicht
ist ihm die allgemeine Empörung über seine Tat auch nicht angenehm gewesen.
Übrigens haben damals die Leute die Stadt Altona gar nicht häßlich gefunden.
Andre Städte waren wahrscheinlich auch nicht hübscher und hatten auch ähnliches
durchgemacht. Die dänischen Könige hielten eigentlich viel von der Stadt und ge¬
währten ihr manche Freiheiten. Sie besuchten sie mit Vorliebe, ließen sich Fest¬
mahle von ihr geben, als Altona noch gar nicht recht auf Feste gestimmt war, und
zeigten sich zur Belohnung auf dem Balkon des Rathauses, um dem jubelnden Volk
einige Hände voll recht dünnen Silbergeldes auf die Köpfe zu werfen. Sie gründeten
das Gymnasium, ein Waisenhaus, sogar eine Anatomie, die aber leider, trotz des
Überflusses an Gehängten, nicht recht florieren wollte. Sie fuhren auch nach Hamburg,
ließen sich vom Rat bewirten, was in Hamburg immer sehr gut besorgt wird, und
liehen von den reichen Handelsherren Hundertwusende, die sie aber immer wieder
erstattet haben. ^ , / .
^ Und weil sie so oft kamen, auch immer gnädig und wohl aufgelegt waren, so zog
sich manche Familie des Schleswig-holsteinischen Adels nach Altona, kaufte oder baute
sich Hänser, die dann meist nicht in den schiefen Gassen, sondern an der Palmaille
oder draußen an der Elbe lagen, und wem es nicht vor dem Landleben graute, der
siedelte sich im Nachbnrdorfc Ottensen an, jenseits der kleinen Kirche, die von einem
dänischen König erbaut worden ist und deshalb noch heute Christianskirche heißt.
Nun kamen bessere Zeiten für Mona. Handel und Schiffahrt begannen sich
zu entwickeln, an der Hafenbrücke legten stattliche Schiffe an, mit Holland, Frank¬
reich und England wurde gehandelt, und in der Elbstraße am Hafen erhoben sich
nicht nur schöne Wohnhäuser, auch ein Speicher stieg neben dem andern empor. Es
kam die Zeit, wo es notwendig wurde, einen Mtonaischen Merkur erscheinen zu
lassen, der die städtischen Neuigkeiten berichten mußte und außerdem auch noch das,
was in der Welt passierte. Von Cagliostro, dem großen Zauberer, erzählte das
Blatt allerdings nichts, und doch war dieser große Mann eine Zeit lang in Altona,
und manche Leute sind ihm hierher nachgereist. So zum Beispiel der Landgraf von
Hessen, der eigentlich in der Stadt Schleswig wohnen sollte, wo er Statthalter war,
der aber immer von neuem zum Zauberer nach Altona reiste.
Cagliostro hatte bekanntlich ein Elixier erfunden, das ewig jung und womöglich
unsterblich machen sollte. Wie es mit ihm selbst gewesen ist, kann ich nicht genau
sagen; dazumal ist aber auf dem Friedhofe der kleinen Kirche zum Heiligen Geist
eine große Menge von vornehmen Leuten begraben worden, die vielleicht von ihm
das Elixier erstanden hatte. Ja, diese Kapelle zum Heiligen Geist! Ich gehe
manchmal über ihren Kirchhof, auf dem seit langem keine Toten begraben werden
dürfen. Er liegt jetzt auch mitten in der Stadt, und die elektrische Bahn fährt hart
an ihm vorüber. Wo einstmals die Gräber waren, sind jetzt Ruhebänke angebracht,
die Kinder spielen auf dem Rasen, und die Alten sitzen auf de» Bänken und ruhen
sich aus vom Leben. Große Bäume geben im Sommer Schatten, und hier und
dort redet noch ein Grabstein von den Zeiten, wo die vornehmsten Einwohner hier
bestattet wurden, als noch ein Stift für die Alten und Armen seine bescheidnen
Gebäude hart bis an deu Kirchhof schob, als das Waisenhaus und andre Bauten
gerade diesen Gottesacker zu einem so abgeschiedneu Plätzchen machten, wie er jetzt
frei vor aller Augen daliegt. Die Kapelle an seinem Ende ist derselbe schmucklose
Backsteinbau geblieben, nur daß sich die jungen Kandidaten nicht mehr darin im
Predigen üben, wie damals, wo den Insassen des Reventlowstiftcs hier das Wort
Gottes gebracht wurde, und jedes arme Weiblein seinen Kirchenschlaf halten durfte.
stimmungsvoll und malerisch ist das Ganze dennoch geblieben, und der große Bis-
marck, den die Neuzeit mitten ans deu Kirchhof, unter die alte» Bäume gesetzt hat,
sieht mit einem leichten Lächeln auf die angrenzende Königstraße und auf ihre all¬
mählich modern werdenden Häuser.
Ans diesem alten Kirchhof soll Cagliostro einigen Mitternachtszanber veranstaltet
haben. Was es gewesen ist, kann niemand mehr sagen, aber der Landgraf von
Hessen hat viele Jahre seines Lebens fest an deu Schwindler geglaubt, der natürlich
auch Gold zu machen vorgab. Bon diesem edeln Metall hätte Altona immerhin
damals wie jetzt etwas brauchen können; die Stadt hat aber nichts davon abbe¬
kommen. Und sie hatte doch große Ausgaben. Als sich Friedrich der Fünfte seine
zweite Gemahlin. Marie Juliane von Braunschweig-Wolfenbüttel, per Prokuration
antrauen ließ, kam sie über Altona und wurde hier, an der Grenze des dänischen
Reiches, von deu höchsten Behörden empfangen. Es wurden einige Feste gegeben,
die Königin warf die schon erwähnten dünnen Silberstücke unter das jauchzende Volk
und erlebte auch sonst einige Vergnügungen. Es war in diesen Divertissements
gerade nicht viel Abwechslung. Aus dem Hamburger Berg, der jetzt Se. Pauli heißt,
waren einige Dromedare und Affen zu sehen, oder auf dem Altonaer Münzmarkt
produzierte sich ein Zwerg oder ein Luftballon. Doch in Braunschweig-Wolfenbüttel
war man vielleicht nicht sehr verwöhnt, und die Königin Juliane Marie soll sich
gut belustigt haben. Sie war eine blonde, etwas hagere Fürstin, und niemand
sprach viel von ihr. Bald erschien noch ein andres Fürstenkind, das als Königin
von Dänemark von Mona begrüßt wurde. Ihr Name war Karoline Mathilde,
Prinzessin von Großbritannien und Hannover, und sie war die Gemahlin des blut¬
jungen Christian des Siebenten, der seinem Vater Friedrich folgte. Er zählte siebzehn,
Karoline fünfzehn Jahre. Diese junge Königin hat als Neuvermählte Wohl acht
Tage oder noch länger in Mona gewohnt, hat sich belustigen lassen, wie es sich
für sie geziemte, und ihre Anwesenheit hat großen Eindruck gemacht. Eine englische
Schaluppe brachte sie an die Landungsbrücke in Mona, ein großer Hofstaat nahm
sie in Empfang, Kinder sangen, Glocken läuteten, und der oberste Geistliche von
Holstein, Adam Struensee, pries das dänische Reich glücklich, daß ein solcher Edelstein
der Krone einverleibt würde.
Die kleine Königin war auch sehr reizend. Nicht gerade hübsch, aber mit herr¬
lichem Blondhaar und mit leuchtenden blauen Augen, die jedermann freundlich an¬
blickten, auch den gestrengen Generalsuperintendenten, der nicht umhin konnte, sie
in aller Ehrfurcht wieder anzulächeln. Auf die Ankunft Karoline Mathildens sind
in Mona nicht nur verschiedne Carmina, sondern es ist auch eine Münze geprägt
worden. In dem großen Gebäude auf dem Münzmarkt, wo allerhand dänisches
Geld geprägt wurde, und wozu einige reiche Hamburger Handelsherren das Gold
und das Silber liefern mußten, ist auch die junge Königin in Silber verewigt worden.
Sie wird sich darüber gefreut haben, ebenso wie die Altonaer stolz auf den Gast
waren, dem es so gut bei ihnen zu gefallen schien. Die Königin ist dann noch
einigemal nach Mona gekommen, und als der König auf eine sogenannte große Tour
ging, um sich an den fremden Höfen vorzustellen, da nahm er den Physikus der
Stadt als seinen Leibarzt mit. Es war der Sohn des Generalsuperintendenten
Struensee und ein beliebter Mann, besonders bei den Damen. Heikle er sie doch
von manchen unangenehmen Beklemmungen, an denen die vornehme Weiblichkeit
damals nicht ungern litt, und er hatte dabei so gute Manieren, daß ihn die Ersten
der Stadt gern an ihrem Tische sahen. Er war ein kluger Mann. Es gibt einige
Aufsätze von ihm, die ein modern denkender Arzt Heuer geschrieben haben könnte.
Hätte ihn nicht die Eitelkett und das Verlangen nach Hofluft gepackt, er hätte noch
lange ein reiches Leben führen können. Aber er konnte seinen Ehrgeiz nicht zähmen,
und vielleicht ärgerten ihn die kleinbürgerlichen Verhältnisse der Stadt: so ging er
denn an den dänischen Hof, wurde Staatsminister und Graf und wurde als Hoch¬
verräter in Kopenhagen enthauptet und gevierteilt. Und die Königin Karoline
Mathilde wurde bald danach von einer englischen Fregatte aus Dänemark geholt
und nach Stade gebracht, von wo sie sich nach dem Schloß Celle begeben mußte;
hier ist sie, vierundzwanzigjahrig, gestorben.
Nach Struensees Sturz wurden auf allen Kanzeln des dänischen Reiches Dank¬
predigten gehalten, daß ein solcher Hochverräter seine Bestrafung erlitten hätte; auch
sein Vater mußte als Generalsuperintendent eine solche Predigt halten, und er soll
es sehr gut gemacht haben.
In Mona wurde damals viel geflüstert. Von dieser Stadt bis nach Kopen¬
hagen liefen viele Fäden, und jedermann dachte an Juliane Marie, die sich jetzt
der Regierung bemächtigt und mit einigen andern den Staatsstreich gemacht hatte.
Ihr Stiefsohn, Christian der Siebente, wurde bald für geisteskrank erklärt, und er
war es wohl schon zu der Zeit gewesen, als er Struensee zu seinem Günstling
machte. Nach ihm kam Friedrich der Sechste zur Regierung. Das war Karoline
Mathildens Sohn, der schon als Kronprinz die Verwaltung des Reiches übernahm.
Er muß siebzehnjährig gewesen sein, als er seiner Stiefgroßmutter die Herrschaft
entwand und Ordnung in manche verwickelte Angelegenheit brachte. Zum Beispiel
entließ er „in Gnaden" die Herrschaften, die sich damals um Struensees Ent¬
hauptung und Vierteilung ein Verdienst erworben hatten und mit Titeln und Ein¬
nahmen bedacht worden waren. Zu diesen Herren gehörte der Herr von Köller-
Banner, der, von Haus aus ein pommerscher Edelmann, unter Christian dem Siebenten
ein dänischer General geworden war. Er hatte Struensee gefangen genommen und
sich sehr energisch für seine Hinrichtung verwandt. Nun kam der Abschied in
höflicher Form, und der General zog nach Altona, wo er den Rest seiner Tage
verlebte. In dieselbe Stadt, wo noch alles von Struensee redete, ja sogar in die¬
selbe Straße, in der der Stadtphysikus gewohnt hatte. Hier hat Herr von Köller
noch viele Jahre in Abgeschiedenheit gelebt und hat sich endlich in einem Anfall
von geistiger Störung das Leben genommen. Er ist ebenfalls auf dem Heiligengeist¬
kirchhof beerdigt. Als die Leute noch Zeit zum Geschichtenerzähler hatten, be¬
richteten sie, daß der alte General manchmal um Mitternacht aus seinem Grabe
stiege und vor das Haus ginge, wo Struensee zuletzt gewohnt habe. Aber jetzt
ist dieses Haus abgebrochen, und von dem Herrn von Köller reden nicht einmal
mehr die ältesten Einwohner.
An der Landungsbrücke in Altona sind übrigens auch andre Leute angekommen,
die keinen Fürstenhut trugen, und die doch für die Menschheit mehr bedeuteten als
mancher Kronenträger.
Einmal war es Lavater, der sich aufgemacht hatte, um seine vielen Verehrer
und Verehrerinnen von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Er gehörte bekanntlich zu
den Begnadeten, die mit der halben Welt in Briefwechsel standen, und deren Worte
mit Andacht gelesen wurden. Es waren zumal die vornehmen Kreise, die sich rin
Mystizismus und ähnlichen Dingen mehr, als ihnen gesund war, beschäftigten, und
unter ihnen wieder die Frauen. Lavater hatte in Altona viel zu tun. Verschiedne
vornehme Damen luden ihn ein und wollten von ihm Dinge wissen, die er selbst
mit dem besten Willen nicht wissen konnte; darauf reiste er nach Wandsbeck, wo er
mehrere Tage am Bett einer Gräfin sitzen und mit ihr weinen mußte. Dann wartete
in Ahrensburg eine andre Gräfin auf ihn, die über die Schönheit ihrer Seele Auf¬
schluß haben wollte, und so saß er bei den vornehmen Damen herum und kam,
wenn ich nicht irre, bis nach Kopenhagen. Nach einigen Monaten reiste er wieder
von Altona ab, nach seiner Schweiz, und zwar in keiner guten Stimmung. Vielleicht
war diese sentimentale Reise doch nicht so ausgefallen, wie er gedacht hatte, oder
die vornehmen Damen hatten eine andre Unterhaltung gefunden, oder es war um
die Zeit, wo sich Goethe so höhnisch über Lavater aussprach und ganz vergaß, daß
dieser Mann auch sein Freund gewesen war.
Um diese Zeit ging Matthias Claudius auch öfters durch die Altonaer Straßen,
um hier in der Schleswig-Holsteinischen Bank seinen Unterhalt zu verdienen. Noch
heute wissen wir, daß Matthias Claudius ein Dichter von Gottes Gnaden war,
und noch heute singen wir „Der Mond ist ausgegangen", obgleich wir das ganze
Lied nicht mehr auswendig hersagen können. Aber daß der Wandsbecker Bote von
seiner Dichtkunst niemals satt geworden ist, das wissen wohl nur die wenigsten.
Ich habe nie gehört, daß er sehr gut rechnen konnte, aber die dänische Regierung
hat ihm ohne Besinnung eine Anstellung an ihrer Bank gegeben, sobald Claudius
sie darum bat. So ist er denn aus drückender Not befreit worden und konnte
mit seinem langen gestochenen Haar, seiner Zipfelmütze und seinen dicken wollnen
Strümpfen sein kleines Amt in Altona verwalten, das ihn nicht besonders anstrengte.
Er war nicht der einzige Dichter in Altona. Da war Monsieur Gerstenberg, der
Dichter des Ugolino, der die königliche Lotterie verwaltete und allmonatlich ^vom
Balkon des Rathauses die Nummern ausrief. Dann gabs immer eine große Auf¬
regung, und einige Leute schlugen sich halbtot dabei, was ihnen zu keinem Gewinn
verhalf, aber die ganze Sache doch lebendig machte. Obgleich es der Stadt sonst
auch nicht an Abwechjluug mangelte. Vor allein nicht, als die Wellen der Franzö¬
sischen Revolution wohl gegen vierzigtausend Emigranten nach Hnmbnrg und Altona
warfen. Hamburg erhielt natürlich den Löwenanteil; aber in Monas Fachwerk¬
häusern und kleinen Straßen wohnten Wohl mehr als viertausend vornehme Fran¬
zosen. Noch heute sind ihre Spuren nicht ganz verwischt; noch heute findet man
ihre Namen in Hausurkunden und auf Grnbstellen, und mehr als ein Romanstoff
kann hier noch gefunden werden.
Zuerst war man in Hamburg und auch in Altona sehr froh über die Revolution.
Es ging der Hansestadt gut bei ihrem eignen Regiment, und die dänische Re¬
gierung sorgte väterlich für ihre Stadt Altona; aber es war Mode, den Tyrannen
alles mögliche Schlechte zu wünschen. Der große Barde Klopstock, der seine dänische
Pension in Hamburg verzehrte, und dem sein dänischer Titel als Legativnsrat so
gut gefiel, daß er nicht anders genannt sein wollte, dichtete eine Ode auf die Zer¬
störung der Pariser Bastille, und in Harvestehude wurde ein großes Freiheitsfest
gefeiert, wo man schwören mußte, wenigstens einem Tyrannen im Laufe seines
Lebens den Garaus zu machen.
Später, als die Emigranten einzogen und die Guillotine in Paris arbeitete,
kamen die Hamburger und auch die Altonaer von ihrem Enthusiasmus etwas zurück,
und auch Klopstock ließ sich nicht allzugern an jene Ode erinnern. Auch nicht,
wenn er an die Elbe ging, um bei seinen Freunden Sievekings, die vor den Toren
Altonas wohnten, aus seinem Messias vorzutragen. Klopstock wurde zu Lebzeiten
wie ein Heiliger angesehen. Er hatte es auch wohl verdient; obgleich es Neider
gab, die ihn eingebildet nannten. Jedenfalls hat er ein schönes Alter gehabt und
ist, als es zum Sterben ging, mit fürstlichen Ehren auf jenem Kirchhofe zu Ottensen
begraben worden, der jetzt ebenfalls mitten in Altona liegt, und wo die alte
Klopstocklinde noch heute ihre Zweige über den Grabstein mit der stolzen Inschrift
reckt. Auf diesem selben Kirchhof hat viele Jahre der Herzog von Braunschweig
geruht, der die Schlacht bei Jena verloren hatte, und der nach Altona gegangen
war, um in Frieden an seinen schweren Verwundungen zu sterben. Jetzt ist seine
Leiche übergeführt in die Fürstengruft zu Braunschweig; auch das Massengrab zu
Ottensen, in das man die Hunderte von Hamburgern gelegt hatte, die von dem
französischen General Davoust in der Christnncht aus der Stadt und in den Tod
getrieben worden waren, ist nicht mehr da. Diese Gruft lag ganz nahe bei dem
Grabe Klopstocks, der die französische Freiheit so schön besungen hatte.
Wenn dieser alte Kirchhof reden könnte, würde er auch von Matthias Claudius
und von Johann Heinrich Voß erzählen, die hier im Mondschein wandelten und
sich ewige Freundschaft schwuren, zusammen mit den Stolbergs, die so gern von
ihrem Gut Tremsbüttel herkamen, um die Gastfreundschaft der Altonaer zu ge¬
nießen und sich an dem breiten Elbstrom und dem weiten Blick der großen Handels¬
herren zu freuen. Aber es vergeht alles. Auch die Freundschaft, selbst wenn sie
mit viel Tränen begossen worden ist: die Stolbergs und Voß haben sich später
niemals mehr vertragen, und Matthias Claudius hat sich aus allen Dichterkollegen
gerade so viel gemacht wie Klopstock, der ihnen ängstlich aus dem Wege ging.
Was ist es, das die Menschen getrennt hat? War es nur Neid oder Klatsch?
Die Chronik« meldet es nicht: es ist eben das alte Lied von der Unbeständigkeit
des Menschenherzens.
Ich bin noch lange nicht fertig mit Altona. Aus engen Gassen bin ich auf
die breiten Straßen gekommen, die an der Elbe entlang gehn, dorthin, wo die
reichen Leute ihre Landhäuser haben. Hier ists zu allen Jahreszeiten schön: im
Sturm, wenn die Elbe Weiße Köpfe trägt, oder wenn sich der sanfte nordische
Himmel über die Landschaft spannt. Doch ziehts mich wieder in die alten und in
die neuern Straßen, die schnurgerade von Osten nach Westen gehn, und in denen
der arme Fremde nur sieht, daß sie meist unbelebt sind. Weshalb müssen denn
auch immer soviele Menschen auf der Straße sein? Ist es nicht besser, in seinen
vier Pfählen zu bleiben hinterm wärmenden Ofen, die Postille auf dem Schoß? Im
übrigen belebt der eingeborne Altonaer die Straßen am liebsten von sechs bis acht
Uhr abends. Da drängen sich die Menschen ans den Bürgersteigen und vor den
Läden, und die Liebespärchen kosen in verschwiegnen Ecken.
Langsam wandle ich durch die Palmnille. Diese Straße ist eine der vor¬
nehmsten, und von den stattlichen Häusern an der Südseite hat man einen wunder¬
vollen Blick auf die Elbe. Der Name Palmnille ist steinalt und soll von der Zeit
herkommen, wo man noch ein Pallspiel mit einem Malt, einem Schläger spielte.
Eigentlich ist mir der Name einerlei. Ich freue mich der alten Bäume, die leider
nur noch zum Teil stehn und vielen jüngern Platz machen mußten, und ich freue
mich des wohlbeleibten, freundlichen Bronzemannes, der unter den alten Bäumen
ans einem hohen Postament steht und halb erstaunt, halb belustigt um sich zu blicke»
scheint. Es ist der Graf Konrad von Blücher, vormals Oberpräsident der Stadt
Altona, dem die dankbaren Bürger ein Denkmal errichtet, dem sie aber leider,
wegen Geldmangels, etwas zu kurze Beine gegeben haben. Er regierte Altona
in schmerer Zeit. Damals, da in Hamburg französische Willkür und Raubgier am
höchsten standen, als Napoleon beim Untergehn seines Sterns nach jedem Mittel
griff, ans den eroberten Ländern das Mark zu sangen. Damals war Altona als
dänische Stadt neutral; aber diese Neutralität war mit vielen Opfern und Kon¬
zessionen verknüpft, die man den mächtigen Nachbarn machen mußte. Graf Blücher
hat sie mit Klugheit und Festigkeit erledigt. Deshalb freue ich mich über das
Denkmal, so häßlich es ist, und wünsche der Stadt Altona ein Oberhaupt, das sich
diesen wackern Mann immer zum Vorbilde nehmen möge. Aber ich bin nicht allein
in die Palmnille gekommen, um an den Grafen Blücher zu denken, ein andrer ist
in spätern Jahren oft unter diesen Bäumen gewandelt, und die alte Geschichte der
Stadt hat ihn zu manchem herrlichen Gedicht begeistert. Ich denke an den hol¬
steinischen Baron, dessen „Adjntantenritte" und Balladen hier zum Teil entstanden
find, an Detlev Liliencron, auf den nicht allein wir Schleswig-Holsteiner stolz sind.
Noch ziert keine Tafel das Haus, wo er dichtete; sie wird aber ganz gewiß an
seinem hundertsten Geburtstage kommen, und es wird eine schöne Rede gehalten
werden, in der alle Dichter vorkommen werden, die in Altona gelebt und gedichtet
haben. Es sind ihrer eine stattliche Reihe, und wenn wir den Hamburger Hage¬
dorn, den großen Lessing, Heinrich Heine und andre dazu tun, die hier Anregung
empfingen und selbst verbreiteten, dann hoffe ich, daß niemand wird vergessen
werden.
Von der Hauptkirche läuten die Glocken, und ich gehe auf ihren alten Kirch¬
platz, wo auch ehemals begraben wurde, der jetzt aber schon lange ein Spielplatz
ist. Diese Hauptkirche war ehemals der Dreifaltigkeit geweiht, und ein Schüler
des großen sonum hat sie erbaut. Sie liegt sehr malerisch zwischen alten Straßen
und ist doch jetzt so freigelegt worden, daß man sie von der Königstraße bewundern
kann. In dieser Kirche hielten die Königinnen, von denen ich vorhin berichtet habe,
ihren ersten Kirchgang, mancher dänische König hat sich hier an Gottes Wort erbauen
lassen, und auf diesem Kirchplatz stand im Jahre 1863 eine aufgeregte Menge, die
den ersten Geistlichen, der hier predigte, und der im Verdachte dänischer Gesinnung
stand, beinahe ermorden wollte. So ändern sich die Zeiten. Aber auch das dänische
Regiment war ein andres geworden, und die ehemalige väterliche Behaglichkeit
hatte sich, zumal in Schleswig, arg geändert. Weil aber Schleswig und Holstein
op ewig ungedeckt sein wollten, so zögerten die Altonaer nicht, sich ganz auf die
Seite der unterdrückten Schleswiger zu stellen, obgleich ihnen niemals so viel Un¬
gerechtigkeit geschehen ist wie ihren nordischen Stammesbrüdern.
Doch diese Vorgänge sind beinahe vergessen, was schade ist, denn nichts ist
lehrreicher, als den Blick einmal rückwärts zu wenden. In alten Zeiten ist das
dänische Regiment ein gutes und ein weises gewesen. Wo wurde die Religions¬
freiheit besser geschützt als in Altona? Noch heute kündet die „Freiheit" davon,
wo sich Katholiken, Reformierte und Mennoniten niederlassen durften, als diese
Glaubensgemeinschaften allerorten in evangelischen Landen ausgewiesen wurden.
Heute ist die „Freiheit" gerade keine Straße, in der man sich mit Vorliebe ergeht;
aber die Kirchen der Reformierten und der Katholiken sind noch immer da, und
hart an der Hauptstraße, der schon erwähnten Königstraße, liegt der alte israeli¬
tische Kirchhof, auf dem die aus Spanien und Portugal verjagte» Juden ihre fried¬
liche Ruhestätte gefunden haben.
Nein, das alte Regiment war so übel nicht; es war gut und brav und alt-
väterisch; wäre es nur so geblieben, dann wehte hier noch lange nicht der preußische
Adler. Da er uns aber einmal beschützen will, sollte er auch seine Fänge aus¬
strecken gegen alles, was ihm heimlich entgegenarbeiten möchte. Und seine scharfen
Augen möge er auf die Nordmark richten, in der es nicht so behaglich hergeht
wie hier am Ufer der Elbe. Denn noch immer heißt es „op ewig ungedeckt";
auch in der Stadt, in der ich wohne.
>le lange ich auf der Anhöhe gestanden habe, ohne der zum Glück
nicht allzu dicht fallenden Tropfen zu achten, weiß ich nicht mehr.
Ich weiß nur, daß ich damals erst den rechten Begriff von einer
heroischen Landschaft im Sinne Prellers oder Rottmanns erhalten
habe. Die weite Erde schien eigentlich nur noch die Basis für die
! Gebilde der Luft zu sein, die sich am Horizont zu schwarzen, gold¬
umränderten Gebirgen emportürmten und im Zenit zu grauen formlosen Massen
zerflossen. Der heftige Wind löste sie in durchsichtige Schleier auf und trieb sie
in langausgesponnenen Streifen nordwärts. Hie und da brach eine Strahlengarbe
der untergehenden Sonne durch die Wolken; wo sie die Erde berührte, leuchteten
Boden und Vegetation in einem unheimlichen kupfrigem Licht. Über dem Meere
gingen gewaltige Regengüsse nieder, die das merkwürdige Phänomen zeigten, daß
sie nicht in geraden, sondern in gebrochnen Linien fielen, woran der in den untern
Regionen stärker wehende Wind schuld sein Mochte.
Auf der Straße war, soweit ich sie in beiden Richtungen mit dem Auge ver¬
folgen konnte, kein lebendes Wesen zu sehen. Als ich mich jedoch wieder umwandte,
sah ich auf der nächsten Erdwelle, nur durch ein flaches Tiilchcn von mir getrennt,
eine Gestalt zu Pferde.
Mein Herz stockte. Eine Ahnung sagte mir, daß die Reiterin, denn eine
solche war es, niemand anders als die schöne junge Frau sein könnte. Ich riß den
Mantel von den Schultern und schwenkte ihn wie eine Fahne über dem Kopfe.
Die Reiterin hielt an, winkte mit der Hand und trieb ihr Tier in der Richtung
auf mich zu in die Erdmulde. Ich stürmte den Hügel hinab und stand nach
wenigen Sekunden an ihrer Seite.
Ah — Sie sind keiner von den Unsern! sagte sie mit demi Ausdruck der Ent¬
täuschung, Sie sind ein Fremder —
Ein Fremder, der um die Erlaubnis bittet, Ihnen, gnädige Frau, seine Dienste
anbieten zu dürfen, erwiderte ich. Hier, unmittelbar hinter dem Hügel, ist eine
Hütte, das Heim armer redlicher Leute, kein Aufenthalt für Engel, aber immer¬
hin ein Plätzchen, das bei diesem Wetter einigen Schutz gewährt. Darf ich Sie
hinführen?
Meinetwegen. Aber sagen Sie mir: Haben Sie keine andern Reiter gesehen?
Ich bin durch einen unglückliche» Zufall von den Meinigen getrennt worden.
Das vermutete ich. Ich sah die Herrschaften heute früh zur Beizjagd reiten.
Ah — Sie waren der Herr, der auf der Straße eine ganze Weile neben
uns herging und uns so aufmerksam betrachtete?
Da hatte ich also meinen Hieb weg.
Allerdings, entgegnete ich, und ich muß deshalb um Entschuldigung bitten.
Aber wenn man wochenlang durch die Galerien gewandert ist und immer nur die
großen Werke der Kunst genossen hat, dann dürstet man nach den nicht minder
herrlichen Bildern des Lebens.
Und diese Bilder des Lebens suchen Sie hier in der toten Kampagna?'
Der heutige Tag hat mir bewiesen, daß ich nicht fehlgegangen bin.
Sie sind kein Italiener, wie ich an Ihrer Sprache merke. Sind Sie Franzose?
v Ich bin Deutscher, Preuße.
Ausgezeichnet! Dann bin ich sicher, daß Sie das Vertrauen, das ich Ihnen
entgegenbringe, nicht mißbrauchen werden.
Ich quittierte über diese Anerkennung der deutschen Ehrlichkeit mit einer
stummen Verbeugung.
Denken Sie sich mein Mißgeschick, fuhr sie fort, mein Falk hatte eine Wildente
geschlagen und war mit ihr in das Schilf gestürzt. Wir verloren ihn aus den Augen,
und die Herren wurden schon ungeduldig und wollten des drohenden Unwetters
wegen weiter reiten, ohne einen letzten Versuch zumachen, den edeln Vogel wieder
zu erlangen. Ich schickte Webster, unsern Falkonier. in den Sumpf, aber sein Pferd
sank bis an den Bauch in das schlammige Wasser. Er mußte umkehren und erreichte
nur mit Mühe wieder den festen Boden. Da war mir, als sähe ich drüben am
andern Ufer etwas Weißes aufleuchten. Ich entschloß mich, den Sumpf zu umreiten.
Er war ausgedehnter, als ich vermutet hatte. Als ich an der Stelle anlangte, wo
ich den Falken gesehn haben glaubte, waren meine Freunde verschwunden. Der
Falkonier, der mit sich und seinem Pferde genug zu tun gehabt hatte, war ihnen,,
ohne meine Entfernung nach der entgegengesetzten Seite bemerkt zu haben, gefolgt.
Was soll ich nun anfangen? Das ist ein böses Abenteuer.
Die Herrschaften werden Ihr Fehlen bald bemerken, meine Gnädige, und nach
Ihnen suchen, tröstete ich.
Wir waren bei der Hütte angelangt, und ich hob die junge Frau aus dem
Sattel. Sie war erstaunlich leicht und zierlich, aber ihr Arm, der sich ohne Ziererei
auf meine Schulter stützte, war wohlgeformt, rund und fest.
Sie schüttelte die Regentropfen von ihrem Kleide, klopfte liebkosend den Hals
des Pferdes und schritt mit gnädigem Gruß an dem erstaunten Beppo vorüber in
die Hütte. Ich übergab dem Hirten die Zügel und folgte der Dame auf dem Fuße.
Sie setzte sich dicht an das Feuer und klagte Martuccia ihr Mißgeschick. Aber ich
merkte wohl, daß meinen schönen Schützling das kleine Abenteuer eigentlich mehr
belustigte als bekümmerte. Der Falke machte ihr offenbar die meiste Sorge, sie
brauchte, wenn sie von ihm sprach, die zärtlichsten Ausdrücke und erklärte mit einer
unheimlichen Bestimmtheit, die ich jedoch den? exaltierten Wesen ihrer Rasse zugute
hielt, daß ihr das Tier so lieb sei wie ihre Seele, und daß sie seinen Verlust nie
und nimmer überlebe» werde.
Sie schwieg und horchte auf.
Mein Gott, welch ein Regen! Hören Sie nur, wie das rauscht!
In der Tat goß es in Strömen, genau so — nun, genau so wie es in diesem
Augenblick gießt. Armer Uhu, soll ich dich hereinholen? Da sitzt du und schüttelst
dich und ziehst die Federn durch den Schnabel — die Dusche ist dir doch wohl
ein wenig zu ausgiebig? Gedulde dich noch ein kleines Weilchen, lieber alter Freund,
die Wolke muß bald vorüber sein, im Westen ist der Himmel schon wieder klar, und
Wind und Sonne werden dein Federkleid schnell genug trocknen.
Damals mußte ich für ein andres Geschöpf sorgen, das, um bei Beppos Aus¬
drucksweise zu bleiben, auch kein Christ war: für den Goldfuchs meiner Schutzbefohlnen.
Ich führte das Tier unbekümmert um die Proteste seiner Herrin in die Hütte und
entdeckte, als der Schein des Feuers darauf fiel, daß es an Brust, Schultern und
Flanken über und über mit dickem Schaum bedeckt war. Die junge Amazone schien
ihr Pferd nicht gerade geschont zu haben.
Ohne erst ihre Erlaubnis einzuholen nahm ich dem Tiere den schweinsledernen
englischen Sattel ab, schnitzte mir einen Holzspan zurecht und schabte damit den
zähen Belag aus Schweiß und Staub von dem glatten Fell, dann ließ ich mir ein
paar Hände voll Heu geben und rieb und striegelte zum Ergötzen der Dame und
der ganzen Hirtenfamilie, bis das Pferd so trocken, sauber und glänzend dastand,
als wäre es seiner Herrin eben erst aus dem Stalle des römischen Palazzo vor¬
geführt worden.
Als ich mit meiner Arbeit fertig war, erkundigte ich mich, ob die gnädige
Frau noch Befehle habe, ob sie etwa ein Souper oder ein Glas Wein wünsche.
Also jetzt soll ich daran kommen! sagte sie lachend. Erst das Pferd, dann
der Mensch!
Das ist guter deutscher Reiterbrauch, meine Gnädige, entgegnete ich.
Ja, wahrhaftig, daran erkenne ich den Deutschen, sagte sie. Sie lieben Ihre
Pferde und Hunde wie —
Wie eine gewisse vornehme junge römische Dame ihren Falken, erlaubte ich
mir zu ergänzen.
O nein, fiel sie lebhaft ein, das ist etwas ganz andres! Der Falke ist ein Teil
von mir selbst, er ist — wie soll ich mich nur ausdrücken? — er ist meine Seele,
die diese erbärmliche Welt in seligen Stunden verläßt und zu den Höhen aufsteigt,
wo es keinen Zwang und keine Fesseln gibt. Ach, wenn Sie wüßten, wie frei und
leicht sichs da oben im Blau des Himmels schwebt! Wie süß es ist, auf der kristallneu
Luft zu ruhen und sich vom Hauch des Windes tragen zu lasst». Und dann hinab¬
zuschauen mit scharfem Auge auf die armselige Erde, auf das Menschengeschlecht, das
sich im Staube müht und sich so groß und erhaben vorkommt, wenn es auf einen
Maulwurfshaufen geklettert ist.
Sie sehen mich so zweifelnd um, ja ja, erheben Sie keinen Einwand, ich weiß,
daß Sie mich für eine Schwärmerin halten, Sie kühler, vernünftiger Deutscher!
Wer die Leidenschaft und die Sehnsucht nicht kennt wie Sie, der kann auch nicht
verstehn, daß man seine Seele in einen Falken bannen muß, um frei und glücklich
zu werden.
Der Zustand des jungen Weibes begann mich zu beängstigen. Sie hatte sich
erhoben und gestikulierte mit der ganzen Lebhaftigkeit ihrer Rasse. Mochte sie auch
sonst die Zurückhaltung der in tausend Vorurteilen aufgewachsnen Aristokratin zur
Schau tragen: in diesem Augenblick hatte sie die Fesseln der Konvention abgestreift,
jetzt war sie nichts andres als eine heißblutige Römerin, ein Weib, das trotz seiner
Jugend sein Herz mit einem Übermaß an Menschenverachtung und ungestillter
Sehnsucht erfüllt hatte.
Ein Eingehn auf ihren wunderlichen Gedankengang wäre einer Indiskretion
gleichgekommen. Vielleicht war sie nur erschöpft und überreizt durch die Anstrengungen
des langen Ritts und die Aufregungen der Jagd. Ich suchte dem Gespräch eine
andre Wendung zu geben und überredete sie, sich mit einem Schlucke Weins zu
stärken, den ich ihr in dem von mir benutzten und oberflächlich mit Wein ausgespülten
Glase — dem einzigen in der Hütte vorhandnen — kredenzte. Sie nippte daran
und gab es zurück. Es war wohl nicht die Sorte, an die sie gewöhnt war.
Als der Regen ein wenig nachließ, trat sie an die Tür und schaute in die
Landschaft hinaus.
Mein Gott, wie schnell die Nacht heute anbricht! sagte sie mit einem besorgten
Blick gen Himmel, wie soll ich nur in die Stadt kommen? Hören Sie nichts?
Klang das nicht wie Pferdegetrappel?
Ich lauschte, konnte jedoch nichts vernehmen als den gurgelnden Lockruf einer
Rohrdommel in weiter Ferne. Sonst blieb alles totenstill.
Darf ich mir erlauben, Ihnen einen Vorschlag zu machen, gnädige Frau? fragte
ich. Sehen Sie, über Nacht können Sie unmöglich in dieser erbärmlichen Hütte
bleiben. Wie wäre es, wenn ich Sie bis Mezzo Camino brächte? Dort liegt ein
Carabinierikommando. Es würde wohl nicht schwer fallen, ein paar zuverlässige
Leute zu bekommen, die Sie bis Rom begleiten könnten. Wir haben jetzt neunzehn
Uhr, rechnen wir zwei Stunden auf deu Weg, so wären Sie um einundzwanzig
Uhr zu Hause. Brachte ich selbst Sie nach Rom, so kämen Sie, da Sie dann
Schritt reiten müßten, eine gute Stunde später an.
Gut, entgegnete sie, der Vorschlag läßt sich hören. Aber wie gedenken Sie nach
Hause zu kommen?
Ich gehe natürlich zu Fuß.
O, dann wollen wir die Carabinieri nicht behelligen, sagte sie lebhaft. Lassen
Sie uns zusammen den Weg machen. Auf eine Stunde mehr oder weniger kommt
es mir nicht an.
Wie Sie befehlen, erwiderte ich, ich weiß die Ehre zu würdigen und hoffe,
daß Sie mit Ihrem Schildknappen zufrieden sein werden. Aber um eins muß ich
bitten: bedienen Sie sich, solange es noch regnet, meines Mantels. Ich werde rüstig
ausschreiten müssen, und da wird mir das Ding ohnehin zu warm.
Wenn Sie Ihren Ritterdienst von dieser Bedingung abhängig machen, so muß
ich schon darauf eingehn, sagte sie lachend.
Ich reichte ihr meine Visitenkarte. Damit Sie sich keinem Unbekannten an¬
vertrauen.
Ich bin die Fürstin Montelupo - Grazioli — damit Sie keine Unbekannte
geleiten. ^ ^ ^ . .-"^>'. ... ^ ^ -
Wir lachten beide. Tann führte ich das Pferd ins Freie, händigte der wackern
Äartuccia, die durchaus keine Bezahlung unsrer Zeche annehmen wollte, ein paar
Geldstücke „für die Kinder" ein, legte meiner Schutzbefohlnen den Mantel um die
Schultern und half ihr in den Sattel. Dann zogen wir, von den guten Wünschen
unsrer Wirte begleitet, in die Dämmerung hinaus. .
Da wir beide auf den Weg achten mußten und der Goldfuchs wiederholt strauchelte,
verstummte unsre Unterhaltung bald. Wir mochten etwa eine halbe Stunde zurück¬
gelegt haben, als wir in der Ferne Rufe vernahmen. Wir verließen die Straße
und suchten eine Erhebung des Geländes zu erreichen, von der wir, so gut es die
Dunkelheit erlaubte, Umschau zu halten gedachten. Aber bevor wir noch auf der
Höhe angelangt waren, sprengten zwei Reiter heran, von denen der eine einen
Schimmel ritt.
Er hat ihn! Er hat ihn! jubelte die Fürstin, Gott und allen Heiligen sei Dank,
der Falk ist nicht verloren!
In der Tat erkannte ich, daß der eine der Reiter einen Beizvogel auf der
Faust trug. Meine Begleiterin spornte ihr Pferd an und jagte auf die beiden Ge¬
stalten zu. Als ich sie wieder einholte, fand ich sie in einem lebhaft in englischer
Sprache geführten Gespräch mit dem Falkonier, der umständlich berichten mußte, wie
er den Flüchtling wiedererlangt hatte. Sie nahm ihm den Falken ab, streichelte
sein feuchtes Gefieder und drückte ihn an ihre Wange.
Von ihrem eignen Abenteuer war kaum die Rede. Erst der andre Reiter, einer
der römischen Herren, mußte sie daran erinnern, daß man sie seit mehr als zwei
Stunden gesucht und sich zu diesem Zweck nach allen Richtungen hin über die Gegend
zerstreut habe. Eine Tenute an der Straße war zum Treffpunkt bestimmt worden,
wo man sich wieder vereinigen wollte.
Ich war nun überflüssig und bat die Fürstin um die Erlaubnis, mich zurück-
ziehn zu dürfen. Sie dankte mir mit herzlichen Worten und reichte mir zum Ab¬
schiede die kleine, schmale aber feste Hand.
" Aber Ihr Mantel? Was soll aus dem werden?
Der Regen wird nicht so bald aufhöre», antwortete ich, ich bitte darum Eure
Durchlaucht, ihn noch zu behalten.
Und wohin kann ich ihn morgen zurückschicken?
Wenn Sie erlauben, werde ich ihn in den nächsten Tagen selbst abholen.
Wie Sie wollen. Ich werde Sie alsdann dem Fürsten vorstellen. Er wird
sich freuen, Ihnen für Ihre Sorge um mich seinen Dank aussprechen zu können.
Sie wissen doch, wo wir wohnen? Via Giulia, gegenüber von Santa Maria della
Morte. Und nun auf Wiedersehen!
, Sie ritten davon und verschwanden in der Finsternis. Aber das silberne
Glöckchen des Falken klang noch eine ganze Weile an mein Ohr.
Wie lebhaft doch meine Phantasie zuweilen ist! Ich möchte schwören, daß ich
es in diesem Augenblick wieder vernommen hätte. Und was hat der Uhu nur?
Er hockt am Boden, sträubt das Gefieder und richtet die Augen starr zum leuch¬
tenden Abendhimmel. Dummer alter Bursche, fürchtest du dich vor der Möwe, die
dort oben zieht?
Am übernächsten Tage begab ich mich frohen Herzens in die Via Giulia.
Ich versprach mir von dem Besuche eine schöne Stunde. Vielleicht würde ich Ge-,
legenden haben, die kleine aber auserlesne Galerie zu betrachten, deren Hauptstück,
wie ich längst wußte, das Bildnis des Kardinals Bartolomeo Montelupo von Rasfael
war. Vor allem aber sollte ich ja die schöne junge Fürstin wiedersehen ^- eine
Aussicht, die mein Herz rascher klopfen machte. Nicht ohne Mühe fand ich in der
an Kirchen und Renaissancepalästen überreichen Prachtstraße das Kirchlein der
Madonna vom Tode, die Stiftung einer frommen Brüderschaft, die sich zur Auf¬
gabe gestellt hat, den in der Kampagna gefundnen Toten ein christliches Begräbnis
zu gewähren. Gegenüber erhob sich der Palazzo Farnese, daneben, durch eine
Querstraße von ihm getrennt, ein kleinerer, über dessen Portal zwei steinerne Engel
ein Wappen mit der römischen Wölfin hielten. Ich war also am Ziele.
Daß sämtliche Fenster verhängt waren, befremdete mich ein wenig. Aber ich
tröstete mich damit, daß der Palazzo den ganzen Nachmittag über die volle Sonne
hatte, und daß die Römer in ihren Wohnräumen die Dämmerung lieben. Ich
faßte mir also ein Herz und trat ein.
Der Portier, der vor seiner Loge an einer Marmorsäule lehnte und in die
Lektüre des Osssrvators romano vertieft war, sah mich über seinen goldnen Klemmer
hinweg prüfend an und hob die Hand nachlässig zu dem mit einem mächtigen
Pompon geschmückten Napoleonshut.
Ich trug ihm mein Anliegen vor. Er hörte mit großer Gemütsruhe zu, ver¬
riet mit keiner Miene, daß er mich für ein ganz untergeordnetes Wesen und oben¬
drein für einen unverschämten Schwindler hielt, und sagte, während er die Zeitung
zusammenfaltete und in die mit breiter Silberborde eingefaßte Tasche seiner Livree
versenkte: Die durchlauchtigen Herrschaften werden bedauern. Sie sind heute
morgen nach Porto d'Anzio abgereist.
Und wann kommen sie zurück? fragte ich.
Er zuckte die Achseln. Es ist noch ganz unbestimmt. Vielleicht in drei oder
vier Wochen.
Und mein Mantel?
Bedaure. Davon weiß ich nichts.
Ich machte auf dem Fuße kehrt und verließ mit stillem Groll den Ort, wo
meine Hoffnungen so schmählich getäuscht worden waren. Seitdem habe ich die
Via Ginlia nie wieder betreten. Als ich vierzehn Tage später die Ewige Stadt
verließ, hatte ich mich zu einer heiterern Ausfassung meines Erlebnisses durchgerungen.
Wenn meiner Schönen soviel an einer handgreiflichen Erinnerung an jenen Abend
in der Kamvagna lag, mochte sie meinen Lodenmantel getrost behalten. Neu war
er ohnehin nicht mehr, ich hätte ihn höchstens noch auf der Jagd tragen können.
Und es schmeichelte nur gewaltig, den beweglichen Besitz des fürstlichen Hanfes
Montelupo-Grazioli bereichert zu haben.
Aber das Bild der stolzen jungen Römerin steht heute noch ebenso frisch und
ungetrübt vor meiner Seele wie damals, und ich segne das Geschick, das mir den
ersten und einzigen starken Eindruck durch kein Wiedersehen in einem andern Rahmen
beeinträchtigt hat.
Jetzt sehe ich sie wieder deutlich vor mir in ihrem knappen schwarzen Reit¬
kleide, das feine bleiche Antlitz von dem eigenwilligen dunkeln Kraushaar umweht,
ich höre ihre wohllautende Stimme und fühle den leisen Druck ihrer Hand. Das
silberne Glöckchen klingt —
Weiß Gott, du hast dich doch nicht getäuscht, alter Uhu, deine Augen sind
schärfer als mein Jagdglas! Was da oben schwebt und langsam näher kommt, ist
in der Tat ein Raubvogel. Ein auffallend Heller Raubvogel, ein weißer Bussard
oder ein nordischer Falk! Jetzt steht er blendendweiß vor der schwarzen Wolken¬
wand des abziehenden Gewitters.
Er rüstet sich zum Angriff. Nun schnell das Gewehr zur Hand! Weshalb
mag mein Arm nur so zittern? Kaltes Blut Um alles in der Welt, nur jetzt
keinen Fehlschuß!
Der Uhu knappe und faucht und wirft sich auf den Rücken, die bewehrten
Fänge nach oben richtend. Jetzt muß der Gegner gerade über ihm stehn.
Ich höre mein Herz pochen, ich höre auch wieder das silberne Glöckchen —
Herrgott — da ist er — nun gilts zu schießen!
Das Gewehr fliegt an die Backe, das Korn faßt den senkrecht herabstürzenden
Vogel eine Hand breit unter der Brust, ein Druck auf den Abzug des rechten Laufes,
ein Krach und eine Wolke von Pulverdampf, die mir den Ausblick verbietet und
langsam durch die Luke abzieht. Ich sehe nach der Uhr: es ist kurz nach sechs.
Der Uhu sitzt wieder auf seiner Krücke, putzt sein Gefieder und wirft ab und
zu einen Blick, der deutlich seine Genugtuung ausdrückt, zur Erde. Ich eile aus
der Hütte auf die Stelle zu, wo der Raubvogel, wenn er, wie es mir beim Auf¬
blitzen des Schusses erscheinen wollte, tödlich getroffen war, liegen muß. Aber wo
ist er? Sollte ich ihn etwa doch gefehlt haben? Das kann nicht sein, ich bin gut
abgekommen, und in dem Augenblick, wo ich ihn vor dem Korne hatte, war meine
Hand wieder so ruhig, als ob ich eine einfältige Krähe vor mir gehabt hätte.
Dort liegt er! Dort in der tiefsten Ackerfurche! Die eine der Schwingen, die
sich an eine hohe braune Scholle lehnt, bewegt sich leise im Winde. Ein paar
Flaumfedern lösen sich und schweben wie Schneeflocken nordwärts. Nun stehe ich
vor ihm. Es ist ein Edelfalk. Der Kopf ist leicht zur Seite geneigt, die großen
dunkeln Augen schauen mich mit leidvollen aber ruhigem Ausdruck an — dann
zieht sich die gelbliche Haut des Unterlides langsam darüber. Auf der weißen Brust
schimmern ein paar rote Tropfen wie Rubinen am Halse einer schönen Frau.
Ich beuge mich zu ihm nieder und hebe ihn auf. Da erklingt das silberne
Glöckchen wieder — diesmal laut und schrill! Ein Schreck fährt mir durch die
Glieder, daß mir die Knie wanken.
Ich lege das Tier mit dem Rücken in meine Linke und ziehe die zusammen-
gekrallten gelben Fänge aus dem weichen Bauchgefieder. Der eine trägt das zier¬
liche Glöckchen, der andre einen silbernen Ring mit den gravierten Buchstaben
V-x-v-N-S und dem Worte „Baleno".
Das Wort kann ich deuten. Baleno heißt auf italienisch der Blitz, es ist also
ein passender Name für einen Jagdfalken, aber wie soll ich mir die Buchstaben
V.?.v-U-K erklären?
Ich nehme meine edle Beute mit in die Hütte und sinne nach. Da plötzlich
fällt mirs wie Schuppen von den Augen: Virginia Principessa ti Montelupo-
Grazioli!
Arme schöne Römerin — diesmal hatte sich deine Seele zu weit verflogen!
Meine Freude ist dahin. Was soll ich mit dem herrlichen Vogel anfangen?
Ihn behalten und für meine Sammlung ausstopfen lassen möchte ich um keinen
Preis, es würde mir wie eine Entweihung, wie ein Raub an fremdem Gut er¬
scheinen. Den Leichnam des Tieres der rechtmäßigen Eigentümerin senden? Ach,
er würde wohl in einem traurigen Zustande ankommen. Und dann möchte ich ihr
auch den Anblick des toten Lieblings ersparen.
Ich weiß, was ich tue. Der edle Räuber aus den Polargegenden, den ein
großes Heimweh aus dem Lande der Zitronen gen Norden trieb, und den der
alte Erbhaß gegen den geflügelten Dämon der Finsternis ins Verderben riß, soll
eine ehrliche Ruhestätte in deutscher Erde finden. Ich löse behutsam Ring und
Glöckchen von seinen erstarrenden Fängen und bette ihn am Bachufer zwischen den
Wurzeln einer Erle. Mit dem Weidmesser und den Händen schaufle ich das Grab,
lege den noch warmen Körper hinein, bedecke ihn mit Fichtenbrüchen und Erde und
wölbe zum Schutz gegen den roten Strauchritter Reineke einen Hügel von Steinen
d ^ Anima!
arüber.
Acht Tage später. Ich fahre, ehe die Zugzeit zu Ende geht, noch einmal
hinaus. Vielleicht glückts heute besser. Wenn wir nur erst abführen! Man sitzt
gerade lange genug, wenn man eine volle Stunde mit der Bahn und eine weitere
halbe mit dem Wagen fahren muß.
Da kommt der Mann mit den Zeitungen vorüber. Ich winke ihn heran.
Haben Sie italienische Blätter?
Nur die Tribuna.
Von welchem Tage?
Vom neunten April.
Also schon drei Tage alt. Doch was tuts! Geben Sie her!
Ich lese das Blatt ja doch bloß, um mit der Sprache ein wenig in der
Übung zu bleiben. Und dann, ich weiß selbst nicht, wie es kommt, aber seit dem
Ereignis von voriger Woche hat alles Italienische wieder ein besondres Interesse
für mich.
Ich überfliege die Rubriken. Rotsrslls xolitioks — IntoriNÄÄoni — vwime»
al Roma. Eine Menge belangloser Kleinigkeiten. Prozesse, Kongresse, Tiber¬
regulierung, Lnftballonaufstieg. Doch da — mir schießt das Blut zu Kopfe! —
da steht: Der Trauerfall im Hause Montelupo. Heute fand unter außerordent¬
licher Beteiligung der Bevölkerung die Beisetzung der am sechsten dieses Monats
während des Aveläutens auf eine so plötzliche und unerklärliche Weise aus dem
Leben gcschiednen jungen Fürstin statt. Unter den Leidtragenden bemerkte man
außer zahlreichen Mitgliedern der Aristokratie Seine Eminenz den Kardinalstaats¬
sekretär Merry del Vnl, den Majordomus Seiner Heiligkeit, Monsignore Cagiano
de Azevedo und den großbritannischen Botschafter beim Königlichen Hofe, Sir
Bertie...
Die Buchstaben beginnen zu tanzen. Ich muß die Zeitung aus der Hand
legen. Vor meinem Geiste steigt das Bild der Verstorbnen auf und schaut mich
mit großen leidvollen Augen ruhig an. Wo habe ich diese dunkeln traurigen Augen
doch nur in den letzten Tagen gesehen? Ich sinne und sinne. Endlich fällt mirs
ein: draußen auf dem braunen Sturzäcker vor der Krähenhütte. IIs-of xis. anima!
An diesem Tage hätte ich Weidmannsheil haben können. Zwei rote Milane
und ein Hühnerhabicht stießen, aber — wie kam es nur? War mein Auge trüb,
oder zitterte meine Hand? — ich habe nur ein paar Fehlschüsse getan.
Reichsspiegel
(Die letzten Verhandlungen des Reichstags. Das Vereinsgesetz. Jnterpellation
über Schiffahrtsabgaben. Der Fall Tower-Hill.)
Noch gerade vor Toresschluß ist der Reichstag mit dem Etat fertig geworden.
Erst am 30. März wurde die dritte Lesung beendet und das Etatsgesetz an¬
genommen. Nun sollen in der kurzen Zeit vor Ostern noch wichtige Arbeiten zu
Ende geführt werden, und wenn dann der Reichstag in die Ferien geht, wird er
mit Befriedigung auf ein tüchtiges Quantum geleisteter Arbeit zurückblicken können.
Der Block hat sich also bisher gut bewährt trotz allen Übeln Prophezeiungen und
den mit Eifer und großer Zähigkeit fortgesetzten Sprengungs- und Unterminierungs-
versuchen des Zentrums. Daß es zwischendurch an unerfreulichen Auftritten, die
der Würde des Reichstags nicht zugute kommen, leider auch nicht gefehlt hat, muß
freilich festgestellt werden. Außer der bekannten Entgleisung des Abgeordneten
Grober mit ihren merkwürdigen Folgeerscheinungen ist dahin auch der sonderbare
„Sängerkrieg" zu rechnen, der neulich zwischen den Abgeordneten Roeren und
Müller-Meiningen ausgefochten wurde. Es kann ja wohl vorkommen, das poli¬
tische Gegner im hitzigen Wortgefecht etwas persönlicher werden, als vielleicht not¬
wendig ist. Wenn sie sich aber unter steigender „Heiterkeit" des Hauses, dessen
Stimmung stark an die eines Zirkuspublikums bei einer guten Nummer erinnert,
gegenseitig mit improvisierten Knittelversen bombardieren, die noch sehr wesentlich
hinter den Ansprüchen an gewöhnliche Knallbonbondevisen zurückbleiben, dann kann
das bei Männern in solcher Stellung und solchem Lebensalter nur peinlich wirken.
Das werden selbst weitherzige Beurteiler empfinden, die sonst bereit sind, bei der
Abwesenheit von wirklichem Humor und Witz mit dem bescheidensten Surrogat
vorlieb zu nehmen.
Zu diesen für das Ansehen des Reichstags nicht gerade ersprießlichen Scherzen
kam neuerdings hinzu, daß der „Antiblock", wie man jetzt die Vereinigung von
Zentrum und Sozialdemokratie bezeichnet, bei dem Vereinsgesetz in der unverant¬
wortlichsten Weise von dem gefährlichen Mittel der Obstruktion Gebrauch machte.
Wenn schon bei den Zolltarifsverhandlungen vor sechs Jahren die Obstruktion der
Minderheit scharfen Tadel verdiente, so muß man doch zugeben, daß dieses Kampf¬
mittel damals sinnvoller und mit mehr Aussicht angewandt wurde als jetzt. Denn
zu jener Zeit konnte der zähe Widerstand der Minderheit wenigstens mit der ent¬
fernten Möglichkeit der Ermüdung des Gegners rechnen; es war nicht ganz aus¬
geschlossen, daß die Minderheit bei einzelnen Abstimmungen, in denen es durch
Mittel der Obstruktion gelang, einen günstigen Augenblick zu erfassen, in eine
Zuscillsmehrheit verwandelt wurde, und daß so eine Durchlöcherung des Gesetzes
und der Tarifbestimmungen glückte, die das Ganze unbrauchbar machte. Gegen¬
wärtig beim Vereinsgesetz lagen jedoch die Verhältnisse ganz anders, und das hat
auch der weitere Verlauf der Beratungen bestätigt. Die Obstruktion des Anti-
blocks war eine Torheit, eine Kinderei, die nur die Folge haben konnte, die Ver¬
handlungen um einige Tage zu verlängern, die aber an der Entscheidung nichts
mehr zu ändern vermochte. Das Neichstagsmandat scheint auf manche Leute einen
eigentümlich verjüngenden Einfluß auszuüben; wenigstens bei dem Zentrum zeigt
sich das Bedürfnis, Trotz und Ärger zu bekunden, mitunter in Formen, die man
sonst mir auf den Schulbänken zu suchen Pflegt.
Nachdem am 3. April die Durchberatung des Vereinsgesetzes durch Obstruktions¬
reden und immer wieder beantragte namentliche Abstimmungen ohne vernünftigen
Zweck endlos hinausgezogen war, sodaß man über die Annahme der Paragraphen
1 bis 6 in der Koinmissionsfassung nicht hinauskam, drehte sich am folgenden Tage
die ganze Verhandlung allein um den Paragraphen 7, den Sprachenparagraphen.
Über neun Stunden dauerte die Debatte! Die Gegner des Paragraphen nützten
die Gelegenheit zum Reden sehr reichlich aus. Das würde ihnen niemand ver¬
denken können, wenn sie in der Verteidigung ihrer Überzeugung etwas Neues und
Wirkungsvolles hätten sagen können. Aber es waren sehr dürftige und allgemein
gehaltne Klagen, die nur durch das Mittel künstlicher Verlängerung und beständiger
Wiederholung mühsam den Anschein einer ehrlichen Verteidigung aufrecht zu er¬
halten suchten. Die Blockparteien hatten Verständnis genug, diese nicht eben glück¬
lichen Versuche ihrer Gegner durch keine Schlußantrage zu stören. Die Schwäche
des Antiblocks zeigte sich auch in verschiednen einzelnen Zügen. Der Abgeordnete
spähn brachte es fertig, dem Paragraphen 7 eine knlturkämpferische Absicht unter¬
zulegen; der Kampf gegen die Muttersprache bedeute einen Kampf gegen die katho¬
lische Religion — wobei freilich der Zusammenhang zwischen öffentlichen Versamyi-
lungen und religiösem Leben unklar bleibt. Und mindestens unvorsichtig war der
Hinweis der Antiblockredner auf die Gegensätze, die sich im Block zusammengefunden
haben. Der nationalliberale Abgeordnete Hieber, der besonders wirkungsvoll für
den Sprachenparagraphen eintrat, konnte mit Recht schlagfertig dem Fürsten Radziwill
erwidern: Auch Sie, Herr Abgeordneter Fürst Radziwill, sitzen in einer Fraktion
mit dem Abgeordneten Kulerski. Noch schienen die Gegner die Hoffnung zu haben,
daß sich ein Teil der bürgerlichen Linken von dem Kompromißantrag der Kommission
zurückziehen werde. Der Abgeordnete von Pciyer vereitelte diese Hoffnung. Er, der
radikale Süddeutsche, der schon in der Kommission tapfer seine Stimme für eine
vernünftige Auffassung des Prinzipienstnndpunkts erhoben hatte, wiederholte jetzt im
Plenum den wesentlichen Gedankengang seiner damaligen Ausführungen. Unter
dem Toben und Höhnen des Zentrums und der Sozialdemokratie bekundete er das
Festhalten an der Überzeugung, daß das neue Vereinsgesetz einen Fortschritt in
freiheitlichen Sinne bedeute und an dem Paragraphen 7 nicht scheitern dürfe. Über
die preußische Polenpolitik sprach er mit verständiger Zurückhaltung. Daß er sie
loben sollte, erwartete bei seinen bekannten politischen Grundsätzen natürlich niemand
von ihm; um so schwerer fiel es ins Gewicht, daß er doch volles Verständnis für
die eigenartige Lage des preußischen Staates bewies und — was für einen deutschen
Politiker selbstverständlich sein sollte, es aber leider nicht ist — es ablehnte, den
besondern Anwalt polnischer Interessen zu spielen. Was wir an dem Standpunkte
Papers auszusetzen haben, ist hier früher dargelegt worden. Wenn er die vollen
Konsequenzen seiner Erwägungen gezogen hätte, so hätte ihm sein politisches Ge¬
wissen auch ebensogut erlauben müssen, für den Paragraphen 7 in der ursprünglichen
Fassung der Regierungsvorlage zu stimmen. Diese Fassung kam nach der ganzen
Lage jedoch nicht mehr in Betracht, nachdem sich die Parteien der Rechten und
der Regierung über den Kompromißantrag geeinigt hatten, und der nachträgliche
Versuch, den alten Paragraphen 7 wiederherzustellen, notwendig das ganze Gesetz
gefährden und wichtigere politische Errungenschaften aufs Spiel setzen mußte. Des¬
halb muß das Auftreten Papers im Plenum von einem andern Standpunkte be¬
urteilt werden als damals in der Kommission.
Die Haltung des Abgeordneten von Payer sowie die des Herrn Müller-Meiningen
erregte vorzugsweise die Wut der Blockgegner, die nun erst vollkommen erkennen
mußten, daß ihr Spiel verloren war. Der nennstüudige Kampf wurde mit einer an die
schlimmsten Zolltarifdebntten erinnernden Leidenschaftlichkeit unter heftigen Zwischen¬
rufen und lärmenden Unterbrechungen geführt. Aber es nutzte nichts; alle Abänderungs-
anträge wurden abgelehnt und der Sprachenparagraph in der Kommissionsfassung mit
200 Stimmen gegen 179 bei 3 Stimmenthaltungen angenommen. Es ist übrigens
wohl, solange der Reichstag besteht, noch nicht dagewesen, daß bet einer Abstimmung
eine so hohe Präsenzziffer erreicht wurde. Nur 15 Abgeordnete fehlten an der vollen
Besetzung des Hauses, eine außergewöhnlich geringe Zahl, wenn man bedenkt, daß
das Fehlen einzelner wegen Unpäßlichkeit oder andrer Behinderungsgründe unver¬
meidlich ist. Man kann also sagen, daß von beiden Seiten der letzte Mann auf¬
geboten worden war, um jede Chance für den Sieg auszunutzen. Um so höher ist
der hart errungne Sieg zu schätzen. Das Zustandekommen des Vereinsgesetzes mit
dem allerdings bedenklich umgestalteten Sprachenparagraphen ist nun gesichert. .
Der Reichstag wird gegen Ende dieser Woche seine Osterpause beginnen. Da das
Vereinsgesetz bis dahin bestimmt, die Börsengesetznovelle wahrscheinlich erledigt wird,
so behält der Reichstag diesmal für die Zeit nach Ostern nur ein geringfügiges Arbeits¬
pensum übrig. Für die Börsengesetznovelle ist in der Kommission ebenfalls ein Kom¬
promiß auf der Grundlage der von den Nationalliberalen eingebrachten Anträge abge¬
schlossen worden, und die Entscheidung darüber soll ebenfalls noch vor Ostern fallen.
Eine wichtige und interessante Verhandlung ist noch aus der vorigen Woche
zu verzeichnen. Es handelte sich dabei um die Frage der Schiffahrtsabgaben, die
durch eine Jnterpellation zum Gegenstande der Erörterung gemacht worden war.
Das Thema ist bekanntlich dadurch angeregt worden, daß der preußische Landtag
die Verwirklichung der bekannten Kanalbaupläne seinerzeit davon abhängig gemacht
hat, daß die Kosten für die Instandhaltung der künstlichen und die Regulierung
der natürlichen Wasserstraßen durch besondre Abgaben aufgebracht werden. Die
preußische Staatsregierung hat diesen Standpunkt als berechtigt anerkannt^ und sich
zu eigen gemacht. Dagegen regt sich nun eine sehr scharfe Opposition in andern,
vornehmlich außerpreußischen Interessenkreisen, die sich darauf stützen, daß solche
Schiffahrtsabgaben nach Artikel 54 der Reichsverfassung unzulässig seien. Wenn man
die Sache so ansahe, würde sich unter Umständen daraus ein Konflikt zwischen Preußen
und dem Reich ergeben. Es war deshalb durchaus gerechtfertigt, daß man die Sache
gern im Reichstage klarstellen und die Stellung der Parteien dazu zu erfahren suchte.
Das war die Veranlassung der Jnterpellation, die am l. April besprochen wurde.
Der Staatssekretär v. Bethmann-Hollweg gab dabei die Erklärung ab, daß die
Frage der Auslegung des Artikels 54 der Reichsverfassung im Bundesrat noch nicht
ganz abgeschlossen sei; man verhandle noch darüber. Doch ist die preußische Re¬
gierung so sehr von der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit ihrer Forderung über¬
zeugt, daß sie, falls die Bedenken nicht auf dem Wege der Verständigung mit den
Bundesstaaten beseitigt werden, nötigenfalls auch Verhandlungen wegen Änderung
des Verfassungsartikels 54 ausnehmen würde. Es ist nun sehr bemerkenswert, daß
sich die Mehrheit des Reichstags in dieser Frage auf die Seite der preußischen
Regierung gestellt hat. Die Parteien sind dabei nicht alle einheitlich gestimmt.
In der nationalliberalen Partei finden sich gerade hier die Vertretungen sehr ver-
schiedner, zum Teil konkurrierender Interessen. Aber die Mehrheit der Partei
neigt doch der Ansicht zu, daß es sich bei der Erhebung von Schiffahrtsabgaben
in der Form, wie sie von der preußischen Regierung in Aussicht genommen ist, um
eine notwendige Einrichtung handelt, die dem Geist und der Absicht des Artikels 54
keinesfalls widerspricht, auch wenn nach dem Wortlaut der Verfassungsbestimmung
eine entgegengesetzte Deutung möglich sein sollte. Der erwähnte Artikel ist unter
dem Einfluß der Erinnerung zustande gekommen, daß in frühern Zeiten die Binnen¬
schiffahrt auf deutschen Wasserstraßen von den einzelnen Staaten als bequeme Ein¬
nahmequelle ausgenutzt wurde durch Erhebung von Finanzzöllen. Demgegenüber
galt es ausdrücklich zu betonen, daß das Deutsche Reich ein einheitliches Handels¬
gebiet darstellen sollte, worin die Erhebung einzelstaatlicher Binnenschiffahrtszölle
verboten wurde. Die Fassung des Artikels 54 aber, wenn sie auch nicht sehr
glücklich ausgefallen ist, zeigt doch, daß man sachlich gerechtfertigte Abgaben, die
dem Zweck der Schiffahrt selbst dienen sollen und dieser wieder zugute kommen,
nicht ohne weiteres mit dem Verbot treffen wollte. Die Zweifel, die darüber
möglich sind, welche Abgaben als zulässig angesehen werden können oder nicht, geben
natürlich den verschiednen Interessenkreisen Gelegenheit, sich bei Geltendmachung
ihrer Sonderwünsche auf die Reichsverfassung zu berufen. In Preußen würdigt
man das so weit, daß beabsichtigt wird, nicht ohne weiteres von Staats wegen die
Sache in die Hand zu nehmen, sondern Zweckverbände zu organisieren, die die
Frage in den verschiednen Wirtschaftsgebieten regeln. So wird es hoffentlich ge¬
lingen, zu einer zweckmäßigen Verständigung zu gelangen.
In der letzten Zeit hatte die Welt auch wieder einmal ihre große Sensation.
Wir meinen die Erörterungen, die sich an den sogenannten „Fall Tower-Hill"
knüpften. Der amerikanische Botschafter in Berlin, Herr Charlemagne Tower, sollte
abberufen werden, und an seine Stelle sollte Herr David Jayme Hill treten. Alle
Formalitäten waren erfüllt, als vor kurzem plötzlich behauptet wurde, die Ernennung
des Herrn Hill sei von Berlin aus beanstandet worden. Alle amtlich informierten
Stellen beeilten sich, dieser Behauptung zu widersprechen, wie sie es mit gutem
Gewissen auch tuu konnten. Aber überall, wo die Sensation einen guten Boden
fand, und wo man gern Deutschland etwas am Zeuge flickt, wurde die Behauptung
Wiederholt, und bald tauchten Einzelheiten auf, die als Unterlagen des Gerüchts
dienen sollten. Wir brauchen hier auf die einzelnen Stadien dieses Zwischen falls
nicht einzugehn, sondern nur zu erwähnen, daß die Sache so dargestellt wurde, als
habe der Kaiser hinter dem Rücken seiner Verantwortlicher Ämter Herrn Tower
gegenüber Äußerungen getan, die die Besorgnis verrieten, Herr Hill werde sich
möglicherweise auf dem Berliner Posten nicht wohl fühlen, da er nicht wohlhabend
sei und darum in der Repräsentation nicht in die Fußtapfen seines bekanntlich sehr
reichen Vorgängers treten könne. Daraufhin wurde der Vorfall in einigen amerikanischen
Preßstimmen in der unglaublichsten Weise aufgebauscht, als ob der Kaiser der
amerikanischen Regierung unerbctnen Rat erteilt habe; man solle nun als Antwort
darauf den Botschafterposten in Berlin überhaupt unbesetzt lassen, und was der¬
gleichen erregte Ausfalle mehr waren. Die wilde Agitation scheiterte an dem vor¬
nehmen und korrekten Auftreten der amerikanischen Regierung, die, von dem wirklichen
Sachverhalt unterrichtet, nach dem Austausch würdiger Erklärungen von beiden
Seiten die Angelegenheit zum Abschluß brachte und die Ernennung des Herrn
Hill einfach vollzog. Wenn der Kaiser eine der berichteten ähnliche Äußerung getan
hat, so ist es zweifellos, daß sie keine Spitze gegen Herrn Hill richten sollte. Es
war eine im vertraulichen Privntgespräch hingewvrfne, halb scherzhafte Bemerkung,
die in menschlich liebenswürdiger Form ausdrücken sollte, wie sehr man nach dem
Weggang des Herrn Tower von Berlin das vermissen würde, was dieser als
Botschafter durch seine reichen Mittel zu bieten in der Lage war, nämlich nicht
etwa, wie man im Publikum wohl zu glauben scheint, besonders verschwenderische
Feste und materielle Genüsse, sondern die Vermittlung eines besonders lebhaften
Gedankenaustausches zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten durch Heran¬
ziehung interessanter Persönlichkeiten, Vermittlung ihrer Bekanntschaft mit dem Kaiser
und eine vielverzweigte Tätigkeit, die der Annäherung und Bekanntschaft beider
Nationen diente, aber ohne den Besitz großer Privatmittel nicht zu leisten war.
Wenn eine solche Äußerung des Kaisers durch Indiskretion, vielleicht auch in miß-
verstandner Form an die Öffentlichkeit kam, so bedarf es keiner besondern Erklärung,
daß sie aufgegriffen und so gedeutet wurde, als habe der Kaiser die Befürchtung
aussprechen wollen, daß Herr Hill nur wegen seiner verhältnismäßig geringen Mittel
sein Land nicht würdig genug in Berlin repräsentieren werde. Die Sache war
arglistig genug ausgedacht. Sie mußte, in dieser Form an die Öffentlichkeit gebracht,
die Eigenliebe der Amerikaner verletzen und den Anschein einer fremden Einmischung
in die Entscheidungen ihrer Behörden erwecken; sie mußte aber auch in Deutschland
unangenehm berühren, da es so aussah, als ob sich der Kaiser in der Tat allzu¬
eifrig um Dinge gekümmert habe, die doch zunächst die Amerikaner angingen. Und
so wurde es ja auch bei uns von Blättern, die sich gern in der Kritik des Monarchen
ergehn, aufgefaßt. Man übersah dabei, wie es leider häufig geschieht, daß bei solchen
Äußerungen, die doch nur durch Indiskretion und völlig unkontrolliert zum Aus¬
gangspunkt öffentlicher Erörterungen gemacht werden, der Kaiser doch in erster Linie
ein Recht darauf hat, daß seine Sache von uns dem Auslande gegenüber als die
unsrige angesehen wird, weil alles, was ihn trifft, auch uns und das gemeinsame
Interesse trifft. Es war ein beschämendes Schauspiel, daß eine fremde Regierung
in diesem Falle ein besseres Verständnis für unsre eigne nationale Würde hatte als
ein — glücklicherweise diesmal nur geringer — Teil unsrer Presse.
Der kleine Meyer. Die Anzeige des Herderschen Konversationslexikons im
8. Hefte veranlaßt das Bibliographische Institut von Meyer in Leipzig,
mir die ersten drei Bände der siebenten, gänzlich neubearbeitcten und vermehrten
Auflage seines. Kleinen Konversationslexikons zu übersenden. Die Auflage
ist von drei Bänden auf sechs erweitert worden und enthält über 6000 Seiten
Text mit etwa 520 Jllustrationstafelu (darunter 56 Farbendrucktafeln und 110 Karten
und Pläne) und etwa 100 Textbeilagen. Jeder Band (in Halbleder) kostet 12 Mark.
Der vierte Band soll Mitte dieses Jahres erscheinen, die übrigen zwei Bände werden
in fünfmonatigen Abständen folgen. Nun ist der Weltruf von Meyers Institut so
fest gegründet, daß seine Erzeugnisse meiner Empfehlung wahrlich nicht bedürfen.
Wenn ich dennoch meinen Dank für die freundliche Gabe mit einigen Zeil^r abstatte,
so geschieht es in der Voraussetzung, daß es manchen Grenzbotenlesern gehn mag
wie mir: ich hatte bis dahin nur den großen Meyer gekannt. Was ich zum Lobe
des Herderschen Werkes gesagt hatte, trifft, wie ich jetzt sehe, auch auf den Kleinen
Meyer zu: er bietet in, mäßigem Umfange und um einen leicht erschwingbaren Preis
alles, was der Nichtfachmann braucht und sich wünschen kann. Quantitativ kommt
er dem Herder beinahe gleich, da jeder seiner sechs Bände etwas stärker ist als je
einer der Herderschen acht. Und was die Qualität betrifft, so versteht es sich bei
einem Meyer von selbst, daß die wissenschaftlichen wie die biographischen Artikel auf
der Höhe der Forschung, die Illustrationen auf der Höhe der Technik stehn; auf
Einzelheiten einzugehn, wäre vollkommen überflüssig. Der Unterschied der beiden
Nachschlagewerke besteht vorzugsweise darin, daß Herder manches bringt, was katholische
Benutzer besonders interessiert; so zum Beispiel über den katholischen Philosophen
Bciader etwas ausführlicher berichtet als Meyer; dafür betragen die der Elektrizität
gewidmeten Abhandlungen bei Meyer zusammen beinahe doppelt soviel wie bei
Herder (31 gegen 17 Seiten). Die Artikel Afrika. Ägypten, Assyrien, Babylonien
sind ziemlich gleich lang. Unterläßt es Herder nicht, in den Artikeln über Arbeit
und Arbeiterfrage die Veränderung zu erwähnen, die nach dem Kirchenglauben in¬
folge des Sündenfalls mit der Arbeit vorgegangen sein soll, so hebt dafür Meyer
den wichtigen Unterschied zwischen der rationellen und der bloß philanthropischen
Behandlung der Arbeiterfrage hervor. Meidet Herder nach Möglichkeit alles, was
Protestanten verletzen könnte, so schont Meyer andrerseits die katholische Empfind¬
lichkeit. Artikel wie „Ablaß", „Heilige", „Jesuiten", „Calvin", „Hugenotten" sind
ganz objektiv gehalten. Die großen Päpste, bei denen man zur Ergänzung die ent¬
sprechenden Kaisergeschichten heranziehn muß, werden sehr kurz abgefertigt, Die das
Christentum im allgemeinen, die Person Christi und die Bibel betreffenden Artikel
atmen den Geist Harncicks. Hier und da — nur in untergeordneten Dingen — macht
sich der nicht sowohl dem Katholizismus als der positiven Religion überhaupt ab¬
geneigte Geist unsrer Zeit ein klein wenig bemerkbar, so wenn die Fürstin Amalie
Golizyn (Gallitzin) in den ihr gewidmeten zehn Zeilen kurzweg als „religiöse
Schwärmerin" charakterisiert wird. sogar in der ausführlichen Schilderung Goethes,
der doch wahrlich weder ein Pietist noch ein Ultramontaner war, erscheint sie als
eine sehr praktische Frau, und Schwärmerinnen pflegen nicht praktisch zu sein
(Kampagne in Frankreich, Münster, November 1792). Indes, in den feinern
Schattierungen kann kein solches Werk jedem Geschmack genügen; das wesentliche ist,
daß es sich in den Tatsachen zuverlässig erweist, und das ist bei Meyer natürlich
der Fall. Man darf sagen, daß Herder und der Kleine Meyer einander ergänzen,
und da ich um die Verständigung der Konfessionen in Deutschland bemüht bin, so
würde ich wünschen, daß die Protestanten den Herder, die Katholiken den Kleinen
OVOI.
Fö5 /!/i//?i/u/6sse/'
er zunehmende Strom asiatischer Einwcmdrung in große Länder¬
gebiete und sogar Kontinente, die die Weiße Nasse als ihr alleiniges
Eigentum betrachtet, hat ein Problem entstehn lassen, dessen Be¬
deutung vielleicht noch nicht überall voll erkannt ist, das aber
^ trotzdem zu einer Frage von allgemeinster Bedeutung für die Welt
heranreifen wird.*) In Deutschland werden wir. trotzdem Deutsch-Ostafrika
auch seine Jndierfrage hat, zunächst vielleicht nicht von den ernsten Folgen
berührt, die mit der Masseneinwcmdrung von Asiaten verbunden sind, sie treffen
vornehmlich England, seine großen Tochterstaaten Kanada, Australien und
Südafrika sowie die Vereinigten Staaten. Am letzten Ende aber ist es weder
eine rein lokale noch andrerseits eine rein britische Neichsangelegenheit, sondern
eine Weltfrage, an deren Lösung alle weißen Nationen Interesse haben, vor¬
nehmlich die, deren handelspolitische Beziehungen über den Erdball reichen.
ur
Der alte und landläufige Begriff, daß sich Eopa und die übrigen von
weißen Völkern bewohnten Gebiete Asien gegenüber immer in einer überlegnen
und unangreifbaren wirtschaftlichen Position befinden werden, muß schon heute
eingeschränkt werden. Wir sind Zeugen des Erwachens Asiens. In schärferer
Form als bisher weisen die asiatischen Völker das zurück, was sie als unge¬
recht empfinden. Es entsteht dort ein unbestimmtes, aber stetig wachsendes
Gefühl für die kommerzielle Macht, die sie Europa gegenüber ausüben können.
—or—
Die Swadeshi-Bewegung in Indien Bykott britischer Waen , die
Boykottierung amerikanischer Waren in China sind in dieser Beziehung nicht
ohne Bedeutung, es sind immerhin Mittel, mit denen sich Asien manche Kon¬
zession erzwingen und manche verschloßne Tür öffnen kann.
Für die weißen Nationen mit ihrer stetig wachsenden Industrie , ihrem
wachsenden Nohmaterialbedarf ist ti< Erschließung weiterer Absatzmärkte für
ihre Waren eine Lebensfrage, und die nach vielen Hunderten von Millionen
zählenden Völker des Ostens als Abnehmer zu haben, ist eine Sache von der
größten Bedeutung. Heute kauft Indien mehr von England als irgend ein
andrer Teil des Reiches. Die Gesamtabnahme Asiens von den Weißen Na¬
tionen wird auf 2 bis 4 Milliarden jährlich geschätzt. Dieser Handel aber ist
noch in den ersten Anfängen, die einfachen Bedürfnisse steigen, mehr und mehr
gewöhnt man sich an europäische Erzeugnisse und läßt einheimische Industrien
verkümmern. Der Wettbewerb um diesen Handel mit dem Osten wird fort¬
während schärfer; es liegt nahe, daß man, um sich die Abnehmer geneigt zu
machen, um Konzessionen zu erringen, andre wichtige Interessen opfern muß.
Wenn Japan. China und Indien ihrerseits die Öffnung der Länder des Pazifischen
Ozeans für die Masfeneinwandrung ihrer Völker fordern, so liegt die Be¬
fürchtung vor, daß das industrielle Mutterland geneigt ist, dem eignen Augen¬
blicksinteresse folgend, diesem Drängen nachzugeben. Hier liegt die Gefahr für
die Kolonialländer, deren Erhaltung als pries MM's oountriss der Zukunft
von viel größerer Wichtigkeit ist.
Auch Asien braucht Raum zum Abfließen für seine stetig wachsenden Be¬
völkerungsmassen. Die Hemmungen, die Krieg, ansteckende Krankheiten und
Hungersnöte in der Bevölkerungszunahme bewirkten, werden immer geringer;
die Bevölkerung Südindiens verdoppelt sich in 88^ Jahren, der kultivierte
Boden wächst aber nur um etwa acht Prozent in der Dekade, so muß eine Abwan¬
derung stattfinden, und die Völker Asiens drängen gegen die Schranken, die die
westlichen Nationen errichtet haben. Wie lange werden diese standhalten?
Noch andre Dinge verwickeln die Frage. Erstens ist England durch einen
Allianzvertrag mit der asiatischen Macht verbunden, die selbst geeignet ist, die
Führung in dieser Bewegung zu übernehmen. Weiter ist es selbst die Be¬
herrscherin von 300 Millionen indischer Völkerschaften, die sich gegen die
englische Bevormundung aufzulehnen beginnen und andrerseits auf die ihnen
zugesicherten Rechte als britische Neichsuntertanen pochen. In den großen
Tochterstaaten selbst sind Anschauungen und wirtschaftliche Bedürfnisse in den
verschiednen Teilen verschieden. Die dünn bevölkerten Staaten an der pazifischen
Küste der Union und Kanadas bedürfen für eine Reihe von Jahren billiger
Arbeitskräfte, um die großen Kulturaufgaben zu lösen, die die Besiedlung und
die Erschließung im Großen allein ermöglichen. Für die Bahngesellschaften,
vornehmlich die großen Transkontinentalbahnen, für den Kanalbau, Farmer,
Sägemühlen und andre mehr sind billige Arbeitskräfte eine Frage des Seins
oder Nichtseins. Das Angebot an europäischen Arbeitskräften steht in keinem
Verhältnis zu der Nachfrage, und unter den heutigen Verhältnissen können
nur asiatische Arbeitskräfte helfen, wenn die Entwicklung nicht ins Stocken ge¬
raten soll. Das Verbleiben der Asiaten im Lande aber ist nichts weniger als
Wünschenswert. Ihre Lebenshaltung ist nicht die des weißen Mannes, sie
stellen viel geringere Ansprüche und unterbieten ihn in jeder Form. In der
folgenden Generation schon wird der eingewanderte Kuli die Existenz mancher
Europäer vernichtet haben. Ein Land mit unumschränkter, unkontrollierter und
gesetzlich nicht streng geregelter asiatischer Einwandrung kommt über kurz oder
lang für europäische Massenauswandrung kaum noch in Betracht.
Amerika und Kanada können z. B. wohl die niedrigste Klasse europäischer
Einwandrung. wie Ruthenen, Galizier. Slowaken usw.. aufsaugen und sie sich
mit der Zeit assimilieren. Im Laufe dieses Aufsaugeprozesses, der längere oder
kürzere >M dauern mag, wird sich der amerikanische Charakter infolge der
Aufnahme fremden Blutes modifizieren, aber dennoch wird es eine ameri¬
kanische Nation bleiben. Kein Volk aber kann Asiaten in sich aufnehmen und
mit der eignen Rasse verschmelzen. Der Asiate wird immer ein Außenstehender
bleiben, nie wird er, was Meredith Townsend „die dumpfe, unbesiegbare, nicht
zu mildernde Abneigung gegen die Weißen" nennt, verlieren. Dasselbe Gefühl
beherrscht aber auch den Europäer, mag er theoretisch noch so gerecht denken
und sich nicht durch Vorurteile leiten lassen wollen, innerlich ist auch er sich
dieser unüberwindlichen Schranke bewußt. Ein andrer Umstand kommt hinzu;
wer nie in Asien oder einem Lande gelebt hat. das eine an Zahl bedeutende
asiatische Bevölkerung und Einwandrung hat, kann in der Regel die Tatsache
nicht verstehn. daß der Asiate immer die Weißen in seiner Lebenshaltung
und auf dem Arbeitsmarkt unterbietet. .... ^ . . ^
Bei der Beurteilung des Problems vom kolonialen Standpunkt muß
ein Unterschied zwischen rein tropischen Kolonien, in denen der Weiße keine
Arbeit verrichten kann, und den andern, nicht tropischen Kolonialländern
gemacht werden.
In tropischen Siedlungen, wie den Struth-settlements, den föderierten
Malaienstaaten und Borneo sind die Chinesen das Rückgrat für die Industrie,
sie sind unter englischem Schutz die wahren Urheber des industriellen Auf¬
schwungs dieser Länder gewesen. An ein Ausscheiden des chinesischen Elements
ist hier gar nicht mehr zu denken, auch würde dies den völligen Ruin der
Länder nach sich ziehn.
Jndier vom Pendschab haben die Ugandabahn in Britisch-Ostafrika gebaut.
Kanälen aus der Südsee den Zuckerrohrbau in Nord-Queensland (Australien)
ermöglicht und zur Blüte gebracht. Chinesen haben wiederum den größten
Teil der „Spatenarbeit" an der nordamerikanischen Westküste geleistet. Die
westindischen Inseln sind ein Beispiel dafür, was mit Hilfe asiatischer Arbeits¬
kräfte geleistet werden kann; die indischen Kukis haben die Inseln vor dem
Ruin gerettet. Die Schwierigkeiten in bezug auf die Arbeiterfrage datieren bis
in die erste Zeit der spanischen Kolonisation in Westindien zurück, immer hat
man über Mangel und Unregelmäßigkeit in der Versorgung mit ungelernten
Arbeitern geklagt.
In Britisch-Guinea sind heute unter einer Gesamtbevölkerung von 278000
Einwohnern 105000 Jndier, von diesen sind aber nur etwa 20000 Kontrakt¬
arbeiter, die übrigen freie. Jamaika hat 125000, Trinidad 90000 Jndier.
Auf den Fidschi-Inseln (Südsee) sind 25000 Jndier. ihre Zahl stieg von
1901 bis 1904 um 5685, während sich die Eingebornen um 4334 vermin¬
derten. Überall machen hier die Jndier einen äußerst wichtigen und nützlichen
Bestandteil der Bevölkerung aus, sie sind fleißige und ordnungsliebende Bürger
geworden, die es zu einem Grade von Wohlstand gebracht haben, den sie in
ihrer Heimat nie erreicht hätten. Die Insel Dominica hat sich ohne diese
Einwandrung zu helfen versucht und ist infolgedessen der Stagnation verfallen.
Die Bedingungen des Arbeitskontrakts waren sehr liberal, durch Vergün-
stigungen wurden indische Arbeiter bewogen, sich im Lande anzusiedeln. Unter
den Einwandrungsbedingungen, wie sie heute noch auf den westindischen Inseln
bestehn, ist eine dauernde Zuwandrung von Asiaten unvermeidlich. Man hat
diese Art der Kolonisation die „staatlich unterstützte" genannt, und sie ist nichts
andres. Die Jndier müssen von vierzig Prozent Frauen begleitet sein. Nach
Ablauf des Kontrakts können sie Kronland anstatt des halben Rückfahrt¬
preises erhalten. Der Jndier erhält, wenn er auf der Farm bleibt, Vergün¬
stigungen in Gestalt von freier Wohnung, Weide für sein Vieh und freier
ärztlicher Behandlung. Die wichtigste Bestimmung ist aber die, die gestattet,
den Kontraktarbeiter schon während dieser Zeit als Handelsmann, gelernten
Fabrikarbeiter usw. zu beschäftigen. Nach Ablauf seines Kontrakts gibt es
für ihn keinerlei Beschränkung in dieser Beziehung mehr. So sehen wir, daß
in tropischen Ländern der Asiate ein nützlicher und notwendiger Einwandrer
ist, wo das heimische Arbeitsangebot die Nachfrage nicht decken kann.
Was nun die nichttropischen und zur Ansiedlung Weißer im großen
Maßstabe geeigneten Kolonien betrifft, so liegen die Verhältnisse dort be¬
deutend anders.
Vom geographischen Standpunkt gesprochen, liegt ein großes Kolonialland,
Kanada, in der Interessensphäre des unternehmendsten und übervölkertsten
asiatischen Staates, Japan. Die japanische Regierung tut alles, was in ihrer
Macht steht, um den Druck, mit dem die Armut auf dem Lande lastet, zu er¬
leichtern und zugleich Japans kürzlich eroberte Stellung unter den Nationen
zu erhalten und zu verstärken. Jede erdenkliche Erleichterung wird den Japanern
gewährt, die sich in Korea, Formosa, Sachalin usw. ansiedeln wollen. Japan
aber kämpft augenblicklich einen verzweifelten Kampf gegen die Folgen des
Krieges, verstärkt durch Hungersnöte in den nördlichen Provinzen. Der Kampf
ums Dasein wird von den Millionen Japans jetzt mit einer solchen hartnäckigen
Verzweiflung geführt, wie es sich die westlichen Nationen gar nicht vorstellen
können, es handelt sich um Groschen und Pfennige für den Kuli. Wie kann
es da wundern, wenn jeder Dampfer von Japan mit Zwischendeckern überfüllt
ist, die sich in Gebiete flüchten, wo die Erwerbsbedingungen günstiger sind,
wo sie Arbeit finden, die ihnen in einem Tage mehr Verdienst bringt als
erfolgreiche Wochen in Japan.ian
Und Kanada bedarf dieser billigen Arbetskräfte. Durch den gnze
Westen der Dominion geht der Ruf nach Kapitalien und Arbeitskräften zur
Entwicklung des Landes. Es gibt zurzeit kein andres Auskunftsmittel, dieje
großen Kulturaufgaben zu lösen, als Asiaten dazu heranzuziehen. In diesem
Stadium der Entwicklung ist ihre Anwesenheit in gewissem Sinne nutzbringend.
Unheilvoll würde andrerseits ihr dauerndes Verbleiben im Lande sein, denn
Kanada ist von der Natur dazu bestimmt, das Land einer großen ..weißen"
Rasse zu werden, aus der uneingeschränkten Zuwandrung von Asiaten würden
sich die schwierigsten Verwicklungen für die Zukunft ergeben. Das Eindringen
der indischen Arbeiter in Südafrika ist der beste Beweis hierfür.
tod¬
So ist hier, wenn auch nicht über Nach, s och in kurzer Zeit, be
schleunigt durch den Ausgang des Russisch-japanischen Krieges, eine Frage
entstanden, deren Lösung die Staatsmänner der großen Gemeinwesen am Pa¬
zifischen Ozean dauernd in Atem halten art. Verschärft wird die Frage
dadurch, daß keine völlige Übereins^ besteht; für die
arbeitenden Klassen des Westens Amerikas ist die AusMeßung der astatischen
Einwandrung eine Lebensbedingung, der industrielle Osten, der acht unmittelbar
getroffen wird, steht ihr sehr viel leidenschaftsloser und versöhnlicher gegenüber.
Die stetig wachsenden Handelsbeziehungen zu Japan und China die zuneh¬
mende Bedeutung des asiatischen Marktes sprechen hier ehr mit. Japan kann
heute angesichts seiner schwachen wirtschaftüchen Lage semen Interessen acht
den nötigen Nachdruck verleihen, ihm selbst Ware eme Auswandrung seiner
Arbeiter nach den neuerworbnen Gebieten auf dem Kontinent lieber, die ja¬
panische Regierung steht der Bewegung ziemlich machtlos gegenüber.
In Australien herrscht eine ausgesprochne Abneigung gegen die asiatische
Einwandrung. trotzdem oder vielleicht weil es keine irgendwie nennenswerte
eingeborne Bevölkerung gibt, und der Bedarf an rohen Arbeitskräften ebenso
groß ist wie in andern Kolonialländern. Die Versuchung, diese Arbeitskräfte
auf Kosten der Zukunft des Kontinents zu beschaffen, war groß. In Queens-
land. dem tropischen Australien, brach man zeitweise unter dem Druck der Not
mit dem Vorurteil: Japaner. Chinesen. Polynester. Jndier und sogar englische
Zuchthäusler waren willkommen.
Verschiedne Distrikte ließen Asiaten (und Kanälen, z. B. in Queensland)
versuchsweise zu. aber der Erfolg entsprach acht überall den Erwartungen, die
Masse der weißen Bevölkerung war entschieden gegen diese Einwandrung. in¬
folgedessen wurden die Zulassungsbedingungen nach einiger Zeit wieder ver¬
schärft. Schon im Jahre 1854 berichtete Sir Charles Hotham. zweiter
Gouverneur von Viktoria, nach einer Reise durch die Goldfelder, daß er die
Zulassung von Chinesen für unerwünscht erachte. Verschiedne einschränkende
Maßregeln wurden erdacht, so eine Kopfsteuer von 10 Pfund Sterling, weiter
durfte jeder Dampfer nur einen Chinesen auf je 100 Tonnen seines einge¬
tragnen Tonnengehalts einführen. Die Goldminen übten jedoch eine bedeutende
Anziehung aus. Der Zuzug von Chinesen war bedeutend, und vor zwanzig
Jahren gab die Chineseneinwandrung Anlaß zu einer großen parlamentarischen
Schlacht, in der gewisse Grundsätze in dieser Beziehung niedergelegt wurden.
Im Namen von Neu-Südwales, das mehr Chinesen als alle Staaten
hatte, richtete Lord Carrington an die britische Regierung im April 1888 einen
Bericht, in dem er sieben Gründe für die Beschränkung der Chineseneinwandrung
anführte. Diese Darlegung ist bezeichnend für die ganze Lage, wie sie durch
unbeschränkte Einwandrung von Asiaten geschaffen wird, und ist in gleichem
Maße heute noch zutreffend bei Beurteilung der jüngsten Vorgänge an der
pazifischen Küste der Vereinigten Staaten und in Britisch-Kolumbien. Sie
lautet im Auszuge: „Wir wünschen den Ratgebern Ihrer Majestät eine Dar¬
stellung der chinesischen Frage in ihren Hauptzügen zu geben und zu zeigen,
wie sie auf die britischen Bestandteile der australischen Bevölkerung wirkt:
erstens sind die australischen Häfen leicht von den Hafen Chinas aus zu
erreichen; zweitens üben das Klima und gewisse Zweige des Handels und des
Erwerbsleben, wie zum Beispiel die Bestellung des Bodens mit Markt¬
bedürfnissen und die Zinn- und Goldförderung, eine besondre Anziehungskraft
auf die Chinesen aus; drittens sind die arbeitenden Klassen britischen Ursprungs
aus Rassengemeinschaft stark gegen die chinesischen Wettbewerber eingenommen;
viertens wird es nie zu irgendwelcher Sympathie zwischen den beiden Rassen
kommen, im Gegenteil, es ist stete Feindschaft in Zukunft zu befürchten;
fünftens läßt die enorme Zahl der Bevölkerung Chinas die Einwandrung dieser
Rasse im Vergleich mit der Einwandrung irgendwelcher andrer Nationen be¬
sonders bedrohlich erscheinen; Sechstens ist es das ausgesprochenste Bestreben
aller australischen Gemeinwesen, sich den britischen Typus in der Bevölkerung
zu bewahren. Siebentens kann weder von einer Gemeinsamkeit der Idee oder
einem Austausch von Anschauungen über Religion oder bürgerliche Rechte
noch von einer Vermischung durch Heirat usw. von Briten und Chinesen die
Rede sein.
Hiermit ist untertänigst klargestellt, daß die Prüfung dieser Hauptpunkte
nur zu einem Schluß führen kann, nämlich dem, daß die chinesische Einwandrung
von allen Teilen Australiens ferngehalten werden muß."
»^?^!i^«<.
i^ö^^in Jahre 1656 schärfte der Große Kurfürst durch ein Schreiben an
den Gouverneur von Pillau den Küstengarnisonen die Beobachtung
seiner Strandordnung vom Jahre 1644 ein, die „bey Leibesstraffe"
gebot, „daß kein Officirer noch Soldat sich am Strande bey ge¬
strandeten Güttern finden lassen noch derselben anmassen sollen".
Sein uno xsrxewu8 war dem mi1o3 msroennMus des Dreißigjährigen Krieges
doch noch nah verwandt. Soldaten der Garnison Pillau hatten gestrandete
Schiffe zerhauen, und ihre Offiziere hatten sie nicht daran gehindert. Aber der
oberste Kriegsherr war wach.
Fast hundertunddreißig Jahre später, im Jahre 1784 führte der Kolberger
Tuchmacher Ehrgott Friedrich Seba-fer seine Idee, durch em Geschoß das eme Leine
schleppte, vom Strande aus die Verbindung mit gestrandeten Schaffen herzustellen.
Artillerieoffizieren Friedrichs des Großen vor. Die Herren erkannten die Mutter
der Idee, die Humanität, an. aber der Vater und sein Kind fanden bei ihnen kein
Wohlwollen. Sie brachten dem Verfahren nur so viel Teilnahme entgegen, als
ihr Pflichtgefühl und der Befehl des Königs erzWangen, und waren rasch mit
ihrem Urteil fertig. Von den Kolberger Garnisonartillerieoffizieren bis zu dem
Generalmajor von Holtzendorff und seinem Stäbe fanden alle das Experiment
..bey der Strandung derer Schiffe gar nicht xraowavel". Was der Erfinder
zu leiden hatte, habe ich im 24. Heft des Jahrgangs 1903 der Grenzboten
erzählt. Seine Enttäuschung war schwer, und nur mit knapper Not entging er
einer Bestrafung, als er sich nicht mit dem Urteil der Kolberger Artillerieoffiziere
zufriedcngab. sondern in der Berliner Presse für sein Verfahren Stimmung zu
machen suchte. Kein Wunder, daß die Idee in Preußen noch vor ihrem gekränkten
Vater starb. Nur wenig Jahrzehnte zu früh war sie geboren, ihre Zeit war
noch nicht gekommen, aber sie kam bald. Den Erfolg, der der deutschen Erfindung
versagt war, erntete ihre gleichaltrige englische Schwester.
Fast um dieselbe Zeit, als der Kolberger Tuchmacher auf ein Mittel sann,
den Schiffbrüchigen über die Wogenkluft Hilfe zu bringen, machte ein junger
Engländer Versuche mit Schleppgeschossen, und eines Tages schoß er mit einem
kleinen Mörser eine Leine über das Dach der Kirche zu Downham Market in
Norfolk. Er war noch sehr jung, es war ein Spiel,'das Spiel eines jungen
Kriegers, was Beuth davon im Jahrgang 1826 der Verhandlungen des Vereins
zur Beförderung des Gewerbfleißes in Preußen erzählt, liest sich wie ein
Leutnantsscherz.
Daß ein Spiel mit einer Schußwaffe, ein Leutnantsscherz, reichen Segen
zur Folge haben könne, zu diesem Gedanken wird sich selbst das fröhliche Selbst¬
bewußtsein des jüngsten, kecksten Leutnants nicht versteigen. Und doch war es so.
Jene halb mutwilligen halb ernsten Schießversuche in Downham Market
waren die ersten Regungen einer erwachenden Idee. Ihre gleichaltrige Schwester
in Deutschland war, kaum geboren, wieder gestorben. Sie selbst reifte langsam
zwei Jahrzehnte und trat dann kräftig und hilfreich wie Johanna Schuh als
Retterin an den Strand der wilden Nordsee.
Ihr Vater, George William Manby, war nun selbst vom träumerisch
spielenden, die Fenster der Kirche seiner Heimat gefährdenden Jüngling zum immer
hilfsbereiten Mann gereift. Er wird in allen Quellen Captain genannt; wie mir
der Pfarrer von Hilgay bei Downham Market mitteilte, diente er auf der Flotte,
nach andern Berichten stand er in Jarmouth in Garnison, welcher Waffe er
angehörte, konnte ich nicht erfahren. Nach der englischen Rangliste vom Jahre 1828
war er in diesem Jahre Barrack Master — Kaserninspektor — in Jarmouth.
In der Rangliste vom Jahre 1832 ist er nicht mehr verzeichnet.
Im Februar des Jahres 1807, als der deutsche Erfinder des artilleristischen
Rettungsverfahrens vergessen starb, sah der englische Menschenfreund bei Aarmouth
180 Fuß von der Küste entfernt die Kutterbrigg Snipe mit 67 Personen unter¬
gehn, nachdem man sechs Stunden lang mit Anspannung aller Kräfte vergeblich
versucht hatte, ihr zu Hilfe zu kommen. Als er die Rettungsboote nach dem
Wrack wie nach einem Ziel auf steiler Höhe ringen sah, und als die See das
Schiff von Tauwerk und Menschen rein gefegt hatte, sodaß aus dem Rahmen
der Masten und Raben wie aus leeren Fensterhöhlen nur noch weiße wütende
Wogenhäupter schauten, angesichts des Opfers, das die wilde See gefordert
hatte, fiel ihm ein Opfer seiner Spiele ein, das Fenster der Kirche zu Downham
Market, das er bei seinen Lcinenschießversuchen mit einem Geschoß zerbrochen
hatte. In diesem Augenblick sah er seine Idee, das Kind seines Geistes und
seiner Menschenliebe, erwachsen, schön und stark an seiner Seite stehn. Er rettete
rin ihr in achtzehn Jahren von 48 Schiffen, die auf den Strand von Norfolk
geraten waren, 332 Menschen. Sein Rettungsverfahren aber wanderte in bunter
Gesellschaft mit andern englischen Ideen und mit englischen Kolonialwaren und
Jndustrieerzeugnissen über die Nordsee und die Ostsee nach Preußen.
Damals klaffte zwischen Deutschland und England noch nicht der Riß, den
Mommsen im Jahre 1902 als „ein Übriggebliebener aus einer verschollenen Zeit,
in welcher der Deutsche zu dem Engländer wie zu einem älteren und vorgeschrittenen
Bruder aufsah", bedauerte. Auch die Herzen waren nicht mehr so eng und hart
wie am Ausgang der Negierung des großen Königs. So fand die englische
Erfindung in dem Lande, wo ihre Schwester vor dreißig Jahren unbeachtet
gestorben war, freundliche Aufnahme und freudige Förderung.
Wahrscheinlich war sie durch die wichtigste damalige Einfuhrpforte Preußens,
durch Königsberg, auf das Festland gekommen. Weit früher als in andern
Festlandstaaten wurde sie in Preußen aufgenommen, am frühesten an der kurischen
Küste, am freudigsten von Angehörigen der 1. (Preußischen) Artilleriebrigade.
Schon das erste Jahr des Aufatmens, das dem preußischen Volle nach dem
schweren Ringen mit Napoleon beschieden war, ist durch den Versuch, das bewährte
englische Rettungsverfahren an der preußischen Küste einzuführen, bezeichnet.
Nach Akten der Königlichen Negierung zu Danzig versuchte um 5. Sep¬
tember 1816 Lotsenkommandeur Seeente zu Pillau mit einer Bombe eine Leine
über ein breites Ziel zu werfen. Der erste Wurf mißlang, beim zweiten riß die
Leine, da sie sich beim Auffliegen verwirrt hatte. Der Finanzminister Graf
von Vülow und der Landhofmcister und Oberpräsident von Auerswald, dnrch
den York „die Mittel zum Handeln" erhalten hatte, wohnten mit Beamten der
Regierung dein Versuche bei. Weitere Versuche, über die in den Akten nichts
enthalten' ist, führten dazu, daß die Regierung zu Königsberg im Juli 1819 der
Mauer Hafenpolizeikommission den Gebrauch „dieses freilich immer gefährlichen
Mittels" im äußersten Notfalle gestattete. Demnach muß wenigstens seit dem
Jahre 1819 in Man ein Manbyschcr Apparat vorhanden gewesen sein.
Bei den Versuchen, die die Regierung zu Danzig auf eine von dem Polizei-
Präsidenten von Vegesack und dem Direktor der Navigationsschule Professor
Tobiesen unterstützte Anregung der im Rettungsdienste bewährten Lotsen¬
kommandeure Neumann und Husen in den Jahren 1819, 1820 und 1821
veranstalten ließ, erscheint die Preußische Artilleriebrigade zum erstenmal im
Dienste der Rettmigsidee. Die Beamten, die die Anregung gegeben hatten, fanden
die bereitwilligste Förderung bei den Militärbehörden. Major von Huck. der
Chef der Danziger Abteilung der 1. Artillericbrigade, stellte zu dein ersten
Versuch im Juni 1319 einen zehnpfündigen Mortier und die Munition und
kommandierte dazu einen Offizier und die Bedienungsmannschaft. Beim dritten
Schuß hatte man die Ablenkung, die das Geschoß infolge des Winddrucks erlitt,
bis auf zwei Meter korrigiert, der fünfte und der sechste Schuß waren Treffer. Auch
dem nächsten Versuch wohnte Major von Huck mit einem andern Artillerieoffizier
bei. Im Herbst wiederholte man diese Versuche. Mail vermied die Fehler, die
man im Sommer gemacht hatte, wählte die Leinen sorgfältig aus, richtete die
Geschosse für die ungewöhnliche Verwendung her und konstruierte einen Apparat,
von dem die Leine, dem Zuge des Geschosses folgend, sich leicht, ohne zu stocken
oder sich zu verwirren, abwickeln konnte. Major von Huck leitete die Bedienung
des Geschützes. Er hatte die Überzeugung gewonnen, daß das Verfahren wirklich
Segen bringen könne, und bemühte sich nun mit Vegesack und Tobiesen. es zu
verbessern. Die Versuche gelaugen, von acht Prvbeschüssen waren sechs Treffer.
Jüngere Lotsen hatten zu ihrer Ausbildung in der Bedienung des Mörsers den
Versuchen beigewohnt, sodaß die Anwendung des Verfahrens nicht mehr davon
abhängig war, ob der Dienstbetricb den Artillerieoffizieren und -Mannschaften
die Teilnahme an Übungen mit dem Nettungsgeschütz und an Rettungsver¬
suchen erlaubte.
Im Frühling des Jahres 1821 fanden befriedigende Versuche statt, wobei
der Mörser von Lotsen bedient wurde.
Im Frühsommer des Jahres 1825 wurden in Neufahrwasser die Leistungen
eines Manbyschen Mörsers, den das Ministerium des Innern aus England
bezogen hatte, mit denen der preußischen Sieben- und Zehnpfünder verglichen.
Die Versuche fanden in Gegenwart des Artillerieoffiziers des Platzes, Kapitäns
Noth, statt. Der Siebenpfünder schleuderte die Leine sicherer und weiter als der
Manbymörser. Den Grund glaubte Kapitän Noth darin zu finden, daß die
Pulverkammer des englischen Geschützes zu tief war. Das Geschoß und die
Ladung des Zehnpfünders erwiesen sich als zu schwer für den Leinenwurf. Die
Leinen zerrissen. Als im Herbst bei Weichselmünde die Leistungsfähigkeit des
Zehnpfünders gegen schweren Sturm geprüft wurde, ergab es sich, daß der
Winddruck die Wurfweite nicht wesentlich verkürzte. Aber wieder riß sich die
Bombe von den Leinen los. Bei Schießübungen, die im Juli 1826 in Weichsel¬
münde veranstaltet wurden, zeigte sich der preußische 5,5zottige Siebenpfünder
wieder dem englischen 5,2zölligen Geschütz in der Wurfkraft überlegen.
Auch die auf die Mörserstationen zu Memel und Mellneraggen bezüglichen
Akten der Memeler Hafenbauinspektion führen uns bis in die Zeit zurück, wo
das Eiserne Kreuz für 1813/14 noch ein junger Schmuck war und noch die
Brust junger Männer zierte. Daß die ersten Anfänge dieser Nettungseinrichtungen
auch hier nicht deutlich erkennbar sind, ist ein erfreulicher Beweis dafür, wie
früh preußische Kaufleute oder Behörden Schaefers und Manbys Erfindung an
der kurischen Küste heimisch und nutzbar zu machen suchten.
Die Sorge für die Schiffbrüchigen wurde in dieser Küstengegend durch die
Strandung eines schwedischen Schiffes geweckt. Einer der Offiziere des Schiffs
hatte sich ans Land gerettet, ging jedoch an dem unwirtlichen Gestade der auf
der Seeseite ganz unbewohnten, infolge hoher Randdünen schwer erklimmbaren
und durch Triebsand gefährlichen Landzunge an Entkrüftung oder Frost zugrunde.
Das war im Herbst des Jahres 1824. Nun stellte der Magistrat von Memel an
die Regierung zu Königsberg den Antrag, auf der Nehrungsküste vom Ausflusse
des Kurischen Haffs bis zu dem Dorfe Creuz in Zwischenräumen von einer Meile
Wachthäuser zu errichten und mit verlässigen berittnen Wächtern zu besetzen. Ein
Hafenpolizeibeamter schlug vor, einem Krüger bei Memel und dem PostHalter zu
Schwarzort, deuen bisher schon die Unterhaltung von Rettungsbooten oblag,
gegen eine müßige Summe die Errichtung, Ausrüstung, Bemannung und Kontrolle
von vier transportierbaren Wachbuden zu übertragen. Keines von diesen Pro¬
jekten wurde ausgeführt, aber sie erhielten doch das Bestreben der Behörden rege,
die Küste wirklicher zu macheu und die Rettuugsanstalten zu verbessern.
Zwischen 1825 und 1828 scheint das Mcmbysche Rettungsvcrfahren in
Memel Eingang gefunden zu haben. Am Ende des Jahres 1827 war der Memeler
Hasen schon mit einem Mörserapparat ausgerüstet, dessen Geschütz ein Kaliber
von 6^ Zoll hatte. Vermutlich war dem Vorsteheramte der Kaufmannschaft
diese Bereicherung der Rettungseinrichtungen zu danken.
Das Schreiben, in dem diese Einrichtung zuerst erwähnt wird, leitet einen
weitern Fortschritt der Memeler Rettungsanstalten ein.
In diesem Schreiben bat am 5. Dezember 1827 die Memeler Hafcnpolizei-
kommission den Kommandeur der ersten Brigade, Major Stieler. um Übersendung
einiger für den ö^zölligen Rettungsmörser passenden Leuchtkugeln und um
Angabe der bei dem Gebrauche dieser Feuerwerkskörper nötigen Elevation und
Ladung. Die Leuchtkugeln sollten bei Sttandungsfällen in dunkeln Nächten zur
Ermittlung des Ziels dienen. Die Korrespondenz, die sich darauf zwischen Major
Stieler und der Hafenpolizeikommission entwickelte, wurde der Anlaß zu einer
militärischen Idylle, in der eine seltne Frucht, eine tatfertige Mörserrettungs-
ftation, reifte.
Major Stieler bezeichnete in seiner Antwort ans das Schreiben der Hafen¬
polizeikommission Leuchtkugeln als ungeeignet zum Aufsuchen und Beleuchten
hilfebedürftiger Schiffe, da sie erst nach dem Fallen am Boden in vollen Brand
gerieten und leuchteten, seewärts geschleudert also ohne Licht zu spenden in den
Wogen verlöschten. Er schlug einen andern Lustfeuerwerkskorper vor. eme Rakete
deren Lenchtsatz sich erst dann entzündete, wem. das Geschoß kulminierte und
langsam fallend ein Helles Licht spendete. Die Rakete erschien ihm auch aus dem
Grunde für diese Verwendung besonders geeignet, weil sie bei Strandungen gegen
den aus See wehenden Wind abgeschossen werden müsse und gerade gegen den
Wind am seeligsten fliege. Er ersuchte um Mitteilung, wie weit die Raketen zu
Rekognoszierungszwecken seewärts fliegen müssen, da er selbst - und zwar
möglichst auf eigne Kosten - Versuche zur Ermittlung der notwendigen Elevation
und Vrennsatzkraft zu machen gedenke. Zur Anstellung umfassender Versuche
am Stationsorte versprach er im Januar einen geschickten und zuverlässigen
Oberfeuerwerker zu kommandieren. Er wünschte, die Anwendung der Leuchtgeschosse
bei Strandungen so vervollkommnen zu können, daß sie nichts zu wünschen übrig
ließe. Bei dieser warmen Teilnahme des menschenfreundlichen Offiziers erscheint
es fast überflüssig, daß ihn die Regierung im Februar 1828 bat, durch Versuche
zu ermitteln, wie das Ziel zur Nachtzeit am besten beleuchtet und wie die Leine
am sichersten geworfen werden könne. Obwohl die Forderungen des Dienstes
den Fortschritt des freudig begonnenen Unternehmens hemmten und Major
Stieler nur die Prüfung der Verwendbarkeit der Leuchtraketen erlaubten, gediehen
diese Versuche doch im Laufe des Sommers insofern zu einem Abschluß, als sich die
Brauchbarkeit der Raketen zur Rekognoszierung und Beleuchtung von Strandungs¬
stätten als wahrscheinlich erwies. Die Schießversuche mit dem Mortier mußten
dem Oberfeuerwerker aufgegeben werden, der endlich in den letzten Tagen des
September mit einem Bombardier nach Memel abging. Damit beginnt die Idylle,
von der ich oben sprach: zwei Artillericunterofsiziere schaffen den Schuppen des
Rettungsboots am Meeresstrande zu einem Feuerwerkslaboratorium um, sie
machen Sprengkörper, nicht zur Zerstörung, sondern zur Erhaltung von Menschen¬
leben, sie schleudern aus einem Mörser wiudwcirts Geschosse in See, nicht um
einem Schiffe den Strand zu wehren, sondern um eine schwanke Brücke über die
Kluft zu legen, die vom Tod bedrohte Brüder vom Ufer trennt, sie üben und
lehren die Künste, die sie gelernt haben, um Leben zu vernichten, im Dienste der
lebenerhaltenden Liebe.
Es waren zwei brave Soldaten, ihr Kommandeur hatte die Sache, die ihm
selbst lieb war, nicht schlechten Händen anvertraut. Der Oberfeuerwerker ver¬
stand mit der Feder trefflich umzugehn, er war Lehrer an der Brigadeschule,
die von ihm herrührenden Schriftstücke in den Akten der Memeler Hafenpolizei¬
kommission beweisen, daß sich schon damals unter den Unteroffizieren der preußischen
Artillerie sehr tüchtige Männer befanden. Daß die Regierung, ohne zu geizen,
nach dem Antrage des Brigadekommandeurs den beiden eine reichliche Zulage
genehmigte, mag zu dem Zauber des Ungewöhnlichen, der ihrer Tätigkeit am
Strande eigen war, noch den des Behagens gefügt haben, den auch bei Hackländer
Zulage und Extramenage über das Leben bevorzugter, mit ungewöhnlich tüchtigen
und märchenhaft milden Chefs begnadeter Artilleriekompagnien breiten, die auf
einem idyllischen Fort wie auf einer Insel der Seligen leben. An die Erzählungen
des rheinischen Artillerieromantikers erinnert nicht nur die Situation, in der
sich die beiden Unteroffiziere befanden. Was ich über sie aus den Akten er¬
fahren habe, hat mir zum erstenmal die Idealgestalten von Feuerwerkern und
Bombardierern, die Hackländer zeichnet, glaublich gemacht.
Wo stand der Herd, an dem die beiden Königsberger Artilleristen später
der Memeler Tage, vermutlich des Höhepunkts ihrer Dienstzeit, gedachten?
Wo sind die Kinder, denen sie von jenen Tagen erzählten? Väter erzählen
am liebsten von ihren Militürjahren, und Kinder wissen sich nach den Märchen
der Mutter nichts Lieberes als die Soldatengeschichten des Vaters.
Die musterhaft geschriebnen, ausführlichen Berichte des Oberfeuerwerkers
Köhler machen es mir möglich, seine Tätigkeit in Memel eingehend zu schildern.
Man gewinnt aus ihnen ein klareres Bild des Verfahrens und der ihm an¬
haftenden Schwächen als aus den knappen Protokollen der übrigen Schieß-
versuche, die im Bereiche der 1. Brigade veranstaltet worden waren.
Oberfeuerwerker Kohler hatte schon früher in Pillau an Mörserschießver¬
suchen zu Rettungszwecken teilgenommen, sodaß er Erfahrungen verwerten
konnte. Der zu Memel stationierte Mörser war ein preußischer Zehnvfünder.
Die ersten Schießversuche fanden am 17. Oktober 1828 statt. Als Ziel wurde
das aus Flaggenstangen und Tauen improvisierte Takelwerk eines Küstenfahr¬
zeugs verwandt. Das Geschütz stand 400 Schritt vom Ziel entfernt auf
einer Bohlenbettung. An den Geschossen waren feststehende Ösen angebracht.
Um die Wirkung des ersten Pulverstoßes auf die Leine zu mildern, wurden
neben der Leine Darmsaiten am Ringe der Öse befestigt, dann angespannt und
mit dem andern Ende so an der Leine befestigt, daß das Stück Leine zwischen
dem Befestigungspunkte und der Öse etwas länger war als die Darmsaiten.
Auf diese Weise gelang es, den der Leine gefährlichen Pulverstoß zu paralysieren.
Aalhäute und Strähne von Pferdehaaren, die zu dem gleichen Zwecke verwandt
wurden, bewährten sich nicht. Unter den elf Schüssen, die am 17. Oktober ab¬
gegeben wurden, befanden sich vier Treffer, zwei gingen zu kurz, bei den übrigen
riß die Leine trotz der Verstärkung durch Darmsaiten, Aalhünte und Pferdehaare.
Die Versuche fanden bei schwachem Nordwestwinde statt. Da aber nur
Resultate, die bei stürmischem Wetter gewonnen waren, für den Ernstfall ma߬
gebend und lehrreich erschienen, galt es weitere Versuche bei stärkeren Wind
zu machen. Zunächst brachte man. um die Leine gegen die zerstörende Wirkung
der Rotation des Geschosses zu sichern, an einer Bombe eine bewegliche Ose
an. Einen Probeschuß mit diesem Geschoß hielt die Leine aus.
Am 29 Oktober wurden abends nach Eintritt der Dunkelheit zwei Arten
von Leuchtraketen, die inzwischen von den beiden Artilleristen Hergestell
waren, probiert. Bei der einen Hälfte der Raketen bestand der Leuchtsatz in
lose eingeschütteten Leuchtkugeln, bei der andern waren die Leuchtkugeln in
Eisendrchtkörbchen gefüllt. Auch diese Versuche ander bei Mem Wetter statt.
Der Süderhaken. ewe in das Haff ragende Dime. die vom Schießstande un¬
gefähr 350 Schritt entfernt lag. sollte durch die Raketen beleuchtet werden
Die mit losen Leuchtkugeln gefüllten Geschosse wurden im 50. Grad abgefeuert,
sie stießen die Leuchtkörper prompt aus. und diese wurden infolge ihrer Leichtig¬
keit während ihrer ganzen Brennzeit schwebend erhalten Sie beleuch^^
durchschnittlich ungefähr acht Sekunden lang eme Flache von 100 bis 150 Schritt
im Quadrat so stark, daß jeder darauf befindliche Gegenstand deutlich sichtbar
war. Diese Leuchtdauer reichte zum Nichten des Mörsers und des Lotsen¬
boots vollständig aus. Die mit Leuchtkugelkörbchen gefüllten Raketen be¬
währten sich weniger gut. Sie mußten, da die Schwere der Körbchen ein
rasches Fallen der Leuchtkörper bewirkte, im 60. Grad abgefeuert werden. Die
in dem Drahtkörbchen vereinigten Leuchtkugeln fielen trotzdem sehr rasch zudem
wurde durch die Hitze der vereinigten Leuchtkörper die Verbrennung beschleunigt,
sodaß die Körbchen auch bei der großen Schnelligkeit des Falles, wenn sie so
weit gefallen waren, daß das Wasser erleuchtet wurde, fast keine Leuchtkraft
mehr besaßen. Auch diese Versuche ließen, da sie bei ruhigem Wetter ver¬
anstaltet wurden, kein abschließendes Urteil zu. Nur Versuche bei starken ans¬
tändigen Regenböen konnten über die Brauchbarkeit der Raketen im Ernstfalle
entscheiden. Da die sonst nicht mit Stürmen kargende Jahreszeit das zur
Abhaltung dieser Versuche nötige Wetter hartnäckig vorenthielt, verlängerte der
Brigadekommandeur auf die Bitte der Hafenpolizeikommission den beiden Ar¬
tilleristen ihren Urlaub. Erst am 22. November erhob sich ein Wind aus
Westen, der eine dem Ernstfalle ähnliche Situation schuf. Die Hafenpolizei¬
kommission setzte deshalb die Schießversuche für den folgenden Tag an und lud
das Vorsteheramt der Kaufmannschaft dazu ein. Bei diesen Versuchen wurden
verschiedne Arten, die Leine zum Schusse klar zu machen, erprobt. Man
wickelte sie zuerst auf einer nach vorn sich senkenden Bohlenlage vor dem
Mörser über Zapfen. Diese Art bewährte sich nur bei schwacher Ladung.
Wurde dagegen die Ladung verstärkt, so riß die Leine, vermutlich infolge des
Widerstandes, den die Zapfen dem Zuge der Bombe entgegensetzten, jedesmal.
Als man dann die Leine einfach vor dem Mörser auf der Erde ausbreitete,
wurde sie von der Bombe leicht aufgenommen und hielt ihren Zug auch bei
verstärkter Ladung aus. Ein von dem Oberfeuerwerker vorgeschlagner Kasten
mit Zapfen im Boden, die zum Aufwickeln der Leine dienten und zur Ver¬
meidung von Leinenbrüchen bei starker Ladung herausgenommen werden konnten,
wurde diesesmal nicht verwandt, scheint sich aber als brauchbar bewährt zu
haben, da man nach dem Weggange der beiden Artilleristen die Leine darin
aufbewahrte. Dagegen probierte man einen ebenfalls von Kohler vorgeschlagnen
und hergestellten Richtaufsatz an Stelle des Richtlots und fand ihn brauch¬
barer als das der Einwirkung des Sturmes unterworfne Lot. Um die Ro¬
tation des Geschosses zu verhindern, die häufige Leinenbrüche verursachte, füllte
man den zwischen Ladung und Geschoß leer bleibenden Teil der Kammer mit
einem Heupfropfen aus und hüllte die Bombe in Segeltuch. Dieses Verfahren
erwies sich insofern als vorteilhaft, als die bei der bisherigen Ladeweise er¬
reichte Schußweite nunmehr mit einer um acht Lot geringern Ladung erzielt
wurde. Auch die Verminderung der Rotation des Geschosses scheint dadurch
erreicht worden zu sein. Wenigstens riß die Leine immer nur an einer ziemlich
weit (15, 25, 23 Klafter) von der Bombe entfernten Stelle. Von den sieben
Schüssen wird nur der zweite als Treffer, der sechste und siebente als gut ge¬
richtet bezeichnet, der erste ging zu kurz, beim dritten, vierten und fünften riß
die Leine. Die Windstärke verminderte die Wurfweite nicht.
Am Nachmittag des 27. November fand bei ziemlich starkem Sturm wieder
eine Schießprobe statt. Dabei wollte man den Leinenkasten probieren. Allein
die neue Leine, die auf die Zapfen in dem Kasten gewickelt werden sollte, ver¬
wirrte sich dabei so, daß man eine ältere, an mehreren Stellen gespließte ver¬
wenden mußte. Man breitete die Leine wieder einfach auf der bloßen Erde
vor dem Mortier aus und traf auch im übrigen die gleichen Vorbereitungen
wie bisher, nur verwandte man statt der losen Ladungen Papierkartuschen und
gab den Geschossen statt der Segeltuchhülle nur eine Unterlage von Tuch, die
im Verein mit dem schon bei den letzten Versuchen erwähnten Heupfropfen die
Kammer genügend ausfüllte. Über das Resultat der Versuche ist in dem Be¬
richte nichts enthalten, als daß die Leine, obwohl sie gespließt war, alle sieben
Schüsse aushielt, ohne zu reißen. Man hatte sie vorher ausgekocht. Diesem
Umstände schrieb man ihre Dehnbarkeit zu. Die Versuche mit Leuchtraketen,
die an demselben Tage nach Eintritt der Dunkelheit vorgenommen wurden,
ergaben, daß die Leuchtkraft und Leuchtdauer der Raketen ausreichten, auch bei
sehr dunkelm Wetter ein gestrandetes Schiff aufzusuchen und die Schußrichtung
durch Feuermarken festzulegen. Allerdings erwies sich die Rakete wieder als
ein launenhaftes Geschoß, von den fünf Raketen, die verfeuert wurden, krepierten
zwei beim Entzünden des Treibsatzes.
Ausführlicher ist der Bericht über die Schießversuche, die am 29. November
ebenfalls bei ziemlich starkem Sturm aus Nordnordwest angestellt wurden. Die
Leine hielt die sieben mit Ladungen von vierzehn bis achtzehn Lot abgegebnen
Würfe aus. die Darmsaiten dehnten sich im ganzen nur um einen halben Zoll,
und die Geschosse hielten im Durchschnitt die Richtung sehr gut. Die beiden
ersten Schüsse gingen zu kurz, der dritte und der vierte trafen das 400 Schritt
entfernte Ziel, beim fünften, sechsten und siebenten trug das Geschoß die Leine
über das Ziel. Die drei letzten Schüsse waren demnach Treffer.
Mit diesem Versuche, der mehr als die frühern die Anwendbarkeit des
Mörserapparats erwiesen hatte, war die Aufgabe der beiden Königsberger
Artilleristen gelöst. Sie hatten die passende Ladung, die beste Ladewelse, die
nach dem damaligen Stande der Technik zweckmäßigste Art, die Leine am Ge¬
schoß zu befestigen und flugbereit zu machen, ermittelt in der mit Leuchtkugeln
gefüllten Rakete ein zur Rekognoszierung des Strandes und des Vorlandes
brauchbares Leuchtgeschoß geschaffen und nicht nur zwei im Dienste der Hafen-
Polizeikommission stehende frühere Artilleristen, sondern auch die Mitglieder der
Kommission in der Bedienung des Mörsers unterrichtet. So hinterließen sie
die Mörserstation zu Memel in einem Zustande, der von der Anwendung der
Nettungsgeräte im Ernstfalle guten Erfolg erwarten ließ.
So guten Erfolg, wie eine andre mit Angehörigen der 1. Brigade bemannte
Mörserstation fast um dieselbe Zeit auf der Frischer Nehrung hatte.
Am 17 Oktober 1328 begann Oberfeuerwerker Kohler in seinem Labora¬
torium am Strande zu arbeiten. Am 18- Oktober stand ein Mörser der
Pillauer Garnison, von Freiwilligen bemannt und geführt, in ernstem Kampfe
der wütenden See gegenüber. Zehn Menschenleben waren der Kampfespreis.
Die Artilleristen gewannen ihn- ^. .
^^
Wie sie ihn gewannen, habe ich aus Berichten entnommen, die im Jahr¬
gang 1836 des Archivs für die Offiziere der Königlich Preußischen Artillene-
und Ingenieur-Korps und im Jahrgang 1828 (Ur. 133, S. 1791) der Königlich
Preußischen Staats-. Krieges- und Friedens-Zeitung (Königsberger Hartungsche
Zeitung) enthalten sind.
Der erste Bericht, der sich am Schlüsse eines Artikels über „Ergebnisse
einiger Versuche vermittelst Bomben Leinen nach gestrandeten Schiffen zu werfen"
befindet, ist nach Inhalt und Form der wertvollere, obwohl er erst geraume
Zeit nach dem Ereignisse veröffentlicht wurde. Er dürfte auf dienstliche Quellen
zurückgehn, als Verfasser vermute ich Oberstleutnant Stieler. Nach diesem
Berichte wurde am 18. Oktober 1828, als das Elbinger Schiff Amphitrite beim
Möwcnhccken an der Frischer Nehrung gestrandet und ein Versuch der Pillauer
Lotsen, mit dem Rettungsboot Hilfe zu bringen, fehlgeschlagen war, die
Pillauer Kommandantur ersucht, schleunigst einen Mörser mit Munition und
Bedienungsmannschaft zu senden, um dem gestrandeten Schiffe durch eine
Bombe die Rettungsleine zuzuwerfen. Die Pillauer Station scheint um diese
Zeit einen halb militärischen Charakter gehabt und ihre Existenz einer Ver¬
einbarung zwischen der Königsberger Regierung und der Pillauer Komman¬
dantur verdankt zu haben. Der Rettungsbericht hat folgenden schlichten Wort¬
laut: „Nach vielen Schwierigkeiten und Gefahren wurde der Mörser an der
entgegengesetzten Seite") der Nehrung gelandet, über die Sandberge am Strande
gezogen, unter Leitung zweier Artillerie-Offiziere, der Lieutenants von Noggen-
bucke und Bartsch, dem Schiffe gegenüber aufgestellt, und mit dem 4ten Wurf
wurde die Leine glücklich an das Schiff gebracht. An die Leine wurde ein
starkes Tau gebunden, und als dieses aufs Schiff gezogen und an dem Mast
befestigt war, wagten es die Lootsen und einige Bewohner der Nehrung, sich
längs des Taues mit dem Boote mehrmals in die Nähe des Schiffes zu
ziehen. Die Schiffsmannschaft ließ sich vermittelst Schleifen, die um das Tau
geschlungen wurden, in das Boot herab. — Die aus 10 Personen bestehende
Schiffsmannschaft wurde auf diese Weise gerettet. Doch ein auf dem Schiff
befindlicher Seelootse stürzte, indem er sich an dem Tau herabließ, zwischen das
Schiff und das Boot in die Brandung und ertrank. Ein ebenfalls auf dem
Schiffe befindlicher Steuerbeamte hatte durch letzteren Vorfall erschreckt, nicht
den Muth, sich herabzulassen und blieb auf dem Wrack zurück, wurde jedoch
Tages darauf, als die See ruhiger ging, glücklich ans Land gebracht. Soviel
bekannt ist dies die erste glückliche Anwendung des Mörsers auf dein Festlande
gewesen, die Mannschaft eines gestrandeten Schiffes zu retten."
Dieser Bericht wird durch die in Nummer 133 des Jahrgangs 1828 der
Königsbergs Hartungschen Zeitung enthaltne Schilderung des Ereignisses er¬
gänzt. Die Worte: „Nach vielen Schwierigkeiten und Gefahren", womit im
Archiv der Transport des Geschützes und der Bedienungsmannschaft zu der
Strandungsstütte gestreift wird, lassen vermuten, daß es sich bei der Tätigkeit,
die die Pillauer Artilleristen an jenem Sturmtage entwickelten, um mehr ge¬
handelt hat, als um eine Schießübung mit dem zehnpfündigen Mortier. Diese
Vermutung wird bestätigt durch folgende Sätze des Zeitungsberichts, die sich
an die Feststellung der Unmöglichkeit, dem gestrandeten Schiffe mit Booten zu
Hilfe zu kommen, anschließen: „Trotz des heftigen aus Nordwest und Nord¬
nordwest tobenden Sturmes wagten es die beiden Artillerieleutencmts der Pillauer
Garnison, von Roggenbucke und Bartsch, an die sich drei Kanoniere auf die
erste Aufforderung freiwillig anschlössen, das große Rettungsboot, nachdem sie
den Mortier und dessen Munition eingeladen hatten, zu besteigen und auf die
Geschicklichkeit der durch Geldverheißungen gewonnenen 16 Lootsen und ihr
Glück vertrauend, die wütenden Wellen zu durchschneiden. Um 2 Uhr Nach¬
mittags fuhren sie ab. wurden aber eine Strecke ins Haff getrieben, da die
Seile am Sturmsegel zerrissen und es viele Mühe und Zeit kostete, sie wieder
zu befestigen. Um 4 Uhr langten die kühnen Schiffenden, völlig von den
Wellen durchnäßt, dem Wrack gegenüber, auf dem Möwenhaken an. Sie mußten,
bis an die Brust im Wasser gehend, das Geschütz und die Munition ans Land
tragen - Der vierte Schuß bereits brachte die Leine über das Schiff. ...
Um 8 Uhr fuhr der Seelenberger (so wird das große Rettungsboot genannt)
mit der Zahl seiner Retter und Geretteten nach Plllau und kam daselbst um
9 Uhr Abends wohlbehalten an." .- -
irddenbeide
In dieser Schilderung des Ereignisses wn Artillerieoffizieren
nicht nur das Verdienst der Ausführung, sondern auch das der Anregung des
Rettungsversuchs zugeschrieben. Beider lebhaften Teilnahme, die die preußische»
Artillerieoffiziere dem Rettungswesen entgegenbrachten. P e.ne solche sel ständige
Beteiligung am Nettungswerk gar nicht unwahrscheinlich. Gleichwohl glaube
ich dem in diesem Punkte ausführlichen, wenn auch nicht ganz klaren Berichte
im Archiv folgen und annehmen zu müssen, daß die Amegung zur Anwendung
des Mörserapparats von der Hafenpolizeikommisfion ausging, er. wie ich oben
erwähnt habe, von der Regierung die Anwendung des Manbyschen Apparats
im äußersten Notfall gestattet worden war. Die Artillerieoffiziere und die
Mannschaften, die sich ihnen anschlössen, haben in diesem Ernstfalle in Fnedens-
zeit ihre Fähigkeit, sich rasch zu entschließen und op ermutlg der Gefahr ent-
gegenzuaehn bewiesen. Der König belohnte die Tapferkeit, die sie im Frieden
bewährt hatten, durch die Verleihung der ersten Klasse des Allgemeinen Ehren¬
zeichens an die Leutnants von Roggenbucke und Bartsch und der zweiten Klasse
desselben Ordens an den Unteroffizier Wächter, den Bombardier Ströbel und
die Kanoniere Bensch und Blum. Leutnant von Roggenbucke und die Mann¬
schaften gehörten der nach Pillau detachierten 4. Fußkompagme der 1 Artillene-
brigade an. Leutnant Bartsch war nach Pillau zur Handwerkssektion der Brigade
kommandiert. . ^ . ^
Die Rettung auf dem Möwenhaken ist eme der schönsten Episoden in der
Geschichte des deutschen Küstenrettungswesens. Ich verweile gern bei diesem
Ereignis. Es tut mir so wohl, den frischen Wage- und Opfermut der Jugend
des Heeres im Dienste der Nächstenliebe zu sehen. Der Anblick ist tröstlich,
mag ihn auch ein längst vergangnes Geschlecht bieten. Denn die Enkel sind ihrer
Großväter wert.
Dem Kanoniergeneral, dem Artillerissimus des preußischen Heeres - so
nennt ein Biograph den Prinzen August von Preußen, der damals General¬
inspekteur der Artillerie war —. entging die friedliche Tätigkeit der Brigade, die
ihm besonders nahe stand, nicht. Der artilleristische Charakter des neuen
Rettungsverfahrens schien ihm die Möglichkeit zu bieten, mit der Verbesserung
der Rettungseinrichtungen die Versorgung invalider Artillerieoffiziere zu ver¬
binden. Nach einem Schreiben der Königsberger Regierung an die Memeler
Hafenpolizeikommission sprach er im Jahre 1829 die Absicht aus, einen inva¬
liden Artillerieoffizier in Memel zu stationieren, der bei Übungen und Rettungs¬
versuchen die Anwendung des Mörserapparats zu leiten hätte. Leider enthalten
die Akten keinen Anhaltspunkt dafür, daß dieses Vorhaben in Memel oder an
einem andern Küstenpunkte ausgeführt worden ist. Zwei Jahrzehnte später
übernahm ein Artillerieoffizier vom Platz in Stralsund freiwillig die Geschäfte
eines Artillerieoffiziers vom Strand in Vorpommern und auf Rügen.
An dem Strande, den einst die Preußische Artilleriebrigade bewachte,
stehn jetzt vier Feldartillerieregimenter und zwei Fußartillerieregimenter, die zu
einem großen Teil direkt von ihr abstammen. In der Geschichte dieser Regi¬
menter verdient der Anteil, den die Stammbrigade an der Förderung der
Rettuugseinrichtungen nahm, ein eignes Blatt. Auch dieses Blatt erzählt vou
Treue und Tapferkeit.
WvT.! em in Ur. 32 und 34 der Grenzboten 1906 näher erwähnten, 1710
in Ulm erschienenen Kommentar Fröhlichs zu Kaiser Karls des
Fünften Peinlicher Halsgerichtsordnung ist ein kulturgeschichtlich
^merkwürdiges und jetzt sehr seltenes Werk an die Seite zu stellen,
sitas 1630 in Rinteln an der Weser erschienen ist.
Dieser Schweinslederoktcivband nennt sich „^roosssus ^uriäiou8 contra sag-as
se vsnsüe,o8, das ist: Rechtlicher Proceß, Wie man gegen Unholdten und
Zauberische Personen verfahren soll. Mit Ermöglichen Exempeln und wunder¬
baren Geschichten, welche sich durch Hexerey zugetragen, cmßführlich erkläret.
Uns. euw, DgoisiombnZ Huasstionnm mano ufte-riam, psrtinontwm". Als
Verfasser nennt sich Herman Göhausen, Doktor und der Pandekten Professor
an der Universität Rinteln, einer der ersten Lehrer, die 1621 gleich bei ihrer
Gründung durch Ernst den Dritten, Grafen zu Schaumburg und Holstein,
dorthin berufen wurden. Er stammte aus Vrakel, war gräflich schaumburgischer
Rat und eine Koryphäe in allen Fragen der Hexenprozesse. Kaum hatte er 1630
diesen Prozeß gegen die Zauberer und Giftmischer geschrieben, so wurden die
betreffenden Stiftungen von Benediktinermöncheu unter Berufung auf das
Restitutionsedikt in Besitz genommen, und die Professoren, denen sie den Gehalt
abnahmen, wurden Vertrieben. Wohl infolge dieser Wirren ist das in Rede
stehende Werk, das noch in der akademischen Druckerei hergestellt ist, zu geringerer
Verbreitung gelangt. Die ^äemm Lruo8den. wurde 1642 wiederhergestellt,
sie war. nachdem der südliche Teil der Grafschaft mit Rinteln 1647 an Hessen
gefallen war. diesem Lande und Schaumburg-Lippe bis 1666 gemeinsam und
ist 1809 von der westfälischen Negierung aufgehoben worden; em Exeniplar
von Göhausens Werk aber ist von einem der letzten dortigen Mistischen Pro¬
fessoren durch Erbgang auf den Einsender gekommen. Angesichts der außer¬
ordentlich großen Zahl der Hexenprozesse un sechzehnten und wi siebzehn en
Jahrhundert laßt es sich begreifen, welchen Wert em solcher Leitfaden^ wie
der in Rede stehende, zu jenen Zeiten hatte, namentlich da er von einem Manne
ausging, der als Richter und Sachverständiger in diesen Prozessen großen
Einfluß in jenen Wesergegenden sowie in dem vor allem damit behafteten
lippischen Lande ausübte. . ^ ^ » -
<l
Der ..Traktat" zerfällt in fünfzehn Titel deren erster uberMeben s :
..Weh sich der Inquisitor oder Richter. Er sey GeMch o er Weltlied, bey el
Peziali chen Inquisition, so er gegen ein Zaubernde Per on vornehmen will
zuverh l en hab .» Hier wird ausgeführt: ..Damit ein verse^ mit
guter mmenner vrocedire" müsse er bestimmte Punkte fleißig in acht nehmen,g ter an r proc a - uuM' l inquiriret. nit allein einesnämlich erstens müsse die P^n^an . > ^uutmtion^ der nnt-bösen Gerüchts seyn", sondern sie '» sie auch ^ ^gespielen der Obrigkeit be aun gen^ ^ ^.daß ein gemein GeschO. °non^ ,^ ^ ^ ^ ^.^enugsam sei. denn em W ^ so uro° ^.^ ^ aufgefangen". Würdedem gemeinen Pöffel. der solches paw ' -> ^ ^. M^.^das Zauberey-Laster durch Zeugen rechtmaß'g.pr°wee ^billig? Ursach. w iter zu inquiriren. Das allem sei jedoch zur Tortur noch
nicht genngs ab". E n luäioww liege vor. wenn die eschnene P son l
ihren b? Re h gedacht worden, sich Mein verra ihre Hansstatt erlaß
^ / . c^» ^17 ^ sick Zutragen würde, daß man auf einesn sich flüchtig macht "Z" T sich ^ ^ ^höheren Standtes Per on inqumren ion, » » > . ^ - »k.
grösser seyn", schließlich müsse man ..Digmtät und Laster" gegeneinander ab-
^^
Derzweite Titel behandelt die Frage: .Mit welchen ^ ^ Nich^r
fueg und echt hab die Gefangenen zu Torqmren und zu Foltern. Hierzu
seien groß r?An M n moti : Etliche ^nor°° seynd dero Meinung, da man
ohn eintzige ante^ »klein von wegen eines Zeugen oder Complicen
Bekanntnuß ^ ein n K«um oder Gefangenen Awld wrguiren--. sie our^i
aber von andern widerlegt, und ein „Gotts urchtiger Richter müsse d^kanntnuß zweyer Complicen fordern». S° hatten sich auch le Uno^zu Bologna. Padua. Freiburg und 1602 auch zu Ingolstadt in.sgespr chen.
Die Lehr, daß eines ..Zeugung" genüge, w '''^ ^^'^"lebt fast sicher
weil die e Leut und ConVplices means« seind an Gott meineydig" ""de
Zusammenkünfften und Handlungen. bei welchen sie einander sehen, im finstem
und mehrers theils in der Nacht gehalten werden", dann aber auch „weil die
arglistige und falsche Geister die Richter und die Zauberehverwandten selbsten
perplex und irrig machen". Mehrere Zeugen müßten bei diesem heimblichen
Laster zur Captur und zur Folter genügen. Nach täglicher Erfahrung habe
auch vieler Complicen Aussage kaum oder nimmer fehlgeschlagen, sonst könnte
ja auch die Sache schwerlich einen Fortgang haben, denn woher könne der
Richter, wenn er infame Zeugen verwerfen wollte, Zeugnis eines aufrichtigen
Menschen bekommen. Ein Frommer könnte ja von den Schandtaten nicht
zeugen, wenn er sich nicht zuvor „mit Ergebung Leibs und der Seelen in die
verdambliche Gesellschaft eingelassen hat". Wenngleich aber Kaiser Karl der
Fünfte nicht ausdrücklich gesagt habe, daß das Bekenntnis von zwei Zeugen
nötig sei, so „thut doch solches nichts zur Sach", weil er es auch nicht „ver-
botten" habe.
In einem weitern Titul wird eingeschärft, daß der Richter, ehe er „die
Tortur vor die hardt nimmt", wohl erfahre, ob nun alle möglichen Mittel an
dem Beschuldigten versucht seien, und wenn er das Laster gütiglich bekannt hat,
soll er „nit allein des Lasters halben gefoltert werden". Der Verfasser ist dafür,
daß bei der Anwendung der Tortur gewissermaßen noch möglichst human ver¬
fahren werde; dahin rechnet er hauptsächlich, „daß dem Rso, nachdem er sich
mit Speiß und Tranck gelabet hat, noch ein ziemliche freye zeit, als 5 oder
6 stund, vergönnet werden, damit er die eingenommene Speiß nicht unverdüwet,
mit Schmerzen wider von sich gebe"; sodann soll „wohl in acht genommen
werden, daß nicht etwa durch scharpffe instruments, oder grobe Leut in der
Folter dem Rso die Bein und glieder dermassen zerrissen werden, daß er nach¬
her, wo er unschuldig erklärt würd, weder ihne selbsten, noch andern im Leben
etwas mehr nutz. Ursach: Es muß der Rhus vor und nach der Tortur nach
Leibsvermögen gesund bleiben und sowohl zur entlassung als wider zur Folter,
wo es von Nöthen wer, bequem und starck seyn." Es würde daher ein Richter,
„sehr unfreundlich, ruhmsüchtig, auch übel handeln, wenn er einen Menschen
nicht mehr als ein Besel oder Viehe achten oder mit herber Bitterkeit alles
herauß pressen wolt". Es ist zwar, heißt es weiter, „nicht ohn", daß in diesem
Hexerei-Laster die Richter mehr Ursach haben, mit scharpffen Fragen zu procediren,
„denn es ist so weitläufftig, daß es fast alle andern in sich begreifst, die aller
höchste Mayestät Gottes dadurch fast verunehrt, die gantze Christliche Gemeine
verletzt, Menschen und Viehe, Fett- und Baumfrüchten verunreiniget, Leib und
Seel deß verheißenen Paradeyß beraubt und den verdampten Gottlosen Geistern
in der Höllen zugesellt werde", jedoch solle ein Gottsfürchtiger Richter eingedenck
seyn, „wie er es demander vor Gott vertrawet zu vertheidigen". Weiter solle
man, damit Unbilligkeit verhindert werde, nicht allezeit auf unerhörte neue
Weise und Manier zu foltern bedacht sein, sondern es werde fürs beste gehalten,
daß man sich an den „gewöhnlichen Landsbrauch" halte oder wie er „von der
Catholischen Geistlichkeit zur Zeit wirdt für gut erkannt". Und zur Zeit sei „im
brauch, daß ein Reu8 nicht über ein Stund und in eim Tag nit mehr als
einmal gefoltert sol werden". .
„,^
Was andre Arten zu foltern betrifft, so „als man zur Prob die Unholden
in tieffe Wässer sencket oder aufs Kohlen oder glüend Eyssen tretten last", so
seien sie vom „Bapst Honorio III verbotten. weil nicht allein viel abergläubische
8axer8tit,iov.o8 mit einschleichen, sondern auch ungewisse xrowt-ioiiös seyn, wie
dan auch der Almächtig Gott nicht einem jeden seine Wunder zeygen wil.
Solches aber von Gott zu begeren oder bei der y^lion zu erfahren, heist aus
grobem Verstande mit Sünd Gott versuchen. Diese Prob ist von deß bösen
Satans Listigkeit eingeführt worden." Ms aber der Richter dennoch jemand
auf diese Weise zum Bekennen gebracht hat. so könne dieser, wie viele Doktoren
lehren, nicht mit Recht zum Tode verurteilt werden. Nun gebe es noch eine
„newe und Leichte Manier, die Reo8 zur Bekanntnuß zu bringen": Marsilms
rede nämlich aä I. 1 as auaest,. von einem „untrüglichen Folter der Unschläffig-
keit oder embsiges Wachens; der Reu« werde auff ein Bauet gesetzt und zween
darzu bestelle Knecht werden ihme zugesellet, diese verHuten fleißig daß er
nimmer einschläffe, weder deß Nachts noch am Tag. und wann der Leu« das
Haupt auff ein Seht hencken läst und Wässerig ist. stoßt ihn der Knecht so
auff derselben Sester sitzt und hebt ihm den Kopff wider aussi Desgleichen
thut der ander Knecht wann er auff der ander Seht hencken »"d schlaffen w:l
Wann aber die Knecht müde seindt. s°l man zween andere wachsame Knech^herbeiwringen." Dies Weise, sage Marsilius. se. oft gluck ich versucht, und sie
empfehle sich als lind, weil sie „dem Leib nit wehe thut". Sie werde auch
jetzt an etlichen Orten angewandt, wiewohl etwan ein Krankheit daraus zu
besorgen sei. wie man infolgedessen auch „leicht von sinnen" komme oder in
Sinn dermaßen verändert" werde, daß man „Weiß für Schwartz zur Antwort
giebt". Derowegen werde fürs beste gehalten, daß an Ma Orte die gebräuch¬
lichen Instrumente und Tortur beibehalten werden; die Akademie in Freiburg
freilich gestatte auch neue Arten. Übrigens nasse da es bisweilen in Flecken
und Dörfern schlechte Leute gebe, die zu diesem Gerichte zugezogen werden,
den Folterknechten auf die Finger gesehen werden. sonst konnte em Fehl be¬
gangen werden weil solche Leute „nit auff die Menschen, sondern allein auff
das Gelt sehen"; alsdann müsse ein verständiger Richter mit andern weisen
Leuten, die durch Examen wohl verordnet und gezogen seien, neue Knechte
heranziehen
Daß man dem Angeklagten das Haar abschneiden lasse, ihm einen Sack
anlege und mit dergleichen ihn zur Tortur präpariere, könne ohne Sund und
aus guter Meinung wohl geschehen; auch damit er kein verbottene Such oder
Kunststück bei ihm verborgen halte und die Verbundnuß mit dem bösen Geist
leichtlicher entdecket werde, wird diese Ceremoni in Iribuua1ihn8 für gut erkant ;
wenn aber einer glauben sollte, der Rhus müsse nach abgeschnittenen Haaren
gleich bekennen, so sei dies „ein Mißglaub" und solle zu diesem Ende acht
gebraucht werden. Übrigens pflegten „die Zauberer «dier^oteres, Zeichen,
Wurtzeln und dergleichen Lumpensachen, die sie von dem Bösen überkommen,
in den Haaren und andern örthern des Leibs verborgen zu halten, welche
bisweilen, jedoch nicht allzeit, ihnen durchhelffen".
Von einem solchen, der „Zauberische odar^otörss und Buchstaben bey ihme
hatte", schreibe Le-ini^ins lib. 2 äasinon. <z. 4: „Daß zu der zeit, als Lilsrius,
der Königin in Dennemark Christiana führnehmer Rast, war heimblicher weiß
umbgebracht, als balt ein fleissiges nachfragen erfolget, ist einer auß denen,
die umb die Sach Wissenschaft trugen, LeiÜAvus mit namen von freyen Stücken
dem IncMsitori oder denen die in suchten, entgegen gangen, dieweil er sich aufs
etliche Teufflische buchstaben, so er von einem Marckkrämer oder Stöhrer über¬
kommen hat, Verliese: und hat ihm auch der Anschlag wenig gefehlt, dann die
Folter Instrumenten feinde eher zerbrochen, als er bekannt hat. Zuletzt, weil
ihn sein Gewissen beängstiget und die That lenger nicht verbergen kundt, hat
er selbst freywillig bekannt und ist enthaupt worden."
Was die Vernehmung der der Zauberei Angeklagten betrifft, so seien
bestimmte Fragen vorgeschrieben, namentlich was für eine „Eydpslicht" sie dem
verdampten Geist leisten, mit welcher Feierlichkeit dies zugehe, wie sie hinaus
„auf die Zauberischen Dcmtzplätz gebracht werden", „ob sie wachend zu den
zauberischen Zusammenkünften und durch die Lufft leibhafftig fahren, mit was
Gelegenheit sie hin und her kommen, ob es ihnen vielleicht bißweilen geträumt
habe, ob sie ihre Mitgespielen und böse Geister an solchen Orthen durch eine
Verblendung oder aber wesentlich mit äugen gesehen haben, was für Opffer
und Diensten sie ihrem Abgott erzeigen müssen, wie vit und welche Zauberische
Leut mit ihnen aufs den Hexeplätzen und bey den Geistern gewesen seyen, wie
lang sie sich pflegen auffzuhalten, an was örther, in der Wiltnuß in Bergen
oder fremden Hausiern".
Die Frage, ob ein der Zauberei Angeklagter mehrmals gefoltert werden
dürfe, wird sehr ausführlich behandelt. Solange der Richter noch in Zweifel
ist, ob genügende Ursache dazu vorliegt, soll er davon absehen, ebenso wenn
der Beklagte nicht „leibsstarck" genug ist, im allgemeinen aber sei es in Rechten
erlaubt. Die Gründe der Wiederholung sind: wenn neue, wichtige Anzeichen
vorliegen, sodann weil der rhus in der ersten Tortur wegen Krankheit „nicht
ganz oder complet gefoltert war und wegen der milderen Applicirung der
Instrumente zu geringe Peyn ausgestanden" habe, sodaß er sich nun „durch
völlig angetragene Tortur recht purgiren" müsse. Es sollen aber wenigstens
zwei oder drei Tage zwischen beiden Torturen liegen. Ferner wird die Folter
wiederholt, „wann rsug oder rsa sein oomMoss und Zauberische Mitgespielen
nicht nennen wil, dann sie wird selten ohn Geselschafft angefangen, wie man
in IribunaliduL jederzeit erfahren hat. Und wirdt dieses in allen Gerichts¬
stätten ungezweifelt observirt." Der vierte Grund zur Wiederholung der Folter
ist, wenn rhus oder rsg, von dem bei der ersten Folter abgelegten Bekennnis
„Wider zurückschlegt". denn durch dieses Leugnen würden die ersten mäioia
wieder lebendig. „Den Richtern aber sol jederzeit Gott für Augen stehen, daß
sie in aller Billigkeit und als mildreich Menschen mit den rsi8 auch ein Mtt-
leyden zutragen gesinnt seyen. So wird dann alles in guter Ordnung, nach
Gottes und der Rechten Meynung von ihnen gehandhabet und zu ihren grossen
Lob und Verdiensten bei dem gerechten Gott verrichtet werden; der liebe Gott
auch, dessen gröste Gnad und Hilff sie sonderlich bey diesem tunckel Hexercy-
Handel wol zu begehren Vonnöthen haben, wirde ihnen sein getrewe Hand
bieten und helffen. daß deß Zauberey Lasters halben Beklagter entweder bald
zur Bekanntnuß gebracht oder im Fall sich einer genugsamb purgirt hette. der
Peyn bald entledigt werde." Darüber, ob dreimal soll gefoltert werden, seien
die Doktoren beider Rechte verschiedner Meinung; die Minderzahl halte es und
zwei malen, und mit dieser mittlern Praxis werde es jetzigerer in Germanen
gehalten. „Weil aber in dieser Sach die Ma ooniinunia keinen Außschlag zu
geben haben", halte man sich an den Brauch des Orts und so müsse auch wohl
ein sehr harter und starker Mensch die dritte schwere Pein ausstehn; was aber
darüber geschehe, wäre „zu viel und schier Nicht menschlich. .unt om^.
Dreymal ist Göttlich, hält das gemein Sprichwort Und drey Mteruugen .
spricht Lo «ins as wrwra. sei nie ..von frommen, sondern von bösen Richtern
. . . -< ?>as, aber bisweilen eme zweimal repetierteunterweilen über ahneten worden - ^ no^ ^ ^ - col^l;,.-c-r- . - s,«^n.^ hierzu wird em Bericht des MarsiliUsTortur nicht ausreicht, sei bekannt, s^s» „ ^ , « / . . ^.^„s.^erwähnt, wonach ein Dieb in der Folter immer alles be eure. bei Gericht ab
immer wieder geleugnet und als Grund angegeben habe, daß ihm lieber tan endmal
die Arme zerbrochen würden. ..als die Gurgel oder Keck nur einmahl, denn
man finde noch viel Medieos und Balbirer we che dre Bem der zer wehren
Arm wider können zusammen und in ihre alte statt setzen; aber es ist kein Atz
s° gut. der einem die Gurgel. wan sie gebrochen, könne wider gantz machen ^
Zum letzten wird die Tortur repetiert, „wenn die zauberischen Personen nach
ihrem Geständnisse vom bösen Feind beängstigt und gemartert werden, welcher
sie auch mit schlagen zu zwingen sich unterstehet, daß sie von Gott wider ab¬
fallen und alles lüugnen sollen". Endlich soll keiner gefoltert werden, „der seine
Laster vor Gericht bekant hat", ausgenommen der „Mitgespielt wegen. Hier
wird ein FM aus dem Jahre 1587 mitgeteilt, wo sich in Lothringen ein Weib
nicht selig genug habe schätzen können „von der Zeit an. von welcher sie ihre
Zaubereybekantnuß vor Gericht gethan hatte, bannt sie sich nun mehr wider
dem L. Gott und dessen Heiligen diensten ergeben kömbt und von der verfluchten
und sehr Tyrannischen Dienstbarkeit deß Höllischem Trachens sich entlediget
hätte".
Es geschieht auch wohl, so wird weiter ausgeführt, daß „mißglaubige oder
ouriosi Mioss" mit solchen freiwilligen Bekenntnissen nicht zufrieden seien, weit
sie sie nicht verstehen oder nicht glauben wollen, daß die bekannten Manier
Taten wahrhaftig geschehen seien, sondern vielleicht auf ein dunkel Gesicht
oder Verblendung der Augen beruhten. Diese möchten dann wohl an Phanta-
seyen glauben oder als „heimliche getrewe Hexen-xatrom die Sache gern
disputirlich machen und vertuschen". Wie unglücklich aber solche Eyfferer diesen
Handel führen, habe man öfter bei?ribuvMbus gesehen. Von diesen Richtern
werde solche wichtige Sache nicht anders versehen, als wenn es sich nicht um
Gottes Ehr oder der Seelen höchstes Gut, sondern nur um den Pfennig zu
tun wäre, wobei es ihnen gleich viel sei, ob dieses Laster ausgereutet oder
fortgepflanzt werde. „Daher dann etliche Richter gefunden werden, welche mit
den Hexen eben wie ein Katz mit der Mauß spielen und lassen sie auff den
stecken fahren oder wider kauften oder übergeben eine dem Heneter zu ver¬
brennen." „Solchen Fürwitz, wiewohl aus guter Meynung", habe mit einem
Zauberer einmal der Groß Hertzog in Reussen geübt, wie Garzonus schreibe:
Dieser König habe einen Gefangenen Namens Lycaon gefragt, ob es wahr sei,
daß er sich in einen Wolf verändern könne. Aus die Bejahung habe er dies,
auf Wunsch des Königs, in einem besonder Gemach vermöge der Kunst, die
er vom Teufel gelernt habe, getan „und ist auf stundt alsbald zum Wolff
worden und mit feurigen Augen und blückender Zän, grausamen auffsperrung
deß Schlunds und auffgespreusten Brüsten ging er bei den Hütern umb".
Darauf seien „zween Docken auf dieß cibschewlich nionstrum gehetzt, so ihn
zerrissen haben". In diesem Falle, so entwickelt der gelehrte Professor, sei der
König noch gut weggekommen, aber, wie Jesus sprach sage, wer die Gefahr
liebt, werde darin umkommen; das hätten vor etlichen Jahren luZioos in
Weltschland erfahren, als sie der Bekenntniß einer Zauberin wenig glauben
geben wolten, sie Hütten dann die Wunder selbst mit Augen gesehen. Es schreibe
nämlich „der berümbte scribere Oninarms, was sich in dem Flecken Mendristo
hab zugetragen: Vor 50 Jahren habe sich der Richter mit einem Notar von
einer Zauberin an einem Donnerstag abend auf ihren Zauberdäntz oder platz
führen lassen; dort hätten sie viele Leute um einen »gleichfalls sehr grossen
Herrn getroffen (es war der Teuffel in ein Böckh gestalt)«, auf dessen Geheiß
die vielen Leute jene beiden »dermassen gebrügelt und zerschmissen« hätten, daß
sie in 15 Tagen gestorben seien. Diese Wunder und schröckliche History sollte
anderen iuynisitMibus zur Warnung seyn, daß sie sich in ihrem Nefihr halten."
Das den Leuten würdigern Standes zustehende Privileg milder Torquierung
wollten ihnen einige Skribenten „abzwacken".
Ein besondrer Titel befaßt sich mit der Frage, ob ein Bekenntnis für
giltig angesehen werden soll, wenn es durch des Richters falsche Verheißung
hervorgerufen ist. Sie werde von einigen, darunter v. Bodinus, der rühmliche
von Hexerei handelnde Bücher geschrieben habe, bejaht; aber diese Lehre sei
smAularis. neu und falsch, und dieses Buch sei vom Tridentiner Concil den
Catholischen verboten, denn wer Lügen redet, komme dabei um. Nicht lügen
heiße aber, durch zweideutige Worte einem fürwitzigen oder bösen Menschen die
Wahrheit verbergen; von etlichen würden die Richter entschuldigt, die mit
geschraubt und bewickelten Worten die Beklagten überredet haben. Andre Fälle,
in denen man die Unholde mit falschem Betrug und Lügen angeführt habe,
berichte Sxerxeins quasst,. 14 as male-k.; man habe nämlich Personen in das
Gefängnis gelassen, von denen die Gefangnen überredet worden seien, ihnen
Zaubereisachen zu lehren; ein Gefangner habe gefragt, ob er „Hagel und
Kieselwetter" machen solle oder zeigen, wie es mit der „Bulschafft" zugehe;
da hätten die betrügenden Vertrauenspersonen die Finger in eine Schüssel und
Wasser halten müssen, und als der gefangene Unhold zauberische Worte dazu
geredet, sei ein großes Wetter und Hagel gefallen wie seit Jahren nicht. Em
solcher Betrug sei aber mit Nichten zugelassen, denn der Apostel spreche
Kön. 3: Last uns Übels thun, damit Guts darauß komme, und sei uns von
Gott verbotten. Weil sich ein Mensch durch zweideutige Reden von Schaden
entledigen könne, werde dies auch von hochverständigen rdsolo^ für kein
Sünd. sonder für ein gut. nützlich und recht ding gehalten. Im allgemeinen
habe der Richter die durch Betrug erreichten Geständnisse für ungiltig zu halten
und dürfe daraufhin nicht zum Tode verurteilen. w°si aber hielten viele
Doktoren dies für zulässig, wenn der so Geständige den Betrug d^und sich ihm nicht widersetzt habe. Wenn em Richter einem Beklagten vor
oder nach dem Geständnis verheißt, ihn loszugehen wofern er eben zu Ge allen
..etwa ein Wetter mache oder einen blinden Zauberdantz repräsentire so könne
er mit gutem Gewissen das Leben nit schenken denn die Rech e gestatteten d in
Richter nicht, einen der Verletzung der göttlichen oder menschlichen Majestät
Angeklagten beliebig zu behandeln. < . .
^»,
Nach diesem wichtigen Kapitel wird das Thema behandelt ob em Richter
den Beklagten zum Tode verurteilen kann, von dem er gewiß weiß daß er
unschuldig ist Ein Teil der Doktoren halte es für geboten, andre acht; ime
beriefen sich auf LxoSus 23 und meinten, die Richter müßten ihre Meinung
»so steiff halten, daß sie eher ihr Ampt und Leben aufgeben als den Unschuldigen
nach der Rechten Ordnung hinrichten lassen", nur müsse dem Richter die Un¬
schuld nicht Zweifelhaft sein, er dürfe sich durch die Unholde nicht perplex machen
lassen und die Angeklagten nicht gleich für heilig halten, wenn sie die Finger
zum Schwören ausstrecken, denn daß sie ihre Seligkeit verschmerzten, sei kein
Wunder, da sie sich ja vielleicht längst dem Teufel verkauft hätten, oder als
ob keine Unholde gefunden würden, die Gott verspeyen und einen anderen
Abgott erwöhlten. Die Nichtachtung solcher Schwüre werde den Richtern zu¬
weilen vorgeworfen, als wenn sie damit sagen wollten, sie hielten es mit den
Heiden oder Türken, und daß kein Teuffel oder Höll mehr sei. Im Jahre 14o3
habe ein ,ausgesprungener Mönch" namens ^oäslin durch Fußfall sogar ge¬
standen. Sathan habe ihm geboten zu predigen, daß Seetirerei und Aberglauben
ein Verblendung sei. Auch ein fürnehmer Chursürstl. Trierischer Naht sei.
nachdem er sich ebenso habe verführen lassen, verbrannt worden. Denn was
ist das (also der Zug zur Humanität) anders, sagt der gelehrte Verfasser, als
„alle vsvrstÄ?atrum, LorioiliÄ?ontiü<zum, ^.eaäöllliAö, ^ribuvalig. und die
Kirche Gottes der Unwissenheit und Tyranney bezüchtigen und wider Gott mit
den verdampten Geistern einstimmen wollen?"
Ein siebentes Kapitel über das Nichtbekennen zauberischer Personen bietet
allerlei merkwürdiges. Es sei „gewiß und offenbar", daß Unholde alle Peyn
verlachten und unverletzt aushielten. Als Ursach werde von auwribu8 angegeben,
daß die Menschen unempfindlich würden „von volo, welchen Safft sie von
einem gewissen xa,xausi's" zu präparieren wüßten, mit dem sie sich austrieben
und ihr Geblüt ganz turbierten. Dies könnten die klugen Geister viel artiger
als die uisäiei practiciren, weil sie die Erfahrnuß aller Metallen, Kräuter und
Gewächs von der Zeit an, da die Welt erschaffen ist, bekommen hätten. So
sei, nach Ouorouäa as antivkrist., ein fünfzigjähriges Weib schmerzlos geblieben,
als man ihr gesotten schmaltz über den ganzen Leib geschüttet habe, und nach
Niloi. Reinig, habe man der Jsabella Pardäa „ein Stecknadel gantz tief ein-
drucken", ohne daß Blut geflossen oder Schmertz entstanden sei. Nach Abrede
mit dem Teufel habe ein Unhold zwanzigmal die Tortur ausgehalten, nachdem
er aber einen Trunk des Nachrichters getan, habe der Geist weichen müssen.
Im Jahre 1587 habe eine Hexe die scharfe Pein lange ausgehalten, weil „ein
Gehet sich unter ihre Harhaub gesetzt". Dieser abschewliche Geist pflege sich
auch „in den Halß, die Kehl, Ohren, auff die Zungen und andere Örther"
zu setzen. Als der Bulgeist sich in den Halß gesetzt, sei dieser dem Kinne
gleich geschwollen, sodaß das schwetzen unmöglich geworden sei. Die Franziska
Celler habe der gehässige Geist verhindert, daß sie nit hab schwatzen können,
und dazu habe er ihr die Ohren verstopft, daß sie nit hat hören können, was
der Richter zu ihr gesagt. Man müsse aber darauf achten, daß der Gefolterte
nicht Teuffelsdreck, Schlangenwurtzel, Venus-Kraut und dergleichen Lumpe
bei sich behalten habe. Gottesförchtige Richter ließen auch „geweyht Saltz und
Weyhwasser ohn unterlaß under die Speiß und Tranck" geben und die Folter¬
kammer damit besprengen, und die H. Kirche pflege die höllischen Drachen
und ihre Wohnungen zu exorzisicren. Wie nützlich diese Kirchenmittel seien,
lehre die Geschichte eines fünfzehnjährigen „Bawers Bub", der durch Genuß
von „Katzen-Hirn irrig im Kopff geworden und in das vollsZium ^esu ge¬
bracht worden". Scherer erzähle in der Osterpredigt den Fall, daß der Teufel
einem Unholden eidbrüchig geworden sei, da er ihm den zugesagten Beistand
nicht geleistet habe, obwohl er in Gestalt eines Geiers auf einem Baume am
Richtplatze bei der Folterung gesessen. — Die leidige Anständigkeit verursache
der leydige Sathan selber oft. Eine Unholdin, die mit der Folter bedroht war
und alle Zauberey-Laster bekannt hatte, ist vom Sathan, als er sie allein im
Kerker gefunden, „dermassen abgeschnürt", daß sie vermeint, sie müsse noch
denselbigen Tag sterben. Aber Gott hat gewölt, daß die Hüter, so darzu kamen,
solche Tyranney alsbald abwendeten. Zwar der Rücken war ihr noch voll
streimen, als sie dieses dem Richter erzehlt.
In vielen Tribunalibus. hört man weiter, sei es Brauch, daß vor der
Vernehmung kein Beichtvater zum Gefangnen zugelassen werde. Den Geist¬
lichen soll jedoch der Richter heranziehen, wenn der oder die Gefangne vor dem
Geständnisse, nach Feststellung durch die Hüter, krank oder „Klubs schwanger"
ist; und der Seelsorger soll einem Unholden das Sakrament des Altars ab¬
schlagen, wenn dieser öffentlich das Zaubereilaster widerruft."
Zur Frage, „ob man die Hexen und Unholden lebendig verbrennen soll,
wird gesagt, daß dies zwar alte Sitt und Brauch der Christen sei, „zu jetziger
unser Zeit aber" sei der milde Brauch eingenommen: so sie der bösen Geister
Gesellschaft absagen und dem lieben Gott mit „rewmütigen Hertzen wieder zu¬
schweren", würden sie „nach jedes Orts Statut entweder strcmgulirt und ver¬
sticket oder mit dem Schwert zuvor enthauptet". Wenn eine zauberische Person
im Karcker nach der Folterung xlens oder 8sui?im6 die gegen ihr vorgebrachten
wüioia elidirt und dann „sich selbsten erhenckt oder ums Leben gebracht hat.
so soll ein solcher verzweifelter Mensch doch nicht auf dem Kirchhof, sondern
auf etwan einem Hundsacker begraben werden", denn weil dies „ein privilegirtes
Laster" sei, würden die gemeine Rechten in „allem steiff gehalten und wird ver¬
fahren, als wenn er das Laster begangen und bekannt»; es sei eben bei allen
tnwnzUvuL bekannt, „daß sich die Gefangenen meist aus Verführung der
bösen Buhl und Spielgeister umbbringen". Die Güter der zur Leibsstraff ver¬
urteilten zauberischen Personen sollten nach der Meinung der Doktoren „dem
6»°o und Rentsäckel" zugesprochen werden; den Schaden aber, den sie und Hülf
und Anruffung des unholden Geistes andern zugebracht, sollen ihre „nach¬
kommende uoroäW und Erben schuldig" sein zu erstatten.
Den vorstehend kurz erwähnten fünfzehn Abhandlungen des kriminellen
Werks sind ausführliche rotas se aääitionaw in lateinischer Sprache beigefügt,
i" denen mit großer Gelehrsamkeit die betreffenden Ansichten von Schriftstellern
Merk sind. Ebenso umfangreich sind siebzehn hieran sich schließende Abhand¬
lungen über Einzelfragen: über die Wasserprobe, die Bestrafung durch Feuer,
den Vertrag der Zauberinnen mit dem „Dämon", über die Frage, ob die
nächtlichen Zusammenkünfte der Zauberer wahr oder eingebildet seien, über den
Wert der Zeugnisse einer und mehrerer Hexen usw. Von der Wasserprobe wird
ausgeführt, „daß solche puiAMo xsr acMin tri^ä-M eine iinvroww exploratio
seh, davon wir weder in vel noch (Änaiis coäiee lesen und dahero fast von
allen löblichen Theologischen und Juristen-Facultäten totiu8 6srmMiav und
anderswo verworffen"; dennoch rate Godelman, sie als ein aällümoulaul
MMiMoms oocllltura beizubehalten, die NarxurMN8ö8 jedoch geben das
Gutachten dahin ab. sie könnten dieses angedeutete Experiment, die ver¬
dächtigen Personen „auffs Wasser zuwerfen, nicht approbiren oder vor Christ¬
lich halten".
Im Anschluß an diesen kurzen Auszug aus dem Werke des gelehrten
Schriftstellers Göhausen über und für Hexenprozesse verdient hervorgehoben zu
werden, daß ein Jahr nach dem Erscheinen dieses Werkes ebenfalls in Rinteln
das Werk Oautio orim,ing,1i3 as xrooossidus voudra sa^as lidsr herauskam,
worin der Jesuit Friedrich von Spec aus tiefer Teilnahme und religiösen
Gründen kräftig und erfolgreich gegen die Fortsetzung des Unsinns der Hexen¬
prozesse auftrat.
n dieser ästhetischen Kulturpolitik der jüngsten Jahre ist Hermann
Muthesius als rastloser Agitator gerade auf kunstgewerblichen
und baulichen Gebiet hervorgetreten. Er kommt von England,
wo er als kunstgewerblicher Beirat der deutschen Botschaft einen
in jeder Hinsicht lehrreichen Kursus durchgemacht hat. Mit
einem umfangreichen Quellenwerke über das englische Landhaus führte er sich
ein. Als Geheimrat im preußischen Handelsministerium arbeitet er mit an der
dringend nötigen Reform des gewerblichen Zeichenunterrichts. Als Lehrer
an der Berliner Handelshochschule sucht er gesunde ästhetische Anschauungen
über unser Kunstgewerbe und seine sinngemäße Förderung zu verbreiten. Da¬
neben ist er praktischer Baumeister, und dann bringt er noch das Kunststück
fertig, Aufsätze zu schreiben und Reden zu halten. Die zweite Sammlung dieser
Aufsätze, die uns mehr oder minder schon aus Zeitschriften und Tagesblättern
bekannt sein dürften, heißt „Kunstgewerbe und Architektur" (Jena, Diederichs,
5 Mark). Muthesius geht da den Verbindungen nach, die von einem zum andern
Kunstgebiet führen, und die so zahlreich sind, daß man sehr oft die Grenzen
schwer feststellen kann. Er sagt: „Das Ziel beider Künste ist dasselbe. Nament¬
lich kann aber das letzte Endziel des Kunstgewerbes gar nichts andres sein als
die Architektur selbst, denn bei Lichte betrachtet gibt es gar kein Kunstgewerbe,
sondern es gibt nur eine Architektur." Begreiflich, daß ein Architekt aus dem
Vollgefühl seiner allumfassenden Kunst heraus so sprechen kann. Ganz zutreffen
dürfte es aber nicht, denn eine ganze Anzahl Kunsthandwerke wie die Webe¬
kunst, die Metallkünste, die graphischen Gebrauchskünste unterliegen wohl den¬
selben stilisüsch-ästhetischen, aber noch nicht den spezifisch-architektonischen Aus¬
drucksgesetzen.
Als praktisches Seitenstück und gleichsam als Illustration zur grauen Theorie
dieser Aufsätze veröffentlicht Muthesius einen Sammelband „Landhaus und
Garten" (München, Bruckmann, 500 Abbildungen, gebunden 12 Mark). Moderne
Familienwohnhäuser aus Europa und Amerika werden gezeigt, im Umriß und
im Grundriß, in einzelnen Füllen auch mit Angabe der Baukosten. Schade, daß
es nicht durchgehends geschah, und daß überhaupt auf genauere sachliche Referate
über die Art. die Motive und das Material der Baugestaltung verzichtet wurde.
Das bloße Abbild sagt dem Laien allermeist nicht das. was er gerne wissen
will. Be onders über die englischen, holländischen und dänischen Bauten, die zum
Teil ganz entzückend geschmackvoll sind, lMen>^
Fall gewußt. Man findet da - schier unglaublich, aber wahr! - da P WM
1t ^ ^
nieder^ °n An^S» Beispielen geht Muthesius über do
^zen des Werk, von Haen. n»^ ^n. anch
Jnnenrüume und Einzelheiten uno uverv^» ^ in»,;^..«^, -> k^:^ n-allhie und vorbildlich in vieler Beziehung.
^-'^:; °2 2 ---^«7°-
M... ti s-u«.,. 1^^°^ -7.:dem ließe sich ja bei einer neuen AUsm^, ^ ^
^
«ist Mutbesius ein Mann, der etwas zu sagen hat und sichjedenfalls ist Muthe ins in ^s seiner engern Berufsgrenzenmit gutem Erfolgs > ^ etwas eintönig,wendet. In der chrMellenschen F°r" s international gestimmtenin der Sache aber kaum anfechtbar, bürgt ein modernerWertmesser für die neue Bewegung ^ u^ ^Mensch, der seinem Vaterlande mit alle " ^und bittern Wahrheiten dienen wil ^ ^ ) ö ^ ^.
für uns nutzbar zu machen. S-me Vom s » ^ ^ ^.^englische Kultur überhaupt ^ ^ ^ ^ ^lieferungen unsrer S^n ^^ernen Baukunst erfüllt?Ehren - a^r sind mit ihm W «ab ^ ^ ^ ^n neuern Monumentalba^^^ d e ^ g ^kleinen Dänemark und »'H ^ Kopenhagner Rathauses,om Range des Al°rw°ldsenmu1 »ins vo ^erichtsgebäude wie das desem Warenhaus Werthen in B'im °- „ ^ »
^r^es^ Ua^ki^n^^ zur
Beherrschung größerer B°um°sse".
^^^behauptet.
für.^ 7'^- ^ beaÄ chen Freude über die Vorzüge des eng-ondern weck er in seiner b-S ^ ^n ^ ^ ^ ^lMn Hauses die Mängel der ^ ' y ^ ^.^^ ^her unMat memes Eracht us^uschneu ^ Y ^ ^ ^ ^.^ ^^^^
^^en^^ ^erKra».
^fre^sa^^ ^^«re gekränwn
Kmchg!^ gewandelten Geschmacksforderungen acht entsprechen
können oder wollen, die ihren alten Kram gern ungestört weiter vertreiben
möchten, nicht etwa, weil sie damit Geld verdienen wollen, o nein, sondern weil
er ihrer Überzeugung nach besser ist als das, was die Künstler und Kunst¬
freunde wünschen. So hat der „Fachverband für die wirtschaftlichen Interessen
des Kunstgewerbes" einen regelrechten Kampf gegen die neue Gebrauchskunst
eröffnet dadurch, daß er den bösen Muthesius bei seinen vorgesetzten Behörden
und sonst noch an einflußreichen Stellen ins rechte Licht zu setzen suchte: er
„beschwerte" sich über ihn. Dieser redselige Geheimrat ruiniere das deutsche
Kunstgewerbe, meinen diese Herren vom Fach. Es ist ein nutzloser Kampf, denn
gesetzt auch, daß Muthesius vom Stuhle der Negierung herunterfiele, so stünde
er doch immer noch fest auf einer guten Sache, und die, die stützend und vor¬
wärtsstrebend neben ihm stehen, gehören zu den geistigen Führern der Nation.
Will der „Fachverband" auch sie unschädlich machen, so muß er schon hand¬
greiflich vorgehn. Aber auch dann wird er das, worum der Kampf eigentlich
tobt, wider die neue Gesinnung und die neuen Gedanken nicht dingfest machen
können.
Zu den wenigen Künstlern, die nicht nur mit Taten, sondern auch mit
Worten für ihre Sache kämpfen, gehört auch Fritz Schumacher. Der junge
Architekt, der auf Grund ungewöhnlich vielversprechender Monumentalbaustudien
so früh ins akademische Lehramt des Dresdner Polytechnikums berufen wurde,
hat sich nicht nur als anregender Geist im Amte, sondern auch als glänzender
Organisator auf der letzten Kunstgewerbeausstellung bewährt. Man freut sich,
seinen gesammelten Aufsätzen, den „Streifzügen eines Architekten" (Jena,
Diederichs, 5 Mark) zu begegnen, und mit großem Genuß verfolgt man seine
glücklich pmzisierten begrifflichen Klärungsversuche. Über die Ziele der Kunst¬
gewerbeausstellung 1906 hat keiner klarer und überzeugender sprechen können
als er. Wenn er das Verhältnis von „Tradition und Nenschaffen", wenn er
die architektonischen Aufgaben der Städte, die Denkmalskunst untersucht — immer
kann man eines weiten Horizontes, überraschender Perspektiven und eines
überaus besonnenen Urteils sicher sein. Die kleine Auseinandersetzung mit
Naumann über die Berechtigung der Engel in der Kunst ist ein wahres Muster
vornehm geschliffner, scharfsinniger, rein sachlicher Polemik. Schumacher hat
bei weitem nicht das agitatorische Pathos wie etwa Muthesius oder gar die in¬
grimmige Satire Schultze-Naumburgs als Erzieher; sein Idealismus, obgleich
gewiß nicht minder stark als der dieser Mitstreiter, wirkt verhaltner, besonnener,
mehr auf sachliche Klärung als auf unmittelbare Wirkung bedacht. Solche
Köpfe, denen die Sophrosyne, die hohe Mannestugend der Alten, mitgegeben
wurde, haben in der Regel einen kleinern Freundeskreis, aber den haben sie dann
auch sicher, und zwar diesseits wie jenseits der engern Berufsgrenzen. Bei
Karl Henrici, dem Aachener Hochschullehrer, kann ich mir das weniger vor¬
stellen: man muß schon sehr sachlich interessiert sein, wenn man in seine „Ab¬
handlungen aus dem Gebiete der Architektur" (München, Callwey, 4 Mark)
eindringen will. Hat man aber die etwas trockne, spröde Form überwunden,
so wird man durch eine Fülle von klugen und vernünftigen Anregungen be¬
lohnt, die der Verfasser überdies meist schon zu einer Zeit öffentlich verfochten
hat, wo die junge Generation mit ihren ähnlich lautenden Forderungen und
Wünschen noch gar nicht auf den Plan getreten war. Wertvoller noch» weil
geschlossener in sich und um ein bestimmtes Thema gruppiert, scheinen mir
Henricis „Beiträge zur praktischen Ästhetik im Städtebau" (ebenda, 4 Mark),
ein außerordentlich nützliches Buch gerade heute, wo uns die Ahnung von der
grausamen Unnützlichkeit so mancher großartigen Stadterweiterung mehr und
mehr überkommt. Da aber finden wir nun auch Schultze-Naumburg mit dem
neuen vierten Bande seiner Kulturarbeiten über den Städtebau (ebenda, 5 Mark)
als einen der kräftigsten Rufer im Streite vor. Ja, genau genommen ist er
der erste, der es mit seiner konsequenten Methode der Gegenüberstellung guter
und schlechter baulicher Beispiele verstanden hat, die allgemeine Baugesinnung
der weitesten Kreise zu beeinflussen und gegen die Verunstaltung unsrer Heimat
mobil zu machen. Der Band über die Sünden der Städte ist recht stattlich
geworden, und doch ist er noch klein, wenn man die Fülle der Fragen bedenkt,
die er streift und aufrührt. Straßenführungen und Platzanlagen, in Verbindung
damit die heute so sehr beliebte Freilegung alter Kirchen, die Erbauung neuer
an Stellen, wo sie architektonisch nichts bedeuten; Hausanlagen auf Terrassen.
Treppen und überwölbte Straßendurchgänge, schöne alte Wallpromenaden und
langweilig abgeplattete Wall- und Ringstraßen. Eckbebauungen, „offne" Bau¬
weise in den Vorstädten, ja bis zu den Gartenmauern und Erkeranlagen hin
verbreitet sich Schultze mit unermüdlicher Entdecker- und Netterfreude. Über
den erziehlichen Wert dieses ausgezeichneten Anschauungsmaterials (fast 300 Auf¬
nahmen), über des Verfassers bündige und lebendige Art der Erläuterung sind
wohl alle Freunde unsers Volkstums in der Anerkennung einig. Sie werden
es auch verschmerzen können, daß Schultze in der Bekämpfung der kleinstädtischen
Großstadtkrankheit die positiven Verdienste der Großstadt zu gering bewertet
und für ihre besondern baulichen Entwicklungsschmerzen nicht viel erübrigt. Er
sagt: „Auch die kleinern und kleinen Städte sind wichtig, ja sie werden mit
der Zeit eine immer größere Bedeutung haben, wenn die Großstadtkrankheit
überwunden ist. Und da es bei uns in Deutschland noch gar vieles zu retten
gilt, habe ich manche Betrachtung in das Buch aufgenommen, die für die
eigentliche Großstadt leider nicht mehr nutzen kann."
Wer einen Einblick in die modernen Aufgaben des Städtebaues wünscht,
der greife zu der Monatsschrift „Der Städtebau", die der treffliche Camillo Sitte
vor vier Jahren, kurz vor seinem Tode, gemeinsam mit Theodor Goecke be¬
gründet hat. (Berlin, Wasmuth. 12 Hefte 20 Mark.) Es ist der schönste Be¬
weis für den Fortschritt der neuen Baugesinnung, daß eine solche Zeitschrift
überhaupt gegründet werden und sich bis heute nicht nur halten, sondern, trotz
Sittes Verlust, anscheinend auch gedeihen konnte. Denn es ist ein Fachblatt
im besten Sinne, ein Zentralorgan für die Erörterung der wichtigsten Fragen
städtischer Ausgestaltung nach künstlerischen Grundsätzen, nicht mehr nur nach
den Anforderungen der Ingenieure und Techniker. Das ist der Unterschied,
und er ist bedeutsam: der Baumeister tritt wiederum auf das Arbeitsfeld, weil
die Ingenieurkunst baumeisterliche Aufgaben der Städte nicht würdig lösen
kann. Die Phantasie, die nicht nur Hindernisse der Natur zu überwältigen
und unschädlich zu machen trachtet, sondern die vom Lebensgefühl des Menschen
ausgeht, die den Raum und die Dinge im Raum so gestalten will, daß das
Leben freudenreich und lebenswert wird — diese lang gehemmte Bildkraft des
Architekten macht wiederum ihre Ansprüche geltend. Die Zeitschrift ist bestrebt,
sie mit wirtschaftlichen und gesundheitlichen Bedingungen ihres Wirkens in Ein¬
klang zu setzen. Es handelt sich also um werdende Dinge, die Ergebnisse von
Wettbewerben werden im Bilde gezeigt und besprochen, neue Möglichkeiten in
allen Fragen des Städtebaues werden angeregt, kurz, ein wirklich lebendiges
Organ der neuen Baugesinnung. Es sollte auf keinem öffentlichen Bau¬
amte fehlen.
Kritische, meist recht bitter kritische Wanderungen durch Wien unternimmt
Joseph August Lux unter dem etwas preziösen Titel „Wenn du vom Kahlen-
berg . . ." (Wien/Akademischer Verlag). Er gibt kleine architektonische Zustands¬
bilder ans dem alten und aus dem neuen Wien, Bilder, die sich unwillkürlich
wie Beispiele und Gegenbeispiele ausnehmen. „Für einheimische und auswärtige
Fremde", bemerkt Lux sarkastisch. Als ich durch die alte Kaiserstadt schlenderte,
habe ich ein solches Buch gesucht und nicht gefunden, das den Fremden über
die ledern kunsthistorische Stilunterscheidung hinaus und in den Geist der alten,
auch der bescheiden bürgerlichen Baudenkmäler einführen könnte. Es hätte nichts
geschadet, wenn die Streifzüge den erinnerungsreichen Boden noch etwas
systematischer aufgeklärt Hütten. Anstatt dessen haben wir nun kunstpolitische
Entrüstung, auch ehrlichen Zorn, immer durchsetzt von positiven Vorschlägen,
die man meist unterschreiben kann. Sie entstammen demselben Widerwillen gegen
die hohle Phrase, gegen die Lästigkeit und den Ungeschmack, mit dem wir ähn¬
lichen Zuständen unsrer ästhetischen und künstlerischen Kultur im Reiche ent¬
gegentreten. Dabei ist Wien aber immer noch ein Ort, wo künstlerische Keime
zu gedeihen scheinen. Blättert man zum Beispiel die Ergebnisse aus der Wiener
Kunstgewerbeschule durch, die als besondre Monographie „Jung-Wien" gesammelt
sind (Darmstadt, Alexander Koch, 10 Mary, so staunt man über die oft recht
glücklichen Einfälle von Talenten, unter denen die weiblichen fast überwiegen.
Im guten Sinne dekorativ sind diese Schularbeiten alle, sie erstrecken sich von
der Haus- und Gartenarchitektur bis zu Stickereien, Geweben und Buchschmuck¬
versuchen. Wieweit die jungen Baumeister ihre hübschen Wohnhausmodelle
allerdings konstruktiv durchdacht und nach bestimmten Naumansprüchen gestaltet
haben, ist aus den mitgeteilten Abbildungen nicht erkennbar; auch aus dem
Texte von Lux nicht, in dem mit Recht eine angemessene Grundrißanlage als
erste Bedingung für das Gelingen des Hauses verlangt wird. Im übrigen erörtert
er ausführlich die allgemeinen Aufgaben der heutigen Kunstgewerbeschule.
Überschaut man im Geiste die Reihe der Gedanken, die alle diese Bücher mehr
oder minder schwer gewappnet in den Kampf und die Arbeit des Tages schicken,
so sollte man meinen: nun kann es am Siege nicht fehlen. Die neue Gesinnung,
der Wunsch und der Wille zu einer zweckmäßigen und schönen Gestaltung von
Haus und Heim muß ja jetzt allerorten so freudig aufblühen wie die Sommer¬
blumen nach dem Gewitter. Ach, damit hat es noch gute Weile! Wir brauchen
nur den Fuß auf die Straße zu setzen, nicht einmal: brauchen nur zum Fenster
hinauszuschauen, und entdecken etwas ganz nagelneues, was gänzlich ge¬
sinnungslos das Auge beleidigt. Da merken wir: Worte und Druckpapier
allein durs freilich nicht, sie wollen gelesen, gehört, erwogen und befolgt werden.
Auch eine Kunst, deren Anwendung gelernt werden will, aber im Grunde nicht
ünfuudzwanzig Jahre nach dem Tode Berthold Auerbachs
empfangen wir aus der Feder eines seiner el stgewahlteu Nach¬
laßpfleger seine Biographie (Berthold Auerbach. der Mann sem
Werk sein Nachlaß. Von Anton Bettelheim. Mit einem Bildnis
des Dichters. Stuttgart und Berlin, I. G. Cottaschc Buch¬
handlung Nachfolger. 1907). Und wenn wir das ungemein fleißige, lebendige
Buch Anton Bettelheims, des Biographen Anzengrubers, aus der Hand legen,
so bleibt der letzte Eindruck der, den ich in der Überschrift ausgedrückt habe:
Auerbachs Leben war das eines Glücklichen, trotz allem, was ihm so manchen
Tag und manches Jahr verbitterte. „Wenn die sittenlose Herrschaft zuletzt
ZU dem Ausspruche gedrängt wird: »Nach uns die Sündflut«, so hat andrer¬
seits diejenige Macht, die auf die ewigen Grundsätze der Gerechtigkeit, des
Gemeinwohls, mit einem Wort der Tugend baut, den andern Spruch: »Nach
der Sündflut wir«; das heißt, wir nicht als Personen, nein, wir mögen dahin¬
gerafft werden, aber das, was wir sind, unsre Ideen und Ziele, das wird
jenseits der Sündflut in andern Menschen, die das Gleiche mit uns in der
Seele tragen, zur Herrschaft gelangen und jeden Widerstand besiegen." Glücklich
schon, wer solches Bekenntnis lebenslang unbeirrt hegt und bewährt, und glück¬
licher, wem es. wie Berthold Auerbach. von Freund und Feind geglaubt wird.
Dabei ist das Wort Feind im Grunde schon nicht am Platze, denn wenn
auch mancher Auerbachs schnell bereites Pathos, seine Mitteilsamkeit und seine
Eitelkeit belächelte und tadelte, so hat er doch eigentliche Feinde nie gehabt,
und auch in der Zeit des gröbsten Antisemitismus hat sich ihm persönlich
niemand entgegengestellt, seinen Charakter niemand angetastet, weil man ihn nicht
antasten konnte. Und seine Eitelkeit, die auch seine Freunde nicht verschweigen,
trat, wie Bettelheim sagt und erweist, niemand zu nahe als ihm selbst.
Ein Wunder wäre es freilich gewesen, wenn das Kind des kleinen Juden¬
hauses in Nordstetten nicht eitel geworden wäre bei der Stellung, die ihm die
allgemeine Meinung Jahrzehnte hindurch zubilligte. Wenn Berthold Auerbach
als Gast in fürstlichen Schlössern an die dumpfe Betschule in Hechingen zurück¬
dachte, die ihn zum Rabbiner machen sollte, dann empfand er, wie seine Briefe
lehren, auch mit demütiger Dankbarkeit den ungeheuern Aufstieg seines äußern
Lebens, der noch weit über das hinausging, was der gleichaltrige Dithmarscher
Handwerkersohn Friedrich Hebbel in jenem berühmten, vom Empfänger nicht
angenommnen Brief an seinen alten, harten Vorgesetzten stolz bescheiden vor¬
trug. Nach der großen Vergessenheit, die bald nach Auerbachs Tode über
seine Dichtungen kam, berührt es uns fast fremd, wenn wir an der Hand von
Bettelheims überall dokumentarisch gestützter Geschichte feststellen müssen, daß
Auerbach in den sechziger und siebziger Jahren vielleicht mit Emanuel Geibel
der berühmteste deutsche Dichter war; nicht nur berühmter als Hebbel und
Ludwig, Storm und Fontane, Raabe und Heyse, sondern berühmter selbst als
Reuter, dessen Dialekt Schranken setzte, als Scheffel, der nicht so weit ins
Ausland drang. Ohne daß Bettelheim Ruhmrednerei für seinen Helden treibt,
muß er dies immer wieder feststellen, eine Beliebtheit dartun, die vom Kaiser¬
hof bis in den Kern des Volkes hineingeht. Und wenn wir, so angeregt, die
kürzern Charakteristiken Karl Frenzels, Erich Schmidts, die Erinnerungen
Gustav Freytags und Friedrich Spielhagens, die Briefe von Zeitgenossen
wieder durchsehen, so ergibt sich genau dasselbe.
Berthold Auerbach wurde im Jahre 1312 in dem württembergischen Dorf
Nordstetten geboren, schon im Geburtsjahr also ein Vorläufer der großen
Realisten, die zwischen 1813 und 1831 zur Welt kamen, und für deren er¬
zählende Kunst er den Boden bereiten und die Seelen empfänglich machen half.
Die jüdische und die christliche Umwelt seiner Jugend setzt Bettelheim aus ver¬
streuten Material künstlerisch abgerundet mit lebhafter Wirkung wieder zu¬
sammen. Der Charakterkopf der Mutter, die halbkomische Gestalt des fahrenden
Großvaters, der deutschgebildete jüdische Lehrer, der ernste, fanatische Bruder
treten in ihrem Einfluß auf das Gemüt des Knaben ebenso klar heraus wie
die Natur des Schwarzwalds in den unauslöschlichen Eindrücken, die sie der
Phantasie des künftigen Dichters einprägen. Die geistige Misere und die
ökonomische Enge der nächsten Jahre auf dem schon genannten Rabbinerseminar,
dann auf dem Gymnasium in Stuttgart, endlich auf der Universität in Tübingen
und München wird gut geschildert bis zu ihrem Abschluß auf dem Hohen-
asperg, wo der Burschenschafter eine Festungshaft wegen Teilnahme an ge-
Heimen Verbindungen verbüßen mußte. Das freilich bleibt uns Bettelheim
schuldig, wie nun Auerbach ganz aus dem Ghetto ins deutsche Leben hinüber¬
trat. Es fehlt hier irgendwo an organischen Darstellungen, aus denen ins¬
besondre die religiöse Entwicklung des in engster Orthodoxie erwachsnen zum
humanistischen Ideal seines Lebens sichtbar würde. Wie Auerbach im Jahre 1842,
als er seine ersten Dorfgeschichten drucken ließ, und wie er später religiös stand,
erfahren wir im Grunde an keiner Stelle; es müssen hier gerade für die Periode
des endgiltigen Umschwungs wichtige Dokumente, nicht nur über innere Vor¬
gänge verloren gegangen sein, fehlt doch auch mangels genügender Unterlagen
ein Bericht über Auerbachs Promotion. Wir erfahren zwar manches über
Auerbachs Spinozismus, wir hören, daß er lange über die Zuführung seiner
Kinder zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft schwankend war, und wir
sehen ihn in den Kämpfen ausgangs der siebziger Jahre als Juden auf seinem
Posten, verletzt auch da, wo ihn niemand verletzen wollte und verletzen konnte —
aber über seine innere dogmatische Stellung zur jüdischen Offenbarung und
zum Christentum hören wir nichts mehr.
Von den Schwarzwülder Dorfgeschichten an bewegt sich Auerbachs Leben
dann alsbald auf der Höhe, die ich oben andeutete. Die ungeheure Wirkung
seiner Dorfgeschichten ist ja oft geschildert worden, am eindringlichsten im
Guten und Bösen von Heinrich von Treitschke, dessen Ausführungen ich hier
(in Heft 49 des 65. Jahrgangs) zitiert habe. Wir verstehn diese Wirkung
historisch heute noch sehr wohl, wenn wir sie auch aus den Dorfgeschichten
selbst unmittelbar nicht mehr ableiten können. Es ist eben nicht anders: die
unverschuldete Schuld so übermäßigen Ruhms mußte Auerbach so gut bezahlen,
wie sie Geibel bezahlen mußte. Es war ein natürlicher Rückschlag, daß beide hinter
großen, größern Poeten jahrelang so weit zurücktreten mußten, daß sie dem
lebenden Bewußtsein als Fortwirkende fast ganz entschwanden. Geibel räumte den
Platz für den überlegnen Storni, Auerbach für Keller, nicht wie Barrels meint
für Gotthelf, der auch heute noch nur mit einem Werk weitern Kreisen bekannt
und selbst mit diesem noch lange nicht durchgedrungen ist. Für Geibel fehlt
uns noch eine so abschließende Arbeit, wie Bettelheims Werk sie für Auerbach
bedeutet, aber die Ausgewählten Gedichte, die im Jahre 1904 von ungenannter
Hand (bei Cotta) herausgekommen sind, lehrten auch den, der es nicht wußte,
daß mit der Unterschätzung Geibels noch weniger getan war wie früher mit
der Überschätzung, und halfen ihn in die richtige Stelle einsetzen. Das leistet
für Auerbach einstweilen Bettelheims niemals überschwengliche, manchmal im
Urteil geradezu harte Biographie, der wir von derselben Hand eine billige
Auswahl der besten Auerbachschen Dorfgeschichten gern folgen sähen.
Was wir an Auerbachs Dorfgeschichten vermissen, deren Art sich übrigens
bei Frenssen in den ältern Werken deutlich als einflußreich erweist, ist die
scharfe Darstellung der Gestalten und Konflikte, wie wir sie etwa bei Keller
immer wieder bewundern. Heinrich von Treitschkes Schlußurteil im fünften
Bande der Deutschen Geschichte trifft den Kern der Sache nicht und ist auch
im Gegensatz zu frühern mit zu verstehn aus der berechtigten Gereiztheit, in
der sich Treitschke durch die pöbelhafter Angriffe der jüdischen Presse in seinen
letzten Schaffensjahren befand. Verstieg man sich doch in Haß und Eifer so
weit, zum Beispiel an einer Stelle Treitschkes Deutsche Geschichte eine konser¬
vative Geschichtsklitterung zu nennen. Auch wird der leidenschaftliche Mann
es Auerbach nicht haben vergessen können, daß dieser den freundlichen Verkehr
mit Treitschke in einem Freundeskreis schroff abbrach, als der Historiker seine
kleine Schrift über „Unser Judentum" veröffentlicht hatte, die er ja gerade
schrieb im Gedächtnis eines edeln jüdischen Freundes, und die nach dem treffenden
Wort von Erich Marcks keine andre Absicht hatte als die, solche Juden, die
es noch nicht waren, einzuladen, Deutsche zu werden.
Beide Männer wollten immer das Edelste; man vergißt bei ihrer Be¬
urteilung so oft, daß sie von menschlicher Leidenschaft nicht nur nicht frei
waren, sondern aus ihr ihre besten Kräfte zogen. Ich bin deshalb etwas
breit geworden, in dem Bestreben, diesen Konflikt und die daraus geflossenem
schiefen Urteile auf beiden Seiten etwas zu erhellen. Wenn ich nun zu den
Dorfgeschichten zurückkehre, so muß ferner gesagt werden, daß der Humor in
ihnen nicht so quillt wie bei den spätern Realisten, daß auch die Konflikte
mehr äußerlich als innerlich groß erscheinen. Es fehlt ihnen die unentrinn¬
bare Gewalt, die sie etwa in dem Meisterwerk von Auerbachs Lebensfreund
Otto Ludwig erreichen, dessen schwächere Novellen (zum Beispiel „Maria")
Verwandtschaft mit Auerbachs Art zeigen. Und so bleibt aus der großen
Zahl eine kleine übrig, in der sich Auerbachs Kunst ohne solche Einschränkungen
entfaltet, und die innerhalb des poetischen Realismus noch heute einen hohen
Platz behaupten. Ich nenne zum Beispiel „Diethelm von Buchenberg",
„Joseph im Schnee". In ihnen ist auch die Redseligkeit ihres Verfassers nicht
durchzumerken; er, der bei aller Freude an seinen Erfolgen nie ganz mit sich
zufrieden war, hat sich in ihnen aufs straffste konzentriert und erreicht er¬
schütternde Wirkungen. Und über den angeblichen Spinozismus von Auer¬
bachs besten Dorfgestalten hat sich Erich Schmidt schon mit Recht in sehr
amüsanter Weise geäußert. (Charakteristiken I, S. 387.)
Auerbachs bester Roman „Auf der Höhe" ist wohl heute nur noch ein
Buch für Feinschmecker, für diese aber von hohem Reiz, obwohl breite Be¬
handlung aller möglichen Dinge, auch falsches Naturkindertum hier am wenigsten
fehlen. Wenn auch in der Hauptgestalt, der Gräfin Irma, nicht alles ohne
Bruch ist, bleibt dies Werk doch von Bedeutung, nicht als Zeitroman, der es
nicht sein soll, aber zum mindesten als eins der letzten großen Bekenntnisse
aus der Zeit allgemeiner humanistischer Ideale. Und dafür — das lehrt
wiederum Bettelheims Buch — bleibt Auerbach überhaupt, nicht zuletzt in den
beiden Bänden Briefe an Jakob Auerbach, ein lebendiger Zeuge. Die sozia¬
listischen Ideale, die kurz nach seinem Tode (1882) alles zu überfluten schienen,
lagen dem warmherzigen Freunde der Armen noch so fern, daß er sich hierin
noch ganz mit Treitschkes Kampfschriften identifizierte. Und wenn er sich
naturgemäß dem wieder lebhafter fließenden Strome positiv christlicher Glaubens¬
wärme nicht hätte hingeben können, so wäre er ebensowenig etwa auf der
Seite des Monistenbnndes zu finden gewesen. Vollends aber der zionistischen
Strömung, die viele seiner Glaubensgenossen dahiuträgt, hätte er, der Deutsche,
verständnislos und abmahnend den Rücken gekehrt. Es ist bezeichnend, daß
seine Enkel, wie Bettelheim erzählt, gleich denen Mendelssohns und gleich
denen vieler bedeutender Juden das Gesetz der Entwicklung vollzogen haben
und Christen geworden sind. So ist dieser Glückliche auch gestorben in dem
Augenblicke, wo sein ideales und politisches, das nationalliberale Zeitalter zu
zu Ende ging. Er war der Dichter der Kaiserin Augusta und des badischen
Hofes. Karl Mathy war der erste Verleger seiner Dorfgeschichten, Gabriel
Rießer hat er bewundert und porträtiert, Heinrich Heine aber, was wohl an¬
zumerken ist, nie geliebt, sondern immer für schädlich gehalten. Er stand in
vielem da, wo Gustav Freytag stand, und wird wie er als Repräsentant einer
abgeschlossenen, großen Periode deutschen Lebens mit seiner Persönlichkeit weiter
leben dürfen, wenn auch der Kreis seiner Werke, die dauernden Ruhm ge¬
wannen, kleiner ist, als die Zeitgenossen glaubten.
le alte Brücke unterhalb des Bingersdorfer Wehrs wird jetzt kaum
noch begangen. Seit die Steinbrücke flußaufwärts fertig wurde
— es mag nun auch schon zehn Jahre her sein —, ist der alte
Holzsteg in Vergessenheit gekommen. Nur die Waldwärter aus dem
Damnitzer Holz, das sich an dem einen Flußufer hinzieht, benutzen
ihn noch und die Kinder, die auf den Hängen und Wiesen ums
Dorf spielen, wenn sie einmal im Walde drüben etwas ausführen wollen, wobei
sie keiner erwischen soll. ^. . , ^.
Bolenvon
Die Brücke besteht aus zwei starken h, Ufer zu Ufer gelegt, die
nur in der Flußmitte vou kräftigen Pfählen gestutzt sind; und sie würde so einen
leidlich beauemen Übergang bilden, wenn nicht Wetter und Alter die Bohlen derart
gekrümmt und verzogen hätten, daß ein breiter Spalt zwischen ihnen klafft, durch
den der unruhige Wasserspiegel heraufschimmert.
Der schmale Fluß geht sonst gar still und trage durch das grüne Land. Hier
aber unterhalb des Wehrs drängt er hastig zwischen seinen Ufern hin. bis er Wehr
und Wald weit hinter sich gelassen hat und wieder friedlich zwischen offnen Feldern
und freundlichen Erlen wandeln kann. „
Als der Brückenspalt immer breiter wurde, und Ängstliche sich beklagten,
brachte man ein Geländer an, das heißt man rannte neben der einen Bohle auf
jedem Ufer einen Pflock ein und nagelte dann eine Stange von der gehörigen
Länge darüber. So hatte man doch einen Halt, und eine Weile bewahrte sich die
einfache Einrichtung ganz gut. Allmählich aber neigten sich die Pflöcke nach außen,
mit ihnen die Geländerstange, und nun ist sie so weit vom Steg entfernt, daß
man sie nur erreichen kann, wenn man am äußersten Rande geht und den Arm
weit von sich streckt.
Was aber die Brücke so ganz und gar unbeliebt gemacht hat, ist nicht ihr
schlechter Zustand, mit so etwas ist man ja auf dem Lande nicht verwöhnt. Es sind
die Geschichten, die man von ihr weiß.
Einmal im Frühjahr, als das Wasser so hoch ging, daß es fast den Steg
mitnahm, hat sich von der Brücke eine herabgestürzt, die junge Frau vom Gro߬
bauern in Dorneg. Man suchte sie überall und fand sie endlich weit unten bei
den Erlen.
Und ein andermal ist wenige Schritte vom Steg, dort wo jetzt das Holzkreuz
steht, zur Jagdzeit ein Treiber erschossen worden, ein junger Mensch, und der es
getan hat, ist, so erzählt man sich, ganz von Sinnen seitdem.
Zu diesen Geschichten sind immer neue hinzugekommen, und wer sie hören
will, muß nur die Wirtin im Bingersdorfer Gasthof zum Reden bringen, die weiß
sie alle — außer einer.
Eines Juniabends kam auf dem Waldwege von der Damnitzer Akühle her
Lene Wiesch gegangen.
Sie war schon achtzehn, sah aber in der verwachsnen roten Sountagsbluse
und dem kurzen derben Rock eher wie fünfzehn aus. Sie hatte ein sonnen¬
gebräuntes frisches Gesicht, aus dem das Haar an Stirn und Schläfen straff zurück¬
genommen war. Ihre braunen Augen blickten lebhaft und klug, und um den Mund
lag ein Zug von selbständigem Wesen, der wohl verriet, daß sie so jung nicht war,
wie ihre kleine Gestalt es glauben machen wollte.
Daß sie nicht größer war, ärgerte sie sehr, denn man nannte sie gern die
„kleine Lene" und sah dabei ein bißchen auf sie hinab.
Und sie war doch gescheiter als manche andre und konnte mit ihren festen
Armen schaffen wie die Größten! ...
Was war das heute in der Mühle wieder für eine Jagd gewesen, und spät
wars geworden! Die Sonne stand schon hinter dem Walde. Nur in den höchsten
Buchenwipfeln spielte noch ein Schein, und hin und wieder stahl sich ein breiter,
rötlicher Ltchtstreifen am Boden hin über den Weg.
. . . Sonst kam sie doch immer um sieben fort! Heute war aber auch alles
draußen in der Mühle gewesen, da konnten sie mit der Kaffeekocherei gar nicht
zu Ende kommen. Wahrhaftig, wenn sie nicht jeden Groschen zusammennehmen
müßte, sie ließe die Sonntagsarbeit sein. Man plagte sich so genug! Und die
Frau in der Mühle zahlte schlecht, nicht einmal heute hatte sie ihr einen
Groschen zugelegt . . . und jetzt mußte sie auch noch den alten häßlichen Wald¬
weg gehn!
Ärgerlich sah sie sich um und schritt dann schneller aus.
. . . Bloß wegen dem Fritz Jänisch, dem dummen Menschen!
Sie hatte sich ja gar nicht getraut, den gewohnten Weg nach Hause zu gehn,
den kannte er doch. Wenn er ihr nachgekommen wäre, und wenn es dann gerade
einsam war — du lieber Gott!
Die Frau hatte doch heute auch gleich davon angefangen: Lene, der will was,
nimm dich nur in acht, und hatte ihr dann selber den Weg hinten durch den
Garten nach dem Walde gezeigt.
Er hatte doch nichts gemerkt? Sie sah hastig zurück.
Der Weg lag still hinter ihr wie vor ihr. Nichts war zu hören als ein
Knicken und Klingen im Walde und ferner Vogelruf. Sie atmete auf, aber
die einsame Stille war ihr auch nicht lieb. So kam sie nicht los von unruhigen
Gedanken.
. . . Was wollte er denn, der große Mensch? Sonntag für Sonntag saß
er nun in der Mühle, immer ganz dicht beim Schenktisch, und sobald sie sich nur
blicken ließ, sah er mit großen, sonderbaren Augen zu ihr hin.
Zuerst hatte sie nur gedacht: Was ist denn mit dem? Dann redeten die
Mädchen davon, und schließlich wurde es ihr unheimlich.
Sie kannte ihn ja kaum. Sein Vater war Fuhrwerksbesitzer in Gomritz
drüben, hatte alle die Botenfuhren nach der Stadt, lieh Wagen aus und machte,
wie man sagte, ein schönes Geld.
Der Fritz war noch nicht lange von den Soldaten zurück, und. sagte die
Frau in der Mühle, wie sie da wiederkommen, kann man nie wissen; da lernen
sie viel Schlechtes. Was sollte auch Gutes danach kommen, wenn so einer sich an
sie heranmachte!
Wenn sie ihr nur nicht alle Angst gemacht hätten . . . neulich war bei Langen¬
dorf eine so häßliche Geschichte passiert: ein reicher roher Bursche hatte sich an einer
Magd vergriffen.
Das mußten sie ihr natürlich gleich erzählen!
Ein unbestimmtes Bangen trieb sie schneller und schneller vorwärts, und endlich
fing sie zu laufen an. Ihr straffes dunkelblondes Haar löste sich ein wenig, hob
sich über der Stirn und flatterte ihr lose um die Schläfen.
Es lief sich gut den weichen grasbewachsnen Weg entlang, und schließlich
machte es ihr Spaß. So hielt sie nicht eher an, als bis sie zum Holzkreuz kam
und die Brücke vor sich sah.
So — nun noch da drüber, dann war sie im freien Felde und nicht weit
vom Dorf.
Lange war sie nicht über die alte Brücke gegangen. Das letztemal als kleines
Mädchen. Sie konnte sichs noch gut erinnern. Zwei hatten sie gehalten, weil sie
sich so vor dem Wasser fürchtete, und sie hatte noch die Augen fest zugemacht, sonst
wäre sie vor lauter Angst doch noch reingefallen.
Ja damals!
Sie lachte vor sich hin, trat auf die Bohlen — und erschrak. Was war
denn das mit der Geländerstange?
Ganz da draußen hing sie; und wie sie den Arm auch streckte, sie konnte
nicht hinlangen.
Und ihr Herz klopfte laut. Aber was halfs? rüber mußte sie, und so tat
sie ein paar schnelle Schritte vorwärts.
Noch war Böschungsgrün unter dem Steg und angeschwemmtes Land. Dann
aber schimmerte zwischen dem breiten Spalt der unruhige Wasserspiegel herauf.
Und plötzlich sah sie überall nichts als rinnendes Wasser, überall ein Flimmern,
Glitzern und Wirbeln . . . und ehe sie recht wußte, was sie tat, wandte sie sich jäh
um und lief ans Ufer zurück.
Dort stand sie schwer atmend und ganz verwirrt.
Was war das eben?
War sie denn immer noch so furchtsam und dumm? Das wäre ja noch schöner!
Sie mußte doch über den Steg!
So biß sie die Zähne fest in die Unterlippe, zog die Stirn kraus und ballte
die Hände.
Und mit festem Schritt trat sie auf das Holz.
Diesesmal genügte aber schon dieser eine, und tels schreckliche Gefühl war
wieder da und fuhr ihr wie ein Schmerz durch den ganzen Körper. Sie konnte
keinen Fuß vor den andern bringen. Sie kämpfte mit sich und wurde über und
über heiß. Es ging nicht.
Eine Schande wars, aber es ging nicht.
Die Arme hingen ihr schlaff herab, und ganz erschöpft setzte sie sich am Weg¬
rand hin.
... Was sollte jetzt werden! Bis zur Mühle zurück wars eine halbe Stunde
und von da nach Hause wieder eine ganze. Da kam sie ja vor Nacht nicht heim.
Im Walde war es stiller geworden und dunkler, über den Feldern drüben stand
der Himmel rot im letzten Licht, und am Flusse hob sich ein feiner Nebel.
Mit großen erschrocknen Augen sah Lene hinüber nach dem offnen Lande und
fühlte auf einmal deutlich, wie klein sie war, ja klein und schwach wie ein Kind.
Da tönten Schritte vom Wege her.
Gott sei Dank, dachte sie ganz erleichtert; denn über ihrer Angst vor dem
Wasser hatte sie alles andre vergessen, es wird ein Förster sein, der nimmt mich
rin rüber.
Sie streckte den Kopf zwischen dem Buschwerk vor, das ihr die Aussicht nahm,
und fuhr jählings zurück. Und dann legte sie beide Hände vors Gesicht und fing
bitterlich zu weinen an.
Der den Waldweg herabkam, war ein großer stattlicher Mensch in einem
städtischen Sonntagsanzug, dessen ungeschickter Schnitt seinem kräftigen Wuchs nicht
gerade günstig war. Er hatte ein rundes Gesicht mit hellen Augen, den Mund
verdeckte ein starker, blonder Schnurrbart.
Wer aber den Fritz Jänisch als Jungen gekannt hatte, wußte, daß es ein
freundlicher, schüchterner Mund war, den der kecke Bart verbarg. Den steifen Stroh¬
hut hielt er in der Hand und sah sehr nachdenklich aus.
Da leuchtete etwas rot am Wege.
Oho, dieses Rot kannte er gut. Seine Augen glänzten auf, und er blieb
stehn. Dann gewahrte er Lenes sonderbare Haltung und kam naher heran. Was
tat sie denn?
Ein schluchzender Laut drang bis zu ihm.
Da wurde er über und über rot, stand wie festgebannt und drehte den Hut
zwischen den Händen.
Sie merkte zitternd, daß er nicht weiter ging.
Jetzt würde er anfangen; und sie duckte sich noch mehr zusammen.
Du ... eine Pause.
Du, was weinst du denn?
Es klang gar nicht gefährlich, aber sie war so verängstigt und verwirrt, sie
merkte es nicht, und zwischen den Händen stieß sie hervor:
Laß mich doch ... ach bitte!
Er verstand sie nicht. Was sollte er nur machen? Er konnte sie doch unmöglich
so hier sitzen lassen, so klein und hilflos wie sie war. Seine großen Hände mal¬
trätierten den Hut, daß er sich bog und knisterte.
Dann fing er wieder an:
Ist dir was? ... sag mirs doch ... und nach erneutem Stocken dringlicher:
Na, sag mirs doch!
Das klang nun so einfach und gutmütig, daß sie es nicht mehr überhören konnte.
Ganz erstaunt horchte sie ans und wagte es, durch die Finger zu blinzeln.
Und sah sein rotes, verlegnes Gesicht und wie er schüchtern an, Hute drehte.
... Du liebe Zeit, der hatte ja wohl selber Angst? ... Und schnell nahm sie
die Hände vom Gesicht, wischte sich mit dem Vlusenärmel energisch die Tränen ab
und sah ihn mit großen Augen an.
Wie ein neugieriges braunes Eichhörnchen lugte sie aus dem Busch und hielt
seinen Blicken still, die nun wieder mit jenem eigentümlichen, still fordernden Ausdruck
auf ihr lagen, den sie so wohl kannte, und der ihr so unheimlich vorgekommen war.
Doch mit einemmal fürchtete sie sich gar nicht mehr. Nur eine warme Röte
ging über ihr Gesicht.
Dann sagte sie: Ich kann ja nich über die Brücke!
Warum denn nich?
Ach, sie strich sich das Haar zurück und lachte leise, ich trau mich nich, ich
denke, ich falle ins Wasser!
All ihre Keckheit war wieder da.
Komm, führe mich, dann gehts — und sie stand auf und trat zu ihm.
Er nahm gehorsam ihre Hand, und so gingen sie der Brücke zu.
Das Wasser glänzte nun silbern unter dem leichten Dunst, und am roten
Abendhimmel drüben zeigte sich ein blasser Mond.
Als sie auf den Steg traten, hielt sie sich dicht hinter ihm und sah fest auf
seinen breiten Rücken. Doch plötzlich kams wieder über sie: O je! sie schwankte
und griff nach ihm.
Aber schon stand er an ihrer Seite: Mach doch die Augen zu! und dann legte
er fest den Arm um sie lind führte sie so hinüber.
Und war ihm eher zumute wie einer Mutter, die sorglich ihr Kind hält, als
wie einem, der mit der Liebsten geht.
Das alte Holz ächzte unter seiner Last, sie drückte sich enger an ihn. Dann
waren sie am andern Ufer.
Lene fühlte es wohl am weichen Erdboden unter ihren Füßen und hörte auch
neben sich das feine Knistern und Rauschen im jungen Korn, aber sie machte die
Augen nicht auf. Sie ging in seinen Arm geschmiegt, und ihr war wunderlich in
Kopf und Herzen.
Du ...
Nun sah sie auf.
Du ... ich will dich ...
Da war es, was sie so sehr gefürchtet hatte, und sie erschrak nicht. Nun
mußte es ja so kommen.
Doch taten ihr die schlichten Worte wohl und weh zugleich; denn wie das
genieint war bei einem so reichen Burschen, das wußte sie wohl.
So sagte sie nichts und sah zur Erde, drückte sich aber fester in seinen Arm.
Heiraten wolln wir zusammen.
Ach du! hastig machte sie sich von ihm los, red doch nich so!
Ganz erstaunt suchte er sie festzuhalten.
Je>, was is denn?
Ich weiß doch, wer du bist.
Na, was denn?
Sie wandte sich weg von ihm: Red doch nich so!
Du glaubsts nich?
Ruhig drehte er sie an den Schultern zu sich herum, bis sie wieder dicht vor
ihm stand, und als sie ihn nun mit den glänzenden Augen von unten her so trotzig,
ungläubig ansah, und die warmen Lippen eben zu einer ihrer raschen Reden öffnen
wollte, hob er sie ein wenig ans und küßte sie auf den Mund.
Aber ganz sacht; sie kam ihm noch gar zu zerbrechlich vor. Da wußte sie, daß
es ihm Ernst war.
Und sie lehnte sich wieder fest an ihn und ging still und voll Vertrauen an
seiner Seite hin.
Der Mond stand nun voll über den Feldern, ein leiser Wind sang im Korn,
und klar und mild kam die Nacht herauf.
Und das ist meine Geschichte von der Bingersdorfer Brücke, von der die
Wirtin nichts weiß.
Reichsspiegel
(Vereinsgesetz und Börscnnovelle. Die Erfolge des Blocks. Wandlungen in
der Demokratie. Kabinettswechsel in England.)
Schneller, als man erwarten konnte, ist die Beratung der beiden „Block¬
gesetze", des Reichsvereinsgesetzes und der Börsengesetznovelle, zu Ende geführt
worden. Schon am 8. April konnte der Reichstag in die Osterferien gehn. Es
gab noch leidenschaftliche Kämpfe, ehe das Ziel erreicht wurde. Als am 6. April
das Vereinsgesetz in zweiter Lesung zu Ende beraten wurde, versuchten Zentrum
und Sozialdemokraten einen neuen Ansturm gegen Paragraph 10a, der die Zu¬
lassung von Minderjährigen nnter achtzehn Jahren in politischen Versammlungen
verbietet. Diese Bestimmung war bekanntlich ebenfalls das Ergebnis eines Kom¬
promisses, ein Zugeständnis der Liberalen an die Konservativen. Daran knüpften
die Gegner des Blocks die Hoffnung, eine Anzahl von Mitgliedern der bürger¬
lichen Linken, die schon zu dem abgeschwächten Paragraphen 7 nur mit Wider¬
streben ihre Zustimmung gegeben hatten und darin ein genügendes Maß von Ent¬
gegenkommen gegen die Rechte sahen, dem Block abwendig machen zu können. Es
war eine eitle Hoffnung. Die freisinnigen Fraktionen hielten treu zur Fahne.
Jede Abstimmung ergab die Ohnmacht der Versuche des „Antiblocks", die ihm
gegenüberstehende Phalanx zu durchbrechen. Am Abend des 6. April war das
Vereinsgesetz in zweiter Lesung angenommen.
Und dann folgte am 7. April die zweite Probe auf die Festigkeit des Blocks.
Auch die Börseugesetznovelle wurde von beiden Seiten, von der rechten und von
der linken, auf das heftigste angefochten. Die Novelle sollte die Nachteile mildern,
die durch die Schärfen des Börsengesetzes von 1896 den legitimen Handel be¬
trächtlich geschädigt hatten. Die Tatsache, daß solche Nachteile bestanden, war nicht
zu leugnen. Das Gesetz war ursprünglich aus der auch in Handelskreisen als be¬
rechtigt anerkannten Beobachtung entstanden, daß sich in dem Betriebe der Börse
schwere Mißbräuche entwickelt hatten, die einen schädigenden Einfluß auf die
heimische Produktion und die Sicherheit der kleinen Privatkapitalien ausübten
Das Unglück wollte nur, daß das Drängen einflußreicher Kreise nach einer Börsen¬
reform sehr stark zu einer Zeit einsetzte, als die Caprivische Wirtschaftspolitik die
großen wirtschaftlichen Erwerbsgruppen in zwei Lager auseinander gerissen hatte,
die sich geradezu erbittert gegenüberstanden. Hier Landwirtschaft! — hier Handel
und Industrie! Das sah nus wie ein Schlachtruf. Und nur so ist es zu ver-
stehn, daß auch die gewiß berechtigten Wünsche der Landwirtschaft, eine Reform
des Börsenwesens namentlich durch Verhinderung des Börsenspiels in landwirt¬
schaftlichen Produkten durchgeführt zu sehen, in Handelskreisen als ein feindseliger
Schlag gegen den Handel und seine Interessen überhaupt empfunden wurde, ein
Schlag, der angeblich dazu bestimmt sein sollte, den Handel zu lahmen, Fortschritte
des beweglichen Kapitals zu hemmen und den Weg für einseitige Souderwünsche
der Agrarier freizumachen. Die damalige politische Lage erschwerte also die
sachliche Verständigung. Der wilde Trotz, den die Börse und die Handelskreise
dem Reformeifer ihrer Gegner entgegensetzten, hatte zur Folge, daß bei dem doch
zuletzt unabwendbaren neuen Gesetz viele Mißgriffe begangen wurden, die bei
loyaler Aufklärung und verständigem Entgegenkommen der feindlichen Lager wohl
zu vermeiden gewesen wären, während die agrarisch-konservativen Kreise aus dem
Verhalten der Börse und ihren schroff übertriebnen Klagen in der Überzeugung
bestärkt wurden, daß die Schäden und Mißbräuche noch lange nicht scharf genug
angefaßt worden seien.
In den maßgebenden Kreisen der Regierung wurde sehr bald die Notwendig¬
keit erkannt, die unnötigen Härten des Börsengesetzes zu mildern, aber die politische
Konstellation war der Lösung dieser Aufgabe dauernd ungünstig. Jedes Drängen
von links wurde aus den Reihen der Agrarier mit höhnischer Zurückweisung be¬
antwortet, der sich gewöhnlich die Bemerkung anschloß, eine Reform des Börsen¬
gesetzes sei allerdings notwendig, aber nicht im Sinne der Milderung der Vor¬
schriften, sondern vielmehr einer Verschärfung. Die Regierung suchte redlich zu
vermitteln, weil doch einmal eine Einigung auf der mittlern Linie erfolgen mußte,
ober es wurde ihr recht sauer gemacht, und als nun allmählich die Umstände immer
gebieterischer eine Reform verlangten, kam die Reichstagsauflösung und die neue
Wendung in der Reichspolitik. So wurde die Reform der Börsengesetzgebung einer
der Punkte, die in der ersten programmatischen Erklärung des Reichskanzlers zur
Blockpolitik enthalten waren. Aber bange Zweifel waren berechtigt, ob sich die
starken GegensäKe der Parteien so weit versöhnen lassen würden, um gerade bei
dieser Materie/die soviel gegenseitige Erbitterung erzeugt hatte, zu einem Kom¬
promiß zu gelangen. Der agrarische Flügel der Konservativen versicherte bis in
die Kommissionsberatuug hinein, sie könnten nun und nimmermehr nachgeben. Und
als die Kommission ihre Beratungen in erster Lesung beendet hatte, da konnte es
ängstlichen Gemütern wirklich scheinen, als ob für das Zustandekommen dieser Vor¬
lage nichts mehr zu hoffen sei. Die Konservativen hatten ihre Drohung wahr
gemacht und die Börsengesetznovelle in ein gesetzgeberisches Monstrum verwandelt,
das geeignet war, der Börse ganz und gar den Rest zu geben. Aber eben diese
Übertreibung zeigte deutlich die demonstrative Absicht. Es waren die Tage, in
denen sich die Liberalen schwankend zeigten und beim Vereinsgesetz beinahe schon
entschlossen schienen, vom Block abzufallen, um nichts von ihren „Prinzipien" zu
opfern. Man kann nicht sagen, daß mit dem Vereinsgesetz und der Börsennovelle
ein sogenannter „Kuhhandel" getrieben worden sei. Ein direkter Zusammenhang
zwischen der Behandlung beider Vorlagen bestand nicht. Aber eine indirekte
Wirkung wurde doch mit der Haltung der Konservativen bei der Kommissions¬
beratung über das Börsengesetz erreicht. Die Rechte bewies der Linken auf prak¬
tischem Wege: So sieht zu euerm Schaden die Gesetzgebung aus, wenn wir Kon¬
servativen in der Stellung zu unsern Parteiprinzipien dem Beispiel der Liberalen
folgen, d. h. nichts davon aufgeben wollen. Es bedürfte allerdings keiner Ver¬
abredung etwa in der Form: „Gebt uns die Zugeständnisse, die wir beim Vereins¬
gesetz verlangen; wir geben dafür das Börsengesetz." Die Lage sprach vielmehr
für sich selber, der Wink war deutlich genug. Als nun aber das Zustandekommen
des Vereinsgesetzes gesichert war, erwuchs daraus im Zusammenhang der Dinge
für die Rechte die Ehrenpflicht, nun auch ihre schroff ablehnende Haltung beim
Börsengesetz aufzugeben. Geeignete Vorschlage für ein Kompromiß zu machen, fiel
den Nationalliberalen zu, die in dieser Frage besonders berufen waren, eine Mittel¬
stellung einzunehmen. Auf der Grundlage dieses Kompromisses kam am 7. April
das Börsengesetz in zweiter Lesung zustande.
Auch in Börsenkreisen wird zugegeben, daß das Gesetz der Effektenbörse wesent¬
liche Vorteile und Erleichterungen bringt. Man hätte gern mehr gehabt, aber es
geht schließlich auch mit dem Erreichten, das immerhin eine wirkliche Verbesserung
bedeutet. Unzufrieden dagegen ist die Produktenbörse, die sich durch das aufrecht-
erhaltne Verbot des Terminhandels in Getreide eingeengt und geschädigt fühlt. Aber
zuletzt hat doch auch die Linke dem Kompromiß zugestimmt, sodaß die Vorlage nach
verhältnismäßig kurzer Debatte mit einer großen Mehrheit angenommen wurde.
Am 8. April folgten dann die dritten Lesungen der beiden Gesetze. Noch ein leiden¬
schaftlicher Kampf, dann hatte der Block den Sieg errungen.
Zwei große Erfolge hat also die Blockpolitik auszuweisen, und Fürst Bülow
hat gegenüber den zahlreichen Unglückspropheten und Spöttern Recht behalten. Zwar
sind die Zweifler noch nicht ganz bekehrt. Sie bemühen sich, die Bedeutung der
Erfolge mit dem Vereins- und Börsengesetz nach Möglichkeit zu verkleinern, und
behaupten plötzlich, die Sache sei doch eigentlich gar kein Kunststück gewesen und
bedeute einen viel zu geringen Fortschritt, als daß man sich darüber freuen oder
Hoffnungen darauf setzen könne. Die eigentliche Probe auf die Festigkeit des Blocks
stehe noch bevor, wenn die Aufgabe der Reichsfinanzreform zu lösen sei. Diese
letzte Behauptung kann man als richtig anerkennen, im übrigen aber darf man diesen
Kritikern entgegenhalten, daß sie selbst ihre Ansichten sehr stark geändert haben.
Sie haben dieselben Forderungen, die sie jetzt nach ihrer Erlangung so verächtlich
ansehen, einst sehr hoch geschätzt und ihnen in der Rangordnung der liberalen
Wünsche einen bevorzugten Platz eingeräumt. Darum ist die Bekrittelung der Block¬
erfolge recht bedeutungslos und kann nur dazu dienen, eine Opposition zu kenn¬
zeichnen, die einen Stich ins Hysterische hat. Überdies kann der Umfang politischer
Erfolge nicht an dem gemessen werden, was von einzelnen Politikern gefordert wird,
sondern nur daran, wie weit es dem leitenden Staatsmann glückt, ein von ihm
aufgestelltes Programm trotz allen Widerständen durchzuführen. Ob man das
Programm des Fürsten Bülow, womit er in die Blockpolitik eintrat, für richtig
oder falsch hält, ist eine Frage für sich. Tatsache ist, daß viele Politiker — man
darf wohl sagen: die Mehrheit der Politiker — die Durchführung dieses Programms
mit einer aus Konservativen und Liberalen gemischten Mehrheit für praktisch un¬
möglich hielten. Viele bemerkten dabei auch ziemlich höhnisch, die Vorschläge des
Reichskanzlers seien ja ganz vortrefflich, aber er werde sein Wort nicht einlösen
können. Wenn nnn auch dieselben Leute heute meinen, die früher von ihnen als
vortrefflich bezeichneten Dinge seien gar nichts wert, so ändert das doch nichts
daran, daß ihre damalige Diagnose falsch war. Denn Fürst Bülow hat zwei der
schwierigsten Punkte seines Blockprogramms wirklich durchgeführt, obgleich die er¬
fahrensten Politiker noch vor gar nicht langer Zeit darauf hätten wetten mögen,
daß er sie nicht durchführen werde. Die Politik des Reichskanzlers darf also ans
der Kreditseite ihres Kontos einen ziemlich hohen Betrag hundelt, gleichviel ob die
Bilanz andern Leuten in ihr Geschäft paßt oder nicht.
Ebenso wichtig wie der praktische Erfolg der Blockpolitik ist die bedeutsame
Erscheinung, die diesen Erfolg bewirkt hat, nämlich die innere Wandlung, die in
den Kreisen des sogenannten entschiednen Liberalismus hervorgetreten ist. Wir haben
uns hier schon mehrfach mit der Haltung des Abgeordneten von Payer befaßt, die
ein Beispiel dafür ist, wie allmählich auch die bürgerliche Demokratie aus dem
Reich der doktrinären Phrase auf den Boden der Realpolitik tritt. Endlich wird
auch aus dieser Seite den Parteipriuzipien die richtige Stelle angewiesen. Diese
Prinzipien sind notwendig als Ausgangspunkt des politischen Denkens, als Mittet
der Verständigung, um die Gesinnungsgenossen zusammenzuführen und zusammen¬
zuhalten, sowie ihnen das Ziel zu bezeichnen, dem sie als ihrem Ideal zustreben.
Aber bisher schleppten die Führer und Vertreter der Demokratie ihre Prinzipien
überall wie eine schwere Rüstung mit sich und kamen nicht vorwärts, weil sie gar
nicht ans das Ziel sahen, sondern immer nur daran dachten, sich in jedem Augen¬
blick als gewaltige Kämpen zu zeigen. So ließen sie sich beständig in ihrer glänzenden
Rüstung bewundern und merkten gar nicht, daß sie sich fortwährend in einem engen
Kreise bewegten, statt vorwärts zu schreiten. Jetzt ist in diesem Kreise das Be¬
wußtsein erwacht, daß man ein Ziel anstrebt, in dessen Erreichung die Prinzipien
viel besser gewahrt sind, als wenn man bloß damit paradiert. Es hat die Herren
freilich eine große Überwindung gekostet, den herkömmlichen, mit dem Wesen der
Demokratie zusammenhängenden Respekt vor dem Unverstand der Wählermassen
fahren zu lassen. Wer sich grundsätzlich ans die Masse und auf den Durchschnitt
stützt, muß ja immer etwas Unverstand zur Schau tragen; das gehört zum Geschäft.
Aber schließlich hat die Erfahrung zu denken gegeben, daß die großen Wählermassen
doch nicht bei der bürgerlichen Demokratie bleiben, sondern zur Sozialdemokratie
gehn, wenn sie immer und immer nur auf Unzufriedenheit und Opposition, niemals
ans positive Erfolge gestimmt werden. Man hat sich endlich entschlossen, es ein¬
mal auf andre Art zu versuchen, nachdem die letzten Reichstagswahlen eine gewisse
Enttäuschung und Ernüchterung unter den freiwilligen und unfreiwilligen Mit¬
läufer» der Sozialdemokratie hervorgebracht haben. Eine starke Strömung im
Liberalismus will es nun, statt mit der Furcht vor dem Wähler, mit der Gewinnung
des Wählers durch den praktischen Erfolg versuchen. Darum hat man die unver¬
besserlichen Doktrinäre in den Fraktionen der Linken abgeschüttelt, selbst auf die
Gefahr hin, daß die Herren Dr. Barth, Potthoff, von Gerlach usw. hingehen und
ihre eigne Partei gründen, die zwischen Liberalismus und Sozialismus umherirrt
wie der Schmied von Jüterbogk, der nicht wußte, ob er in den Himmel oder in
die Hölle gehörte. Unter den Männern, die sich von der Gemeinschaft der Doktri¬
näre und Allesverderber losgelöst haben, war auch Friedrich Naumann, der bis
jetzt in diese Gemeinschaft tief verstrickt war, nun aber, ohne sich untreu zu werden,
doch den Weg zur Realpolitik zurückgefunden hat.
Diese Wandlung im demokratischen Liberalismus ist von außerordentlicher
Bedeutung. Denn wenn ein Zug zum Doktrinarismus auch tief im Wesen dieser
politischen Anschauung begründet ist, so ist er doch nicht notwendig damit verbunden.
In andern Ländern, die schon auf eine längere Parlamentarische Entwicklung zurück¬
blicken, ist der Liberalismus schon längst realpolitisch und darum regierungsfähig.
Bei uns ist er — und zwar hauptsächlich durch eigne Schuld — künstlich davon
zurückgehalten worden. Wird das jetzt anders, so öffnet sich eine weite Perspektive
auf die Umgestaltung des politischen Denkens in den Kreisen, die bisher in der
Negation stecken geblieben sind. Wir können, wenn diese Entwicklung nicht wieder
unterbrochen wird, eine Gesundung und Erstarkung des Liberalismus erleben, der
die Grenze zwischen sich und der Sozialdemokratie wieder scharf und kräftig zieht
und durch die Fähigkeit zu positiver Mitarbeit die freiheitlichen, individualistischen
Strömungen im Volke aus dem Zustand unfruchtbarer und verbissener Opposition erlöst.
Der Anfang dazu ist gemacht; ob die Folgezeit dem entsprechen wird, wissen wir freilich
nicht. Am meisten zu fürchten hätte eine solche Entwicklung die Sozialdemokratie.
Zur Beurteilung des Liberalismus bieten die Ereignisse in England eine
interessante Parallele. Eine starke liberale Flutwelle hatte das Kabinett Campbell-
Bannerman in die Höhe' getragen. Die Vereinigung der doktrinär veranlagten
radikalen und der realpolitisch veranlagten, dem Imperialismus zuneigenden Richtung
hatte zunächst eine sehr große Mehrheit der Liberalen geschaffen, und man wußte
sich ineinander zu schicken. Die populäre Persönlichkeit Sir Henry Campbell-Bcmner-
mans mit ihrer Beredsamkeit und Gewandtheit machte dabei einen sehr wirksamen
Einfluß geltend. Nun hat eine äußere Veranlassung, körperliches Leiden, den Rücktritt
des Premierministers herbeigeführt. Sogleich kracht aber auch die künstlich zusammen-
gehaltne Mehrheit in allen Fugen. Sir Henry war persönlich ein ausgesprochner
Radikaler, aber seiner Persönlichkeit unterwarfen sich auch die andern Richtungen der
liberalen Mehrheit. Darum ergab sich für den Beobachter von außen ein täuschendes
Bild. Wirkliche Früchte hat diese Scheinherrschaft des Radikalismus nicht getragen.
Das Verdienst an dem, was wirklich geleistet worden ist, fällt den andern Richtungen
zu. Und jetzt, wo der leitende Mann zurückgetreten ist, findet er keinen Nachfolger,
der auf derselben Bahn wandelt. Der neue Premier Asquith ist ein tüchtiger Staats¬
mann, aber Imperialist und kein Radikaler, und der doktrinäre Liberalismus in
England steht mit seinen Abrüstungsideen, seiner Oberhausreform und ähnlichem
mißmutig vor einer Reihe von getäuschten Hoffnungen. Seine Gefolgschaft droht
abzufallen, und schon heute beginnt man mit der baldigen Wiederkehr einer konser¬
vativen Regierung zu rechnen. Zuletzt sind es doch nicht die das Ohr der Massen
kitzelnden Grundsätze und Versprechungen, sondern die realpolitischen Möglichkeiten,
die über die Schicksale nicht nur der Völker, sondern auch der Parteimeinungen
entscheiden.
Dernburgs Programm ist nun auch im Plenum des Reichstags nach allen
Seiten hin durchgesprochen worden. Daß in prinzipieller Hinsicht dabei etwas
Nennenswertes herausgekommen wäre, läßt sich leider nicht sagen. Es bleibt vor¬
läufig bei der negrophilen Zentrumspolitik, die sich Staatssekretär Dernburg in
solchem Maße zu eigen gemacht hat, daß er das uneingeschränkte Lob seiner frühern
bittersten Gegner ernten durfte. Wir sagen vorläufig, denn das Echo aus den
Kolonien selbst wird sicher nicht ausbleiben und vielleicht auch dem Staatssekretär
zu denken geben, jedenfalls aber einen Teil des Reichstags, der bis jetzt der Frage
der Eingebornenpolitik kühl gegenüberstand, aufmerksam machen und ihm die
einschneidende Bedeutung der Frage vor Augen führen. Es ist offenbar unsern
Volksvertretern bisher noch nicht recht klar geworden, daß das Verhältnis zu
den Eingebornen die Grundlage der gesamten Kolonialwirtschaft bildet,
und daß alles Reden über wirtschaftliche Maßnahmen, Eisenbahnen, Besiedlung usw.
leeres Stroh dreschen heißt, solange wir keine Gewähr für die Mitarbeit der Neger
haben. Was dies betrifft, soll man uns nicht übel nehmen, wenn wir uns an die
Erfahrungen und Anschauungen der alten bewährten Afrikaner und der kolonialen
Praktiker halten. Wir brauchen uns ja nicht gerade die Ansichten der schroffsten
Vertreter des Herrenstandpunktes zu eigen zu machen. Aber die Erfahrung hat
unzweideutig gelehrt, daß der Neger aus sich selbst heraus ohne bestimmten Zwang
niemals zu einer geordneten Wirtschaft gelangt (siehe Haiti und Liberia!). Wenn
wir nicht verstehn, die Eingebornen unsrer Kolonien durch geschickte Verwaltungs-
maßnahmen langsam aber sicher zu geregelter Arbeit zu bringen, so werden die
schönsten Unternehmungen draußen totgeborne Kinder bleiben. Gerade der be¬
ständige Eingriff der Verwaltung in ihr tägliches Leben wird den Negern am
besten zum Bewußtsein bringen, daß wir die Herren im Lande sind, und der Re¬
spekt vor der weißen Rasse wird ihnen in Fleisch und Blut übergehn, besser als
wenn sie sehen, daß unsre Bestrebungen lediglich von ihrem guten Willen abhängen.
Unser tiefwurzelndes soziales Empfinden wird uns davor bewahren, die notwendige
Erziehung des Negers zur Arbeit irgendwie in Härte ausarten zu lassen. Es soll
dem Neger bei uns gutgehn, und Aufgabe der Gesetzgebung wird es sein, dafür
die nötigen Garantien zu schaffen. Für alle Fälle aber muß der Grundsatz Geltung
erlangen: Wir sind die Herren im Lande, wir haben die Art der Erschließung des
Landes zu bestimmen unter Berücksichtigung der wahren Interessen der Eingebornen,
die sich dem anzupassen haben. Der Neger ist noch gar nicht reif, die dem Dern-
burgschen Programm zugrunde liegenden sozialen Anschauungen zu begreifen. Er
wird sie als Äußerung unsrer Schwäche aufsaßen und bei passender oder unpassender
Gelegenheit die Konsequenzen zu ziehen suchen. Wie, das haben uns die Aufstände
in Südwest- und Ostafrika gezeigt. Das ist die politische Seite der Sache.
Der Staatssekretär wird in nächster Zeit seine Fahrt nach Südwestafrika
antreten. Dort hat der frühere Gouverneur, jetzige Unterstaatssekretär vor Jahres¬
frist eine Politik eingeleitet, die der heutigen Dernburgschen direkt zuwiderläuft.
Die Eingebornen sind der allerschärfsten Kontrolle unterworfen worden, kein Herero
oder Hottentotte darf sich ohne Paß blicken lassen, der über das Woher und Wohin
genau Auskunft gibt und ihm von jedem Weißen abgefordert werden kann. Alles
Eigentum ist den Eingebornen abgenommen und das zu ihres Leibes Nahrung und
Notdurft Allernotwendigste an Vieh nur bedingungsweise überlassen worden. Sie
sind daher zum großen Teil gezwungen, für die Weißen zu arbeiten, um ihr Leben
zu fristen. Dieses Verfahren ist hart, aber gerecht und notwendig, um die Ein¬
gebornen von weitern Greueltaten abzuhalten, sie an Ordnung und Arbeit zu
gewöhnen und ihnen die Macht der Weißen tagtäglich vor Augen zu führen. Denn
der Aufstand steckt ihnen immer noch in den Gliedern, Ausschreitungen und Räubereien
unterworfner Hereros sind an der Tagesordnung. Und gerade als man im Reichstag
über die Härte dieser Politik jammerte, über die „Rechte" der Eingebornen debattierte,
traf die traurige Nachricht von einem neuen Hottentottenüberfall und dem Tode
zahlreicher Offiziere und Reiter ein — eine ernste Mahnung vor Übereilung.
Sie ist augenscheinlich nicht ohne Eindruck auf den Reichstag geblieben und wird
hoffentlich recht lange nachwirken. Dem Staatssekretär kann man nur wünschen,
daß er sich nach seiner Reise nicht verführen lassen wird, seine ostafriknnische Politik
auch auf Südwest zu übertragen. Die Liudequistsche Politik liegt auch im wohl-
verstandnen Interesse der Eingebornen selbst. Nur wenn diese durch scharfe Kontrolle
von weitern Dummheiten abgehalten und an Ordnung gewöhnt werden, können sie
sich wieder wirtschaftlich erholen. Für unsre Bestrebungen ist dies nicht weniger
wichtig, wir brauchen die Eingebornen so notwendig wie das tägliche Brot.
Dies ist die Auffassung unsrer Landsleute in Südwest, der Herr von Lindeauist
mit seiner Eingebornenverordnung Geltung verschafft hat. Mit Recht, denn die, die
mit ihrem eignen Leben für die Erhaltung des Landes eingetreten sind, haben
schließlich das erste Anrecht, dessen Geschicke mitzubestimmen. Da sie zugleich die
Träger des wirtschaftlichen Lebens sind, so müssen sie auch am besten wissen, was
dem Lande nottut. Anfang Mai treten die Ansiedler in Grootfontein zu einem
Farmertag zusammen, um über die weitern Maßnahmen zur Festigung der Ver¬
hältnisse zu beraten. Kolonialverwaltung und Reichstag werden gut tun, diesen
Beratungen ernste Beachtung zu schenken. Denn eine Politik, die in direktem
Widerspruch steht mit den Ansichten und Bedürfnissen derer, die sie am nächsten
angeht, bringt uns nicht vorwärts, sondern rückwärts. Und dies gilt für Ostafrika
ebensosehr wie für Südwestafrika.
Die kolonialen Eisenbahnvorlagen find inzwischen von der Bugetkommission
in vollem Umfange bewilligt worden. An sich wäre dies erfreulich, wenn man
wenigstens den Versuch gemacht hätte, die Vorlage für Ostafrika einer Revision zu
unterziehen. Wir halten nach wie vor an der in Ur. 13 ausgesprochnen Ansicht fest,
daß die in der Regierungsvorlage vertretne Eisenbahnpolitik für Ostafrika eine ernste
Gefahr in sich birgt, die Gefahr der Überflügelung durch die Grenznachbarn. Der
Weiterbau der Nordbahn über den Kilimandscharo hinaus bis zum Viktoriasee ist in
Frage gestellt und der Bau der Südbahn zum mindesten an eÄl-ZQÜsL Zrasoas verschoben
worden. Dabei ist soeben auf englischem Gebiet ein Teil einer englisch¬
portugiesischen Konkurrenzbahn fertig geworden, die von Beira nordwärts
über den Sambesi, entlang dem Schire über Port Herald Chiromo—Blantyre-Somba
nach dem Südende des Nyassasees führen soll. Vor wenigen Wochen ist das Projekt
der Strecke Beira-Sambesi auf portgiesischem Gebiete genehmigt und auf englischem
Gebiete die Strecke Port Herald—Blantyre ist soeben in Betrieb genommen
worden. Ein kurzer Blick auf die Karte genügt, um zu sehen, daß dieser Weg den
Verkehr des ganzen Nyassagebiets an sich ziehen würde, wenn nicht baldigst unsre
Südbahu in Angriff genommen wird. Zu dieser Gefahr kommt noch eine größere
in Gestalt der in Ur. 13 geschilderten portugiesischen Parallelbahn. Also nochmals:
ViclczMt oonsulss! —
In der ostafrikanischen Besiedlungsfrage ist der Staatssekretär nach¬
giebiger geworden. Er will im Sommer eine Kommission zum Studium der Ver¬
hältnisse nach Ostafrika entsenden. Da diese Kommission vom Unterstaatssekretär
v. Lindequist geführt werden foll, so kann man Ersprießliches von ihr erwarten.
Dennoch hätten wir für zweckmäßiger gehalten, nicht mehr Zeit mit Kommissionen
zu verlieren, sondern endlich mit einem praktischen Versuch zu beginnen. Mit einigen
hunderttausend Mark ließe sich da viel ausrichten. Ein Dutzend tüchtiger deutscher
Bauernfamilien und ein bewährter alter Afrikaner zur Führung wären sicherlich
unschwer zu finden. Immerhin kann man auch zufrieden sein, wenn die vorgesehene
Kommission dafür sorgt, daß im nächsten Kolonialetat die Mittel für eine solche
Probesiedlung gefordert werden. Die Sache ist wohl ein paar Hunderttausend
wert. Und an der Zustimmung des Reichstags wirds nicht fehlen.
'
Wäre nochdie Alkoholfrage zu erörtern. Dem Reichstag ist nämlich eine
Denkschrift zugegangen, betitelt: „Alkohol und Eingebornenpolitik". Wenn wir nur
erst eine vernünftige Eingebornenpolitik hätten, der Alkohol wäre der geringere
Kummer. Die Denkschrift vertritt die Ansicht, daß durch die Bekämpfung des Alkohol¬
konsums die eingeborne Bevölkerung kulturell gehoben, arbeitstüchtiger wird, und
verlangt darum einerseits Verteuerung des Alkohols durch kräftige Erhöhung der
Einfuhrzölle Hand in Hand mit den Nachbarkolonien, andrerseits ein völliges Einfuhr¬
oder Verkaufsverbot für deu Alkohol. Diese Bestrebungen wären an sich sehr zu
billigen, denn wenn der Schwarze Schnaps trinken will, so soll er ruhig ordentlich
bezahlen. Für den Fiskus und für den Handel wäre dies nur von Vorteil. Eine
andre Frage ist es, ob ein Verkaufs- oder Einfuhrverbot die gewünschte Wirkung
hätte, ob nicht die Herren Neger wieder in verstärktem Maße bei ihren einheimischen
geistigen Getränken, die viel schädlicher sein sollen als unser Schnaps, Ersatz suchen
werden. Irgendwelche Anregungsmittel werden schließlich immer genossen, ob sie
nun Alkohol, Haschisch oder Opium heißen. Der Alkohol ist davon noch nicht das
schlimmste. Sollte übrigens in der Denkschrift nicht Ursache und Wirkung ver¬
wechselt sein? Uns will es scheinen, als ob nicht die Neger durch Alkoholentziehuug
von selbst arbeitsamer würden, sondern daß durch stärkere Heranziehung zu regelmäßiger
körperlicher Arbeit die Lust und Gelegenheit zum Schnapstrinker geringer wird. An
einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Alkohol und Arbeit glauben wir nur in¬
sofern, als der Wunsch nach Alkohol bis dato viele Neger erst zur Arbeit veranlaßt.
Hier den Alkohol durch einen andern Anreiz oder „sanften Druck" zu ersetzen und
dann die Erlangung vou Alkohol zu erschweren wäre entschieden sehr zu empfehlen.
Item: die Heranziehung des Negers zur Arbeit ist das A und das O aller
Kolonialpolitik. Ist die Eingebornen- und Arbeiterfrage gelöst, so lösen sich alle
andern „Fragen" spielend, auch die Alkoholfrage, denn Müßiggang ist aller
Laster Anfang!-------'-
el einem Reiche mit der Riesenausdehmmg Chinas, wo die Re¬
gierung — dank der willkürlichen Berichte der Mandarine an
die Gouverneure — oft so herzlich wenig von dem weiß, was
tatsächlich in den achtzehn Provinzen vorgeht, ist es nur allzu
erklärlich, daß in moderner wie in alter Zeit eine dauernde Ruhe
niemals herrschen konnte, kann und können wird. Gründe dafür mögen die
Invasionen durch feindliche Stämme (nennen wir in neuester Zeit ruhig die
vereinigten Mächte des Abendlandes, Amerika und Japan), die Unzufriedenheit
des Volkes infolge der Erpressungen durch die Beamten, die Geheimbündelei
und eine unendliche Reihe von Palastrevolutionen sein.
Die Gärung im Volke veranlaßte eine lange Kette von kleinern und
größern Kriegen, die der chinesischen Geschichtschreibung gemäß bis ins dritte
Jahrtausend v. Chr. zurückzuführen sind, als auf den erstbekannten berühmtesten
Kaiser Huangti Herrscher folgten, unter denen des ersten Werk zerfiel, das
sich im spätern Laufe der Jahrhunderte in beständigem Wechsel der Dynastien
wieder aufrichtete oder wieder zusammensank.
Als stumme Zeugin für die Mühe, mit der sich die Herrscher gegen die
einfallenden Mongolenstämme zu wehren hatten, ragt aus zackigen Gebirgs-
kümmen das wunderbare Befestigungswerk — die große Mauer mit ihren
(damals militärisch besetzten) Wachttürmen — auf. Mitte des sechzehnten Jahr¬
hunderts n. Chr. zur Zeit der Mingdynastie erhielt sie ihre jetzige Gestalt.
Mit dem Sturz dieser Dynastie im Jahre 1644 n. Chr. durch die Mandschu
blieb das Schwert am Ruder der Herrschaft, der Zopf trat hinzu.
Unter „Zopf und Schwert" vegetierte China weiter, der Opium trat
hinzu, dem China um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts den sehr zur
Unzeit geführten Opiumkrieg verdankte, bei dem England obsiegte.
Sehr zur Unzeit, denn zu derselben Stunde brach der entsetzliche Taiping-
anfstand aus. der Tausende an die Fahnen eines religiösen Fanatikers heftete.
Schon — wie die Gegner, die kaiserlichen Truppen — im Besitz von modernen
Waffen, durchzogen die Rebellen sengend und mordend von Süden nach Norden
das geplagte Land. China mußte es sich gefallen lassen, daß schließlich mit
Hilfe englisch-französischer Truppen dem Aufstand ein Ende gemacht wurde,
denn die eignen Truppen, obwohl schon in den Anfangsstadien der europäischen
Ausbildung, vermochten nur wenig, außerdem lag China (in den letzten Jahren
des Taipingaufstcmdes) selbst mit Frankreich und England im Kriege.
Anfang der achtziger Jahre fiel Tonking an Frankreich; wir sehen etwa
zwanzig Jahre später, wie das Reich der Sonne trotz seiner schönen Schiffe
und modernisierten Truppen von Japan besiegt wird, sehen die Wirren
von 1900, wo sich der Morgenländer den Waffen des Mannes ans dem
Westen beugt, und schauen endlich atemlos auf das wilde russisch-japanische
Ringen auf chinesischem Boden, denn dank dem Unvermögen seiner Truppen
stand China machtlos an der mandschnrischen Grenze und sah blutenden Herzens
zu, wie zwei fremde Mächte sein eignes Land leiden machten.
Seit Jahrzehnten schon waren ausländische Militärinstrukteure im chine¬
sischen Solde tätig, aber die Tatsachen zelligem nur negativen Erfolg. Das
Amt eines solchen Instrukteurs war dornenvoll.
Der Chinese ist von klein auf dazu erzogen, den Soldatenstand nicht zu
achten, dementsprechend war der Ersatz, mit dem sich die Lehrer abzuquälen
hatten, recht mäßig. Die Verschiedenheit in den Charakteren des Orientalen
und des Occidentalen kommt hindernd hinzu, dieser muß sich erst vollständig
in den Gedankengang jenes hineinversetzen, um sich eine auch nur einigermaßen
genügende Autorität zu verschaffen.
Einen richtigen soldatischen Geist in der chinesischen Armee einführen zu
wollen, ist eine gewaltige Aufgabe, eine Sisyphusarbeit. Aber es existiert
jetzt ein Mächtiger, der es sich vorgenommen hat, mit allen Kräften diese
Arbeit innerhalb seines Machtbereichs erfolgreich zu machen, es ist der Vize¬
könig von Tschiki, Duar-fehl-kai, der Reformator, der mit weitem Blick unter
der Devise „China für die Chinesen" an der Modernisierung seiner Truppen
arbeitet.
„China für die Chinesen", das heißt leider für uns, daß er dem Stamm
der Morgenländer auch insofern treu bleibt, als er jetzt die japanischen In¬
strukteure bevorzugt, denen die andern ausländischen immer mehr weichen
müssen, denn der Japaner hat alles moderne erlernt und lehrt sein Wissen
und Können — soviel ihm davon weiterzugehen gut scheint — billiger als
der Abendländer.
Und nicht nur in Petschili arbeitet man schon längst nach dem japanischen
Exerzierreglement, sondern dieses wird auch am Jangtse eingeführt, denn eine
Verfügung des Generalgouverneurs von Nanking vom Frühjahr 1904 bestimmt
auf Grund eines Berichts vom Kommandanten der Forts bei Nanking, daß
in den Jangtseprovinzen das japanische Exerzierreglement eingeführt werden
soll, daß also nicht mehr nach dem deutschen, englischen und japanischen zugleich
gearbeitet wird, sondern nur noch nach japanischem. Interessant ist dabei,
daß der Berichtende den Parademarsch der Japaner als besonders zweckmäßig
hervorhebt.
Die Stärke der Truppen Inca-fehl-kais mag etwa 60000 Mann be¬
tragen. Er hat sie aus den Truppen seiner ehemaligen Provinz Schenkung
zusammengesetzt, wo er Gouverneur war, bis er im Jahre 1900 den Posten
Li-sung-tschangs in Petschili bezog, dazu kamen die von Yncm-fehl-kai selbst
Angeworbnen, ferner die Truppen, die er in Petschili vorfand, und die ehemals
unter des greisen Li-sung-tschang Befehl standen, und endlich Truppen, die
von andern Provinzen an Duar-fehl-kai abgegeben wurden.
Die größern Standorte sind vor allem die Zentrale des Heerwesens in
Tschiki. die Stadt Paotingfu südwestlich von Peking, dann Peking selbst,
Tientsin, wo der Vizekönig seinen Sitz hat, und Schanhaikuan, wo sich die
große Mauer von der Küste aufwärts zum Gebirge schwingt.
Die Armee weist sämtliche Waffengattungen auf, die Ausrüstung ist noch
recht verschieden. Wir finden an Waffen Gewehre deutscher, japanischer und
chinesischer Konstruktion, an Geschützen meist Kruppsche und japanische Gebirgs-
und Feldgeschütze verschiedenster Art.
Der Sold ist fast das einzige, über das der Kaiser (besser die Kaiserin-
Witwe oder -tante) bestimmt. Wieviel hierbei in die Taschen der Offiziere
und Beamten fließt, mag dahingestellt sein!
Was das Menschenmaterial anlangt, so hat man bei der neu zu schaffenden
Armee in erster Linie auf die Mandschus zurückgegriffen, die man kurz Banner¬
leute nennt. Diese stehn der regierenden (Mandschu-) Dynastie am nächsten
und eignen sich, da sie den Chinesen gegenüber Vorrechte genießen, bei ver¬
nünftiger Organisation, die ihnen bis heute fehlte, sicherlich am besten für ein
modernes Heer.
In, Sommer 1905 erschien in Tschiki ein Aufruf für Freiwillige, der
folgende Bedingungen festsetzte: Jeder Bannermann, der seinen Ursprung genau
als solcher nachweisen kann, wird zugelassen, falls er noch nicht aktiv gedient
hat; er muß von guter körperlicher Beschaffenheit sein, die Größe mindestens
1.60 Meter betragen. Daß sich nicht allzuviele meldeten, liegt auf der Hand,
denn es ist ungeheuer schwer, den Chinesen Liebe und Achtung für den
Soldatenstand beizubringen. So sah sich auch Unan-fehl-kai genötigt. Aus¬
hebungen einzuführen und im Verein damit Werbungen innerhalb wie außer¬
halb Petschilis zu veranstalten.
Die Ausgehobnen müssen drei Jahre bei der Fahne, ebensolange in der
Reserve und bei der Landwehr verbleiben.
Die Frage der Unterbringung ist bei der Genügsamkeit des Chinesen
leicht geregelt. Was bei uns die komfortable Kaserne ist, ist beim Chinesen
das „Lager". Ein typischer Punkt für diese Soldatenlager ist der „kaiserliche
Wildpark" der Haitze im Süden Pekings, eine flache, baumlose, endlose Gras-
ebene. Rund oder quadratisch, von einem Lehmwall eingerahmt, ist der Platz,
der ein Soldatenlager bildet. Ein solches birgt gewöhnlich ein Bataillon
Infanterie (etwa 500 Mann), zwei Eskadrons (etwa 200 Mann) oder eine
Artillerieabteilung (etwa 350 Mann).
Die Truppen liegen in einfachen Lehmhäusern, die Offiziere dicht bei
den Mannschaften. Familien des Militärs wohnen außerhalb des Lagers;
weibliche Personen haben keinen Zutritt zum Lager. Es kommt aber auch
vor, daß dieses Verbot übertreten wird, wie beifolgende kleine Episode beweist:
Eines Tages wurde in einem Lager bei Paotingfu ein junger Diener von
heftigen Leibschmerzen befallen. Als man ihm helfen wollte und ihn unter¬
suchte, ergab sich, daß der Junge ein Mädchen war, und alsbald vollzog sich
auch die Entbindung. Das Mädchen hatte sich mit seinem Liebhaber zu¬
sammen den Werbern gestellt. Beide waren genommen worden, „er" als
Soldat, „sie" als Diener, und nun fand der Liebestraum ein so jähes Ende!
Solche „Fälle" sind die Folge davon, daß die cmgeworbnen Mannschaften
vielfach körperlich nicht untersucht werden; kündigt doch zum Beispiel ein
allerdings in Schankung seinerzeit erschienener Aufruf, der mit dem Zweck des
Einstellens die gute Absicht verbindet, den Soldaten Ehrgefühl beizubringen,
selbst an, daß die Leute bei der Untersuchung von der Entblößung des Körpers
befreit werden sollten.
Dieser Aufruf spricht übrigens in großen Tönen zum Volke. Er ver¬
urteilt die, die sich schämen, Soldat zu werden, verspricht ehrerbietige Be¬
handlung und sucht zu beweisen, daß es dem Eingestellten möglich sein wird,
seine Angehörigen zu unterstützen, was die Chinesen bei der ihnen (dem Kon-
fuzicmismus entsprechenden) anerzognen Elternverehrung vielleicht am meisten
anlockt.
Gebildeter» wird schnelleres Aufsteigen in den Chargen verheißen, es
wird ferner die Versicherung gegeben, daß die Ortsältesten, bei denen sich
der Bewerbende meldet, nicht, wie üblich im Reiche der Mitte, als profitierende
Zwischenhändler dienen dürfen, widrigenfalls sie schwere Strafe treffen soll.
Es ist oben von ehrerbietiger Behandlung die Rede gewesen — nun, wer ge¬
sehen hat, wie der Korporalstock zwischen den chinesischen Kriegern arbeitet, der
wird diese „Ehrerbietung" nicht so genau nehmen, besonders wenn er weiter
von einer einstigen Kundgebung hört und liest, die ein Truppenkommandant bei
Peking seinen Soldaten zugehn ließ. Mit drakonischer Schürfe ist sie zum
Teil geschrieben: Strenges, tägliches Exerzieren nach vorhergehendem nament¬
lichem Verlesen soll stattfinden, ohne Urlaubskarten kein Urlaub, Revision
durch die Offiziere. Belästigung der Bevölkerung ist streng zu ahnden.
Todesstrafe trifft den, der im Kriege flieht oder desertiert, wer sich der
Plünderung, Vergewaltigung der Frauen, der Zugehörigkeit zu geheimen Ver¬
bindungen, des Verkaufs von Waffen und Munition schuldig macht. Mit
Pranger und Abschneiden des rechten Ohres wird bestraft, wer Kameraden
bestiehlt, sich betrinkt und öffentliches Ärgernis erregt, wer die Waffen be¬
schädigt. Vorgesetzte beleidigt, ihre Abzeichen nicht respektiert, wer beim Exer¬
zieren ohne Erlaubnis redet, und wer Hasard spielt.
Die. die sich liederlich betragen. Opium rauchen und ausschweifend leben,
zu spät in die Kaserne zurückkehren, ohne Grund vom Dienst wegbleiben, das
Gewehr verlieren. Kommandos falsch ausführen. Gehorsam verweigern, er¬
pressen und belügen, haben Prügelstrafen. Arrest oder Ausstoßung aus dem
Heere zu erwarten. Milder wird bestraft, wer sich beim Dienst vernachlässigt,
die Waffen und den Anzug schlecht instant hält, wer zu spät zu Bett geht
und zu spät aufsteht. Auf solche Vergehen stehn vierzig Hiebe.
Welcher Unterschied zwischen diesen Zeilen und den ermahnenden Worten
des vorhergehenden Ausrufs! Aber wie berechtigt diese Strenge ist. erkennt
man. wenn man an den absolut unmilitärischen Geist des Chinesen denkt,
dessen Heeresapparat noch in den Kinderschuhen steckt. Der Anblick der Ge¬
wehre ist oft trostlos. Vielfach sind sie ungeputzt und verrostet, manchmal
dient statt des Gewehrriemens ein Bindfaden und statt des Mündungsschoners
ein roter Zengpfropfen. Viele haben das Schloß mit blauem Tuch gegen
Nässe, feuchte Luft und Staub umwickelt.
Um der Reorganisation der Armee gerecht zu werden, mußte man Haupt-
sächlich die Frage des Offizierersatzes in Angriff nehmen. Was nützten den
modern umzugestaltenden Waffen die Militärmandarine in Sammet und Seide
mit dem breiten grünen Steinring am rechten Daumen, dem Zeichen des Bogen¬
spanners des Ritters? (Da der rechte Daumen hauptsächlich zum Festhalten
der Bogensehne gebraucht wird, bedarf er eines besondern Schutzes, und man
trug als solchen den Steinring, der sich der Tradition gemäß bei den männlichen
Nachkommen der alten Rittergeschlechter als äußeres Zeichen erhalten hat.)
Man verlangte nach tüchtigen, modern durchgebildeten Männern! So
wurde ein kaiserliches Edikt im Sommer 1905 den neuen Anforderungen
gerecht. Es vergleicht die Gegenwart mit der Vergangenheit und spricht von
den Wandlungen der Kriegskunst. Es kommt somit auf die Überflüssigkeit
des Bogens und bestimmt, daß die Beamten, die bei Audienzen dem Zere¬
moniell entsprechend bisher den Bogen getragen haben, ihn nun weglassen sollten.
Auch die Fürstlichkeiten sollen emsig die Kriegskunst studieren!
Brauchte der Bewerbende früher nur das schon erwähnte Bogenschießen
zu Fuß und zu Pferde. Säbelfechten und Steinstoßen und -werfen (eine Art
Diskus) zu können, und hatte der Sauers (Bestechung oder Erpressung) seine
Rolle gespielt, so wurde der junge Mann „Offizier", gleichgiltig aus welcher
Familie er war, und wie seine Bildung und sein Körper beschaffen waren.
Das hat sich nun geändert! Jetzt verlangt man Abstammung aus guter Familie,
anständiges Vorleben und gute körperliche Beschaffenheit.
Der Aspirant beginnt seine Ausbildung in einer der neu in dem letzten
Jahrzehnt entstandnen Militärschulen, die man etwa mit unsern Kadettenkorps
und Kriegsschulen vergleichen könnte, und betritt diese etwa im zwanzigsten
Lebensjahre (dies entspricht unserm neunzehnten, denn der Chinese rechnet sich
im allgemeinen im Vergleiche zu unsrer Altersrechnung immer ein Jahr mehr
an, als ihm eigentlich zusteht).
Zunächst lernt der Militärschüler theoretisch und praktisch das Gewehr
und seinen Gebrauch kennen sowie die Schießlehre, ferner Planzeichnen. Er
übt und vervollkommnet sich im Rechnen, Lesen und Schreiben. Wen dieses
wundernehmen sollte, der denke an die schier unendliche Menge der chinesischen
Schriftzeichen, an denen selbst ein hochgebildeter Chinese kaum auslernt.
Unterricht in der Geographie und Geschichte, Politik und Industrie gehören
weiter zur theoretischen Ausbildung. Die praktische verlangt Vervollkommnung
im Felddienst. Turnen und Schießen.
Nach fünf bis acht Jahren ist die Lehrzeit beendet, und der Schüler
kann als Offizier (Wuguen) nach bestandnen Examen in die Armee eintreten.
Wie streng und rücksichtslos man die jungen Leute auf den Militärschnlen be¬
handelt, dafür gibt nachstehendes Beispiel einen Beweis: Es war in der neusten
Zeit, als sich ein Zögling mehrfach unter falschem Vorwand Urlaub erschwindelte;
die Sache kam ans Licht, und er sollte hingerichtet werden, nur ans Bitten
seiner Eltern schonte man seiner, doch wurde dem angehenden Fähnrich ein
Ohr abgeschnitten!
Zwar gibt das japanische Exerzierreglement die Richtschnur der mili¬
tärischen Ausbildung, aber, wie wir wissen, lernt der Chinese auch von andern
Staaten, zum Beispiel von uns, denn viele anserlesne junge Männer befinden
sich zurzeit zur Informierung in unsrer Armee.
Daß man jetzt auch für die Entfernung von vielen unnützen Vrotcssern
sorgt, beweist die dankenswerte Tat eines höhern Beamten im Sommer 1904.
der schonungslos der auf den s^use^e gestützten Herrschaft des heiligen
Bnreaukratius im chinesischen Kriegsministerium einen scharfen Hieb versetzte,
indem er die dortigen Verhältnisse aufdeckte. Recht einfach war das Verfahren,
dessen man sich zur Abhilfe bediente: es erschien eines schönen Tages die Polizei
im Kriegsministerium und entfernte die überflüssigen Schreiber, aus 3712
wurden 30! Und das genügte auch.
Was hat nun China in Tschiki mit seineu modernen Heeresabsichten er¬
reicht? Antwort: Viel! — denn es finden moderne Manöver in Tschiki statt;
die ersten sind im Herbst 1905 abgehalten worden.
Rund 23000 Mann, zu acht Brigaden gebildet, hatten sich zusammen¬
gefunden, man formierte aus ihnen eine Nord- (blaue) und eine Süd- (rote)
Partei, die sich während dreier Tage bekriegten. Rot trug dunkelblaue, Blau
gelbe (khakifarbne) Uniform, die Abzeichen der Offiziere und der Unteroffiziere
bestanden aus Ärmeltresseu oder -streifen. Kopfbedeckung war eine Art
Mütze bei allen. Die Manöveranlage entsprach vollständig den modernen
Anforderungen. Vom Jangtse kam die rote Armee und drang am Kaiser-
kanal (der von Nanking nach Tientsin führt) entlang in Tschiki ein. Blau
hatte sich bei Paotingfu (südwestlich Peking) gesammelt und marschierte von
dort der roten Armee entgegen. Jeder sollte den andern angreifen. Der
Wirklichkeit entsprechend eröffneten die Kavalleriepatrouillen die Schlachtoper.
Sie benahmen sich sehr unterschiedlich, teils geschickt, indem sie in dem
flachen Gelände jedes Dorf und jedes Gebüsch als Station benutzten, teils
ungeschickt, indem sie bis auf wenige hundert Meter, ohne den Feind zu
bemerken, an dessen stärkere Trupps heran„taperten". Das Fernglas trugen
die Offiziere meist nur als Verzierung und benutzten es fast nie! Später
erfolgte eine richtige Attacke, bei der der Nordkavallerie durch den Vizekönig
Juan-fehl-kai, der persönlich die Kritik hielt, der Sieg zugesprochen wurde.
Süd hatte zu früh galoppiert, die Pferde waren außer Atem.
Als Reittier diente das chinesische Pony, es trug den mit Tuch über-
zognen Holzsattel mit Schwanzriemen, am Sattel Packtaschen, Tränkeimer.
Brotbeutel und Hufeisentaschen.
Der Reiter trug Lederstiefel, Mantel und rotbraunen Segeltuchumhang,
Feldflasche, er war mit dem Karabiner 88, bei dem man aber gerade und ge¬
bogne Kammerknöpfe bemerkte, und dem Kavalleriedegen 89 ausgerüstet, die
Lanze sah man nirgends. Die Ponys hatten den üblichen, schlechten chinesischen
Putz, sie hielten ganz gut aus. Ihre Nahrung besteht ans Hirse (Kauljang).
schwarzen Bohnen, Häcksel und Stroh.
Am zweiten Tage gab es Artillerie- und Jnfanteriekampf. Die Infanterie
trug Tornister nach deutschem Modell, zwei große vordere, manchmal eine
Hintere Patronentasche. Brotbeutel. UmHang, Lederstiefel und war im übrigen
wie oben angegeben gekleidet. An Gewehren waren japanische und deutsche
Modelle vertreten, die Instandhaltung war die übliche schlechte. Bei der
Schützenlinie blieben die Offiziere dauernd hinter der Front, das Schützen¬
gefecht war unordentlich.
Die Pioniere führten Maultiere als Tragtiere für Spaten, Beilpicken
und Werkzeug mit. Pioniere und Artillerie hatten denselben Anzug wie die
Infanterie, nnr mit den ihrem Zweck entsprechenden Änderungen. Die
Artillerie war mit Gebirgs- und Feldgeschützen japanischen und Kruppschen
Modells sowie solchen aus chinesischen Waffenfabriken ausgerüstet, im ganzen
nahmen etwa 120 Geschütze an dem Manöver teil. Bei der Bespannung
(sechs Ponys für ein Geschütz) der Geschütze und bei den Munitionskolonnen
wurden deutsche Vocksättel gebraucht. Das Auf- und Abprotzen ging sehr
langsam. Etwa dreißig Chinesenkarren gehörten zu einem Trainbataillon. Daß
diese Karren für China absolut praktisch sind, wird jeder, der die chinesischen
Wege kennt, auf denen sich ein andres Vehikel kaum zum Fahren eignet, ein¬
sehen, aber die Fortbewegung ist sehr schwerfällig.
Biwakiert wurde vielfach, die Bewohner der umliegenden Dörfer stapelten
Stroh und Futter gegen Quittungen auf. Fleisch mußte gekauft werden.
Kohl und Reis wurde den Mannschaften geliefert. In den Marschquartieren
erließ man strenge Ortsbefehle, um erstens die Soldaten in Zucht zu halten,
zweitens die Einwohner zu beruhigen. Dieses war bezeichnend, aber not¬
wendig, wenn man sich an die Opferreisen des kaiserlichen Hofes erinnert, bei
denen die Begleitmannschaften (die darauf angewiesen waren, sich selbst zu
beköstigen) requirierend mit den Hofkarawanen durchs Land zogen. (Bei den
sehr langen Tagesmärschen des Hofzuges wurden einige übermüdete Soldaten,
die nicht imstande waren, weiter zu marschieren und am Wege liegen blieben,
als Deserteure an Ort und Stelle geköpft.)
Die Marschleistungen beim Hin- und Rückmarsch zum und vom Manöver
betrugen für die Infanterie für den Tag etwa 20 bis 25 Kilometer, für die
Artillerie etwa 35 Kilometer, für die Kavallerie etwa 45 Kilometer.
Aber nicht nur durch moderne, aller Welt bekannte Manöver bemüht
man sich, dem Geist der Militürzeit gerecht zu werden, sondern auch hinter
den Kulissen arbeitet die frisch geölte Maschine. Es wird in den Lagern der
Soldaten Schreib- und Leseunterricht erteilt, man gibt eine Soldatenzeitung
heraus, die gelesen und vorgelesen wird, und beginnt mit dem Dienstunterricht.
Dank dem Konfuzianismus, der im Volke so tief eingewurzelt ist, sollte
es zur Möglichkeit werden, daß der chinesische Soldat seinem Offizier mit
Achtung und Gehorsam begegnet, predigt der alte Weise aus Schankung doch
Gehorsam und Achtung des Jüngern gegen den Ältern und des Untergebnen
gegen den Vorgesetzten, aber auch Wohlwollen von oben nach unten! Folgender
Fall gibt ein Beispiel von der Einwirkung der uralten Moral: Juan-fehl-kai
selbst beantragte im Sommer 1904 auf Grund eines von ihm aufgestellten
Berichts über einen verstorbnen berühmten General die Beförderung desselben,
da eine im aktiven Dienst entstandne Krankheit die Todesursache gewesen war.
Die Beförderung wurde vom Kaiser genehmigt, zu welchem Rang der Ver¬
storbne befördert wurde, ist leider nicht näher bekannt geworden, sondern
nur die Tatsache, daß eine Beförderung stattfand. (Erinnert das nicht daran,
daß vor kurzem unser verstorbner General Meckel, der Reorganisator des
japanischen Heeres, in Japan selbst heilig gesprochen wurde zum Dank für seine
eminenten Leistungen?)
Diese Bemühung Juan-fehl-kais ist ein schönes edles Festhalten an den alten
Gebräuchen der Ahnenverehrung, die die Vergangnen unsterblich macht, es ist aber
auch ein Beweis des zähen Festhaltens in moderner Zeit an den alten Sitten.
Zum Schluß noch ein chinesisches Sprichwort, das die Hindernisse, die
den militärischen Reformen im Wege stehn, genügend charakterisiert: „Ein guter
Mensch wird nicht Soldat, und aus gutem Eisen macht man keine Nägel."
/MW-in Memorandum der Kolonie Victoria, in der sich die Chinesen
von 2000 im Jahre 1854 auf 42000 im Jahre 1859 vermehrten,
betont eine andre Seite der Frage mehr, indem es sagt: An¬
gehörige der europäischen Völkerschaften, die in unser Gemein¬
wesen treten, mischen sich mit der allgemeinen Bevölkerung; sie
bringen ihre Frauen und Kinder mit sich; ihre Lebensgewohnheiten, ihre
Zivilisation, ihre Religion. Sitten und ihre physische Beschaffenheit gleichen so
sehr der unsrigen. daß es eine natürliche und glückliche Mischung wird, sie sind
uns deshalb sehr willkommen.
Der Chinese dagegen steht zu uns in scharfem Kontrast, er kommt ohne
Frau und Kinder, anscheinend ohne die Absicht, sich niederzulassen; in den
Gemeinden, wo er sich niederläßt, führt er ein abgesondertes Dasein Das
..Chinesenviertel" in unsern Städten ist sprichwörtlich geworden, es ist stets
abgesondert und meist berüchtigt! Es ist weniger die Tatsache dieser Isolierung,
sondern mehr die Unmöglichkeit, daß es anders sein und werden kann, die uns
abschreckt. Sie sind nicht nur eine fremde Rasse, sondern sie bleiben es. So
kann man von keiner Kolonisation im guten Sinne des Wortes sprechen, sondern
von einer Art friedlicher Invasion von Chinesen in unser Land.
In ganz Australasien stimmte man diesen Ansichten im allgemeinen zu,
die Vorliebe von Queensland für Kanälen und das Verlangen von Teilen
von Westaustralien für Chinesen fielen dabei wenig ins Gewicht bei der Masse
der Kolonisten. Die australasiatische Konferenz, die 1883 in Sydney tagte,
umfaßte Vertreter von Neu-Südwales. Südaustralien. Victoria, Queensland,
Tasmania und Westaustralien. Die Resolutionen, die angenommen wurden,
betonten die absolute Notwendigkeit der äußersten Beschränkung in der Ein-
wandrung von Asiaten im Interesse der Wohlfahrt der australischen Bevölkerung.
Dieses Ziel sollte erreicht werden durch diplomatisches Einschreiten der Regierung
des Mutterlandes und durch gemeinsame und identische Gesetze in den austra¬
lischen Staaten.
Lord Carrington fügte seinem Bericht an die heimische Regierung die
Worte hinzu: „Angesichts der ernsten Krisis fühlte sich die Kolonialregierung
verpflichtet, scharfe und entscheidende Maßnahmen zu ergreifen, um ihre An¬
gehörigen zu schützen; indem sie so handelt, hat die Regierung aber nicht die
britischen Reichsinteressen noch internationale Verpflichtungen aus dem Auge
verloren— Sie hofft zuversichtlich auf die Unterstützung der Regierung des
Mutterlandes in ihrem Bestreben, zu verhindern, daß ihr Land von einer fremden
Rasse überlaufen wird, die sie sich nicht assimilieren kann. Einer Rasse, die
unsrer Zivilisation fremd ist, weder Verständnis noch Sympathie für unsre
Bestrebungen hat, ungeeignet für unsre freien Institutionen ist; für diese wäre
ihre Anwesenheit in größerer Zahl vielmehr eine ständige Bedrohung."
Es mag sein, daß der Entschluß Australiens, keine billigen asiatischen
Arbeitskräfte einzuführen, die Entwicklung des Landes verzögert hat. Wahr¬
scheinlich ist heute weniger Land unter Kultur, als wenn man dem Beispiel
Natals gefolgt wäre, vielleicht auch wären die Industrien weiter entwickelt.
Vielleicht wären die tropischen Teile Queenslands vor allem rascher gediehen,
obwohl behauptet wird, daß auch hier der Weiße wohl imstande sei, die Arbeit
selbst zu verrichten.
Eins bleibt aber zu bedenken: Australien hat sich nicht nur der asiatischen
Einwandrung gegenüber sehr ablehnend Verhalten, es hat auch der europäischen
Einwandrung — auch der britischen — bis vor kurzem recht bedeutende
Schwierigkeiten bereitet; unter dem Druck der Arbeiterpartei verfolgte man eine
sehr selbstsüchtige Politik. Heute ist hierin eine Änderung eingetreten. Australien
hat in den letzten Jahren erkannt, daß nur eine starke weiße Bevölkerung das
Land davor bewahren kann, eine Beute der asiatischen Mächte zu werden,
deren Völker an seine Tore pochen. Den Männern aber, die das Land nach
Möglichkeit bisher von Asiaten freigehalten haben, gebührt der Dank der
kommenden weißen Generationen. Australien beginnt heute eine mehr aktive
Politik als Macht im Stillen Ozean; wenn es sich auch bewußt ist, daß es des
Schutzes des britischen Mutterlandes für die nächsten Jahrzehnte nicht entbehren
kann, so will es doch seine Zukunft nicht in Gefahr bringen. In diesem Sinne
ist die Einladung des amerikanischen Geschwaders von großer Bedeutung. Der
australische Premierminister hat bei diesem Schritt die Zustimmung der Be¬
völkerung hinter sich. Die Nationen am Stillen Ozean haben gemeinsame
Interessen, deren sie sich immer mehr bewußt werden.
Während sich Australien verhältnismäßig von Asiaten frei gehalten hat
und Kanada die ihm drohende Gefahr ebenfalls rechtzeitig erkannt hat, liegt die
Einwandrungsfrage in Südafrika doppelt verwickelt. Von einer befriedigenden
Lösung kann hier schon gar nicht mehr die Rede sein, denn Teile Südafrikas
sind im weitesten Maße von der Versorgung mit billigen asiatischen Arbeits¬
kräften abhängig (zum Beispiel die Gartenkultur in Natal). Sir Arthur Lawley,
der ehemalige Gouverneur der Transvaalkolonie, sagt in einem Bericht: „So
vorherrschend ist das indische Element, daß in dem Augenblick, wo man die
Grenzen der Transvaalkolonie verläßt, das Gefühl, in einem europäischen
Lande zu reisen, verloren geht."
Südafrika hat außer den Asiaten eine große eingeborne Bevölkerung, die
an Zahl die Weißen weit übertrifft und sich dauernd vermehrt. Die Ein-
gebornenfrage ist für die Staatsmänner Südafrikas das größte und schwierigste
Problem der Gegenwart und der Zukunft; dem weißen Manne schwebt die
Gefahr, die ihm von dieser Seite droht, ständig vor Augen — und die jüngsten
Vorgänge beweisen wieder, daß diese Gefahr sehr real ist —; so kann es
nicht überraschen, daß angesichts der Vorgänge in Indien Befürchtungen ent-
stehn, die in der zunehmenden Einwandrung von Jndiern nach Südafrika eine
neue Gefahr sehn. Im britischen Südafrika beträgt die einheimische schwarze
Bevölkerung mehr als 4^ Millionen, von denen etwa 900000 Männer im
Alter von fünfzehn bis fünfundvierzig Jahren sind. Südlich des Sambesi beträgt
die Zahl der Eingebornen rund 7 Millionen.
Das Beispiel Natals zeigt nun am besten, inwieweit neben der Ein-
gebornenfrage schon eine asiatische Frage besteht.
Die Zählung von 1904 ergab, daß Natal eine Gesamtbevölkerung von
1108754 Seelen hatte, die sich folgendermaßen einteilen lassen:
Die männlichen Asiaten übertrafen zu dieser Zeit schon die männlichen
Europäer um etwa 9000. Die Schnelligkeit der Vermehrung der asiatischen
Bevölkerung ist sehr groß, wie der folgende Vergleich zeigt:
Die Zählnngskommission fügt hinzu, daß der Gedanke daran, zu welchen
Zahlen die indische Bevölkerung im Vergleich mit der europäischen bei dieser
rapiden Zunahme in der nächsten Zukunft schon anwachsen meh. etwas be¬
drückendes hat bedenken ist dabei besonders daß der Ändier nicht aus
ganz freien Stücken kommt, sondern daß Bedarf für seine Arbeitskraft vor¬
liegt. In diesem Bedarf macht sich keine Abnahme bemerkbar, und die Werbe¬
agenten können kaum die Nachfrage decken. . .
^^^,Die Einwandrungsbedingungen für Asiaten in Na^l sind im wesentlichen
dieselben wie die der westindischen Inseln. Dem Kuli stehn nach fünfjähriger
Kontraktarbeit auf den Farmer, den Gartenplantagen oder in den Minen
drei Wege offen: 1. er kann nach Indien zurückkehren. 2. er kann sich zu
höherm Lohne weiter verpflichten, oder 3. er kann als freier Mann in der
Kolonie bleiben, indem er für diese Erlaubnis drei Pfund Sterling Ehr¬
lich zahlt.
Indem Natal die Jndier unter solchen Bedingungen zuläßt, ergibt es
sich in das Schicksal einer ständig wachsenden asiatischen Bevölkerung. Die
Form des Kontrakts und der Zulassungsbedingungen ist ausschlaggebend.
Neben allen seinen guten Eigenschaften hat der Asiate auch die, daß er
ehrgeizig ist. Der Kuli auf der Plantage mag als solcher sterben, sein Sohn
kann kleiner Landbesitzer, Händler oder auch ein größerer Kaufmann werden.
Er tritt dann mit dem Weißen nicht nur auf landwirtschaftlichen Gebiet,
sondern auch auf dem des Handels in Wettbewerb. In Natal ist fast der
ganze Handel mit den Eingebornen in seinen Händen. Nun ist Natal, ab¬
gesehen vielleicht von der tropischen Küstenzone, für Ansiedlung Weißer
durchaus geeignet. Der Weiße will aber weder neben dem Farbigen arbeiten,
noch zu denselben Arbeitsbedingungen; diese Tatsache steht fest, und man muß
sie auch für die Zukunft als unerschütterlich ansehen, die Gründe sind sozialer
Art und liegen in der Rassenfeindschaft begründet.
So ist nach dem Gesagten mit einer allmählichen Verdrängung der
Weißen zu rechnen in einem Lande, wo es für die Zukunft vor allem darauf
ankommt, daß das weiße Element gestärkt wird. Ähnlich, wenn auch nicht
ganz so ernst, liegen die Verhältnisse in der Kapkolonie. In Kapstadt drängt
der Farbige den Weißen von der Straße. Erst in neuerer Zeit ist man sich
hier der Gefahr bewußt geworden, die dem Weißen durch den Eingebornen
droht, trotzdem gibt es heute keine einheitliche Anschauung in Südafrika über
die beste Lösung und Behandlung der Eingebornenfrage. Zwei Schulen stehn
sich hier gegenüber. Die eine vertreten durch die Nachkommen der alten
holländischen Ansiedler, die den Schwarzen als mit dem Fluche Hams belastet
ansahen und ihn wie ihre Ochsen behandelten. Die andre Richtung sieht in
dem Eingebornen den Menschen und glaubt, daß er ein nützliches Mitglied
des modernen Staates werden kann. Diese Richtung ist am Kap bisher vor¬
herrschend gewesen und hat ihre Ansichten dadurch zum Ausdruck gebracht,
daß sie dem Farbigen das Wahlrecht verlieh, nachdem er einer sehr bescheidnen
Forderung in bezug auf Schulbildung und Besitz genügt hatte. Diese von-
stiwticm oräirig.ii<Zö von 1887 hatte zur Folge, daß die Zahl der farbigen
Wähler in bedrohlicher Zahl anschwoll, aber erst 1892 wurde die Akte ge¬
ändert und verschärft.
Die englische Regierung sieht ein wirksames Mittel zur Verbesserung
der Zustände in Südafrika nur in dem Zusammenschluß der südafrikanischen
Kolonien in irgendeiner Form von Föderation (Lord Selbornes Denkschrift:
Parlamentsschrift 3564, Juli 1907). Es ist nun unmöglich, die Wichtigkeit
der Eingebornen- und Asiatenfrage in Südafrika in bezug auf diese vorge¬
schlagne Föderation der Staaten zu unterschützen. Bis hier keine Lösung ge¬
funden worden ist, bis nicht die gesamte weiße Bevölkerung Südafrikas einem
bestimmten gemeinsamen Ziel in diesen Fragen zuarbeitet, solange ist an eine
gesunde Föderation nicht zu denken.
Es bleibt noch eine kurze Betrachtung des Transvaal übrig, der mit
seiner Minenindustrie und deren Versorgung mit ungelernten Arbeitern ein
besondres Problem zu lösen hat.
Die nach dem letzten Kriege eingesetzte „Transvaal-Arbeits-Kommission"
stellte den Bedarf der Minen an Arbeitern auf 129000 fest und schätzte, daß
in fünf Jahren weitere 196000 gebraucht würden. Der Bedarf des Trans¬
vaal im ganzen für Landwirtschaft, Minen. Eisenbahnen und andre Industrien
wurde auf 221399 angegeben.
Die Kommission sah sich ferner veranlaßt, zu erklären, daß die Über¬
zeugung, nach der in Zentral- und Südafrika reichliche eingeborne Arbeits¬
kräfte zur Deckung aller Bedürfnisse vorhanden seien und nur geeignete Or¬
ganisationen und Kapitalien nötig seien, um sie nutzbar zu machen, durchaus
irrig wäre. ^. ...
Infolgedessen entschloß man sich zur Einführung von Chinesen für die
Minen unter solchen Kontraktbedinguugen, daß der Chinese nicht als Kon¬
kurrent des Weißen auftreten konnte. Die wichtigsten Bestimmungen waren,
daß der Kuli in Transvaal nicht als gelernter Arbeiter verwandt werden
durfte, und daß er nach Ablauf des Kontrakts nach China zurückbefördert
werden mußte. Mehr als ein Drittel der Minenmdustne am Rand" wurde
von chinese chen Arbeitskräften abhängig. die übrigen zwei Drittel führten
Arbeiter von Portugiesisch-Ost-Afrika ein D'e Chinesen haben die größte
Industrie Südafrikas gerettet, trotzdem beschloß der Transvaal als eme der
ersten Maßnahmen seiner ihm verliehenen Selbst^der Chinesen, von denen zurzeit nur noch 40000 bi 50000 in den Minen
arbeiten. Die portugiesischen Kolonien rend Zcntralafn a decken nur zum
Teil den Ausfall, und schou ist die Einführung von Malegassen aus Mada¬
gaskar vorgeschlagen worden, dieser Vorschlag ist bis jetzt aber heftig bekämpft
worden.
Auch die Stellung der Jndier im Transvaal hat zu scharfen Auseinander¬
setzungen Anlaß gegeben. Die Britisch-Jndier. 2'/, Millionen an Zahl, bilden
ein Fünfzehntel der Bevölkerung, ebenso wie in Natal wurde die Konkurrenz,
die sie den Weißen machten, dauernd schärfer fühlbar, sodaß die Transvaal¬
regierung darauf bestand, die schon anwesenden registrieren zu lassen um den
weitern ungehinderten Zuzug verhindern zu omnem. Durch Vermittlung des
Mutterlandes ist ein Kompromiß zustande gekommen, indem die Midier in die
Registrierung willigten, gegen die sie sich sträubten, die Regierung dagegen
versprach, gegenüber den Jndiern nicht mit unnötiger Scharfe zu verfahre^Das Mutterland mußte für die Interessen seiner indischen Untertanen nach
Möglichkeit eintreten, ohne die berechtigten Wünsche seiner weißen Untertanen
zu mißachten.
Eins geht vor allem aus der Geschichte der asiatischen Emwandrnng in
die überseeischen Bestandteile des britischen Weltreichs hervor, nämlich die
Tatsache, daß die Weltinteressen des Mutterlandes oft schwer oder gar nicht
vereinbar sind mit den lokalen Lebensinteressen der großen sich selbst regierenden
Kolonien. Überall sind mächtige und sich entgegenstehende Kräfte vorhanden.
Im Falle der Stellung der Jndier in Transvaal hat sich dieses mit besondrer
Schärfe gezeigt; England erkennt das Recht der Transvaalkolonie, für sich
selbst zu entscheiden, ob das Land das Territorium einer mehr britischen oder
asiatischen Rasse sein soll, in Zukunft ohne weiteres an, andrerseits hat es
große Verpflichtungen seinen 300 Millionen indischer Reichsangehöriger gegen¬
über, die es selbst ermahnt hat, sich als britische Untertanen zu betrachten.
Das Problem wird nicht wieder verschwinden, es kann sich jederzeit in
den verschiedensten Teilen der Welt in der schärfsten Form wieder zeigen.
Die Japanerfrage in Vancouver ruht nur momentan, sie ist keineswegs gelöst.
Keine Staatskunst kann in dem Bestreben nach Versöhnung dieser entgegen¬
W>nten Abend, verehrter Herr Professor! Sie waren so freundlich,
mir im Anschluß an unsre letzte Unterhaltung zu versprechen, daß
Sie mir Ihre Ansichten darüber, ob und wie Politik in der Schule
getrieben werden könne und solle, im Zusammenhang mitteilen
I wollten. Ich bin also hier, um zu hören und zu lernen.
Ob Sie was lernen können, weiß ich nicht, denn Sie haben sich ja zeit
ihres Lebens viel mehr mit Politik beschäftigt als ich. Aber es ist etwas ganz
andres, praktische Politik zu treiben und, wie Sie, mitten im politischen Leben
zu stehn, als Untersuchungen darüber anzustellen, wie die Politik in der Schule
behandelt werden soll.
Eben deshalb komme ich zu Ihnen, dem Manne, der uns im vertrauten
Kreise schon so manche Frucht seiner Studien und so manches Ergebnis seines
Nachdenkens vermittelt hat.
Nun, ich habe mir in den vergangnen Tagen die Sache reiflich überlegt
und will nun versuchen, das Lehrgebäude, dessen Grundriß fertig in meinen
Gedanken steht, vor Ihnen aufzubauen, und bitte Sie, mich auf Risse und sonstige
Fehler, die mein Bau aufweisen sollte, gütigst aufmerksam zu machen.
Gern werde ich das tun, wenn ich Veranlassung dazu zu haben glaube.
Welchen Anteil die Schule an der Erziehung überhaupt und insbesondre
an der politischen Erziehung hat oder haben soll, darüber gehn die Meinungen
der Fachleute nicht weniger als die der Laien auseinander. Und es ist in der
Tat schwer, da die richtige Formel zu finden. Manche wollen der Schule in
dieser Beziehung gar keinen oder einen möglichst geringen Anteil zugestehn
und alles der Familie und dem Leben überlassen. Aber der Einfluß der
Schulen auf die Entwicklung der Anschauungen der Zöglinge ist unleugbar so
groß, daß man daran nicht einfach vorübergehn kann. Schule in engerm Sinne
und Erziehung in ethischem Sinne, das heißt Gehirn- und Herzbildung, sind
gewissermaßen zwei Kreise, die sich schneiden; und das Geheimnis aller Schul¬
pädagogik besteht darin, das richtige Verhältnis zwischen dem von beiden Kreisen
gemeinsam eingeschloßnen Stück und den beiden selbständigen Teilen der Kreise
zu finden. Dieses Verhältnis läßt sich allerdings nicht mathematisch aus¬
drücken, da und insofern es sich um Menschen, das heißt um lebendige Per¬
sönlichkeiten handelt, nicht um Ziffern. Sollten sich beide Kreise nun berühren
oder ganz decken, beides wäre ein Unglück. Das Verhältnis wird sich je nach
der Individualität der Lehrer und der Zöglinge sehr verschiedenartig gestalten,
und ein bestimmter pädagogischer Kanon läßt sich nicht aufstellen.
Ich meine, es handelt sich also um die pol^
Ganz richtig, aber bevor wir etwas darüber festen wie wir die Zög¬
linge erziehen, müssen wir erst untersuchen, was der Inhalt der Erziehung ist.
worauf es ankommt, was wir erreichen wollen; wu muss^ mit einem Worte
den Begriff des Ideals eines Staatsbürgers feststellen. Wir wollen unter-
suchen, was für Gesinnungen und Eigenschaften em Mensch haben muß. um
innerhalb des Staatsorganismus die beste Verwendung zu finden, und dann die
weitere Frage beantworten- Was kann die Schule dazu tun. dieses ^deal zu
erreichen.
Das leuchtet mir ein.
^. . . ^ ^ - <in ^
Wenn wir von der sehr einfachen Tatsache ausgehn, daß es Menschen
sind, die den Staat bilden. Menschen, die wir in ihrer Beziehung zum Staat
Bürger nennen, so werden wir. um das Ideal des Staatsbürgers zu finden.
Zweierlei untersuchen müssen: 1. Was hat der einzelne Mensch als solcher zu
leisten, was heißt es überhaupt: ein Mensch sem; und 2 welches Verhältnis
h°t der Einzelne zum Ganzen, zur menschlichen Gesellschaft was heiß es. em
politischer Mensch zu sein. ..Ernst ist das Leben, heiter die Kunst", ist ein oft
Zitierter, wenig verstandner Satz. Für jeden einzelnen, meine ich. gilt das in dem
Sinne: Ernst und heiter zugleich ist das Leben, ernst in der moralischen, heuer in der
künstlerischen Bedeutung. Diese beiden, der moralische Ernst und die künstlerische
Heiterkeit, umschließen alles, wenn man es erst recht versteht. ..Zwei Seelen
wohnen, ach. in meiner Brust", sagt Faust, und das kaun in gewissem Sinne
jeder von sich sagen, wobei nur das ..ach" in diesem Satze je nachdem eme
verschiedne Färbung annehmen wird. Das gilt vom Armen und Reichen, vom
Gebildeten und Ungebildeten, vom Manne und von der Frau. Jedes Ding
hat seine zwei Seiten, das Leben auch, nämlich seine ernste und seine heitere
Seite; das ist kein Widerspruch, sondern eine Tatsache, die wir richtig verstehn
wollen. Gerade das schafft den Reichtum des Lebens, daß jeder nach dieser
zweifachen Richtung sein Leben geltend macht; und wo einer von diesen beiden
Grundzügen der menschlichen Natur allzusehr überwiegt, da sehen wir das
Gleichgewicht gestört und sind mit der Erscheinung unzufrieden. Ernst ohne
künstlerische Heiterkeit artet aus in verdrießliche Grämlichkeit und unfruchtbaren
Asketismus; künstlerische Heiterkeit ohne moralischen Ernst schlüge um nach
frecher Leichtfertigkeit und schamloser Frivolität. Was ist es nun, das wir
alle am Menschen am höchsten schätzen, was ist der wahre Adel, der immer
und immer wieder trotz der unendlich verschieden Wertschätzungen der Lebens¬
güter den Ausschlag gibt; was ist das wirklich Wertvolle, das Bleibende in
der Flucht der Erscheinungen? Was ist es, das den Menschen erst wirklich
zum Menschen macht, was ihm den Stempel der Individualität, der Persönlich¬
keit aufdrückt? Es ist der Charakter. Damit bezeichnen wir die Einheit und
Stetigkeit in der Willensrichtung, wie sie jeder einzelne in seinen Handlungen,
in der ganzen Art und Betätigung seines Lebens zum Ausdruck bringt. Jeder
weiß das, jeder fühlt es; es ist das unzerstörbare Bewußtsein der Verant¬
wortlichkeit, das jeder im eignen Herzen trägt, das Bewußtsein der Verantwort¬
lichkeit — vor sich selbst!
Ja, aber dem Moralischen gegenüber verhalten sich die Menschen doch sehr
verschieden. Es gibt solche, die moralisch indifferent sind, die das Gefühl der
Verantwortlichkeit überhaupt nicht kennen.
Ganz richtig. Diese stehn gewissermaßen auf dem ^0-Standpunkt. Man
nennt sie charakterlos.
Dann gibt es aber auch solche, die wohl das Gefühl der Verantwortlich¬
keit haben, es aber nicht beachten oder sogar mit Absicht dagegen handeln.
Sie stehn also, wenn ich den mathematischen Ausdruck beibehalten darf,
auf dem Minusstandpunkt, es sind gewissermaßen negative Naturen, obgleich
sie im einzelnen sehr positiv wirken können und sogar in der Regel wirken.
Es sind das die schlechten Charaktere.
Folgerichtig würde sich dann eine dritte Klasse anschließen von solchen, die
das Gefühl der Verantwortlichkeit anerkennen und sich freiwillig seiner Leitung
unterwerfen. Die stünden also nach Ihrer Ausdrucksweise auf dem Plusstand¬
punkt; es wären die positiven Naturen, die guten Charaktere.
Diese Einteilung scheint mir unanfechtbar zu sein, wobei wir allerdings
bedenken müssen, daß eine absolute Reinkultur auf diesem Gebiete wohl un¬
möglich ist, daß das bewegliche Wesen des Menschen wohl fast immer aus
diesen drei Gemütsäußerungen zusammengesetzt sein wird, doch so, daß eine
deutlich überwiegt.
Doch gibt es auch wohl Naturen, bei denen nicht einmal das festzu¬
stellen sein dürfte, die vielmehr willenlos zwischen diesen drei Ecken eines
ethischen Dreiecks — Sie sehen, ich suche Ihre mathematische Ausdrucksweise
fortzubilden — hin und her schwanken. Es sind die eigentlich schwachen
Charaktere.
Da haben Sie recht, und das sind auch für die Erziehung die schwierigsten.
„Sei, was du bist", das ist das oberste Gebot der individualistischen Ethik.
So gewiß es ist, daß jeder natürliche Anlagen mit auf die Welt bringt, und
das Temperament angeboren ist, ein bestimmtes Quantum von Willenskraft
jedem zugemessen ist. ebenso gewiß ist es auch, daß Verhältnisse und Erziehung
einen außerordentlichen Einfluß auf die Charakterbildung gewinnen können;
und das Bewußtsein der Verantwortlichkeit allein schon beweist die Veränderungs¬
fähigkeit der natürlichen Anlagen. Ein jeder spielt sein eignes Instrument;
dieses Instrument wird ihm von der Natur geliefert. Es kommt nun darauf
an. daß er auf diesem Instrument spielen lernt. Deswegen gibt es auch nur
da. wo alle Spieler gut geübt haben, eine reine Sinfonie, und da. wo es
nicht der Fall ist. Disharmonie. Also: „Sei, was du bist" bedeutet so viel
als: Bilde deine dir von der Natur verliehenen Kräfte so gut aus, wie es
geht; spiele aber uur auf deinem Instrument; tu. was du tun mußt, aber tue
es so gut, wie du kannst, tue es so. daß dir dem eignes Gewissen keine Vor¬
würfe macht; denn das Gewissen ist der unerbittliche Rächer für die Sünde
gegen dein eignes Wesen. Damit ist aber nicht gesagt, daß sich ein Charakter
darin zeigt, daß er für andre Individualitäten kein Verständnis hat und
seine nur für die richtige hält. Im Gegenteil, eine derartige Unduldsamkeit
ist nicht nur ein Zeichen von mangelhafter Bildung - das ist ste unter allen
Umständen -. sondern auch oft ein Zeichen schwächlicher, neidischer, boshafter
Gesinnung, die die laute Stimme des eignen Gewissens trotzig und brutal zu
vergewaltigen sucht. Nur arger Unverstand oder böswillige Absicht kann in
einer solchen Karikatur des Egoismus den Charakter erkennen. Wer sich mit
sich selbst ernst und wahrhaftig beschäftigt, der findet bei sich selbst so viele
Mängel, daß er, wenn er nicht unehrlich sem will, auch bei andern milde
urteilen wird. Gerade je klarer und kräftiger die eigne Individualität ausge¬
bildet ist. um so mehr muß das Individuum die Berechtigung andrer Indi¬
vidualitäten anerkennen; er muß wenigstens versuchen, sie zu verstehn. Ver¬
steh» ist nicht Billiger — das beste Verständnis und die schärfste Mißbilligung
vertragen sich sehr' gut miteinander -, Verstehen ist auch nicht Verzeihen,
wie Madame Stael will; aber freilich der Weg zur Verzeihung. Gerade die
Rücksicht auf uns selbst, die Wucht unsrer eignen Persönlichkeit muß und wird
uns bewahren, gegen den, der anders ist als wir selbst, in kindischem Trotz
oder böswilliger Feindseligkeit anzurennen. Und das ist der Ernst des Lebens,
die Arbeit an uns selbst; ja sie ist die Voraussetzung und Grundlage für alle
andern Arbeiten und Leistungen. Und hier ist es, wo sich Schule und Familie
die Hand reichen müssen, um das Werk der Vorbereitung für diesen schweren
Kampf zustande zu bringen. Eltern und Lehrer können nur die Unterweisung
in der Waffenführung geben, den Zögling immer und immer wieder darauf
aufmerksam machen, mehr nicht. Den eigentlichen Kampf hat jeder selbst aus-
zufechten: wohl dem, der die scharfgeschliffne Waffe zu gebrauchen in der Jugend
gelernt hat. Doch ich sagte vorhin, das Leben hat auch seine heitere Seite,
das ist die Kunst. Man muß aber diese Kunst nicht verstehn als Ausübung
einer bestimmten Kunst, der Dichtkunst, Malerei, Musik usw. Das ist eine Sache
für sich. Die Kunstbetrachtung im engern Sinne, d. h. das persönliche Verhältnis
des einzelnen Menschen zu bestimmten Kunstwerken setzt technische Kenntnisse
voraus und beruht auf dem Problem, ob und wie es möglich ist, die Gestaltung
des innern Erlebnisses eines andern — des Künstlers — auf Grund besondrer
Kunstgesetze nachzuempfinden und es als Besitz eignen künstlerischen Erlebnisses
zu erwerben und zu verarbeiten. Hier haben wir es nur mit der künstlerischen
Betrachtung der Welt überhaupt zu tun. Den Inhalt der Kunst bildet (im
Gegensatz zur allgemeinen Wirklichkeit) das Reich der Ideen, d. h. der Bilder,
die wir als etwas durchaus Wesenhaftes und doch nicht Wirkliches, physisch
Existierendes anschauen. Diese Bilder erfüllen unsern anschauungsbedürftigen
innern Menschen mit einem zwar nicht definierbaren, aber nichtsdestoweniger
einzig wertvollen tiefen Inhalt, während wir zu den Dingen, den physischen
Gegenständen dieser Welt nur ein äußeres Verhältnis haben. Diese Ideen
empfangen wir aber nicht bloß aus den sogenannten Künsten, die kann uns,
wenn wir nur dafür empfänglich sind oder sein wollen, jedes Ding geben, das
kleinste Infusorium so gut wie das ganze Weltall. Nicht nur in einem
Goethischen Gedicht, einer Beethovenschen Sinfonie oder irgendeinem Werke
der bildenden Kunst usw., nein, auch in jeder Landschaft draußen vor unsrer
Stadt können wir jene Ideen genießen; ein einsamer Feldweg, ein Wald, ein
Palast, eine verfallne Hütte, eine Gruppe spielender Kinder, ein erregter Volks¬
haufe, die Anmut einer schönen Bewegung, die groteske Erscheinung eines
lustigen Vagabunden, alles das sind solche Bilder, oder sie können es doch
sein, und tausend und aber tausende solcher Bilder umgeben uns alle jeden
Tag. Ganz besonders aber gehört dahin der Eindruck, den eine harmonisch
entwickelte Persönlichkeit auf uns macht, die Freude an uns sympathischen
Menschen, denen wir flüchtig in der Unterhaltung und kurzer Bekanntschaft
nahe treten, oder mit denen wir durch dauernden Verkehr in Familie und
Freundschaft verbunden sind. Wir freuen uns, wie sich derselbe Lichtstrahl in
dem Prisma der Individualität verschiedenartig bricht, und die gegenseitige
Achtung und Liebe überzeugt uns, daß das rote Licht darum nicht weniger
wert ist als das grüne, weil die Strahlen, die jenes hervorbringen, langsamer
schwingen als bei diesen. Und noch einer gehört hierher, der unzertrennliche
Begleiter jeder künstlerischen Seele, der unerbittliche Feind jedes Philistertums:
der Humor, ein Kind, wie Euphorion, und ein Gewaltiger zugleich, der Herz
und Kopf, seine ewig feindseligen Eltern, immer wieder aufs neue zu versöhnen
weiß durch die verstandesgewürzte Sprache seines göttlichen Gemüts. Das
alles gehört zu einer künstlerischen Betrachtungsweise, mit ihr finden wir die
Bilder in der Welt, und in diesem Sinne ist jeder Mensch ein Künstler, kann
jeder Mensch das Leben künstlerisch betrachten. Eine solche künstlerische Be¬
trachtung der Welt ist abgelöst von jeder schmerzlichen Beziehung, sie ist heiter
und macht heiter, und insofern ist die Heiterkeit der Kunst dem Ernst des
Lebens entgegengesetzt. Die künstlerische Betrachtung erkennt in dem grobsinn-
lichen Einzelfall eine allgemeine Idee, sie sieht die Dinge, wie ein alter
scholastischer Ausdruck sagt, suo sxeois astervitatis, d. h. als etwas Ewiges,
dauernd Wesenhaftes im Gegensatz zu der physischen Vergänglichkeit des
einzelnen sinnlichen Gegenstandes. Gewiß ist die Gabe der künstlerischen Be¬
trachtung bei den verschiednen Menschen in unendlich verschiednen Graden vor¬
handen; aber da ist sie bei jedem; und diese Gabe auszubilden gehört nicht
weniger zur Betätigung der eignen Persönlichkeit, zur Ausgestaltung des
Charakters als das unausgesetzte Wirken einer lebendigen Moral. Beides also,
der moralische Ernst und die künstlerische Heiterkeit, gehören zur Bildung eines
Charakters, zur Gründung einer Individualität, die den Menschen erst zum
Menschen macht: sie vermitteln die Erziehung.
Aber der Staat besteht aus vielen Persönlich ketten, die alle gleiche An¬
sprüche machen. Wie soll man die befriedigen? ^
Daraus ergibt sich die zweite Forderung: die Abbildung des richtigen
Verhältnisses der Menschen untereinander, sodaß sie Bürger werden können.
Als sich die ersten Menschen zusammenladen, mußten sie alsbald finden, daß
ein Zusammenleben nicht möglich war ohne eine gegenseitige Rücksichtnahme
der einzelnen Personen; es mußten gewisse Rechte anerkannt, gewisse Pflichten
verlangt werden. Und je mehr sich die erste Gesellschaft vergrößerte, um so
nötiger war es daß diese Rechte und Pflichten scharf abgegrenzt wurden. Die
ursprüngliche patriarchalische Autorität genügte nicht mehr, als sich die Gesell¬
schaft immer mehr ausdehnte, als sich Stämme. Geschlechter und Völker lostrennten
und ihre eignen Wege gingen oder auch miteinander in Kampf gerieten. Da mußten
an Stelle der ursprünglichen, einfachen Satzungen, die sich ganz von selbst heraus¬
gebildet hatten und ungeschrieben zu Recht bestanden, genauere, bestimmtere, den
jeweiligen Verhältnissen angepaßte Gesetze aufgestellt werden, bis denn im Laufe
der Jahrtausende allmählich das weitverzweigte Gebilde von Vorschriften der Ge¬
setze und Sitten entstanden ist. wie wir es heutzutage bei den Kulturvölkern finden.
Durch diese Vorschriften wird ein friedliches Nebeneinander- und Zusammen-
bestehn vieler Persönlichkeiten gewährleistet, ja überhaupt erst möglich gemacht.
Denn wie es für jeden einzelnen die höchste Aufgabe sein muß. mit sich selbst
in Frieden zu leben, d.h. ein Charakter zu sein, so muß es für die Mitglieder
einer Staatsgemeins'abäst das höchste Bestreben sein, untereinander in Frieden
zu leben, d. h. gute Bürger zu sein; und wie der einzelne für ein Vergehen an
sich selbst von seinem eignen Gewissen verfolgt wird, so werden die Bürger
durch Gesetz und Sitte in Schranken gehalten oder bestraft. Unendlich viel¬
gestaltig ist die menschliche Gesellschaft geworden, und je nach der geographischen
Lage, nach zahllosen äußern und innern Einflüssen haben sich die verschiedensten
Gemeinschaften herausgebildet und die Mitglieder dieser Gemeinschaften unter¬
einander abgegliedert, sich unterschieden in Klassen, Stände, Berufe usw., denn
nicht nur der menschliche Geist hat das unabweisbare Bedürfnis zu klassi¬
fizieren, d. h. überall das Gleichartige zu verbinden, das Ungleichartige zu
trennen, sich selbst also zur Außenwelt in ein logisches Verhältnis zu setzen;
sondern diesem Vorgang analog ist der ebenso gebieterische Trieb, innerhalb
der menschlichen Gesellschaft selbst solche Gliederungen, Vereinigungen und
Trennungen vorzunehmen, und das bedeutet für jeden, sich selbst zur mensch¬
lichen Gesellschaft im ganzen und einzelnen in ein persönliches Verhältnis zu
setzen. Diese Gedanken im großen einsehen und auch im kleinen durchführen
zu können, ist die Grundlage der politischen Bildung; demgemäß wird die
politische Erziehung darauf gerichtet sein müssen, die einzelnen zukünftigen Bürger
— die Schüler — so vorzubereiten, daß sie später imstande sein werden, den
Gedanken der staatlichen Gliederung nicht nur theoretisch zu fassen, sondern auch
praktisch durchzuführen, vor allen Dingen an der eignen Person. Damit haben wir
also eine sichre Grundlage für nationale Erziehung gewonnen, auf der das mächtige
Gebäude einer allgemeinen national-politischen Bildung mit Vertrauen errichtet
werden kann. Wenn wir näher zusehen, werden wir finden, daß dieser Gedanke
außerordentlich fruchtbar ist. In allen nur denkbaren menschlichen Verhältnissen
finden wir jene Gliederungen; wir sehen sie in der Familie, in kleinern und
größern Verbänden jeder Art, schließlich im Staate selbst. In der Familie
gebietet die Autorität des Vaters über das Ganze, ohne daß deshalb die
andern Glieder der Familie rechtlos wären; im Gegenteil, wenn nicht jeder
seine Aufgabe leistet und seine Stellung ganz ausfüllt, so kann die väterliche
Autorität allein nichts oder doch nicht genug wirken. So ist es in der er¬
weiterten Familie, in einem großen Verwandtenkreis, wo eine Person wegen
irgendwelcher Vorzüge besondres Vertrauen und Ansehen bei den übrigen ge¬
nießt und dadurch der autoritative Mittelpunkt des Ganzen wird. Die Familie
gibt darin das Muster ab für alle sonstigen zahllosen Verbände: Stadt, Kreis,
Bezirk, Provinz, dann wieder die einzelnen Berufsgenossenschaften, Stände,
Korporationen jeder Art usw. Alles dieses sind solche Gliederungen des
Ganzen, und sie organisieren sich untereinander wieder in derselben Weise: die
allem gemeinsame Grundlage des Menschlichen, darüber die autoritative Spitze,
zwischen beiden die verbindenden Mittelglieder; es sind gewissermaßen lauter
einzelne Pyramiden, an Größe sehr ungleich, deren vielfach kom- und divergierende
Linien schließlich doch alle nach der obersten Spitze der riesigen Staatspyramide,
die alle die kleinen umfaßt und enthält, gerichtet sind. Darüber also soll sich
der gute Staatsbürger klar sein oder unablässig bemüht sein, in den Begriff
und die Bedeutung des staatlichen Organismus einzudringen, ihn zu verstehn
als eine wohltätige Ordnung der menschlichen Gesellschaft. Die Freiheit und
Selbständigkeit bleibt deshalb der einzelnen Persönlichkeit doch gewahrt; ja je
mehr jeder seine Individualität ausbildet, um so mehr wird er leisten und da¬
durch das Ganze fördern können.
Was Sie sagen, leuchtet mir ein. Aber soll nun Politik im engern
Sinne, wie sie doch gewöhnlich verstanden wird, in der Schule gelehrt werden;
oder vielmehr, wie soll und kann sie in der Schule gelehrt werden?
Vor allem ist doch zu beachten, daß man es in der Schule, auch in der
höhern Schule, mit jugendlichen Kräften zu tun hat. Man wird also alles
fernhalten müssen, was der jugendliche Geist noch nicht fassen, was nur von
dem reifern Alter verarbeitet werden kann, und dahin gehört unter allen Um¬
ständen die eigentliche Politik, äußere sowohl als innere; die ist also aus der
Schule unbedingt wegzulassen. Es ist überhaupt nicht die Aufgabe der Schule,
fertige Menschen zu liefern, sondern die einzige Aufgabe der Schule ist es, ihre
Zöglinge durch Unterricht und Erziehung für das Leben vorzubereiten. Die
Selbsterziehung, die Selbstbildung hat das Werk der Schule und Familie weiter¬
zuführen. Wehe denen, die glauben, daß sie fertig seien, wenn sie das Eltern¬
haus oder die Schule verlassen!
Ach, wie freue ich mich, das von Ihnen zu hören! Wie hoch heben Sie
durch diese natürliche und gesunde Beschränkung gerade die beste Schulbildung!
Aber die tatsächlichen Unterlagen der politischen Bildung können doch wohl
wenigstens die ältern Schüler der höhern Schulen, also die Primaner, als
sichern Besitz ins Leben mitnehmen?
Ganz gewiß. Ich halte es für selbstverständlich, daß der Primaner mit
der Verfassung und Gesetzgebung seines Volkes, soweit diese zum Verständnis
des politischen Lebens nötig ist, bekannt gemacht wird. Aber damit ist die
Aufgabe der Schule erfüllt. Wir beschränken also die Aufgabe der Schule auf
das natürliche Maß: dieses aber ist gerade groß genug. Wenn wir auch die Politik
selbst, etwa die Behandlung schwebender diplomatischer Verhandlungen oder gar
Fragen der innern und Parteipolitik aus der Schule verbannen, so können und
Müssen wir doch den jugendlichen Geist empfänglich machen für das Verständnis
der wichtigsten politischen Fragen, wir müssen den Boden so bereiten, daß er später
gesunde Früchte tragen kann, die zum Heile des Vaterlands ausreifen. Vornehmlich
nun scheint die Geschichte, die vaterländische sowohl als die andrer Völker, dazu
berufen, diesen Zweck zu erfüllen, daß dem Schüler die geschichtlichen Tatsachen
im Zusammenhang und unter dem Gesichtspunkt von Ursache und Wirkung
überliefert werden, daß er die oben entwickelten Lehren von dem Zusammen¬
hang und der Gliederung der menschlichen Gesellschaft begreifen lernt — ab¬
gesehen davon, daß er aus den großen und edeln Taten hervorragender Per¬
sönlichkeiten Begeisterung und Mut zu eigner Tätigkeit schöpft und vaterlands¬
lose Gesinnung beizeiten von Grund seines Herzens verachten lernt. Denn hell
und glänzend ragen die edeln Häupter der Völker hervor, und tief im Staub
versunken erscheinen die Verräter. Die geschichtlichen Tatsachen aber, aus
denen wir solche Lehren schöpfen und den Zöglingen mitteilen, liefert nicht bloß
der geschichtliche Unterricht, sondern auch alle andern Fächer, in denen über¬
haupt geschichtliche Vorgänge in irgendeiner Form vermittelt werden, vor allem
also auch die Beschäftigung mit hervorragenden Werken der Literatur, seien sie
historischen, mythologischen, patriotischen Inhalts, aus dem Leben fremder
Völker genommen oder aus dem der eignen Nation, oder seien sie freie
Schöpfungen der Phantasie, die unsern Geist durch das künstlerisch-heitre Spiel
der Gedanken anregen und unser Empfindungsleben kräftigen und vor schwäch¬
licher, verschwommner Duselei bewahren. Denn immerfort müssen wir darauf
bedacht sein, unserm Empfindungsleben neuen Stoff, neuen Inhalt zuzuführen;
niemand ist so reich in sich selbst, daß er gar keiner fremden Anregung bedürfte.
Welche bessere Anregung aber kann es geben als die, die uns die ersten Geister
aller Zeiten in ihren besten Werken darbieten? Daran richten wir uns immer
wieder von neuem auf; ganz unerschöpflich ist diese Quelle, und noch keiner hat
es bereut, dort Erquickung gesucht zu haben. Aber ich betone, daß die warme
Empfindung, die natürliche Empfänglichkeit für Großes, Schönes, Edles sich
kräftigen muß, um der tierischen Vorliebe für das Gemeine erfolgreich ent¬
gegentreten zu können. Damit ist wenig gewonnen, daß einer sich vollpfropft
mit Wissen aller Art, nur um des Wissens willen: denn das bloße Wissen
ist tot, wenn es sich nicht mit lebendiger Empfindung vermählt: erst die Ver¬
bindung beider treibt die schönsten Blüten menschlicher Bildung. Und die Schule
ists fast immer, die zuerst den begeisterungsfähigen Boden der jugendlichen Seele
bereit und geschickt macht zur Aufnahme der Schätze menschlichen Denkens und
Fühlens. Und da ist das Beste gerade gut genug; langdauernde Beschäftigung
aber mit diesem Besten verschafft dem Zögling ein Kapital, dessen Zinsen er
später als Bürger zu seinem und seines Vaterlands Nutzen verwenden kann. Das
alles also bildet einen Teil des materiellen Nutzens, den die Schule ihren Zög¬
lingen als Mitgift für das spätere Leben zu bieten vermag. Dazu kommt die För¬
derung, die die verstandesmäßige Auffassung der Welt in formeller Beziehung er¬
fahrt, insofern alle Zweige geistiger Arbeit auf dasselbe Ziel lostreiben, nämlich die
zunächst rein formale Erkenntnis eines organischen Zusammenhanges im ganzen
Weltgetriebe. Überall ist Gliederung, Einfaches und Zusammengesetztes, Entwick¬
lung, Ausbildung, Abschluß. Aus Einzelheiten setzt sich das Ganze zusammen; die
Einzelheiten sind jede für sich etwas Eignes, Wesentliches, Selbständiges, aber
im Verhältnis zum Ganzen doch immer nur Einzelheiten. So ist es bei den
Sprachen, wo sich aus den einfachsten grammatischen und syntaktischen Grund¬
begriffen das weitläufige und imposante Gebäude der ganzen Sprache, ja der
Sprachwissenschaft überhaupt entwickelt, das finden wir in der Mathematik,
wo die einfachsten Zahlen und Formeln zu den erstaunlichsten und kunstvollsten
Begriffen und Systemen aufwachsen, die mithelfen, die tiefsten Probleme der
Wissenschaft und des Lebens zu begreifen. Und so ist es mit allen den andern
sogenannten „Fächern", sie sprechen, jede in andrer Form, denselben Gedanken
aus, sie predigen jedem, der nicht blindwütig und verständnislos mit scheinen-
haften äußern Merkzeichen fein Gehirn übervölkert, sondern mit Verständnis
und Besonnenheit die Lehren der Wissenschaft in sich aufnimmt, um in dem
unermeßlichen Weltgetriebe die Stelle zu finden, die just für ihn und damit
auch für das Ganze die beste ist — diesem, d. h. dem vernünftigen Menschen
predigen alle Wissenschaften die Lehre von dem organischen Zusammenhang alles
Bestehenden, sie zeigen ihm Ordnung und Gesetz überall und lehren ihn, auch
seine eigne Person in den Dienst des Ganzen zu stellen, sich einzuordnen, sich
unterzuordnen, zum Heil des Ganzen, zum Heil des Vaterlands, und begeistert
zu kämpfen für die „heilige Ordnung, die segensreiche Himmelstochter, die das
Gleiche frei und leicht und freudig bindet". Das also ist die Politik, die in
der Schule gelehrt werden soll, und diese Politik kann auch der jugendliche Geist
gut verstehn. Wie er in der Sprache aus grammatischen und syntaktischen
Einheiten oder in der Mathematik aus Zahlen und Formeln ein wunderbares
Ganzes hervorgebracht sieht, so erkennt er auch im Staate ein geordnetes Ganzes;
aber die Einheiten, die den Staat bilden, sind menschliche Persönlichkeiten. Und
je mehr diese einzelnen, trotz aller individuellen Verschiedenheit, ein gemeinsames
Ziel verfolgen, nämlich ihre besten Kräfte zum Wohle des Ganzen zu verwenden,
um so besser wird es um den Staat bestellt sein.
"
Wie weit geht nun aber dieser „Staat?
Eine allgemeine Verbrüderung der gesamten Menschheit ist eine Utopie, ein
unfruchtbarer Traum, dessen Unausführbarkeit nur den unklaren Schwärmer
betrüben kann. Die ganze Welt kann unser Vaterland nicht sein, dazu sind
die Völker in Sprache, Sitte und Lebensinteresse zu verschieden. Die gemein¬
same Nationalität aber ist keine Erfindung der Philosophen oder ein Märchen
phantastischer Grübler, sondern eine der sichersten und beglückendsten Tatsachen,
die es gibt. Und diese Tatsache wollen wir unsrer Jugend in der Schule bei¬
bringen. Das ist Politik in der Schule!
Ich danke Ihnen für Ihre Ausführungen, die mir allerdings einen ganz
neuen Begriff von einer politischen Erziehung gegeben haben. Wenn die
Politik so in der Schule gelehrt wird, dann ist mir um unsre künftigen Staats¬
bürger nicht bange; und wenn es überhaupt einen Talisman gibt in dem ver¬
wirrenden Kampfe der politischen Parteimeinungen, dann kann es nur die
Überzeugung sein, die Sie als das Ergebnis Ihres politischen Denkens ge¬
funden haben.
Ich hoffe, daß der Standpunkt, auf den ich meine jungen Freunde heben
will, befestigt genug ist, dem Sturm der Feinde zu trotzen.
Jawohl, das hoffe und glaube auch ich. Gott segne Ihr Werk!
'MO^!o hätte Dr. Karl von Mangoldt sein auf langjährigen Studien
und gründlichen Informationen beruhendes (im 10. Heft der
Grenzboten kurz angezeigtes) Werk nennen müssen, das er als
Heft 8 (ein „Heft" von 745 Seiten!) der Sammlung: Die
! Wohnungsfrage und das Reich (bei Vandenhoeck und Ruprecht
in Göttingen) in den letzten Wochen des vorigen Jahres herausgegeben hat.
Der von ihm gewählte Titel: Die städtische Bodenfrage erweckt die glück¬
licherweise falsche Vorstellung, es solle der alte Zank zwischen den Bvdenbesitz-
reformern und ihren Gegnern noch einmal wiedergekäut werden. Nur der erste
kurze Abschnitt beschäftigt sich — zwar nicht mit den Theorien der Boden¬
besitzreformer, aber doch — mit der Entwicklung des städtischen Bodenwerts,
der natürlich bei der Stadterweiterung eine wichtige Rolle spielt. Die drei viel
längern Hauptabschnitte enthalten die ausführliche Beschreibung des bisherigen
Ganges der Stadterweiterung, den Nachweis, daß die bis jetzt herrschende
Praxis an den vielbeklagtcn Mißständen des großstädtischen Wohnungswesens
schuld sei, und ein sehr ausführliches Reformprogramm. Dieses beruht auf
dem Grundsätze, daß die Stadterweiterung nicht mehr der Privatinitiative über¬
lassen bleiben dürfe, sondern Sache des öffentlichen Rechts werden müsse, und
daß Stadtgemeinden und Gemeindeverbände mit Hilfe eines wirksamen Ent¬
eignungsrechts und amtlicher Taxen für mäßige Bodenpreise zu sorgen hätten;
freilich nicht bloß dafür, sondern für alles, was zur Hygiene, Sittlichkeit und
höhern Kultur gehört, soweit diese Güter von der Behausung und von der
Stadtanlage abhängen, wobei u. a. die sehr verwickelten Prozesse der Zentrali¬
sierung und Dezentralisierung gründlich und von den verschiedensten Seiten her
erörtert werden. Diesen Reformplan mögen die Zustündigen, d. h. die Gemeinde¬
räte und die Bürgermeister prüfen. Zu der Behauptung, die im dritten Ab¬
schnitt bewiesen werden soll, mache ich ein großes Fragezeichen, ohne damit
diesen Abschnitt für wertlos zu erklären; sein unzweifelhafter Wert liegt, gleich
dem der übrigen Abschnitte, in der darin aufgehäuften Fülle von Tatsachen¬
material; so enthält jener dritte Abschnitt neben viel anderen Wichtigen und
Interessanten eine ungemein sorgfältige Nachweisung der „Produktionskosten
der Baustelle". Aber von irgendwelcher Verschuldung möchte ich in Beziehung
auf die Übelstände im großstädtischen Wohnungswesen überhaupt nicht sprechen.
Solche scheinen mir unvermeidlich, wenn sich Hunderttausende, wenn sich ein
paar Millionen Menschen auf einer Fläche von einer Quadratmeile zusammen-
drängen, und so oft ich in eine große Stadt komme, erstaune ich immer über
das, was in dieser Beziehung geleistet wird, und daß das Wohnungselend der
Armen nicht noch weit größer ist. All diese schwierigen, streitigen, verwickelten
und weitschichtigen Sachen beiseite lassend, will ich nur den Inhalt von ein
paar Kapiteln des zweiten Abschnitts skizzieren, um von des Verfassers gründ¬
lichem Verfahren eine Probe vorzulegen, und weil bei dieser Gelegenheit
wenigstens eine der vielen Fragen dieses Gebiets mit einer jeden Zweifel alls¬
schließenden Bestimmtheit entschieden werden kann.
Hier ist gut sein, hier wollen wir Hütten bauen! Ja, du lieber Petrus,
du hattest gut Hütten bauen vor beinahe neunzehnhundert Jahren und auf
dem Tabor! Im heutigen Dresden würdest du schön angekommen sein, wenn
du dir auf einem beliebigen Plätzchen, das dir gerade gefiele, ein Häuschen
bauen wolltest.^ Häuschen oder Hütten werden überhaupt nicht genehmigt, mag
auch der Wohnungsuchende nichts Größeres und Besseres beanspruchen. Mangoldt
beschreibt nämlich den Verlauf der Dresdner Bauunternehmungen, da sie,
wenn auch nicht in jeder Einzelheit, jedoch in den Grundzügen für die Stadt¬
erweitermlg überhaupt typisch seien. Er beginnt mit der hübschen Bemerkung,
daß dem Ausländer, der eine deutsche Großstadt besucht, nichts so in die Augen
falle wie die in jeder Beziehung herrschende Sauberkeit und vortreffliche Ord¬
nung, daß sich ihm aber bald die strenge Polizeiaufsicht und die Reglementierung
unangenehm fühlbar mache, auf denen dieses schöne Äußere beruht. Diese
beiden Kräfte sind nun vor allem bei der Schaffung neuer Stadtteile tätig,
und zwar natürlich mehr hemmend als fördernd. Davon, daß ein Mann ein
Paar Quadratmeter Land kaufen und darauf ein Häuschen setzen könnte, wie
es sein Bedürfnis fordert und sein Geschmack oder Ungeschmack gestattet, ist in
Dresden und wohl auch in den übrigen Großstädten und größern Mittelstädten
Deutschlands keine Rede mehr. In Kleinstädter kam es vor dreißig Jahren
noch vor, ob heute noch, weiß ich nicht. Für sich oder für andre ein Haus
oder Häuser bauen, das kann man nur, wenn aufgeschlossener — so lautet die
technische Bezeichnung —, das heißt in'Baustellen gegliederter Baugrund vor¬
handen ist. Wer aber solchen schaffen will, der hat nach der Dresdner Bau¬
ordnung von 1897 folgende Bedingungen zu erfüllen. Er muß ein ziemlich
ausgedehntes Stück Land kaufen, worüber später noch einiges zu sagen sein
wird. Er muß einen Bebauungsplan einreichen, der bis zur Genehmigung
neun Instanzen (vom Tiefbauamt bis zum Ministerium des Innern) zu durch¬
laufen hat, in deren jeder Schwierigkeiten erwachsen können. Im Bebauungs¬
plan müssen die Straßen und Plätze des neuen Stadtteils vorgesehen, und
ehe der Häuserbau beginnen kann, müssen sie hergestellt sein. Ist eine Straße
noch nicht vollständig hergestellt, so muß dem Rat, wenn er die Bauerlaubnis
erteilen soll, eine Kaution erlegt werden, durch die die Vollendung gesichert
wird. Werden Vororte eingemeindet, so wird in jedem einzelnen Falle eine
Vereinbarung darüber getroffen, welche der dort schon vorhandnen Straßen als
solche gelten sollen, die den Vorschriften entsprechen, sodaß an ihnen Häuser
gebaut werden dürfen. Mangvldt bemerkt, daß diese Vorschriften u. a. auch
darum preissteigernd wirken mußten, weil durch die Beschränkung des Hüuser-
baus auf vorhandne Straßennetze, namentlich wenn diese klein sind, die Kon¬
kurrenz der Baulustigen verschärft wird. Für die Herstellung der Straßen und
Plätze gelten, abgesehen vom Technischen, noch folgende Vorschriften. Sie
dürfen nicht in kleinen Bruchstücken gebaut, sondern müssen wenigstens von
einem Straßenkreuz bis zum andern vollendet werden und mindestens an einem
Ende unmittelbaren Anschluß an eine schon bestehende oder an eine bauplan¬
mäßig vorgesehene Straße haben. Und diese Straßen und Plätze müssen mit
Schleusen und Wasserleitung versehen sein. Das Bauen und die Einrichtung
der Straßen besorgt der Rat selbst in eigner Regie, und zwar bestimmt er
selbst, zu welcher Zeit der Straßenbau ausgeführt werden soll; der Terrain¬
unternehmer hat nur das dafür erforderliche Land herzugeben und die Bau¬
kosten zu tragen. Antrüge auf Ausführung der im Plan vorgesehenen Straßen¬
bauten werden nicht selten vom Rat abgelehnt, weil dieser die Zeit noch nicht
für gekommen erachtet; denn er hält darauf, daß Neubauten immer nur im
unmittelbaren Anschluß an die schon mit Häusern angefüllten Stadtteile unter¬
nommen werden. Und ehe die Ausführung der Straßenbauten beginnen kann,
müssen wiederum eine Reihe von Stadien durchlaufen werden. Eins davon
besteht darin, daß die dafür bestimmten Landstreifen von den etwa darauf
haftenden Hypotheken befreit und auf dem Wege der Dismembration sowohl
technisch wie juristisch aus dem Eigentumszusammenhange gelöst sind, in dem
sie bisher gestanden haben. Dasselbe gilt für die von den Straßen einge¬
schlossenen Bebauungsflächen, die außerdem in Baustellen zerlegt sein müssen,
für die in Beziehung auf Größe und Form allerlei Vorschriften bestehn. Das
ist Geometerarbeit, während die juristische Dismembration, oder wie jetzt lieber
gesagt wird, Zergliederung Umschreibungen im Grundbuche und im Steuerkataster
erfordert.
In dem folgenden Kapitel: „Die eigentlich treibenden Kräfte der Stadt¬
erweiterung", wird zunächst dargelegt, daß unter ihnen die Dresdner Stadt¬
verwaltung nur eine bescheidne Rolle spiele. (Die eigentlich treibende Kraft
ist doch das Wohnbedürfnis des Bevölkerungszuwachses.) Sie sei einigemal,
wo dringendes Bedürfnis vorlag, mit Enteignungen, sei wohl auch selbst
auf Geländen, die ihr Eigentum waren, mit der Aufschließung vorgegangen,
als Bauunternehmerin aber, abgesehen von der Errichtung städtischer Ge¬
bäude, nicht aufgetreten. „In Summa dürfte in Dresden für unsre ganze
Beobachtungszeit, 1866 bis 1902, der Einfluß der Stadtverwaltung weit mehr
als ein Hindernis denn als eine Förderung einer flotten und reichlichen Auf¬
schließung von Bauländereien zu hundelt sein. Allerdings erfährt dieses Er¬
gebnis durch die wiederholten bedeutenden Einverleibungen in verschiednen
Richtungen wieder eine gewisse Korrektur, namentlich dadurch, daß eine Anzahl
ohne weiteres anbaufähiger Straßen in den Stadtkreis eintrat." Was die
„öffentlich-rechtlichen Kräfte" zu tun versäumten, das haben nun Privatunter¬
nehmer, die „Terrainunternehmer" geleistet. Diese Unternehmer oder Spe¬
kulanten entstammten verschiednen Berufen; es waren teils Angehörige des
Baugewerbes, teils Finanzmänner, teils Leute, die entweder die Spekulation
mit ihren überschüssigen Kapitalien als Nebenerwerb betrieben oder die Terrain¬
spekulation zu ihrem eigentlichen Beruf machten. Manche unternahmen die
Sache als einzelne Personen, andre vereinigten sich zu Konsortien. Als Kuriosa
erzählt Mangoldt, daß 1902 die sämtlichen Aktien einer kleinen Dresdner
Terraingesellschaft im Besitz eines schlesischen Magnaten gewesen, und daß in
den siebziger Jahren zwei Herren aus Kalifornien gekommen seien, die geprahlt
hätten: Wir werden euch zeigen, wie man Städte baut; sie hätten aber bloß
gezeigt, wie man rasch sein Geld loswerden kann. Die Terrainunternehmung
zerfällt in zwei Hauptabschnitte: die Schaffung und die Verwertung der Bau¬
stellen. Der erste Abschnitt hat natürlich mit dem Landerwerb zu beginnen,
und der ist nun durchaus keine einfache und leichte Sache.
Zunächst kaun man sich in der Auswahl des Terrains irren, namentlich in
guten Zeiten wird oft die Entwicklungsmöglichkeit einer Stadtgegend überschätzt,
und es werden weite Ländereien verhältnismäßig teuer gekauft, die dann lange
Zeit unbenutzt liegen bleiben und Zinsen fressen. Andrerseits gilt es aber doch
wieder beizeiten zugreifen, denn je näher die Entwicklung rückt, um so teurer wird
natürlich das Land: wohlfeil kaufen heißt vor allem zeitig kaufen. Eine andre
Schwierigkeit lag für Dresden in der notwendigen Größe und Geschlossenheit des
Terrains. Da die Stadtverwaltung keine neuen Straßen zuließ, die nicht sogleich
bis zur nächsten fertigen oder wenigstens bauplanmäßig vorgesehenen reichten, so
war es für den Unternehmer schon aus diesem Grunde notwendig, allermindestens
über das Land für eine ganze Straße und für die dazu gehörigen Baustellen
zu verfügen, wozu dann noch andre Nötigungen kamen. Um in den Besitz der
erforderlichen großen Fläche zu gelangen, konnte sich der Unternehmer mit den
gegenwärtigen Besitzern, mochten dies nun Urbesitzer oder selbst Spekulanten sein,
vereinigen und mit diesen gemeinsam das Terrain aufschließen; ein Weg, der selten
beschritten worden ist. In der Regel wurde der andre Weg eingeschlagen: der
Unternehmer kaufte — als einzelner oder als Mitglied eines Konsortiums — das
Land zusammen. Das war nun wegen der Besitzzersplitterung nicht leicht; ehe
die erforderlichen Arrondierungeu erreicht waren, pflegten Jahre zu vergehn. Und
hatte der Unternehmer die Hauptmasse glücklich beieinander, so blieben zwischen den
gekauften Flächen oft noch kleine Stücke liegen, mit deren Besitzern man nicht fertig
werden konnte. Ein Glück war es noch für den Unternehmer, wenn er es nur
mit schwerfälligen aber biedern Leuten zu tun hatte, die sich doch schließlich durch
ein gutes Angebot erweichen ließen. Aber wehe ihm, wenn er auf Querkopfe stieß,
die schlechterdings nicht verkaufen wollten, oder auf spekulative Köpfe, die seine
Zwangslage mit kalter Berechnung ausnützten! So mußte einmal ein Streifen von
5000 bis 8000 Quadratmetern, der die Aufschließung hinderte, mit 300000 Mark
bezahlt werden. Eine andre Terrainunternehmung brachte ein Fleischermeister zum
Stocken; erst kurz vor seinem Tode gab er nach, sodaß das angekaufte Land seiner
Bestimmung gemäß verwandt werden konnte. In einem andern Vorort kauften
Bauern planmäßig Parzellen, mit denen sie die Aufschließung sperren konnten. In
einem andern Vorort kaufte ein Angestellter der Feldvermessung Stücke, von denen
er wußte, daß er sie als Zwangs- oder Sperrstücke werde verwenden können.
Erst wenn der Unternehmer endlich das nötige Land beisammen hatte,
konnte er mit der Stadtverwaltung in Unterhandlungen treten und die oben
angegebnen Bedingungen erfüllen. Und erst nachdem diese Geschäfte sämtlich
„bereinigt" waren, stand er vor dem zweiten Abschnitt seiner Unternehmer¬
tätigkeit, der für ihn, glücklichen Verlauf vorausgesetzt, der angenehmere war:
der Verwertung der Baustellen. Glatt verlief auch dieser Abschnitt gewöhnlich
nicht; Schwierigkeiten bereitete erstens die Mittellosigkeit mancher Käufer und
die Unsolidität andrer, sodann der Umstand, daß sich der Absatz nicht gleich¬
mäßig auf die Jahre verteilte, sondern in Perioden hoher Konjunktur zusammen¬
drängte. Als Käufer treten sowohl Bauunternehmer auf als Spekulanten, die
Bauplätze kaufen, um beim Wiederverkauf an Bauende zu verdienen. In Zeiten
guter Konjunktur überwiegen die Baustellenspekulanten oder Baustellenkaufleute.
Diese gehören allen möglichen kapitalkräftigen Ständen an. Auch Ziegelei¬
besitzer und sonstige Fabrikanten von Baumaterialien sind darunter, die sich
dann beim Verkauf an Bauunternehmer die Lieferung ihrer Ware sichern. Der
Absatz unmittelbar an die Bauenden kommt häufig in Villenvierteln vor.
Manchmal bauen die Baustellenkaufleute selbst und verkaufen dann die Häuser,
meist jedoch sind diese Kaufleute bloß Händler, die an Bauunternehmer oder
an andre Händler verkaufen, sodaß viele Baustellen durch mehrere Hände gehn,
ehe sie ihrer Bestimmung zugeführt werden. Findet der Baustellenbesitzer, es
mag nun der ursprüngliche oder ein späterer sein, keinen soliden Bauunter¬
nehmer, so muß er, wenn ihm das Land nicht als fressendes Kapital auf
dem Halse bleiben soll, mit einem unbemittelten oder unsolider vorlieb nehmen;
meist sind beide Eigenschaften in einer Person vereinigt. Auf diese Weise
ist der Bauschwindel mit Strohmännern entstanden. Auch wo Schwindel nicht
von vornherein beabsichtigt ist, wird in der Kreditgewährung Unglaubliches ge¬
leistet. Terrainunternehmer begnügen sich mit 10 bis 20 Prozent Anzahlung,
nur beim Verkauf ganzer Partien von Baustellen fordern sie 20 bis 33 Prozent;
Baustellenhändler verlangen vom Bauunternehmer nur 1 bis 5 Prozent oder
verzichten ganz auf Anzahlung, sodaß das zukünftige Haus zunächst mit dem
ganzen Bodenwert als Hypothek belastet ist, wozu dann die Bauhypotheken
kommen; denn besonders beim Strohmännersystem schießt der Baustellenbesitzer
auch noch die Baugelder vor bis zu dem Tage, wo er es für angezeigt hält,
die Schlinge zuzuziehen, den Strohmann Bankrott machen zu lassen und das
unvollendete Haus bei der Subhastation zu erstehn. Solche Vorkommnisse
beweisen, daß in der herrschenden Stadterweiterungspraxis etwas faul ist.
Sollte dieses Faule, fragt Mangoldt, „außer in unserm ganzen System der
Stadterweiterung nicht vor allem zu suchen sein in der verhängnisvoll starken
und weitreichenden Stellung, die unser Sachenrecht den Hypothekengläubigern
einräumt?"
Die Terrainunternehmer sind dafür nicht verantwortlich zu machen. Ihr
Geschäft ist äußerst riskanter Natur. Sie haben, meist mit großem Kapitalien¬
aufwand, die Schwierigkeiten der Terrainerwerbung zu überwinden, sie haben
dann die sehr verwickelten Unterhandlungen mit den Behörden zu führen,
den Bebauungsplan auszuarbeiten oder von Sachverständigen ausarbeiten zu
lassen, die Kosten der Straßenanlage zu tragen und müssen schließlich, wenn
sich im Laufe der Jahre, die mit alledem vergehn, die Konjunktur verschlechtert
hat, lange Zeit auf Abnehmer ihrer Baustellen warten, also einen bedeutenden
Zinsenverlust erleiden. Den durchschnittlichen Gewinn der einzelnen Terrain¬
unternehmer und der Gesellschaften, die nicht mit Verlust gearbeitet haben,
schätzt Mangoldt auf 5 Prozent. Wahrhaftig kein glänzendes Geschäft bei der
Masse von geistigen Fähigkeiten, die dazu gehört! Und einzelne Terrain¬
gesellschaften haben mit Verlust gearbeitet. So die im Jahre 1872 gegründete
Zentralbank für Landerwerb und Bauten, deren Aktionäre nie einen Pfennig
Dividende bekommen und ihr ganzes Aktienkapital verloren haben; nur die
Gründer, die sich beizeiten retteten, haben gewonnen. Nicht viel besser ist es
den Aktionären des „Bauvereins Großer Garten" ergangen. Die 1871 ge¬
gründete Dresdner Baugesellschaft ist durch ihre sehr vorsichtige Leitung vor
Verlusten bewahrt geblieben. Daß die Terrainunternehmung ihrer Natur nach
Großunternehmung ist, braucht wohl nicht ausführlich bewiesen zu werden.
Erfordert sie doch nicht allein bedeutende Kapitalien, sondern auch einen hohen
Grad von Intelligenz und Geschüftsgewandtheit sowie Beziehungen zu hohen
Behörden. Die Spekulation, die nichts als Spekulation ohne das Verdienst
Positiver Leistungen ist, ergreift nur die schon vorhandnen Baustellen, also das
von den Terrainunternehmern schon ausgeschlossene Land. Diese Spekulation
artet nun allerdings in Zeiten hoher Konjunktur in den Tanz ums goldne
Kalb aus, doch geht es, wie überhaupt bei diesem Tanze, auch hier nicht an,
einen besondern Spekulantenstand als Sündenbock auszusondern und dem Haß
und Abscheu des höchst sittlichen und ehrlichen Publikums preiszugeben, denn
es beteiligen sich daran die allerehrbarsten Philister: Handwerker, Rentner,
kurz Personen aller Stände. In Dresden haben kleine Weinstuben als
Grundstückbörsen gedient, sind Baustellen manchmal in einer Stunde sechsmal
umgesetzt worden, sodaß der Preis auf das Doppelte gesteigert wurde. Solche
spekulative Steigerungen haben jedoch auf den endgiltigen Preis keinen Ein¬
fluß- Dieser wird durch den Mietertrag der auf dem Grundstück errichteten
Häuser und dieser wiederum durch die Konkurrenz der Mieter bestimmt, wie
Mangoldt selbst an andern Stellen zugesteht. So schreibt er Seite 278: „Es
bedarf zur Erklärung der hohen Bodenpreise nicht der Annahme irgendwelcher
mehr oder minder wunderbarer Wirkungen der Spekulation, sondern diese er¬
schreckend hohen Preise sind ein natürliches Ergebnis unsers Stadterweiterungs¬
systems, das die Selbstkosten der Terrainunternehmer ins Maßlose steigert."
Der eigentliche Grund aber ist, wie gesagt, das Wohnbedürfnis der wachsenden
Bevölkerung, das die starke Nachfrage nach Wohn-, Arbeit- und Geschäfts¬
räumen erzeugt und deren Konkurrenz die Bodenbesitzer in die glückliche Lage
versetzt, ihre Forderungen beliebig hoch schrauben zu können. Behörden wie
die Stadtverwaltungen können nur unter der Voraussetzung dafür verant¬
wortlich gemacht werden, daß sie verpflichtet seien, sich selbst mit dem Risiko
des Landerwerbs zu beladen, und zugleich berechtigt, dieses Risiko durch ein
weitgehendes Enteignungsrecht, also durch tiefe Eingriffe in das private Eigen¬
tumsrecht, herabzumindern. Auf die Frage, ob die Anklage gegen die Terrain¬
unternehmer begründet sei, daß sie um die Städte herum Land aufkauften und
„sperrten", die Bebauung hinderten, um die Preise hinaufzutreiben, antwortet
Mangoldt in Beziehung auf Dresden:
Von einem absichtlichen längern Zurückhalten des Landes durch die eigent¬
lichen Terrainnnternehmer, durch die Aufschließenden, ist uns für die ganze Zeit
von 1870 bis 1902 nichts bekannt geworden. Wenn wir auch im allgemeinen
nicht ausdrücklich nach diesem Punkte gefragt haben, so wären uns doch bei unsern
umfangreichen Untersuchungen wirklich bedeutsame Vorgänge nach dieser Richtung
schwerlich entgangen. Warten auf bessere Preise wird natürlich oft vorgekommen
sein, und ebenso natürlich stockte die ganze Ausschließung und der Absatz der Bau¬
stellen in den Zeiten schlechter Konjunktur und mangelnder Nachfrage. Aber daß
die Terrainunternehmer darin mehr getan hätten, als jeder normale Kaufmann
tut, daß sie ein besondres Shstem der Sperrung entwickelt hätten, davon ist uns,
wie gesagt, nichts bekannt geworden. Eine andre Frage ist, ob sie nicht fremdes,
mit ihnen konkurrierendes Gelände mit Hilfe ihres eignen Grundbesitzes nach
Möglichkeit an der Aufschließung gehindert haben. Wir haben darüber keine be¬
sondern Erkundigungen eingezogen, aber man kann es beinahe als selbstverständlich
annehmen, daß das vielfach, vielleicht beinahe regelmäßig der Fall gewesen sein
wird; auch sind wir auf einige Spuren solcher Handlungsweise gestoßen. Aber
das ist ja hier nicht der Gegenstand des Streites. Endlich scheinen die Terrain¬
nnternehmer allerdings in unaufgeschlossenem Zustande oft kein Land wieder
abgegeben zu haben sgercide dieses ist es, was ihnen in Damaschkes Organ zum
Vorwurf gemacht zu werden pflegt, allerdings nicht gerade in Beziehung auf
Dresdens, aber das ist auch ganz begreiflich, da sie auf die Arrondieruug ihres
Besitzes bedacht sein mußten. Insofern haben sie freilich Land oft längere Jahre
zurückgehalten, aber nicht, um es an der Aufschließung zu hindern, sondern um in
die Lage zu kommen, es selber aufzuschließen. Dafür aber, daß sie mit der Auf¬
schließung länger gewartet hätten, dafür liegen, wie gesagt, keine Beweise vor,
eher fürs Gegenteil. In der siebziger Aufschwungperiode brachten die Terrain¬
unternehmer wenigstens in einigen Gegenden der Stadt so viel Baustellen auf den
Markt, daß dann dort noch lange Jahre während der Depression davon gezehrt
werden konnte. Und als dann die Stadt im Straßenbau sehr zurückhaltend
wurde, kam es öfter vor, daß Anträge der Aufschließenden auf Straßenbauten ab¬
gelehnt wurden; es ist also wahrscheinlich, daß, wenn es nach den Wünschen der
Ausschließenden gegangen wäre, erheblich mehr Land der Bebauung zugänglich
gemacht worden sein würde. Endlich haben wir ja gesehen, daß die Terrain¬
nnternehmer durch weitgehende Kreditierung des Verkaufspreises und vielfach auch
durch Gewährung von Baugeld um den Absatz ihrer Baustellen eifrig bemüht
waren. Und doch ist absichtliches Zurückhalten von Bauland in dem hier in Rede
stehenden Gebiete in den letzten Jahrzehnten ziemlich viel vorgekommen, nur freilich
nicht durch die Terrainunternehmung und nicht von fertigen Baustellen, sondern
gerade gegen die Leute, die Baustellen schaffen wollten, durch die Urbesitzer und
durch die Personen, die mit Hinderungs- und Vexterparzellen operierten. Auch
diese Personen gehörten meistens der Klasse der Urbesitzer an.
Der enthusiastische Reformer Mangoldt kommt also in Beziehung auf
diesen Streit zu demselben Ergebnis wie Dr. Andreas Voigt. über dessen mit
dem Architekten Geldner herausgegebnes Buch „Kleinhans und Mietkaserne"
im dritten Bande des Jahrgangs 1906 Seite 432 berichtet worden ist. Und
dieses ist nun die Tatsache, um deren Konstatierung es mir zu tun war: die
Terrainunternehmer, die man ja insofern zu den Spekulanten rechnen muß,
als sie eines erst in der Zukunft zu erwartenden Gewinnes wegen kaufen, sind
keine vcmbscheuungswürdigm Bodenwucherer, sondern sie haben eine schlechthin
notwendige und sehr schwierige Funktion übernommen. Es läßt sich schwer
ausdenken, wie die Dinge verlaufen sein würden, wenn sich keine Leute ge¬
funden hätten, die Courage genug hatten, sich in das riskante Geschäft einzu¬
lassen Entweder Hütten die Kommunen schon vor vierzig Jahren tun müssen,
was Mangoldt fordert, und wovor sie sich heute noch mit Händen und Füßen
sträuben: sie hätten die Stadterweiterung, also den Bodenkauf, die Straßenanlage
und den Verkauf der Baustellen, selbst in die Hand nehmen, oder sie hätten die
anziehenden Leute wohnen lassen müssen, wie und wo sie konnten: in beliebigen
Hütten. Baracken und Wohnwagen, und hätten kein Recht, wahrscheinlich auch
gar nicht die Möglichkeit gehabt, für Neubauten eine Bauordnung vorzu¬
schreiben Man kann das anerkennen, ohne die bekannten Forderungen
Damaschkes grundsätzlich zu verwerfen. Mag die Wertzuwachssteuer und die
Besteuerung der Baugrundstücke nach dem Verkehrswert die Bodenbesitzer
schädigen oder von diesen abgewälzt werden - der Steuerfiskus kümmert sich
ja auch sonst nicht um die Wirkung der Steuer auf die Besteuerten; er fragt
zum Beispiel bei der Besteuerung des Arbeitverdienstes nicht danach, ob dem
Besteuerten nach Zahlung der Steuer noch etwas übrig bleibt, das er für
etwaige Zeiten der Arbeitlosigkeit und fürs Alter sparen könnte. Wie die
beiden Steuern zu guter Letzt auf die Stadterweiterung und auf die Boden-
Preise wirken werden, das muß die Zukunft lehren. Was den Bauschwindel
betrifft, so schädigt dieser nur die Bauhandwerker und hat auf die Gestaltung
der Bodenpreise keinen Einfluß. Eine so seltne und fürs große Ganze be¬
deutungslose Erscheinung, wie Andreas Voigt es darstellt, scheint er jedoch
nicht zu sein Die in Halle erscheinende „Rundschau über die wichtigsten
Gesetzesvorlagen" hat im Februar (die Nummer gibt die Zeitung, der ich das
entnehme, nicht an) eine ausführliche Beschreibung des Verfahrens der „Würger"
gebracht — so werden in Fachkreisen die Bodenspekulanten genannt, die sich
auf den Bauschwindel verlegen -. und diese Würger sowie ihre Kukis, die
Strohmänner, und die Zutreiber werden als eine ziemlich zahlreiche Klasse
dargestellt. Diese Darstellung soll „aus sachverständigen juristischen Federn
stammen". Wenn dem so ist, dann muß allerdings die Gesetzgebung ein¬
schreiten; aber mit den Bodenpreisen hat das, wie gesagt, nichts zu schaffen,
und mit der Stadterweiterung nur insofern, als freilich solche Betrügereien un¬
möglich würden, wenn die Kommunen selbst die Baustellen zu verkaufen und
womöglich auch zu bebauen Hütten. Mangoldt will übrigens den Gemeinden
und Gemeindeverbänden kein Monopol einräumen, sondern neben ihnen, als
Haupttrügern der Stadterweiterung, die konkurrierende Tätigkeit von Privat¬
WM^w>s^M^/in 12. März d. I. feierte das deutsche Volk den dreihundertjährigen
Geburtstag seines größten religiösen Dichters, Paul Gerhardts.
>Jn evangelischen Gottesdiensten wurde der Gemeinde vergegen¬
wärtigt, welche Erhebung des Gemütes, welche Stimmungen innern
Friedens, welche Kräfte der Tröstung sie aus dem Liederquell
> dieses Sängers geschöpft habe. Und auch Zeitungen und Zeit¬
schriften wie eigens ihm gewidmete Bücher, neue Ausgaben seiner Lieder suchten
das Lebensbild Gerhardts und seine dichterische Leistung im Bewußtsein der
Zeitgenossen neu zu beleben.
Der Charakter Gerhardts durfte, der Wirklichkeit entsprechend, als ein
Lichtbild bezeichnet werden. Auch der tragische Konflikt, in den er in den
letzten Jahren seines Lebens geriet, konnte, vom moralischen Standpunkt aus
betrachtet, auf ihn keinen Schatten werfen. Fällt aber deshalb der Schatten
ausschließlich auf den Kurfürsten?
Noch etwa vor einem halben Jahrhundert war dies die Meinung. Paul
Gerhardt erschien als ein Opfer religiöser Unduldsamkeit seines Herrschers. Er
wurde als ein Vorkämpfer der Gewissensfreiheit gefeiert. Wir vermögen so
nicht mehr zu urteilen. Unser geschichtlich gebildeter Blick verweilt mit lebhaften
Sympathien bei beiden Männern. Wer die Art und Weise mißbilligt, wie der
Fürst seinen Bestrebungen Wirklichkeit zu geben suchte, schenkt doch jenen viel¬
leicht vollen Beifall, und wer an dem engen religiösen Standpunkt Anstoß
nimmt, den der Dichter vertritt, vermag doch die zarte Gewissenhaftigkeit, die
ihn auszeichnet, zu würdigen.
Von diesem Standpunkt aus Pflegen wir jetzt den Konflikt zwischen Fürst
und Dichter zu beurteilen, wir lassen beiden Teilen Gerechtigkeit widerfahren.
Wenn das Verständnis des Konflikts, wie es gegenwärtig erreicht ist, doch noch,
wie uns scheint, eine Lücke zeigt, so bezieht sich diese auf die psychologische Ent¬
wicklung des Dichters. Denn Gerhardt wurde ein andrer, seitdem er in den
Streit eintrat. Dies zu erweisen, ist die Aufgabe, die sich dieser Aufsatz stellt.
Paul Gerhardts Wiege stand in Gräfenhainichen, einer kleinen Stadt Kur¬
sachsens, des Mittelpunkts der deutschen lutherischen Kirche. Wir dürfen es
als selbstverständlich voraussetzen, daß sich der Knabe und Jüngling den christlichen
Glauben in der Gestalt lutherischer Lehre aneignete, und daß ihm die Er¬
kenntnis dieser Lehre nach Maßgabe lutherischer Orthodoxie vorgetragen wurde.
Diese Voraussetzung wird uns durch die Tatsache bestätigt, daß auf der Fursteu-
sckule '
.u Grimma. der Gerhardt überwiesen wurde, der Religionsunterricht nach
dem Lehrbuch Hutters vorgetragen wurde, worm die wtherische Theologie nach
den Normen der strengsten Orthodoxie, >me scharfer Polenn gegen die Refor¬
mierten und gegen Melanchthon zur Darstellung kam. Und dieses Lehrbuch mußte
Wort für Wort auswendig gelernt werden, sonst wurde der Schuler nicht al»
reif zur Universität entlassen.') Freilich wäre es ein Irrtum zu meinen die
extreme lutherische Orthodoxie, die außerhalb ihrer Grenzen nicht mehr Christen¬
tum oder Protestantismus wahrzunehmen vermochte, hatte ununterbrochen ,n
Kursachsen geherrscht. Wir wissen, daß or längere Zeit die milde Theologie
Melan lthons bestimmend gewesen ist. die den Reformierte.i die Hand weit ent-
aeaenstreckte daß sodann diese Strömung mit Gewaltmitteln bekämpft und besiegt
wurde, daß'sie dann wieder im Ausgang des sechzehnten Jahrhunderts Be-
günstiauna rfuhr. Kurfürst Christian der Erste, vom politischen Standpuut
aus zum Zusammengehn mit reformierten Fürs en bewöge^ hat dies auch aus
kirchl chem Gebiet betätigt. Im Jahre 1587 hob er die Verpflichtung auf die
Konkordienformel auf. diese lutherische Bekeuntnisschrift. die die Ort odoxie vor
allen wirkt chen oder vermeintlichen Lehrlrrtumern zu schützen suchte, und die
freundlichere Re!iebunaen den Re ormerten ausschloß. Auch verbot er das
to?K und Kathedern und bestimmte, daß alle theo-
loaiscke. ^rncksckrikten der Zensur unterwor en werden sollten. Freilich zeigte
ick? i^t hies theologische Partei ebenso unduldsam wie die gestürzte.
Wer dem Edl t At^ s^es Pfarramts entsetzt, so der Super-
weude?^ G^euB und Gerhardts eigner Großvater. N.Kaspar
Starke in Eilenbura Die Melanchthomsche Lehre sowie reformierte An-
scha eng n our n wangsweise zur Gewmg gebracht. Aber der Kurfürst hatte
weder die Mehrzahl'der- Geistlichen noch die Stande auf seiner Seite.
Auch derVeruch. den Exorzismus. die Teufelsaustreibmig bei der Taufe,
zu beseitigen, fand den heftigsten Widerspruch bei den G^ und bei dem
Volke. Aber die Herrschaft des Melanchthomschen Geistes kurze
Episode sein; der frühzeitige Tod des Kurfürsten vernichtete alle Hoffnungen
der dem Kalvinismus freundlich gesinnten Partei. Die Orthodoxie siegte von
neuem und übertraf in gewalttätiger Ausnutzung ihrer Siege die früher mäch¬
tigen Gegner. Im Jahre 1602 wurde den sächsischen Beamten die eidliche Ver¬
pflichtung auf die Konkordienformel auferlegt und damit der Bruch nur dem
Geiste Melanchthons in Kursachsen endMg wllzogen Für den Geist, der
nun am Dresdner Hofe herrschte, ist charak enstchh daß das ärgste ^wort, das Johann Georg der Erste gebrauchte, lautete: „Du Kalviwst."^)
Fassen wir die Eindrücke, die Gerhardt von den Ereignissen auf kirchlichem
Gebiete bis zum Beziehen der Wittenberger Universität empfangen mußte zu¬
sammen, so müssen wir urteilen: Gerhardt wußte daß das sächsische Volk mit
unerschütterlicher Festigkeit auf dem Boden der lutherischen Orthodoxie stand,
und daß an dieser Festigkeit alle Versuche des Hofes gescheitert waren, eme
freundlichere Gesinnung den Reformierten gegenüber hervorzurufen. Fügen wir
hinzu, daß die Familienüberlieferung und der erhaltne Unterricht Gerhardt das
Festhalten an der lutherischen Orthodoxie sowie die Abneigung gegen die Re¬
formierten und gegen eine ihnen freundliche Richtung einprägten.
Welche Einwirkungen wird nun die theologische Fakultät in Wittenberg,
die seine Lehrmeisterin wurde, auf Gerhardt ausgeübt haben? Sie war damals
nicht mit hervorragenden Gelehrten ausgestattet; es fehlte ihr durchaus an
schöpferischen Geistern, aber alle Lehrer waren Lutheraner strikter Observanz;
über die Grenzmauern des Luthertums mit wohlwollenden Blicken hinüberzu¬
schauen, lag ihnen völlig fern. Es war für sie selbstverständlich, daß der Kal¬
vinismus nichts als Irrtum sei, daß man sich mit Entsetzen von ihm abwenden
müsse. Es gehörte für einen akademischen Theologen fast zum guten Ton. auch
öffentlich gegen die Reformierten zu polemisieren, und man verübelte es ihm
nicht, wenn er mit den Papisten mehr sympathisierte als mit den Kalvinisten.
Aber trotz alledem, wenn man die Lehrern Gerhardts mit den Wittenberger
Theologen in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts vergleicht, so kann man
ihnen immer noch ein gewisses Maß von Milde nachrühmen. So wird Ger¬
hardt von Wittenberg wohl Befestigung in der lutherischen Lehre, Ablehnung
alles nicht lutherischen, aber nicht fanatischen Haß gegen den Kalvinismus emp¬
fangen haben.
Über das Leben Gerhardts seit dem Abgang von der Wittenberger Universität
bis zu seinem Aufenthalt in Berlin, dessen Anfang wir jetzt bis auf das
Jahr 1643 zurückdatieren können,*) wissen wir nichts. Dürfen wir eine Ver¬
mutung aussprechen, so hat in diesen dreizehn bis vierzehn Jahren unser Dichter
ein Wanderleben geführt, bald hier, bald dort als Erzieher tätig, vielleicht auch
als aushelfender, vertretender Prediger. Auf jeden Fall hatte er eine amtliche
Stellung nicht bekleidet. In Berlin hat er sich noch als Studiosus bezeichnet.
Welche Einflüsse sind nun in dieser Zeit auf ihn ausgeübt worden, und wie
hat er auf sie reagiert? Gedenken wir zuerst des glänzenden Gestirns, das
Deutschland in Georg Calixt aufging! Kein Zweifel, seine Bestrebungen waren
verfehlt; sein Gedanke, auf Grund der Überlieferung der ersten sechs Jahr¬
hunderte eine Vereinigung der getrennten christlichen Kirchen herbeizuführen,
konnte nur dem Katholizismus zugute kommen, dessen Grundgedanken wir schon
seit dem dritten Jahrhundert, wenn nicht früher, begegnen. Aber das war das
Große, daß hier eine Persönlichkeit erstand, die über die engen Grenzmauern
der eignen Konfession hinüberschaute, den Geist des Friedens vertrat, und daß
seine Worte in weiten Kreisen Widerhall fanden. Wie sich Gerhardt zu dieser
Richtung, deren Anhänger Synkretisten genannt wurden, verhalten hat, können
wir aus seinen: Testament entnehmen, mag eines die Schürfe des Tones durch
die persönlichen Erfahrungen des Greises verursacht worden sein.**) Hier richtet
er an seinen Sohn die Warnung: „Hüte dich ja vor Synkretisten, denn die
suchen das Zeitliche und sind weder Gott noch Menschen treu." Auch werden
wir es bezweifeln müssen, ob es einen umstimmenden Eindruck auf Gerhardt
gemacht hat, daß 1634 in seinem Heimatlande, in Leipzig, lutherische und re¬
formierte Theologen zu einem Religionsgesprnch zusammenkamen, worin ein
Unionsgeist waltete, und beide Teile, darunter ein Hoc von Hvhenegg, der früher
die Reformierten mit Arianern und Türken auf dieselbe Linie gestellt hatte, ein¬
ander so nahe wie kaum je gekommen waren.
Seit dem Jahre 1643 finden wir Gerhardt in Berlin, und zwar im Hause
des kurfürstlich brandenburgischen Kammergcrichtsadvokaten Andreas Barthold
oder Berthold. Wir nennen das Jahr 1643, weil es die früheste Spur seines
Aufenthalts in diesem Hause aufweist, ein Hochzeitslied bei Gelegenheit der Ver¬
mählung einer Tochter des Hauses. Doch kann Gerhardt schon früher in Berlin
geweilt'haben. Was wird ihn dahin gezogen haben? Berlin war damals kein
stilles Eiland im sturmbewegten Meer des Krieges. Es hatte davon, wie die
ganze Mark, ebensoviel zu leiden wie andre Länder. Wenn wir eine Vermutung
aussprechen dürfen, so geht sie dahin, daß Gerhardt in Beziehungen zu Michael
Schirmer, dem hochgeschätzten Lehrer am Klostergymnasium und hochgefeierten
religiösen Dichter, gestanden hat. Schirmer stammte aus Leipzig, war also wie
Gerhardt Kursachse.
Wir möchten es für wahrscheinlich halten, daß schon damals einige Lieder
Gerhardts bekannt geworden waren. Denn wenn Johann Crüger in seine
?rg,xis piötatis inelieg, von 1648 schon einige seiner Lieder aufgenommen hat,
so setzt das voraus, daß er 1648 kein Unbekannter war. So ist die Vorstellung
nicht unbegründet, daß schon damals Schirmer, später Gerhardts naher Freund,
ihm seine hilfreiche Hand geboten habe, um ihm in Berlin eine gesicherte
Wirkungsstätte zu bereiten. Als anerkannter Pädagoge wurde er vielleicht von
Varthold um einen geeigneten Erzieher für seine Enkelkinder*) gebeten und konnte
Gerhardt empfehlen. . . ^ . . „ .
Gerhardt kam nach Berlin. Wenn er daran gedacht hat, vielleicht in der
Mark Brandenburg einmal ein Pfarramt zu bekleiden, so mußten ihm manche
Bedenken aufsteigen, ob er hier eine ungestörte friedliche Wirksamkeit werde aus¬
üben können.
Vergegenwärtigen wir uns die kirchlichen Verhältnisse der Mark in dieser
Zeit! Im Jahre 1613 war Johann Sigismund zur reformierten.Kirche über-
gegangen. Er hatte diesen Schritt getan aus innerster religiöser Überzeugung;
er hatte sich durch die Gewißheit, daß er dadurch in einen Zwiespalt mit dem
religiösen Empfinden und Denken der lutherischen Christen seines Stmnmlandes
kommen müsse, nicht zurückhalten lassen. Dieser Zwiespalt mußte, wenn er auch
nicht beseitigt werden konnte, doch möglichst gemildert werden. Das war eine
Politische Notwendigkeit, und von den Tagen Johann Sigismunds an haben
es die Hohenzollern für Pflicht gehalten, in diesem ausgleichenden Sinne zu
wirken. Die ersten Schritte auf diesem Wege tat Johann Sigismund. Durch
ein Edikt aus dem Jahre 1614 verbot er alles schädigen und Lästern andrer
Kirchen und deren Bezeichnen mit Sektennamen. In demselben Jahre gelobten
die Geistlichen von Berlin und Köln an der Spree sowie die Inspektoren der
Mark mit Handschlag, sich diesem Edikt gemäß zu verhalten. Ferner erhielt die
Universität Frankfurt reformierte Theologen. Unter Georg Wilhelm können
wir nach manchen Seiten hin ein Zurückweichen vor der lutherischen Opposition
beobachten. Reverse zu unterzeichnen, hörte auf, ohne daß das Edikt Johann
Sigismunds seine rechtliche Geltung verloren hatte. Aber eine Einrichtung
wurde getroffen, die von der höchsten Bedeutung war. Im Jahre 1637 wurde in
dem Konsistorium zu Köln an der Spree, dem die Aufsicht über die Geistlichen
der Mark übergeben war, neben dem lutherischen ein reformierter Rat eingesetzt.
Gerhardt mußte sich also sagen, falls er in der Mark ein geistliches Amt be¬
kleiden wolle, werde er auch einem reformierten Theologen unterstellt sein. Unter
der Regierung des Großen Kurfürsten wurde die Unionspolitik Johann Sigis-
munds wieder aufgenommen und in großem Stile fortgeführt. Sein Blick ging
weit über die Grenzen des eignen Landes, ja des Deutschen Reichs hinaus.
Er sah, wie sich die katholischen Staaten Europas zusammenschlossen. Der
Protestantismus schien ihm bedroht, und er versuchte alle evangelischen Staaten
Europas zum festen Bündnis zu vereinigen und so der drohenden Gefahr zu
begegnen. Diesem Zwecke konnten auch Religionsgespräche förderlich werden;
und so hat der Kurfürst 1645 der Einladung des irenischen Polenkönigs
Wladislaus des Vierten zur Teilnahme am Thorner Religionsgespräch Folge
geleistet und Vertreter dorthin gesandt.
Bleiben wir hier einen Augenblick stehn und fragen uns, in welche Stimmung
wird Gerhardt versetzt worden sein, als er von diesen Bestrebungen des Kur¬
fürsten vernahm; wird er an ihnen einen ernsten Anstoß genommen haben, oder
ist doch vielleicht der Geist, worin der Große Kurfürst handelte, nicht ohne
Einfluß auf ihn gewesen? Gewiß ist diese Frage schwer zu beantworten. Ver¬
gegenwärtigen wir uns aber, daß er im Hause eines sehr angesehenen kurfürst¬
lichen Beamten lebte, der schwerlich die Verfügungen des Herrschers mißbilligte,
so werden wir vielleicht voraussetzen dürfen, daß Gerhardt damals keinen starken
Anstoß an diesen Bestrebungen genommen hat. Bedeutungsvoll scheint mir zu
sein, daß er doch, soweit wir wissen, keinen Einspruch dagegen erhoben hat, daß
in das im Jahr 1658/59 vom Buchdrucker Runge hergestellte Unionsgesangbuch
von ihm verfaßte Lieder mit aufgenommen wurden, daß seine Lieder mit den
Liedern reformierter Sänger zugleich den reformierten Gemeinden zur Erbauung
dargeboten wurden. Hatte doch auch sein Freund Johann Crüger an der Her¬
stellung dieses Gesangbuchs mitgewirkt. Es ist auch nicht anzunehmen, daß der
Kurfürst die Aufnahme Gerhardtscher Lieder in dieses Gesangbuch geduldet hätte,
wenn sich Gerhardt als entschiedner Gegner der Reformierten gezeigt hätte.
Daher sich denn auch der Berliner Magistrat in der Fürbitte für den Dichter
an den Kurfürsten darauf beruft, daß der Kurfürst kein Bedenken getragen habe,
in dieses Gesangbuch eine größere Zahl Gerhardtscher Lieder aufnehmen
zu lassen.*) Wir möchten glauben, daß wenigstens zeitweise die Stimmung
Gerhardts den Reformierten gegenüber freundlich gewesen ist. lind nun
nehmen wir noch die eine Tatsache hinzu, daß dem Dichter bezeugt wird, er
habe sich der Polemik auf der Kanzel gegenüber den Reformierten enthalten,
habe also, ohne durch Unterschrift eines Reverses verpflichtet zu sein, so gehandelt,
wie der Kurfürst es verlangte. Würde sich Gerhardt so verhalten haben, wenn er da¬
mals die gleiche Gesinnung gegenüber den Reformierten gehegt hätte wie später;
würde er sich nicht in diesem Falle in seinem Gewissen gebunden erachtet haben,
gegen die Reformierten zu Felde zu ziehen, wenn auch immer in maßvoller
Weise? Nur so erklärt es sich, daß unser Dichter nicht durch eine einschneidende
Verfügung des Kurfürsten beunruhigt worden ist, die ihn sehr tief Hütte er¬
schüttern sollen. Im Jahre 1651 war er ordiniert und hierbei auf die Kon-
kordienformel verpflichtet worden, 1656 hob der Kurfürst die Verpflichtung der
Ordinanden auf die Konkordienformel auf und beschränkte damit für die Zukunft
den streng lutherischen Charakter der Mark. Das bewog aber Gerhardt keines¬
wegs, sich nach einer Pfarrei außerhalb der Mark umzusehen, vielmehr folgte
er ein Jahr darauf, 1657, dem Ruf, die Propstei in Mittenwalde mit dem
Diakonat an der Nikolaikirche in Berlin zu vertauschen. Noch mehr! Auch die
Tatsache, daß das Konsistorium, das gegen die Aufhebung der Verpflichtung
auf die Konkordienformel Einspruch erhob, abgewiesen wurde, scheint keinen
tiefen Eindruck ans Gerhardt gemacht zu haben. Auch dadurch wurde seine
Amtsfreudigkeit nicht beeinträchtigt, daß der Präsident des Konsistoriums seines
Amts enthoben und einige Jahre später durch einen reformierten Präsidenten
ersetzt wurde. Nicht einmal daran scheint er Anstoß genommen zu haben, daß
seit 1658 von den Ordinanden im Sinne des Edikts Johann Sigismunds ge¬
fordert wurde, sich des Scheidens und Lästerns der Lutheraner gegen die Re¬
formierten und umgekehrt auf der Kanzel zu enthalten.
rein Professor Spitzbart war unglücklich. Seit dem Tode ihres süßen
Annchens war sie immer unglücklich, Sie sagte nichts, sie klagte nicht,
sie seufzte nur und war unglücklich. Der Herr Professor war ein
gelehrter Mann, im Nebenberufe Philolog, im Hauptberufe wissen¬
schaftlicher Pädagog. Ihr meint, ich hätte Haupt- und Nebenberuf
in umgekehrter Weise angeben sollen. Es war aber doch so, wie ich
sagte. Denn dem Herrn Professor standen in erster Linie die Methode und erst in
zweiter Linie die unregelmäßigen Verden. Nach fünf Jahren merkte der Herr
Professor, daß seine Frau unglücklich sei. Er unterzog diese Beobachtung einer
Psychologischen Analyse und ließ, da er ein guter Mensch im allgemeinen und ein
guter Ehemann im besondern war, von Mey und Etlich einen Granatschmuck für
hundertundzwanzig Mark kommen. Frau Professor nahm diesen Schmuck gerührt
entgegen, seufzte, legte ihn beiseite und fuhr fort, unglücklich zu sein.
Nach Verlauf von weitern zwei Jahren entschloß sich der Herr Professor mit
seiner lieben Frau zu deren Zerstreuung Reisen zu machen und Bäder zu besuchen.
Das bedeutete für ihn ein großes Opfer. Denn er befand sich nirgend wohler als
ein seinem Schreibtische oder in seinem pädagogischen Seminar, in dem er den
Herren Lehramtskandidaten, die den Unterricht an dem Gymnasium verschönten, die
Feinheiten der fünf formalen Stufen auseinandersetzte. Er verbrachte also unterwegs
seine Zeit in den Lesesälen der Hotels, und seine Frau suchte einen schönen Aus¬
sichtspunkt auf, verkroch sich uuter ihren Schirm und war unglücklich.
Wie geht es denn Ihren lieben Kindern? fragte einmal eine ältere Dame, die
ihrer sieben hatte, den Professor beim Diner.
Kinder? erwiderte der Professor, Sie meinen eigne E— Kinder? Kinder habe
ich e— nicht. Und dabei fühlte der Herr Professor, was bei ihm bisher unter der
Schwelle des Bewußtseins geblieben und also auch nicht in die psychologische Rechnung
eingestellt worden war, daß er selbst unglücklich war. Freilich sank diese Erkenntnis,
was ihn selbst betraf, bald wieder unter die Schwelle des Bewußtseins zurück, doch
bleibt der Begriff „Kinder—elosigkeit" eine Erkenntnis, die er in Beziehung auf seine
unglückliche Frau verwertete. Eine Frau, reflektierte er, muuß E— Kinder haben.
Hat sie keine E— Kinder, so wird der glatte Abfluß der Vor—estellungsreihen ge¬
stört, und aus der Pressung der gegeneinander gerichteten Seelen—ekräfte muuß
sich das Gefühl des Ann—ebefriedigtseins ergeben. Wenn man Kinder hätte im
Laden kaufen können, er wäre hingegangen und hätte eins gekauft. Da dies nun
nicht möglich war, ging er hin und kaufte einen Hund, was seine Frau doppelt
unglücklich machte.
Da ereignete sich folgendes. Zur Herbstmesse war ein Zirkus aufgebaut, und
eines Abends brach der Balken, in den die Haken des Schweberecks eingeschraubt
waren, und die beiden Künstler, Mann und Frau, die daran gerade arbeiteten,
stürzten aus der Höhe herab und brachen den Hals. Die Verunglückten hinterließen
ein Kind von fünf Jahren, ein Mädchen, Erna mit Namen. Da nun Verwandte
nicht bekannt waren, nahm sich ein Weib aus der Künstlergesellschaft, das selbst
schon Kinder genug zu versorgen hatte, des verwaisten Kindes an. Dies machte
großes Aufsehn in der Stadt. Man erwog, ob man sich an den vielbewährten
Wohltätigkeitssinn der Bürgerschaft wegen einer Kollekte für das Kind wenden sollte,
aber es kam nicht dazu, denn der Herr Professor Spitzbart hatte sich in den Zirkus
begeben und das Kind der besagten Frau für hundert Mark abgekauft. Der Besitz¬
titel dieser Frau war ja sehr zweifelhaft, die hundert Mark nahm sie aber doch.
Der Herr Professor, der, was er unternahm, mit anerkennenswerter Energie durch¬
zuführen pflegte, nahm die kleine Erna an die Hand, ging mit ihr in ein Waren¬
haus und ließ sie vom Kopf bis zum Fuß neu einkleiden. Darauf brachte er das
Kind nicht ohne einige Verlegenheit seiner Frau.
Emilie, sagte er, ich e— bringe dir ein Objekt für deine mutter—cunde
Für—esorge. Eine E— Frau muuß Kinder haben. Da hast du eins.
Emilie brauchte lange Zeit, bis sie begriff, daß dieses Kind ihr Kind sein sollte,
dann aber ging die Sonne auf, und der Herr Professor notierte ans seiner Habet-
seite, daß eine auf wissenschaftlicher Grundlage beruhende Psychologie berufen und
befähigt sei, in die Wirrnisse des Lebens Ordnung zu e—bringen.
Frau Emilie war glücklich. Ja, das wars gewesen, ein Gegenstand für ihre
mütterliche Liebe und Fürsorge hatte ihr gefehlt. Jetzt hatte sie, wonach sie sich
unbewußt alle die Jahre hindurch gesehnt hatte, ein Kind! Ein Kind von tadelloser
Schönheit, wie es in gewöhnlichen bürgerlichen Verhältnissen gar nicht vorkam, rund,
kräftig und geschmeidig, mit großen dunkeln Augen, ein wirklicher „Wonnekloß".
Wenn sie ihr schönes Kind im Bade hatte, war sie geneigt, es anzubeten. Nur
machte das Kind wunderliche Bewegungen. Es setzte sich auf die Erde, indem es
die Beine in gerader Linie nach rechts und links ausstreckte, es kratzte sich mit dem
Fuße hinterm Ohre, es war so, als wenn es doppelte Gelenke hätte. Wird sich
schon geben, tröstete sich die Frau Professor, so wie sich ja auch die englische
Krankheit verwächst. Und es gab sich auch.
Eine andre befremdliche Beobachtung machte der Herr Professor, der sich um
das seelische Leben von Klein-Erna kümmerte, wie die Frau Professor um das
leibliche. Wenn das Kind sich selber überlassen war, so spielte es mit zwei Klammern,
die sie Kopf auf Kopf stellte, „Hoppla Cousin". Oder es benutzte den Stiefelknecht
als Pferd und stellte seine Puppe darauf. Oder es stellte sich selbst auf die Lehne
des Sofas und machte „Hoch das Bein". Wie das zusammenhing, und woher das
kam, erkannte der Herr Professor sofort. Daas muuß der—elernt werden, sagte
er, und damit wurde aus dem Wortschatze des Hauses alles gestrichen, was an
Jahrmarkt, Zirkus, Kunststück und desgleichen erinnerte. Auch Pferd und Trompete.
Jede kühne Bewegung wurde als unanständig bezeichnet und mit strengen Worten
geahndet, auch die Puppe durfte nicht ent—eblößt werden. Dagegen wurde die
Liebe zur Heimat, zu Vater und Mutter methodisch eingepflanzt, was der Herr
Professor mit aller wissenschaftlichen Gründlichkeit durchführte.
Nämlich so: Erstens Vorbereitung. Maas hat das Kind? Das Kind hat sein
Süppchen und sein Kleidchen — und. sagte Klein-Erna, sein Buzebettchen — »und
sein Buze—e betenden, wiederholte der Pädagog — und Wau-Wau, sagte Erna — uund
Wau—ewau, wiederholte der Pädagog. Maas hat das Kind? Sage, was das
Kind hat? Sein Süppchen, sein Kleidchen, sein Buzebettchen, seinen Wau-Wau.
Und Klammerpuppen, sagte Klein-Erna. -
Neiein, rief der Professor, das gute Kind hat keine Klammer—e puppen.
O ja, Klammerpuppen. Bitte, bitte Klammerpuppen.
Aber Klammerpuppen gehörten ja zu den verbotnen Dingen, sie durften also
auch nicht für die Analyse bewilligt werden, und es ging nicht ohne Tränen ab,
ehe diese verbotne Klammerpuppe ans der Vorstellungsgruppe entfernt war. Nunmehr
ergab die Frage: Maas hat das gute Kind? eine hemmungs—elos ab—erollende
Vor—estellungsreihe. Hierauf folgte (Stufe zwei) die Darbietung in Form einer Ge¬
schichte eines kleinen Mädchens, das alles hatte. Buzebettchen, Wauwau, Süppchen
und Kleidchen, und das seine Heimat furchtbar liebte. Der Sinn dieser Geschichte
wurde vertieft. — wie sollst du Vater und e— Mutter haben? lieb sollst du sie
e— haben, — er wurde verglichen, zusammengefaßt und angewandt, und dann sang
man, der Herr Professor mit der Stimme eines Zahnbrechers und Klein-Erna zitternd
und bebend: In der Heimat ist es schön, auf der Berge lichten Höhn.
Es dauerte ziemlich lange, bis alle fünf formalen Stufen ordnungsmäßig
durchgearbeitet waren. Man kann nicht sagen, daß Klein-Erna besondre Freudigkeit
an die Sache heranbrachte; sie war unglücklich, wenn der Vater die Treppe herab¬
rief: Erna, e— komm, und die Mutter mußte freundlich zureden und manch Stück
Schokolade spenden. Allen Beteiligten machte die Pädagogische Arbeit Mühe genug,
aber man konnte doch sagen, daß nach Beendigung des fraglichen Abschnitts ein
wesentlicher Teil des Vorstellungsinhalts geordnet, das Interesse vielseitig erweckt
und angeknüpft und der fernere psychologische Aufbau gesichert war.
Glücklicherweise haben Väter mehr guten Willen als Ausdauer. Auch Professor
Spitzbart gehörte zu diesen Vätern. Er fuhr fort, Klein-Erna pädagogisch zu bearbeiten,
er errichtete einen wahren Wunderbau von Konzentrations-, Gesinnungs- und andern
Stoffen, von Beziehungen und Verknüpfungen, und er konnte sich über Erna nicht
beklagen; sie schluckte alles, was ihr vorgesetzt wurde. Dennoch ließ sein Interesse
nach, besonders seitdem er in eine andre Stadt und an eine andre Schule versetzt
war. Er überließ also die Fortsetzung des Erziehungsgeschäfts der höhern Töchter¬
schule — und der Zeit. Denn die Zeit ist die eigentliche Meisterin der Erziehung.
Klein-Erna gewöhnte sich ein, Klein-Erna vergaß, was sie vergessen sollte, sie vergaß,
daß sie früher einen andern Vater und eine andre Mutter gehabt hatte, sie lernte
das Haus des Professors als ihr Vaterhaus ansetzn und Frau Professor als ihre
Mutter lieben. Nur des Herrn Professors pädagogische Milde und wissenschaftliche
Zähigkeit lernte sie nie vertragen. Sie lernte Joseph lieben und seine Brüder hassen,
sie lernte in deutschen Aufsätzen Gefühle ausdrücken, die sie nie gehabt hatte, lernte
die römischen Kaiser und die brandenburgischen Kurfürsten, lernte die Nebenflüsse des
Amazonenstromes und die Zahnsysteme der Raubtiere und der Nager, lernte französische
Gedichte hersagen und Englisch papeln und unterschied sich von den andern Schülerinnen
nur dadurch, daß ihr die Zensuren, die doch in allen guten Häusern eine so große
Wichtigkeit haben, ganz gleichgiltig waren, und daß sie größer und schöner als
alle ihre Mitschülerinnen wurde. Wenn sie in ihrem kurzen Kleide und mit ihren
dunkeln Feueraugen über die Straße ging, erregte sie flammende Gefühle in den
Herzen aller Tertianer. Als sie konfirmiert werden sollte, war sie völlig erwachsen,
was jeder merkte mit Ausnahme des Herrn Professors. Desto mehr merkten es
seine Unterprimaner. Es gab unter ihnen Ausbrüche schwärmerischer Gefühle, Ver¬
feindungen, heimliche Prügeleien und sogar ein Duell, das aber keinen Schaden
anrichtete. Schließlich kam die Sache heraus, als eines Kollegen Sohn, der Wind¬
hund, wie er vom Vater bei der Rückgabe der Extemporalien genannt wurde,
zudringlich geworden war und ihn Erna mit kräftigen Armen emporgehoben und
ihn mitten in ein Stachelgebüsch gesetzt hatte, was zerrissene Hosen, zerrissene Herzen
und den Verrat der Geheimnisse zur Folge hatte. Natürlich war Erna die Schuldige.
Welches wohlgezogne Mädchen setzt ihren Liebhaber in einen Dornbusch? Und
trotzdem war Erna vielleicht weniger schuldig als alle ihre Gefährtinnen. Sie war
nie dabei gewesen, wenn diese um fünf Uhr in die Plantage gingen, um dort mit
ihren Verehrern zusammenzutreffen. Was konnte sie dafür, daß sie einen stolzem
Gang und freiere Haltung hatte als die verkümmerten Töchter der guten Häuser,
und daß ihr Blick überall zündete, wohin er fiel?
Es gab eine ärgerliche Auseinandersetzung in der nächsten Konferenz des
gymnasialen Lehrerkollegii. Hier mußte sich der Herr Professor sagen lassen, daß
er seine Tochter besser in Obacht nehmen und ihr weniger Freiheit gewähren
möchte. Nun wußte er ja freilich nicht, da er von seinem Schuldienste und
einer wissenschaftlichen Arbeit stark in Anspruch genommen wurde, wie viel Freiheit
seine Erna genoß. Dennoch lehnte er kühl und stolz einen Eingriff in seine An¬
gelegenheiten ab und sagte: Daas mnuß ich allein wissen, was ich meiner Tochter
zu ver—estatten habe und was —e nicht. Sehn Sie auf Ihre eignen Söhne und
Wind—e Hunde.
Damit war die Sache für den Herrn Professor erledigt, für die Frau Professor
nicht. Denn nun ging die Geschichte durch alle Kaffees, bei denen die Frau Professor
nicht zugegen war, und es fanden sich Freundinnen, die brühwarm überbrachten,
was dort gekocht wurde. Namentlich war die Mutter des besagten Windhundes
unermüdlich, die pädagogischen Fähigkeiten des Herrn Professors unter Kritik zu
nehmen. Wie denn der Herr Professor eigentlich dazu komme, immer alles besser
wissen zu wollen als ihr Mann, der gerade so gut Professor sei wie er. Nun
sehe mens ja, was bei seiner Pädagogik herauskomme. Und Fran Steuerrad hatte
gesagt, es sei eigentlich eine Unverschämtheit von der Frau Professor, den Leuten
weis machen zu wollen, daß die Erna ihre Tochter und die ihres Mannes sei. Und
dazu kam die Furcht, was der Herr Oberprediger, bei dem Erna in die Konfirmanden¬
stunde ging, sagen würde. Der Herr Oberprediger sagte nun uicht viel und nichts
schlimmes, sondern lachte, nachdem er sich die Sache von Erna hatte erzählen lassen,
und meinte, das Verfahren sei Windhunden gegenüber gar nicht übel. Aber der
Frau Professor war es doch furchtbar, daß über sie und ihr Haus geredet wurde.
Sie regte sich entsetzlich auf und ließ nicht nach, in weinerlichen Tone auf Erna
loszureden und ihr Vorwürfe zu machen, bis diese unter Tränen Buße tat für ein
Vergeh«, für das ihre Seele keinen Begriff hatte.
Dies hatte nun zur Folge, daß Erna nach der Konfirmation in eine Art geistige
Isolierzelle kam. Der Herr Professor überwachte ihre geistige Nahrung und gestattete
zur Lektüre nur Werke von zweifellos klassischem Charakter. Junge-Mädchen-Geschichten
und Zeitungslektüre wurden als minderwertig, und weil sie keinen Bildungsgehalt
hatten, verboten. Dagegen hielt der Herr Professor Vorträge über altgriechische
Kunst und altdeutsche Literatur und widmete sich seiner Tochter mit anerkennens¬
werten Eifer. In der Musik wurde mit aller Gründlichkeit verfahren. Man ging
im Vertrauen auf den Bildungswert klassischer Kunst nicht über Haydn und Mozart
hinaus. Und Erna war eine gehorsame Tochter, sie schluckte alles, was ihr vor¬
gesetzt wurde.
Nicht so gut gelang es der Frau Professor bei ihrer Bemühung, Erna in das
Heiligtum der Küche einzuführen. Das heißt sie selbst gab den Kochlöffel nicht aus
der Hand. Wie wäre es auch zu verantworten gewesen, dem lieben Mann eine
Suppe vorzusetzen, die nicht nach ihrer eigensten langjährigen und erprobten Er¬
fahrung bereitet worden wäre, und wie hätte man ein solches Kind — das Kind
war fünfeinhalb Fuß hoch — in die tiefsten Geheimnisse der Kochkunst einführen
dürfen? Sie mochte zusehn. sie mochte Rüben putzen. Kartoffeln schälen und Wasser
ansetzen. Und das machte Erna kein Vergnügen. Sie tat, was ihr geboten wurde,
aber ihre Augen blickten darüber hinweg zum Fenster hinaus sehnsüchtig in die
Ferne, und dabei wurden die Nudeln nicht fein genug oder die Kartoffelschalen zu
dick, und dann gab es lange Erörterungen über die Pflicht junger Mädchen, im
Haushalte tüchtig zu werden. Aber mit den Handarbeiten war es noch schlimmer.
Erna verdarb alles. Alle lehrhaften Beispiele, alle sittlichen Vermahnungen konnten
es nicht so weit bringen, daß Erna einen halbwegs brauchbaren Strumpf stricken
lernte. Frau Professor seufzte, und Erna vergoß Tränen und bat um Verzeihung.
Aber es half nichts, es ging nicht, es lag nun einmal nicht drin.
Und darüber vergingen einige Jahre. Die sorgfältige und wissenschaftlich
einwandfreie Methode des Herrn Professors und der große Eifer der Frau Professor,
die nur ihrem Hause und ihrer Wirtschaft lebte, und der Käfig, worin mau das
junge Mädchen hielt, brachten es fertig, daß diese kerngesunde Natur zu leiden
anfing. Der Hausarzt untersuchte die Augen und das Zahnfleisch Ernas und riet
zu einer Luftveränderung, Pension auf dem Lande oder sonst etwas. Und so kam
denn Erna in das Haushaltungspensionat von Frau Superintendent Friccius in
Waltersroda. Die Korrespondenz hatte der Herr Professor geführt. Es wurden alle
Prinzipien, Bedingungen und Um—e stände eingehend erörtert, und es blieb — ein
feiner Zug des Herrn Professors — verschwiegen, daß Erna gar nicht das Kind des
Professors, sondern auf dem Jahrmarkt gekauft war. Diese Tatsache war ja methodisch
ver—elernt worden; es war nach der Meinung des Herrn Professors das beste,
daß sie beseitigt blieb.
Von dem Herrn Superintendenten und der Frau Superintendentin, kurz
Muttche genannt, von der Jumfer Dorrethee und dem Pfarrhaus in Waltersroda
habe ich früher schon einmal erzählt, und so kann ich mich jetzt darauf beschränken,
zu sagen, daß alles noch genau so war wie damals. Der Herr Superintendent
saß in seinem Studierzimmer, rauchte Tabak und arbeitete, Jumfer Dorrethee herrschte
in der Küche, und Muttche war eine rechte Gluckhenne unter ihren Küchlein. Und
oben in den vier Dach- und Turmzimmern, zwischen Efeu und Sonnenstrahlen war
das Reich der jungen Mädchen. Wundervoll!
Hier also erschien eines Tags der Herr Professor mit Erna. Der Herr Professor
übergab Erna Muttchen, die sie in das Reich der jungen Mädchen einführte, und
hielt dem Herrn Superintendenten einen Vortrag über den Charakter Ernas, so wie er
ihn in langjährigem Studium erkannt hatte. Er rühmte ihre Häuslich—ekelt, ihre
Heimath—eliebe und ihre Leiden—eschaft für klassische Literatur und Musik. Leider
habe sie einen etwas schwachen Körper, aber er hoffe, daß der Aufenthalt auf dem
Lande gut tun werde. Und als er Abschied nahm, empfahl er der Frau Superintendentin
aufs wärmste, die fünf formalen Stufen, die Konzentration und die Vielseitigkeit des
Interesses bei der Erziehung ihrer jungen Mädchen im Auge zu behalten.
I Jolle doch, rief, als sich der Professor entfernt hatte, Muttche, die in
Augenblicken der Erregung in ihren heimatlichen märkischen Dialekt verfiel, sollte mir
grad einfallen. Ich weiß allein schon, wie ich meine Mädels zu behandeln habe.
Sie wußte es wirklich. Sie befolgte ihre eigne Methode. Das erste und
wichtigste war, ihrer Mädel Vertrauen und Liebe zu gewinnen; war ihr dies
gelungen, so ergab sich alles andre von selbst. Und die, bei denen es ihr nicht
gelingen wollte, schickte sie fort. Damit soll nicht gesagt sein, daß es keine Ordnung
und Disziplin in Waltersroda gegeben hätte, im Gegenteil. Aber innerhalb dieser
Ordnungen durften sich die Mädchen in möglichster Freiheit bewegen. Es war keiner
da, der sie psychologisch bevormundet hätte. Es gab keine Klassiker, keine pädagogischen
Gemeinplätze, keine sittsamen Spaziergänge zu zwei und zwei, keine Dressur, keine
Langeweile. Es wurde auch nicht gescholten. Ein bekümmerter Blick, ein ernstes
freundliches Wort genügten. Und wenn Väterchen seinen spöttischen Mund machte
oder stillschweigend davonging, so erregte das bei der jungen Gesellschaft geradezu
Bestürzung.
Erna war von den Pensionärinnen oben im Mädchenzwinger mit Begeisterung
aufgenommen worden. Einem so großen und schönen Mädchen mit solchen Augen
widersteht kein Backfischherz. Jede Herde hat ihren Führer, jedes Reich seinen König;
und das ist immer — nicht der Klügste, sondern der Stärkste, namentlich der
Willensstärkste. Es währte nicht lange^ so war Erna die Herrscherin im Jnmfern-
zwinger, und selbst Jumfer Dorrethee schmunzelte, wenn Erna durch die Küche flog
oder mit anmutiger Leichtigkeit einen schweren Topf auf das Bort stellte.
Erna; von dem täglichen Drucke befreit, in die freie Natur hinausgestellt, in
den Kreis gleichaltriger Freundinnen aufgenommen, atmete auf und lebte auf. Bald
gewannen die Wangen wieder Farbe, und bald stand sie wieder da in jugendlicher
Frische und Kraft. Nachdem die Bildungskruste zerbrochen war, kam zum Vorschein
ein temperamentvoller, aber garnicht komplizierter Charakter, eine Seele, die frisch
darauf los liebte und haßte, ein guter Kamerad, gutmütig, dienstbereit, aber auch
schnell zum Zorn und ebenso schnell wieder zur Versöhnung. Furcht kannte sie
nicht, kein Baum war ihr zu hoch, kein Graben zu breit. Es sah nicht häßlich aus,
wenn sie auf dem Spaziergange ein Hindernis nahm, das die andern vorsichtig
umgingen, sondern anmutig und wie eine leichte und selbstverständliche Sache. Ein
merkwürdiges Mädchen, sagte die Frau Superintendent.
(Ein Rückblick auf die Politik des Fürsten Bülow.)
Nach Ostern wird zwar der Reichstag noch einmal auf kurze Zeit zusammen¬
treten, aber nur um eine Art von Nachlese zu halten und einiges Material aus¬
zuarbeiten, das nicht bis zum Herbst liegen bleiben kaun. In der Hauptsache ist
der parlamentarische Winterfeldzug schon jetzt beendet, und damit ist eine natür¬
liche Ruhepause eingetreten, die jetzt in der Festzeit zu einem Rückblick auf die
politische Lage des Reiches auffordert.
In der auswärtigen Politik hat sich nicht viel geändert. Unsre Politik ist
friedfertig und zurückhaltend, nur darauf bedacht, der natürlichen, friedlichen Ent¬
wicklung wirtschaftlicher Kräfte die Bahn offen zu halten, wobei das Schwergewicht
der Machtmittel, die wir zur Erhaltung und Verteidigung unsrer Weltstellung
sorgfältig zu pflegen suchen, zwar nur im Hintergrunde bleibt, aber doch nicht
außer Wirksamkeit gesetzt wird. Daß eine solche Politik, die nicht jedem Geschmack
und Temperament entspricht, in verschiednen Strömungen unsrer öffentlichen Meinung
viel Anfechtung findet, ist selbstverständlich. Mäßigung und Voraussicht sind Eigen¬
schaften, die schon im Alltagsleben nicht gerade auf der Gasse zu finden sind, noch
weniger natürlich in Fragen, deren Raum- und Zeitmaß über den Gesichtskreis der
großen Menge weit hinausgeht. Nun liegt ja freilich in den Regungen, die unsre
auswärtige Politik zu zaghaft und zu wenig unternehmend und großzügig finden,
sehr viel Tüchtiges und Ehrenwertes; man will das nationale Selbstbewußtsein,
den Sinn für Macht, die Opferbereitschaft für das Vorwärtsschreiten auf der Bahn
nationaler Größe freier entwickelt und mindestens nicht unterdrückt sehen. Gewiß
ist die Pflege dieser Richtung nationalen Empfindens von großer Bedeutung. Aber
es ist doch nur eine Seite der politischen Erziehung, und sie kann nicht bestimmend
für die Führung der praktischen Politik sein. Es ist ungefähr gerade ein Jahr
her, als Professor Gustav Schmoller „Deutschlands und Preußens äußere und
innere Politik in der Gegenwart" in einer Reihe von Aufsätzen in der Wiener
Neuen Freien Presse beleuchtete. Dabei wies er an geschichtlichen Beispielen
schlagend nach, daß „Staaten, die nach einer großen Epoche siegreicher Kriege und
Machterweiterung nicht längere Zeit stillehielten, von ihrer Höhe ebenso schnell
herabstürzten, wie sie aufgestiegen waren". So müssen wir auch jetzt erkennen,
daß die Führung unsrer auswärtigen Politik die richtige Linie innehält, wenn sie
die Macht, die das Deutsche Reich erlangt hat, nicht aufs Spiel setzt, um allerlei
Lockungen und dem bloßen Schein ihrer Erweiterung nachzugehn, sondern sie sorg¬
fältig zusammenhält, damit sich alle wirtschaftlichen Kräfte ruhig entfalten und im
Wettbewerb mit andern Nationen friedlich durchsetzen können.
Natürlich wirkt auch das auf viele Bestrebungen des Auslandes recht unbe¬
quem, und so werden wir noch auf lange Zeit mit dem Neid und der Gehässigkeit
andrer Nationen zu rechnen haben. Die Taktik, die von diesen ausländischen
Kreisen dabei geübt wird, ergibt sich eigentlich von selbst. Weil sich Deutschland
durch eine Reihe von Kriegen seine Einigung und Machtstellung errungen hat, wird
es fortgesetzt kriegerischer Gelüste beschuldigt. Das Mißtrauen der öffentlichen
Meinung wird im Auslande nach Möglichkeit gegen uns rege gehalten. Um aber
deir Widerspruch zwischen den Hinweisen auf die Ausdehnungsgelüste Deutschlands
und der Tatsache, daß dieses mächtige Reich trotzdem eine friedliche Politik betreibt,
zu erklären, wird das Märchen in die Welt gesetzt, daß die Stützen der deutschen
Macht innerlich morsch geworden und im Verfall begriffen seien, und daß es die
Furcht vor den durch Bündnisse gestärkten auswärtigen Mächten und das Bewußt¬
sein-der Schwäche sei, die die Aktionslust der deutschen Politik im Schach halten.
Aber wohlgemerkt! diese Meinung besteht nur in der Presse der uns feindlich ge¬
sinnten Kreise des Auslandes, nicht in den fremden Kabinetten. Da weiß man mit
den realen Machtfaktoren anders zu rechnen und hütet sich trotz gelegentlicher Be¬
günstigung und Benutzung deutschfeindlicher Strömungen sehr sorgfältig, der an¬
geblichen Meinung von der deutschen Schwäche und Zaghaftigkeit irgendeine prak¬
tische Folge zu geben oder sie ernstlich auf die Probe zu stellen.
Darum ist es sehr bedauerlich, daß lediglich Preßstimmen des Auslandes bei
uns als Unterlage benutzt werden, um auch in unserm Volk den Glauben zu er¬
wecken, als ob die Leitung unsrer auswärtigen Politik durch Zaghaftigkeit und
Schwäche das Werk Bismarcks zerfallen lasse. Genaue Kenntnis der wirklichen
Verhältnisse zeigt die UnHaltbarkeit dieses Urteils. Wer allerdings eine Politik der
Abenteuer und Experimente wünscht und für notwendig hält, wird sich durch die
Politik des Reichs nicht befriedigt fühlen. Aber wir können dankbar sein, daß die
Verantwortlicher Leiter unsrer auswärtigen Politik diesen Weg nicht gehn. Er
würde für uns doppelt gefährlich sein, da sich eine Politik der rücksichtslosen Aus¬
dehnung und einer angriffsweise vorgehenden Machterweiterung nur durchführen
läßt, wo ein Volk von einem besonders starken Willen einheitlich beherrscht und
mit kalter Entschlossenheit geführt wird, nicht aber wo das Urteil über ausländische
Verhältnisse so vielfach im Zeichen nervöser Zerfahrenheit steht, und wo sich die
Angehörigen einer sogenannten „kraftvollen" Politik zunächst erst im Innern gegen
andre Richtungen durchzusetzen haben würden. Es scheint aber, daß auch unser
Volk allmählich lernen wird, den äußern Widerständen, aus die unsre Politik bei
der zentralen Lage des Reichs immer stoßen wird, nicht nervöse Klagen über die
Passivität des Reichs gegenüber der „Einkreisungspolitik" fremder Mächte, sondern
ruhiges Selbstbewußtsein und tatkräftige Fürsorge für unsre Wehrkraft zu Lande
und zu Wasser entgegenzusetzen.
Eben jetzt weilt Fürst Bülow in Rom, wo er den Besuch erwidert, den
ihm Minister Tittoni abgestattet hat, und zugleich die Gelegenheit zu zahlreichen
Aussprachen mit italienischen Staatsmännern und den maßgebenden Persönlichkeiten
der päpstlichen Kurie findet. Selbstverständlich haben diese Aussprachen streng ver¬
traulichen Charakter, und was darüber als scheinbare Information in die Öffentlichkeit
gebracht worden ist, bewegt sich zum großen Teil auf sehr unsichrer Grundlage.
Aber zweierlei ist dabei doch zur Genüge klar geworden. Erstens, daß der Dreibund
doch immer noch lebendig ist und einen bestimmten Zweck in der europäischen Politik
erfüllt. Er ist nicht der Ausfluß eiuer Stimmung, sondern eines Bedürfnisses,
dessen Ursachen noch heute fortbestehen und auch in absehbarer Zeit nicht ver¬
schwinden werden. Die zweite Erfahrung ist, daß die Hoffnung der Zentrums¬
partei, aus der Gegnerschaft der Regierung gegen die einst ausschlaggebende Partei
einen neuen Kulturkampf zu machen, die höchste Autorität der katholischen Kirche in
die innern Kämpfe zwischen dem Block und seinen Gegnern in Deutschland hinein¬
zuziehen und eine Entfremdung zwischen dem Vatikan und der Reichsregierung
herbeizuführen, keine Aussicht auf Verwirklichung hat. Im Vatikan kennt man
augenscheinlich die Lage gut genug, um der Verlockung zu entgehn, in die das
Zentrum die Kurie gern hineinziehen möchte. Man weiß, daß sich das Interesse
der katholischen Kirche gegenwärtig nicht mit dem der Zentrumspartet deckt.
Daß die letzten Ergebnisse der Beratungen des Reichstags einen großen Er¬
folg der Bülowschen Politik bedeuten, haben wir schon in der vorigen Besprechung
hervorgehoben. Man darf aber an dieser Stelle Wohl noch einmal darauf zurück¬
kommen, weil die übliche kritische Verkleinerungssucht eifrig bemüht ist, eine Stimmung
aufrechtzuerhalten, die in allem, was uns die neueste Politik gebracht hat. nur
Mißerfolge sehen möchte. Wenn wir gegen eine solche Stimmung ankämpfen, so
geschieht es nicht, um einer Selbstzufriedenheit das Wort zu reden, die sich in
hatten Behagen selbst vorlügt, wie wirs so herrlich weit gebracht. Als das junge
Deutsche Reich in den ersten zwei Jahrzehnten nach seiner Gründung noch das Glück
hatte, von dem größten Staatsmann des Jahrhunderts geführt zu werde», haben
wir uns daran gewöhnt, die Überlegenheit dieser Führung fast ohne Kritik anzu¬
erkennen. Wenn wir uns seit dem Scheiden Bismarcks von der politischen Bühne
ein Übermaß von Kritik angewöhnt haben, so ist das zwar der natürliche Rückschlag,
der auf die vergangne Zeit folgen mußte, aber es ist zugleich eine Gefahr, weil
wir damit der falschen Annahme Vorschub leisten, als sei es die Aufgabe jedes
leitenden deutschen Staatsmannes nach Bismarck, dem Volke jede politische Ver¬
antwortung abzunehmen. Das deutsche Volk muß sich aber in das Errungne hinein¬
leben, es innerlich verarbeiten und aus sich heraus neue Ziele finden. Das gibt
eine Zeit äußerlich langsamern, stillern Fortschreitens, aber innerlichen Wachstums
an politischer Reife, und in einer solchen Zeit kann es kaum einen schlimmern Feind
geben als die aus der Erinnerung an eine größere Vergangenheit stammende Ver¬
drossenheit, den überkritischen Pessimismus, der das Auge für die Gegenwart blendet
und den Arm für die Zukunft lähmt. Es ist die erste politische Pflicht, möglichst
klar zu sehen, was wirklich ist, und dieser Pflicht widerstreitet es, an allem, was
in ehrlicher Arbeit geleistet worden ist, so lange zu nörgeln und herumzudeuten,
bis es als Mißerfolg oder Rückschritt erscheint. Das ist ebensowenig zu ver¬
antworten wie die Vortäuschung von Erfolgen, die nicht vorhanden sind. Sind
aber Erfolge vorhanden, so ist es lächerlich, die Art zu bemängeln, wie sie errungen
worden sind, oder sie dem glücklichen Zufall zuzuschreiben. In der Staatskunst
ist das wirklich Erreichte das allein Entscheidende, und Glück gibt es nur für den,
der mit kräftiger Intuition die vielen wirkenden Kräfte, auch die verborgnen, zu
überschauen und zu schätzen vermag. Und wenn nun eine Zeit, die nicht von großen,
die Nation fortreißenden Problemen erfüllt wird, sondern die Früchte einer großen
Blütezeit zur Reife bringe» soll, von einem lähmenden, verwirrenden Pessimismus
heimgesucht wird, dann fällt einem Staatsmann, der es verstanden hat, trotzdem
Erfolge zu erringen, ein um so größeres Verdienst zu.
Von diesem Standpunkt aus, so meinen wir, sollte man die innere Politik des
Fürsten Bülow beurteilen. Als er Reichskanzler wurde, fand er eine schwierige
Doppelaufgabe im Reiche und in Preußen vor. Im Reiche war die Revision des
Zolltarifs durchzuführen, wobei ein Konflikt mit der freihändlerischen Linken drohte;
in Preußen war die Regierung stark engagiert für die Kanalvorlage, die einen
zähen Widerstand bei den Parteien der Rechten gefunden hatte. Beide Aufgaben
hatten nichts miteinander zu tun, und doch war das Schicksal beider durch die
Politische Lage in einen verhängnisvollen Zusammenhang gebracht worden. Der
neue Reichskanzler verstand es. diesen Zusammenhang zu lösen, den Zolltarif durch¬
zubringen und dann erst die Kanalvorlage zur Entscheidung zu bringen. In dieser
Frage erreichte er nicht alles, was die Freunde der Vorlage gehofft hatten, aber
viel mehr als die größten Optimisten erwartet hatten.
An dieser Kanalvorlage war Fürst Hohenlohe gescheitert. Und Graf Caprivi
hatte ebenfalls eine solche Klippe auf seinem Wege gefunden. Durch die Nach¬
wirkungen der Ereignisse, die mit dem Schicksal des Zedlitzschen Schulgesetzes zu¬
sammenhingen, war er zu Fall gebracht worden. Die Schulgesetzfrage in Preußen
erwies sich überhaupt als eines der Probleme, die ohne eine völlige Umgestaltung
der Parteiverhältnisse so gut wie unlösbar schienen. Fürst Bülow hat es gleich¬
wohl verstanden, die Konservativen zum Verzicht auf ihre durch den Wortlaut der
Verfassung gestützte Forderung zu bewegen, wonach auch die dringendsten Reformen
in der Verwaltung des Volksunterrichts nur im Rahmen eines allgemeinen, um¬
fassenden Schulgesetzes ausgeführt werden sollten. Es gelang ihm, diese dringenden
Reformbedürfnisse herauszugreifen und zur Lösung dieser Aufgabe das Volksschul-
Unterhaltungsgesetz zustande zu bringen, obwohl jetzt nach dem Nachgeben der
Konservativen die Liberalen die Gelegenheit gekommen glaubten, in leidenschaftlichem
Ansturm die Lösung der ganzen Schulfrage in ihrem Sinne zu erzwingen. Mag
auch das Schulunterhaltungsgesetz bei den Parteien der Linken wenig Freude
erwecken, ein Erfolg bleibt es doch, da es Fortschritte gebracht hat, die noch kurz
Vorher absolut unerreichbar schienen.
Wie der Reichskanzler als preußischer Ministerpräsident die Polenpolitik endlich
in feste, sichere Bahnen geleitet, und mit welchem Geschick er so hart umstrittne
Borlagen wie die Enteignungsvorlage in den Hafen gebracht hat, ist noch vor
aller Augen. Aber auch in der Reichspolitik ist es stetig vorwärts gegangen, wenn
auch in kleinen Schritten. Die schwierige Aufgabe der Reichsfinanzreform ist noch
nicht gelöst, aber es sind doch zwei Anläufe gemacht worden, die nicht nur positive
Verbesserungen gebracht, sondern auch die allgemeine Einsicht in die Natur dieser
Frage geklärt haben. Mehrere Jahre hat Fürst Bülow den Vorwurf tragen
müssen, daß er seine Erfolge mühsam dem allmächtigen Zentrum absandte. Viele
glaubten gar, daß er dies aus persönlicher Vorliebe oder aus Zaghaftigkeit oder
Bequemlichkeit tue. Man wollte nicht erkennen, daß er sich mit den gegebnen
Kräften erst einen Unterbau schaffen mußte, ehe er in der Lage war, der Reichs¬
politik wirklich ein eignes Gepräge zu geben. Das hat er dann aber im
Dezember 1906 getan, und die Wahlen haben gezeigt, daß er die Lage richtig
beurteilt, den Augenblick gut gewählt hatte. Seitdem haben wir in der Reichs-
politik endlich einmal wieder etwas, was wir seit Bismarcks Rücktritt vermißt
hatten — ein Programm. Das Reichsvereinsgesetz und die Börsengesetznovelle
haben wir als Früchte dieses Programms schon früher gewürdigt. Wir können
hoffen, daß diese Politik nun auch die härtere Probe besteht und uns die Reichs¬
finanzreform beschert.
Neben den schon erwähnten Erfolgen geht die Flotten- und Kolonialpolitik
nebenher. In der Flottenpolitik hat Fürst Bülow dem Admiral von Tirpitz in
seinem erfolgreichen Wirken die politische Stütze gegeben, in der Kolonialpolitik
hat er durch sein persönliches Eingreifen nach harten Mühen eine Wendung herbei¬
geführt, die endlich die Aussicht auf stetiges Fortschreiten gewährt und der Arbeit
bestimmte Ziele setzt.
Wie hoch der einzelne die Erfolge der Bülowschen Politik einschätzt, darüber
wird es natürlich verschleime Meinungen geben. Aber wer ehrlich und unbefangen
urteilt, wird nicht leugnen können, daß die gesamte Reichspolitik seit 1900 ein¬
heitlicher und stetiger geworden ist. Und nichts von dem, was unternommen wurde,
ist direkt mißlungen. Es hat hier und da etwas geopfert werden müssen, aber die
Hauptsache ist immer durchgeführt worden, man hat immer einen Schritt vorwärts
in der ursprünglich beabsichtigten Richtung getan. Nichts ist ganz und gar fallen
gelassen worden. Darum meinen wir, daß sich Fürst Bülow ein volles Anrecht auf
Vertrauen in seine staatsmännische Führung erworben hat. Das wird sich hoffentlich
auch bei der Durchführung der Reichsfinanzreform zeigen.
Es erleichtert eine richtige Beurteilung, wenn man einige Zeit zurückgeht und
sich erinnert, wie damals erfahrne Politiker über die Lage geurteilt und die Aus¬
sichten und Pläne abgewogen haben, die jetzt Wirklichkeit geworden sind. Deshalb
kommen wir noch einmal auf den zu Anfang erwähnten Aufsatz von Professor
Schmoller zurück. Er schrieb damals — also vor einem Jahre — über den
Fürsten Bülow:
„Er will versuchen, mit Konservativen und Liberalen gegen Zentrum und
Sozialdemokraten zu regieren. Leicht wird dies gewiß nicht sein. Die konserva¬
tiven und die demokratischen Heißsporne werden es ihm,- soviel sie können, erschweren.
Sie machen jetzt im Abgeordnetenhause alle Anstalten, diese jetzt allein mögliche
und heilsame Parteikombination wieder zu sprengen. Aber Bülow wird
seinen Plan doch wohl durchführen, weil es eine innere absolute Not¬
wendigkeit ist, so zu regieren, und weil er die diplomatische Klugheit, die
Feinheit der Menschen- und Parteibehandlung besitzt, die über Schwierigkeiten hin¬
weghilft. Von der Parteien Haß und Gunst entstellt, steht heute sein Bild vor
der Öffentlichkeit. Daß er die Fehler seiner Vorzüge hat, teilt er mit allen Sterb¬
lichen. Daß er Bismarcks heroische Größe nie erreichen wird, liegt in seiner Person
und seiner Zeit. Daß er aber ganz anders und geschickter als seine beiden letzten
Vorgänger das Staatsschiff führt, werden ihm auch die meisten seiner Gegner zu¬
geben. . . . Das neben dem Altreichskanzler klügste und feinste Mitglied der Bis-
marckischen Familie, das an sich natürlich keine ganz besondre Vorliebe für Bülow
hat, sagte mir mal vor Jahren: er ist so klug, daß er das Unmögliche möglich
machen kann. Diese Klugheit, diese feinste und richtigste Einschätzung aller
Imponderabilien des Volksgeistes, zeigte er jetzt auch bei der Auflösung des
Reichstags. Sein nächster Gehilfe fürchtete eine Verschlechterung der Lage davon.
Er zeigte durch den Mut dieser Tat auch, daß die ihn verkennen, die stets von
ihm meinen, er halte die Vorsicht für den besten Teil der Weisheit. Gewiß hat
er eine vorsichtig diplomätisierende Art der Menschen- und Geschäftsbehandlung.
Das entspricht seinem Temperament und seiner allgemein urbcmen Bildung. Aber
er hat dafür auch den kalten, nie durch Leidenschaften und Gefühle getrübten Mut
des schonungsloser Staatsmanns. ... Wenn er manche Partien der innern Staats¬
verwaltung nicht im einzelnen beherrscht, so hat er doch fast überall den richtigen
Instinkt und Blick für die Dinge und die Menschen- er weiß die rechten Leute
ohne Vorurteil an die rechte Stelle zu setzen, auch die ihm ursprünglich un¬
sympathischen an der Stelle zu lassen, wo sie Großes leisten. ...In der aus¬
wärtigen Politik ist er ein Fabius Cunctator, ein Vermittler. Aber muß das nicht
der sein, der heute Deutschland nicht in kriegerische Abenteuer hineinführen will? . . .
Die Rolle eines leitenden deutschen Ministers ist eine unsagbar schwierige. Er soll
zwischen seinem Kaiser und den gesamten Fürsten und ihren Ministern einerseits,
den Parlamenten, Parteien und der öffentlichen Meinung andrerseits in jedem
Moment vermitteln, die tausendfach zerfahrnen, sich bekämpfenden Millionen zur
Einheit zusammenfassen, kühn Neues und Großes durchführen, alle Widerstände
überwinden, daneben die Vorurteile und Gefühle der Widerstrebenden schonen oder
sie täuschen. Die Mehrzahl der Menschen kennt die Schwierigkeiten dieser Auf¬
gabe nicht. Sie kennt noch weniger die Persönlichkeit des leitenden Staatsmanns,
sie dankt ihm nicht, räsoniert, weiß die Sache besser. Erst die Zukunft kann im
ganzen gerecht urteilen."
Heute nach einem Jahre können wir in bezug auf den Fürsten Bülow wohl
schon bestimmter sagen: sie wird es tun.
Der erste der im neunten Heft angekündigten Vor¬
träge, die Johannes Reinke in der Berliner Singakademie hält, hat einen durch¬
schlagenden Erfolg gehabt. Das Berliner Publikum hat sich am 2. März von einer
anerkannten naturwissenschaftlichen Autorität beweisen lassen müssen, daß die Wissen¬
schaft keineswegs imstande ist, das Leben aus dem Leblosen, das Organische aus
dem Unorganischen zu erklären, und die Presse aller Parteien berichtet darüber,
ohne Einwendungen zu erheben. Es sind mir neunzehn Ausschnitte vorgelegt
worden. Sogar das Berliner Tageblatt berichtet ganz objektiv; nur der „leicht
Pastorale Ton", mit dem die Vortragsweise Reinkes charakterisiert wird, deutet
leise die persönliche Stimmung des Referenten an. Einzig die Vossische Zeitung
umrahmt den — übrigens ebenfalls objektiven — Bericht ihres wissenschaftlichen
Referenten mit ihren eignen giftigen einleitenden und Schlußbemerkungen, in denen
auch die niederträchtige bewußte Lüge nicht fehlt, Reinke haben gegen Haeckel die
Polizei mobil gemacht. Mittlerweile ist (bei Eugen Salzer in Heilbronn) ein
Broschürchen erschienen: Neues vom Haeckelismus, eine Antwort und Abwehr
von Dr. I. Reinke, Professor in Kiel, aus dem man sich aufs neue überzeugt, daß
methodische Bekämpfung des Haeckelismns — nicht sowohl der Lehre Haeckels, die
wissenschaftlich längst gerichtet ist, als seiner Agitation — unbedingt notwendig
und Pflicht ist. Zum Beweise dafür genügt eine einzige Äußerung Haeckels, die
wir aus Reinkes Schriftchen kennen lernen. In seinem, nachträglich als Broschüre
herausgegebnen, Vortrage über „das Menschenproblem und die Herrentiere von
Linie" hat er gesprochen: „Eine sachliche Widerlegung der seltsamen Weltanschauung
von Reinke ist deshalb nicht möglich, weil er die religiöse Offenbarung, und zwar
ini besondern den mosaischen und christlichen Glauben, als tiefste Grundlage der
Naturerkenntnis ansieht, ich hingegen das selbständige Denken und die menschliche
Vernunft, ihre Induktion und Deduktion auf Grund der Erfahrung." Alle unsre
Leser kennen Reinke zum wenigsten aus einigen Grenzbotenreferaten; die meisten
haben hoffentlich seine „Naturwissenschaftlichen Vorträge für die Gebildeten aller
Stände", einige wohl auch seine größern Werke gelesen. Sie wissen also, daß an
jener Behauptung Haeckels kein wahres Wort ist; daß gerade Reinke „das selb¬
ständige Denken und die menschliche Vernunft, ihre Induktion und Deduktion auf
Grund der Erfahrung als tiefste Grundlage der Naturerkenntnis ansieht", ohne
dabei gleich Haeckel willkürliche Voraussetzungen zu machen und Phantasien für
induktiv gefundne Tatsachen auszugeben; daß er nicht die rationelle Naturwissen¬
schaft bekämpft, sondern nur die Unverschämtheit, mit der Haeckel und seine Trabanten
ans Grund ihrer vorgeblichen, von der Wissenschaft längst widerlegten Forschungs¬
ergebnisse die Religion angreifen, die, wie Reinke mit Recht immer hervorhebt, an
sich mit der Naturwissenschaft nichts zu schaffen hat. Haeckel ist von seinen fanatischen
Jüngern dem unwissenden großen Publikum als die verkörperte Naturwissenschaft
gepredigt und gläubig angenommen worden. Alles, was er herausgibt, wird in
Hunderttausenden von Exemplaren abgesetzt und als ein Evangelium nachgebetet.
Wenn nun dieser Mann diese seine unvergleichliche Machtstellung dazu ausnützt,
über einen wirklichen Vertreter echter und vorurteilsloser Naturwissenschaft Lügen
wie die obige zu verbreiten und dadurch den irregeleiteten Massen den Zugang
zu den wirklichen Ergebnissen der echten Naturwissenschaft zu versperren, so
vermißt man schmerzlich einen internationalen wissenschaftlichen Gerichtshof, der
sicherlich solches unwürdiges Treiben eines hochangesehenen Mitglieds der Gelehrten¬
republik zensurieren und dadurch dem Unheil, das dieses Mitglied anrichtet, steuern
würde. — Die Berliner Vorträge erscheinen soeben als Heft 4 der Naturwissen¬
schaftlichen Vorträge (bei Salzer in Heilbronn). Im zweiten lehnt Reinke die Ab¬
stammung des Menschen vom Affen ab, nicht aus religiösem Vorurteil, sondern weil
sie unbewiesen und unbeweisbar ist; im dritten beweist er, daß die Naturwissenschaft
für die Begründung einer Weltanschauung nicht ausreicht, und daß ein feindlicher
ovvi.
/?65 /l/^/7i/U/«7SS6/'
n der Politik wie im ganzen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Dasein der Vereinigten Staaten treffen die verschiedenartigsten
Dinge zusammen. Schon die Jugend dieses merkwürdigen und
in so vielen Beziehungen bestaunenswerten Staatsgebildes führt
zu Eigenschaften, wie man sie anderwärts nicht leicht findet.
Alle andern Mächte sind in einem tausendjährigen Kampfe mit Einflüssen
aller Art unter Erfolg und Mißgeschick geworden, was sie sind. Ihre Ge¬
schichte hat ihren Charakter geprägt und abgestempelt. Von einer so harten
Erziehung ist den Amerikanern vieles erspart geblieben. Mit einem großen
Kulturschatz kamen die Einwandrer von Europa herüber. Verhältnismäßig
leicht konnten sie zu staatlichen Bildungen gelangen; durch ihre glückliche Lage
auf einem Weltteil, der keine andre, keine ebenbürtige Macht hat entstehn
lassen, haben die Vereinigten Staaten ihre staatlichen Einrichtungen ohne die
überall sonst so einflußreichen Störungen schaffen können. Dabei ist ein tief¬
greifender Unterschied vorhanden, der gar nicht hoch genug angeschlagen
werden kann. Alle andern Teile Amerikas, mit alleiniger fernerer Ausnahme
von Kanada und allenfalls Jamaika, haben eine Mischlingsbevölkerung, ent¬
standen aus Spaniern und Portugiesen einerseits und indianischen Urein¬
wohnern andrerseits, noch dazu mit einem starken Einschlag Negerblutes. Es
ist die kreolische Rasse entstanden, im Gegensatz zu dem Mulattentum eine
unter sich fortpflanzungsfühige Rasse von großen körperlichen Vorzügen.
Mulatten sind nur fortpflanzungsfähig durch Verbindung mit Weißen oder
mit Negern; es hat darum niemals eine Mulattenrcifse entstehn können. Die
Neger in den Vereinigten Staaten sind deshalb gesellschaftlich vollständig ab¬
gesondert. Ihre politische Gleichberechtigung steht ebenfalls auf dem Papier.
Auf Eisenbahnen und Straßenbahnen müssen sie in besondre Abteile steigen.
Hotels und Restaurants, die auf die Kundschaft Weißer rechnen, nehmen sie
nicht auf. In den alten Sklavenstaaten, wo sie zahlreich sind und politische
Entscheidungen erwirken können, dürfen sie nicht wagen, sich den Wahllokalen
zu nähern, denn es stehn dort weiße Pflanzer mit guten Büchsen, die sie
überreden, lieber fortzubleiben. Die Indianer sind viel zu klein an Zahl ge¬
wesen, als daß sie das Blut des weißen nordamerikanischen Volkes hätten
beeinflussen können. Dieses ist als rein kaukasisch anzusehen. Ja, auch das
ist bedeutungsvoll, daß die Rasse bis vor kurzem ganz überwiegend nord¬
europäisch war, d. h. teutonisch in ihren drei Hauptbestandteilen, angelsächsisch,
deutsch und (an Zahl schon ungleich geringer) skandinavisch, verbunden mit
dem Jrentum, das dem Ganzen einen besondern Charakter verliehen hat. Die
Einwandrung aus Süd- und Osteuropa ist bis vor wenigen Jahren unbe¬
deutend gewesen, jetzt nimmt auch sie stark zu, und vielleicht macht sie sich
auch mit der Zeit im Volkscharakter geltend. Auch Juden sind in großen
Scharen gekommen, seit ihnen die Auswcmdrung aus Rußland erleichtert
worden ist.
Die Vereinigten Staaten verzeichnen die Gesamteinwandrung von 1821
bis 1905 nach Nationalitüten. Dieser interessanten Statistik entnehmen wir
folgendes:
Die Gesamteinwandrung von 1821 bis 1905 betrug 23360000 Personen.
Ganz anders ist das Bild, wenn man die im Jahre 1900 in den Ver¬
einigten Staaten lebenden Eingewanderten nach ihrem Heimatlande betrachtet.
Danach waren geboren in
Die Gesamtzahl der Fremdgebornen beträgt 10460000.
Zu beiden Aufstellungen steht die heutige Einwandrung in starkem Gegen¬
satz. Für das Jahr 1907 verzeichnet die Statistik die ungeheure Zahl von
1285237 Personen. An der Spitze der Heimatländer stehn jetzt Österreich-
Ungarn, Italien, Rußland, die allein fast 70 vom Hundert der Gesamtheit
liefern:
Das teutonische Element bildet also in der heutigen Einwandrung nur
eine Kleinigkeit. Dauern die heutigen Verhältnisse längere Zeit an, so wird
man die Nordamerikaner als eine vollständige Mischung aller europäischen
Stämme ansehen müssen. Ob sich der Yankee von 1950 von dem heutigen
nicht wesentlich unterscheiden wird, bleibt abzuwarten.
Im ganzen Amerika südlich von den Grenzen der Vereinigten Staaten
stehn die Dinge ganz anders. Leider kann man nicht mehr verfolgen, wie
groß die Einwandrerscharen gewesen sind, durch die sich die Romanisierung
Mittel- und Südamerikas vollzogen hat. Ehe sich die spanischen Kolonien
unabhängig machten, duldete man dort nur Spanier, in Brasilien nur
Portugiesen; gegen fremde Völker waren die Kolonien so vollständig abge¬
sperrt, daß nicht einmal Schiffe unter fremder Flagge landen durften. Die
Einwandrung hat wohl niemals große Massen gebracht. Jahrhunderte-
lang dauerte die Mischung mit den Indianern; die entstehende Rasse war sehr
fruchtbar und lieferte den großen Grundstock der heutigen Bevölkerung, sodaß
der kreolische Charakter völlig überwiegt. Neger waren außer in Westindien,
wo die Indianer früh ausgerottet wurden, nicht so stark daran beteiligt wie diese,
schon weil bis weit ins vorige Jahrhundert ihre Sklavenstellung andauerte.
Erst in den letzten Jahrzehnten macht sich die italienische Einwandrung nach
Argentinien stark bemerkbar; auch nach Chile, wo übrigens auch viele Deutsche
Ansiedler geworden sind. An Sinn für Staatenbildung, für Gesetzlichkeit steht
der Kreole uicht so hoch wie an körperlicher Schönheit. Ihn beherrschen
wilde Leidenschaften. Wenn die Staatsgewalt in der Hand eines Mannes
oder einer Partei ist, wird sie zu schnöder Gewalttat mißbraucht. Man be¬
reichert sich, ohne wählerisch in seinen Mitteln zu sein, aus Kosten der Unter¬
liegenden. Die Justiz ist im höchsten Grade mangelhaft. Rasch sammeln
sich Reichtümer bei den Regierenden an. Diktatoren gewinnen die Geldmittel,
um sich eine Schutztruppe zu bilden. Aber eben die Reichtümer verstärken
die Lockung für die Ausgeschlossenen. Die Unzufriedenheit greift um sich,
es bilden sich Verschwörungen. Offner Aufruhr oder schleichender Mord be¬
drohen jede Regierung. Leicht kommt eine Revolution, ein Bürgerkrieg zu¬
stande. Siege die andre Partei, der andre Diktaturprätendent, so wird an
den allgemeinen Verhältnissen kaum etwas geändert, nur kommt die Gewalttat
von der andern Seite. Die europäischen und nordamerikanischen Fremden
kommen dabei meist noch leidlich weg, denn man wagt sich nicht an sie heran,
weil man weiß, daß hinter ihnen die Macht ihrer heimatlichen Regierungen
steht. Aber die eignen Bürger haben keinen fremden Schutz.
Die Vereinigten Staaten und Kanada sind ganz überwiegend protestantisch,
das übrige Amerika ist noch viel überwiegender katholisch. Das offizielle
Direktorium der römisch-katholischen Kirche in den Vereinigten Staaten gibt
(wohl für 1907) 12651944 Angehörige an. also reichlich ein Siebentel.
Doch macht sich der konfessionelle Unterschied nicht übermäßig geltend. In
den Vereinigten Staaten ist die Trennung von Kirche und Staat vollständig
durchgeführt. Die Kirche ist nur Privatangelegenheit ihrer Angehörigen. Der
Protestantismus ist vollständig zerklüftet in allerlei Sekten; zahllose Leute
unterlassen es, sich einer bestimmten Kirche anzuschließen. Sogar das Taufen
ist keine maßgebende Sitte mehr, wenn auch das Nichttaufen noch keineswegs
den Bruch mit dem Christentum bedeutet. Die politische Macht der katholischen
Kirche ist oft ganz übertrieben geschildert worden. Selbst in der Stadt
Newyork, wo sie einst auf Grund des starken Bruchteils irischer Bevölkerung
sehr groß war, ist sie sehr in den Hintergrund getreten. In den katholischen
Republiken taucht gelegentlich eine klerikale Partei auf, aber nur als lockeres
Gebilde. Denn Rom ist weit, zu weit, als daß es eine folgerichtige Politik
betreiben könnte. Auch fehlt es an dem belebenden Gegensatz des Klerikalismus,
einer ausgesprochen antiklerikalen Partei.
Das Menschenmaterial der spanischen Republiken ist ziemlich gleichartig
von Mexiko bis Chile, nur tritt in den beiden südlichsten Republiken des
Weltteils das Europäertum stärker hervor. Je näher dem Äquator, desto
reiner kommt der kreolische Charakter des Staatsgebildes zum Vorschein.
Venezuela, Colombia, sodann Zentralamerika sind am wenigsten vom Euro¬
päertum, namentlich von angelsächsisch-germanischem Blute beeinflußt. Das
portugiesische Brasilien ist nur in der Sprache vom spanischen unterschieden,
nicht im Charakter. Nur ist das Negerelement stärker. Brasilien selbst be¬
ziffert seine Neger und Mulatten auf 19^ vom Hundert, die Weißen auf
37,7 vom Hundert, Mestizen (Kreolen) auf 38 vom Hundert, doch ist es
sicher, daß die Zahl der Weißen viel zu hoch angegeben ist. Es ist eine Ehre,
Weißer zu sein; wer irgend kann, nennt sich Weißer. Trotz der Gleichartig¬
keit des Menschenmaterials und (mit Ausnahme Brasiliens) der Sprache ist
es nie zu einer gemeinsamen staatlichen Bildung im spanischen Amerika ge-
kommen. Im Gegenteil, die Tendenz ist partikularistisch. Statt sich zu ver¬
binden, lösen sich die einzelnen Staaten möglichst noch wieder in „Vereinigte
Staaten" auf. So namentlich Brasilien, Colombia, Argentinien.
Der Weltteil der westlichen Halbkugel zerfällt ganz normal in folgende
Gruppen:
In Hauptgruppen ergibt das:
Die Vereinigten Staaten besitzen also schon mehr als die Hälfte der Ein¬
wohner und beinahe den dritten Teil der Fläche des unabhängigen Amerikas;
vom ganzen Weltteil rund den vierten Teil, wobei aber zu berücksichtigen ist, daß
der größte Teil von Britisch-Amerika wegen klimatischer Verhältnisse wenig
Wert hat. Am schwersten fällt ins Gewicht, daß die Vereinigten Staaten ab¬
gesehen von ihren Negern eine leidlich einheitliche Bevölkerung haben. Die
auf Grund der englischen Sprache gebildete neue amerikanische Nationalität
nimmt alles in ihren Bann, Nordeuropüer, Südeuropüer, Slawen, Türken,
Juden. Schon die Kinder der deutschen Einwandrer verstehn nur noch not¬
dürftig Deutsch, die Enkel kaum noch irgend etwas. Vom deutschen Stand¬
punkt aus muß man das bedauern, für die Gesamtheit des nordamerikanischen
Volkes ist es ein Glück. Entstünde dort ein zweites vielzüngiges Gemein¬
wesen wie Österreich-Ungarn, so würde es wie dieses seine besten Kräfte im
Nationalitütenstreit aufreiben.
Gegen Farbige ist das Rassenbewußtsein allerdings unerbittlich. Was die
Neger anlangt, so haben wir es schon hervorgehoben. Auch gegen Asiaten
bäumt es sich mit aller Heftigkeit auf. Der Nordamerikaner ist fest entschlossen,
seinen halben Weltteil gegen die unabsehbaren Scharen der Japaner, Chinesen
und Hindus abzusperren. Die Absendung der atlantischen Flotte nach dem
Stillen Ozean hat den Japanern einen Wink gegeben, den sie nicht mißverstanden
haben; die beschloßne und schon begonnene Befestigung Manilas kündigt ihnen
an, daß sie es keineswegs mit einer nur vorübergehenden Maßregel zu tun
haben. Noch haben die Asiaten in den Vereinigten Staaten nichts zu bedeuten.
Im Jahre 1900 zählte man 86000 Japaner und 119000 Chinesen. Die Zahl
der Neger dagegen ist groß. Sie wurde 1900 zu 8840000 Köpfen ermittelt
und war seit zehn Jahren um 1352000 Köpfe gestiegen. Doch war der
Prozentsatz von 11,9 auf 11,6 gesunken. Die Weißen haben eben Zuzug aus
Europa, die Neger nicht. Ohne kaukasische Einwandrung würde die weiße
Bevölkerung auf ihrem Stande beharren, während die schwarze eine sehr große
Fruchtbarkeit aufweist. Damit gestaltet sich ein eigentümliches Problem: zur¬
zeit ist die Negerbevölkerung machtlos. Aber wird das immer so bleiben? Die
europäische Einwandrung nach den Südstaaten ist gering, und wenn einmal
die Tore zugemacht werden, was keineswegs zu den Unmöglichkeiten gehört,
wird es nicht ausgeschlossen sein, daß südlich vom Ohio eine farbige Mehrheit
entsteht. Doch das liegt jenseits einer vernünftigen Erörterung. Zurzeit ist das
Negertum politisch und wirtschaftlich machtlos.
Im ganzen Gebiet der Vereinigten Staaten ist die Bevölkerungsdichtigkeit
noch gering. Sie betrügt selbst in den eigentlichen Staaten, also unter Ausschluß
der Territorien Neu-Mexiko, Arizona, Oklahoma und Alaska nur 7,4 auf den
Quadratkilometer, gegen 112,1 in Deutschland und 137,1 im britischen
Königreich in Europa. Nur zwei kleine Nordoststaaten, Massachusetts und
Rhode-Jsland, sind dichter bevölkert als Deutschland. Selbst Newyork hat
nur 55, Pennsylvanien nur 54, Kalifornien hat nur 4. Da die Vermehrungs-
auote der eignen amerikanischen Bevölkerung gering ist, so können noch un¬
gezählte Scharen Europäer einwandern, ehe eine Dichtigkeit annähernd wie in
Europa erreicht wird. Ob das aber immer geduldet werden wird, ist die Frage.
Bei jeder rückgängiger wirtschaftlichen Konjunktur ertönt ein lautes Geschrei
der Prohibitionisten.
Trotz alledem ist der Imperialismus, die „Expansion" ein wirkungsreiches
Schlagwort, das die Politik schon stark beeinflußt hat und für die Zukunft
ernstlich in Rechnung zu ziehn ist. Es hat zur Erwerbung Hawais, Portoricos
und der Philippinen geführt und hat der Monroelehre nicht nur neue Lebens¬
kraft sondern auch einen erweiterten Horizont gegeben. In der noch so jungen
Geschichte der Vereinigten Staaten spielt die Vergrößerung eine Hauptrolle.
Sie führte zum Anschluß des Mississippigebiets (früher Französisch-Louisiana),
Maines, Floridas, Texas und Kaliforniens, das die ganze Westküste umfaßte;
ferner zum Ankauf Alaskas und endlich zu den Angliederungen der aller-
jüngsten Zeit. Wenn man von Englands und Rußlands Eroberungen in Asien
und ferner von den Besitznahmen in Afrika absieht, hat keine Macht so große
Gebiete gewonnen. Gleichwohl sind die Amerikaner stolz auf ihre Friedens¬
tendenzen, ihre Abneigung gegen stehende Heere und Flotten. Es läßt sich
auch gar nicht verkennen, daß die Brust des amerikanischen Volks zwei Seelen
beherbergt. Die eine ist geleitet von kräftigen Regungen der Religiosität und
Humanität, mit starken methodistischen und quälerischen Beimischungen. Die
andre lebt und webt in ungestümem Tatendrang. Sie will von den Gütern
dieser Welt einen möglichst großen Anteil und ist eben nicht sehr bedenklich in
der Wahl ihrer Mittel. Ein Ausfluß von ihr ist das Trustwesen mit all seinen
Rücksichtslosigkeiten und Erfolgen. Aber die andre ist auch immerdar vorhanden
und macht sich geltend. Sie geht wie eine kontrapunktisch behandelte Stimme oft
gegen diese an, trifft aber auch manchmal mit ihr zusammen, wenn es nämlich
gegen etwaige Eroberungstendenzen Fremder geht. In einem Punkte vereinigen
sich alle: in der unbedingten Verfechtung der Monroelehre. Diese ist kein an¬
erkanntes Völkerrecht, kein geltendes Gesetz, aber eine höchst reale Tatsache,
an der sich noch kein europäischer Staat vergriffen hat. Frankreich hätte es
beinahe mit dem mexikanischen Abenteuer versucht, zog es aber vor, rechtzeitig
nach Hause zu gehn. Früher wurde geltend gemacht, gewissermaßen als
Kompensation für das Verlangen nach Aufhören aller europäischen Erwerbungen
in Amerika: dafür greifen die Vereinigten Staaten auch niemals über ihren
Weltteil hinaus. Das ist völlig hinfällig geworden, denn mit Hawai haben
die Amerikaner ein Stück Australiens, mit den Philippinen ein solches Asiens
erobert. Das findet wohl seine scharfen Tadler, aber ernstlichen Einfluß auf
die Politik haben diese nicht. Die jetzt in der Opposition stehende demokratische
Partei wettert gegen Roosevelts Imperialismus, gegen die auf den Philippinen
begangnen Grausamkeiten, gegen die Kosten, sie verlangt Verzicht oder Verkauf;
wenn sie jedoch in den Besitz der Macht kommt, hütet sie sich, solches aus¬
zuführen.
^»>C-^7^
A^-A>le ungewöhnliche Anspannung auf dem deutschen Geldmarkte ist
die Veranlassung gewesen, daß im Dezember vorigen Jahres an
verschiednen ausländischen Börsenplätzen Gerüchte ausgestreut und
!von kleinen Hetzblättern, aber auch von einem führenden eng-
Ilischen Fachblatte verbreitet wurden, die die Kreditwürdigkeit
Deutschlands herabsetzen und die Grundlage unsers gesamten Wirtschaftslebens
als ungesund darstellen sollten. Es genügt, diese Ausstreuungen niedriger zu
hängen, zumal wenn wir darauf hinweisen, daß man in Börsenkreisen die Ver¬
anlassung zu diesen Machenschaften zum Teil unsern polnischen Mitbürgern
zuschreibt. Die Anspannung auf den Geldmärkten ist eine internationale, und
der wirtschaftliche Aufschwung Deutschlands hat in den letzten Jahren weiter
unaufhaltsam Fortschritte gemacht, um die uns das Ausland beneidet/') Es
wäre aber falsch, die an Kriegsdiskont erinnernde Höhe des Neichsbankzins-
satzes allein auf die Krisis in Amerika zurückzuführen. Daß die geradezu ver¬
brecherischen Handlungen amerikanischer Trust- und Bankleiter nach dem Zu¬
sammenbruch des schwindelhafter Kreditgebäudes auf Europa zurückwirken
mußten, ist von E. Fitger im Heft 50 der Grenzboten anschaulich dargestellt
worden. Aber auch ohne diese Krisis wäre der Zinsfuß der Neichsbank am
Jahresschluß kaum unter seiner jetzigen Höhe geblieben. Das beweist die auch
nach der Erhöhung auf siebeneinhalb Prozent noch immer zunehmende An¬
spannung des Bankstatus, die hauptsächlich durch Kreditansprüche der heimischen
Volkswirtschaft hervorgerufen ist. Alle bisher veröffentlichten Zahlen, die eine
Beurteilung des Wirtschaftslebens gestatten, lassen ein ununterbrochnes Auf¬
steigen gegenüber dem Vorjahre bis zum Jahresschluß erkennen. Die starke
Zunahme und Vergrößerung der industriellen Unternehmungen, die Ausdehnung
des Handels neben immer wachsender Bevölkerungszunahme mußten den Be¬
darf einerseits an Betriebskapital, andrerseits an Umlaufsmitteln ungewöhnlich
steigern und so auf dem Geldmarkte Zustände hervorrufen, die über das normale
Maß hinausgehn. Die gesunde Grundlage des Wirtschaftslebens bürgt dafür,
daß die Anspannung des Geldmarktes allmählich überwunden werden wird
auch unter Beibehaltung der gegenwärtigen Bank- und Kreditorganisation.
Dennoch ist es wünschenswert, daß wir nicht stehn bleiben, sondern weiter
arbeiten an der Ausgestaltung dieser Organisation, damit sie möglichst große
Vollkommenheit erlange. Deshalb sind die in den letzten Monaten in großer
Zahl gemachten Neformvorschlüge sehr willkommen. Sie sind jedoch von der
Fachpresse zum Teil in einem Tone kritisiert worden, wie er glücklicherweise
nur selten in den betreffenden Blättern zu hören ist. Am meisten, und zwar
in persönlich gehässiger Form, sind die Vorschläge des Präsidenten der
Preußischen Zentralgenossenschaftskasse Dr- Heiligenstadt*) angefeindet worden.
Dieser stellt die selbstverständliche Forderung auf, daß die Trüger des deutschen
Geldmarktes, die Banken, vor allem zur Besserung der gegenwärtigen Lage
Opfer bringen sollen. Daß nun gerade von der Bankwelt so heftiger
Widerspruch erfolgt, zeigt mit bedauerlicher Deutlichkeit, wie wenig die Banken
gewillt sind, ihre rein privatwirtschaftlichen Interessen hinter den Interessen
der Volkswirtschaft zurückzustellen. Heiligenstadt nimmt vor allen Dingen
darauf Bedacht, die Stellung der Reichsbank zu stärken durch Erhöhung des
Grundkapitals und der Mindestguthaben auf Girokonto sowie durch Abführung
von ein bis zwei Prozent der fremden Gelder, das heißt der Spareinlagen
und der Kontokorrentguthaben, aller Kreditinstitute an die Reichsbank. Hier
geht eine Berliner Tageszeitung so weit, eine versteckte Drohung gegen die
Reichsbank auszusprechen, indem sie darauf hinweist, daß aus der Verwirk¬
lichung der Heiligenstadtschen Vorschläge eine Verstimmung zwischen Reichs¬
bank und Bankwelt hervorgehen könne, die zu einer Praxis (soll heißen: syste¬
matischem Bestreben) der Banken führen würde, die die Bemühungen der
Reichsbank, höhere Girognthaben zu erhalten, durchkreuzen könnte. Diese Er¬
örterung zeigt ganz besonders, daß ein freiwilliges Zurückstecken der Privat-
interessen von den Banken nicht zu erwarten ist, daß also auf dem Wege
der Gesetzgebung den volkswirtschaftlichen Interessen Geltung verschafft werden
muß, sie beweist aber auch, daß die Vorschläge Heiligenstadts im Prinzip das
Richtige getroffen haben, denn nur weil die Überzeugungskraft seiner Dar¬
legungen sehr groß ist, ist auch die Kritik überlaut.
Wir stimmen durchaus nicht allen Vorschlügen Heiligenstadts zu, denn er
begeht selbst den Fehler, die Privatinteressen der Kreditgenossenschaften höher
zu stellen als das Interesse der Gesamtheit, wenn er die Einführung des Post-
scheckverkehrs verwirft; ferner würden auch wir die Erhöhung des Grund¬
kapitals der Reichsbank erst in letzter Reihe befürworten, und doch ist auch
hierin Heiligenstadt insofern beizupflichten, als hundert Millionen Grund¬
kapital der Neichsbank dem Geldmarkte zum großen Teil als flüssige Mittel
durch Umwandlung in Wechselform wieder zur Verfügung gestellt werden,
diese Summe also zweifellos besser angelegt ist, als wenn sich das deutsche
Publikum zum Beispiel hundert Millionen südafrikanische Minenaktien aufbürden
lassen muß. Gegen die Erhöhung des Grundkapitals wird häufig angeführt,
daß in stillen Zeiten nicht genügend Verwendung für das Kapital gefunden
werden könnte, daß sich infolgedessen übereifrige Reichsbankfilialleiter verleiten
lassen würden, Wechsel anzukaufen, die als Notendeckung ungeeignet wären.
Die Reichsbank hat es durchaus in ihrer Hand, diese Gefahr abzuwenden,
wenn sie das Vorwärtskommen der Beamten nicht von den erlangten Gewinnen
abhängig macht, wenn sie häusiger Revisionen vornimmt, die Vorsteher von
Neichsbanknebenstellen besser besoldet, ihre Stellung hebt und immer größere
Anforderungen an die Vorbildung der Beamten stellt. Dann wird der Reichs¬
bank zu jeder Zeit nur das beste Wechselmaterial zufließen.
Auch unabhängige Finanzfachleute haben teils die Vorschläge Heiligenstadts
als richtig unterstützt, teils ähnliche Vorschläge in der Presse gemacht, sind
aber deshalb ebenfalls angegriffen worden.
In zwei Aufsätzen der Deutschen Wirtschaftszeitung tritt der Finanzschrift¬
steller Bendix entschieden dafür ein, daß Mittel und Wege geschaffen werden,
um der Allgemeinheit schädliche Maßnahmen der Großbanken zu kontrollieren.
Er empfiehlt die Gründung eines Diskont- und Emissionsvereins der Banken,
in dem der Neichsbank eine beratende Stelle eingeräumt werden müsse. Auf¬
gabe des Vereins soll sein
1. die regelmäßige Festsetzung eines Minimaldiskontsatzes,
2. gemeinsame Übernahme von Emissionen fremder Wertpapiere,
3. Festsetzung von beschränkenden Bestimmungen für die gesamte Emissions¬
tätigkeit bei einer gewissen Höhe des offiziellen Bankdiskonts.
Wie gerechtfertigt der Vorschlag unter Nummer 1 ist, haben die im De¬
zember an der Berliner Börse zutage getretner Verhältnisse wiederum deutlich
gezeigt. Der Privatdiskont, dessen Höhe von der größten Bedeutung für
die Wechselkurse, die Goldbewegungen und den offiziellen Reichsbankzinssatz
und dadurch wieder für die Effekten- und Warenpreise, somit also für das
gesamte Wirtschaftsleben ist, wurde zeitweise von den Vertretern zweier Bank¬
firmen hauptsächlich mit Rücksicht auf privatwirtschaftliche Interessen festgesetzt,
ein Zustand, der dringend der Abhilfe bedarf. Der Reichsbank oder irgend¬
einer andern staatlichen Instanz muß bei der Festsetzung des Privatsatzes ein
gewisser Einfluß eingeräumt werden, damit das Zentralnoteninstitut die Gold¬
bewegungen unter wirksame Kontrolle bekommt.
Die Reichsbank ist gezwungen, auf einen möglichst hohen Goldvorrat zu
halten, nicht nur, weil das Bankgesetz fordert, daß ein Drittel der umlaufenden
Noten bar gedeckt sind, sondern weil sich das Ausland nun einmal daran ge¬
wöhnt hat, den Stand des Goldvorrats in der Zentralnotenbank als Grad¬
messer für die Qualität der Landeswährung zu betrachten. Ob diese Messung
mit oder ohne Überzeugung von ihrem Werte geschieht, bleibe dahingestellt,
jedenfalls kommt in der ausländischen Finanzpresse zum Ausdruck, daß sich
das Ausland durch die zum Beispiel in der Österreichisch-Ungarischen Bank,
in der russischen Staatsbank und der Bank von Frankreich aufgestapelten Gold¬
vorräte blenden läßt, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, daß in Deutschland
der Verkehr mit Gold durchsetzt ist. Dafür diene zum Beweise, daß an starken
Wechseleinzugsterminen der Prozentsatz des Goldes von den Gesamtbareingängen
in Deutschland mehrere Prozent beträgt, während sich in Österreich dieser Prozent¬
satz auf 0.4 stellt.
Seit Jahren sucht nun die deutsche Fachpresse immer wieder hervorzuheben,
daß die Banken die Reichsbank in ihrem Bestreben, den Goldvorrat zu stärken,
unterstützen, indem sie aus „nationalen" Rücksichten kein Gold des Gewinnes
wegen exportieren. Wir wollen wohl glauben, daß die Großbanken keine Gold¬
arbitrage treiben, das heißt, daß sie nicht danach suchen, nach welchem Lande
mit Gewinn exportiert werden kann (mittlere und auch große Privatbankfirmen
Pflegen die Arbitrage sehr), denn dadurch würde zu große Unruhe in die Gold-
bewegung kommen, sodaß der Schaden auch für die Banken selbst größer sein
würde als der Vorteil. Aber auch ohne Arbitrage führen die Banken im
Gegensatz zu den Interessen der Reichsbank Gold in großen Summen aus.
Es gibt in Deutschland natürliche Sammelstellen für Gold, dessen der Verkehr
vorübergehend nicht bedarf. Diese Stellen geben im Laufe des Jahres an
die exportierenden Firmen mehr Gold ab, als der Reichsbank zum Export ent¬
nommen wird. Die Freizügigkeit des Goldes soll zwar nicht unterbunden
werden, aber es wäre doch wünschenswert, daß diese Sammelstellen auf irgend¬
eine Weise veranlaßt würden, alles überschüssige Gold an die Reichsbank ab¬
zuführen, damit das Zentralnoteninstitut in die Lage versetzt würde, eine wirk¬
same Kontrolle über die Goldbewegungen auszuüben. Die UnVollkommenheit
der Kontrolle und der geringe Einfluß, den die Reichsbank auf den Privatsatz
auszuüben vermag — nur durch Verkauf von Neichsschatzanweisungen am
offnen Markt kann sie in geringem Umfange auf eine Erhöhung hinwirken —,
erschweren die Durchführung einer Diskontopolitik, die nur auf das Allgemein¬
wohl Rücksicht nimmt.
Die Theorie der Wechselkurse lehrt, daß Gold ausgeführt werden muß,
wenn die Devisenkurse, das heißt der Preis für Wechsel auf das Ausland,
eine gewisse Höhe überschritten haben, nämlich wenn es billiger ist, Gold an¬
statt Wechsel nach dem Auslande zu schicken, um eine Schuld zu bezahlen.
Aber die Bankwelt hat auch eine Entschuldigung zur Hand, wenn sie bei
niedrigen Wechselkursen Gold ausführt; sie sagt nämlich, sie könne, sobald die
ausländischen Geschäftsverbindungen Gold bestellen, den Export nicht ablehnen,
aus Furcht, die mühsam erworbnen Verbindungen zu verlieren. Außerdem
sagt jede Bank für sich: lehnen wir die Goldbestellung ab, so nimmt sie eine
Konkurrentin an. Und so exportieren die Banken auf Wunsch des Auslands
für die niedrige Provision von einhalb fürs Tausend unser Gold nach dem
Auslande. Doch auch der hohe Stand des Wechselkurses scheint uns nicht
immer ein zuverlässiger Zeitmesser zu sein für den Augenblick, wo die Aus¬
fuhr von Gold zur Bezahlung von Verpflichtungen an das Ausland unver¬
meidlich wird.
Die Frage der Wechselkurse bedarf unsers Erachtens eingehender Berück¬
sichtigung bei der von der Regierung beschlossenen Enquete über das Kredit-
und Bankwesen im Deutschen Reiche. Denn die Diskontpolitik richtet sich in
hohem Maße nach dem Stande der Wechselkurse. Bei hohen Kursen wird der
Bankdiskont erhöht. Infolgedessen strömt das Kapital aus Ländern mit viel
niedrigeren Zinssatz nach Deutschland, um die hohen Zinsen zu genießen. Da¬
durch wird die Verschuldung Deutschlands an das Ausland, die das Steigen
der Wechselkurse veranlaßt hatte, verringert oder ganz aufgehoben, die Kurse
sinken, und es strömt Geld ins Land.
Steigt also der Kurs, ohne daß dieses durch den Stand der Zahlungs¬
bilanz gerechtfertigt ist, so besteht die Gefahr, daß allen Erwerbskreisen Deutsch¬
lands der Kredit durch hohen Diskont zu Unrecht verteuert wird, falls in dex
Bankpraxis Einflüsse existieren, die imstande sind, die Wirksamkeit des Gesetzes
von Angebot und Nachfrage auf dem Fremdwechselmarkte aufzuschieben. Das
Gesetz aufzuheben, ist selbstverständlich unmöglich. Wenn aber durch irgend¬
welche Einflüsse der offizielle Bankdiskont mit Rücksicht auf die Wechselkurse
auch nur wenig früher oder später, als unbedingt notwendig ist, erhöht wird,
so können daraus für die gesamte Volkswirtschaft unnötige Schädigungen er¬
wachsen. Solcher Einflüsse gibt es aber eine große Zahl.
Schon Göschen hat in seinem grundlegenden Werke „Theorie der aus¬
ländischen Wechselkurse" auf derartige Einflüsse hingewiesen: „Es ist nicht
notwendig, sich in andre Details über die verschiednen Kunstgriffe und Bank¬
manöver einzulassen, deren sich diejenigen bedienen, welche auf die Wechsel¬
kurse, d. h. auf das Steigen und Fallen der Wechsel spekulieren, um die
natürlichen Schwankungen derselben zu beeinflussen oder ihnen entgegen¬
zuwirken." Das wirksamste Mittel zur Beeinflussung des Wechselkurses ist
die Einwirkung auf den Privatdiskont, da Wechselkurs und Privatsatz während
des ganzen Jahres fast genau dieselbe Kurve beschreiben. Prior weist in
einem soeben erschienenen Werke „Das deutsche Wechseldiskontgeschäft"'") auf
einen bekannten Fall solcher Beeinflussung hin; als im Jahre 1905 die
japanische Anleihe durch die Deutsche Bank eingeführt wurde, suchten Mendels¬
sohn und Co., die Vertreter der russischen Regierung, den Privatsatz in die
Höhe zu treiben, um womöglich die Emission der japanischen Anleihe zu
vereiteln.
Ferner werden die Wechselkurse zeitweilig dadurch beeinflußt, daß von
deutschen Firmen Wechsel auf das Ausland ausgeschrieben und am offnen
Markte zum Verkauf gebracht werden. Diese Wechsel präsentiert aber der
Käufer im Einverständnis mit dem Verkäufer bei Verfall diesem selbst und
nicht dem Auslande zur Zahlung. Dadurch wird ein künstliches Angebot
hervorgerufen, und die Kurse werden herabgedrückt. Sehr oft kann man an
der Berliner Börse die Worte hören: heute macht der Vertreter der X-Bank
die Wechselkurse! Und das Gewinninteresse macht es auch oft verständlich,
daß die Banken den Kurs zu beeinflussen suchen. Besitzt zum Beispiel eine
Bank einen großen Vorrat von Wechseln auf das Ausland, den sie zu hohen
Kursen gekauft hat, und ihre Kunden wollen ihr diese Wechsel abkaufen, so
wird sie mit allen Mitteln versuchen, an der Börse den Kurs so hoch zu
treiben, daß sie ihre Bestünde ohne Verlust verkaufen kann; umgekehrt wird
die Bank ein Interesse an einem möglichst niedrigen Kurse haben, wenn ihr
Wechsel zur Gutschrift zugeschickt werden, und zwar in beiden Fällen ohne
Rücksicht auf die in ihrem Portefeuille und am Markte vorhandnen Bestände.
Eine Beeinflussung der Kurse wird auch erleichtert durch das Fehlen eines
Scheckgesetzes, denn solange der Scheckregreß nicht gesetzlich festgelegt ist, ist
eine amtliche Notierung der Scheckkurse ausgeschlossen.
Schließlich ist noch, ohne daß wir die Reihe der möglichen Einwirkungen
erschöpft haben wollen, der Einfluß der sogenannten Finanztratten zu er¬
wähnen. Ebenso wie die Banken der deutschen Kundschaft Kredit gewähren,
indem sie Wechsel auf sich ziehen lassen, die die Kunden bei andern Banken
verkaufen — sogenannter Acceptkredit —, so gewähren sie auch ihrer aus-
lüudischen Kundschaft, meist Banken oder Privatbankfirmen, in derselben Weise
Wechselacceptkredit. Diese Wechsel (es kommen hauptsächlich amerikanische
Ziehungen in Betracht) werden Finanztratten genannt im Gegensatz zu solchen
überseeischen Bankaccepten, die auf Grund eines Warenankaufs ausgestellt
sind. Soweit nun die Finanztratteu den Zweck haben, für später fällige
Forderungen schon zwei bis drei Monate vor Fälligkeit das Geld zu beschaffen,
ist gegen ihre Berechtigung nichts einzuwenden; denn sie erfüllen dann nur
die eigentliche Aufgabe des Wechsels. Überschreiten sie aber das berechtigte
Maß, so vermögen sie den Ausgleich der Zahlungsbilanz zu verzögern und
beeinflussen die Wechselkurse in einer Weise, die der tatsächlichen Marktlage
nicht entspricht.
Nun wird behauptet, daß Klagen über Goldaussuhr deshalb unangebracht
seien, weil Deutschland nach der amtlichen Statistik bis 1906 jährlich mehr
Gold ein- als ausgeführt habe. Es ist aber bekannt, daß die Statistik des
Außenhandels nicht zuverlässig ist und auch nicht sein kann; das trifft in ver¬
stärktem Maße für die Statistik der Goldbewegung zu. Daß überhaupt eine
starke Einfuhr stattfindet, ist vor allem auf die energischen Bemühungen der
Reichsbank zurückzuführen.
Weiter wird behauptet, daß die Banken deshalb Gold nicht exportieren
können, weil sie sich dadurch selbst schädigen würden. Sie seien so eng mit
der Volkswirtschaft verwachsen, daß eine Schädigung dieser sie gleichmäßig
antreffe. Das ist unbestreitbar richtig, doch hält jeder einzelne Exporteur
die verhältnismäßig geringen Beträge, die er ausführt, nicht für ausreichend,
daß sie die Volkswirtschaft schädigen könnten. Die Summe der von allen
in Betracht kommenden Firmen exportierten Beträge kann aber sehr wohl die
erwähnten Nachteile für das ganze Land zur Folge haben. Deshalb ist der
Vorschlag von Bendix, einen Diskontverein unter Mitwirkung der Reichsbank
zu gründen, dringend zu befürworten. Dieser Verein könnte auch auf die
Goldbewegungen entscheidenden Einfluß ausüben.
Über die Bendixschen Anregungen hinausgehend verdienen die mutigen
Vorschläge des frühern italienischen Schatzministers Luzzatti zur Regelung der
internationalen Goldströmungen die größte Beachtung. Luzzatti fordert zur
Einberufung einer internationalen Friedenskonferenz gegen den Kampf um das
Gold auf. Das Ergebnis soll die Einsetzung einer ständigen Kommission sein
mit der Aufgabe, durch Regulierung der Goldbewegungen dem internationalen
Geldmarkt und den einzelnen nationalen Märkten größere Ruhe zu verschaffen,
Geld- und Kreditkrisen nach Möglichkeit abzuschwächen. Wir nannten den
Vorschlag mutig, denn Luzzatti weiß, daß heute an den maßgebenden Stellen
noch dieselben Anschauungen vorherrschen wie vor vier Jahren, wo von Amerika
aus der Vorschlag gemacht wurde, eine internationale Abrechnungsstelle zu
schaffen.
Heute wie damals stehn die maßgebenden Autoritäten dem Vorschlag
zwar sympathisch aber ablehnend gegenüber, weil man noch vor dem Versuch
daran zweifelt, eine Übereinstimmung unter allen Staaten zu erreichen. Auch
ist die Geldmarktlage für seinen Vorschlag die denkbar ungünstigste, denn
Amerika, England und Deutschland werden dadurch, daß sie den Vorschlag
ablehnen, den Anschein vermeiden wollen, als bedürften sie in der augen¬
blicklichen bedrängten Lage fremder Hilfe. England und Deutschland haben
natürlich fremde Hilfe nicht nötig, und auch Amerika wird bei seiner enormen
Kapitalkraft die Krisis bald überwinden.
Wir sind der Überzeugung, daß beide Vorschläge nicht mehr von der
Tagesordnung verschwinden und schließlich auch zur Ausführung gelangen
werden. Verschafft sich doch schon jetzt der Gedanke eines internationalen
Giroverkehrs immer mehr Geltung durch das rühmenswerte Vorgehen der
österreichischen Postsparkasse, die einen solchen Verkehr schon mit Deutschland,
England, Italien und der Schweiz durchgeführt hat. Die Postscheckämter der
europäischen Staaten könnten unsers Erachtens später die Trüger des inter¬
nationalen Giroverkehrs sein und würden so die Möglichkeit eines inter¬
nationalen Clearinghouses (Abrechnungsstelle) dartun. Deshalb ist es sehr zu
bedauern, daß immer noch Stimmen gegen die Einführung des Postscheck-
Verkehrs in Deutschland laut werden. Wir haben schon früher auf die Vor¬
teile des Postscheckverkehrs für den heimischen Geldmarkt hingewiesen. Dasselbe
Thema behandelt soeben der hervorragende Bankpraktiker und Gelehrte Pro¬
fessor or. Rießer in der Deutschen Revue*) und richtet hierbei eine beachtens¬
werte Mahnung an die Bankwelt. Selbst wenn der Postscheckverkehr das
Depositengeschäft der Banken und Bankiers beeinträchtigen würde (was jedoch
nicht zu befürchten ist), „so müßten — ebenso wie die Sparkassen und Genossen¬
schaften — auch die Banken, die zudem an einer Verminderung des Bargeld¬
umlaufs aufs lebhafteste interessiert sind, die Förderung des Gemeinwohls
höher stellen als die eignen Interessen- Das Gemeinwohl aber wird hier
dadurch gefördert, daß der gesamte Zahlungsverkehr durch möglichst starken
Ausschluß von Barzahlungen auf gesündere Grundlagen gestellt wird, während
andrerseits, da die Post selbst die eingehenden Gelder zinsbar anlegt, un¬
geheure Beträge, die sonst brach liegen würden, produktiver Verwendung zu¬
geführt werden."
Die Mahnung ist wohl angebracht, denn in der letzten Zeit scheint man
— aus guten Gründen — in Bankkreisen dem Scheckverkehr nicht mehr eine
allzugroße Bedeutung für den Geldmarkt beimessen zu wollen, sogar unter
Hinweis auf die amerikanische Krisis, die durch den ausgebreiteten Scheck¬
verkehr nicht aufgehalten worden sei. Demgegenüber kann festgestellt werden,
daß sich Krisen überhaupt nicht aufhalten, vielmehr nur durch geeignete Ein¬
richtungen abschwächen lassen, und so geht auch aus den aus Amerika vor¬
liegenden Berichten schon jetzt hervor, daß die Krisis viel weitere Kreise ge¬
zogen und ungleich größere Verheerungen angerichtet hätte, wenn nicht der
Scheckverkehr in allen Bevölkerungskreisen fest eingewurzelt wäre. Wie würde
sich wohl das deutsche Publikum, besonders der Kleinverkehr verhalten, wenn
sich infolge Mangels an Barmitteln in allen Städten Abrechnungsstellen
bilden, und wenn diese statt Bargeld ein privates Notstandsgeld in Form von
Bankanweisungen ausgeben würden? Wir glauben, eine furchtbare Panik
Wäre unvermeidlich, während sich das amerikanische Publikum bald an dieses
Geld gewöhnt hat, da ihm seit vielen Jahren die Scheckzahlung durchaus ver¬
traut ist.
Da die Reichs- und Staatsbehörden in der letzten Zeit die Beamten durch
Zirkulare immer wieder auffordern, sich ein Depositenkonto errichten zu lassen,
mögen die Banken wohl voraussehen, daß sich der Staat für verpflichtet
halten wird, diesen Depositengeldern möglichst große Sicherheit zu verschaffen.
Hierzu wird ein Depositengesetz unvermeidlich sein, durch das entweder die
Vorschläge Hciligenstadts verwirklicht (die Kreditinstitute führen 1 bis 2 Prozent
der fremden Gelder als Reserve an die Reichsbank ab) oder besondre Vor¬
schriften für die Verwendung der Depositen erlassen werden. Daneben wird
zu berücksichtigen sein, daß die Lage der Banken nur dann als flüssig zu be¬
trachten ist, wenn die Reichsbank stark genug ist, die Wechselbestände der
Banken in kritischen Zeiten zu übernehmen. Demnach haben die Banken das
größte Interesse daran, die Stellung der Neichsbank zu kräftigen und zu diesem
Zweck Opfer zu bringen.
Reformbedürftig ist auch das Aceeptkreditgeschäft der Banken. Es fehlt
vor allem die Möglichkeit, den Acceptumlauf zuverlässig zu beurteilen. Die
Banken haben ein Interesse daran, diesen Umlauf so klein wie möglich dar¬
zustellen, da man ihnen bei zu großem Umlauf ebenso Mißtrauen entgegen¬
bringt wie jedem Kaufmann oder Privatmann, der über seine Kräfte Wechsel
acceptiert. Deshalb benützen die Banken verschiedne Mittel, die wahre Sach¬
lage zu verschleiern. Einen Teil der Accepte machen sie im Auslande zahlbar,
einen andern Teil geben sie nicht den Kunden zurück, damit diese ihn bei
andern Banken verkaufen, sondern sie kaufen diesen Teil der Accepte den
Kunden selbst ab und behalten ihn im eignen Wechselportefeuille. Der Anteil
dieser eignen Accepte am Portefeuille beträgt, wie Prion mitteilt, etwa 3 bis
5 Prozent. Es befinden sich also unter den Wechselbestünden der Banken,
die als leicht greifbare Forderungen gegen Dritte gelten, bedeutende Beträge
eigner Verpflichtungen. Diese künstlich zurückgehaltnem Accepte werden in
Zeiten großen Geldbedarfs „in aller Stille" (Prion. S. 91) dnrch eine
Maklerfirma verkauft, nachdem alle etwaigen Spuren ihrer Herkunft sorgfältig
verwischt sind, ein dringend weiterer Aufklärung und der Reform bedürftiges
Verfahren! Ganz besondres Interesse haben die Banken daran, daß in der
Bilanz am Jahresschluß der Acceptumlauf möglichst gering erscheint. Das
wird dadurch erreicht, daß ein Teil des Acceptkredits über den Jahresschluß
hinaus als Buchkredit geführt und erst später in Acceptkredit verwandelt
wird. Prion führt (auf S. 232) noch weitere Arten der Bilanzverschleierung
an. Die Art der Aufstellung von Bankbilanzen überhaupt ist sehr reform¬
bedürftig. Undurchsichtig und ganz ungleichmäßig aufgestellt erschweren sie eine
Beurteilung der wahren Vermögenslage außerordentlich.
Im vorstehenden sind nur einige Mängel des Geldmarktes und der
Bank- und Kreditorganisation kurz erwähnt worden. Das Arbeitsfeld der
von der Negierung zu berufenden Enquetekommission ist viel ausgedehnter.
Wir wünschen, daß die Zusammensetzung der Kommission eine recht glückliche
sein möge, damit die schwierigen Aufgaben der Enquete restlos gelöst werden
können.
>le staatlichen und kommunalen Baubureaux verdanken ihren Bestand
vornehmlich einem ökonomischen Grundsatz der Staatsverwaltung.
Die Bureaukratisiernng des öffentlichen Bauwesens ergab sich aus
dem rechnerischem Denken der unpersönlichen Verwaltung, die sich
! als Bauherr vor allem mit der Frage beschäftigt: Wie mache ich
es am billigsten?
Mit persönlicher Initiative beriefen einst die Fürsten aus künstlerischen
Gründen jene Architekten, die als Baukünstler im höchsten Ansetzn standen. Noch
im achtzehnten Jahrhundert umfaßte die Akademie als Pflegestütte das ganze
Kunst- und Kunstgewerbeleben; sie war Bauakademie, und alle hohen und niedern
Künste, also auch das Handwerk waren ihr angegliedert. Die Staatsbauten
wurden von der Akademie ausgeführt, die Schüler und Handwerker, die bei
entsprechender Befähigung akademische Künstler werden konnten, hatten Gelegen¬
heit, sich an praktischen Arbeiten zu bilden. Der Staat beschäftigte seine Künstler.
Sie waren freie Künstler, auch wenn sie den Titel Hofarchitekt führten. Die
Baubehörde war bloße Rechnungsbehörde.
Als der unpersönlich gewordne moderne Verwaltungsstaat das Erbe der
Fürsten angetreten hatte, übernahm der Bureaukratismus die Funktion des
Architekten und schaltete die Bauakademie aus dem Zusammenhang mit den
Staatsbedürfnissen aus. Die Akademie wurde ein Schattenbild; sie erzog freie
Künstler, die vom Staat nichts zu hoffen hatten. Der Staat erzieht jetzt zwar
Künstler, aber er verwendet nur Beamte.
Die Baukunst im Staatswesen stieg mit dem Nuhmessinn des persönlichen
Bauherrn, aber sie verfiel durch den Sparsinn des unpersönlichen Bnreaukratismus.
Wir können die Konsequenzen aus der veränderten Lage ziehen. Es bieten sich
Vergleichspunkte genug, zu bemessen, ob der Sparsinn des Bureaukratismus
durch Umgehung der freien Künstlerschaft Gewinne oder Verluste gehabt hat;
ferner, ob diese Gewinne oder Verluste künstlerischer oder finanzieller Natur oder
beides zusammen sind. Um der vorherrschenden Betonung der Nützlichkeit zu
genügen, mögen die finanziellen Ergebnisse des bureaukratischen Sparsinnes in
der Staatsbauweise zuerst untersucht werden.
Die architektonische Tätigkeit der behördlichen Bauweise reicht über viele
Jahrzehnte zurück; man hat erkannt, daß die von den behördlichen Vaubureaux
ausgeführten Bauten schier alle zwanzig Jahre nahezu umgebaut werden müssen.
Die hohen Reparaturkosten oder die Jnstandhaltungskosten erreichen nach zwei
Jahrzehnten in der Regel eine solche Höhe, daß sie das Baukapital nahezu
verdoppeln und den Kosten einer Neuaufführung gleichkommen. Diese hohen
Unterhaltungskosten sind das Ergebnis des Sparsinnes. Die scheinbar billige
Bauausführung ergibt sich durch den im Submissionswesen entwickelten Grund¬
satz, daß der Billigste die Lieferung der Baumaterialien usw. bekommt. Die
durch Konkurrenz erfolgende Preisunterbietung geht unfehlbar auf Kosten der
Qualität und legt von vornherein den Vernichtungskeim in die nach dem Grund¬
satz der höchsten Billigkeit durchgeführten Bauwerke. Die erzwungne Billigkeit
und der darauf beruhende Qualitätsmangel ist die Ursache fortwährender Schad¬
haftigkeit, Reparaturbedürftigkeit, kostspieliger Untersuchungen, Beaufsichtigungen
und ähnlicher Übelstände.
Eine weitere Quelle der enormen Verteuerungen auf Staatskosten liegt in
der Notwendigkeit, einen großen Beamtenkörper zu halten, der in Zeiten starker
Bautätigkeit noch mehr anwächst und vom Staat auch in den Jahren geringerer
Bautätigkeit erhalten werden muß. Um den Effekt jenes Sparsinnes genau zu
berechnen, ist es nötig, die hohen Kosten des Baubeamtenetats während der
unbeschäftigten oder wenig beschäftigten Zeit in Rechnung zu stellen; sie würden
die Kalkulation der Bauämter wesentlich ungünstig verschieben. Um eines von
vielen Beispielen anzudeuten, sei erwähnt, daß mit der Schaffung einfacher
Schaufenster an einem bestimmten Staatsgebäude während eines halben Jahres
zwei Oberbaurüte und eine entsprechende Anzahl Subalterner Architekturbeamten
beschäftigt waren. Was kosten diese Schaufenster in Wirklichkeit? Und was
würden diese Schaufenster nach dem Tarif der freien Architektenschaft kosten?
Es ist nur einer der ungezählten Fälle, wo der baubehördliche Sparsinn im
schreienden Mißverhältnis zu den verhältnismüßig verschwindenden Kosten¬
ansprüchen des Privatarchitekten steht. Um diesen kolossalen Budgetbelastungen
einigermaßen entgegenzuwirken, ist die baubehördliche Architekturtätigkeit genötigt,
bei den Ausführungs- und Lieferungsarbeiten auf möglichst große Billigkeit zu
sehn und die verderblichste Wirkung des Submissionswesens zu fördern. Der
Ruin des Gewerbes, die Bedrückung der Arbeitslöhne, die Verfälschung und
Verschlechterung der Qualität, die wirtschaftliche Unterbindung der weitesten
Volksschichten sind zum Teil auch der mittelbare oder unmittelbare Ausfluß der
bureaukratischen Architekturtätigkeit, die ihr Daseinsrecht vornehmlich auf das
Sparsystem gründet. Auch wenn in einzelnen Fällen ein Kompromiß versucht
und der billigste Bewerber zuweilen ausgeschlossen wird, so kann aus nahe¬
liegenden Gründen die Baubehörde niemals dauernd die besten und darum
teuersten Offerten berücksichtigen. Sie kann niemals das Prinzip der Qualität
fordern, sie muß viel eher aus Selbsterhaltungstrieb das Gegenteil tun. Von
einem höhern, volkswirtschaftlichen Standpunkt aus gesehn erreicht sie ihre
momentanen und daher nicht ausschlaggebenden Ersparnisse dadurch, daß sie die
wirtschaftlichen Machtmittel der Nation, das heißt die qualitative Leistungs¬
fähigkeit, den Preiswerk für solide Arbeit und solides Material, den auch für
die wirtschaftliche Wohlfahrt unerläßlichen Grundsatz der Anständigkeit und
Rechtlichkeit im Konkurrenzkampf herunterbringt. Es muß in diesem Zusammen¬
hang nur angedeutet werden, wie schwer der Wirtschaftskörper und namentlich
seine große soziale Grundschicht durch solche vielverzweigte demoralisierende
Wirkungen geschädigt wird.
Nach übereinstimmenden Beobachtungen und Erfahrungen verschlingen die
Vcmbureaux für Projektierung und Bauleitung 12 Prozent der Bausumme, an
manchen Orten etwas mehr, und es hat sich an Orten, wo diese Verhältnisse
besonders ungünstig liegen, die Tatsache ergeben, daß der private Baukünstler
Staatsaufträge mit dem viertens!) Teil dieses Berechnungssatzes bewältigen konnte,
wobei nicht zu vergessen ist, daß die von dem privaten Baukünstler gegebnen
sonstigen Vorzüge noch viel größer sind. Wir wollen deshalb untersuchen, in¬
wiefern auch der künstlerische Vorrang das Wirtschciftsbild günstig zu beeinflussen
imstande ist.
Nach der baukünstlerischen Seite hin wird allgemein zugegeben, daß die
behördlichen Baubureaux weder berufen noch imstande waren, künstlerische Werte
zu schaffen. Die Beteiligten und die weite Öffentlichkeit wissen genau, daß der
unpersönliche Baubureaukratismus zwar ein Bauschema aber keine Baukunst
schaffen kaun. Wie jede Kunst, ist auch die Architektur das Werk einer persön¬
lichen Gestaltungskraft. An dem Entwurf der Baubureaux arbeiten bekanntlich
viele Beamtenhünde. Der Entwurf für einen beschloßnen Neubau läuft durch
einen langen Instanzenweg mit vielen Prüfungen und Abänderungen, sodaß
zwischen Vorentwurf und Endentwurf oft ein bis zwei Jahre liegen, und aus
den persönlichen und künstlerischen Merkmalen, wenn solche überhaupt vorhanden
waren, ein unpersönliches, mehr oder weniger schematisches Produkt geworden
ist, das viele Urheber hat und doch keinen. Mit der Aufhebung der persönlichen
Urheberschaft erlischt natürlich die persönliche künstlerische Verantwortung und
der persönliche künstlerische Ehrgeiz. Das Werk der Anonymität wird höchstens
durch die Vormundschaft des vorgesetzten Funktionärs benannt. In diesem Zu¬
sammenhang sind die Ausführungen des Regierungsbaumeisters Walter Lehweß
in der Berliner Täglichen Rundschau von besonderm Interesse. Er sagt:
„Wenn die Notwendigkeit eines Neubaues festgestellt und ein Grundstück
erworben ist, bekommt der Kreisbauinspektor des betreffenden Bezirks den Auftrag,
auf Grund eines von den beteiligten Behörden gemeinsam aufgestellten Bau-
Programms einen Vorentwurf auszuarbeiten; dieser wird ans der zuständigen
Regierung von einem technischen Dezernenten geprüft und mehr oder weniger
verändert (Revision) und geht dann an das Ministerium der öffentlichen Arbeiten,
wo er nochmals geprüft und geändert wird iSuperrevisiou). Nach diesem doppelt
geänderten Vorentwurf hat dann der Kreisbauinspektor einen »ausführlichen
Entwurf« aufzustellen, der wiederum die beiden genannten Instanzen durchläuft
und natürlich wiederum allerlei Abänderungen erfährt. Dann bekommt ihn der
Kreisbauinspektor zurück mit dem Auftrage, ihn auszuführen, wozu ihm bei
größern Aufgaben ein Negierungsbaumeister zugeteilt wird. Bedenkt man, daß
zwischen Bearbeitung des Vorentwurfs und des Entwurfs oft ein bis zwei Jahre
liegen, also die in Betracht kommenden Dienststellen inzwischen leicht durch andre
Personen besetzt sein können, so ergibt sich, daß im günstigsten Falle drei, im
ungünstigsten Falle sechs, mit dem bauleitenden Regierungsbaumeister sieben ver-
schiedne Personen an der Bearbeitung der Baupläne beteiligt sind. Jeder von
ihnen hat eine andre Auffassung, und jeder möchte sich gern betätigen und seine
Neigungen zur Geltung bringen. Durch das Mitwirken so vieler Kräfte bei
einem Entwurf erklärt sich auch das Fehlen des Künstlernamens bei den aus¬
gestellten Arbeiten des Ministeriums der öffentlichen Arbeiten. Wer sollte genannt
werden? Der Kreisbauinspektor, oder der Dezernent im Ministeriuni, oder ein
zufällig mit der Bearbeitung im Ministerium betrauter Hilfsarbeiter? Vor einigen
Jahren hatte der verstorbne Geheime Oberbaurat Kieschke, ebenfalls auf der
großen Berliner Kunstausstellung, seinen Namen als Architekt unter eine Anzahl
von Blättern gesetzt, die in seinem Dezernat entstandne Bauten darstellten. Das
gab viel Verstimmung."
Es darf nicht verwundern, daß sich Baukünstler, die stark genug sind, aus
ihre eigne Kraft zu vertrauen, in der Regel nicht entschließen, Baubeamte zu
werden. Es gibt zwar einzelne Fälle, wo tüchtige Baukünstler in solchen leitenden
Stellen stehn, aber es sind Ausnahmen. Es gibt auch Fälle, wo es künstlerisch
begabten Baubeamten möglich war, ihre Absicht mit verhältnismäßig großer
Konsequenz durchzusetzen und anerkennenswerte Leistungen hervorzubringen, wie
zum Beispiel bei dem neuen Dresdner Landgericht von Oskar Kramer der Fall ist.
Es gibt gewiß noch mehrere solcher Beispiele, aber alle diese Fälle sind im
Vergleich zu dem überwältigenden Schematismus der bureaukratischen Bau¬
tätigkeit seltne Ausnahmen. Es kann sogar auch zugegeben werden, daß die
allgemein herrschenden modernen Ideen, die auf Sachlichkeit und Vermeidung
der Stilnachahmung gerichtet sind, auch auf den Bauschematismus der Architektur¬
behörden eingewirkt haben. Aber in allen diesen Erscheinungen ist der Mangel
eines selbständigen baukünstlerischen Wertes eine ebenso betrübende wie selbst¬
verständliche Tatsache. Der bloße Reflex moderner Architekturmotive, der sich
an dieser Bauweise kundgibt, gibt ihnen noch keinen höhern Rang. Die Regel
ist, daß ein Mann mit baukünstlerischer Begabung den behördlichen Baudienst
entweder ganz vermeidet, ihn nach kurzer Versuchszeit wieder verläßt, oder wenn
er bleibt darin, zur UnProduktivität verdorrt.
In den letzten Jahrzehnten haben die meisten europäischen Städte ihren
baukünstlerischen Charakter eingebüßt und die eintönige Uniform der behördlichen
Bauweise angelegt. Die behördlichen Bauvorschriften, Neguliernngspläne und
Baupläne sowie die behördliche Bautätigkeit hab allenthalben Zwangsvorbilder
geschaffen, die in der ganzen heutigen Kulturwelt als unerträgliche Öde und
Häßlichkeit empfunden werden. Ein Vergleich der künstlerischen Baugesinnung
des achtzehnten Jahrhunderts mit der bureaukratischen Baugesinnung des neun¬
zehnten Jahrhunderts drängt sich auf Schritt und Tritt auf und offenbart den
ästhetischen Niedergang unsrer Zeit. Was unsre Städte an künstlerischer Bau¬
schönheit bergen, entstammt der ältern Zeit. Es sind Werte, die jahrhunderte¬
lang ihre Anziehungskraft bewahrt haben und die Menschheit ewig um sich,
versammeln und mit Freude erfüllen werden. Was diese Städte an abstoßenden
schematischen Bauerscheinungen aufweisen, entstammt unserm bureaukratischen
neunzehnten Jahrhundert und wird ewig eine Quelle des Verdrusses sein. Es
ist unberechenbar, was etwa eine Stadt wie Dresden der künstlerischen Bau¬
gesinnung eines August des Starken wirtschaftlich und ästhetisch verdankt. Un¬
aufhörlich und mit unerschöpflicher Ergiebigkeit fließen diese Quellen. Der Verlust
wäre unberechenbar, den Dresden ohne die glorreiche Baugesinnung Augusts des
Starken tragen müßte. Überall liegt die drohende Gefahr nahe, daß die Städte
einmal bei dem Fortschreiten einer unkünstlerischen Baugesinnung aufhören müssen,
die gepriesnen Orte der Schönheit und Wohnlichkeit zu bleiben und deshalb
auch wirtschaftlich sinken müssen.
Der vollständige Mangel an künstlerischem Empfinden ist die Folge einer
bureaukratischen Praxis, die jede persönliche Initiative unterbindet. Wenn auf
diesem Wege einmal ein wirklich origineller Entwurf zustande kommen könnte,
würde es wenig bedeuten, weil der ästhetische Wert einer künstlerischen Schöpfung
nicht allein von dem vorzüglichen Entwurf, sondern auch von der materialechten
vorzüglichen Bauausführung abhängt, die niemals ganz billig sein kann, und
die bei dem falschen Sparsystem der bureaukratischen Baupraxis meist ganz aus¬
geschlossen ist.
Das meiste, was die Neuzeit an künstlerisch hervorragenden Bauwerken
hervorgebracht hat, ist nicht von den behördlichen Baubureaux, sondern von
der privaten Baukünstlerschaft geschaffen worden. Aus wirtschaftlichen und
künstlerischen Gründen muß man deshalb verlangen, daß die hervorragendsten
und tüchtigsten Baukttnstler einer Stadt und eines Landes mit den Bauausgaben
betraut werden, die der Staat und die Städte zu vergeben haben. Diese Forderung
beruht auf folgenden Erwägungen: Es ist für die wirtschaftliche und geistige
Entwicklung keineswegs gleichgiltig. wie es mit dem Bauen unsrer Zeit bestellt
ist. Nachdem die Erfahrung gezeigt hat, daß von Amts wegen nicht Kunst
hervorgebracht werden kann, und da nach allgemeiner Erkenntnis der dauernde
Vauwert nur in seinen künstlerischen und qualitativen Eigenschaften besteht,
so ergibt sich ohne weiteres, daß die Baubehörden berufne freie Baukünstler
heranziehen und ihnen die Bauaufträge übertragen müssen. Die bestehenden
Baubureaux sollten nicht erweitert, sondern in bloße Rechnungsbureaux um¬
gewandelt werden. Als solche wären sie berufen, den mit öffentlichen Bau-
ausführungen betrauten freien Architekten eine drückende geschäftliche Last ab¬
zunehmen, vorausgesetzt, daß sie sich des Einflusses auf die künstlerische Lösung
enthielten. Hervorragende Baukünstler, die zur Übernahme von Staatsaufträgen
berufen sind, sollten damit die Verpflichtung übernehmen, den Nachwuchs aus¬
zubilden. Auf diese Weise würde die bautechnische und baukünstlerische Aus¬
bildung von vornherein auf praktische Grundlagen gestellt. Den Bauschulen
und Bauakademien muß durch solche Reorganisation wieder eine lebensvolle
-Bedeutung wiedergegeben werden, und die Akademie muß als Stätte aller
künstlerischen, plastischen, malerischen und kunstgewerblichen Ausbildung wieder
eine praktische Bedeutung erlangen. Es ist selbstverständlich, daß der Baubedarf
von Staat und Stadt nicht nur monumentale Aufgaben, sondern eine über¬
wiegende Summe von kleinen, scheinbar unbedeutenden und nichtsdestoweniger
notwendigen Aufgaben umfaßt; aber auch diese kleinen Alltagsbanaufgaben
müßten mit derselben Gediegenheit wie die großen ausgeführt werden, wenn
das Baubild wieder auf der Höhe seiner Kultur stehn soll. Gerade diese kleinen
praktischen Alltagsaufgaben würden für die jungen, noch unter der Führung
des Meisters stehenden Künstler eine ausgezeichnete Gelegenheit zur Erprobung
der wachsenden Kraft sein und von ihnen ohne Frage mit größerm Verständnis
und sicherm künstlerischem Takt gelöst werden als von den unpersönlichen Organen
des Bureaukratismus.
Ein heitrer Geist, ein stilles Landgut nur,
Ein Musensitz, im Schoße der Natur,
Ein kleines Haus, in eines Waldes Mitte,
Sieh, Freund, das ist das Los, das ich mir einst erbitte.
le mag der biedere Kanonikus von Halberstadt behaglich ge¬
schmunzelt haben, als er dieses Bekenntnis las, das seinem eignen,
bescheidnen Lebensideal so vollkommen entsprach: eine Fürstentochter,
ein hübsches sechsundzwanzigjähriges Mädchen, das die Hütte dem
Palast vorzog, dessen „Wünsche im Mittelstande säumten".
Der alte Gleim erlebte es noch, daß diese Freundin der Idylle und der
süßen Ruhe als Regentin an die Spitze eines kleinen Staates gestellt wurde.
Und wenn sie auch keinen: Unrecht zu tun und kein Todesurteil zu unter-
schreiben brauchte, so konnte sie doch den Sorgen der Politik nicht aus dem
Wege gehn, und in den Wirren einer harten und rücksichtslosen Zeit gelang
es ihr nur mit vieler Mühe, ihrem Sohne das väterliche Erbe zu retten.
Die junge Prinzessin, die mit dem allbekannten Freunde und Gönner aller
aufstrebenden Talente in ziemlich regelmäßigem Briefwechsel stand und sich von
seiner Muse beeinflussen ließ, war Pauline von Anhalt-Bernburg. Ein General
Napoleons verglich die spätere Regentin von Lippe einmal mit der mächtigen
Katharina der Zweiten und meinte, daß es diese Fürstinnen aus dem Hause
Anhalt verstanden Hütten, das Zepter zu tragen und die Bewunderung Europas
und der Welt zu erringen. Ganz unrecht hat der Schmeichler nicht. In ihren
enger gezognen Grenzen hat Pauline sicherlich ebenso großes erreicht wie die
kleine Zerbsterin, die durch eine Laune des Schicksals nach Rußland ver¬
schlagen wurde.
Paulinens Vater, Fürst Friedrich Albrecht von Anhalt-Bernburg, ein
jüngerer Zeitgenosse des großen preußischen Königs, war ein tüchtiger Ver¬
walter seines kleinen Landes, das sich als schmales Gebiet von der untern
Saale bis an den Fuß des Harzes erstreckte. In Ballenstedt wurde Pauline
am 23. Februar 1769 geboren. In kräftiger Bergluft wuchs sie auf, und ihr
ganzes Leben lang hat sie sich ein inniges Verhältnis zu der sie umgebenden
Natur bewahrt. Eins ihrer besten Gedichte preist das Erwachen des Frühlings
in zarten und tiefempfunden Versen. Sie liebte es, die Sonne über den
Bergen aufgehn zu sehen, und fühlte sich dann höhern Sphären näher gerückt.
Die Mutter hatte sie bald nach der Geburt verloren. Desto liebevoller nahm
sich ihrer der Vater an. Sie erhielt eine sehr sorgfältige und besonders für
die damalige Zeit recht ungewöhnliche Erziehung und lernte zusammen mit
ihrem einzigen, etwas ältern Bruder nicht nur Französisch, sondern auch Latein.
Wie eine Gymnasiastin von heute las sie Tacitus und Vergil. Auch das
Italienische war ihr nicht fremd, und sehr leid tat es ihr, daß sie keine Gelegen¬
heit hatte, Englisch zu lernen, und darum Gibbon, Hume und die berühmten
Moralphilosophen nur in der Übersetzung lesen konnte. Eine unermüdlich lern¬
begierige Natur, hielt sie jeden Tag für verloren, an dem sie nicht neue
Kenntnisse erworben hatte. Ein Büchermensch, eine trockne Stubengelehrte
wurde sie trotzdem nicht. Sie hatte einen offnen Blick für das, was in der
Welt vorging, und einen stark ausgebildeten praktischen Sinn, und da sie für
ihren Vater längere Zeit alle Kanzleigeschäfte besorgen mußte, fand sie sich in
den Akten und in der Staatsverwaltung bald ebenso leicht zurecht wie in der
schönen Literatur. Dagegen sagten die nichtigen Tändeleien des Hoflebens ihr
nicht zu. Wenn sie bei Festen und Empfängen ganze Tage mit alltäglichen
Gesprächen zubringen mußte, kam sie sich wie eine Sklavin vor und dankte
Gott, daß sie nur Kopien großer Höfe kannte. Auch dort gab es für ihren
Geschmack schon „Kabalen und Truglarven" genug, und sie war erstaunt, bei
den Höflingen, durchlauchtigen und nicht durchlauchtigen, noch hin und wieder
Güte und Geist zu entdecken: „wieviele treffliche Anlagen müssen im Menschen
liegen, da sie zu verschrauben oft bei aller Mühe nicht möglich wird." Sie
spann sich gern in die Einsamkeit ein und wollte von der großen Welt und
ihrem sinnlichen Jubel nichts wissen- Doch verschmähte sie es nicht, ihr kleines
poetisches Talent in den Dienst des Hofes zu stellen, wenn es galt, den Ge¬
burtstag eines Angehörigen zu feiern. Auch Jagdlieder von ihr wurden
einmal an die Jagdgesellschaft verteilt. Ihre Verse, meist Gelegenheitsverse
oder Übersetzungen aus dem Lateinischen, sind nicht immer glatt und geschmack¬
voll, aber auch nicht viel schlechter als manche Gedichte ihres Lehrmeisters
Gleim, Der Alte, der mit dem Ballenstedter Hofe seit lange nachbarliche Be¬
ziehungen hatte, war glückselig über die gelehrige Schülerin und pries sie als
„die einzige Fürstin unsers lieben Vaterlandes, die den deutschen Musen opfere".
Pauline war zu verständig, auf ihre Reimereien großen Wert zu legen. „Nur
selten und schüchtern, so schreibt sie selbst, wage ich den Musen zu opfern, aus
Furcht, mein Weihrauch möchte als mittelmäßiges Rauchwerk den neun ver¬
götterten Schwestern mißfallen." Es waren für sie Beschäftigungen müßiger
Stunden, der Ehrgeiz der Dichterin lockte sie nicht. Aber ein heißes Verlangen,
ihre Gedanken und Empfindungen auch in den Herzen andrer wieder erklingen
zu lassen, war schon früh in ihr lebendig; sie wollte wirken und schaffen, den
Menschen nützen und sie besser und glücklicher machen. So setzte sich das
neunzehnjährige Mädchen an den Schreibtisch und schrieb eine Abhandlung —
„Über den Tanz, in Rücksicht seiner Wirkung auf das weibliche Herz."*)
Wie unjugendlich, wie kalt und übernünftig! wird man sagen. Man denkt
an Friederiken, die sich mit dem Straßburger Studenten so fröhlich im Kreise
drehte, an Lotten, die mit Werthern zum Balle fuhr. Auch Pauline verwahrt
sich dagegen, eine „grämliche Moralistin" zu sein. Aber sie hat über diese
Beschäftigung, die, wie sie aus Selbstprüfung und Erfahrung weiß, so heftig
auf Herz und Sinnlichkeit wirkt, viel nachgedacht und durch zwei jüngst er¬
schienene Romane des bekannten Modeschriftstellers Joh. Timotheus Hermes
noch eine besondre Anregung empfangen. Daß eine junge und hochgebildete
Dame an diesen seicht und unerträglich breit geschriebnen Geschichten Geschmack
finden konnte, erscheint uns heute unbegreiflich. Doch gerade das, was uns
so unangenehm berührt, die lehrhafte Tendenz, die Absichtlichkeit im Morali¬
sieren, gefiel den damaligen Lesern. Und so mochte es auch Paulinens Herz
hoch befriedigen, als sie bei dem Verfasser von „Sophiens Reise von Memel
nach Sachsen" las, wie sündhaft und für die Gesundheit schädlich der Tanz
sei. Diesen Gedanken führt sie nun weiter aus, und abgesehen von einigen
Verstiegenheiten und Wunderlichkeiten, durchaus nicht ungeschickt. Sie schreibt,
besonders für eine Prinzessin jener Zeit — man vergleiche die deutschen Briefe
der Königin Luise — einen recht flüssigen und gewandten Stil, und ein liebens¬
würdiger Geist, ein für das Wohl der Menschheit warmfühlendes Herz leuchtet
überall hindurch. Wenn der Tanz selten und mäßig genossen wird, hält sie
ihn für eine ganz heilsame körperliche Bewegung und macht deshalb den selt¬
samen Vorschlag, „Frauenzimmerbälle" zu veranstalten. Denn der Tanz mit
Männern schadet der weiblichen Schamhaftigkeit und Sittsamkeit, das Blut
gerät in Wallung, Triebe erwachen, die sonst tief in der Seele verborgen sind,
Eitelkeit und Gefallsucht werden gefördert. Dabei will sie nicht einmal von
„dem frechen und sinnlichen Tanz der Deutschen" reden — sie meint den
Walzer, der sich damals immer mehr in der Gesellschaft Eingang verschaffte.
Ein Frauenzimmer, das diesen oft mit einem ihr nicht unangenehmen Lieb¬
haber tanzt, gibt sie schon halb verloren: „denn mit welchem Mut wird sie
dem Manne etwas versagen, der sie im Augenblick vorher an sein laut
klopfendes Herz drückte, dessen Arme voll kochenden Blutes sie fest umfaßten
und wild im rauschenden Wirbeltanze drehten." Man sieht, Pauline steuert
ganz im Fahrwasser jener Sittenschildrer aus der Schule Richardsons, die, um
ihren Lehrsatz zu beweisen, auch vor der Ausmalung des Verfänglichen und
Häßlichen nicht zurückschrecken. Wie merkwürdig, wenn eine Neunzehnjährige
von „dem wollüstigen Kitzel" redet, den der Tanz bei Männern erweckt, oder
von dem schmeichelnden Verführer, der das durch den Tanz, vielleicht auch noch
durch Weingenuß aufgeregte Mädchen nach Hause begleitet und in der ein¬
samen Stille der Nacht ihren keuschen Widerstand besiegt! Kopfschüttelnd fragt
man sich, wo eine junge durch die Etikette sorgsam behütete Prinzessin solche
Beobachtungen gemacht haben kann, und man wird wieder auf jene moralischen
Familienromane hinweisen müssen, die in ihrem Streben nach anschaulicher
Belehrung soviel Unnatürliches und Gekünsteltes bringen.
Paulinens Aufsatz erschien ohne ihren Namen in einem von einem wohl¬
meinenden Theologen herausgegebnen „Jahrbuch für die Menschheit". Sie
lieferte dafür noch einen zweiten Beitrag mit der Überschrift „Über die jetzt
allgemeine Gewohnheit, jungen Frauenzimmern Talente zu geben" und entsprach
so vortrefflich dem Zweck jener Zeitschrift, die es sich zur Aufgabe gemacht
hatte, „die häusliche Erziehung, die häusliche Glückseligkeit und die praktische
Menschenkenntnis zu fördern". Dieser zweite Aufsatz mutet uns natürlicher
an, er enthält manchen beherzigenswerten Gedanken. Pauline ist keine ausge-
sprochue Gegnerin des Zeichnens und der Musik und wendet sich nur gegen
die Modetorheit, das, was nur eine Nebenbeschäftigung, eine kleine Annehm¬
lichkeit des Lebens sein soll, auf Kosten der häuslichen Pflichten zur Haupt¬
sache zu machen. Besonders für die niedern und mittlern Stände gilt das.
Denn hier hängt das ganze Glück und die Vermögenserhaltung des Mannes
von dem Fleiß und dem Ordnungssinn der Frau ab. Durchaus verwerflich
aber erscheint es ihr, mit diesen kleinen Talenten vor der Öffentlichkeit zu
Prunken oder sie gar als Lockmittel für die Männer zu benutzen. Wenn sie
Töchter hätte — auch ein wunderliches Wort aus dem Munde einer neunzehn¬
jährigen Weisheit —, so wurde sie ihnen zwar Talente geben, aber heimlich,
ohne daß es jemand erführe, damit sie dereinst ihre Gatten überraschen könnten,
wenn Hymen das Band der Liebe schon fest gewunden, um sie so zu über¬
zeugen, daß sie sich diese Vollkommenheit allein für sie erwarben.
Eine Emanzipierte — das erkennt man deutlich — ist Pauline nicht,
trotz ihrer ernsten Denkart und ihrer weit über das Durchschnittsmaß der da¬
maligen Mädchenbildung hinausgehenden Kenntnisse. Die Frau scheint für sie
nur dazu da zu sein, dem Gatten die Sorgen von der Stirn fortzuscheuchen
und ihm die Häuslichkeit so angenehm wie möglich zu machen. Doch für die
höhern Stunde läßt sie eine Ausnahme gelten. Fast wie wenn sie ihr künf¬
tiges Schicksal voraussähe, wirft sie die Frage auf, ob ein Frauenzimmer mit
hervorstechenden Talenten, aber mit einem ungebildeten Herzen zur Ratgeberin,
zur Erzieherin, zur Vormünderin und endlich — zur Regentin geschickt sein
könne. Pauline war nicht nur klug und geistvoll, sondern auch eine sehr an¬
mutige Erscheinung mit feinem, regelmäßigem Gesicht und kräftig gezeichneten
Brauen, unter denen ein Paar wundervolle Augen offen und frei in die Welt
blicken. Nur ihre Gestalt neigte schon in der Jugend etwas zur Fülle, und
später machte sie sich gern selbst über ihr Embonpoint lustig. Sie war einund¬
zwanzig Jahre alt, als sich ihr zum erstenmal ein Freier mit ernsten Absichten
näherte. Es war der junge Fürst Leopold zur Lippe-Detmold, der von Leipzig,
wo er studierte, immer in den Ferien nach Ballenstedt herüberkam und von
dem Vater und dessen Ratgebern sehr begünstigt wurde. Paulinen dagegen
gefiel er gar nicht, sein wenig anziehendes Äußere flößte ihr geradezu Wider¬
willen ein. Sie fand ihn auch willensschwach und geistig unbedeutend, sodaß
er völlig dem Idealbilds widersprach, das sie sich von ihrem künftigen Gatten
entworfen hatte. Zu diesem Manne konnte sie nicht mit Verehrung und un¬
beschränkten? Gehorsam emporschauen, sie fühlte sich ihm überlegen. Trotzdem
war sie schon beinahe entschlossen, dem Drängen ihres Vaters nachzugeben, als
sie auch über das sittliche Verhalten des jungen Fürsten sehr ungünstiges erfuhr.
Man sagte zwar, er habe sich aus Liebe zu ihr schon gebessert, und seine
Tugend stehe uun desto fester. Aber das streng denkende Mädchen ließ sich
nicht überreden, dieser Freier war abgetan. Bald darauf machte der Detmolder
so törichte Streiche und verfiel in eine so schwere Gemütskrankheit, daß er ent¬
mündigt werden mußte. Bekanntlich ist auch sein Enkel, der letzte seines Stammes,
vor einigen Jahren in einer Heilanstalt gestorben.
Von dieser Seite hatte Pauline nun Ruhe, und einen köstlichen Gewinn
hatte ihr die leidige Angelegenheit noch dazu eingetragen: eine Herzens- und
Seelenfreundschaft mit einem gleichgesinnten Gefährten, in der sich ihr schwärme¬
risches Empfinden voll ausleben konnte. Der damalige Erbprinz, spätere Herzog
Friedrich - Christian vou Augustenburg war ihr kein Fremder. Die frühver¬
storbnen Mütter der beiden waren Schwestern gewesen. Der Prinz hatte als
Student die Verwandten am Harz bisweilen aufgesucht, und drei Jahre vor
der unglückseligen Werbung war auch Pauline mit ihrem Vater in Holstein
gewesen und hatte sich dort besonders eng an ihre Cousine Luise angeschlossen.
Dem Vetter trat sie erst näher, als er — gerade zu der Zeit, wo der Det-
molder schriftlich um sie anhielt — mit seiner jungen Frau wieder nach Ballen-
stedt kam. Ob sich Pauline damals in ihrer Not an ihn gewandt, oder ob er
nach seiner Abreise aus freien Stücken Erkundigungen über den lästigen Freier
eingezogen hat, geht aus ihren Briefen nicht deutlich hervor. Ohne Zweifel
aber war es sein Bericht, seine Warnung, die Paulinens Widerstand ent¬
schied. Sie nennt ihn ihren „edeln Ritter", ihren „brüderlichen Freund";
seine Hand, „die Hand eines hilfreichen Engels", hat sie vor dem Abgrund
gerettet. Und nach diesem ersten feurigen Hymnus des Dankes entspinnt sich
zwischen den beiden einer jener Briefwechsel, wie sie das empfindsame Zeit¬
alter liebte.*)
Der Augustenburger, als hochherziger Wohltäter Schillers allgemein be¬
kannt, war klein und unansehnlich von Gestalt, aber begeistert für alles Schöne
und Edle, verstand er auch wieder Begeisterung einzuflößen. So brachte er
denn in Paulinens Leben, das bis dahin an dem kleinen Hofe ziemlich ein¬
förmig verlaufen war, einen neuen, reichen Inhalt. Endlich hatte sie ein
empfängliches Herz gefunden, dem sie ihre Sorgen und Kümmernisse, vor allem
aber ihre Gedanken und Ansichten über Welt und Menschen, über die kleinen
und großen Dinge des Lebens anvertrauen konnte. Sie sah den Vetter nur
selten, bei seinen flüchtigen Besuchen in Ballenstedt. „Ihr einziges, wenn auch
unvollkommnes Ergänzungmittel" war dieser „liebreiche" Briefwechsel, der aber
gerade durch den Schmerz der Entsagung für sie vielleicht noch einen Reiz
mehr erhielt. Durch keine äußerlichen Umstände und Rücksichten gehemmt,
konnten sich die Seelen um so leichter in der Welt der Gedanken finden. Man
schrieb damals nicht bloß Briefe, um sich Mitteilungen zu machen, sondern
man schrieb Briefe, die zugleich Selbstbekenntnisse waren, man legte Wert auf
einen gewählten Ausdruck, man wollte schöne Empfindungen in dem Freunde
erwecken. Auch Paulinens Briefe tragen dem Geschmack der Zeit Rechnung.
Manchen Satz, manche Wendung kann man heute nicht ohne Lächeln lesen.
So hat sie ihm einmal zum Geburtstage eine Weste gestickt und bittet ihn
nun, wenn er sie zu tragen würdige, der liebevollen Freundin zu gedenken,
die bei jedem Stich Segen für ihn vom Himmel erflehte. Seine Freundschaft
ist ihr köstlichstes Gut, sie zittert, es zu verlieren. Als er ihr bei einem Besuch
in Ballenstedt — für sie ein „Silberblick von Glück" — zu kalt und gleich-
giltig erschienen ist. fragt sie in banger Sorge, worin sie gefehlt, wodurch sie
ihr Glück verscherzt haben könnte. Und am Schlüsse dieses Briefes versichert
sie: „Wenn gleich ich Ihnen nicht mehr lieb bin, so sind Sie es doch mir,
solange dieses Auge offen ist, diese Brust atmet und wahres Verdienst zu
schätzen weiß." Ist das noch die Sprache der Freundschaft, ist das nicht schon
ein Liebesgeständnis? Eine junge Dame von heute würde gewiß nicht so
schreiben; aber in jener gefühlsseligen Zeit trieben sogar die Männer unter¬
einander einen förmlichen Kultus mit Liebcsbeteuerungen. Pauline war auch
eine zu gesunde Natur, als daß sie sich einer hoffnungslosen Leidenschaft für
einen verheirateten Mann hingegeben hätte, und darum braucht man es ihr
nicht als Heuchelei oder berechnende Klugheit auszulegen, wenn sie auch mit
der jungen Frau des Vetters gute Freundschaft hielt. Ja die Harmlosigkeit
dieser Beziehungen geht so weit, daß sie auch ihre Zukunft mit dem Familien¬
kreis des Freundes verflechten möchte. Gleich ihrer Cousine Luise widerstrebte
sie Hymens Fesseln, und beide hatten es sich sehr schön ausgemalt, nach dem
Tode ihrer Väter zusammenzuziehen und die eine Hälfte des Jahres am Harz,
die andre in Holstein zuzubringen. Dort würden Gattin, Schwester und Freundin
den Freund umgeben, und um das Glück zu vollenden, dachte sich Pauline
noch „kleine Geschöpfe" dazu, an deren Erziehung sie mitarbeiten wollte. Die
Begeisterung macht sie zur Dichterin:
Die Verse sagen klar, was dieser Briefwechsel für Pauline bedeutete. Es
war für sie mehr als eine bloße Unterhaltung, „ein entzückendes Geschüft".
Im anregenden und belehrenden Verkehr mit dem Freunde entfaltete sich ihr
Geist, ihr Wissen und Menschentum zur schönsten Blüte, und auch der Augusten-
burger, der über den Wert des fürstlichen Standes sehr gering dachte, bekannte
freudig, daß sie „eine Ausnahme aus seiner Fürstenkategorie" sei.
Nicht immer freilich war sie geneigt, seinen Gedankengängen zu folgen.
Für die Philosophie Kants konnte sie sich, obgleich ihr der Vetter zum bessern
Verständnis die Reinholdschen Briefe empfohlen hatte, nicht recht erwärmen.
Die Skepsis des großen Weisen ängstigte sie: er beraubte sie einiger Gewi߬
heiten, die sie sich höchst ungern nehmen ließ. Ebensowenig glückt es dem
weltbürgerlich gesinnten Prinzen, sie für die Französische Revolution zu be¬
geistern, die er gleich vielen der Besten seiner Zeit als die Sache der Mensch¬
heit mit großem Jubel begrüßt hatte. Echt weiblich ist es, daß sie seine
Schwärmerei für Mirabeau, „den gottlosen Sohn, den Störer ehelichen Friedens,
den Wollüstling", unbegreiflich findet. Aber sie urteilt auch merkwürdig kalt¬
blütig über die neugeborne Freiheit, die wie eine strahlende Sonne jenseits des
Rheins aufgegangen war. Schon im Mai 1791 meint sie bedächtig, erst die
Zukunft müsse lehren, ob die Umwälzung für Frankreich heilsam wäre. Die
Demütigung und Schändung des Königtums nach dem verunglückten Flucht¬
versuch erfüllt sie mit tiefster Entrüstung, und voll banger Ahnung sieht sie
noch mehr ähnliche und noch schrecklichere Vorfülle voraus. Die Begeisterung
des Freundes ist ein schöner Irrtum, der seinem Herzen Ehre macht. Nicht
ohne einen gewissen Triumph stellt sie fest, daß er immer kleinlauter wird und
sich zuletzt auch mit Entsetzen von den Greueltaten der Pariser Schreckens¬
männer abwendet. In diesem Hasse gegen die Revolution ist sie mit dem alten
Gleim einig, und wie dieser nicht müde wurde, ,,die Tigernation" mit der
Feder in der Hand zu bekämpfen, so richtete Pauline einen leidenschaftlichen,
wenn auch dichterisch nicht recht gelungner Aufruf an die Franzosen:
Doch Europa soll nicht bloß weinen, sondern auch handeln und die Franken
aus der edeln Völker Reihen ausstoßen. Leider entsprach der Verlauf des
ersten Koalitionskrieges sehr wenig den allgemeinen Erwartungen, die republi¬
kanischen Heere gingen von der Verteidigung bald zum Angriff über, und mit
Schrecken erkennt Pauline die furchtbare Gefahr für ihr armes Vaterland. Sie
klagt über die Uneinigkeit der Verbündeten, und jeder Sieg der Franzosen ist
ihr ein „Stich ins deutsche Herz". Denn sie war früher „eine Tochter Thuiskons"
vis eine Weltbürgerin. Bisweilen mag sie von Politik gar nichts mehr hören,
und es wird ihr nicht leicht, mit dem philosophischen Vetter in allen diesen
Weltbegebenheiten die Weisheit des Allgütiger und den Endzweck der allge¬
meinen Vervollkommnung zu erkennen. Als sie ihn über den Tod seines Vaters
trösten will, schreibt sie: „Jetzt, wo jeder Blick um uns her, jeder Vorfall in
der Zeitgeschichte die Seele erschüttert, bedarf man mehr als jemals innerer
Hilfsquellen, jetzt ist jeder höchst unglücklich, der nicht sich selbst genügt, nicht
im eignen Busen Unterhaltung und sanften Frieden schöpft."
Pauline gehörte nicht zu diesen unglücklichen Naturen. Sie hatte ihre
Bücher und den Verkehr mit dem Freunde, und dadurch wurde sie auch für
manches Unangenehme und Widrige entschädigt, was sie in ihrer nächsten Um¬
gebung erlebte. Das Verhältnis zu ihrem Vater war nicht mehr so herzlich
und ungetrübt wie einst. Der Fürst alterte früh und ließ seine verdrießliche
Laune oft an der Tochter aus, die ihn nicht nur in seiner Krankheit treu
Pflegte, sondern auch bei der Regierung des Landes in wertvollster Weise
unterstützte. Gerade das aber schuf ihr am Hofe viele Feinde. Pauline war,
wie sie selbst später einmal eingesteht, etwas heftig, und „der entscheidende Ton",
der der Regentin von Lippe nicht übel anstand, mag damals, als sie noch die
kleine Prinzessin von Ballenstedt war, oft genug verletzt haben. Sie klagte,
daß sie verkannt werde, daß ihr Verstand und ihre Kenntnisse mehr gepriesen
würden, als sie verdienten, aber leider auf Kosten ihres redlichen Herzens.
Eines Tages äußerte sie, um schädliche Schritte zu verhüten, ihre Meinung
gar zu nachdrücklich und zog sich auch die Ungnade ihres Vaters zu, Ihre
bisherige Arbeit — sie hatte alle Kanzleigeschäfte besorgt — wurde ihr plötzlich
in beleidigender Weise abgenommen, der Alte, dem ihre Gesellschaft fast unent-
behrlich gewesen war, wich ihr aus. Einflußreiche Personen, die ihn beherrschten,
hätten die ihnen unbequeme Prinzessin am liebsten ganz vom Hofe entfernt.
Wenn möglich durch eine Heirat. Wie sie ihr vor vier Jahren den Detmolder
hatten aufzwingen wollen, so schoben sie jetzt den Erbprinzen von Sonders¬
hausen, eine ihr ebenfalls wenig angenehme Persönlichkeit, als Bewerber vor.
Auch eine Reise nach Holstein wurde ihr für den Fall, daß sie sich nach der
unmittelbar bevorstehenden Vermählung ihres Bruders in Ballenstedt nicht mehr
behaglich fühlen sollte, großmütig angeboten. Auf Paulinens erste Andeutung
lädt sie der Vetter sofort aufs liebenswürdigste in sein Haus ein, und diese
Aufmerksamkeit, in einem Augenblick, wo sie überall verkannt zu werden Gefahr
lief, rührte sie bis zu Tränen. Die Holsteiner Reise unterblieb jedoch, da sich
das Verhältnis zum Vater inzwischen wieder besserte. Bald darauf fand die
Hochzeit des Erbprinzen statt. Pauline kam der neuen Schwägerin herzlich
entgegen, fand aber, wo sie Freundschaft erwartet hatte, nur kalte Höflichkeit.
Vielleicht war auch ihr bestimmtes Wesen, ihre geistige Überlegenheit daran
schuld, daß sich die junge Frau so ablehnend verhielt. Die Lage wurde immer
peinlicher, und im August 1795 spricht Pauline in etwas geheimnisvoller
Weise von einer „Veränderung", die bald statthaben und vielleicht alle Teile
glücklicher machen würde. Drei Monate darauf enthüllte sich das Geheimnis.
Sie verlobte sich — und zwar mit demselben Manne, dessen Werbung sie einst
so schroff, ja mit Abscheu zurückgewiesen hatte.
Fürst Leopold war inzwischen von seiner Krankheit genesen und hatte die
Regierung wieder übernommen. Trotzdem behält Paulinens Entschluß etwas
Rätselhaftes, und sie fühlt sich gedrungen, ihn den Holsteiner Freunden gegen¬
über zu rechtfertigen: nie hat sie einen Schritt mit mehr Überlegung getan,
Liebe hielt ihr wahrlich kein Vergrößerungsglas vor. Aber die Unmöglichkeit,
ihre jetzige Lage länger zu ertragen, der ausdrückliche Wunsch des geliebten
Vaters und — sie leugnet es nicht — ihres zukünftigen Gemahls grenzenlose
Liebe bestimmte ihre Entscheidung. „Ein braver, sanfter, gefälliger und recht¬
schaffner Mann, der den Mangel glänzender Eigenschaften durch wesentliche
Verdienste erkauft": das Lob klingt ziemlich förmlich. In einem Nachtrag, den
sie zehn Tage später niederschreibe, wird sie schon deutlicher. Man erkennt:
dieser tatkräftigen Natur, die sich am Hofe des Vaters nicht mehr recht zur
Geltung bringen konnte, war es hauptsächlich um einen Wirkungskreis zu tun.
Das „Bewußtsein der Gemeinnützigkeit" soll ihr manche trübe Stunde rosen¬
roter machen, und da ihr künftiger Gemahl rechtschaffen denkt, schöne Einkünfte
besitzt und 70000 Menschen zu beherrschen hat, hofft sie, reiche Gelegenheit
dazu zu finden. Doch seltsam genug — bei näherer Bekanntschaft „tritt ihr
Herz zu ihrer Vernunft über"; sie entdeckt immer neue Vorzüge an dem Ver¬
lobten, dessen Gutmütigkeit sie allerdings schon bei seiner ersten verunglückten
Werbung anerkannt hatte. Der erste Brief, den sie einen Monat nach der
Hochzeit aus Detmold nach Holstein sendet, ist ganz der Brief einer glücklichen
und zufriedner jungen Frau, und sogar ein romantisch schwärmerischer Zug
fehlt darin nicht. „Mehr Gefälligkeit und Güte, als mein Mann mir bezeugt,
kann man auch nicht einmal sich träumen; seine Gesinnungen für mich sind ein
seliges Gemisch von leidenschaftlicher Liebe, unbeschränktem Vertrauen, wahrer
Freundschaft und vollkommner Hochachtung, jeden Tag wachsen seine Empfin¬
dungen, und meine Gegenliebe nimmt zu." Jeden Fremden würde sie nicht
so detailliert von sich unterhalten, aber vor ihm, dem liebsten Freunde, dem
nahen Verwandten, der noch dazu selbst glücklicher Gatte ist, braucht sie sich
nicht zu entschuldigen. Auch in ihrem nächsten Briefe plaudert sie viel von
ihrem Manne. Sie segnet den Augenblick, wo sie sein ward, er begleitet sie auf
ihren Spaziergängen durch die schöne Umgegend der neuen Heimat und versüßt
ihre Stunden. Und als ihr nach einigen Monaten der inniggeliebte Vater durch
den Tod entrissen wird, ist es „ihr lieber braver Mann", der sie tröstet.
Heuchelei kann das nicht sein. Dazu ist Pauline eine zu ehrliche Natur.
Das große Mitleid des wahrhaft weiblichen Herzens hat das Wunder der
Liebe in ihr vollbracht. Die Frau, die sich einst nur an der Seite eines
Mannes denken konnte, der sie geistig überragte, ist gerührt durch die demütige
Anbetung, die dieser tief unter ihr stehende ihr entgegenbringt. Und noch eins
kommt vielleicht hinzu: sie fühlt bald, daß sie auch diesem Armseligen etwas
verdanken und durch ihn die höchste Bestimmung des Weibes erreichen wird.
Vier Tage vor der Geburt ihres ersten Kindes verfaßt sie einen Brief, der
ihm für den Fall, daß sie die schwere Stunde nicht überstünde, als das letzte
Zeugnis ihrer treuen Anhänglichkeit übergeben werden sollte. Eine Frau, die
sich in ihrer Ehe unglücklich fühlt, kann unmöglich so warm und innig schreiben,
wenn auch vielleicht die erregte Stimmung ihrem Ausdruck noch einen ganz
besondern Schwung verleiht. Sie hoffe, der gute Vater in den Wolken, der
unausgesetzt unser Bestes fördere, auch dann, wenn es anfänglich bitter schmerze,
werde das Band, das sie beide so wahr beglücke, noch nicht zerreißen; sie
werde ihm ein gesundes Kind gebären und die süße Wollust schmecken, es an
sein Baterherz gedrückt zu sehen. Aber sie müsse auch auf den Tod gefaßt
sein, und darum sei es ihre letzte Bitte an ihn, seinen Schmerz zu mildern
und sich dem Kinde, das ihm der Himmel, wie sie hoffe, an der Mutter Statt
zurücklasse, zu erhalten. Aus der Ewigkeit wolle sie dann als Schutzgeist auf
ihn herabschauen und ihn dort erwarten zur ewigen Verbindung. Noch einmal
dankt sie ihm für alle seine Liebe, sie entschuldigt sich sogar, daß sie ihm wegen
ihrer ernsten Geistesrichtung und ihres fast männlichen Wesens nicht ganz die
heitere Gefährtin hätte sein können, die Gattenpflicht fordere.
Am 6. November 1798 wurde dem Lande Lippe der ersehnte Thronerbe
geboren. Pauline ist überglücklich und berichtet dem Vetter schon nach sechs
Wochen mit Stolz, daß sie den Kleinen selbst nährt, und daß er gut zunimmt.
Auch später erzählt sie gern von den Fortschritten ihres Leopold, von seinem
„empfehlenden Äußern und seinem ganz anhaltinischen Gesicht" — bekanntlich
haben sich die Askanier von jeher durch männliche Schönheit ausgezeichnet.
Dagegen scheint der zweite ein Jahr jüngere Sohn Fritz mehr nach dem
Vater zu arten. „Hübsch ist er nicht, schreibt die Mutter, aber rund und
possierlich."
Es ist wohl kein Zufall, daß unes Paulinens Vermählung der Brief¬
wechsel mit dem holsteinischen Vetter immer mehr ins Stocken gerät und bald
auf Jahre hinaus ganz abgebrochen wird. Diese Briefe waren ihr ein Be¬
dürfnis des Herzens gewesen und hatten eine Lücke ihres Wesens ausgefüllt.
Jetzt brauchte sie ihr reiches Empfindungsleben nicht mehr in toten Buchstaben
ausströmen zu lassen: sie hatte einen Gatten, dem sie alles war, Kinder, die
sie hegen und pflegen konnte. Man merkt es an dem Ton der spätern Briefe:
an die Stelle fast schwärmerischer Verehrung ist jetzt ruhige, gemessene Freund¬
schaft getreten. Wohl hat es für sie noch immer einen großen Reiz, sich mit
dem Vetter über die wichtigsten Angelegenheiten der Menschheit zu unterhalten.
Aber sie ist nicht mehr die Schülerin, die von ihm Anregungen empfangen
will, sie ist über ihn hinausgewachsen, hat in: Leben etwas geleistet, und die
Sorge für das ihrer Obhut anvertraute Ländchen nimmt sie fast vollständig in
Anspruch.
lie Abend ums Dunkelwerden hielt Muttche ein Dämmerstündchen
auf dem Sofa sitzend. Die jungen Mädchen bildeten Gruppe um sie
herum und schwärmten, und die, die einen Platz rechts oder links von
Muttche einnehmen durften, waren selig. Und Erna war siebenmal
selig, wenn sie neben Muttche sitzen konnte. Alles Vertrauen und
alle Zärtlichkeit, die in ihrem bisherigen Leben in einem Winkel ihrer
Seele verkümmert war, gewann Leben und wandte sich Muttche zu.
Einmal war sie mit Muttche allein. Muttche hatte den Arm um Erna gelegt,
und Erna war ganz still, als fürchte sie, den schönen Traum zu zerstören.
Was denkst du jetzt, mein Kind? fragte Muttche. Wars nicht ein Wunsch?
Ja, Muttche.
Was wünschtest du dir denn?
Ach, Muttche, sagte Erna schwärmerisch, ich möchte einmal auf dem Kopfe stehn.
Was? auf dem Kopfe stehn?
Ja, Muttche, auf dem Kopfe stehn, die Beine ganz hoch in der Luft.
Muttche machte sich auf und störte ihren lieben Mann bei der Arbeit. Der
liebe Mann stellte seine Pfeife beiseite und faltete die Hände.
Was ich dir sagen wollte, begann Muttche, diese Erna ist doch ein zu merk¬
würdiges Mädchen. Ich frage sie nach einem Wunsche, den sie hat, und sie ant¬
wortet: Auf den: Kopfe stehn, die Beine ganz hoch in der Luft.
Gefällt mir, erwiderte Väterchen. Bescheidner Wunsch, keine Diamantbrosche,
kein Automobil, auch keine Badereise.
Aber auf dem Kopfe stehn! Väterchen.
Warum nicht, wenn sie nicht darauf besteht, das Exerzitium vor versammeltem
Kriegsvolke zu machen.
Muttche kannte ihren lieben Mann und bestand nicht darauf, diesen Gedanken
weiter zu diskutieren. Es ist mir nur darum, sagte sie, wie kommt ein solches
Mädchen auf so einen Gedanken?
Was weiß man denn von einem Menschen, antwortete Väterchen, wenn man
seinen Namen kennt und tausend Worte mit ihm gewechselt hat. Das Sprichwort
redet von einem Scheffel Salz. Ich meine, auch das genügt nicht.
Das war ja nun soweit richtig, und Muttche mußte sich damit zufriedengeben,
vor einem Rätsel zu stehn, das sie nicht lösen konnte.
Alle Jahre im Herbst war Messe auf der Woorth in Graupenhagen, der be¬
nachbarten größern Stadt. Muttche hatte die Erfahrung gemacht, daß solch ein
Jahrmarkt für junge Mädchen ein großes Vergnügen bedeutete, auch wenn diese
jungen Mädchen aus der Großstadt und aus feinen Häusern stammten. Und so
überwand sie denn das eigne Vorurteil und die Rücksichtnahme auf das Kopfschütteln
gewisser Amtsschwestern und fuhr mit ihrer jungen Schar auf den Woorthmarkt.
Die alte Pastorenkutsche und ein Break des Nachbars wurden bespannt und voll¬
gepackt, und dann ging es mit viel Geschrei und Gelächter los — es war ein
Hauptspaß. Auch Erna war ganz bei der Sache, sie strahlte vor Erwartung und
Vergnügen. Als man aber den Jahrmarktslärm von ferne hörte, war es ihr, als
täte sich ihr eine neue Welt auf, die ihr doch so bekannt vorkam. Und der Jahr¬
marktsdunst, der aus Staub, Obstgeruch und dem Dampfe von bratendem Öl bestand,
War ihr unsäglich interessant. Sie setzte sich an die Spitze der pensionatlichen
Expedition und drängte mit brennenden Wangen so schnell vorwärts, daß Muttche
kaum folgen konnte. Was hat denn das Mädchen? fragte sich Muttche. Ach es
ist Wohl darum, weil der arme Vogel, der sein Lebtag im Käfig gehalten wurde,
die freie Welt noch nicht gesehn hat.
Man graste den Jahrmarkt gründlich ab. man fuhr auf dem Karussell, man
ritt im Hippodrom, man besuchte eine große Extravorstellung eines weltberühmten
Zirkus, man amüsierte sich über die Ausschreier, man kaufte Pfefferkuchen und — da
war Erna verschwunden. Muttche wurde ungehalten. Wie oft hatte sie gesagt, die
jungen Mädchen möchten hübsch beisammenbleiben. Aber Erna war und blieb ver¬
schwunden. Nach einer Stunde fand man sie hinter der Budenreihe, wie sie auf der
Treppe eines Wohnwagens saß, ein Bärenbaby auf dem Schoße hatte und zusah,
wie eine junge Mutter in Trikots ihr Baby aus einem rußigen Topfe fütterte.
Aber Erna! rief Muttche.
Ist es nicht reizend? antwortete Erna, indem sie ganz selig aussah.
Aber Erna, sagte Muttche. hast du uns denn ganz vergessen?
Ach, Mnttche, erwiderte Erna, es war zu wundervoll.
Derartige Extravaganzen hinterließen immer ein paar Tage lang merkliche
Spuren in den häuslichen Geschäften. Die jungen Mädchen verschliefen das Aufstehn,
sie waren zerstreut, sie machten Fehler beim Kochen oder in den Wissenschaften.
Diesmal aber war es ärger als sonst, und Jnmfer Dorrethee wollte verzweifeln
und hielt gewaltige Strafpredigten, die freilich bei der jungen Gesellschaft keinen
Eindruck machten. Jeden Abend hörte man oben im Jumfernzwinger dumpfe Töne,
wie wenn etwas fiel, Geschrei und Händeklatschen, und wenn nach der Hausordnung
die Lampe längst hätte gelöscht sein müssen, war oben immer noch kein Friede.
Muttche begab sich also hinauf, fiel durch eine unverschloßne Hinterpforte in den
Jumferuzwinger ein und blieb sprachlos in der Tür stehn. Was sah sie? Die
Mädchen, die großen erwachsnen Mädchen spielten Zirkus. Auf dem Boden war ein
Kreidestrich gezogen, und darauf balancierte Resi in kurzem Röckchen als Seiltänzerin,
und Erna, ziemlich stark ausgezogen, hatte die kleine Mimi auf den Schultern. Die
übrigen spielten die Rolle der Musikanten und der Zuschauer.
Als Muttche unerwartet eintrat, brach der Lärm ab, und es gab eine große
Bestürzung. Nur Erna blieb harmlos in ihrer Athletenstellung stehn.
Aber Erna! rief Muttche, genierst du dich denn nicht?
Erna schaute an sich herunter und dann lachend Muttche ins Gesicht, als wollte
sie sagen: Genieren? Vor was denn? Daß ich so bin, wie ich bin?
Muttche war nun auch gnädiger als Jnmfer Dorrethee, setzte sich selbst unter
das Publikum, ließ sich die Kunststücke noch einmal vormachen, verbat sich dann aber
weitere Dummheiten.
Doch konnte sie nicht umhin, ihren lieben Mann bei der Arbeit zu stören. Der
liebe Mann stellte die lange Pfeife beiseite, faltete die Hände und nahm eine Miene
stiller Ergebung an. Diese Erna, sagte Muttchen, ist ein wunderbares Mädchen.
Sie ist warmherzig, selbstlos, gutmütig, sie ist mir so lieb wie eine Tochter, und
doch steckt in ihr etwas drin, das ich nicht beschreiben kann. Etwas fremdes. Sie
hat in manchen Dingen ein Gefühl, das ganz anders ist als das andrer junger
Mädchen. Wie kommt sie darauf, sich auszuziehn und Athletenkünste zu treiben?
'
Das will ich dir sagen, erwiderte Väterchen mit scheinbar ernster Miene. Deine
Erna ist vermutlich gar nicht die Tochter des Professors Spitzbnrt, sondern eines
Akrobaten oder Seiltänzers.
Aber Väterchen I sagte Muttche. ^
Ja das ist so, fuhr Väterchen fort, natura-in sxxsUas t'urcÄ, t-unsu us^us rscmri'it.
Das will sagen: Macht, was ihr wollt, die Natur dämpft ihr doch nicht.
Väterchen hatte in seiner Weise scherzen wollen, er ahnte nicht, wie genau er
den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. - > > ^
Der Winter verging, ohne daß besondre Ereignisse eingetreten wären. Erna
lernte kochen, sie lernte sich für Literatur interessieren, wenn es auch nicht gerade
die klassische Literatur war, die sie bevorzugte. Sie deklamierte Chamissos Löwen¬
braut mit großem Feuer, als wenn sie selbst die Löwenbraut gewesen wäre. Aber
freilich die Handarbeiten waren und blieben die schwache Seite. Es lag einmal
nicht darin. Sie hing an Muttchen mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit, wie wenn
Muttche ihre wirkliche Mutter gewesen wäre. Es gab Manche heftige Eifersuchts¬
szene zwischen ihr und ihren Freundinnen, die mich etwas von Muttche haben
wollten. Als das Ende der Pensionszeit in der Ferne sichtbar wurde, war es, als
wenn sich ein dunkler Schatten über ihr Leben ausbreitete. Sie trauerte schon lange
vor der Abschiedsstunde und klagte mit bittern Worten über ihr Verhängnis, daß
sie wieder in den Käfig zurückmüsse. Muttche redete zum Guten und erinnerte
Erna daran, wie viel sie ihren Eltern verdanke, auch diese schöne Zeit in der Pension.
Es machte wenig Eindruck. Als die alte Pastorenkutsche vor der Tür hielt und
Abschied genommen wurde, war das große, starke Mädchen ganz fassungslos, sie
stellte sich an, wie wenn ihr die Seele aus dem Leibe genommen werden sollte,
und es fehlte nicht viel daran, daß sie auch dem alten Herrn um den Hals gefallen
wäre. Muttche tröstete: Kind, du darfst wiederkommen. Wann du willst. Unser
Haus und unser Herz stehn dir immer offen. - ., .
Ich werde niemals wiederkommen, rief Erna, verzweifelt die Hände ringend.
. Du darfst schreiben, sagte Muttche. So oft du willst. Was du auf dem Herzen
hast, sprich es aus, schreibe es, und ich werde dir antworten.
Eine Zeit lang ging alles leidlich gut. Erna hatte den besten Willen, sich zu
Hause nützlich zu machen und sich in ihre Verhältnisse zu schicke». Aber ihre Briefe
wurden je weiter hin, desto unglücklicher, und es ließ sich in ihnen ein bittrer
Ton bemerken. ^ ' ^>^'?-^'„ > -'-v' ,.„,,.....
Mein liebes, gutes Muttche, schrieb Erna, könnte ich doch zu Ihnen zurück.
Ich wollte Sie lieb haben und Ihnen dienen wie eine Mngd. Ich sitze hier im
Käfig. Vater arbeitet, und Mutter ist in der Küche und gibt mir nichts zu tun.
Ich soll sticken. Sie wissen, wie fürchterlich mir das ist. Ich soll immer nur korrekte
Haltung zeigen, ich soll artige Phrasen im Munde führen und alles bewundern, was
Frau Rätin Soundso und Frau Professor Soundso sagen. Ach du lieber Gott!
Kann der liebe Gott wollen, daß der kleinste Schmetterling freie Luft hat. und
daß ich armes Menschenkind mein junges Leben lang an der Kette gehalten und
mit lauter Nichts gefüttert werde?
Muttche redete zum Guten und vermahnte zur Dankbarkeit und Geduld. Und
Erna antwortete: Ich weiß, daß ich undankbar bin; aber ich kann nicht anders.
Muttche störte ihren lieben Mann bei der Arbeit und überlegte mit ihm des
Weiten und Breiten, was zu tun sei. Man kam zu dem Schlüsse, es gehe nicht
an, in fremde Verhältnisse und fremde Erziehung hineinzureden.
So verging Jahr und Tag, da kam ein Brief, der war ganz verzweifelt und
in der höchsten Aufregung geschrieben: Es ist vorbei! Ich kann nicht mehr. Ich
muß, ich muß. Fragen Sie nicht, forschen Sie nicht, Sie sehn mich niemals wieder.
Folgendes war geschehn. Ein altes Weib war Erna auf der Straße begegnet,
hatte sie überrascht angesehn und ihren Namen genannt. Erna hatte nicht geant¬
wortet, sondern war weiter gegangen, und das Weib war hinter ihr hergelaufen
und hatte gerufen: Erna, mein Kindchen.
Ich bin Ihr Kindchen nicht, hatte Erna stolz geantwortet.
Nein, Herzchen, hatte das Weib gesagt: mein Kindchen nicht, aber des Ignaz
Klopatsch Kindchen bist du, der mit seiner Frau auf einen Tag im Zirkus den
Hals gebrochen hat. ,
Das ist nicht wahr, hatte Erna bebend erwidert.
Das ist doch wahr, Kindchen. So wahr, als du die schönen, schwarzen Augen
deiner Mutter hast. Und ich habe dich angenommen und an den Professor verkauft
und habe dich zur seinen Dame gemacht. Gib mir Geld, Goldkind.
Erna gab, was sie bei sich trug, und eilte, wie gejagt, nach Hause. Die Frau
log. sagte sie sich. Nein, sie log nicht. Aus dem tiefen Brunnen ihrer Seele stiegen
Erinnerungen auf, Schattenbilder, die durch alle Erziehung nicht hatten ausgelöscht
werden können, und die bestätigten, was die Frau gesagt hatte. Sie sagte sich,
wenn der Professor und seine Frau nicht ihre Eltern waren, und sie nicht ihre
Tochter, sondern ein angenommnes Kind war, daß sie für all das Gute, das sie
genossen hatte, um so dankbarer hätte sein müssen, aber sie empfand nichts von
Dankbarkeit, sondern nur die Last, die ihr durch eine langjährige Erziehung auf-
gelegt war, die Unfreiheit ihres Lebens, die Sklaverei der Liebe, in der sie gehalten
wurde. Sie wollte ihre Eltern bitten, ihr die Wahrheit zu sagen, aber sie verschob
es von Tag zu Tage.
Da fand eine Revision des Gymnasiums durch den Herrn Provinzialschulrat
statt. Das Resultat war unerfreulich. Die Kollegen hatten mehr oder weniger schlecht
abgeschnitten. Und am allerschlechtesten der Herr Professor selbst, der inzwischen alt
und zittrig geworden war. Der Herr Provinzialschulrat hatte von Pensionierungen
gesprochen, auf denen er zwar heute nicht bestehn wolle, die sich aber später als
notwendig erweisen würden, und das war dem Herrn Professor arg in die Knochen
gefahren.
Eines Tages trat er, gefolgt von seiner Frau, ernst und feierlich in Ernas
Zimmer und eröffnete ihr, daß Doktor Nusterbeck um sie angehalten habe.
Wer? Doktor Rusterbeck? Dieser arme Mensch mit seineu blöden Augen und
krummen Beinen? Erna hätte darüber lachen können, wenn es ihr nicht so bitter
weh ums Herz gewesen wäre. Also für den war sie gut genug.
Doktor Rüster—ebeck, fuhr der Herr Professor fort, ist ein tüchtiger und
ehren—ehafter Mann. Deine Mutter und ich — Erna sah den Herrn Professor
mit so fragenden Augen an, daß der Professor erschrak, aber es war jetzt keine Zeit,
auf die unausgesprochne Frage einzugehn — wir haben uns über—ezeugt, daß
Doktor Rüster—ebeck dich wohl versorgen und gut behandeln wird.
Erna schwieg.
Erna, sagte er, du muußt bedenken, daß wir keine reichen Leute sind. Wir
haben an dich gewandt, was wir konnten, aber von dem knappen Gehalte zu sparen,
war un—emöglich. Wenn wir einmal sterben, was bald geschehn kann, dann stehst
du Mittel—elos da.
Und da ist es doch eine Gnade vom lieben Gotte, daß er uns jetzt gerade den
Doktor Rusterbeck schickt, fügte Frau Professor hinzu.
Kann ich mir denn nicht mein Brot verdienen? fragte Erna.
Womit? fragte der Herr Professor.
Bin ich so lange erzogen worden, sagte Erna, habe ich so viel Geld gekostet
und habe noch nicht einmal so viel gelernt, um leben zu können?
Eine bittre Frage, aber es gab keine andre Antwort als die: Was du an
Sprachen, Literatur und Kunst gelernt hast, davon kannst du nicht leben. Heirate,
das ist die einzige Versorgung, die wir dir geben können.
Erna bat um Bedenkzeit.
Am andern Tage lag ein Brief auf dem Tische, worin Erna unter bittern
Tränen — man sah es dem Briefe an — bat, ihr zu verzeihen. Sie könne den
Doktor nicht heiraten. Sie dankte für alles Gute, das sie genossen hatte. Sie wolle
nicht undankbar sein, aber sie könne nicht anders. Sie wolle auch dem Herrn und
der Frau Professor nicht zur Last werden, sie wolle sich ihr Brot selbst verdienen.
Von da an war sie verschwunden. Alle Nachforschungen waren vergeblich,
vornehmlich darum, weil man eine Erna Spitzbart suchte, und diese hatte den
Namen, der nicht der ihre war, abgelegt.
Es war wieder einmal Messe auf dem Woorth. Muttche mit ihrem jungen
Volke war in die Stadt gekommen, und man bewunderte die riesigen Plakate an
den Straßenecken, auf denen Eisbären und Löwen abgebildet waren. Und in der
Mitte erblickte man das Bild der schönen Sulamith, der unübertrefflichen und noch
nie gesehenen Löwenkönigin. Als man hinaus auf den Platz kam, war das erste,
was man sah, eine Tierbude von endloser Länge. Beim Eingang in die Bude
waren riesige Bilder von allerlei wildem Getier aufgehängt und davor Papageien
und Aras, die einen greulichen Lärm machten. Auf einer Tribüne saß eine dicke
Frau bei der Kasse, und exotisch gekleidete Musikanten bliesen das Publikum an.
Und da stand Sulamith die Löwenkönigin in ihrer ganzen Schönheit in Zirkuskostüm
als große Anziehungskraft, einen Papagei auf der Schulter tragend. Und wer war
es — Muttche glaubte nicht richtig zu sehen — Erna! Erna! ihr schönes, großes,
schwarzäugiges Kind. Und ein junger braungebrannter Mann mit dem Fes auf dem
Kopfe zog mit Othelloblicken um sie herum. In demselben Augenblicke erkannte
Erna Muttche. Sie warf ihren Vogel auf seine Stange, sprang mit einem Freuden¬
rufe von der Tribüne mitten ins Publikum hinein und eilte mit ausgebreiteten
Armen auf die Frau Superintendentin zu.
Man denke sich ihre Lage. Sie, die Frau Superintendentin, eine der ersten
Damen des Kreises, auf offnem Markte von einem jungen Mädchen begrüßt, das
einen Rock anhatte, der nur eine sehr entfernte Ähnlichkeit mit einem Frauenkleide
hatte. Muttche war ja, wenn es ihr gutes Herz gebot, bereit, sich über viele Vor¬
urteile hinwegzusetzen; aber dies war denn doch etwas zu viel. Erna merkte es.
Sie ließ sich von ihrem Othello einen Mantel herabreichen, warf ihn um und
führte Muttche um die Bude herum zu ihrem Wohnungswagen, einem großen und
eleganten Bauwerke auf Rädern. Die jungen Mädchen folgten schüchtern und neu¬
gierig. Man trat ein in einen zwar engen aber prächtig eingerichteten Salon.
Alles von Mahagoni und goldglänzenden Messing. Da hing auch an der Wand
in reichem Goldrahmen das Pensionsbildnis mit Mnttche und dem Herrn Super¬
intendenten. Und da stand auch ein Sofa. Man nahm Platz, begrüßte sich, küßte
sich, und bald war eine Gruppe zusammengebracht, wie man sie manchmal zum
Dämmerstündchen gebildet hatte. Erna erzählte ihre Erlebnisse, wie sie erfahren
habe, wer ihre Eltern seien, und wie sie des Doktor Rusterbeck wegen, und weil
sie sich selbst ihr Brot verdienen wollte, geflohen sei.
Aber Kind, fragte Muttche. wie bist du denu darauf gekommen, Löwen¬
bändigerin zu werden?
Ach, Muttche, sagte Erna schalkhaft, ich hatte ja in meiner Jugend nichts
gelernt, keinen Überschlag, keine Kreuzbeuge, keinen Spagat. Und das holt man
später nicht mehr nach. Da mußte ich schon Dompteuse werden.
Aber hast du denn auch bedacht, daß du bei deinen Bestien einmal das Leben
verlieren kannst?
Das kann schon sein, erwiderte Erna lachend, aber ich habe doch zuvor gelebt.
Da kam denn auch der junge Manu mit dem Fes und den Othelloblicken und
wurde als gehorsamer Ehegemahl vorgestellt und fortgeschickt, aus dem Keller Tokaier
zu holen. Der Keller war ein großer Kasten, der nahe der Erde zwischen den vier
Rädern des Wagens hing. Von diesem Tokaier wurde so lange gekostet, bis jegliches
junge Mädchen einen Spitz hatte. Sie waren ungeheuer vergnügt und wollten
nun auch Erna mit ihren Löwen arbeiten sehen. Aber Muttche konnte sich nicht
überwinden, ihre Erna vor der gaffenden Menge im Löwenzwinger zu sehn. Und
so nahm man Abschied, nachdem Erna versprochen hatte, während die Menagerie
weiter reiste, ein paar Stunden nach Waltersroda hinauszukommen.
Und das geschah denn auch. Sie erschien als große Dame in einem eleganten
zweirädrigen Wagen, hinter sich als Groom einen Negerknaben in rotem Frack und
hohem Zylinder. Jumfer Dorrethee schlug die Hände über dem Kopfe zusammen.
Muttchen söhnte sich mit dem Lebensgange ihrer Erna aus und übernahm es, an
Professor Spitzbart zu schreiben.
Das ist die Geschichte einer sorgfältig erzognen höhern Tochter, die zuletzt
Löwenbändigerin wurde — nicht aus Not, sondern aus Passion, ein offenbarer
erzieherischer Mißerfolg. Und woran hat es gelegen? Daran, woran es oft liegt,
wenn ^etwas schief geht, daß wir Menschenkinder, wenn wir einmal ein Fündleiu
gemacht haben, sogleich tun, als hatten wir Himmel und Erde entdeckt. Kann man
denn Menschenseelen ergründen und einhegen? Kann man denn Gedanken im Netze
fangen? Ist man denn seines Erfolges sicher, wenn man Erinnerungen auslöschen
und Vorstellungen einimpfen will? Und ist nicht zuletzt die Natur stärker als
die Heugabel? ' '
Der Wahlvereiu der Liberalen, dessen parlamentarische Vertretungen den Namen
der „Freisinnigen Vereinigung" führen, hat in der letzten Woche seinen Parteitag
zu Frankfurt a. M. abgehalten. Bei dieser Gelegenheit hat sich vollzogen, was
schon seit längerer Zeit im Werke war, die Abbröckluug der kleinen Gruppe, die
sich um Dr. Theodor Barth und die ehemals nationnlsozialen Mitglieder der Frei¬
sinnigen Vereinigung Scharte. Die Gruppe spielte auf dem Parteitage ein hohes
Spiel. Sie ließ das Schicksal nicht duldend über sich kommen, sondern ergriff die
Initiative, um ihre Fraktionsgenossen mit energischem Griff in ihre Bahnen hin-
überzureißen. Man hatte kühnlich einen Antrag gestellt, der nichts Geringeres be¬
deutete als ein Mißtrauensvotum gegen die Mehrheit des Wahlvereins der Liberalen
oder mindestens ihre parlamentarische Vertretung, und als der Abgeordnete Schrader
diese wahre Bedeutung des gestellten Antrags kurz kennzeichnete, kam aus dem
Kreise der Antragsteller die stolze Antwort, daß sie ihrerseits die Verwerfung des
Antrags als ein Mißtrauensvotum der Versammlung empfinden und daraus die
volle» Konsequenzen ziehen würden. Es geschah, was kommen mußte. Die Ver¬
sammlung lehnte den ominösen Antrag, der die Abstimmung der Reichstagsfrnktion
der Freisinnigen Vereinigung über den Paragraphen 7 des Vereinsgesetzes tadeln
sollte, mit großer Mehrheit ab, und nun blieb dem Häuflein um Barth nichts andres
übrig, als wirklich in der angekündigten Weise die Konsequenzen zu ziehen, d. h.
zunächst aus dem Wahlverein der Liberalen aufzutreten.
"
Sind das nun wirklich die „vollen Konsequenzen, von denen vor der Ab¬
stimmung die Rede war? Zunächst ist es doch nur die erste Hälfte dessen, was
geschehn soll, der negative Teil. Die Herren haben mit ihrem Austritt bekundet,
was sie nicht wollen. Aber was sie wollen, das ist vorläufig noch recht unklar.
Die alte Wohnung ist verlassen, aber die neue noch nicht gemietet, und ob die
Mittel reichen, ein neues Haus zu bauen, ist recht zweifelhaft. Man weiß auch
nicht recht, worauf sich eine etwa neu zu gründende Partei stützen sollte. Dazu
mangelt es den Gründen dieser „Sezession" viel zu sehr an positivem Inhalt. Es
sind eben politische Obdachlose, die zwischen Liberalismus und Sozialdemokratie
umherirren, ohne zunächst festen Fuß fassen zu können.
Vor allem fehlt jede Übersicht, was eigentlich hinter der Gruppe steht, die
soeben ihre Beziehungen zu der Partei, der sie bisher angehörte, gelöst hat. Als
Delegierter auf einer Parteiversammlung oder als Mitglied einer parlamentarischen
Fraktion hat der einzelne Politiker seinen vollen prozentualen Anteil an dem Ge¬
samtgewicht der Partei, die er mit Pertritt. Wenn eine offizielle Parteiversammlnng
von dreihundert Mitgliedern — um eine ganz willkürlich gewählte Zahl zu nennen —
besucht ist und hundert Mitglieder einer solchen anerkannten Parteivertretung eine
abweichende Meinung äußern, so hat das eine unleugbare Bedeutung für die ganze
Partei, die nnter dem Eindruck stehn wird, daß sich ein Drittel ihrer gewissermaßen
offiziellen Vertretung von den andern zwei Dritteln in einer bestimmten Frage
getrennt hat. Sobald aber diese hundert Mitglieder aus der Parteiorganisation
förmlich ausscheide», können sie nicht mehr ohne weiteres als Vertreter eines ent¬
sprechenden Brnchteils der Partei gelten, sondern es sind zunächst nur hundert
Leute, die andrer Meinung sind. Ob sich eine entsprechende Partei hinter sie stellt,
das muß abgewartet werden. Möglich ist es natürlich, daß sich eine starke Gefolg¬
schaft um sie sammelt, aber einstweilen können ans den Vorgängen ans dem Partei¬
tage noch gar keine Schlüsse gezogen werden.
Eine gewisse Wahrscheinlichkeitsrechnung läßt sich allerdings anstellen. Sie
liefert jedoch kein Ergebnis, das für das Häuflein der Sezession besonders ver¬
heißungsvoll wäre. Über Zahl und Namen der aus dem Wahlverein der Liberalen
ausgcschiednen . liegt noch der Schleier des Geheimnisses; man kennt bis jetzt nur
die wenigen Namen, die in der letzten Zeit viel von sich reden gemacht haben.
Wir betonen absichtlich: es sind Namen, nicht etwa Führer. Diese Bezeichnung
kann allenfalls nur Dr. Theodor Barth beanspruchen, dem auch der schärfste Gegner
zugestehn kaun, daß ihm seine parlamentarische Erfahrung und der Umfang seiner bis¬
herigen Tätigkeit für die Partei, zu der er sich bekannt hat, vor allem aber eine
immer zum Ausdruck gebrachte, bestimmte politische Willensrichtung eine Führer¬
rolle gesichert haben. Aber die Herren von Gerlach, Potthoff und Breitscheid
kann man wohl kaum als „führende" Persönlichkeiten gelten lassen. Wir be¬
absichtigen mit dieser Feststellung keine persönliche Herabsetzung, sondern wollen nur
damit etwas Charakteristisches feststellen, was uns für die Beurteilung des recht
bedeutsamen und vielleicht folgenreichen Vorgangs, von dem wir hier sprechen,
wichtig scheint. Der Begriff eines politischen Führers setzt voraus, daß jemand
gleichgestimmte Massen um sich zu sammeln vermag. Dazu gehören scharf um-
rissene politische Charaktere, deren Meinungen wie bekannte und weithin sichtbar
aufgerichtete Wahrzeichen wirken, und denen eine gewisse Art von Einseitigkeit nicht
fremd sein darf. Leuten aber, deren Subjektivismus niemals über eine allgemeine
Politische Grundstimmung hinauskommt, sich niemals zu einem stetigen und ab¬
gegrenzten Willen entwickelt und infolgedessen ^ auch niemals in einer Partei ein
dauerndes Wirkungsfeld, fondern immer nur Anlehnung und Unterschlupf findet —
solche Leute werden, so sehr sie auch als fleißige Redner in Versammlungen und
Parlamenten, als tätige Mitarbeiter der Presse bekannt sein und im Vordergründe
stehn mögen, doch keine rechten politischen Führer sein. Sie schillern in allen
Farben; ihr schrankenloser Individualismus spielt ihnen immer wieder einen Streich,
und deshalb werden sie regelmäßig die Verderber der Parteiorganisationen, denen
sie sich anschließen. Dabei sind es im Grunde Männer von Talent und Wissen,
aber ein politischer Charakterfehler macht sie zu Verkörperungen der Disziplin¬
losigkeit. Eine bekannte, halb scherzhafte Redensart behauptet zwar, daß Politik
den Charakter verdirbt, aber das ist nicht wahr; im Gegenteil, Politik fordert
Charaktere. Es ist nichts so bezeichnend, als daß sich Friedrich Naumann diesmal
so offenkundig von den Genossen früherer Kampftage im Nationalsozialen Verein
getrennt hat. , Naumann ist eben ein politischer Charakter, darum hat er zuletzt
doch die Erkenntnis gewonnen, dnß man politische Dinge nicht nach Art der Eigen¬
brötler meistern kann, indem man die eigne Individualität dem Weltlauf entgegen¬
stellt und ihr eine Rolle zuweist, die nur selten einmal dem Genie vergönnt ist.
Politik steht mehr als jedes andre Geschäft unter der Devise: „Ich bien'", und es
ist auch starken Willensmenschen nicht immer möglich, sich so durchzusetzen, wie sie
gern möchten. Nur wo die Massen schon von einem gemeinsamen Empfinden und
Sehnen erfaßt sind, vermag eine Persönlichkeit, die der Masse den Puls zu fühlen
und ihre unbestimmten Regungen durch Überlegenheit und Harmonie im Denken
und Wollen in einen klaren und starken Willen umzusetzen versteht, eine beherrschende
Stellung zu gewinnen. Das ist bei uns wegen der Eigenart unsers Volks und
unsrer Verhältnisse beinahe unmöglich, wo nicht irgendeine besondre Autorität noch
hinzukommt. Aber ganz ausgeschlossen ist es selbst für eine hochbegabte Persönlich¬
keit, nur mit neuen Ideen eine Volksbewegung hervorzurufen oder eine schon vor-
handne in andre Bahnen zu lenken. Naumann hat diese Erfahrung nun reichlich
gemacht und fängt jetzt an, anders als bisher mit gegebnen Größen zu rechnen,
ohne seinen politischen Idealen untreu zu werden. Vielleicht wäre er früher dahin
und im ganzen weiter gekommen, wenn er damals, als er von der Kanzel in die
politische Arena stieg, mit seinem reichen Geist und seinem warmen Herzen nicht
in den Bannkreis der politischen Irrlichter geraten wäre, die ihn solange um-
tanzten, und von denen er, wie es scheint, jetzt glücklich losgekommen ist.
Herr Barth denkt, wie er sich kürzlich ausgesprochen hat, selbst nicht daran,
an die Gründung einer neuen Partei zu gehn. Aber er wird eine eifrige Werbe¬
tätigkeit für die Richtung entfalten, in der er das Heil des Liberalismus sieht. Für
ihn liegt die Zukunft des Liberalismus in der Energie, mit der die konservativen
Kräfte und Regungen im Staatsleben — alles, was in der Kunstsprache des politischen
Agitators mit dem Worte „Reaktion" zusammengefaßt wird, und wobei sich jeder
Politisch Halbgebildete nach Belieben vorstellen kann, was ihm zufällig irgendwie
widerwärtig ist — niedergekämpft werden. Zu diesem Kampfe braucht er die
Bundesgenossenschaft der Sozialdemokratie, und so verwischt sich für ihn alles Gegen¬
sätzliche, was zwischen Liberalismus und Sozialismus liegt. Es stört ihn auch nicht
weiter, daß die Sozialdemokratie ihrerseits diese Gemeinschaft zurückweist und nicht
müde wird, zu predigen, daß die Sozialdemokratie für sich allein der homogenen
Masse der bürgerlichen Parteien gegenübersteht, und daß auch Herr Theodor Barth
und die Seinen schlechte und rechte Anhänger der kapitalistischen Weltanschauung
sind. Herr Barth aber stellt sich auf den Standpunkt: „Wenn ich dich liebe, was gehts
dich an?" Er wird sich nicht abschrecken lassen, die Verbrüderung mit der Sozial¬
demokratie wie bisher weiter zu betreiben. Eben jetzt jedoch ist im Liberalismus
sehr stark das Bewußtsein erwacht, welche Kluft ihn von der sozialistischen An¬
schauung trennt. Die Ausscheidung der Gruppe um Barth war also eine Not¬
wendigkeit.
Damit ist zugleich die Schranke zwischen der Freisinnigen Volkspartei und der
Freisinnigen Vereinigung so morsch geworden, daß sie wohl über kurz oder lang
einmal fallen wird. Noch denkt man freilich nicht daran, die Trennung der beiden
Fraktionen und Parteirichtungen formell aufzuheben, aber es würde tatsächlich keinen
Sinn haben, sie noch allzulange fortzusetzen. Ein geschichtlicher Rückblick zeigt noch
deutlicher, wie wenig im Gründe die Parteiprinzipien selbst und wieviel dafür die
Parteitakti! Anteil an dieser Trennung hatte. Einst stand die Freisinnige Ver¬
einigung oder vielmehr die Politikergruppe, aus der die jetzt so bezeichnete Fraktion
hervorgegangen ist, rechts von der Freisinnigen Volkspartei als eine Art von Binde¬
glied zwischen dieser und den Nationalliberalen. Später steht sie auf der andern
Seite des alten Freisinns, gewissermaßen ein Übergang vom Freisinn zur Sozial-
demokratie. Einst waren die Angehörigen der Freisinnigen Volkspartei die starren
Prinzipienmänner, während die Freisinnige Vereinigung die opportunistische Richtung
darstellte. Jetzt ist es umgekehrt. Und ebenso gab es eine Zeit, wo die Gesinnungs¬
genossen des Dr. Barth die Kerntrupppe des Manchestertums bildeten; jetzt steht
diese Gruppe in ihren sozialpolitischen Anschauungen der Sozialdemokratie am nächsten.
Das sind scheinbar unverständliche Wandlungen, die sich doch bei näherer Kenntnis
sehr leicht aus dem Verlauf der politischen Entwicklung erklären. Der äußere Hergang
war bekanntlich der. daß sich im Jahre 1880 infolge der Bismarckischen Wirtschafts¬
politik aus der großen nationalliberalen Partei die Gruppe der Sezessionisten los¬
löste, die sich dann 1884 mit der alten Fortschrittspartei zu der deutschfreisinnigen
Partei verschmolz. Diese Partei fiel aber im Jahre 1893 wieder in die Freisinnige
Volkspartet und die Freisinnige Vereinigung auseinander, weil die Mitglieder der
ehemaligen Sezessioniftenpartei bei der Abstimmung über die Militärvorlage ihre
nationalliberale Vergangenheit nicht verleugnen konnten und wollten. Wenn aber
bei dieser Gelegenheit — wie auch später bei Heer- und Flottenfragen — die Volks¬
partei prinzipienstarr, die Vereinigung opportunistisch erschien, so lag das mehr an
den Persönlichkeiten und der geschichtlichen Entwicklung der Umstände als an dem
innern Wesen der Parteien. Denn die jetzige Freisinnige Vereinigung mit ihren
frühern Gestalten umfaßte von jeher die Elemente, deren Liberalismus weniger
w reinpolitischen als in wirtschaftlichen Überzeugungen wurzelte. Diese Überzeugungen
führten sie, als ihnen nach 1866 die Ziele von Bismarcks deutscher Politik klar
geworden waren, in der Zeit der Begründung und des ersten Aufbaus der deutschen
Einheit zu begeisterter Mitarbeit an Bismarcks Werk und im Schwunge dieser Be¬
geisterung auch zu stärkerer Betonung des nationalen Elements in ihrem Liberalis¬
mus. Das drückte sich in ihrem Anschluß an die Nationnlliberaleu aus, im Gegen¬
satz zu den Fortschrittlern, die die Sache des Liberalismus nur in der Erkämpfung
reinpolitischer Errungenschaften fördern zu können glaubten. Mit einer neuen Wen¬
dung der Wirtschaftspolitik wurde auch die Sezession zur Notwendigkeit, die dann
bald darauf die Vereinigung mit der Fortschrittspartei unter der Fahne des ent¬
schieden Liberalismus ermöglichte. Aber immer lag die Eigenheit dieser politischen
Gruppe darin, daß sie ihren Schwerpunkt auf wirtschaftlichem Gebiete fand. Und
dadurch wurde sie auch leichter als die Gruppe der alten Fortschrittler zu einer
wirtschaftlichen Interessenvertretung mit ausgesprochen kapitalistischen Charakter.
Es war die Partei der reichen Leute, die in dem alten Agrar- und Polizeistaat
nicht genug wirtschaftliche Bewegungsfreiheit fanden, während die Ideale der bürger¬
lichen Demokratie um des politischen Grundsatzes willen in der Freisinnigen Volks¬
partei gepflegt wurden. Daher der traditionelle Eigensinn dieser Partei in Heer-
und Flottenfragen, während die Freisinnige Vereinigung gerade in diesem Punkte
größeres Verständnis zeigte. Und mit diesem Wesensunterschied hängt es auch zu¬
sammen, daß die Vereinigung in sozialpolitischen Fragen radikaler wurde als die
Volkspartei, die den Unterschied zwischen Liberalismus und Sozialismus stets schärfer
empfand. Vom wirtschaftlichen Liberalismus zum Sozialismus ist der Schritt
kleiner als vom politischen aus. Die Theorie des Freihandels, der Gegensatz
gegen den Agrarstaat. die kapitalistische Abneigung gegen innere Kämpfe auf dem
eignen Interessengebiet — das alles legte den Gedanken nahe: wir müssen uns
mit dem Sozialismus verständigen. Aber eben die Erfahrungen, die in diesem
Stadium der Dinge gemacht worden sind, haben auch wieder in beiden Richtungen
des entschiednen Liberalismus zu der Erkenntnis geführt, daß es auf dem bis¬
herigen Wege nicht geht, wenn der Liberalismus überhaupt wieder lebensfähig ge¬
macht werden soll. Der Wahlverein der Liberalen hat die „soziallibernlen" Dema¬
gogen, die sich an ihn gehängt hatten, wieder abgeschüttelt, und die Freisinnige
Volkspartei hat sich aus dem Bann fehlerhafter Traditionen herausgearbeitet.
Das muß dahin führen, daß sich die beiden getrennten Richtungen wieder einmal
zusammenfinden.
Während sich unsre innerpolitischen Verhältnisse in erfreulicher Weise klären,
wälzen sich im Anschluß an die von Maximilian Horden verursachten Prozesse wieder
trübe Schmutzfinken durch unsre Presse. Der neue Prozeß in München, in dem es
Horden gelungen ist, eine schwere Belastung des Fürsten Eulenburg durch die Aus¬
sagen zweier Zeugen herbeizuführen, rührt wieder die ekelhaften Erörterungen auf,
die man schon glücklich überwunden zu haben glaubte. Die Sache ist nach dieser letzten
Wendung noch nicht genug geklärt, als daß man dazu Stellung nehmen könnte.
Nur muß Einspruch dagegen erhoben werden, daß Harden jetzt, wo ihm ein Streich
gelungen zu sein scheint, sofort wieder von seinen Freunden als Retter des Vater¬
landes gepriesen wird. Hatte Harden wirklich von Anfang an so viel belastendes
Material, wie er jetzt zu haben behauptet, und glaubte er wirklich an die ver¬
nichtende Kraft dieser Zeugnisse, dann konnte er den vorgeblichen patriotischen Zweck
auch ohne den öffentlichen Skandal, den er in Szene gesetzt hat, erreichen. Der
ganze Verlauf der Sache spricht aber dafür, daß ihm vieles erst zugetragen worden
ist, als er seinen Feldzug schon begonnen hatte. Dann liegt aber noch weniger
Grund vor, ihn wegen seines Vorgehens zu preisen. Der Schaden, der durch die
häßliche und sensationslüsterne Behandlung dieses Falles gestiftet worden ist, wiegt
viel schwerer als der vermeintliche Nutzen, der durch die Beseitigung der kompro¬
mittierten Männer aus hohen Stellungen erreicht worden ist. Und man soll doch
Leuten, die Harden kennen, nicht weismachen wollen, daß dieser Mann die Wir¬
kungen seines Vorgehens nicht ganz genau berechnet haben sollte.
Vor kurzem sind auch die beiden Abkommen über den ses-tus imo in der Ostsee und
der Nordsee unterzeichnet worden. Wenn diese internationalen Verträge nicht überall
besonders hoch eingeschätzt werden, so kann man sich darüber nicht Wundern. Schließlich
gelten alle solche Abmachungen nur so lange, als sie eben den Interessen der Be¬
teiligten entsprechen, und deshalb schätzt man gewöhnlich nur die unter ihnen, die
etwas Neues bringen und daher eine sofortige positive Ausführung fordern. Aber
daß alles so bleiben soll, wie es ist, setzt man ungern durch einen besondern Ver¬
trag fest, der, wenn er sich nicht von selbst versteht, doch meist gebrochen wird.
Das ist soweit ganz richtig, aber mitunter haben solche Abmachungen, so über¬
flüssig sie auf den ersten Blick zu sein scheinen, doch einen positiven Wert. Nämlich
dann, wenn über Interessen und Meinungen der beteiligten Mächte wirklich falsche
Auffassungen gegenseitig verbreitet sind, und eine Klärung und Aussprache, die zu
einer bestimmten Einigung und förmlichen Verpflichtung führt, schädliche Einflüsse
eine Zeit lang wenigstens außer Kurs setzen kann. Die beiden Abkommen bergen
verschiedene Feststellungen, deren gegenseitige Anerkennung durch alle beteiligten
Mächte beruhigend wirken muß. Was die Ostsee betrifft, so erinnere man sich der
künstlich verbreiteten und an Stellen, wo sie uns sehr unbequem waren, wirklich
geglaubten Gerüchte, daß Deutschland die Ostsee zu einem in-irs olausum machen wolle,
ferner der Beunruhigungen, die sich an die Unklarheiten über die Absichten Ru߬
lands in der Frage der Befestigung der Alandsinseln knüpften. Das Ostseeabkommen,
das auf Anregung Rußlands abgeschlossen worden ist. schafft doch diese Fragen
so weit aus der Welt, daß sie nicht mehr zur Unterlage von vagen Beunruhigungen
dienen können. Das Nordseeabkommen aber wirkt zunächst als weiteres Beruhigungs¬
mittel zwischen Deutschland und Großbritannien, da es verschiednen Bestrebungen
und Treibereien in England tatsächlich, den Boden entzieht und wenigstens für die
nächste Zeit einen dicken Strich durch die nicht zu unterschätzenden Machenschaften
zieht, die auf der künstlich erregten Besorgnis wegen angeblicher Bedrohung Hollands
und Belgiens durch Deutschland beruhen. Außerdem möge man daran denken,
daß die Beteiligung Frankreichs an einem durch Deutschland angeregten Vertrage
auch einen gewissen Wert hat und im Sinne einer Verringerung vorhandner
Spannungen wirken muß. Wir haben deshalb, ohne uns zu verhehlen, daß der
Nutzen solcher Verträge leicht zu erkennende Grenzen hat, doch keine Veranlassung,
sie mit solcher Geringschätzung zu behandeln, wie das von manchen Seiten geschehn
ist. Denn es werden dadurch mancherlei Fragen und Stimmungen berührt, die
auf die Weltlage von Einfluß sind.
B
ei allen Versuchen, die Finanzen des Reichs
durch neue Steuern in Ordnung zu bringen, hat man in der Regel beobachten
können, daß die Interessenten, die sich durch die Steuerprojekte bedroht fühlten,
nach dem Motive: „Heiliger Florian, verschon' mein Haus, zünd' andere an!" im
Volke und in den Kreisen der Abgeordneten die Meinung zu verbreiten suchten,
als sei gerade der von ihnen vertretne Erwerbszweig völlig ungeeignet, zur
Minderung der Reichsfinanznot herangezogen zu werden. Wenn schon neue Steuern
nötig seien, dann möge man sie bei andern suchen, nur keinesfalls bei ihnen.
Wo die öffentlichen Interessen bleiben, wenn jeder, sobald es sich ums Zahlen
handelt, mit Fingern auf den andern weist, davon ist freilich dabei nicht die Rede
gewesen.
In dieser Richtung hat sich von jeher der Deutsche Tabakverein besonders
hervorgetan, dem es auch vor drei Jahren geglückt ist, die der gesamten Tabak¬
industrie damals zugedachte Steuererhöhung für den Hauptteil der Industrie ab¬
zuwehren; gegen die Abschiebung eines Teiles der Mehrbelastung auf den unbe¬
quemen Konkurrenten, die Zigarettentndustrie, hatte er freilich nichts einzuwenden.
Schon die Möglichkeit, daß die Zigarrenbanderolesteuer unter den Steuervor¬
schlägen der Reichsregierung im Spätjahre wieder erscheinen könnte, läßt den Tabak¬
verein bereits wieder mobil machen. Es werden Versammlungen der Bezirksvereine
organisiert, mit der Aufgabe, die Reichstagsabgeordneten zu „bearbeiten", und Anfang
Mai findet eine außerordentliche Hauptversammlung des Deutschen Tabakvereins in
Berlin statt, die dem Reichstage selbst zu imponieren bestimmt ist. Wir teilen unsern
Lesern ein hierauf bezügliches Zirkular des Vorstandes des Deutschen Tabakvereins
vom 2. April d. I. mit und machen dabei besonders auf die gesperrt gedruckten
Zeilen aufmerksam, die einerseits die Art der Kampfesweise kennzeichnen und andrer¬
seits die bemerkenswerte Bestätigung enthalten, daß sich auch in den Reihen des Tabak¬
gewerbes Leute finden, die eine höhere Besteuerung des Tabaks für angängig halten.
Wie es überhaupt möglich sein soll, Ordnung in die Reichsfinanzen zu bringen,
wenn nicht einmal so völlig entbehrliche Genußmittel wie der Tabak, die im Auslande
Hunderte von Millionen zu den Staatsausgaben beitragen, in Deutschland von der
Steuer nicht weiter getroffen werden dürfen, darüber machen sich die Herren wenig
Sorge. Das Zirkular hat folgenden Wortlaut:
„Bet Gelegenheit der Sitzungen des deutschen Handelstags in Berlin hat eine
Besprechung von Mitgliedern des Vorstandes und der Denkschriftskommission unsers
Vereins stattgefunden, in welcher es für nötig erachtet wurde, sofort eine Eingabe,
betreffend die Lage des deutschen Tabakgewerbes und die Tabaksteuerfrage, an den
Reichstag und an den Bundesrat zu richten.
Sie erhalten in der Anlage einen Abdruck dieser Eingabe zur gefälligen
Kenntnisnahme. Vor Schluß der Reichstagssession, aber vermutlich erst nach statt¬
gehabter preußischer Landtagswahl, werden Verhandlungen zwischen dem Reichs¬
kanzler und den Führern der Blockparteien über die Grundlagen der im Herbst
dem Reichstage vorzulegenden Retchsfincmzreform stattfinden. Wir glauben Grund
zu der Annahme zu haben, daß bei richtigem Vorgehen unsrerseits eine höhere Be¬
lastung des Tabaks in diese Finanzreform nicht aufgenommen werden wird. Zu
dem Behufe wird es allerdings nötig sein, daß die Neichstcigsabgeordneten von
Tabakinteressenten ihres Wahlkreises vor Beginn dieser Verhandlungen besucht werden,
um ihnen die gegen die höhere Belastung des Tabaks sprechenden Gründe vorzu¬
tragen. Es ist deshalb für die Zeit nach Wiederzusammentritt des Reichstags nach
den Osterferien eine außerordentliche Hauptversammlung des Deutschen Tabakvereins
in Berlin in Aussicht genommen, welcher Versammlungen in den einzelnen Abteilungen
vorausgehn sollen. Verhandlungen wegen der Festsetzung dieser Abteilungsver¬
sammlungen finden soeben mit den Vorsitzenden der Abteilungen statt. Weiteres
wird Ihnen in einigen Tagen mitgeteilt werden.
Wir bitten Sie dringend, sich für die auf diese Weise in die Wege geleitete
Abwehrtätigkeit zur Verfügung zu stellen und an den oben erwähnten Versamm¬
lungen teilzunehmen, auch dafür nach Kräften besorgt zu sein, daß nicht nur die
übrigen Mitglieder unsers Vereins, sondern auch solche Kollegen, welche dem Ver¬
eine nicht angehören, als Gäste zu den Abteilungsversammlungen erscheinen. Es ist
uns mitgeteilt worden, daß fortgesetzt diesem oder jenem Reichstags¬
abgeordneten von Tabakinteressenten gesagt wird, der Tabak könne
oder müsse höher besteuert werden, da man nur auf diese Weise zu
bessern Preisen kommen könne. Daß eine solche Auffassung der Tabaksteuer¬
frage eine vollständig verfehlte ist, und daß dabei an die schweren Verluste und
an die Erschütterung der Existenz der meisten unsrer Kollegen in der Übergangszeit
nicht gedacht wird, braucht nicht näher dargelegt zu werden. Selbst derjenige,
welcher der unseres Erachtens unter allen Umständen irrigen Mei¬
nung ist, daß ihm eine Erhöhung der Steuer auf die Dauer nicht
schaden könne, begeht Verrat am deutschen Tabakgewerbe, wenn er
diesem Gedanken einem Abgeordneten gegenüber Ausdruck verleiht.
Wir fügen deshalb die weitere Bitte hinzu, im Kreise Ihrer Kollegen solchen Ge¬
danken mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten, um zu verhüten, daß schließlich unsre
durchaus aussichtsreiche Abwehr aus solchem törichten Vorgehen erfolglos wird."
Durch die meisten Blätter ging kürzlich eine, wie
es hieß, der Deutschen Jourualpost entnommne Mitteilung, nach der die Sitzung
des Gesamtvorstandes des Flottenvereins am 12. erregt verlaufen sei, und es nun¬
mehr zu einer Spaltung im Verein kommen werde.
Wie wir aus guter Quelle erfahren, ist diese Meldung durchaus unrichtig.
Die von etwa 70 bis 80 Herren besuchte Versammlung im Hotel de Rome
zu Berlin verlief im Gegenteil sehr ruhig, die Verhandlungen waren sachlich und
von durchaus versöhnlichem Geist getragen.
Die dort gefaßten und vom geschäftsführenden Ausschuß der Presse über¬
mittelten Beschlüsse lauteten bekanntlich:
1. Gemäß Paragraph 2 seiner Satzungen ist der Deutsche Flottenverein ein
Verein, der zwecks Schaffung einer starken Flotte vaterländische Aufgaben zu ver¬
folgen hat und über den Parteien und Konfessionen steht.
2. Nachdem die drei anwesenden Mitglieder des alten Präsidiums die Er¬
klärung abgegeben hatten, daß sie unter den jetzigen Verhältnissen eine Wieder¬
wahl nicht annehmen könnten, wurde der Antrag der Thüringer Landesverbände
auf Wiederwahl des alten Präsidiums abgelehnt und eine Kommission zur Vor¬
bereitung der Wahl eines neuen Präsidiums gewählt.
Was mit dem ersten Satz gemeint wird, ist vielleicht nicht ohne weiteres
verständlich, gewinnt aber sofort Bedeutung, wenn man sich erinnert, welchen breiten
Raum in den frühern Hauptversammlungen des Vereins die Erörterungen über
die Frage „politisch" oder „nicht politisch" und „was bedeutet politisch" einge¬
nommen haben.
Wer die alten Sprachen kennt, weiß, daß auch heute das Wort nicht anders
ausgelegt werden kann als in der Bedeutung: wer sich mit den öffentlichen An¬
gelegenheiten des Staatslebens befaßt, treibt Politik.
Wenn in frühern Resolutionen der Verein ausdrücklich als „ unpolitisch"-
nationaler bezeichnet wurde, so hatte das seine besondern Gründe; es hatte dies
ober auch eine gewisse Berechtigung, über die man sich klar wird, wenn man an
das damals geltende Vereinsgesetz denkt.
Der Streit darüber, ob der Verein ein politischer oder unpolitischer ist, und
ob er sich dementsprechend bezeichnen soll, wird aus der Welt geschafft, wenn man
dieses Wort einfach vermeidet.
Seit kurzem ist das neue Vereinsgesetz angenommen, und so fällt auch die
letzte Rücksicht fort, in Beschlüssen oder Satzungen dem Verein ausdrücklich einen
bestimmten Charakter zuzusprechen.
Schließlich sollte man doch bedenken, daß in der Praxis, im Leben, der
Richter und die sonst zuständigen Behörden Vorkommendenfalls darüber werden zu
befinden haben, ob sie den Verein als einen politischen oder unpolitischen betrachten
wollen.
Wenn die Antragsteller, die das Wort nationalpolitisch in den Satzungen lesen
Wollen, damit beabsichtigen, die künftige Tätigkeit des Vereins zu charakterisieren,
so muß man ihnen entgegenhalten, daß es mehr auf die Handhabung eines Gesetzes
als auf den Buchstaben ankommt, auf den Geist, der darin wohnt. Und in dieser
Beziehung läßt die alte Fassung des Paragraphen 2 nichts zu wünschen übrig.
Der Verein kann die Gesinnung, die ihn beseelt, in der Wahl des neuen Präsidiums
zum Ausdruck bringen."
Wir sind auf die Erwiderung gefaßt: „Dann wollen wir das alte Präsidium!
So sehr auch der Rücktritt des bewährten alten Präsidiums von verschiednen
Gesichtspunkten aus auf das schmerzlichste zu bedauern ist und auch von uns be¬
dauert wird, fragen wir uns doch ernstlich: sollte nicht ein neues Präsidium zu
finden sein, das die Aufgaben des alten um so leichter zu erfüllen imstande ist,
da ihm nicht von vornherein scharfe Voreingenommenheit entgegentritt?
Es ist von der Kasseler Tagung her bekannt, welche und wieviele persönlichen
Verstimmungen in den Ereignissen eine Rolle gespielt haben.
Diese zu beseitigen, die Bahn freizumachen zur friedlichen Weiterentwicklung
des Vereins, hat das alte Präsidium sein Amt niedergelegt. Soll nun dieses Opfer
Vergeblich gebracht sein?
Uns scheint es, gerade die Treue, die Anhänglichkeit für das alte Präsidium
sollte es seiner Gefolgschaft verbieten, die Tat als überflüssig hinzustellen, und es
zeugt von wenig Achtung vor dem Entschluß, der den Herren nicht leicht gefallen
ist, wenn man ihn zu widerrufen trachtet.
Überdies ist es mehrfach, und nicht nur von den drei in der Versammlung
anwesenden Mitgliedern des alten Präsidiums, bestimmt ausgesprochen worden, daß
das gesamte alte Präsidium eine Wiederwahl nicht annehmen würde.
Wie soll man dann nur die Bestrebungen verstehn, die darauf hinausgehn,
ein einziges Mitglied wiederzuwählen, und zwar gerade das, das den Sturz des
Präsidiums verursachte, weil es nicht vermochte, seine eigne Person im Interesse des
Ganzen zurücktreten zu lassen?
Mau kann die Ereignisse vor Kassel und in Kassel aufs lebhafteste bedauern,
man kann der treueste Anhänger des alten Präsidiums sein — wohlverstanden,
des Präsidiums, nicht eines einzelnen seiner Mitglieder —, aber wenn man sich
nicht absichtlich der Erkenntnis verschließt, so muß man einsehen, daß eine Wieder¬
wahl nicht möglich ist.
Vor allem: die Verhältnisse, die das Präsidium zur Amtsnieder¬
legung veranlaßten, sind noch unverändert.
Dieser Erwägung hat, so scheint es, sich auch der Gesamtvorstand nicht ver¬
schließen können, um so weniger, als auch Vorgänge in Betracht zu ziehen sind,
die nicht allgemein bekannt geworden sind.
Wenn es, wie vereinzelt in der Tagespresse verlautete, Strömungen gibt, die
den Verein auflösen und einen neuen politisch-agitatorischen gründen wollen, der
sich seiner Natur nach gegebnenfalls auch in den Kampf der Parteipolitik mischen
muß, so ist zweierlei zu bedenken.
Nationale Wahlen sicherzustellen — dieses Ziel verfolgt seit Jahren der Reichs¬
wahlverband; wer das will, braucht sich diesem Verbände ja nur anzuschließen.
Wer aber einen Flottenverein auflösen und einen andern Flottenverein gründen
will, scheint zum mindesten einen Punkt außer acht zu lassen.
Die sogenannte „Krisis" im Flottenverein hat weitgehende Mißstimmung er¬
zeugt, uicht zum mindesten im Verein selbst.
Der Verein verteilt sich mit seinen mehr als 3000 Ortsgruppen zum größern
Teil auf die ländliche Bevölkerung und die kleinen Städte.
In den meisten Orten, zumal den weiter abgelegnen, hat man nicht so viel
Interesse am Streit genommen, daß man sich über Anfang, Schuld oder Nichtschuld
der Parteien unterrichtet hätte.
Man ist aber verstimmt über die MißHelligkeiten, und wer noch nicht aus
dem Verein ausgetreten ist, wünscht möglichst baldigen Frieden und Beseitigung
des Unerquicklichen.
Wenn es nun zur Auflösung kommt, und sich die große Masse der Mitglieder
plötzlich in der Lage sieht, dem einen Verein nicht mehr anzugehören, einen« andern
beitreten zu sollen, alles nur infolge einiger Vorgänge, die nicht näher bekannt,
aber unerquicklich waren — so spricht alle Wahrscheinlichkeit dafür, daß die meisten,
in ärgerlicher Stimmung, von solcher Mitgliedschaft überhaupt nichts werden wissen
wollen.
Ein Heerführer darf bedingungslos über seine Truppen verfügen, mit der
Gefolgschaft freier Bürger in einem Verein und mit der Anhängerschaft einer be¬
liebten Persönlichkeit ist es ein ander Ding.
Die der Öffentlichkeit übermittelte Notiz des geschäftsführenden Ausschusses über
die Berliner Vorstandssitzung des Flottenvereins ist kurz, aber inhaltschwer.
Wir entnehmen daraus, daß es gelungen ist, über die schwebenden persön¬
lichen und sachlichen Streitfragen Einigung zu erreichen; eine Kommission, der Mit¬
glieder aller Parteien angehören, ist ernannt worden, um die Neuwahl eines Präsi¬
diums vorzubereiten. Es steht zu hoffen, daß die geeigneten Männer gefunden
werden, und es hat allen Anschein, daß nun das stolze Schiff des Flottenvereins
den Kurs aufnehmen wird, den zu steuern sein altes Präsidium ihm durch seine
hochherzige Tat ermöglicht hat.
Ein Jahr- und Lesebuch. Unter Mitwirkung zahl¬
reicher Fachleute herausgegeben von or. Ernst von Halle, Professor an der
Universität Berlin. Wirklichem Admiralitätsrat. 2. Jahrgang 1907. 2. Teil: Deutsch¬
land. Leipzig und Berlin. B, G. Teubner, 1907. Preis 4 Mark.
Den zweiten Teil des unsern Lesern hinlänglich empfohlnen Jahrbuchs eröffnet
eine einleitende Übersicht der innern und äußern Wirtschaftspolitik von Dr. Gustav
Rolosf, in der die Marokkopolitik, die im Laufe des Berichtsjahrs abgeschlossenen
Handelsverträge, die Entwicklung der Kolonialgebiete, die Tarifverträge, die Regelung
der Schiffahrtsabgaben, die Reichssteuerreform sowie wirtschaftspolitische Maßregeln
Preußens und einiger andern Einzelstaaten kurz behandelt werden. Über die
Wendung in der Kolonialpolitik, die Ende 1906 eingetreten ist, wird gesagt: „Im
großen Publikum war es oomrauniL oxiräo, daß sich das deutsche Kapital von den
Kolonien fernhalte, und daß die wirtschaftlichen Unternehmungen in den Kolonien
mit wenigen Ausnahmen durch Reichsmittel betrieben würden; daher rührte die
Meinung, daß die Kolonien zum größten Teil wertlos seien, und diese Stimmung
wirkte auf den Reichstag zurück. Die Kolontalverwaltung erwarb sich das Verdienst,
durch genaue Untersuchung und Darlegung der kolonialen Unternehmungen den Nach¬
weis zu führen, daß das deutsche und das ausländische Privatkapital die deutschen
Kolonien keineswegs gescheut habe, daß vielmehr das in den Kolonien investierte
Privatkapital die dort angelegten Reichsmittel übertreffe: etwa 70 Millionen Mark
fiskalische Mittel und fast 300 Millionen Mark deutsches Privatkapital stellte eine
Denkschrift des Kolonialamts fest, und dazu kommt noch das ziffermäßig nicht zu
berechnende ausländische Kapital." Daß sich auf die reichlichen Auskünfte, die die
Spezialabhandlungen darbieten, nicht allein der Theoretiker und der Beamte, sondern
auch der Gewerbtreibende, der Kaufmann und der Landwirt verlassen kann, dafür
bürgen die Namen und die Berufsstellungen der Verfasser. Um nur einige von
den'35 anzuführen — es behandeln: die Landwirtschaft Dr. W. von Altrock, General¬
sekretär des Kgl. preußischen Landes-Ökonomiekollegiums; den Bergbau Dr. E. Jüngst
vom Bergbaulichen Verein in Essen? die Kleineisenindustrie I)r. Ernst Voye, Handels¬
kammersekretär in Hagen i. W.; den Maschinenbau der Ingenieur E. Werner;
die Elektrotechnik Professor E. Butte in Berlin; Kraftwagen Ingenieur Dr. Fritz
Huth in Berlin; die chemische Industrie or. Richard Brauer. Geschäftsführer des
Vereins zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie Deutschlands; Seide
Professor Paul Schulze, Konservator der Königlichen Gewebesammlung; Baum¬
wolle Dr. Lochmüller, Geschäftsführer des Verbandes deutscher Baumwollgarnkon-
sumenten; Spielwaren Professor Dr. Anschütz. Syndikus der Handels- und Gewerbe¬
kammer in Sonneberg; die Zuckerindustrie Dr. Albert Bartens. Redakteur der
»Deutschen Zuckerindustrie" in Berlin; Konfektion Dr. jur. Kurt Weinberg, Redak¬
teur des „Konfektionär"; das Bauwesen or. Andreas Voigt, Professor an der
Handelshochschule in Frankfurt a. M. Auch die Bank-, Kredit- und Gründungs¬
verhältnisse sowie die Organisationen der Unternehmer, der Angestellten und der
Arbeiter werden in besondern Artikeln behandelt. Im Vorwort wird bemerkt, daß
die Landwirtschaft auf allseitigen Wunsch viel ausführlicher dargestellt worden ist
als im ersten Jahrgang, und daß die Automobilindustrie, die Feinmechanik und die
Eisenbahnen neu aufgenommen worden sind.
Unter diesem Titel haben Franz Deibel und
Friedrich Gundelfinger im Insel-Verlag zu Leipzig eine Sammlung von Ge¬
sprächen Goethes herausgegeben, die allerdings schon 1906 erschienen ist, die wir
aber mit Stillschweigen zu übergehn für eine Unterlassungssünde halten würden.
Das Buch beabsichtigt nicht, der bekannten verdienstvollen Publikation Woldemar von
Biedermanns Konkurrenz zu machen, es richtet sich schon wegen des wohlfeilen
Preises (6 Mark für das geheftete, 8 Mark für das in Leder gebundne Exemplar)
an ein viel größeres Publikum, bringt nur Gespräche mit Goethe, nicht Äußerungen
über ihn und verzichtet ans alles Anekdotenhafte. Leuten, die Goethe am liebsten
im Schlafrock sehn und sich ihm kongenial fühlen, wenn sie von seinen kleinen
menschlichen Schwächen hören, kann dieses Buch deshalb nicht empfohlen werden.
Was man darin findet, sind Aussprüche, die in irgendeinem Sinn, besonders aber
im Goethischen Sinn „bedeutend" sind, und solche, die über Goethes Beziehungen
zu großen Zeitgenossen, zum Beispiel zu Schiller und Napoleon, Aufschluß geben.
Von den Gesprächen mit Eckermann, die ja in zahlreichen Ausgaben verbreitet sind,
ist nichts in die Sammlung aufgenommen worden. Nächst Eckermann sind Heinrich
Voß, Riemer, Friedrich von Müller, Falk und Sulpiz Boisseree die Männer, denen
sich Goethe am freimütigsten erschloß, und deren Aufzeichnungen das wertvollste
Material für die vorliegende Sammlung geliefert haben. Sie sind in der Einleitung
knapp aber treffend charakterisiert: „Der junge Heinrich Voß stand zwei Jahrzehnte
vor Eckermann in einem ähnlichen Jüngerverhältnis zu Goethe wie dieser, nur daß
seine Hingebung noch geteilt war durch die vollständige Abhängigkeit von seinem
Vater und die Verehrung für Schiller. Er war bieder und ehrlich, aber beschränkt
wie der Autor der »Luise«, eigensinnig und bestimmbar zugleich wie ein kränkliches
Kind. Wie ein solches behandelte ihn Goethe auch und gab ihm nicht allzuviel von
seinem eigensten Wesen, mit dem der trockne Schwärmer nichts anzufangen gewußt
hätte, preis..."
„Riemer betrachtete seine Beziehung zu Goethe weniger als Erlebnis denn
als Beruf. Wenn Eckermann zu dem Olympier als verehrender Schüler, als Jünger
stand, so verhielt sich Riemer zu ihm etwa wie ein Beamter zu seinem Staatshaupt.
Er war ein trockner, treuer, aufmerksamer, etwas galliger, nicht enthusiastischer, aber
gescheiter Zuhörer." Es ist höchst merkwürdig, daß Goethe das Bedürfnis empfand,
sich gerade diesem Manne gegenüber eingehend über die Frauen auszusprechen.
Friedrich von Müller (der Kanzler) „fühlt sich als ein etwas tiefer stehender
Kollege, Goethen nah genug, um sich selbst zu bewahren, und nimmt als Welt- und
Geschäftsmann eine gewisse gesellige Freiheit in Anspruch, die Eckermann und Riemann
sich versagten, weil die Kluft zwischen kleinen Literaten und dem Weltdichter größer
war als die zwischen einem Kanzler und einem Minister. Nicht von der geistigen
Seite näherte sich Müller dem Genius, sondern von der weltlichen..."
Ein apokrypher Evangelist ist Falk. „Für ihn war Goethe der berühmte
Mann, seine Gespräche Ausstellungsgegenstände. Ein seelisches Verhältnis zu Goethe
hatte er nicht, und ohne dies war ihm nicht möglich, auch nur Goethes Tonfall zu
vernehmen. Da er aber das Bedürfnis fühlte, die Zelebrität große Dinge sagen zu
lassen, so dehnt er, was ihm in der Erinnerung haftete, zu langen Reden aus, die
etwa so authentisch sind wie diejenigen der berühmten Staatsmänner in antiken
Geschichtsschreibern..."
Ganz andre Absichten verfolgte Sulpiz Boisseröe. Er „kam zu Goethe gleichsam
als Emissär einer andern Großmacht, der Romantik, um mit dem Weimarer
Imperator zu unterhandeln. Sein lebhafter, unterrichteter, aber Propagatorischer und
darum etwas befangner Geist war mehr darauf aus, Goethe in das neudeutsche
Kunstinteresse zu ziehn, als von Goethe zu lernen oder zu hören. Seine Konversation
war darauf angelegt, den »alten Heiden« mit Verehrung und Widerspruch zu be¬
kehren und ihm romantische Äußerungen zu entlocken..."
Man wird also bei der Lektüre der einzelnen Äußerungen Goethes berücksichtigen
müssen, daß sie alle von dem, der sie aufgezeichnet hat, mehr oder weniger retuschiert
sind. Versteht man, die individuelle Retusche zu beseitigen, so wird man das Buch als
s hat eine Zeit gegeben, wo wir eine gelinde Gänsehaut bekamen
über jeden Engländer, der sich in unsern Kolonien niederließ,
über jede Erwerbsgesellschaft, die zum Teil mit englischem Gelde
gegründet wurde. Diese Zeit — sie liegt nur wenige Jahre
zurück — ist, Gott sei Dank! vorüber. Es ist uns inzwischen
das Verständnis aufgedämmert, daß auch fremdes Geld rund ist, daß uns
fremder Unternehmungsgeist vielfach erst auf den Wert unsrer Kolonien hin¬
gewiesen und dadurch auch bei uns anregend gewirkt hat. Selbstverständlich
mußten wir verhindern, daß da und dort der Einfluß fremden (in diesem Fall
englischen) Kapitals übermächtig wurde. Diese Gefahr besteht heute nicht mehr,
wo das deutsche Kapital in immer größerm Umfange kolonialen Unternehmungen
seine Aufmerksamkeit zuwendet und durch den Bau der Eisenbahnen auch eine
gewisse Gewähr für lohnende Arbeit erhalten hat.
Zum Teil haben sich die Verhältnisse verschoben. Während man früher
gewohnt war, die Kolonien lediglich als ein Feld für kapitalistische Unter¬
nehmungen zu betrachten, hat sich allmählich herausgestellt, daß in verschiednen
Gebieten der Schwerpunkt bei der Erschließung auf die Kleinsiedlung gelegt
werden muß, und daß die ausländische Beteiligung auch von diesem Standpunkt
zu betrachten ist.
In der Hauptsache gilt dieses für Südwestafrika, dann aber auch für Ost¬
afrika und Samoa.
Aus die besondern Verhältnisse der einzelnen Kolonien werde ich noch
Zurückkommen, zunächst sei der Einfluß des Ausländertums rein zahlenmäßig
festgestellt. Nach der Bevölkerungsstatistik lebten im Jahre 1907 in unsern
Kolonien insgesamt 11000 Weiße, und zwar 7700 Deutsche und 3300 Aus¬
länder. Davon waren 1309 Engländer und Kolonialengländer. 440 Italiener
und Griechen, 330 Österreicher und Ungarn. 230 Russen. Die übrigen ver¬
teilen sich in kleinerer Anzahl auf die andern Nationalitäten. Man beachte
den hohen Prozentsatz an Engländern, der, wie wir sehen werden, in der
Hauptsache auf Südwestafrika entfällt.
st unser Ansiedlungsland Mr exosUsiKZö, wo
Weiße dauernd leben können. Da wir hoffen, daß Südwest einst bei rationeller
Erschließung in kleinerm Maßstab ein zweites Deutschland über See, ein Jung¬
brunnen für unser unter der zunehmenden Industrialisierung leidendes Volks-
tum werden wird, so ist hier das Verhältnis zwischen Deutschtum und Aus-
ländertum besonders wichtig.
Von den 1309 Engländern, die in unsern Kolonien leben, entfallen 970,
also rund 75 Prozent auf Deutsch-Südwest. Dort macheu sie rund 14 Prozent
der gesamten weißen Bevölkerung aus, und auf fünf Deutsche (im ganzen 4900)
kommt schon ein „Engländer". Das Wort Engländer in Gänsefüßchen, denn
in Wirklichkeit handelt es sich nur zu einem kleinen Teil um eigentliche Eng¬
länder, vielmehr vorwiegend um Buren. In der amtlichen Bevölkerungs¬
statistik sind die Weißen leider nicht nach der Sprache, sondern nur nach der
Staatsangehörigkeit auseinandergehalten, und nur bei der Rubrik „ohne Staats¬
angehörigkeit" ist in Klammern das Wort Buren beigefügt. Diese 240 Buren,
die vor der Annektierung der Burenfreistaaten durch die Engländer in unsre
Kolonie eingewandert sind, haben dadurch jede Staatsangehörigkeit verloren. Die
Mehrzahl der Buren ist aber jetzt englische Staatsangehörige. Die An¬
schauung, daß es sich bei den aufgeführten „Engländern" vorwiegend um
Buren handelt, wird durch die Schulstatistik gestützt. In der Regierungsschule
in Windhuk waren von 74 Schülern der Abstammung und Sprache nach
43 Deutsche, 25 Buren und nur 2 Engländer. Eine besonders deutliche
Sprache sprechen die Zahlen des Hauptfarmdistrikts Grootfontcin. Dort waren
von zwanzig Schülern siebzehn Burenkinder. Bei dem sprichwörtlichen Kinder¬
reichtum der Buren fallen alle diese Zahlen besonders ins Gewicht. Wie sehr,
zeigt die Tatsache, daß bei den Dentschen auf 600 verheiratete Frauen
805 Kinder kommen, bei den „Engländern" auf 70 verheiratete Frauen
170 Kinder, bei den alteingesessenen Buren („ohne Staatsangehörigkeit") ans
29 verheiratete Frauen gar 75 Kinder. Die Vermehrung ist also — so kann
man ruhig als feststehend annehmen — bei den Buren doppelt so stark wie
bei den Deutschen. Nun bedeuten Kinder für südwestafrikanische Verhältnisse
nicht, wie teilweise bei uns, eine wirtschaftliche Belastung, sondern im Gegen¬
teil eine Erleichterung, eine Verbilligung des Betriebs durch Ersparung von
fremden Arbeitskräften, was namentlich in Anbetracht des jetzt herrschenden
Mangels an eingebornen Arbeitern sehr ins Gewicht fällt. Wenn auch der
Bur erfahrungsgemäß dem Deutschen an Fleiß und Strebsamkeit nicht entfernt
gleichkommt, so bildet die Bureneinwandrung doch eine ernste Gefahr für das
Deutschtum. Wenn wir sie nicht beschränken und uns den Burennachwuchs zu
assimilieren suchen, so können wir uns an den Fingern ausrechnen, daß in
wenig Generationen das burische Element vermöge seiner Vermehrungsfähigkeit
überhandnehmen und einen Pfahl im Fleisch der Kolonie bilden wird. Ich
meine, man hat, seit die Burenbegeisterung verflogen ist, und die Dinge
nüchterner betrachtet Merdeu, die Buren als ein höchst unruhiges, schwer zu
lenkendes Element kennen gelernt und sollte deshalb versuchen, die Kolonie
nach Möglichkeit vor spätern innern Kämpfen und Hemmungen zu bewahren, die
das Zusammenleben zweier verschiedenartiger Volkselemente mit sich bringen
muß. Man soll nicht mehr sagen, daß die Buren unsre Lehrmeister sind.
Und wenn sie es je waren, so sind sie von ihren Schülern längst überflügelt
worden.
Wenn wir ernsthaft wollen, so bietet uns das Einwandrungsgesetz vom
15. Dezember 1905 mancherlei Handhaben, auch wäre der von manchen Seiten
gemachte Vorschlag, das Erbrecht nach holländisch-afrikanischen Muster auszu¬
gestalten, sehr zu erwägen. Denn wenn die Ehegatten gehalten sind, nach dem
Tode des einen Teils das Erbe der Nachkommen sicherzustellen, ehe sie eine
neue Ehe eingehn, so würde dies die Expansionsfähigkeit des Burentums
immerhin beschränken. Die Verpflichtung zur sofortigen Seßhaftmachung und
die Schulpflicht werden ein übriges tun. Eine besonders wichtige Aufgabe
aber fällt der deutschen Frau zu. Nichts wird der Erhaltung und Förderung
des deutschen Übergewichts dienlicher sein als die Unterstützung von Bestrebungen,
die aus der Kolonie eine deutsche Familiensiedluug machen wollen. Wenn
darauf hingearbeitet wird, daß sich unsre südwestafrikanischen Landsleute möglichst
schnell nach ihrer Niederlassung eine Familie gründen können, und daß sich die
deutsche Bevölkerung in gesunder Weise vermehrt, so wird dadurch dem aus¬
ländischen Einfluß am wirksamsten vorgebeugt. Es sei deshalb an dieser Stelle
auf die Bestrebungen des vor einem Jahre gegründeten Deutschkolonialen
Frauenbundes hingewiesen und dessen Wirken der Beachtung empfohlen.
Dem Burentum gegenüber treten jedenfalls jene Elemente, die der Auf¬
stand nach den Hafenstädten gezogen hat, und die mit ihren unlautern Ge¬
schäften dem legitimen Handel vielerlei Schaden zugefügt haben, in den Hinter¬
grund. Immerhin wird sich das Neiuignngsgeschäft auch auf diese beziehen
müssen, soweit sie nach beendeten Aufstand nicht von selbst verschwinden. Wir
haben keinerlei Veranlassung, zuzusehen, wie sich mit Hilfe unsrer Eisenbahnen
allerlei ausländisches Gesindel die Taschen füllt, während so und soviel solide
deutsche Ansiedler nur notdürftig ihr Leben fristen.
Ganz andre Verhältnisse finden wir in Ostafrika. Zwar hat sich auch
dort in neuerer Zeit eine Anzahl Buren niedergelassen, doch sind die Erfahrungen,
die hier mit ihnen gemacht worden sind, so wenig erfreulich, daß ein weiterer
Zuzug kaum zu erwarten ist. Auch in Ostafrika hat sich wieder gezeigt, daß
vom Buren bahnbrechende wirtschaftliche Arbeit kaum zu erwarten ist, daß sein
Streben hauptsächlich darauf ausgeht, möglichst schnell und mühelos „Geld zu
verdienen". Fast überall, wo Buren zugezogen sind, wird darüber geklagt, daß
sie im Lande umherziehen und das Wild abschießen, statt sich ordentlich an-
zusiedeln und aus dem ihnen zugewiesnen Land etwas zu machen. Von den
paar Auslanddeutschen, die sich im Merugebiet angesiedelt haben, namentlich
Deutschrussen, will ich hier nicht reden, denn sie spielen weiter keine Rolle,
Desto mehr ist über die Inder zu sagen, denn sie stellen das Haupt¬
kontingent des Ausländertums in Ostafrika. Es ist in der letzten Zeit viel
Tinte für und wider sie vergossen worden. Leider wird vielfach übers Ziel
hinausgeschossen, indem die einen sie in den Himmel heben, die andern sie am
liebsten sofort mit Kind und Kegel ausgewiesen sehen mochten. Sicherlich sind
die Inder ein unliebsames Element im ostafrikanischen Wirtschaftskörper, das
wird jedem Unbefangnen einleuchten, wenn er erfährt, daß die Tausende von
diesen Fremdlingen, die in Ostafrika leben, den ganzen Zwischenhandel in Händen
haben. Ein ganzer Erwerbszweig in Händen von fremden Staatsangehörigen,
sicher ein ungesunder Zustand. Doppelt ungesund ist an der Sache, daß die
Leute samt und sonders mittellos in Ostafrika ankommen, sie schachern sich mög¬
lichst rasch in mehr oder minder saubrer Weise, bei der der betrügerische Bankerott
eine besondre Rolle spielt, ein paar tausend Rupien zusammen und kehren dann
wieder in ihre Heimat zurück. Das Geld, das sie sich errafft haben, geht unsrer
Kolonie verloren. Es soll gewiß nicht bestritten werden, daß es auch unter den
indischen Händlern eine Anzahl solider Leute gibt, aber die Ausnahmen be¬
stätigen nur die Regel. Die Inder denken gar nicht daran, sich ansässig zu
machen, am deutlichsten geht dies daraus hervor, daß die Erwerbung von
Grundbesitz sehr selten bei ihnen ist. Vor Jahren ist einmal versucht wordeu,
eine Anzahl Inder anzusiedeln, aber bezeichnenderweise ist aus dieser Jnder-
kolonie nichts geworden, weil sich die Leute, einmal im Lande, sehr rasch auf
ihren eigentlichen Beruf besannen, das heißt Händler wurden. Daß auf diesem
Gebiet etwas zu holen ist, beweist die wachsende indische Einwanderung. Vor
zwanzig Jahren konnte man sie an den Fingern herzählen, und heute sind
schon Tausende da, die Schätzung schwankt zwischen 6000 bis 10000. Es
wäre sehr wünschenswert, daß die Regierung in ihrer Bevölkerungsstatistik auch
einmal die Zahl der Inder wenigstens schätzungsweise feststellen wollte. Es
wäre doch interessant, zu wissen, wie stark dieser so vielfach angefochtne Be¬
völkerungsbestandteil zurzeit ist.
Die Inder sind tatsächlich nirgends in der Kolonie beliebt. Ihre Stütze
sind nur einige alteingesessene deutsche Großfirmen, die erklären, der Handel
könne nicht ohne sie auskommen. Der Grund, warum sich jene Firmen so sehr
an die Inder klammern, ist in den reichlichen Krediten zu suchen, die sie diesen
gegeben haben. Nun fürchten sie, ihr Geld zu verlieren, wenn ihre Schuldner
plötzlich schärfer angefaßt würden. Und die Verwaltung betet dies alles ge¬
wohnheitsmäßig nach. Es wird immer behauptet, die Inder seien unersetzlich,
der Europäer könne nicht mit ihnen konkurrieren. Dies ist bis zu einem gewissen
Grade richtig. Von heute auf morgen kann sich der Wechsel nicht vollziehen.
Aber man könnte es doch wenigstens einmal versuchen. Wenn in den Küsten-
Plätzen und den Stationen im Innern grundsätzlich alle Lieferungen für die
Behörden an deutsche Kaufleute vergeben würden, so wäre der Grundstock für
eine Reihe deutscher Geschäfte gegeben. Jede Station im Innern zum Beispiel
gibt 30000 bis 80000 Mark jährlich für ihre Bedürfnisse aus, die größten¬
teils die Inder schlucken. Ein Umsatz in dieser Höhe genügt auch, um einen
deutschen Händler über Wasser zu halten. Den Handel mit den Eingebornen
würde er bald lernen, denn diese würden bald merken, daß der Weiße reeller
ist, und würden von selbst zu ihm kommen. Niemand wird mehr ernsthaft be¬
streikn wollen, daß die Eingebornen von der Mehrzahl der Inder in un¬
erhörter Weise bewuchert werden, und eine Eingebornenpolitik, die es mit der
Hebung der Eingebornen ernst meint, wird ernstlich daran arbeiten müssen, daß
diese Mißstände mit der Zeit verschwinden.
Kein vernünftiger Mensch wird verlangen, daß die Inder aus dem Lande
gejagt werden. Was man aber verlangen kann, ist, daß an sie dieselben An¬
forderungen handelsrechtlicher Natur, eine geordnete Buchführung usw., gestellt
werden wie an jeden deutschen Kaufmann. Bei den zahlreichen indischen
Bankerotten ist selten etwas zu machen, weil das Fehlen einer Verpflichtung
zur Buchführung dem Betrug Tür und Tor öffnet. Wenn den Indern durch
strenge Vorschriften auf die Finger gesehen und außerdem die Eingebornen durch
Einrichtung möglichst zahlreicher Märkte vor Übervorteilung geschützt werden,
so wird sich bald zeigen, daß auch deutsche Händler es sehr wohl mit den
Indern aufnehmen können. Der eigentliche Tauschhandel im Innern ist sowieso
nicht in Händen der Inder, sondern wird durch Araber und Küstenneger aus¬
geübt. An die Stelle der Inder können also sehr wohl teils Deutsche, teils
intelligente Neger treten. Darauf in geeigneter Weise hinzuarbeiten, ist unsers
Trachtens Pflicht der Regierung.
Die Furcht vor Repressalien von seiten Englands ist ganz unberechtigt,
denn es verlangt vorläufig niemand Ausnahmegesetze, sondern nur gleiches Recht
für alle. Dazu gehört unter anderm auch, daß der fremde Einwandrer bei
seiner Ankunft ebenso eine Kaution für eine etwa notwendig werdende Rück¬
beförderung zu hinterlegen hat wie jeder deutsche Einwandrer, der nicht in der
ersten oder zweiten Schiffsklasse ankommt. Daß aber die indische Einwandrung
sogar gefährlich werden und den Schrei nach Ausnahmegesetzen berechtigt er¬
scheinen lassen kann, beweist das in den Grenzboten von W. Paschen geschilderte
Beispiel der englischen Kolonie Natal. In diesem Sinne muß auch von der
Heranziehung chinesischer Arbeitskräfte da abgeraten werden, wo es überhaupt
einen andern Ausweg gibt. In Scnnoa wird es ja leider ohne die Chinesen
nicht gehn, dagegen braucht man in Ostafrika zu diesem letzten Mittel wirklich
nicht zu greifen, sondern sollte lieber die Neger in ihrem eignen wohlverstandnen
Interesse mit sanftem Zwang zur Arbeit heranziehen, ehe man ihnen eine über¬
legne Konkurrenz ins Land holt, die sie später schwer empfinden. Wenn es aber
ohne fremde Arbeiter nicht geht, so soll man sie unter keinen Umständen an-
sässig werden lassen, sondern die nötigen Quartiere schaffen, daß man sie ge-
gebnenfalls zu rechter Zeit wieder los wird.
Wie gesagt, Ausnahmegesetze sollen für Ausländer, die sich in unsern
Kolonien ansiedeln wollen, vorläufig nicht gefordert werden. Trotzdem halte ich
es für nützlich, das von den Franzosen in ihren Kolonien geübte Verfahren zu
erwähnen. In den französischen Kolonien haben Fremde eine Aufenthaltssteuer
und eine besondre Gewerbesteuer zu zahlen. Die Franzosen stehn aber auf
dem Standpunkt, daß ihre Kolonien dazu basirt, vor allem der französischen
Nation Ellbogenfreiheit zu gewährleisten. Ähnlich liegen ja die Verhältnisse
in den holländischen Kolonien. Nur die Engländer sind liberal, vielleicht mit
guten Gründen, denn sie haben ein Interesse daran, ihrem indischen Überschuß
fremde Türen offen zu halten, und trotzdem sträuben sich jetzt schon verschiedne
englische Kolonien, zum Beispiel Australien und Südafrika, gegen die asiatische
Invasion.
Alles in allem meine ich, man sollte Ausländern, die einige Gewähr für
Solidität bieten und entsprechende Mittel aufweisen können, nichts in den Weg
legen, wenn sie sich in unsern Kolonien niederlassen wollen, aber man sollte
sie auch nicht unterstützen. Wir haben alle Veranlassung, uns die Möglichkeit
offen zu lassen, daß unser Bevölkerungsüberschuß mit der Zeit in unsern eignen
Kolonien statt auf fremdem Boden eine Heimat findet. Blühende deutsche
Siedlungen in aller Herren Ländern beweisen, daß sich der Deutsche in den
schwierigsten Lagen zurechtfindet, warum sollte er nicht in unsern Kolonien
leisten können, was Fremde vermögen? Doch davon wollen wir ein andermal
reden. Jedenfalls brauchen wir die Ausländer nicht.
mperialismus und Expansion sind Schlagwörter, entsprungen aus
dem Verlangen nach Märkten, auf denen die nordamerikanische
Industrie eine Art Monopol genießt, die also gegen die Einfuhr
aus Europa abgesperrt werden müssen. Die Vereinigten Staaten
sind mit hohen Schutzzollwälleu umgeben. Seitdem sich die
amerikanische Industrie so stark entwickelt hat, ist ihr eignes Gebiet kein ge¬
nügendes Absatzgebiet mehr. Auf dem Weltmarkt ist die amerikanische Industrie
nur bedingt konkurrenzfähig; nur wenn es sich um Spezialitäten handelt (wie
zum Beispiel landwirtschaftliche Maschinen und Gerätschaften), und wenn sie auf
Grund übertriebner Preise im Inlande ihren Überschuß erzwungen wohlfeil
nach dem Auslande abstößt. Die mächtigen Trusts ziehen den Hauptvorteil
aus dieser Politik. Sie sind es, die die Kassen der republikanischen Partei
füllen und für die Propaganda durch Wort und Schrift unglaubliche Summen
aufwenden. Sie sind dabei mit Noosevelt in Streit geraten, denn ihm wurde
dieses System zu arg. Wohin sich der Sieg neigen wird, weiß man noch nicht.
Der Drang nach Erwerbung solcher Märkte ist jahrzehntcalt. Er trat schon
Ende der siebziger Jahre auf. und zwar als Versuch, die Monroelehre auch auf
den Handel anzuwenden. Der europäische Handel sollte soweit wie möglich
durch den amerikanischen ersetzt werden. Aus Gründen, deren Entwicklung uns
hier zu weit führen würde, hatten die übrigen amerikanischen Staaten wenig
Neigung, darauf einzugehn.
Bald tauchte für diese Bestrebungen der Name „Panamerikanismus" auf.
Ein eifriger und einflußreicher Politiker der republikanischen Partei, Senator
Blaine (mehrmals Staatssekretär des Auswärtigen, auch Präsidentschaftskandidat),
betrieb sie lange Zeit. Er strebte einen engen Zusammenschluß ganz Amerikas
auf vielen Gebieten. Münze. Maß. Gewicht. Rechtsschutz. Schiedsgericht.
Monroedoktrin. vor allem aber gegenseitige Zollbcgünstigung an. Unter seiner
Ägide tagte 1889/90 ein panamerikanischer Kongreß in Washington. Er starb
im Januar 1893. doch blieb sein Gedanke am Leben, denn 1901/02 trat zum
zweitenmal in Mexiko. 1906 zum drittenmal in Rio de Janeiro ein solcher
Kongreß zusammen. Vorübergehend wurden ansehnliche Erfolge erreicht. Es
gelang Blaine. mit verschieden amerikanischen Staaten und sogar mit Kolonien
europäischer Mächte sogenannte Gegenseitigkeitsverträge abzuschließen, kraft denen
jene den Nordamerikanern und wiederum diese ihnen Zollermäßigungen zu¬
gestanden, an denen Europa keinen Anteil hatte. Die Kleinern fanden jedoch,
daß sie sich dabei nicht gut stünden, und so erloschen die Verträge allmählich
wieder, wozu auch beitrug, daß für 1892 bis 1896 die relativ freihändlerische
demokratische Partei in den Vereinigten Staaten ans Ruder gekommen war.
In den letzten Jahren ist der Panamerikanismus auch offiziell wieder
aufgenommen worden. Staatssekretär Rook benutzte die Abhaltung des pan¬
amerikanischen Kongresses in Rio de Janeiro, um eine Rundreise durch die
Hauptstädte der südumerikanischen Republiken zu machen. Überall wurde er
herzlich aufgenommen, besonders in der Kongreßstadt Rio de Janeiro, und hier
trug er auch einen realen Erfolg davon, einen neuen Gcgenseitigkeitsvertrag.
Vorläufig blieb dieser jedoch vereinzelt. Natürlich wurde in Europa das
Wiederaufleben der Versuche, die nordamerikanischen Erzeugnisse in andern
Teilen der westlichen Halbkugel zollpolitisch zu begünstigen, mißfällig auf¬
genommen. Es geschah jedoch nichts dagegen. Europa ist viel zu zersplittert,
als daß es sich zu gemeinsamen Schritten aufraffen könnte.
Spuren von Zusammenschlüssen Amerikas sind auch sonst noch hervor¬
getreten. Von Argentinien ging die Drago-Calvolehre aus: zum Grundsatz zu
erheben, daß die politischen Mächte nicht das Recht haben sollten, die Forderungen
ihrer Untertanen mit bewaffneter Hand einzutreiben. Auf dem letzten pan¬
amerikanischen Kongreß war die Stimmung dafür sehr groß, doch zauberten die
Vereinigten Staaten begreiflicherweise, für diese auch gegen sie gerichtete Lehre
einzutreten. Die Südamerikaner verlangten, daß darüber auf der Friedens¬
konferenz im Haag 1907 verhandelt werden solle; andernfalls wollten sie diese
gar nicht beschicken. Schließlich kam unter nordamerikanischer Führung eine
im Haag sanktionierte Vereinbarung zustande, deren entscheidender Para¬
graph 1 lautet: „Die Vertragsmächte sind übereingekommen, bei der Eintreibung
von Vertragsschulden, die bei der Regierung eines Landes von der Regierung
eines andern Landes für deren Angehörige eingefordert werden, nicht zur
Waffengewalt zu schreiten. Diese Bestimmung findet jedoch keine Anwendung,
wenn der Schuldncrstaat ein Anerbieten schiedsrichterlicher Erledigung ablehnt
oder unbeantwortet läßt oder im Fall der Annahme den Abschluß des Schieds-
vertrags vereitelt oder nach dem Schiedsverfahren dem Schiedsspruch nicht
nachkommt."
Das Prestige der Vereinigten Staaten ist immer im Wachsen. Es hat
bedeutend gewonnen durch die Aussendung der atlantischen Kriegsflotte nach
dem Stillen Ozean, um der neu entstandnen japanischen Großmacht begreiflich
zu machen, daß sie sich an keinem Punkte Amerikas vergreifen dürfe. Noch
weit greifbarer ist die Macht des Nordens an der Landenge von Panama
geworden. Schon 1900 ist es den Staatsmännern zu Washington gelungen,
das auf dem Clayton-Bulwer-Vertrag von 1850 beruhende Mit-Erbauungs¬
recht Großbritanniens aufzuheben und die ganze Kanalsache in ihre Hand zu
bringen.
Zahllose male ist die Vermutung gehegt und ausgesprochen worden, daß
die Vereinigten Staaten daran gingen, weitere Teile Amerikas zu erobern.
Der spanische Krieg gab den stärksten Anlaß dazu. Er führte mit kaum
nennenswerten Opfern zu der Erwerbung Portoricos und der Philippinen.
Von Cuba vermutete man ein gleiches. Die Regierung bewahrte jedoch in der
ehrenhaftesten Weise die Erinnerung an ihre vorher abgegebnen Erklärungen,
daß sie Cuba befreien aber nicht erobern wolle; sie blieb ihnen treu. Sie half
Cuba, sich als eine unabhängige Republik einzurichten. Ihr Militär besetzte das
Land nur zeitweilig. Sie machte Vorbehalte dahin, daß ihr Cuba einen zu einem
Kriegshafen geeigneten Platz abtreten müsse, daß Cuba nichts von seinem Gebiet
an eine fremde Macht veräußern oder verpachten dürfe, daß es ohne Zustimmung
der Vereinigten Staaten keine Anleihen aufnehmen dürfe; sie behielt sich ein
gewisses Einmischungsrecht vor. Endlich schloß sie nachher einen Zoll¬
bevorzugungsvertrag ab, der die cubanische Zuckerproduktion so begünstigt, daß
die deutsche Zuckerausfuhr nach den Vereinigten Staaten aufgehört hat. Auf
Cuba beginnt sich der Segen einer geordneten Regierung geltend zu machen.
Er beginnt — befestigt ist er noch lange nicht, denn die junge Republik hat
schon ihre Revolution gehabt und die erste Regierung gestürzt. Noch ist Leben
und Eigentum geschont geblieben. Sollte das einst nicht mehr der Fall sein,
so werden die Nordamerikaner einschreiten.
Es wäre unrecht, der Politik der Bereinigten Staaten Eroberungsgclüste
vorzuwerfen. Präsident Roosevelt ist zwar das Haupt der imperialistischen
Partei, aber er ist auch ein weiser Staatsmann. Auf das Abenteuer von
Eroberungen im romanisch-kreolischen Amerika möchte er doch nicht eingehn.
Mehrfach hat er in der feierlichsten Weise Anschuldigungen dieser Art zurück¬
gewiesen. Sein Staatssekretär Rook erklärte: nach dem Gebiet unsrer Schwcster-
republiken trachten wir so wenig wie nach Landschaften im Monde. Das ist
glaublich genug. Mit weiteren Landerwerb würden unausbleiblich auch
kreolische Vertreter im Bundcskongreß einziehen, namentlich müßte jeder an¬
gegliederte Staat zwei Senatoren in den Bundessenat senden. Das Treiben
im Senat im Dienste der Politik der materiellen Interessen ist ohnehin derart,
daß Kenner der Dinge nur mit Grausen an einen solchen „Fortschritt" denken.
Wenn nicht kreolische Senatoren selber erschienen, so würden vielleicht Ncw-
Yorker Großkapitalisten das Mandat von zugänglichen Wählern zu erwerben
wissen. Das geschieht leider jetzt schon zu viel. Nach Vermehrung solcher
Vertretungen sehnt sich kein amerikanischer Patriot. Präsident Roosevelt hat
auch den übrigen Republiken wirksam zu Gemüte geführt, daß sie die Monroe-
lehre nicht überspannen dürfen. Wenn sie sich Verfehlungen gegen fremde
Mächte zuschulden kommen ließen, so möchten sie nicht denken, daß die Ver¬
einigten Staaten sie in Schutz nehmen würden. Einzig und allein gegen Er¬
oberungsversuche würden diese sie schützen, in allem übrigen müßten sie für
ihre Handlungen einstehn. Auch in den Vereinigten Staaten sind die poli¬
tischen Probleme so ernst und verwickelt, daß man nicht wünschen wird, sie
durch Eroberung andrer Staatsgebilde mit einer Mischlingsbevölkerung noch
verworrener zu machen.
Das gegenwärtige Haupt des nordamerikanischen Volkes ist ein erleuchteter
Politiker und ein höchst ehrenvoller Charakter. Er setzt soeben seine ganze
Person ein, um sein Vaterland von der es bedrohenden Trustgcfahr zu be¬
freien. Was ihn dabei selbst erwartet, das achtet er nicht. Er will der
Korruption das Haupt zertreten. Nach allem, was wir von dem ausgezeich¬
neten Manne wissen, sind machiavellistische Erobemngspläne bei ihm völlig
ausgeschlossen.
Etwas andres ist es, ob unter kommenden Regierungen gleiche Weisheit
das Nuder leiten wird, und ob man immer entschlossen sein wird, bei auf¬
tauchenden Verwicklungen allen Versuchungen zu widerstehn. Man weiß nicht,
welchen Einfluß die Trusts gewinnen werden; ihnen ist wohl zuzutrauen, daß
sie manches Abenteuer wagen, um zu geschützten Märkten zu gelangen, von
wo sie die europäische Industrie mit Zolltarifen fernhalten werden. Leute,
die Eroberungen nur mit ihrem Geldbeutel durchzufechten haben, stehn anders
da als solche, die mit ihrem Blut, ihrer Ehre, mit der Existenz ihres Vater¬
landes dafür einstehn müssen.
Unter diesen allgemeinen Verhältnissen ist^der üble Zustand vieler kleinerer
amerikanischer Staaten eine Gefahr. Schon im Eingang haben wir die all¬
gemeinen Verhältnisse berührt. Sehen wir uns in einigen Staaten die Dinge
näher an. Die bestgeordnete Republik im spanischen Amerika ist zurzeit der
nächste Nachbar der Vereinigten Staaten, Mexiko. Auch ihm haben Bürger¬
kriege und Mißwirtschaft nicht gefehlt. Seit 1877 steht ein Mann an der
Spitze des Staats, der wohl die beste Verkörperung der kreolischen Militär¬
diktatur genannt werden kann: Porfirio Diaz. Er hat das Land mit eiserner
Faust regiert, aber Ruhe und Ordnung, Leben und Eigentum gesichert und
große wirtschaftliche Fortschritte durchgeführt, was um so mehr ins Gewicht
fällt, als sein Regiment die Zeit der Entwertung des Silbers umfaßt. Mexiko
ist der größte Silberproduzent der Erde. Ob aber die jetzige Ordnung das
Leben des Mannes überdauern wird, das ist sehr fraglich, denn die wilden
Gewalten des Umsturzes sind nur gezähmt, nicht vernichtet. Inzwischen sind
vom Norden her viele Jankees eingewandert, und die Summen der in Mexiko
investierten, nach den Vereinigten Staaten gehörenden Kapitalien soll 600 bis
1000 Millionen Dollars betragen. Kommt es zu Revolution und Bürger¬
krieg, so wird es immer eine Partei geben, die sich nach Washington um Hilfe
wendet. An Gründen zur Einmischung wird es nicht fehlen.
Zu solchem Auftreten in Cuba hat sich die große Republik sogar das
Recht erworben. In Santo Domingo nehmen die Dinge einen sehr Übeln
Verlauf. Die Bevölkerung der dominikanischen Republik ist freilich mit ihrer
Zwillingsschwester, der baltischen, nicht zu vergleichen. Sie wird verschieden
angegeben, auf 500000 bis 610000, erreicht also eine Dichtigkeit von nur
10,3 bis 12,5. Darunter ist der dritte Teil noch als reines Negerblut an¬
zusprechen, der Rest, bis auf wenige Kaukasier, als kreolisch-mulattisch. Mit den
Negiernngsverhältnissen liegt es wie gewöhnlich im spanischen Amerika. Die
Finanzwirtschaft wurde zuletzt so arg, daß die Vereinigten Staaten die Ver¬
waltung der Zölle und Steuern und die Verzinsung der rund 125 Millionen
Mark betragenden Schulden in die Hand nehmen mußten. Weitere Einmischung
haben sie standhaft abgewiesen. Haiti ist gerade in der jüngsten Zeit wieder
der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit gewesen, da die Mißwirtschaft und
die ganz schnöde Gewalttat hier ihren höchsten Grad erreichten. Die Franzosen,
die hier einst Herren waren, haben wenig von ihrem Blut hier zurückgelassen-
Auch das Jndianerblut ist in dem afrikanischen ziemlich untergegangen. Eine
Volkszählung von 1904 gibt die Bevölkerung auf 1425000 an, also eine
Dichtigkeit von etwa 50 Köpfen auf den Quadratkilometer. Die unglaubliche
Genügsamkeit der sorgenlosen, trügen Einwohner erklärt die große Dichtigkeit.
Zu neun Zehnteln bestehn sie aus reinen Negern; den Rest bilden dunkle
Mulatten. Nächst der ungefähr gleich bevölkerten Republik Liberia bildet Haiti
den ausgesprochensten Negerstaat auf Grund kaukasischer Kultur. In dieser
Hinsicht sind die sogenannten Negerstaaten der Vereinigten Staaten gar nicht
mit Haiti zu vergleichen, denn von diesen haben nur zwei eine farbige Mehr¬
heit. Die ausgesprochensten Negerstaaten sind:
Was aus diesen werden kann, wenn einmal nicht mehr die Staatsgewalt
von Washington die Fahne der Kultur verteidigt, davon mag Haiti eine ab¬
schreckende Vorstellung geben. Und andrerseits kann die Phantasie sich aus¬
malen, wozu sich Haiti entwickeln kann, wenn die Nordamerikaner hier Ordnung
schaffen. Was der europäische Handel dadurch verliert, daß die Amerikaner
hier ihre Zollschranken aufrichten, das wird er durch die Ordnung gewinnen.
So hat sich die deutsche Ausfuhr nach Cuba trotz des amerikanischen Vorzugs¬
zolles von 10 bis 12 Millionen Mark in den Jahren 1899 bis 1900 all¬
mählich auf 19 bis 20 Millionen in den Jahren 1905 bis 1906 gehoben.
Bei Haiti ist die Hoffnung auf Reformen aus eigner Kraft am geringsten.
Man muß annehmen, daß die Vereinigten Staaten, so wenig Lust sie dazu
auch haben werden, eines Tages durch den Gang der Dinge zum Einschreiten
genötigt werden. In äußerlicher Weise tun sie das schon jetzt, und neben
ihnen auch Deutschland und England. Portorico ist schon ein Teil der Ver¬
einigten Staaten.
Das übrige Westindien ist noch in europäischer Hand, meist in der eng¬
lischen. Man kann Jamaika als typisch ansehen. Auch hier ist das Neger¬
blut ganz überwiegend. Drei Viertel werden als reine Neger angesehen, der
Rest, mit Ausnahme von etwa 16000 bis 18000 Weißen, als Mischlinge.
Der Wohlstand auch des europäisch regierten Westindiens hat durch den Rück¬
gang der Zuckerpreise schwer gelitten. Dennoch ist durch die starke und von
Einsicht geleitete Hand der Weißen überall ein Verfall wie in Haiti abgewandt
worden.
Zentralamerika, die fünf ältern kleinen Republiken, ist wie Spanisch-
Amerika überall, jedoch noch verschlimmert durch Kriege zwischen den einzelnen
Staaten, die hier an der Tagesordnung sind und das Elend des Aufruhrs
und der Bürgerkriege noch verschärfen. Im Grunde sind alle von ganz ähn¬
lichen wirtschaftlichen und ethnographischen Verhältnissen, gleicher Konfession,
ohne etwas, was sich mit dynastischen Traditionen, wie einst in Deutschland.
vergleichen ließe. Das Negerblut ist hier viel schwächer als in Westindien und
ni Südamerika. Die Mischlinge stammen von Weißen und Indianern ab,
reine Indianer sind (wie auch in Mexiko) noch sehr zahlreich. Das kaukasische
Element ist viel stärker als in Westindien. Guatemala zum Beispiel hat nach der
freilich veralteten Zählung von 1893 unter 1364000 Einwohnern (12 auf den
Quadratkilometer) 482000 Weiße — ob diese nun gerade einen reinen Stamm¬
baum haben, ist nicht gesagt. Um die Verhinderung der Kriege haben sich Mexiko
und die Vereinigten Staaten große Mühe gegeben. Der Erfolg ist unvollständig.
Zu innern Reformen kommt man schwer, deshalb bleibt die Möglichkeit einer
nordamerikanischen Einmischung immer gegeben, sie hängt von unberechenbaren
Ereignissen ab. Vollständig von den Vereinigten Staaten abhängig ist die junge,
erst am 3. November 1903 proklamierte Republik Panama. Sie bildete bis dahin
einen Teil der Republik Colombia und nahm an häufigem Aufruhr teil. Als
die Vereinigten Staaten den Kanal bauen wollten, boten sie Colombia eine
hohe Summe, doch überschätzten die Machthaber das Erreichbare. Panama,
ohne Frage durch das Newyorker Riesenkapital wirksam unterstützt, jedoch ohne
alle Einwirkung der offiziellen Kreise von Washington, erklärte seine Un¬
abhängigkeit und rief den Schutz der Vereinigten Staaten an. Solcher wurde
ihm dann natürlich zuteil. Die neue Republik verkündete ihre Unabhängigkeit
und erhielt zehn Millionen Dollars dafür, daß sie alle Hoheitsrechte über das
Kanalgebiet abtrat. Seitdem herrscht Ruhe und Ordnung; ein im Frühjahr 1908
erfolgter Angriff columbischer Scharen wird wohl eingestellt werden, ehe die
Vereinigten Staaten eine strenge Miene machen können. In allen innern
Angelegenheiten mögen die Panamesen sich selbst regieren, wenn sie nur nicht
den Kanal oder das Eigentum Fremder antasten. Nach außen vertritt sie
Washington. Und sollten sie die nordamerikanische Politik durchkreuzen, so
wird man rasch mit ihnen umspringen. Dies ist eine Form des Protektorats
des Nordens über kleine Republiken. Santo Domingo und Cuba haben
andre; es lassen sich wohl noch viele finden.
Je weiter nach Süden, desto mehr verschiebt sich die Frage der Ein¬
mischung. Die Entfernung wächst, die Republiken werden größer, die Aus¬
übung einer Vormundschaft wird schwieriger. Die beiden nördlichsten Staaten
stellen das Elend des kreolischen Amerikas am ausgeprägtesten dar. Venezuela
hat eine Bevölkerung von etwa zweieinhalb Millionen Seelen, unter denen
nur etwa 25000 einheimische und 45000 fremde Weiße gezählt werden; ferner
etwa 350000 Indianer, zum Teil noch in vollständiger Unabhängigkeit und
Wildheit. Der Nest, reichlich zwei Millionen, wird aus den Abkömmlingen
der drei völlig verschmolznen Nassen, der Spanier, Neger und Indianer ge¬
bildet. Hier zeigt sich der Mangel an staatenbildender Kraft in erschreckender
Deutlichkeit. Alle die schon erwähnten Schattenseiten sind hier vereinigt. Das
Land ist beinahe so groß wie Deutschland und hat nur eine Bevölkerungs¬
dichtigkeit von 2,3. Es ist sehr schwer zu packen, für Versündigung an Kultur-
machten also schwer zu strafen. Präsident Castro hat gewagt, Deutschland,
England, Frankreich, Italien, Holland zugleich zu trotzen. Die ihm zuteil
gewordne Abstrafung hat ihn nicht verhindert, alsbald mit den Vereinigten
Staaten anzubinden. Er hat einer nordamerikanischen Gesellschaft, der Bermndez
Asphalt Company, die Konzession entzogen, weil sie sich am Aufruhr beteiligt
habe, was wahr, jedoch nur in einer Zwangslage geschehen sein soll. Die
Vereinigten Staaten sind langsam zum Zorn, wenn keine europäische Ein¬
mischung droht. Krieg zu führen haben sie keine Neigung. Man kommt also
über Proteste und Klagen nicht hinaus, und unterdessen schlägt Präsident
Castro dem großen Bruder in Washington ein Schnippchen.
Es kann nicht unsre Aufgabe sein, alle südamerikanischen Staaten durch-
zugehn. Das Gesamtbild verändert sich, je weiter wir nach Süden kommen,
um so vorteilhafter. Brasilien ist in eine bessere Ära eingetreten, es arbeitet
sich vielleicht durch. Argentinien widmet alle Kräfte der Kultur seiner weiten
Ebnen und erfreut sich einer starken Einwanderung namentlich aus Italien.
Man zählte 1903 schM. 500000 Italiener, rund den zehnten Teil der Ge-
samtbevölkerung. Seitdem hat die starke Einwanderung noch immer angedauert.
Die Italiener kommen weniger als dauernde Ansiedler denn als Gäste für fünf¬
zehn bis zwanzig Jahre in der Hoffnung, dann mit einem kleinen Kapital,
von dessen Rente sie leben können, heimkehren zu können. Spanier wurden
zu derselben Zeit 200000 gezählt. Franzosen 94000, Amerikaner 118000,
Deutsche nur 17000. Dennoch brachte die Hypnose gewisser Deutschenfcinde
es fertig, Deutschland die Lust, Argentinien zu erobern, unterzuschieben. Aus
der Ära der Revolutionen ist Argentinien noch immer nicht heraus. Chile
hat am wenigsten unter Unruhen gelitten. Das gebirgige, gemäßigte Klima
hat ein kräftiges, kriegerisches Volk erzogen. Chile hat einen Teil Perus und
Bolivias erobert und wiederholt dem größer» und volkreichern Argentinien
kriegsdrohend gegenübergestanden. Einflüsse der Großstaaten und Anrufung
von Schiedsgerichten haben den Ausbruch von Feindseligkeiten verhindert. Als
bezeichnend für die Abnahme des Einflusses der Vereinigten Staaten nach
Süden zu ist hervorzuheben, daß Chile und Argentinien als Schiedsrichter
nicht den Präsidenten der Vereinigten Staaten angerufen haben, sondern König
Eduard von England. Beide sind niemals in die sogenannten Gegenseitigkeits¬
verträge mit den Vereinigten Staaten eingetreten. Die Ausfuhr ganz Süd¬
amerikas, namentlich der beiden südlichsten Staaten, nach Europa ist ganz be¬
deutend größer als nach den Vereinigten Staaten. Das ist immerhin ein
starkes Hindernis, das diese bei allen Versuchen, den europäischen Handel durch
Zollmachinationen auszuschalten, zu überwinden haben. Möchte Europa zu so
viel gemeinschaftlichem Handeln kommen, um einen allen seinen Teilen drohenden
Schlag dieser Art abzuwenden.
Die Bevormundung ganz Amerikas durch das einzige kräftige, mächtige
staatliche Gebilde ist ein Entwicklungsziel, das bei dem zerrütteten Zustande
fast des ganzen romanischen Amerikas keineswegs ausgeschlossen ist. Ob, wann
und wie sich ein solches Ereignis aber einmal vollziehen wird, das hängt
von dem Zusammenspiel der mannigfaltigsten Umstände ab. In ihrer Ge¬
samtheit sind diese völlig unberechenbar.
MM! s begegnet dem Rezensenten nicht oft in diesen Tagen literarischer
Überproduktion, daß er freudig ausrufen kann: dieses Buch ist
nicht allein existenzberechtigt, uicht allein nützlich, es ist geradezu
notwendig! Bewahrung der Jugend vor dem Verderben, das
! einem ganz wesentlichen Teile der Sprößlinge des ärmern Volks
droht, gehört zu den allerdringendsten Staatsnotwendigkeiten. Soll aber die
Bewahrungs- und Nettungsarbeit mit einiger Aussicht auf Erfolg betrieben
werden, so müssen möglichst weite Kreise für die Teilnahme daran gewonnen,
und sie müssen über den Umfang und die Natur des Übels sowie über die zu
seiner Bekämpfung verfügbaren Mittel genau unterrichtet werden. Das leistet
I. F. Landsberg, Vormundschaftsrichter in Lennep, mit seinem Buche: Das
Recht der Zwangs- und Fürsorgeerziehung. (Berlin und Leipzig,
Or. Walther Rothschild, 1908.) Sein Inhalt ist aus reicher Erfahrung und
gründlicher Sachkenntnis geschöpft, ein warmes Herz hat es inspiriert, und ein
gesunder praktischer Verstand sorgt dafür, daß die Herzenswärme nicht irre¬
führt. Den zunächst berufnen: Vormundschaftsrichtern, Lehrern, Kreis- und
Gemeindebehörden, Pfarrern, Vormündern, Leitern von Wohltätigkeitsvereinen
bietet es sich als ein Führer durch ein verwickeltes Rechtsgebiet dar, den sie
bald unentbehrlich finden werden.
Im ersten Abschnitt werden „die Feinde" beschrieben, die das sittliche
Verderben anrichten, und wird zunächst erklärt, was darunter zu verstehn sei.
Um sich das klar zu machen, muß man einen praktischen Begriff von Sittlich¬
keit haben, und der Verfasser beweist nun, daß dieser Begriff keineswegs mit
den Definitionen der christlichen Kirchen zusammenfüllt, daß es darum irre leitet,
wenn in den Kommentaren zum preußischen Fürsorgegesetz und in den Aus¬
führungsbestimmungen des Ministers des Innern Sittlichkeit mit Religion
beinahe identifiziert wird. Das Christentum predige eine Sittlichkeit, die über
das für die bürgerliche Ordnung erforderliche hinausgeht und zu heroischen
Opfern im Dienste der Nächstenliebe befähigt. Aber diese Sittlichkeit, darin
geben wir ihm recht, ist nicht das, was einem verwahrlosten Kinde in seinem
eignen Interesse und in dem der Gesellschaft beigebracht werden soll und kann.
Und diese erhabne Sittlichkeit birgt zudem wirkliche Gefahren. Der Fall ist
ja doch gar nicht selten, das; aus der Bergpredigt die Verwerflichkeit des
Kriegsdienstes gefolgert wird, und jedenfalls ist sie nicht geeignet, hingebende
Vaterlandsliebe und kriegerischen Mut einzuflößen. Außerdem werden im
Religionsunterricht Dogmen gelehrt, die geradezu Schaden anrichten; so wird
das Gerechtigkeitsgefühl untergraben, wenn die Kinder glauben müssen, daß die
Ungetauften verdammt werden, daß also die ewige Verdammnis über Unzählige
verhängt werde wegen eines Zufalls, deu abzuwenden nicht in ihrer Macht
stand. Was ein armer Junge braucht, um sich ehrlich fortzuhelfen und Konflikten
mit der Gesellschaft zu entgehn, das ist Rechtschaffenheit und Tüchtigkeit. Diese
beiden Eigenschaften sind unabhängig von der Konfession. Demgemäß dringen
Sachverständige auf Jnterkonfessionalität: »Die Kinder sollen erfahren und
lernen, was die Menschen verbindet, und nicht das, was sie ganz unnötiger¬
weise trennt. Es empfiehlt sich nach wie vor, bei der Erziehung der Kinder
Wert darauf zu legen, daß möglichst viele das Glück und den Halt des Gott¬
vertrauens kennen und bewahren lernen. Aber man hüte sich, diese Herzenssache
zur alleinigen Grundlage der sittlichen Erziehung zu machen. Durch solche
Verquickung schädigt man beides." Landsberg geht nicht so weit wie der
Verfasser einer Zuschrift an ihn, der geradezu fordert, man solle helle gro߬
städtische Sozialdemokratenkinder nicht frommen Familien in Pflege geben,
deren Ansichten und Gewohnheiten nur ihre Spottlust wecken würden, sondern
rechtschaffnen konfessionslosen Leuten. Bei dem heutigen Ansturm der Über¬
menschen, der Antimoralisten und der Vorkämpferinnen einer sogenannten
Reform der Sexualethik auf die Grundlagen der bürgerlichen Ordnung könnten
die Verteidiger dieser Ordnung des Beistandes der Geistlichen nicht entbehren.
Zudem handle es sich um Kinder, denen die elterliche Liebe fehle, für die des¬
wegen ein das Gemüt bereicherndes religiöses Ideal als Zugabe zu deu not¬
wendigen Eigenschaften, die anerzogen werden sollen, ein ganz besondres Glück
bedeute. (Man wird hinzufügen dürfen, daß für gewöhnlich nur der religiöse
Glaube den Erziehern fremder Kinder ein liebevolles Interesse für diese einflößt,
das die Elternliebe zu ersetzen vermag.) Aber mit alledem werde der Begriff
„religiös-sittlich" für den hier in Rede stehenden Zweck nicht praktisch ver¬
wertbar, und daß der religiöse oder konfessionelle Eifer, besonders der katholische,
diesem Zweck manchmal sogar entgegenarbeitet, dafür findet man in den spätern
Teilen des Buches manche Beweise. Nur einer der Fälle, die Landsberg zu
erzählen weiß, mag hier mitgeteilt werden. Ein Mädchen ist seinen unsittlich
lebenden Eltern weggenommen und in einem Kloster untergebracht worden.
Fünfzehnjährig, wird es als Dienstmädchen in ein gutes Haus gegeben. Die
Nonnen verbieten ihm jeden Ausgang, die Dienstherrschaft dagegen erlaubt den
sonntäglichen Besuch des Jungfrauenvereins. Weil das Mädchen dort einmal
ein Unwetter abgewartet hat und erst nach Einbruch der Dunkelheit, in an¬
stündiger Gesellschaft übrigens, heimgegangen ist, erscheint bald darauf eine
Nonne in Begleitung zweier handfester Männer bei der Dienstherrschaft, und
diese entführen das Mädchen unter Anwendung von Gewalt gegen die Ent¬
führte wie gegen die Hausfrau. Das brave und unverdorbne Mädchen hat
nachträglich geklagt, man wolle es zum Noviziat presfsn. Wie wenig übrigens
Landsberg gegen den Katholizismus voreingenommen ist, ergibt sich daraus,
daß er gerade die von einem katholischen Geistlichen geleitete Provinzial-Für-
sorgeanstalt Fichtenhain bei Krefeld als Musteranstalt beschreibt.
Nach den hier dargelegten Grundsätzen sind demnach die zu bekämpfenden
Übel: Entartung und Verwahrlosung, als das Gegenteil von Tüchtigkeit und
Rechtschaffenheit zu definieren. Ungeborne Entartung kann vorhanden sein, ohne
daß sie sich nach den Regeln der medizinischen Wissenschaft feststellen läßt. Es
gibt Kinder, die, ohne an einer nachzuweisenden körperlichen Deformität zu
leiden, durch ihre eingebornen Charaktereigenschaften zum Unglück prädestiniert
erscheinen. Aus solchen Kindern Menschen zu machen, die nicht mit der bürger¬
lichen Ordnung in Konflikt geraten, ist die häusliche Erziehung uur dann
imstande, wenn die Eltern sehr gut situiert und dabei sehr weise und gewissen¬
haft sind. Eine eigentümliche Beobachtung hat der Verfasser in Gegenden
gemacht, wo die ländliche Bevölkerung allmählich zu städtischem Leben über¬
geht: an den Enkeln treten die Charakterzüge der bäuerlichen Großväter in
karikierter Gestalt hervor, deren Tugenden sind, bei leiblicher Degeneration, in
die entsprechenden Laster ausgeartet. Zur Entartung, für die höchstens die
Konstitution aber nicht eine schuldvolle Handlungsweise der Eltern verantwort¬
lich gemacht werden kann, tritt die durch Vernachlässigung oder schlechtes
Beispiel und ungünstige soziale Verhältnisse verschuldete Verwahrlosung, der
auch gut geartete Kinder verfallen, nicht immer erst durch schlechtes Beispiel
und Verführung, sondern oft auch dann schon, wenn ihre natürliche Wildheit,
die an sich bei Knaben nur ein Symptom der Gesundheit, also erfreulich ist,
der richtigen Zügelung und Leitung entbehrt. Den hauptsächlichsten Nährboden
für die schlimmen Eigenschaften, die sich als Anzeichen der Entartung und der
Verwahrlosung entwickeln, geben, wie jedermann weiß, die mancherlei sozialen
Verhältnisse ab, die mit dem Worte „Not" zusammengefaßt werden können.
Besonders auf zwei Formen dieser Not hat der Verfasser sein Augenmerk
gerichtet, auf die Hausindustrie und die Kinderarbeit außer dem Hause. Er
weist nach, daß die bestehenden Kinderschutzgesetze nicht genügen, wenn er auch
die ungeheuern Schwierigkeiten anerkennt, die der Durchführung von weiter¬
gehenden entgegenstehn würden. Schon bei der Anwendung der bestehenden
Gesetze sei doch eben darauf Rücksicht zu nehmen, daß die Kinder leben wollen,
und zu fragen, wie sie leben sollen, wenn man ihre Beschäftigung in der
bisherigen Weise oder in dem bisherigen Maße verbietet. Immerhin ließe sich
etwas mehr erreichen, wenn das Gesetz nicht so häufig umgangen würde, und
wenn die Strafen für Übertretung nicht ihrer Milde wegen unwirksam wären.
Der Verfasser hat im letzten Vierteljahr 1906 als Strafrichter mit einer ganzen
Kette von direkten Zuwiderhandlungen zu tun gehabt, die mit Unkenntnis des
Gesetzes entschuldigt wurden. Da der durch ein Rundschreiben zur Hilfe auf¬
geforderte Waisenrat vollständig versagte, hat sich Landsberg an die Volks¬
schullehrer gewandt mit der Bitte, ihm in der Fürsorge für die Jugend auch
über das schulpflichtige Alter hinaus beizustehn und ihm Fälle von Ausbeutung
der Kinder und der Jugendlichen anzuzeigen und dabei bemerkt, daß auch
strafbare Handlungen, die zur Kenntnis des Vormundschaftsrichters gebracht
werden, keineswegs als zur strafrechtlichen Behandlung angezeigt gelten.
Vielmehr werde sich der Vormundschaftsrichter bemühen, die Sachen mit den
ihm an die Hand gegebnen Machtmitteln lediglich im Interesse der Minder¬
jährigen zu behandeln. Der Verfasser schätzt die Zahl der in der Hausindustrie
zur Verkümmerung verurteilten Kinder (leibliche Verkümmerung macht eben
doch untüchtig) auf eine Viertelmillion. Natürlich sei es unmöglich, diese alle
ihren Eltern wegzunehmen und auf Staatskosten zu erziehen. Es müsse demnach
darauf hingearbeitet werden, diese volksverderblichen Erwerbsarten durch gesündere
zu ersetzen. Die Arbeit im Kohlenbergwerk, in der Grobeisenindustrie ernähre
nicht bloß ihren Mann, sondern auch dessen Familie. Warum überlasse so
mancher Deutsche diese Arbeit den Polen, Kroaten und Italienern und wähle
eine Beschäftigung, bei der er, wie er von vornherein wisse, die Familie nur
unter der Voraussetzung zu erhalten vermag, daß die Frau und die Kinder
mitarbeiten? Man wende ein, die seit Generationen körperlich entartete
Bevölkerung ganzer Gegenden sei zu harter und schwerer Arbeit nicht mehr
fähig. Das treffe jedoch glücklicherweise nicht im vollen Umfange zu. (Der
Verfasser hätte an dieser Stelle daran erinnern sollen, daß einen wesentlichen
Teil der Schuld die Verbildung des Geschmacks und des Ehrgefühls trägt,
die in schmutziger und schwerer Arbeit etwas Herabwürdigendes sieht und zum
Beispiel die Nadelarbeit für vornehmer hält als die Arbeit der ländlichen oder
der städtischen Dienstmagd; je mehr dieser Über- und Verbildungsprozeß fort¬
schreitet, desto weniger kann unsre Landwirtschaft, unsre Großindustrie der
slawischen und sonstiger ausländischer Arbeiter entbehren.) Bei jungen Leuten,
die das vierzehnte Lebensjahr überschritten haben, reicht die Schutzgesetzgebung
namentlich deswegen nicht aus, weil angenommen wird, daß sie dann imstande
seien, sich ihren Lebensunterhalt vollständig zuverdienen, und weil die Armen¬
verwaltung mit Berufung auf diesen vom Bundesamt für Heimatwesen an¬
erkannten Grundsatz das Gesuch der Vormundschaft um eine Beihilfe zum
Unterhalt und zur Erziehung ablehnen darf."
In dem Kapitel „Fehltritt und Laster wird auch der Verband für
Mutterschutz als Bundesgenosse im Kampfe gegen die Verwahrlosung begrüßt.
Man könne nicht alle Einzelbestrebungen des Verbandes billigen, aber im
Grundgedanken: der Fürsorge für das Wohl der unschuldig leidenden und durch
Vorurteil niedergedrückten Kinder, müsse man ihm beistimmen. Wie das Vor¬
urteil wirkt, wird an einem Falle gezeigt. Ein unehelich geborner Knabe, für
den aber seine bemittelten Verwandten gut sorgten, wird in Böhmen erzogen,
von wo aus er seine in Dresden verheiratete Mutter jeden Sonntag besucht.
In den nationalen Kämpfen, die er vor Augen hat, ist er ein begeisterter
deutscher Patriot geworden und will Offizier werden. Sein Gesuch um Auf¬
nahme in ein Kadettenhaus wird zurückgewiesen mit der kurzen Begründung,
daß unehelich Geborne unter keinen Umständen aufgenommen werden. Das
wirkte auf den Burschen sehr niederschlagend, und zunächst beschloß er, gar
nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren. Liebevollem Zuspruch der Ver¬
wandten und des Vormundschaftsrichters ist es gelungen, ihn aufzurichten,
„wie aber mag es jungen Leuten von nicht ehelicher Geburt ergehn, denen eine
ähnliche Abweisung widerfährt, ohne daß das Wohlwollen aller ihnen nahe¬
kommenden Menschen ein solches Gegengewicht bietet?" Was das zunächst
und unbedingt Notwendige betrifft, den Unterhalt des Kindes, so ist dazu
selbstverständlich der Vater verpflichtet. „Ist es nicht ein schreiendes Unrecht
gegen diese Kinder, wenn man zur Bestrafung der unsittlichen Mutter oder
um Erpressungen vorzubeugen die »Einrede der mehreren Beischläfer« zum
gesetzlichen Grunde für die Verweigerung der Unterhaltungszahlung gemacht
hat? Sollte man nicht vielmehr solidarische Haftbarkeit der beteiligten Männer
einführen? Allerdings wird man gleichzeitig dafür sorgen müssen, daß die
Alimente nur für das Kind verwandt werden. Unter dieser Voraussetzung
aber: fort mit der exosvtio xlorium." Freilich sei es meist sehr schwierig, die
Väter zur Erfüllung ihrer Pflicht zu zwingen, namentlich wenn sie Lohnarbeiter
sind, die ihren Wohnort oft wechseln. Man müsse mit schweren Strafen und
mit Arbeitzwaug gegen die Pflichtvergessenen einschreiten. „Man macht so viele
Gesetze zum Schutze der Arbeiter, daß man das Privilegium unehrenhafter
Arbeiter, ihre unehelichen Kinder im Stich zu lassen, wahrlich nicht länger
aufrecht zu erhalten braucht." Es handle sich dabei nicht bloß um das
Schicksal der armen Kinder, sondern es dränge ein unmittelbares öffentliches
Interesse, weil die Unehelichen einen sehr hohen Prozentsatz der Verwahrlosten
ausmachen.
Das zweite Hauptstück ist „die Kämpfer" überschrieben. Als erster wird
der Strafrichter vorgeführt, der jedoch schon deswegen wenig in Betracht komme,
weil er es in jedem Falle nur mit einer einzelnen Strafttat zu tun hat. „Was
diese eine Tat dem Richter sagt, ist maßgebend für das, was er ohne Rücksicht
auf Zweckmäßigkeitsgründe zu tun hat. Man mag zu den Grundsätzen des
Strafrechts stehn, wie man will, das wird man zugeben müssen, daß bei dem
Kampfe um das sittliche Wohl der Jugend nicht von der Frage nach Schuld
und Vergeltung ausgegangen werden darf. Ich stehe nicht an, zu behaupten,
daß es nach meiner persönlichen Überzeugung überhaupt uicht richtig ist, den
Gedanken an Schuld und Vergeltung als leitendes Prinzip an die Spitze des
Kampfes gegen das Verbrechen zu stelle»; hier genügt es aber, festzustellen,
daß dieser Gedanke jedenfalls für die Behandlung der Jugend nicht paßt."
Für diese kommen drei Fragen in Betracht, die zu beantworten für gewöhnlich
nicht Sache des Strafrichters sei: ob der Angeklagte so verdorben sei, daß die
Gesellschaft vor ihm geschützt werden müsse, ob er dnrch das Gefängnis ge¬
bessert werden könne, und ob nicht sowohl die Besserung des jungen Menschen
wie der Schutz der Gesellschaft vor ihm weit eher von einer besonders für den
Zweck eingerichteten Erziehung zu erwarten sei. Es werden dann die mancherlei
Kompromisse besprochen, zu denen sich in der neusten Zeit die Gesetzgebung ver¬
standen hat, um das Erforderliche trotz der falschen Prinzipien des Strafrechts
einigermaßen zu erreichen, und es wird besonders das Strafaufschubverfahren
als durchaus unzulänglich charakterisiert. Übrigens sei auch bei diesem nicht
der Strafrichter sondern der Vormundschaftsrichter die Hauptperson, weil nur
dieser in der Lage sei, den Gewarnten zu überwachen. Neben den Erziehungs¬
berechtigten des Privatrechts aber spielt erst recht der Vormundschaftsrichter die
Hauptrolle, weil es sich ja um Fälle handelt, wo diese Berechtigten ihre Pflichten
nicht erfüllen. Dem Vormundschaftsgericht hat die neuste Gesetzgebung sehr
weitgehende Vollmachten erteilt. Lange Zeit, führt der Verfasser aus, hätten
doktrinäre Zweifel von kräftigem Eingreifen zurückgehalten. „Mit einer gewissen
resignierten Gleichgiltigkeit sah man zu, wie ganze Scharen von Kindern als
Rekruten des Verbrechens oder des Lasters heranwuchsen. Besonders scheute
mein sich, in die Rechte des Vaters einzugreifen. Die altersgeheiligte väterliche
Gewalt genoß, zwar nicht bei den entarteten Kindern, um so mehr aber beim
Staate, einen außerordentlichen Respekt. Schließlich hat man aber doch diese
Scheu über Bord geworfen und einsehen gelernt, daß einer untauglichen Familie
die Erziehung nicht überlassen werden darf. Immer mehr wurde die elterliche
Gewalt dem Charakter der bloß vormundschaftlichen angenähert. Und der
Staat stärkte seine Hand gegen Familien, die ihre Aufgaben nicht erfüllten.
Er stärkte sie bei dem Strafrichter, indem er da, wo eine Strafe noch nicht
eintreten kann, eine etwaigen weitern Strafttaten vorbeugende Erziehung ein¬
treten lassen kann. Er setzte den Vormundschaftsrichter zum Hüter über die
elterliche Gewalt und machte zugleich auch eine Reihe von staatlichen und
Sclbstverwaltungsorganen gegen die Verwahrlosung mobil, die bis dahin mit
der Erziehung nichts zu tun hatten. Die Hauptrolle aber fiel dem Vormund¬
schaftsgericht zu. Es ist nicht mehr bloß Überwachuugsorgan; unmittelbar greift
es in die Rechte und Schicksale der Beteiligten ein." Mit der Beschreibung
der Tätigkeit des Vormundschaftsgerichts und des Vormundschaftsrichters beginnt
nun das, was dieses Buch zu einem unentbehrlichen Lehrbuche macht. Das
läßt sich nicht in einem Auszuge wiedergeben. Wir greifen nur einige Punkte
heraus, die dem weniger Eingeweihten eine Ahnung von den mancherlei Dingen
geben mögen, die darin vorkommen.
Es werden Inhalt, Umfang und Grenzen der elterlichen Rechte und Pflichten
beschrieben sowie die Rechte und Pflichten der übrigen Erziehungsberechtigten:
der Vormünder, Pfleger und Beistände. Dabei wird auf eine Lücke des Bürger¬
lichen Gesetzbuchs aufmerksam gemacht; dieses kennt das einfache pflegeelterliche
Verhältnis nicht (die Unterbringung der Kinder bei Pflegeeltern auf Grund
privater Abmachungen zwischen den beiden Familien), während diesen so häufig
vorkommenden Fall sowohl der Lväö vivit wie das Preußische Allgemeine Land¬
recht berücksichtigt hat. Von den Hilfsorganen des Vormundschafts gerichts:
Gemeindewaisenräten und Armenbehörden, wird nachgewiesen, daß sie sehr
schlechte Gehilfen sind. Fälle von arger Verwahrlosung und Mißhandlung
erfahre der Vormundschaftsrichter eher noch von der Polizei als von den
Waisenräten; die Armenbehörden aber versagten aus Scheu vor den Kosten,
die aus der Fürsorge für verwahrloste und gefährdete Kinder erwachsen. Waisen¬
kinder und durch Richterspruch von ihren Eltern getrennte Kinder bringen sie
oft in ein und demselben Hause, ja in derselben Stube mit Landstreichern,
Trotteln und verkommnen Menschen unter und überlassen sie dort sich selbst
und dieser Sorte von Erziehern. Landsberg empfiehlt dringend allen Personen,
die mit der Armenpflege zu tun haben, die Lektüre von Oliver Toise. Bei den
Kreis- und Bezirksausschüssen finden die Armenbehörden meist Schutz in dem
passiven Widerstande, den sie den Anordnungen des Vormundschaftsgerichts
entgegenzusetzen Pflegen.
Die Waffen der Kämpfer sind die Gesetze. Es kommen in Betracht die
Paragraphen 1666, 1686 und 1833 des Bürgerlichen Gesetzbuchs, der Ar¬
tikel 135 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche, der Para¬
graph 55 des Reichsstrafgesetzbuchs (der bestimmt, daß zur Besserung und
Erziehung von Kindern unter zwölf Jahren, die strafbare Handlungen begangen
haben, die geeigneten Maßregeln getroffen werden können) und die Zwangs-
erzichungsgesetze der Einzelstaaten, unter denen das preußische Gesetz über
Fürsorgeerziehung vom 2. Juli 1900 das wichtigste ist. Dieses Gesetz nun und
die drei Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs, die dem Vormundschafts¬
gericht Vollmacht erteilen, bei Gefährdung und Verwahrlosung der Kinder gegen
die natürlichen Erzieher einzuschreiten, werden als Waffen sehr verschiedner Art
charakterisiert. In den Fällen, wo Zwangs- oder Fürsorgeerziehung angeordnet
wird, „treten die privaten Erziehungsrcchte vollständig und grundsätzlich dauernd
außer Funktion, der Staat oder die von ihm abhängigen und dazu bestimmte»
Selbstverwaltungsorgane an seiner Statt nehmen die gesamten Erziehungsrechte
an sich. Im Gegensatze zu dieser radikalen Vernichtung der sämtlichen privaten
Erziehungsrechte steht der Eingriff des Vormundschaftsrichters auf Grund der
bezeichneten Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Hier werden die privaten
Erziehungsrechte nicht aufgehoben, sondern mit einer bestimmten Instruktion
belastet aufrecht erhalten, höchstens aber einem Privaten, der sie nicht richtig
gebrauchte, genommen und teilweise oder ganz an andre Private übertragen....
Der reichszivilrechtliche Eingriff des Vormundschaftsrichters hat als Grundlage
nur das private, persönliche Interesse des Mündels, auch wenn zur Wahrung
dieses Interesses auf öffentliche Mittel zurückgegriffen wird. Die Fürsorge¬
erziehung im Sinne des preußischen Gesetzes aber (ebenso die auf Grund des
oben erwähnten Neichsstrafgesetzparagraphen verfügte Zwangserziehung) ist eme
Maßnahme des öffentlichen Rechts und erfolgt zunächst ganz ausschließlich im
öffentlichen Interesse zu dem Zweck, dem Verbrechen und dem Laster die Rekruten
zu entziehn, wenngleich man sie mit dem persönlichen Interesse der Kinder möglichst
in Einklang zu bringen sucht." Aus diesem grundsätzlichen Unterschiede ergibt
sich zunächst der praktische, daß im zweiten Falle der Staat alles bezahlt,
während sich der Vormundschaftsrichter um die Beschaffung der Mittel für die
von ihm für notwendig erachteten Maßregeln sorgen muß. Mit der Zwangs¬
erziehung hat der Vormundschaftsrichter nur insofern zu tun. als ihm die
Entscheidung darüber, ob Zwangs- oder Fürsorgeerziehung anzuordnen sei oder
nicht übertragen ist. nur aus Erwägungen der Zweckmäßigkeit; ..theoretisch
wäre es ebenso richtig gewesen, die Polizei oder das Strafgericht mit ihr zu
betrauen " Ist die Entscheidung gefallen, dann ist das Mündel der Aufsicht
und Sorge des Vormundschaftsrichters vollständig und für immer entzogen.
Das ist ein Grund, der gewissenhafte Vormundschaftsrichter mit der Entscheidung
für die Zwangserziehung auch dann zögern läßt, wenn die Voraussetzungen für
diese gegeben sind (was bei weitem nicht in allen Fallen von Verwahrlosung
zutrifft) ..Eine anders geartete, dem Vormund chaftsrichter wenig bekannte
Behörde wird über das Kind befinden. Sie wird es in eme Anstalt stecken,
deren Charakter und Wirkungsfühigkeit ihm fremd ist Dagegen ist er vertrau
mit der Geschichte und dem Fiasko der sogenannten Besserungstheorie de.
Strafrechts. Der Schluß liegt für ihn nicht fern daß die Zwa^serziehnngs-
anstalten nicht anders zu beurteilen seien als die Gefängnisse.-- Es wird spater
nachgewiesen, daß dieses verzeihliche Vorurteil glücklicherweise durch die bisherige
Erfahrung widerlegt werde; man dürfe annehmen, daß 75 Prozent der in
Fürsorgeerziehungsanstalten untergebrachten Kinder gerettet würden. Trotzdem
Wird sich ein gewissenhafter Vormundschaftsrichter nicht eher entschließen, das
Heft aus der Hand zu geben, als bis er sich überzeugt hat: der Fall liegt so
verzweifelt, daß kein andres Mittel übrig bleibt. Wird nicht zu diesem äußersten
gegriffen, sondern nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch verfahren, so hat der Vor¬
mundschaftsrichter zu entscheiden, ob das gefährdete Kind in Familienpflege
oder in eine Anstalt gebracht werden soll. Als Vorzug der Familienerziehung
wird hervorgehoben, daß die ihr anvertrauten Kinder keinen Gegensatz empfinden
zwischen sich und den übrigen Kindern des Ortes. Anstaltspfleglinge bilden
eine gesonderte Herde, leben anders als die Kinder draußen und stehn zu diesen
im Gegensatz. So können sie leicht zu der die Persönlichkeit knickenden Ansicht
gelangen, sie seien etwas Schlechteres als die freien Kinder, während sich
Zöglinge vornehmer Erziehungsanstalten durch den Gegensatz nicht selten zu
der Einbildung verleiten lassen, sie seien etwas Besseres. (In der vom Ver¬
fasser gelobten Anstalt Fichtenhain wird die Absperrung in dem Maße vermieden,
daß diese schlimme Wirkung nicht leicht eintreten kann.) Bei Familienerziehung
wird man auf vollen Ersatz der dem Kinde fehlenden Liebe für gewöhnlich nicht
rechnen dürfen (mehr als vollen Ersatz hat der Verfasser bei Diakonissen wahr¬
genommen) und schon zufrieden sein müssen, wenn wenigstens schlechte Behandlung
verhütet wird. Landsberg erzählt von einem Mädchen, das bei einer gut
empfohlnen „religiös-sittlichen" Bauernfamilie untergebracht war und dort trotz
allen lobenden Berichten des Ortsgeistlichen zugrunde gegangen sein würde, wenn
es nicht den Mut gehabt hätte, fortzulaufen und den sieben Stunden entfernten
Vormundschaftsrichter aufzusuchen, der es an einem andern Orte unterbrachte,
wo es sich brav gehalten hat. Bei der Fürsorge ans Grund des Bürgerlichen
Gesetzbuchs wird nicht eine definitive Lage geschaffen, sondern der Vormund-
schaftsrichter hat sein Mündel fortwährend im Auge zu behalten und muß
Änderungen eintreten lassen, so oft geänderte Umstände das fordern. Fällt
die Gefährdung weg, so muß er, ohne die Anregung und das Betreiben der
Interessenten abzuwarten, seine Verfügungen wieder aufheben, womit das elter¬
liche Recht in seinem ganzen Umfange von selbst wieder auflebt. Wenig bekannt
scheint es zu sein, daß bei Scheidungsprozessen der Vormundschaftsrichter über
die vorläufige Unterbringung der Kinder Verfügungen treffen darf, die denen
des Prozeßrichters entgegengesetzt sind und deren Vollstreckung hemmen. Hat
dieser zum Beispiel entschieden: während der Dauer des Prozesses bleiben die
Kinder beim Vater, so kann der Vormundschaftsrichter, wenn das Wohl der
Kinder beim Vater gefährdet erscheint, verfügen, daß sie nuderswo, etwa bei
einem Oheim untergebracht werden. Und anch nachdem das scheidende Urteil
ergangen ist, hat er zu prüfen, ob nicht die Kinderfrage in einer vom Gesetze
abweichenden Weise zu regeln ist. Es kommt vor, daß der zur Erziehung
berechtigte infolge der Aufregungen des Scheidungsprozesses einer Geistes¬
krankheit verfallen ist, oder daß Pflege und Fortkommen des Kindes bei dem
andern Teile besser gesichert erscheinen als bei dem nach dem Gesetze berechtigten.
„Ein Verschulden des durch die Abweichung benachteiligten Gatten braucht
nicht vorzuliegen, kann aber natürlich entscheidend mitwirken, wenn es vorliegt."
Auch über den Verkehr des Kindes mit dem Elternteile, von dem es getrennt
ist, hat der Vormnndschaftsrichter zu wachen, und dasselbe gilt, wenn ein Kind
durch seine Verfügung von beiden Eltern getrennt worden ist. Landsberg teilt
einen merkwürdigen Fall mit. Die Verfügung war der schlechten Mutter wegen
ergangen. Der Vater war brav, nur so wenig energisch, daß er im Bereiche
der Frau seinen Einfluß nicht geltend zu machen vermochte. Deshalb wurde
ihm gestattet, die bei einer Bauernfamilie der Umgegend untergebrachten Kinder
zu besuchen. „Fern von der Hölle, zu der die Mutter ihr Haus machte, konnten
sie einander ruhig sehn und sprechen. Der so geregelte Einfluß des Vaters
wirkte gut bis zu seinem frühen Tode. Den Kindern blieb ein freundliches
Bild von ihm; die Mutter wünschen sie nicht wiederzusehn." Selbstverständlich
gehört viel Weisheit und Vorsicht dazu, nebst der genausten Kenntnis und der
sorgfältigsten Erwägung jedes einzelnen Falles, wenn der Vormnndschaftsrichter
bei seinen Eingriffen in die elterlichen Rechte immer das Richtige treffen soll. So
Wird er nicht unter allen Umstünden eine Pflichtverletzung darin finden dürfen,
wenn ein vermögender Vater dem Sohne die Mittel zum Hochschulstudium
versagt, denn es ist möglich, daß der Vater die Anlagen und Aussichten des
Sohnes richtiger beurteilt als dieser selbst. Und es bedeutet nicht immer eine
Überschreitung der Grenzen der väterlichen Gewalt, wenn bei der Wahl der
Religion ein Druck ausgeübt wird. Das Gesetz, das dem Vierzehnjährigen die
Wahl der Konfession freistellt, meint nur die Wahl zwischen der katholischen
und der evangelischen Kirche. Heute gibt es aber auch Buddhisten, Theosophen,
allerhand abenteuerliche Sekten und die Heilsarmee. Vom Beitritt zu einer
solchen Gemeinschaft auch den schon erwachsnen Sohn zurückzuhalten, wird
jedem gewissenhaften und verständigen Vater als Pflicht erscheinen. (Kürzlich
erzählte man uns von einem jungen Manne, der als Theosoph ein Heiliger
nach indischem Muster werden will, und der seine Eltern unglücklich macht,
weil er bei keinem Beruf aushält; wahrscheinlich ist seine religiöse „Erleuchtung"
nur Vorwand der Faulheit.)
Bessere Hilfe als die verpflichteten Organe leistet dem Vormundschaftsrichter
bei seinem „Kampfe" (dessen Darstellung den Hauptteil des Buches ausmacht)
die freie Liebestätigkeit der Erziehungsvereine. Der Verfasser erklärt solche für
dringend notwendig, und zwar interkonfessionelle. „Gute Erziehungs- und
Fürsorgevereine ohne konfessionelle oder politische Nebenabsichten müssen nach
einem einheitlichen Plane das ganze Land mit einem Netz ihrer Orgamsatronen
überziehn." Hohes Lob wird dem Erziehuugsbeirat für schulentlassene Waisen
in Berlin gespendet, der jährlich nicht unter 1220 Waisen unterbringe und bei
der Berufswahl die körperliche Tüchtigkeit durch die Vereinsärzte (es werden
ihrer 130 beschäftigt) untersuchen lasse. Das Kammergericht hat die Benutzung
des Vereinsmaterials als Grundlage einer Entscheidung über Zwangserziehung
abgelehnt; uur die Aussagen von amtlichen Personen und Behörden kämen in
Betracht. 'Der Verfasser bedauert diese Ablehnung. Der Vormundschaftsrichter
müsse möglichst das Zusammenwirken aller Verpflichteten und aller freiwillig
Tätigen organisieren, möchten diese nun Vereine sein oder einzelne starke Per¬
sönlichkeiten, „deren Namen schon an sich ein Programm bedeute". Eine Auskunft
von einer solchen Persönlichkeit oder vom Berliner Erziehungsbeirat sei doch
sicherlich zuverlässiger als die von manchen amtlichen Personen, zum Beispiel
von einem ländlichen Polizeidiener. Einzelne Landgerichte bereiten, als Vor¬
mundschaftsgerichte zweiter Instanz, wie der Verfasser klagt, dem Vormund¬
schaftsrichter sogar noch größere Hindernisse als das Kammergericht mit seinen
einschränkenden Interpretationen. Als zweite Instanz über Angelegenheiten der
vorbeugenden Erziehung, meint er, „sollten überhaupt nur gewesene Vormund¬
schaftsrichter urteilen. Diese vermeiden es aber, soweit sie den direkten Verkehr
mit dem Volke lieben, sich aus der Selbständigkeit in den Zwang eines Kollegiums
zu begeben, wo sie mit verzweifelter Dialektik um Dinge kämpfen müssen, die
ihnen Herzenssache, manchem andern aber nur »Fälle« sind."
An „kleinen und vorläufigen" Reformen schlägt Landsberg einige Än¬
derungen der einschlagenden Gesetze und die Einführung von Berufsvormündern
vor; die Vormünder, die man jetzt habe, kümmerten sich teils wenig teils gar
nicht um ihre Mündel, außerdem solle regelmäßiges Zusammenwirken der
Gewerbeinspektion mit dem Vormundschaftsrichter hergestellt werden. Eine tiefer
greifende Reform werde in der Veredlung des erwachsnen Geschlechts und in
der Umbildung des Strafrechts zu bestehn haben. In Beziehung auf das erste
seien die politischen Parteien an die große Verantwortung zu erinnern, die
ihnen mit der Macht, deren sie sich erfreuen, zugefallen ist. Vorläufig benützten
sie, namentlich die sozialdemokratische Partei, diese Macht nur dazu, den
Trieben des Volks zu schmeicheln und dadurch ihre Anhängerschaft zu ver¬
mehren, während sie die Aufgabe hätten, auf Besserung hinzuwirken, in der
Arbeiterschaft nicht das Klassenbewußtsein sondern das Pflichtgefühl zu stärken.
Das Strafrecht aber „muß auf eine andre Basis gestellt werden. An die Stelle
der Vergeltung muß die Erziehung treten, an die Stelle oder an die Seite
der Strafe die Unschädlichmachung der ihrem Charakter nach gefährlichen
Menschen." Der durchschnittliche Laie unter den Lesern des Buchs wird außer
der Belehrung über eine wichtige Materie, die er daraus schöpft, noch einen
andern Gewinn davontragen: einen hohen Begriff von dem Amte des preußischen
Vormundschaftsrichters und bewundernde Hochschätzung der Männer, die dieses
A
>urcht und Mitleid sind bekanntlich die beiden Wirkungen des
Dramas, die Aristoteles einst mit genialen Griffe aus der un¬
endlichen Menge der Wirkungen dieser Dichtgattung als die
fundamentalsten und wichtigsten herausgegriffen hat. Das neue
! Stück Hauptmanns ist, wie selten eins, geeignet, die Folgen zu
illustrieren, die das Fehlen der zweiten jener beiden Wirkungen, des tragischen
Eleos, hat. Der Dichter fand in einer Sammlung alter italienischer Novellen
eine einfache und rührende Sage, deren Anfang er seinem Drama vorangesetzt
hat. Der Kaiser (es wird nicht gesagt, ob er jung oder alt war) verliebt sich
in eine Jungfrau so, daß er alle Regierungssorgen vernachlässigt und dadurch
viel Ärgernis erregt. Sogar ihr Tod erlöst ihn nicht. Tag und Nacht harrt
er bei dem Leichnam aus. Endlich erhält der Bischof von Köln nach brünstigem
Gebet die Eingebung, daß ein Ring unter der Zunge der Jungfrau an Karls
Verhexung schuld sei. Der Bischof holt den Ring hervor, worauf des Kaisers
Liebe auf ihn übergeht. Man wirst den Ring in einen Sumpf. Sogar
dorthin folgt ihm Karls Liebe. Er erbaut in diesem Sumpfe die Stadt Aachen.
Über die moralischen Eigenschaften der Jungfrau erfährt man nichts. Karls
Tun in dieser Novelle unterliegt kaum der moralischen Beurteilung. Er erliegt
einfach einem Zauber.
Für den modernen Dichter natürlich ein unbrauchbarer Stoff. Hauptmanns
Kaiser Karl verliebt sich in durchaus menschlicher Weise. Er ist ein älterer
Mann von über sechzig Jahren, der beim Anziehen eines neuen Hemdes Ge¬
danken an das Totenhemd bekommt und den Wert der kurzen Spanne Zeit,
die ihm noch beschieden ist, doppelt fühlt, so eitel ihm mit der Weisheit
Salomonis alles vorkommt. Besonders eins scheint ihm noch keineswegs
eitel. Der noch kraftvolle Mann hebt seinem Günstling Rorico gegenüber bei
einer Aufzählung der menschlichen Tätigkeiten besonders das Küssen hervor
und beneidet ihn um seine Judith. „Wär ich noch einmal jung, ich gäb all
mein weißes Haar dafür", verkündet er mit grimmem Humor. Da tritt ein
Wesen in sein Leben, das die unter der Asche vorhandne Glut lobend empor¬
flammen läßt: Gersuind, die sächsische Geisel. Mit der Zeichnung dieser Figur
hat Hauptmann einen Fehler begangen, wie er ihm in seiner erfolgreichen
theatralischen Laufbahn bisher noch nicht begegnet ist. Indem er diese Figur
auf die denkbar niedrigste moralische Stufe stellt, ertötet er in dem Zuschauer
das tragische Mitleid, oder wie man besser sagt, die tragische Sympathie mit
dem greisen Kaiser, ein Fehler, der sich im Drama bittrer rächt als irgend
ein andrer.
Denn was ist diese kleine Hexe, die vorübergehend den mächtigsten
Monarchen der Christenheit moralisch ruiniert? Schon ihr erstes Auftreten ist
Heuchelei. Sie heuchelt Wiedersehensfreude ihrem Oheim Bennit gegenüber.
Dem Kaiser tritt sie mit der erfolgsichern Frechheit der erfahrenen Buhlerin
entgegen. Jedes Bewußtsein, vor wem sie stehe, fehlt diesem sechzehnjähriger
Kinde. „Wenn alte Männer weinen, schluchz' ich, aus Angst zu lachen, lieber
mit", erklärt sie ihr Benehmen gegen den Oheim. „Scheu, warum Scheu?" er¬
widert sie Karl, als dieser fragt, ob sie wisse, vor wem sie stehe. Seine
Blicke erregen ihr ein Gemisch von Verachtung und Mitleid, dem sie den
frechsten Ausdruck leiht. „Greisenblicke tun weh; sie flehen wie getretene
Hunde." „Du hungerst auch, man siehts dir an", erklärt die von leidenschaft¬
lichster Sinnlichkeit hellsichtig gemachte. Sie bittet um Freiheit. In dieser
wird sie tun, was zu tun ihr lustig ist. Man erfährt auch bald, wozu sie
diese Freiheit gebraucht. Rorico, des Kaisers Günstling, trifft sie im Dirnen¬
winkel zu Aachen, einem Ort, wo selbst sein Schenke schaudert.
Schon vorher, nach der Flucht aus dem Kloster, hat sie ihre Freiheit in
ähnlicher Weise benutzt. Sie bietet sich Rorico an und läuft neben seinein
Pferde her, bis sie erschöpft niedersinkt. Bei ihrem Wiedersehen mit Karl tritt
sie diesem mit der gespielten und berechneten Nichtachtung der abgefeimten
Buhlerin entgegen, Sie siingt Schmetterlinge und Eidechsen, scheinbar ohne
sich um den Kaiser zu kümmern, und tut, als ob sie seine Worte nicht höre,
eine Nichtachtung, die sogar dem verliebten Greise zu stark wird. Sie lacht,
als er ihr seine Rechte anbietet, um sie zu retten, und spricht ungescheut von
den Männern, die sie besessen haben. Plötzlich hängt sie an seinem Halse.
„Ihr redet zu viel, ihr Männer; schweigt doch still und nehmt nur schweigsam
und fromm, was man euch gibt", belehrt sie den Kaiser. Jeden Wechsel seiner
Stimmung beobachtet sie lauernd, jeden Augenblick die Chancen berechnend, die
sich ihr bieten. Als der Kaiser sie verheiraten will, erklärt sie rundweg: „Für
alle einen mag ich nicht." Sie hat keine Lust, wie Karls Lieblingsblume stock¬
still im Beete zu stehn.
Ihr drittes Auftreten wirkt ähnlich wie die vorigen. Sie heuchelt Ver¬
achtung gegen das Essen. „Wenn Leute essen, ekelts mich", erklärt sie und
weist angebotneu Wein mit einem Pfuirufe zurück. Wahrscheinlich will Haupt¬
mann damit ein Symptom ihrer Hysterie zeichnen, erreicht aber nur den Ein¬
druck empörender Frechheit. Der Bericht Kurth, daß sie sich nur von Orange¬
blütenwasser und Milch von Angoraziegen nähre, versucht vergebens, sie in
eine höhere Sphäre zu heben. Sie will alles genannt werden, nur keine
Heilige. Schon vorher hat sie ihr Recht proklamiert, immer das Gegenteil
von dem zu tun, was gute Menschen tun. Sünde gibt es nicht. Sie fühlt
sich nicht als Kind Adams und Evas. „Meine Ureltern aßen von euerm
Sündenapfel nicht", verkündet das jenseit von Gut und Böse stehende sechzehn¬
jährige Mägdlein. Als Altum von Schamhaftigkeit spricht, erklärt sie dieses
für Faselei. Sie droht, ihre Kleider abzustreifen, und Karl fürchtet, daß sie
dieses wirklich ausführe. Doch es kommt noch besser. Ercambald, der greise
Kanzler, berichtet, von Wut und Ekel geschüttelt, daß sie in einer Spelunke vor
Fischern, Handwerksknechten, Maurern und Welschen nackt getanzt und sich
dann der Brunst dieser Gesellen preisgegeben habe, bis sie entstellt und ent¬
seelt im Winkel gelegen. Das ist selbst für Karl zu stark, obgleich ihr Aufent¬
halt im Diruenwinkel zu Aachen ihn vorbereitet haben könnte. Er droht, sie
wie einen widerlichen Makel von der Welt zu tilgen, nennt sie Abschaum und
Wegwurf und ruft schon bedrohlich nach der Leibwache. Aber die sechzehn¬
jährige Priesterin der Venus ont^log-sg. weiß ihn bald von dem Unrecht eines
solchen Gerichts zu überzeugen. Erst versucht sie zu leugnen, wie sie denn
durch das ganze Stück aufs schamloseste lügt, bekommt auch einen Anfall von
Todesangst, in dem sie den starken Cherub Karl um ihr Leben bittet. Dann
aber kehrt ihre gewohnte Frechheit zurück. „Was hebst du Wegwurf auf?"
„Ich mag nicht deinen Kerker, der mich vom Leben ausschließt, von dein Gott
trennt! meiner Gottheit! meiner brünstigen Glut; denn brennen muß ich, oder
ich erkalte", ruft sie empört über die Störung ihrer so berechtigten Existenz¬
form. Karl sieht auch seinen Fehler ein, diese seltne Liebespotenz in ihrem
Wirken gehindert zu haben. Gersuind hat ihn „still und mild" gemacht.
„Und bei mir frierst du?" fragt er nachdenklich. Die Leibwachen können
draußen bleiben. Die Kleine kann ruhig entfliehen, um ihre allumfassende Liebe
weiterzuüben.
So ist sie eine Zeit lang aus des Kaisers Augen, aber nicht aus seinem Sinn.
Seine Narretei blüht unheilbar weiter, wie er später erzählt. Er hat erkannt,
daß Gersuind eine Mission erfülle. Sie ist eine Gesandte des Schicksals. „Auf
uns liegt noch der sonderbare Fluch Gottes, der Eva wegen, unsrer Ahnfrau,
die immer noch zuweilen uns besucht, damit die Pein nicht sterbe unsers
Daseins, mit frischen Äpfeln und mit neuer Schuld", erklärt er der Oberin.
Er gesteht ihr, daß er sich in bittrer Reue verzehre, Gersuind verstoßen zu
haben. „Ihre Sucht, ihr wilder Trieb war mehr als einer Dirne Fürwitz,
war Zwang eines Dämons, war ein finstrer Dienst." Die Oberin soll die
Glorie der Unschuld, mit der Gersuind ihn narre, zerstören, sonst mache er
diese zum Gott des Frankenreichs. An der Leiche bricht er zusammen wie ein
im Erdbeben vibrierender Turm und hält dann dem gefallenen Engel, der mit
trotzigen Mienen, Gott gewissermaßen wegen seines Geschicks anklagend, vor
ihm liegt, eine übrigens' recht dunkle Leichenrede, in der er offenbart, was er
bisher verschwiegen hat, nämlich daß er Gersuind geliebt habe.
Es ist bekanntlich fast unmöglich, den Theatererfolg vorauszusehen. In
diesem Falle aber konnte kaum ein Zweifel bestehn. daß der größte Teil der
Zuschauer die Entrüstung Pipins teilen werde, die dieser dem Kanzler brieflich
darüber ausdrückt, daß eine stinkende Dirne den altersschwachen Kaiser am
Nasenring führe. Wie so viele Dramen Hauptmanns zeichnet auch dieses eine
pathologische Entartung. Gersuind ist eine hysterische Erotomanin, in der, wie
immer bei diesen Personen, die moralischen Gefühle gänzlich verkümmert sind.
Eine solche Figur findet vielleicht im Leben Mitleid und Nachsicht, niemals
auf der Bühne. Das Publikum besteht nicht aus Psychiatern und Ärzten, die
alles verzeihen, weil sie alles verstehn. Es stellt sich, und mit Recht, auf den
moralischen und soziologischen Standpunkt und empfindet nicht bloß derartige
Figuren als gefährlich und verabscheuungswürdig, sondern es hegt ähnliche
Gefühle auch für den, der solche Wesen, wie Karl es tut, mit einem Glorien¬
schein umgibt. Nur wenige werden sich in die Seele dieses Greises hineinver¬
setzen, dem ein Johannistrieb den Intellekt so umnebelt hat, daß er da fast
eine Heilige sieht, wo sich sogar Jünglinge wie Rorico mit Widerwillen und
Entsetzen abwenden. Unter der Jungfrau der Erzählung des Sebastians Erizzo
kann man sich eine liebwerte Jungfrau vorstellen, die des Ringes unter ihrer
Zunge gar nicht bedurft Hütte, um den Kaiser zu bezaubern. Das durch und
durch perverse, lüsterne, lauernde und verlogne Geschöpf, das Hauptmann ge¬
zeichnet hat, setzt jeden, der sich in sie verliebt, unter das Sympathie- ja unter
das Achtungsniveau hinab, dessen dramatische Hauptfiguren unbedingt bedürfen.
Es ist das erstemal, daß Hauptmann in diesen Fehler verfallen ist. Hätte er
es noch bei einigen Liebschaften mit Hofleuten gelassen, so wäre schon dies
bei den Erwartungen von Würde und Majestät, die der Name Karls des
Großen erweckt, gefährlich; indem er das Mädchen in die Dirneugasse und
die Schenke am Flusse führt, macht er jeder tragischen Sympathie mit Karl
rettungslos den Garaus. Er sucht zwar deu Kaiser dadurch zu heben, daß
er ihm eine väterliche, seelsorgerische Milde und Nachsicht gegen die junge
Sünderin leiht; aber vergeblich. Im wesentlichen sieht man doch mit Altum
einen bedauernswerten Greis, dessen Sinne nach einer Buhldirne betteln und
winseln.
me Änderung in der kirchlichen Lage Deutschlands, insoweit die
Beziehung zwischen Reformierten und Lutheranern in Betracht
kam, und die wir als die Einleitung zu dem tragischen Konflikt
betrachten dürfen, dessen Opfer Gerhardt wurde, trat erst im
Jahre 1661 ein.
Der hessische Landgraf Wilhelm veranstaltete erst in diesem
Jahre zu Kassel ein Religionsgespräch zwischen Vertretern der reformierten
Marburger und der lutherischen Nintelnschen theologischen Fakultät, das die er¬
freulichsten Ergebnisse hatte. Beide Teile kamen sich sehr nahe. Und diese Männer
vereinigten sich in dem Beschluß, den Landgrafen zu bitten, „daß er dieses göttliche,
von ihnen angefangne Werk des geistlichen Kirchenfriedens" befördern möge, damit
die benachbarten Universitäten und Kirchen, vor allem aber die brandenburgischen
und braunschweigischen, diesem Friedensbunde beitraten.") In demselben Unions¬
interesse wurde 1662 vom Kurfürsten den Studierenden der Theologie und
Philosophie der Besuch der Universität Wittenberg verboten, wer dort studierte,
wurde zurückgerufen. Solche Verbote waren damals nichts Unerhörtes. Kur¬
sachsen hatte seinerzeit den Besuch von Helmstedt, als Calixt dort lehrte, ver¬
boten? und 1660 hatte sich die Leipziger Universität für die Ausweisung der
Kalvinisten erklärt. Das Verbot des Besuchs der Wittenberger Universität war
darin begründet, daß sie nicht bloß der Vorkämpfer der lutherischen Orthodoxie
war, sondern zugleich der Trüger der heftigsten, maßlosesten Polemik gegen die
Reformierten. Als Reformierter sah sich der Kurfürst von den Wittenberger
Theologen verletzt. Er mußte befürchten, daß die in Wittenberg studierenden
Untertanen zu einer ihm feindseligen Gesinnung verführt würden.' Das Verbot
war also wesentlich eine politische Maßnahme. Von diesen Vorgängen war es
nur einer, der Gerhardt beunruhigte, das Kasseler Religionsgespräch. Wir er¬
kennen dies aus einem Gutachten, das er in bezug auf die Frage abgab, ob
die Geistlichen Berlins an dem Neligionsgespräch zwischen Lutheranern und
Reformierten, das der Kurfürst für das Jahr 1662 anberaumt, und zu dem er
die Geistlichen Berlins und Kölns aufgefordert hatte, teilnehmen sollten. Die
Geistlichen Kölns waren bereit, unionsfreundlich, die Geistlichen Berlins der
Union feindlich und dem Religionsgespräch abgeneigt. In diesem Gutachten
bezeichnet Gerhardt das Ergebnis des Kasseler Gesprächs ausdrücklich als einen
Synkretismus. Überhaupt' zeigt sich darin eine sehr scharfe Absage gegenüber
den Reformierten. So tadelt er, daß in Kassel die Lutheraner die Reformierten,
obwohl sie bei ihrer Lehre verblieben waren, doch als Brüder erkannt und an¬
genommen haben.*) Wir stehn an einem entscheidenden Wendepunkt im Leben
Gerhardts. Er hatte vieles erfahren, was ihm als Lutheraner unerfreulich er¬
scheinen mußte. Er hatte sich einem unierten Konsistorium unterstellen müssen.
Die Konkordienformel, auf die er verpflichtet war, und die eingehend und scharf
gegen den Kalvinismus polemisierte, hatte ihre verbindliche Kraft für die zu¬
künftigen Geistlichen der Mark verloren; und schon seit 1658 wurde, wennauch
nicht allgemein, von den Predigern bei Antritt ihres Amts die Unterschrift von
Rever en qe ordert, in denen das Edikt von 1614 ausdrücklich erwähnt wurde.**)
Ein Edikt, das das Schelten und Lästern den Geistlichen verbot, war 1662 er¬
lassen worden. In diesem, vom reformierten Hofprediger Stosch verfaßten Edikt
war die reformierte Konfession als die wahre bezeichnet worden. Als ma߬
gebende protestantische Bekenntnisschriften waren die Augsburgische Konfession
und die Avoloaie genannt worden, die Katechismen Luthers, die Schmalkaldischen
Artikel, die Konkordienformel, also alle eigentümlich lutherischen Bekenntnis¬
schriften waren Übergängen worden. Das Edikt verlangte, die Geistlichen sollten
Religion und Theologie iprinoiiM üclei und clog'waw tllevIoMö) zu unter¬
scheiden wissen***) Dies alles waren Bestimmungen, an denen jeder strenge
Lutheraner damals Anstoß nehmen mußte. Gerhardt hatte geschwiegen. Wir
haben anch keine Spuren, daß er von diesen Ereignissen beunruhigt worden war.
Alles wird nun mit einemmale anders. Nicht, daß in Berlin ein Neligions¬
gespräch gehalten wird, erregt ihn lebhaft. Wäre er selbst nicht zur Teilnahme
aufgefordert worden, wir möchten glauben, er wäre davon nicht allzusehr bewegt
worden. Das Neue, was jetzt geschieht, ist die Nötigung, in der konfessionellen
Frage tätig mitzuwirken. Damit wurde Gerhardt für den Verlauf der Angelegen¬
heit verantwortlich gemacht. Die Entscheidung in einer für ihn sehr wichtigen
Frage wird mit in seine 5)and gelegt. Und außerdem muß er handeln als Mit¬
glied eines Kollegiums der Geistlichkeit von Berlin. Er muß Stellung nehmen,
ob er mit ihr gehn will. Und jetzt weiß er sich verpflichtet, sein lutherisches
Bewußtsein, das bis dahin gleichsam in ruhigem Fluß sein Handeln begleitet
hatte, in aggressive Tatkraft umzusetzen. Was bis dahin von selten des Kur¬
fürsten getan worden war, dafür trug Gerhardt keine Verantwortung. Er konnte
es sich deshalb gefallen lassen; was aber jetzt geschehn sollte, dafür war er mit
verantwortlich. So begreifen wir die neue Physiognomie in seinem Bilde. Er
hat im Berliner Neligionsgespräch, das ergebnislos verlief, eine sehr tätige Rolle
gespielt. Er zeigt sich hier als einen lutherischen Theologen von großer Enge.
Wer die lutherische Abendmahlslehre kennt, weiß, wie sie verteidigt wird, und
sie dennoch ablehnt, ist ihm kein Mitbruder in Christus, besitzt nicht den wahren,
seligmachenden Glauben, rein und unverfälscht, zeigt nicht dessen Früchte in
seinem Leben und Wandel; der Kalvinist als solcher ist nicht ein Christ.*)
Der Mißerfolg dieses Neligionsgesprächs, die Ablehnung seiner Unions-
tendeuzen, mußte den Kurfürsten peinlich berühren. Sein Ziel wurde ihm da¬
durch nicht verrückt; aber er beschritt nun einen andern Weg. Er wollte die
gegenseitige Duldung und Anerkennung zwischen den beiden protestantischen Kon¬
fessionen erzwingen. Er brauchte Gewalt. Er erneuerte das Verfahren Johann
Sigismunds, durch Toleranzedikte und durch Reverse, die die Geistlichen zu
unterschreiben hatten, beide Seiten einander zu nähern. Er erließ 1664 ein
ähnliches Edikt''*) und forderte von den Geistlichen die Unterschrift. Zweihundert
Geistliche der Mark haben sie geleistet. Die Geistlichen Berlins, darunter Ger¬
hardt, haben sich geweigert. Magistrat und Stände sind für diese eingetreten.
Infolgedessen ist der eine, ein siebzigjähriger Greis, der schon entsetzt war, auf
Grund eines frei von ihm zusammengestellten Reverses wieder eingesetzt worden:
die Unterschrift des kurfürstlichen Reverses war ihm erlassen worden. Wie
stellte sich nun Gerhardt zu dieser Angelegenheit? Auch er war, weil er die
Unterschrift verweigert hatte, entsetzt worden; aber auch er sollte auf die Für¬
bitte der Bürgerschaft und des Magistrats von Berlin sowie der Stände wieder
eingesetzt werden; die Unterschrift des Reverses wurde ihm erlassen. Mau
motivierte diese Vergünstigung damit, er würde auch ohne dies dem Toleranz¬
edikt des Kurfürsten Gehorsam leisten; aber diese Voraussetzung war nicht zu¬
treffend. Gerhardt war mit den Edikten durchaus nicht einverstanden. Er er¬
klärte: „Könnte ich den Edikten gehorsam sein, so würde ich ja die Reverse zu
unterschreiben mich nicht entziehen; denn was ich mit gutem Gewissen wohl tuu
kann, das kann ich auch leicht zusagen und versprechen, daß ichs tun wolle."***)
Was war es nun, das Gerhardt zum prinzipiellen Widerspruch gegen das
Edikt bewog? Er spricht sich darüber sehr klar und bestimmt in den Schreiben
an den Magistrat und an den Kurfürsten aus, in denen er es ablehnt, wieder
in sein Amt einzutreten, unter der Voraussetzung, daß er dem Edikt gehorchen
wolle, dessen Unterschrift ihm erlassen war. Das Edikt oder genauer die Edikte
von 1614, 1662, 1664 verlangten in der Behandlung der Streitpunkte die beste
Moderation, den Verzicht auf eine Bekämpfung der andern Konfession, wobei
deren Vertreter mit verletzenden Namen bezeichnet würden. Der Revers in seiner
ursprünglichen Gestalt, dessen Unterschrift von den Geistlichen verlangt wurde,
ging über dies Edikt hinaus. Er forderte, daß die Konkordienformel omittiert,
das heißt ignoriert werde, forderte es auch von den Geistlichen, die, wie Ger¬
hardt, bei ihrer Ordination auf sie verpflichtet waren. Aber dieser Revers war
schon 1665 geändert worden. In dem neuen Revers war vom Omittieren der
Konkordienformel nicht die Rede.f) Und hier erklärte nun Gerhardt, diesen
Bestimmungen des Edikts könne er nicht entsprechen: er forderte, daß ihm der
Gehorsam gegen die Edikte erlassen werde. Er will bei allen seinen lutherischen
Bekenntnissen, namentlich der Konkordienformel, unverrückt verbleiben und sich
zu keiner andern Moderation anheischig machen, als zu einer in diesen Bekennt¬
nissen gegründeten. ^ ^ ^> --^
cBei die er Stellung Gerhardts war der Umstand, daß der Kurfürst aus
das Dringen der Stände 1667 die Unterschrift des Reverses nicht mehr forderte,
ganz unwesentlich. Denn die Giltigkeit der Edikte blieb bestehn; der Kurfürst
behielt sich vor. ihre Autorität auf andre Welse zur Geltung zu bringet)
Doch bietet das Verhalten Gerhardts em psychologisches Problem. Das
Edikt Johann Sigismunds bestand zu Recht, als Gerhardt in den Dienst der
lutherischen Kirche der Mark eingetreten war; daß man unterließ, durch Reverse
zum Gehorsam dagegen zu verpflichten, tat seiner rechtlichen Geltung keinen Ab¬
bruch. Im Jahre 1656 war die Verpflichtung der Ordmcmden auf die Konkordien-
formel aufgehoben worden, das Geschlecht der Geistlichen, das nun in den Dienst
der lutherischen Kirche der Mark trat, mit denen zusammen er fortan das Amt
zu verwalten hatte, sah in dieser Bekenntnisschrift nicht mehr eine Norm. Die
Physiognomie der märkischen Kirche wandelte sich, em Bollwerk gegen die Re¬
formierten war gefallen. Der Revers des Kurfürsten von 1653 daß ledermi
Lande, der da wolle, bei des Herrn Lutheri Lehre und der Augsburgi chen
unveränderten Konfession verharren möge und alle und jede ihre s^wbolioi IM-i,
ihre Vekenntnisschriften. also doch auch die Konkordienf^bleiben, hatte damit seine praktische Bedeutung verloren Das Edikt von 1662
hatte, abgesehen von der Apologie, nur die den Reformierten mit den Lud^genieinsamen Bekenntnisschriften als maßgebend genannt. Alles ti s hatte Ge -
hardt u keinem Einspruch bewogen; auch hatte die Tatsache, daß seine etres et^Aufsichtsbehörde reformierte Räte in sich sah oß, ehr Eintritt ndnDi ist
der märkischen Kirche nicht zurückgehalten. Und. was ihm e ne beg u bete Ur¬
sache zum Einspruch gegen den Revers in seiner ursprünglichen Fassung geben
mußte? die Verpflichtung zur Omittierung der Konkordienformel. war fallen ge¬
lassen worden. Endlich hatte der Kurfürst auch von der Forderung des Reverses
abgesehen. Der Kurfürst weicht zurück; es geschehe alles, wav Gerhardt ge¬
wünscht hat. Kurze Zeit ist der Dichter schwankend geworden. Als der Staats¬
beamte, der ihm seine Wiedereinsetzung in das Amt verkündigt, dies bannt mo¬
tiviert, daß der Kurfürst voraussetze, er werde auch ohne Revers den Edikten
gehorchen, macht er wohl seine Bedenken dagegen geltend, tritt aber Wieder in
sein Amt ein. er vollzieht eine Taufe. Aber sofort ist er auch un Gewissen
beunruhigt, er will genau wissen, an welche Bedingung seine Wiedereinsetzung
gebunden ist. Er erfährt, an keine Bedingungen, aber das Protokoll, das ihm
mitgeteilt wird, enthält den Passus, der Kurfürst halte dafür, daß Gerhardt d,e
Meinung der Edikte nicht begriffen habe. Aber dies kann Gerhardt meh zu-
gestehn. er hat die Meinung der Edikte begriffen, so ruht seine Wiedereinsetzung
auf falscher Voraussetzung. Er wendet sich darum an den Kurfürsten, er könne
den Edikten nicht gehorchen, weil dies gegen die Konkordienformel verstoßen
würde, an die er sich gebunden weiß. Er will sich deshalb „des Predigtamts ent¬
halten, bis er es mit besserm Gewissen verwalten kann. Übrigens hat er nach
Absenkung dieses Schreibens noch eine Amtshandlung vollzogen. Der Magistrat
bittet den Kurfürsten, er möge doch Gerhardt eine beruhigende Erklärung zuteil
werden lassen. Auch jetzt verfügt der Kurfürst nicht die Absetzung Gerhardts,
der Erlaß ist so gefaßt, daß der Magistrat ihn so interpretieren konnte, wenn
Gerhardt das Amt nicht wieder antreten wolle, was er vor Gott zu vercmt-
Worten habe, so möge der Magistrat andre friedliebende geschickte Männer zur
Probcpredigt einladen. Der Magistrat bittet um eine Frist für Gerhardt und
sucht diesen zu bestimmen, seine Ämtstätigkeit wieder aufzunehmen. Noch mehr,
es ist dann privatim von feiten des Hofes eingehend mit Gerhardt verhandelt
worden, und wir besitzen einen wohl von Gerhardt selbst verfaßten Bericht über
diese Unterredung.*) Das Ergebnis ist, daß die Edikte im Widerspruch mit
der Konkordienformel stehn, die Verurteilung der Reformierten, die diese aus¬
spricht, ausschließen. Da der Kurfürst aber vom Gehorsam gegen die Edikte
einen einzelnen Prediger nicht entbinden kann, so ist es auch Gerhardt nicht
möglich, in sein Amt wieder einzutreten. Und nun tat der Kurfürst einen letzten
Schritt, um seine lutherischen Untertanen zufrieden zu stellen. Er erließ am
6. Mai 1668 eine Deklaration der Edikte, in der er ausspricht, daß es den
Predigern gestattet sein solle, die streitigen Lehrpunkte in der Predigt vorzu¬
tragen, die eigne Meinung zu verteidigen, die Lehre der Gegner zu widerlegen;
aber es solle geschehen ohne Bitterkeit, Verketzerung, Verdammung oder Äna-
thematisieren, mit Sanftmut und einem gottesfürchtigen Theologen anständiger,
geistlicher Bescheidenheit. Auch solle die reformierte Lehre nur nach Maßgabe
ihrer Bekenntnisschriften, vor allem nach dem Bekenntnis Johann Sigismunds
dargestellt werden.**) Gerhardt weilte damals noch in Berlin, wohl auch noch
in seiner Amtswohnung. Hätte ihn diese Deklaration beruhigt, so hätte er
wieder zum Kirchendienst in Berlin zurückkehren können, aber sie konnte ihn
nicht beruhigen. Denn in welcher Auffassung sollte er die Reformierten auf
der Kanzel bekämpfen, wenn nicht als Ketzer, und eben dies war ihm verboten.
Der Ausgang konnte kein andrer sein, als er war, die freiwillige Amtsnieder¬
legung Gerhardts. Sie ist ihm sehr schwer geworden, denn er hatte sich bis
zum Konflikt in Berlin sehr wohl gefühlt. Als er nach Lübben übersiedelte,
war er ein gebrochner Mann. Der dichterische Quell war versiegt, der Dichter
in ihm war gestorben.
Wenn wir zurückblickend unser Urteil über den Konflikt zusammenfassen,
so richten wir zuerst unser Auge auf den Kurfürsten. Es unterliegt keinem
Zweifel, daß er die rechtlichen Befugnisse, die ihm zustanden, nicht überschritten
hat. Der Westfälische Friede legte die Ordnung der Verhältnisse der Religions¬
gesellschaften in die Hand des Fürsten. Man kann ihm nur vorwerfen, daß er
mit sich selbst in Widerspruch geraten ist, indem er 1653 die Geltung der
lutherischen Bekenntnisschriften anerkannte und sie 1656 illusorisch machte, indem
er bei der Ordination die Verpflichtung auf die Konkordienformel ausschaltete,
obwohl sie zu den Bekenntnisschriften der lutherischen Kirche der Mark gehörte.
Ebenfalls müssen wir die Tendenz billigen, die seine Edikte verfolgen, die
Verbreitung des Geistes der Müßigung und Milde im Verhalten der beiden
protestantischen Konfessionen zueinander. Er hat auch Erfolg gehabt, denn die
Geistlichen haben sich mit verschwindend geringen Ausnahmen gefügt. Aber in
der Ausführung dieser Tendenz hat er gefehlt. Die Edikte konnten, bevor der
Revers gefordert wurde, als Wegweiser interpretiert werden, denen jeder nach
seinem Gewissen folgen möchte. Sie erhielten durch den Revers Gesetzeskraft
im Vollsinne des Wortes, jetzt konnte sich ein zartes Gewissen fragen, ob es
die vom Edikt geforderte Mäßigung anwenden könne oder nicht. Es lag ein
Gewissenszwang vor, eine Verletzung der religiösen Freiheit. Und es war mit
dem Zurückziehen der Neversverpflichtung auch nichts geholfen, denn jeder wußte,
die Aufrechterhaltung der Edikte werde auf andern Wegen erzwungen werden.
Wenden Ar rL nun Paul Gerhardt zu, Der Konflikt in den er hmmigmottg
wurde, war in zweifacher Beziehung tragych. Der Dichte^ dem M Besah
zu selbständigem theologischen Denken fehlte, der zu kirchenpolitischen Verhand¬
lungen schlechthin keine Begabung hatte mußte die Jn eressen des ortlod^Lutherti.ins theologisch und kirchenpolitlsch öffentlich vertreten. Die cheologisch
Waffenrüstung. die er anlegte, stammte ans W.ttenberg und der Fichrer d r
dort geltenden Orthodoxie. Calvo. mit dem er nachweislich in Korrespondenz
stand'wird ihm behilflich gewesen sein. im Ncligiousgesprach zu Berlin d:e not¬
wendig erschcnenden Angriffs- und Verteld'gungsmethoden anzuwenden. Dav
Liithertum onnte mit Gerhardt zufrieden em- Er hat h:er eme führende Rolle
aeiv ete- er -cioe sich theologisch wohl orientiert, und seine lautere, ehrwürdige,
um und at Geol en ge^ Persönlichkeit gibt seiner Beweisführung
großes Gewicht. Aber das schließt nicht ans daß die FechterMung zu der
er ich verpflichtet wußte, seiner Natur nicht entsprach Die Welt des theo-
log schen Streites hatte ihm bis dahin fern gelegen; er hatte genug Anlaß ge¬
hab .hier einzugreifen. Wir haben mehrfach daran hingewiesen daß die kirch¬
lichen BerW M der Mark ein nnter der Herrschaft der lutherischen Orthodoxe
s^. ^ - in vielfacher Beziehung verletzen mußten. Ger-
U^h h° L-^ins
»^^r^Z^ w
^»den und g-uzen um M d-s ^ 1^ Ach-Li-d-r °d-r D>..Li-d-r^S °l. ,.„es..,^ A °«r U»s cchtz.^ U»d ti°ft-
Z^I^^AZ«« w A-h^ WM. I.
M-? "dz. « ?wo°U"in'! « w«. Wi chines luÄ
h° mon es M ob er sich in flachem Optimismus die tun ein Schatten,
die schwer lastenden Rätsel des Lebens verborgen hätte, aber un hoffenden
GlaA/wi ? r u? erfüllt daß er in Gott einen Reichtum
des Lebens findet der ita alles Weltelend geduldig tragen laßt, und eme Weis¬
heit und Lieie hin o diesseits. M)er jenseits few Ausgänge und
Sen^T ^er ^nM^^
n?d^^
viel einst i ^ co finden. Der Kurfürst ließ ihn ja. auch nachdem
er frenvim 'an?d in DieZste geschieden war ni seiner Anckswohnnng we.im.
Der Kurfüch. vor allem die Kurfürstin, wa^
schließungen des Dichters."*) und der Dichter auf einen Wandel in den Ent-
schließungen des Herrschers; und als beide vergeblich aufeinander gewartet
hatten, da war der Dichter gestorben, wenn mich der Mensch noch wenige Jahre
in Lübben freudlos sein Pfarramt verwaltete.
Eine ganz anders geartete Persönlichkeit war der Kurfürst. Er war die
führende Persönlichkeit für die Interessen des Protestantismus in Deutschland
geworden; er hatte es durchgesetzt, daß die Reformierten staatsrechtliche Aner¬
kennung im Westfälischen Frieden erlangt hatten,") Und über Deutschland
hinaus ging die Fürsorge des Kurfürsten für den Protestantismus; er suchte
alle protestantischen Mächte, ob lutherisch oder reformiert, zu gemeinsamer Ab¬
wehr des Katholizismus zu vereinigen. Das war uicht möglich, wenn die
beiden protestantischen Konfessionen nicht in friedlichem und freundlichem Ver¬
hältnis zueinander standen. Der Kurfürst mußte alle dahingehender Bestrebungen
unterstützen. In seineu eiguen Landen ergriff er die Initiative. Er schaltete
darum die Bekenntnisschriften aus, die den Gegensatz zwischen beiden Konfessionen
scharf betonen, die Artikel der Dordrechter Synode auf der reformierten, die
Konkvrdienformel auf der lutherischen Seite. Sein letztes Ziel ist die Union beider
Kirchen, aber solange diese nicht zu erreichen ist, gegenseitige Duldung und
Anerkennung. Diesem Zwecke dienen die Edikte. Er hat taktisch fehlgegriffen,
daß er Präventivmaßregeln statt Repressivmaßregeln anwandte; auch darin, daß
er die in der Mark zu Recht bestehende Konkvrdienformel aufgehoben hat.
Aber was er wollte, muß voll und ganz gebilligt werden. Seine Bestrebungen
dienten dem Fortschritt. Auf seinem Wege sind die Träger der preußischen
Krone weiter gegangen, und die Geschichte hat ihnen Recht gegeben.
Gerhardt und der Große Kurfürst haben beide gehandelt, von den Impulsen
ihres Gewissens bestimmt; der eine folgte den Verpflichtungen seines Ordinations-
gelübdes, des andre der Verpflichtung, den gesamten Protestantismus vor den
ihm drohenden Gefahren zu schützen. Ein individuell und ein universell be¬
stimmtes Gewissen traten miteinander in Widerspruch. Jenes vertrat die Ten¬
denzen einer Zeit, die bald der Vergangenheit angehören sollte, dieser Tendenzen,
denen die Zukunft gehörte. Der Konflikt zwischen dem Großen Kurfürsten und
Paul Gerhardt ist eine Tragödie, nichts Kleinliches spielt eine entscheidende
Rolle, beide Gegner schätzen sich. Der Kampf entbrennt nicht zwischen Personen,
sondern zwischen Prinzipien. Deshalb geht von dem Kampfe eine sittlich
stärkende Kraft aus. Sieger und Besiegte fesseln uns durch die Treue, mit der
sie für die Heiligtümer ihres Gewissens streiten.""")
or dreißig Jahren: In der Morgenfrühe läutet die Zechenglocke zur
Einfahrt. Mit der Mappe unter dem Arm tritt der Steiger unter
die versammelten Bergleute: ,,'n Morgen, Sinn je olle do?" Ein
kurzes Gebet wird gesprochen. Dann geht es hinunter in die Grube.
Fleißig wird gearbeitet, aber ohne jede Überspannung der Kräfte.
Und wenn der Steiger durch die Stollen geht, fällt manches derbe
oder freundliche Wort ab. Sie wissen, daß sie zusammengehören. Beamter und
Arbeiter. Der eine kennt den andern.
Das war die patriarchalische Zeit im Bergwerksbetriebe. Auf ewigen kleinern
Zechen ist sie noch nicht ganz geschwunden. Da gehn die Veteranen der Arbeit
noch einfach zu ihrem „Alten", dem Betriebsfuhrer wenn eine Sorge sie druckt,
und wissen daß er ihnen hilft, soweit er kann Aber das sind Ausnahmen Die
gewaltige Vergrößerung der Betriebe - die Belegschaft mancher Zechen zahlt nach
Tausenden -.das Wechseln der Bergleute vou einer Arbeitsstelle zur andern ha
das persönliche Verhältnis zwischen Arbeitern und Beamten aufgehoben Es herrschder Arbeitsvertrag. Auch sonst hat sich manches geändert^ Die Arbeitszeit ist
verkürzt, die Arbeit selbst aber auch intensiver geworden. Der Fleiß gleicht mehr
einer nervösen Hast. Denn es muß gefördert werde» - soviel als möglich. Die
Bergleute vom alten Schlage haben eine lebhafte Empfindung von dieser Ver¬
änderung der Lage. Wer die frühern Zustände nicht gekannt hat, nimmt die gegen¬
wärtigen als etwas Gegebnes hin. - . - ^ .
n...^-inEinst und jetzt' Der Beobachter ist geneigt, in der Umgestaltung des Berg¬
werksbetriebs eine Revolution, nicht mehr eine Evolution zu sehen. Aber es ist
doch hier wie bei allen ähnlichen Erscheinungen: es hat sich nur eine beschleunigte
Entwicklung vollzogen die dem allgemeinen industriellen Fortschritte entspricht. Eine
weniger schnelle Entwicklung läßt sich feststellen — bei den Bergleute» selbst. Es
scheint, als wäre das tote Material wandlungsfähiger als die Menschen. Bei
ihnen stößt man immer wieder auf die Tradition. Freilich ist auch hier manches
anders geworden Die Bergleute in ihrer Gesamtheit haben längst aufgehört, ein
Stand zu sein, eine Knappschaft im alten Sinne. Zu viele fremde Elemente sind
eingedrungen, die mehr Gelegenheitsarbeiter sind. Dennoch lebt in der Mehrzahl
der Bergleute noch das Bewußtsein, eine besondre Arbeiterklasse darzustellen, nicht
N'it jedem gewöhnlichen Lohnarbeiter auf einer Stufe zu stehn. Der Bergbau wird
als eine Art Handwerk gewertet, besonders von den Alteingesessenen. Sie sind stolz
auf ihren Beruf, ein Zug, der sich nie bei gewöhnlichen Lohnarbeitern findet.
Nur selten sieht man noch die alte, schmucke und doch ernste Bergmanns¬
kleidung, die sonst bei festlichen Gelegenheiten, bei Beerdigungen getragen wurde
und immer an das Wort erinnert: „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod
umfangen." Wie hoch war doch in dieser Beziehung die Kultur der alten Zeit,
daß die persönlichen Empfindungen der Menschen ihren Ausdruck selbst in der
Kleidung suchten und fanden! Geblieben ist bis heute nur die Bergmcmusmiitze
als das Abzeichen der Mitglieder freier Knappenvereine.
Die Bergleute sind in der Gegenwart loser miteinander verbunden, als sie es
einst waren — durch ihre Arbeit, durch ihre Ordnungen und Sitten. Aber es
scheint, als ob der Zusammenschluß in Gewerkschaften neben der wirtschaftlichen
Interessenvertretung wohl auch ihr Standesbewußtsein heben könnte. Bisher ist
freilich unter dem Einfluß der sozialdemokratischen Organisation nur eine Stärkung
des „Klassenbewußtseius" im allgemeinen zu verzeichnen. Verliert aber der sozial¬
demokratische Einfluß sein Übergewicht, dann könnte sehr wohl durch die gewerk¬
schaftliche Vereinigung eine starke Belebung des Stcmdesbewnßtseins bei den Berg¬
leuten erfolgen, wie sie in kleinern Kreisen schon eingetreten ist. Und damit würde
die Gewerkschaftsbewegung eine hohe Kulturaufgabe löse». Denn Arbeiter im
Volke haben, die nicht nur gut entlohnt werden, sondern ihren Beruf auch mit
Stolz und Freude ausüben, das wäre einer der gewaltigsten Fortschritte, den das
soziale Leben seit Jahrhunderten aufzuweisen hätte.
Es wird viel Geld verdient im westfälischen Industriegebiete. Und doch fehlt
es auch nicht an Erscheinungen menschlichen Elends. Auf diese wird häufig hin¬
gewiesen, um die traurige Lage der arbeitenden Bevölkerung als eine allgemeine
Tatsache zu erweisen. Wie mir scheint, mit Unrecht. Es soll nicht geleugnet
werden, daß es noch hier und da unzulängliche Löhne gibt. Aber im allgemeinen
sorgen schon die Arbeiter durch Selbsthilfe für genügende Aufbesserung. Armut
und Elend haben ihren Grund gewöhnlich nicht in schlechten Löhnen. Viele Ur¬
sachen wirken hier oft zusammen.
Da ist ein Fabrikarbeiter arbeitsunfähig geworden. Es handelt sich dem An¬
schein nach mehr um eine Nervenerkrankung als um ein äußerlich festzustellendes
Leiden. Trotz seines schlechten Aussehens erscheint der Mann dem Kassenarzte nicht
als völlig erwerbsunfähig. Er bekommt also nur eine geringe Invalidenrente,
monatlich etwa 24 Mark. Vergeblich hat er regelmäßige Arbeit zu leisten versucht.
Ohnmachtsanfälle ließen ihn niemals festen Fuß fassen. Nun trägt er Zeitungen
herum. Er kann das mir, weil Frau und Kinder ihn darin unterstützen oder ganz
für ihn eintreten. Das bringt ihm ungefähr 10 bis 15 Mark im Monat ein.
Seine sehr fleißige und brave Frau verdient noch etwas nebenbei durch Waschen
und Nähen. So schlägt sich die Familie mühsam und kümmerlich, aber redlich
durch. Sie ist arm. Denn wenn alles zusammenkommt, betragen die Einnahmen
noch nicht die Hälfte von dem, was sonst ein Familienvater verdient. Davon
können nur die allernotwendigsten Lebensbedürfnisse befriedigt werden.
Frühe und nur teilweise Invalidität ist in vielen Fällen die Ursache von
dauernder Armut, während die ältern Invaliden, die auch kaum uoch für eine
größere Familie zu sorgen haben, wohl auskommen können. Nicht selten ist aber
die schlechte wirtschaftliche Lage einer Familie selbstverschuldet. Ich denke an einen
Bergmann in mittlern Jahren mit größerer Kinderzahl, der aus drückender Not
nie herauskam, solange er in meinem Gesichtskreise war. Einmal kam die Frau
im strömenden Regen mit geschwollnen Füßen anderthalb Wegstunden gelaufen, um
eine Unterstützung zu erbitten, da sie nichts mehr zu essen hätten. Die Kinder
sahen immer erbärmlich aus, als ob sie nie recht satt bekämen. Im Sommer,
wenn das Stück Gartenland Kartoffeln und etwas Gemüse darbot, war das Äußerste
abgewehrt. Im Winter aber, wenn alles gekauft werden mußte, fehlte eben oft das
Notwendigste. Ich suchte die Ursache dieser Not zuerst allein in der zahlreichen
Familie. Die vielen Kinder, die Erschöpfung der Frau haben auch offenbar zu dem
täglichen Elende beigetragen. Aber andres kam hinzu. Der Mann verdiente soviel
wie jeder andre Bergmann, aber er trank mich regelmäßig, meist auf Borg, sodaß
er am Lohntag zuweilen 14 Mark beim Wirt zu bezahlen hatte. Er hatte außer¬
dem manche Wirtschaftsgegenstände auf Abzahlung gekauft und mußte bei jeder
Lohnzahlung abtragen. Das waren „die vielen Abgaben", worüber die Frau
klagte. Es schien mir, als ob die Leute überall Schulden hätten. Daher wohl
auch der häufige Wechsel der Wohnung, der Arbeitsstelle, der doch auch wieder mit
Unkosten verbunden war.
Arbeiterfamilien von dieser Art kommen oft vor. Gewöhnlich gehn sie immer
mehr zurück. Sie müssen tiefes Mitleid erwecken, wenn anders auch menschliche
Schuld ein Gegenstand unsers Mitleids ist. In vielen Fällen liegt aber die Ur¬
sache solch ungünstiger Lebensverhältnisse noch weiter zurück. Während der Mann
des Mittelstandes erst in reifern Jahren eine Ehe eingeht, nachdem er sich eine
gesicherte Existenz errungen hat, heiraten die Arbeiter meist sehr früh, nicht selten
freilich gezwungen. Das ist nicht nur vom ethischen Standpunkt aus bedenklich,
sondern zieht auch schwere wirtschaftliche Nachteile nach sich. Der neunzehnjährige
Bergmann der gleich nach der Schulentlassung zur Zeche gekommen ist, hat es
schon zum Kohleuhäuer gebracht und damit so ziemlich den Höchstlohn erreicht. In
der Negel denkt er in diesem Alter nicht ans Sparen. Er gibt das verdiente
Geld ans und gewöhnt sich noch dazu daran, viel für seine Person zu gebrauche».
Das geht einige Jahre so hin. Dann heiratet er eines Tages. Ob die neue
Lebensgemeinschaft eine gesunde wirtschaftliche Grundlage hat. k^imert ihn wemg.
Ihm fehlt in dieser Beziehung das Verantwortlichkeitsge übt. Vielleicht besitzt die
Braut einige Ersparnisse. Im übrigen wird auf Abzahlung gekauft, teuer und
schlecht. Das ist der Anfang des Elends. Das Geld, das vorher einer verzehrte,
soll um für zwei reichen und noch dazu zur Schuldentilgung dienen. Es kommt
ja vor. daß der Mann in der Ehe sparsam wird, und die Frau durch sorgsames
Haushalten ihm zur Hilfe kommt. Aber wenn die Frau selbst noch unerfahren ist,
"ut die Familie von Jahr zu Jahr wächst, wenn Krankheitsfälle eintreten, so ist
eigentlich die Aussicht auf eine glückliche Zukunft dahin. Mann und Frau ver¬
lieren unter dem Druck der Verhältnisse gleicherweise die Freude an ihrem Familien¬
leben. Der Mann ergibt sich dann nur zu häufig dem Dämon Alkohol, die Frau
wird nachlässig und verdrossen in ihrem Hauswesen.
Es wird kein Fehlschluß sein, daß viel wirtschaftliche Not in Arbeiterkreisen
aus zu frühem und leichtsinnigem Heiraten herzuleiten ist. Mit wenig Ausnahmen
gilt hier auch das Sprichwort: „Jeder ist seines Glückes — oder seines Un¬
glückes — Schmied." _
r war vom Tische aufgestanden, an dem er stundenlang über sein
geliebtes Buch gebeugt gesessen hatte, und trat an das Fenster, das
auf das Meer hinausging. Seine Augen waren ermüdet vom vielen
Lesen, sein Kopf war schwer. Das Meer, wie ein geschmolzner Gold-
schmuck, liebäugelte mit der Sonne, die es von oben her wie seine
Liebste bewundernd betrachtete. Ein weicher Wohlgeruch kam von
irgendwoher herangeweht. Er richtete sich empor. Sein Geist war noch etwas
verwirrt vom Lesen, und das Schauspiel war so beruhigend, so entzückend. Die
Boote unten im Hafen lagen in regungsloser Wonne auf dem toten Gewässer; ein
Matrose kletterte wie eine Katze auf einen Mast, um einen Maienkranz in seine Spitze
zu hängen. Er hatte schon weißes Haar, und der Kranz stach mit seinen grellen
Farben scharf dagegen ab.
Da dachte er daran, daß ja morgen der erste Mai war. Ein kummervoller
Tag für ihn, so wonnig er es auch für die andern war. Was hülfe es ihm,
fröhlich zu sein und auch einen Kranz aufzuhängen? Sein Herz bedrückte ihn an
diesem Tage nur noch mehr. Er pflegte dann einen Kranz zu kaufen, hängte ihn
an der Tür auf und schloß sich allein in sein Stübchen ein. Immer allein war
es ihm wohl. In seiner Stube hielt er dann eine Gedenkfeier ab; er dachte und
dachte, und die Tränen rannen ihm auf die toten Hoffnungen, die er bisweilen in
seiner Brust in süßen Schlummer gewiegt hatte, wenn er träumte. An alte Zeiten,
an seine Jugend, die dann an ihm vorbeihuschte, dachte er immer so gern. Wozu
war er denn in die Welt gekommen, was konnte er denn ausrichten, um eine Spur
von sich zu hinterlassen? ... In seinem Innern empfand er etwas wie Totenluft,
wie einen Bruch. Er wollte dann aufspringen, doch wie mit Bleigewichten hielt es
ihn an der Erde fest. Das Blut schlich träge durch die kranken Adern, und sein
Blick — ach! er reichte nicht weit.
Alle Boote hatten sich inzwischen bekränzt, bekränzt auch die Verkaufsbuden
am Markt. Das Schauspiel war ihm gar nicht behaglich. Er zog sich vom Fenster
zurück, setzte sich an seinen Schreibtisch und versuchte wieder zu lesen, doch umsonst.
Die Buchstaben des Buchs fingen an sich zu vergrößern und wurden zu lauter
Maienkränzen. Eine geheimnisvolle Stimme schien ihm leise ins Ohr zu flüstern:
Alt bist du in diesen vier Wänden geworden, mein Lieber, und weiß dein Haar.
Die Stimme war so unheimlich, als käme sie aus einer weiten Tiefe, und er wandte
sich unwillkürlich um, zu sehn, ob sich nicht jemand ins Zimmer geschlichen hätte.
Keine Menschenseele war drinnen. Nur das leise Geplcitscher des Meeres an den
Aieseln des Strandes war zu verspüren und der süße Blumenduft, der durchs Fenster
hereindrang. Beunruhigt durch die Stimme stand er auf und trat vor den Spiegel
mit dem Goldrahmen. Er erblickte darin sein Gesicht. Die Stimme hatte Recht
gehabt: sein Gesicht war bleich, seine Stirn gefurcht, sein Blick müde. Und er war
doch noch nicht weit über die dreißig hinaus. So leicht also altert der Mensch?
Er zog sich eilig an und ging hinaus. Sein Atem stockte ihm da drinnen.
Er blickte zerstreut um sich; jene Stimme summte ihm noch in den Ohren wie eine
Wespe. In einer Marktbude verkaufte man Kränze, die auf eine lange Stange
gezogen waren. Er kaufte einen, den größten und schönsten, und ging fort. Er
sollte das Opfer sein für die Totenfeier, die er jedes Jahr veranstaltete. Es dämmerte.
Die Nacht zog herauf, still und weich. Er schlug wieder den Weg nach seinem
Hause ein. Auf den Straßen zündete man schon die Laternen an. Er ging lang¬
samen Schrittes daher, als wollte er nie nach Hanse kommen. Er fürchtete sich
heute abend vor dem Hause. Er fürchtete, er könne wieder die furchtbare Stimme
vernehmen. Er wiederholte bei sich die Worte. Die Stimme hatte Recht. Wirklich!
Er war gealtert und hatte doch noch nicht gelebt. Wo ist seine Jugend? War er
denn eigentlich auch einmal jung? Er bemühte sich, eine Erinnerung zu finden,
aber nichts kam ihm in den Sinn, das ihn an seine Jugend erinnerte. Sein
ganzes Leben war über dem Denken und über den Büchern dahingegangen, und
die hatten ihm die Stirn so tief gefurcht.
Er kam nach Hanse. Er nahm eine kleine Leiter und stellte sie an die Wand.
Er stieg einige Sprossen empor, in der Hand den Kranz haltend, den er gekauft
hatte. Die alte Leiter knarrte unter der Last seines Körpers, und dieses Knarren
erweckte in seiner Seele einen traurigen Widerhall, als wollte es die Worte der
Stimme wiederholen. Er nahm den vorjährigen Kranz herunter und hängte an
dessen Stelle behutsam den andern auf. Der Kranz duftete frisch, aber sein Duft
fand heute abend keine Seele, die ihn einsaugen konnte. Ihn erfreute diesen Abend
mehr der Duft des alten Kranzes mit den dürren, verstaubten Blättern. Sie
zerrieben sich in seiner Hand, und es blieb nnr noch das Drahtgestell übrig mit
den trocknen Zweigen, die in der Sonne verdorrt und voll Staub waren. Er
nahm den trocknen Kranz und ging hinein. Es war finster. Er zündete eine Kerze
an, ging durch einen engen Gang und blieb vor einer geschloßnen Tür stehn. Er
setzte die Kerze nieder, schloß die Tür auf und ging hinein. Die Kammer wurde
von dem Kerzenlicht erhellt. Ein ganzes Jahr lang hatte sie kein Licht gesehn. An
den Wänden hingen Gestelle von Maienkränzen. Über jedem Kranz war ein Zettelchen
mit einer Zahl, die das Jahr bezeichnete, wo er gekauft war. Das war die
Totenkammer; dort drinnen schliefen seine toten Hoffnungen und seine Träume den
ewigen Schlaf. Jeder Kranz war eine Hoffnung. Da hingen nun seine Hoffnungen
alle der Reihe nach, tot und verdorrt. Welche Zauberhand könnte sie wieder auf¬
richten? Welch sanft wehendes Lüftchen über sie hin fahren, um den Staub weg¬
zublasen und ihnen den alten Duft, die frühern Farben wiederzugeben?
Er hciugte den Kranz in die Reihe und steckte das Zettelchen mit der neuen
Zahl daran. Dann setzte er sich auf einen Stuhl an dem Tischchen, wo die Kerze
brannte. Sein Gesicht sah in dem trüben Licht noch bleicher aus. Die Kammer
roch nach Moder. Eine wahre Totenkammer. Er betrat sie sonst nie; er wollte den
Schlummer seiner Toten nicht stören. Nur jeden Abend vor dem ersten Mai schloß
er die Tür auf, hängte den trocknen Kranz vom vergangnen Jahre auf, leistete
seinen Toten einige Zeit Gesellschaft, dachte nach über das Leben, das er mit ihnen
geführt hatte, ging dann fort und schloß zu. um sie in Ruhe ihren Trauergenossen
zu überlassen. Sie hatten sich wohl auch ihre Geheimnisse zu erzählen. So feierte
er den ersten Mai mit einer Gedenkfeier, mit einem Gange zu den Grabsteinen, die
sein vergangnes Leben bedeckten, und er ließ den Moder und den Staub bei einem
trüben Lichtglanz aufwirbeln. Aber diesen Abend wollte ihn der Moderduft fast
ersticken; ihn dürstete nach reiner Luft, nach Sonne, nach frischer Kühle. Die Kerze
schmolz langsam dahin, und die siedend heißen Tropfen fielen ans das Tischchen. Er
konnte es nicht mehr aushalten. Er stand auf und trat ans Fenster, das voll Staub
war; die Riegel waren verrostet, ein klagendes Klirren störte die sanfte Stille der
Nacht. Er öffnet. Welch wonnige Nacht! Welch süßer Duft von Blumen, die
unter dem Silberlicht des Mondes leise ihre Träume weben. Das Meer liegt unten
wie ein regungsloser Spiegel, und in den erstarrten Gewässern malen sich umgekehrt
die Schatten der Schiffsleiber und der Häuser, die den kleinen Hafen umgeben. Da
ist auch ein kleines Boot, das bei einem Feuerschein auf Fischfang ausgeht. Kein
Fenster ist erleuchtet. Von dem Gipfel des Berges tönt ein schwerer Glockenschlag
langsam hernieder: in dem Kloster werden die Mönche eine Mitternachtsmesse halten.
Die Stirn brennt ihm; seine Seele saugt das Mysterium der Nacht ein. Weit
draußen auf dem Meere erscheint jetzt ein rotes Licht; es ist ein Dampfer, der
vorüberfährt. Wie lieblich sich das rote Licht vereinigt mit dem Silberglanz, den
der Vollmond von oben herabgießt!
Doch schon steigen die Plejaden hinter dem Berge empor; der Hahn beginnt
zu krähen; in einem der Schiffe windet man den Anker auf. Ein leichtes Lüftchen
Me sich erhoben; die Kerze geht zu Ende, noch ein wenig, und sie wird erlöschen,
es wird finster sein. Doch der Mond, der sanfte, wonnige Mond, der die Seelen
uut seinem weichen Lichte erquickt wie mit einem Kuß, er ist noch da. Könnte er
doch die Gedanken besänftigen, die aufgepeitscht durch sein Hirn jagen! Etwas
summt in seinem Innern, etwas empört sich, etwas stürzt zusammen. Wie Fesseln,
wie grausame Fesseln löst es sich los, wie ein Wind erhebt es sich in den Trümmern
seiner Seele und verjagt die Schatten.
Er steht auf. Zerhauen ist der Strick, der ihn gefesselt hielt. Er nimmt die
Kränze, einen nach dem andern, von den Wänden und legt sie auf einen Haufen.
Es rascheln die dürren Zweige, der Staub wirbelt wie eine stickige Dampfwolke
auf, die Blätter zerreiben sich in seinen Fingern zu Staub.
Er geht hinunter in den Hof. Der letzte Augenblick ist da. Er häuft die
Kränze auf dem Boden auf. Seine ganze fruchtlose Vergangenheit hat er jetzt auf
einem Trauerhügel vor sich. In der Hand hält er eine brennende Kerze. Vor¬
wärts! spricht eine Stimme zu ihm; es würgt in ihm, er schließt die Augen, um
nicht zu sehn, und hält die Kerze an den Blätterhaufen. Die trocknen Zweige knistern,
und eine rötliche Flamme züngelt hoch empor in die stille Luft. Ein Qualm steigt
aus der glühenden Asche auf.
Es ist aus — er ist wiedergeboren. Nichts verbindet ihn mehr mit der
Vergangenheit. Er hat einen Strich darunter gezogen. Die Luft strömt wohligen
Duft aus. In der Ferne dehnt sich unabsehbar ein blühendes Gefilde. Weltende
Herden, flatternde Schmetterlinge, lustig gaukelnde Insekten. Das Leben ist auf
dem Siedepunkte. Es ist der erste Mai. Er hat den Weg nach dem Lande zu
eingeschlagen. Sein Geist ist nun friedevoll, seine Füße sind leicht. Das Leben
lächelt ihm lieblich zu. Vögel flattern ihm singend ums Haupt. Er macht sich auf,
um Feldblumen vom Berge zu pflücken und mit eigner Hand den neuen Maien¬
kranz daraus zu winden; seinen eignen Kranz, keinen gekauften. Seine Füße sind
stark; er könnte bis zum Gipfel des Berges emporklimmen wie ein Adler. Er ist
jetzt selbst ein Adler.
Das Kaiserpaar hat am 3. Mai Korfu wieder verlassen, um die Rückreise nach
der Heimat anzutreten. Zum erstenmal in seiner Geschichte hat das liebliche Ei¬
land der Phäaken und des Alkinoos, des Odysseus und der Nausikaa einen mo¬
dernen fürstlichen Hofhalt großen Stils gesehen. Denn der Kaiser reiste eben doch
nicht als Privatmann, sondern mit großem Gefolge, und er wurde auch nicht als
solcher, sondern als Monarch eines mächtigen Reichs von allen Seiten behandelt.
Nicht nur die griechische Königsfamilie, die ja mit dem Kaiserhause eng verwandt
ist, begrüßte ihn im Geleite von Kriegsschiffen auf Korfu, sondern auch ein eng¬
lisches und ein österreichisches Geschwader wie eine Abordnung des Sultans
erschien; und das klassische Achilleion, der Ruhesitz der unglücklichen Kaiserin
Elisabeth, die hier in stiller Zurückgezogenheit Vergessenheit suchte, wimmelte von
glänzenden Hoftoiletten und bunten Uniformen. Das Idyllische Korfus trat dabei
freilich ganz in den Hintergrund. Ein Kaiser hat es eben nicht so gut wie andre
Leute, er hat niemals Ferien oder Urlaub, die großen Geschäfte gehn immer fort
und sind die Feinde jeder Idylle.
Politische Bedeutung sollte die Kaiserreise allerdings nicht haben und hatte sie
nicht. Da nun aber die Politik einmal von lebendigen Menschen gemacht wird,
und auch Monarchen Menschen sind, so sind doch auch ihre persönlichen Begegnungen
und Eindrücke nicht ohne Bedeutung, trotz allen Redereien von der verringerten
Wichtigkeit solcher Vorkommnisse. Und wie das Zusammentreffen des Kaisers mit
dem König Viktor Emanuel, dessen „hoher Intelligenz" Fürst Bülow letzthin ein
glänzendes Zeugnis ausgestellt hat, in der Lagunenstadt die Unerschütterlichkeit des
Dreibundes von neuem vor Augen geführt hat, so mag der Kaiser von Korfu aus
so manchmal den Blick auf den gegenüberliegenden politischen „Wetterwinkel" Europas
geworfen haben und diesen Verhältnissen innerlich näher getreten sein als sonst,
wie es jedem aufmerksamen Reisenden im fremden Lande geschieht. Noch ist die
makedonische Frage keineswegs gelöst, und die Verschiedenheit der Interessen
Österreichs und Italiens an diesen Gestaden ist zwar zurückgedrängt, aber nicht
aufgehoben, weil sie in der Natur der Dinge liegt. Die „Sandschakbahn" ist un¬
zweifelhaft ein zunächst wirtschaftlicher Vorstoß Österreichs nach dem Süden, der
dem Weltverkehr zugute kommen wird, und unter den neuen italienischen Postämtern
auf türkischem Boden befindet sich auch eines in Valona an der epirotischen Küste.
Wie könnten auch die Italiener jemals vergessen, daß die Ostküste der Adria jahr¬
hundertelang unter venezianischer Herrschaft gestanden hat? Noch heute tragen die
Städte Dalmatiens und Jstriens ein durchaus italienisches Gepräge, das Italienische
ist die bevorzugte Verkehrssprache, und der Löwe von San Marco schaut dort noch
von Toren und Palästen herab. Das alles ist Politisch gleichgiltig und begründet
keinen praktischen Anspruch, aber vergessen ist es nicht, und dann und wann verrät
ein an sich ganz unverbindliches Wort, wie manche gebildete Kreise Italiens darüber
denken. Als letzthin das neueste Drama Gabriele d'Annunzios 1^ Mos, eine
Verherrlichung altvenezianischer Seeherrlichkeit, eben in Venedig eine Reihe von
Abenden hintereinander aufgeführt wurde — auch aus dem tirolischen Trentino
gingen billige Sonderzüge dorthin —, und der Dichter, der selbst am Adriatischen
Meere zu Hause ist und dieses gern als das eigentlich italienische Meer betrachtet,
dabei erschien, da hat er bei einem Bankett die Hoffnung ausgesprochen, dereinst
beide Ufer der Adria unter einer Herrschaft vereinigt zu sehen. Das geht noch
über die irredentistischen Ansprüche hinaus. Aber das Bündnis zwischen Österreich
und Italien ist nun einmal eine reine Vernunftehe, kein Herzensbündnis, das wissen
und fühlen beide Teile; wie es Italien davor bewahrt, der Gefolgschaft Frank¬
reichs zu verfallen, so sichert es Österreichs Südwestgrenze. Aber drohend schauen
österreichische Forts vom Monte Brioue bei Riva her auf deu breiten blauen Spiegel
des Gardasees, und von der andern Seite erinnert der gewaltige Turm von San
Martino, der überall an und auf dem See sichtbar ist. an die Entscheidungsschlacht
von Solferino, die der österreichischen Herrschaft über die Lombardei ein Ende
'machte und die Möglichkeit zur Einheit Italiens schuf, noch keineswegs diese Ein¬
heit selbst. Unter diesen Umständen ist es eine wichtige Aufgabe der deutschen
Politik, zwischen den beiden Bundesgenossen das gute Vernehmen aufrecht zu er¬
halten und alte Erinnerungen zurückzudrängen um realer gemeinsamer Interessen
willen.
Auf der Rückreise von Korfu her wird nun der Kaiser auch den österreichischen
Kriegshafen Pola besuchen, das einst auch zu Venedig gehört hat, und dort die
österreichische Flotte sehen, die sich ihre 1866 ruhmvoll behauptete Stellung in der
Adrig nicht entreiße» lassen darf. Von dort wird er nach Wien gehn, um hier am
7. Mai, umgeben von den bedeutendsten deutschen Bundesfürsten, den greisen Kaiser
Franz Joseph zu seinem sechzigjährigen Negierungsjubilänm zu begrüßen. Gewiß
ein einziges Schauspiel, diese Versammlung deutscher Fürsten in Wien, da doch
Österreich nicht zum Deutschen Reich gehört, und doch nicht nur eine persönliche
Huldigung für den Monarchen, der in seiner Person in allem Wechsel der Be¬
gebenheiten, allen innern Umwälzungen und Feindseligkeiten zum Trotz, die Einheit
seines weiten bnntgemischten Reichs vom Bodensee bis an die Karpaten, vom Erz¬
gebirge bis an die Adria vertritt und der lebendige Mittelpunkt aller seiner Völker
geblieben ist, sondern auch eine großartige Kundgebung für das unlösliche Bundes-
und Vertrauensverhältnis, das zwischen den beiden großen germanischen Reichen Mittel¬
europas besteht, und das seine beste Kraft findet in dem innerlichen Bedürfnis der Völker
und in ihrer innigen Kulturgemeinschaft, nicht nur in politischen Erwägungen.
Niemals hat ihr Bündnis so fest gestanden wie heute, wo Österreich seit mehr als
vierzig Jahren seine Stellung im alten Deutschen Bunde aufgegeben und damit
jede Veranlassung zu den alten Rivalitäten beseitigt hat, das Deutsche Reich sich
aber von dem internationalen Hader der Habsburgischen Völker fern hält.
Wenn der Dreibund die feste Grundlage der europäischen Staatengemeinschaft
und die Bürgschaft des europäischen Friedens ist, so zeigen die Verträge zwischen
den Ost- und Nordseemächten und die freundlichen Beziehungen zwischen den andern
Mächten, die sich in mannigfachen Verschlingungen bewegen und alte Gegensätze
wirklich oder scheinbar auflösen, die den Erdteil beherrschenden friedlichen Tendenzen.
Auch unser Verhältnis zu Frankreich ist trotz Marokko davon ergriffen. Nicht nur
so manche persönliche Berührungen zwischen gebildeten Kreisen beider Völker be¬
zeugen dies, sondern auch das neue Abkommen mit Frankreich über die Abgrenzung
zwischen Kcimernn und dem französischen Kongogebiet vom 18. April, das uns
einen breiten Zugang zum Senga und damit zum Kongobecken eröffnet. Das trifft
fast zusammen mit dem fünfundzwanzigjährigen Jubiläum der deutschen Kolonial¬
politik; am 1. Mai 1883 schloß Lüderitzens Bevollmächtigter. Heinrich Vogelsang,
in Bethanien den entscheidenden Vertrag, der ein Gebiet von neunhundert Geviert¬
meilen für Deutschland erwarb, der Anfang unsrer mit schweren Opfern an Gut
und Blut endlich gesicherten südwestafrikanischen Kolonie.
Inzwischen steigt im fernen Osten an den Küsten des Großen Ozeans ein
unvermeidlicher Konflikt langsam herauf. Es ist zunächst der uralte Rassengegensatz
zwischen den Ariern und der gelben mongolischen Rasse, der hier in dem Ver¬
hältnis der amerikanischen Union und Japans wieder zutage tritt, der sich zunächst
in der Einwandrungsfrage gezeigt hat, und den keine politische Kunst beseitigen
kann, weil er in den tiefsten Empfindungen der Völker begründet ist. Mit der
Fahrt des weitaus größten Teils der nordamerikanischen Schlachtflotte nach Kali¬
fornien, mit der wiederholten, zunächst freilich noch abgelehnten Vorlage des Prä¬
sidenten Th. Roosevelt über den Bau von vier Linienschiffen ersten Ranges und
mit den Befestigungen auf den Philippinen wendet die Union ihre strategische
Front nach Westen. Zugleich scheint sich aber die Welt des äußersten Ostens,
die mongolische Welt, sogar in sich selbst zu spalten. Die Japaner meinten nach
ihren mandschurischen Siegen China unter eine Art von Vormundschaft nehmen zu
können, und japanische Jnstruktoren, japanische Waffen, japanische Reglements be¬
gannen in der Tat die europäischen zu verdrängen. Jetzt aber zeigt sich in China
eine breite Volksbewegung gegen diesen japanischen Einfluß vor allem in dem
Boykott japanischer Waren, die Japan höchst empfindlich trifft, und dahinter steht
doch wohl der zähe Stolz der Chinesen auf ihre uralte Kultur, von der die
Japaner jahrhundertelang völlig abhängig gewesen sind. Japan aber hält nur
mit äußerster Anstrengung seine gewaltige Kriegsrüstung aufrecht und hat an den
finanziellen Folgen des russischen Krieges noch schwer zu tragen, an Größe und
Volkszahl aber bedeutet es gegen das chinesische Vierhuudertmillionenreich sehr
wenig. Sollte es sich etwa auch als eine künstliche Großmacht enthüllen, der die
nachhaltige Kraft fehlt, sich dauernd als solche zu behaupten, etwa wie dem durch
den Dreißigjährigen Krieg emporgekommnen Schweden, und deren Bedeutung
weniger auf der eignen Stärke als auf der Schwäche der an sich viel stärkern
Nachbarn beruht? Und wie würden sich z» einem chinesisch-japanischen Konflikt
die nächstbeteiligten Mächte Rußland, England und Amerika stellen? Solche
Fragen aufzuwerfen liegt nahe; eine Antwort könnte auch der klügste Staatsmann
nicht
Heinrich Weinet behandelt in einem der
theologischen Fakultät zu Gießen gewidmeten geistvollen Büchlein: Ibsen. Björnson.
Nietzsche (Tübingen, I. C. B. Mohr, 1908) die drei großen modernen Problem¬
denker und Dichter als die Repräsentanten des heutigen Widerspruchs gegen das
Christentum. Der von den Naturwissenschaften ausgehende Widerspruch treffe nicht
das Christentum selbst, sondern mir die äußere Hülle, in der es der Jugend im
Religionsunterrichte (der an sich eine Ungereimtheit sei) dargeboten werde: das
von der Naturwissenschnft vernichtete alte Weltbild. Ernst zu nehmen sei dagegen
der Widerspruch, der gegen die Moral des Christentums erhoben werde, von der
doch jeder ins Leben tretende Religionsschüler bemerken müsse, daß sie in Wirklich¬
keit nicht gelte. Die Prüfung dieses Widerspruchs, wie ihn Nietzsche formuliert hat,
ergibt nun, daß dessen Kritik zum Segen für das Verständnis unsrer Religion
"usgeschlagen sei. „Indem er in den Kampf wirklich um die wesentlichen Stücke
des Christentums eintrat, hat er uns von dem kleinlichen Hader um das Dogma
und die Lehre befreit und uns genötigt, uns auf uns selber zu besinnen. ... Die
Bedeutung der christlichen Ethik muß neu erfaßt werde», es muß das Verständnis
sür das Christentum als die sittliche Erlösungsreligion gepflegt und vertieft werden.
Und hier ist unendlich viel von diesem Gegner zu lernen, viele einzelne feine Be¬
obachtungen, deren Tiefe und Kraft noch lange nicht ausgeschöpft sind. Ja noch
mehr: auf weite Strecken gehn Nietzsche und das Christentum zusammen." Wie
die Kritik Nietzsches, so erfreut und belehrt auch die der beiden Dichter mit einer
Fülle guter Gedanken. Nur werden diese beiden Herren allzu ernst genommen.
Herzenskonflikte wie die im Brand dargestellten kommen ja wirklich vor, aber von
dem wirklichen großen Konflikt zwischen den Ansprüchen des modernen Menschen
und denen der Kirche ist der Konflikt Brands doch nur eine Karikatur. Die echten
Apostel des Christentums, von Paulus an bis auf unsre heutigen wackern Pfarrer
und Heidenmissionare, haben das Volk nicht in Eiswüsten geführt, sondern zur
Kulturarbeit angeleitet, durch die Gemetndeorgauisation und die Seelsorge dis¬
zipliniert, getröstet, ihm durch Darreichung eines gesunden geistigen Brotes auch
den Erwerb des leiblichen erleichtert und gesichert, und sie haben sich durch solche
»ützliche Tätigkeit nicht in Widerspruch gesetzt mit den Worten Jesu, sondern diese
erfüllt. Wenn außerdem Brand und Björnsons Pastor Sang in der Verfolgung
ihres vermeintlichen höhern Berufes ihre Familien ins Unglück stürzen, so zeigt
meiner Überzeugung nach die katholische Ausfassung den richtigen Ausweg aus dieser Art
von Konflikten. Gereinigt von dem Aberglauben an die Verdienstlichkeit der Mönchs¬
gelübde und an die Notwendigkeit des allgemeinen Priesterzölibats besagt sie in Über¬
einstimmung mit Matthäus 19 und mit der Vernunft: Gott teilt seine Gaben ver¬
schieden aus und mit den Gaben die Berufe; wer dazu berufen ist, mit Auf-
opferung von Person und Besitz einem größern Kreise zu dienen, der darf sich
eben nicht an eine Familie binden, wer aber einmal geheiratet hat, der sündigt,
wenn er das Brot seiner Kinder Fremden schenkt. Daneben bleibt Weinels Nach¬
weis richtig, daß einem jeden aufrichtigen Christen seine besondre Lebensaufgabe
„über die Kraft" geht; daß eben hierin die Idealität der christlichen Lebensauf¬
fassung besteht, und das; darin die Unentbehrlichkeit des Glaubens an die Erfüllung
der christlichen Hoffnung im Jenseits gegründet ist. — Wie unrecht man tut, den
Brand zu schwer zu nehmen, geht aus der Angabe Aalls hervor, Ibsen habe in
ihm zwei wirkliche Personen darstellen wollen. Die eine ist natürlich Kierkegaard;
wer diesen kennt, denkt bei der Lektüre von Brand sofort an ihn. Die andre ist
der hierzulande unbekannte Separatistenprediger Lammers. Allerdings habe Ibsen
viel von seinen eignen Empfindungen und Phantasien in diese Gestalt hinein¬
gelegt und eine starke Liebe zu diesem Schwärmer gehegt; hat er doch auch einmal
geschrieben: „Brand bin ich selbst in meinen besten Augenblicken." Er war christlich
erzogen und als träumerischer Norweger für religiöse Schwärmerei disponiert.
Wahrscheinlich — das vermuten beide Autoren — ist es der Einfluß von Georg
Brandes gewesen, der seinen Sinn vom Christentum ab- und ganz und gar zum
Realistischen hingelenkt hat, das dann nach und nach, aller Idealität bar, das
schlechthin scheußliche geworden ist. Anathon Aali hat es in seinem schon vor
zwei Jahren (bei Max Riemeher in Halle) erschienenen Buche: Henrik Ibsen
als Dichter und Denker, nicht ausschließlich und auch nicht besonders auf Ibsens
Verhältnis zum Christentum abgesehen. Er kennt Ibsen durch und durch, hat auch
persönlich mit ihm verkehrt und ist ein Verehrer, dem die Verehrung und Be¬
wunderung das klare Urteil nicht trübt. Er schildert u. a. den Einfluß seines
Vaterlandes ans den Dichter. Daß die (natürlich nicht räumlich zu fassende) Klein¬
heit dieses Vaterlandes verbitternd auf den Dichter gewirkt haben mag, wie ich
vermute, diesen Gedanken spricht Aali nicht aus; dagegen beschreibt er die Wirkung
der nordischen Natur ungefähr so, wie ich es getan habe, und lenkt die Aufmerk¬
samkeit auf die gesunden sozialen und die höchst einfachen Politischen Zustände Nor¬
wegens, die für gransame Konflikte eigentlich gar keinen Nährboden abgeben. In
dieser durchaus gesunden und normalen Welt, dieser Welt robuster Menschen, mußte
sich Ibsen mit seinen Gespenstern ein wenig als Don Quixote vorkommen, und
das war nun auch nicht geeignet, seiner steigenden Verbitterung entgegenzuwirken.
Aali sagt das nicht, aber er macht u. a. darauf aufmerksam, wie Nora so gar
nichts norwegisches an sich hat — die Norwegerinnen seien sehr gute und tüchtige
Mütter —, und daß Gestalten wie der Baumeister Solneß weder Norwegen noch
überhaupt einem Lande dieser Erde angehören. So ist es, und wie viele Per¬
sonen Ibsens, so sind auch die meisten Konflikte, in die wir sie verwickelt finden,
nicht wirklich vorkommenden Verhältnissen entsprungen, sondern vom brütenden
Dichterhirn erkünstelt. Nora wird übrigens an einer andern Stelle vom Verfasser
entschuldigt: wie der Knoten einmal geschürzt war, sei der Bruch unvermeidlich
gewesen. Interessant ist der Nachweis in Aalls Buche, wie dem Dichter oft ein
Gedanke, den er in einem Stück gelegentlich ausspricht oder nur andeutet, zum
Thema des folgenden Stücks wird; so hat er die in den Gespenstern behandelte
Vererbung schon in dem vorhergehenden Puppenheim berührt. Bei allem Er¬
künsteltem und Ergrübeltem bleibt es jedoch ein unbestrittenes Verdienst Ibsens,
auch wirkliche Probleme und Konflikte des modernen Lebens in ein Helles und
scharfes Licht gestellt zu haben; das hat, wie jüngst in der Frankfurter Zeitung
zu lesen war, sogar ein Franziskanerpater in München in einem öffentlichen Vor¬
Es ist schon einmal
in den Grenzboten (S. 180, 1,1904) auf eine Anzahl von Zeitschriften hingewiesen
worden, die sich die Pflege der Landes- und Volkskunde für bestimmt abgegrenzte
Landschaften zum Ziele gesetzt haben. Es konnten damals die Halbmonatschrift Nieder¬
sachsen, die Rote Erde,' die Hessischen Blätter sür Volkskunde u. a. genannt werden.
In der neusten Zeit sind weitere Zeitschriften dieser Art ins Leben gerufen worden,
auf die an dieser Stelle kurz aufmerksam gemacht werden soll.
Zeitschrift für schlesische Volkskunde. Heraus¬
geber or. Otto Reier in Hirschberg in Schlesien. Preis jährlich 6 Mark. Genau
in derselben Weise, wie ich damals in den Grenzboten ausführte, daß diese Zeit¬
schriften neben den längst bestehenden wissenschaftlichen Heften der Geschichts- und
Altertumsvereine ihre volle Berechtigung hätten, erörtert Dr. Reier in der Einführung
der neuen schlesischen Zeitschrift die Frage, ob diese Blätter neben den Veröffent¬
lichungen des Vereins für Geschichte und Altertümer Schlesiens und der Gesellschaft
sür schlesische Volkskunde noch notwendig seien. Er kommt ebenfalls zu dem Er¬
gebnis, daß jene Vereinigungen die Forschungen wissenschaftlicher Art anregen, daß
ihre Mitteilungen zwar unschätzbares Material sür ein tieferes Studium schlesischer
Eigenart enthalten, aber auch gerade deshalb auf kleinere Kreise berechnet und
beschränkt seien. Die schlesischen Heimatblätter dagegen wollen volkstümliche Weisen
erschallen lassen, sie wollen zu allen schlesischen Volksgenossen in Dorf und Stadt
kommen und zur gemeinsamen Freude an der schönen schlesischen Heimat aufrufen.
Darin liegt eigentlich schon alles, was die neue Zeitschrift will; sie will Heimatkunst,
Heimatschutz und Heimatfreudigkeit wecken und üben und alle die Bestrebungen fördern,
die sich auf diesem Gebiete überall in Deutschland in so erfreulicher Weise regen.
Und daß es der Zeitschrift Ernst damit ist. beweisen die Mitarbeiter, von denen
c»is einzelnen Heften nur Dr. Karl Hauptmann in Schreibersau, Professor Dr. Heinrich
Nentwig in Warmbrunn. Karl Meißner in Dresden, Richard Nordhausen (über
Bergbahnen), G. W. Prollius genannt werden sollen.
Um aus dem reiche» Inhalt nur eins herauszugreifen, so erwähne ich, daß
im 7. Heft Hans Heinrich Borcherdt eine Aufsatzreihe über Denker und Dichter in
Schlesien beginnt. Der Verfasser schildert darin Theodor Körners Reise nach Schlesien
und will in diesem und den folgenden Aufsätzen den Aufenthalt der einzelnen
Dichter und deren Äußerungen über das schlesische Landschaftsbild mitteilen. Das
ist gewiß eine dankenswerte Aufgabe, die auch für andre Landschaften und Provinzen
beachtenswert ist, da sie uns dadurch unsre Dichter näher bringt, deren Leben und
Schaffen man meist nur in Umrissen aus den Literaturgeschichten kennt.
Schließlich soll nicht unerwähnt bleiben, daß die Heimatblätter, deren Vertrieb
die Verlagsbuchhandlung von Max Leipelt in Warmbrunn in Schlesien übernommen
hat. ihren Lesern gute Abbildungen beigeben, wie zum Beispiel das 6. Heft ein
vorzügliches Porträt der Elisa Radziwill und des Schlosses Rudberg bei Schmiede¬
berg enthält.
für Geschichte, Sage und Märchen, Sitte
""d Brauch, Lied und Kunst. Herausgegeben von L. Heumann, verlegt von Prange
in Stargard in Pommern. (Jährlich 12 Hefte. Preis 3 Mark.)
Auch diese Zeitschrift, die wie die schlesische seit dem Oktober 1907 besteht, will
die Heimatkunst Pflegen und alles sammeln, was aus Pommerns Geschichte und
Sage berichtet worden ist, sie will „durch Feld und Wald streifen und vor deu
Lesern eine Bilderreihe ausbreiten: Seht, das ist Pommern, das ist eure Heimat".
Wie in andern Provinzen, so gibt es auch in Pommern einen großen Geschichts- und
Altertumsverein, der eine besondre Zeitschrift: Baltische Studien und sogar Monats-
blätter herausgibt, und doch scheint tels Bedürfnis damit nicht befriedigt zu werden,
da man sonst wohl nicht an die Herausgabe der Pommerschen Heimatblätter heran¬
gegangen wäre.
Monatsschrift für Geschichte, Landes- und Volkskunde,
Sprache, Kunst und Literatur unsrer niedersächsischen Heimat. Herausgegeben von
G. F. Konrich. Verlag vou Ernst Geibel in Hannover. Jahrgang 5 Mark.
Man braucht nur das Inhaltsverzeichnis des Jahrgangs 1907 durchzugehn
und die einzelnen Abschnitte über Geschichte und Vorgeschichte, Kulturgeschichte, Landes¬
kunde, Volkskunde, Kunst- und Literaturgeschichte, Heimatbewegung, Erzählungen,
Skizzen, Sagen, Dichtungen, Heimat und Heimatschutz, über heimatliche Museen,
Funde und Ausgrabungen, über das Vereinsleben und Bücherbesprechuugen zu über¬
fliege», wenn man einen Begriff von der Fülle des Stoffes bekommen will, der
hier geboten wird. Die Namen Robert Mielke, Hermann Löns, Heinrich Sohnrey
und viele andre, die nur in Niedersachsen bekannt sind, bürgen dafür, daß die
Zeitschrift einen äußerst gediegnen Inhalt hat und wohl eine führende Stellung
unter den Zeitschriften dieser Art beanspruchen darf, obwohl auch sie erst in den
zweiten Jahrgang eintritt. Jedes Heft hat eine Kunstbeilage, und zwar zum größten
Teil Originalzeichnungen auf feinstem Papier, wie auch die übrige Ausstattung der
Hefte nichts zu wünschen übrig läßt.
Unsre Heimatliteratur kann mit diesen Unternehmungen zufrieden sein; wenn
überhaupt eine Bewegung in die so beliebten „weiten, weitern und weitesten Kreise"
einzudringen vermag, so müßte es die Heimatbewegung mit Hilfe dieser Zeitschriften
sein. Aber freilich diese Kreise siud doch immer noch sehr eng zu ziehen; die große
Masse der Gebildeten nicht weniger als die der einfachern Bevölkerung hat keinen
Sinn und kein Verständnis für solche Art Literatur. Die tägliche Berufsarbeit
nimmt überdies den größten Teil der Zeit in Anspruch, und was davon übrig
bleibt für geistige Beschäftigung, wird für die vielen Tageszeitungen mit ihren oft
recht zweifelhaften Romanen und den großen Prozeßverhandlungen, an denen es
niemals fehlt, verwandt. Doch das wird die Anhänger und Freunde der Ziele dieser
Heimatblätter nicht entmutigen, und es sind Anzeichen genug vorhanden, daß sie
auch in andern Landesgebieten allmählich Anklang finden und eingeführt werden,
namentlich seitdem die Einzelstaaten, zum Beispiel Hessen und Preußen, durch gesetz¬
liche Bestimmungen gegen die Verunstaltung der Landschaft, zu der Denkmalpflege
Die Geschichte — das ist das Ergebnis
unsrer Beschäftigung mit den im folgenden genannten Büchern — bleibt die große
Lehrmeisterin. Sie schließt ja auch die Entwicklung der Naturwissenschaften, die
Entwicklung der Weltanschauung mit ein. Wenn uns die Fragen: Wie darfst du
sein? Was mußt du tun? in den Nebeln der Gegenwart immer wieder bedrängen,
so beruhigt uns ein Blick auf den von den Vätern zurückgelegten Weg. In große
Tiefen zurück reicht das Auge des nordischen Gelehrten Troels-Lund, dessen
„Himmelsbild und Weltanschauung" der Verlag von B. G. Teubner nun schon zum
drittenmal in der guten Übersetzung von L. Bloch vorlegen kann; Troels-Lund weiß
die Hanptetappen des Weges interessant zu beleuchten. Im einzelnen nur selten
daneben greifend, mit einem Überschuß von Sprachphantasie begabt, zuweilen be¬
deutend im Goethischen Sinne schildert er uns die religiösen Stimmungen von den
Babyloniern bis zur Gegenwart im Anschluß an die Veränderung der sinnlichen
Vorstellung von dem Weltganzen.
Zwei ausgezeichnete neue Werke über Teilgebiete aus der Geschichte des deutschen
Wirtschaftslebens sind die „Geschichte des deutschen Buchhandels vom Westfälischen
Frieden bis zum Beginn der klassischen Literaturperiode (1648 bis 1740)" von
Johann Goldfriedrich und „Die wirtschaftlichen Grundlagen der deutschen Hansa
und die Handelsstellung Hamburgs bis in die zweite Hälfte des vierzehnten Jahr¬
hunderts" von dem Sekretär der Hamburger Handelskammer Dr. jur. Arnold
Kiesselbach. Es ist erstaunlich, welche Menge verschiedenartiger, zum großen Teil
völlig unbekannter, aus Archiven herauszusuchender Tatsachen über den deutschen
Büchermarkt, die Buchhändler, die Büchermesse und die Adhad- und Preisverhältnisse
um 1700 der Leipziger Gvldfriedrich — unparteiisch für Leipzig — in originaler,
kräftiger Darstellung zur Ausweisung einer organischen Riesenentwicklung zu verbinden
verstanden hat, und es verdient lebhafte Anerkennung, wie Kiesselbach aus der Masse
der von der Hansageschichtschreibung zutage geförderten Daten das Bild des flandrischen
Handels als des mittelalterlichen nordeuropäischen Haudelszentrums herausgehoben
und eine für die Zeit bis 1370 daneben sekundäre Stellung wie die Hamburgs
als solche deutlich gezeichnet hat.
An diese beiden vorzüglichen SpezialWerke, die nirgends die volle Weite des
Blickes sür alle in Frage kommenden Probleme vermissen lasten, fügen wir einige
Worte über zwei große neue illustrative Geschichtswerke. Der Berliner Verlag von
Ullstein und Co. gibt von einer sechsbändig geplanten Weltgeschichte zuerst die
»Geschichte der Neuzeit" vou 1500 bis 1650 heraus: Mitarbeiter an diesem Bande
sind von Pflugk-Harttung für Entdeckungs- und Kolonialgeschichte, Brandt für
Renaissance, Brieger für Reformation, von Zwiedineck-Südenhorst für Gegen¬
reformation in Deutschland und Philippson für Gegenreformation in Süd- und
Westeuropa. Die drei mittlern dieser Abschnitte vermögen auch höhern Ansprüchen
gerecht zu werden. Brandt durch seinen flüssigen Stil, Brieger durch sein warmes
Pathos, Zwiedineck durch die Plastik seiner Darstellung; im übrigen hat der Verlag
viel getan, den Band mit annähernd zeitgenössischen, möglichst faksimilierten Dokumenten
zu beleben, vielen Schwarzweiß- und einer Anzahl Vierfarbendrucken. Der Gesamt¬
plan des Werkes dürfte aber nicht genügend ausgereift sein: das Vorsatzpapier ist
eine Nachahmung des Sternhimmels, und die Namen Kopernikus. Tycho. Giordano
Bruno, Galilei fehlen in dem Bande! — Nur Bilder — mit kurzen, manchmal zu
berichtigenden Unterschriften — enthält der große Folioprachtband des Diederichsschen
Verlages „Deutsches Leben der Vergangenheit in Bildern" (I: fünfzehntes und
sechzehntes Jahrhundert), eine wahre Fundgrube für Kunst- und Kulturhistoriker
auch neben Hirths Kulturgeschichtlichem Bilderbuch, aber auch ein Haushund zur
Betrachtung und Belehrung, wie wir es in deutschen Familien gern sehn.
Wir empfehlen zum Schluß den betreffenden Interessenten zwei kleine Bücher:
die hübsch orientierende Arbeit von Kerbe-Ehrenstein „Das Miniaturporträt" (sie
ist als erste Nummer einer Reihe von Sammlerkompendien erschienen, die der Verlag
von Halm und Goldmann herauszugeben beabsichtigt) und den Jahrgang 1908 von
dem gut eingeführten „Kunstjahrbnch" des Malerarchitekten W. O. Dreßler. dessen
solide und schlichte lexikalische Fülle uns nur gar nicht mit den altperuanisch oder
wie stilisierten Zwischentiteldecken zu harmonieren scheint.
Unter diesem Titel hat
Friedrich Arnold Mayer einen Teil der an Leopold Rosner gerichteten Briefe
herausgegeben*), die einen Zeitraum von annähernd vierzig Jahren umfassen.
Leopold Rosner war eine der merkwürdigsten Persönlichkeiten Wiens in der zweiten
Hälfte des vorigen Jahrhunderts, eine markante Erscheinung im literarischen, buch-
händlerischen und vor allem im Theaterleben der alten Kaiserstadt. Geboren am
21. Mai 1838 in Pest, war er früh nach Wien gekommen und hier ganz zum
Wiener geworden. Schon mit dreizehn Jahren mußte er in das von seiner Mutter
ererbte Antiquariat eintreten, wurde jedoch vom Theatertenfel gepackt und betrat in
Preßburg, Wien und Innsbruck die Bühne. Nach dreijähriger, nicht gerade erfolg¬
reicher Tätigkeit in der Welt des Scheins kehrte er zu seinem ursprünglichen Berufe
zurück, nahm einen Gehilfenposten in der Wallishausserschen Buchhandlung — dem
Verlage Grillparzers — an und brachte es hier zum Geschäftsführer. Im Jahre 1871
eröffnete er unter den Tuchlauben ein eignes Geschäft — Sortiment und Verlag -—, das
in der kürzesten Zeit der Treffpunkt der Wiener Literaten und Künstler wurde. Er
führte Anzengruber in die Literatur ein, verlegte Wilbrandts Dramen, Novellen und
Romane, Spitzers berühmte „Wiener Spaziergänge", ferner Werke von Marie
von Ebner-Eschenbach, Kürnberger, Nissel, Friedrich schlüge, Bauernfeld, Julins
von der Traun, Breuning, Grisebach u. a. In einer Zeit, wo die Buchausstattnng
ihren tiefsten Stand erreicht hatte, griff er auf die zierlichen Elzevirausgaben zurück,
verwandte Drugulinsche Schriften, Bütten- und Kupferdruckpapier, Kopfleisten und
Vignetten. Aber der allzu uneigennützige, immer hilfsbereite Mann vermochte keine
Seide zu spinnen, denn ganz besonders traf auf ihn zu, was er in seinen „Er¬
innerungen an Anzengruber" beklagt: „Gelingt es einem Wiener Verleger aber, ein
paar Autoren, die der großen Lesewelt früher gar nicht oder doch nur aus einzelnen
Zeitungsartikeln bekannt waren, mit Glück einzuführen und ihre Namen mit Hilfe
seiner rastlosen Tätigkeit bald zu den beliebtesten zu machen, so darf er sich seines
Glückes nicht lange übermütig freuen, denn längst lauert draußen ein deutscher
Bruder, der ihni neidisch die Buttersemmel aus der Hand schlägt und ihm den
Autor abfischt..."
Und als sich nun im Jahre 1385 noch eine schwere Krankheit einstellte, die
Rosner zwang, wiederholt einen Aufenthalt in Meran zu nehmen, ging es mit dem
Geschäft immer mehr bergab. Er gab es in andre Hände ab und plagte sich trotz
seiner körperlichen Hinfälligkeit redlich, für sich und die Seinen den Lebensunterhalt
mit der Feder zu verdienen. Seine umfassenden literarischen Kenntnisse, die er sich
auf nutodidaktischem Wege erworben hatte, und seine alten, nie völlig gelösten Be¬
ziehungen zum Theater kamen ihm nun zustatten. Er war ein lebendiges Lexikon
zur Geschichte der dramatischen Kunst in Wien, deren Jünger und Jüngerinnen ihm
fast alle persönlich nahe standen. Davon legen anch die hier gesammelten Briefe
ein beredtes Zeugnis ab: selten wohl hat ein einzelner Mensch so allgemeines Ver¬
trauen genossen wie er. Was auf diesen Blättern steht, sind keine weltbewegenden
Ereignisse, keine tiefen Gedanken, aber interessante Dokumente zur Geschichte des
Theaters und der Literatur in Wien, mit ihrem echten Erdgeruch, dem unverwüst¬
lichen, auch der gemeinen Not des Lebens trotzenden Humor, dem gemütlichen
Leichtsinn und der wahrhaft erquickenden Grobheit köstliche Erinnerungen an die
Zeit, wo über den Wassern der Wien noch der Geist Grillparzers, Nestroys und
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achten nunmehr der englische Kriegsminister die nähern Be¬
dingungen bekannt gegeben hat. unter denen am 31. März d. I.
die neue Territorialarmee ins Leben getreten ist. ist es möglich,
sich im Zusammenhange ein klares Bild von der gewaltigen Um¬
gestaltung zu machen, die das englische Heer erfährt, und die
schon soviel Staub aufgewirbelt hat. Ju der Hauptsache haben wir in Zu¬
kunft nur noch zwei große Gruppen zu unterscheiden, in die sich die mili¬
tärischen Landstreitkräfte Großbritanniens gliedern: das Feldheer, das vor
allem für den überseeischen Dienst bestimmt ist. und die Heim- oder Terri¬
torialarmee, die im Mobilmachungsfalle zu Hause bleiben und die Landes¬
grenzen gegen feindliche Angriffe schlitzen soll. Beide Heeresteile sind nach
neuen Grundsätzen aufgestellt worden, unter denen die Auflösung aller bis¬
herigen Miliz- und Freiwilligenformationen mit die wichtigsten sind. Für die
Feldarmee hat man die bisherige schwerfällige Einteilung in Armeekorps aus¬
gegeben und die Gliederung in Divisionen vorgezogen, die sich bei den Japanern
im Kriege gegen Rußland vorteilhaft bewährt hat. Von den sechs Divisionen,
aus denen das Feldheer in der Hauptsache zusammengesetzt ist. sind je zwei
auf das Aldcrshotkommcmdo und das irische Kommando und je eine auf das
südliche und das östliche Kommando verteilt. Durch Überweisung von Spezial-
truppeu, Munitionskolonnen und Trains sollen die Divisionen im Kriege zu
selbständigen Operationen befähigt werden, ähnlich wie bei uns die Armee¬
korps. Damit ist natürlich gegen die bisherige Einteilung des Heeres ein
Vorteil von der allergrößten Bedeutung geschaffen. Denn die Friedens¬
gliederung ist nun dieselbe wie die des Krieges, und damit wird einer Wieder¬
holung aller jener verhängnisvollen Fehler in der Vereitstellung kriegsbrauch¬
barer Verbände vorgebeugt werden können, durch die im südafrikanischen
Feldzuge die britische Armee nahe daran war. völligen Schiffbruch zu er¬
leiden. Außer den sechs Divisionen ist aus den frühern vier Kavalleriebrigaden
eine Kavalleriedivision gebildet worden, mit der Bestimmung, im Kriegsfalle
die strategische Aufklärung weit vor der Front des Heeres zu übernehmen.
Und endlich sind zu dem neuorganisierten Feldheere, neben den Etappen¬
truppen, noch sogenannte Armeetrnppen getreten, die außerhalb des Divisions¬
verbandes stehn und eine ganz eigenartige Zusammensetzung aufweisen. Den
Hauptbestand bilden zwei berittene Brigaden, die jede aus einem Kavallerie¬
regiment, zwei Eskadrons Ieomanry und zwei Bataillonen bcrittner Infanterie
besteht. Ihre Aufgabe soll sein, in der Rolle der Divisionskavallerie den
Aufklärungs- und Sicherheitsdienst unmittelbar vor der Front der Truppe zu
übernehmen, der sie zugeteilt sind. Die Kriegsstärke des Feldheeres ist auf
150000 Mann bemessen. Es wird die Frage sein, ob dieser Stand im ge¬
gebnen Augenblick tatsächlich erreicht werden wird, da mindestens 60000 Re¬
servisten dazu notwendig sind.
Angesichts der Tatsache, daß die englische Armee nie Überfluß an brauch¬
barer Reservemannschaft gehabt hat, weil nach siebenjähriger aktiver, häufig
in den Tropen verbrachter Dienstzeit sehr viele Leute einen Teil ihrer Feld¬
dienstfähigkeit eingebüßt haben, sind Zweifel an dem Vorhandensein eines so
hohen Reserveaufgebots, wie es verlangt wird, zum mindesten berechtigt. Der
Kriegsminister ist sich dieser Schwierigkeit natürlich voll bewußt, und deshalb
geht sein Plan dahin, durch Anwerbung von Milizen schon im Frieden
etwaige Lücken an der Vollzähligkeit des mobilen Feldheeres zu decken. Indem
Mr. Haldcme die Bedingungen für eine solche Werbung viel günstiger ge¬
stellt hat als früher, hofft er jährlich 20000 Milizen aufbringen zu können.
Möglich ist, daß dieses Deckungsprojekt Erfolg bringt. Bedenklich erscheint
nur, daß sich die Leute auf sechs Jahre verpflichten sollen, und daß die Aus¬
bildungszeit der Rekruten gegen jetzt mehr als verdoppelt ist und in Zukunft
63 Tage dauern wird. Auch ein Wiederholungskurs von 27 Tagen im
zweiten Dienstjahr und von 14 Tagen in jedem darauffolgenden Jahre wird
bei der notorischen Abneigung jedes freien Bürgers gegen den Dienstzwang
vielleicht manchen stutzig machen und von der Unterzeichnung des Werbe¬
kontrakts abbringen. Noch schwerer wiegend als diese Bedenken gegen die
Möglichkeit, genügende Milizen zur Ergänzung des Feldheeres anzuwerben,
erscheinen die Einwände, die aus ernst zu nehmenden Milizkreisen gegen die
Haldcmeschen Vorschläge mit der Begründung vorgebracht werden, daß sie darin
eine empfindliche Schmülerung ihrer spätern Rechte, eine geringere Einschätzung
ihres militärischen Wertes sehen müßten. In der alten Heeresorganisation
Hütten die Miliztruppen einen selbständigen Teil der Armee gebildet, der in
Kriegs- und Friedenszeiten sein Bestes eingesetzt habe zur Verteidigung des
Vaterlandes. Dadurch, daß jetzt die Milizformationen aufgelöst würden und
die Leute teils in das stehende Heer, teils in Ersatztruppenteile eingestellt
werden sollten, rüttle die Regierung an den Grundpfeilern einer durch Jahre
bewährten Institution und gefährde dadurch die Wehrkraft der Nation.
Aber Mr. Haldane hält trotz dieser Schwierigkeiten, die ihm bereitet
werden, mit eiserner Energie an den Plänen seiner Heeresreformen fest, hofft
mit Zuversicht, sie bis zu einem glücklichen Ende durchzuführen und ohne
allgemeine Wehrpflicht doch ein kriegstüchtiges Volk in Waffen zu schaffen.
Den Schlußstein dieser Ideen hat der Minister mit der soeben organisierten
Territorialarmee gelegt. Ist sie auch noch nicht in allen ihren Einzelheiten
fertig, so stehn doch die fundamentalen Bedingungen so weit fest, daß sich das
ganze Gebäude übersehen und folgerichtig beurteilen läßt. Danach wird die
Territorialarmee gebildet sein aus den bisherigen Freiwilligen und der
Ieomanry, die bisher in Verbunden von verschiedner Stärke und ungleichem
militärischen Wert zusammengestellt waren und sich deshalb in Kriegszeiten
zu einheitlicher Verwendung wenig geeignet haben. Mr. Haldane rechnet
mit 300000 Mann, die, in vierzehn Divisionen und vierzehn Kavalleriebrigaden
gegliedert, ausreichen sollen, jede feindliche Invasion ins Mutterland erfolg¬
reich abzuweisen. Die Verteilung der Territorialdivisionen richtet sich nach
der bestehenden alten Einrichtung in Grafschaften, die zugleich die Verwaltung
und die Rekrutierung der Territorialdivisionen in die Hand zu nehmen haben.
An der Spitze dieser Verwaltung oder dieses Verbandes (pound^ Woowtion)
steht der Lordleutnant, der Lordstellvertreter des Königs für die Provinz.
Diese von dem Lordleutnant zu übernehmende Rolle ist übrigens nicht neu.
die Lordleutnants wurden unter Heinrich dem Achten zur Kontrolle der mili¬
tärischen Streitkräfte des Landes geschaffen. Im Jahre 1662 erhielten sie
die Aufsicht über die Miliz, ihre Funktionen wurden aber 1882 der Krone
übertragen. Darauf kehrten die Lordleutnants zu ihren ursprünglichen Auf¬
gaben, wenn auch nur in administrativer Beziehung, zurück. Nun da die
Lordleutnants wieder in ihre frühern Ämter eingesetzt sind, hat König Eduard
es sich nicht nehmen lassen, sie persönlich auf die Wichtigkeit dieses Regierungs¬
aktes hinzuweisen. In seiner Ansprache führte der König aus, daß er den
Statthaltern mit der Pflicht der Fürsorge für das Territorialheer ein altes
Ehrenrecht zurückgebe, „das die Statthalter in England, Schottland und
Wales vormals mit Stolz übten", und er forderte sie auf, sich die Unter¬
stützung aller vaterländisch gesinnten Männer zu gewinnen.
Neben dem Präsidenten des Grafschaftsverbandes fungiert ein onairman,
ein Direktor, auf dessen Intelligenz und militärisches Interesse ein ganz be¬
sondrer Wert gelegt wird; an der Seite des Direktors steht ein Sekretär.
Die Organisation verfügt über einen Rat. dessen Aufgabe es ist, festzustellen,
wie jede Grafschaft am besten ihren Anteil zu der Division stellen kann.
Vier oder fünf Grafschaften bilden einen Regimentsverband, und jeder Regi¬
mentsverband hat eine Division zu bilden. In diesem Augenblick sind die
dahin zielenden Arbeiten noch nicht so weit abgeschlossen, daß jeder Grafschaft
die Zahl der Truppen mitgeteilt werden konnte, die sie für ihre Territorial-
divistvn beizusteuern habe. Aber den Verbänden ist doch ein Übersichtsentwurf
zugegangen, worin die zu stellenden Territorialtrnppen teils nach Ma߬
gabe der Bevölkerungsziffer, teils nach den bisher bestehenden Truppenteilen
(Volunteers, Ieomanry) aufgeführt sind. Die Vorsitzenden der Verbände sind
aufgefordert worden, diese Übersichten zu prüfen und sich bei Bedenken oder
Fragen an die kommandierender Generale des Kommandos zu wenden, zu
dem der Bezirk gehört. Die Kosten für die Territorialarmee trägt natürlich
der Staat. Sie werden von der corne^ Association aufgestellt, alsdann von
den militärischen Vorgesetzten geprüft und schließlich vom Kriegsamt bewilligt.
Kriegsamt und Armeerat überwachen auch die Ausbildung der Territorialen,
die nur in der Hand von aktiven Offizieren und Unteroffizieren liegt und nicht
etwa den Grafschaften überlassen ist, wie fälschlich in der Presse berichtet wurde.
Der Eintritt in die Territorialarmee wird auch in Zukunft freiwillig sein und
erfolgt nur durch Anwerbung. Die vom 1. April d. I. an sich meldenden
Leute, die im Lebensalter von 17 bis 35 (anstatt bisher 49) Jahren stehn müssen,
werden auf 4 Jahre angeworben. Mit Zustimmung des Kommandeurs ist eine
erneute Anwerbung auf 1 bis 4 Jahre zulässig. Die Altersgrenze für das
Verbleiben der Mannschaften im Territorialheer ist das 40., mit besondrer
Erlaubnis das 45. Lebensjahr, und für Sergeanten, die nicht zum permanenten
Stäbe gehören, das 50. oder 55.
Was die Ausbildung der Territorialen anlangt, so tritt auch hierbei wieder
die enge Verbindung von Heer und Land hervor, die diesen Teil der Haldaneschen
Heeresreformen infolge der Mitarbeit der Grafschaftsverbände besonders aus¬
zeichnet. Denn diese sind es, die zwischen der Militärbehörde und den Arbeit¬
gebern die einzelnen Perioden für Ableistung der Übungen ihrer Angestellten
vereinbaren. Die Übungszeit ist sehr kurz bemessen und beschränkt sich im
wesentlichen auf acht bis fünfzehn jährliche Übungstage im Lager. Außerdem
wird durch die zahlreichen Schießvereine einiger Unterricht im Schießen erteilt
und durch Jugendwehren eine angemeßne Vorbereitung auf den militärischen
Dienst eingeleitet. Ernster soll der Dienstbetrieb bei der Territorialarmee erst
im Falle einer Mobilmachung gehandhabt werden. Dann werden alle Hebel
angesetzt, um in sechs Monaten eine feldmüßige tüchtige Truppe zu schaffen,
mit der einem feindlichen Angriff entgegengetreten werden kann. Der Gesetz¬
geber ist dabei von der Ansicht ausgegangen, daß die Heimatarmee vor sechs
Monaten nicht verwendungsbereit zu sein brauche, weil so lange, selbst im
ungünstigsten Fall, die Flotte die Seeherrschaft behaupten würde und dadurch
feindliche Landungen verhindern könne.
Alles in allem genommen, kann die neue englische Armeereform als ein
wesentlicher Fortschritt gegen früher angesehn werden. Aber nach unsern Be¬
griffen ist es kein abgeschloßnes Werk, das mit Sicherheit Erfolg verspricht.
Wie bei allen bisherigen Projekten, die am englischen Heere versucht worden sind,
hängt das Gelingen der neuen Organisation zunächst von der Frage ab, ob das
Werbesystem ausreicht, der Armee Ersatz zu verschaffen. Ist das nicht der Fall,
dann wird auch das englische Volk im Interesse der Selbsterhaltung den heutigen
Widerstand gegen die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht aufgeben müssen.
Es ist vielleicht nicht unabsichtlich, daß sich fast zugleich mit dieser voll¬
ständigen Reorganisation des gesamten englischen Heerwesens auch ein Wechsel
im Oberkommando der Armee vollzogen hat, der um so größere Beachtung
finden muß. als er im Zusammenhang steht mit großen politischen Fragen.
Der Feldmarschall und Generalinspekteur der britischen Truppen im Mutter¬
lande, der Herzog von Connaught, ist nämlich aus dieser militärischen Stellung
ausgeschieden, um den Oberbefehl über das neu geschaffne Mittelmeerkommando
mit dem Sitz in La Valetta auf Malta zu übernehmen. Zum Nachfolger des
Herzogs in England ist General John French ausersehn, der bisher das
Armeekorps in Aldershot kommandierte und sich namentlich im Burenkrieg als
kühner Neiterführer hervorgetan hat. Auch wurde der General viel genannt,
als von dem Abschluß einer angeblichen Militärkonvention zwischen Frankreich
und England die Rede war, und es hieß, der englische Feldherr sei der
intellektuelle Urheber eines solchen Abkommens gewesen. In England ist man
nun recht geteilter Meinung über die neue Stellung des bisherigen Armee¬
generalinspekteurs und ist vielfach geneigt, sie im Vergleich mit den bisherigen
Funktionen als eine Zurücksetzung anzusehn. Das würde aber um so auffallender
sein, als sich der Herzog von Connaught nicht nur bei allen seinen Unter¬
gebnen einer außerordentlichen Beliebtheit erfreute, sondern auch in sämtlichen
militärischen Kreisen für einen sehr tüchtigen, energischen und kenntnisreichen
Offizier gehalten wird. Es trifft deshalb bei näherm Eingehn auf die Pläne
der englischen Regierung im Mittelmeer wohl die Annahme zu, daß bei einer
rein zahlenmäßigen Gegenüberstellung der Truppen, die dem Kommandierenden
in Malta im Vergleich zu früher zur Verfügung stehn werden, allerdings ein
starker Unterschied ist, daß aber im übrigen der zukünftigen Stellung des
Herzogs eine weit höhere Bedeutung zukommt und ihr größere Aufgaben
bestimmt sein werden, als sie dem Generalinspekteur der Armee im Mutterlande
»blagen. Denn in Wirklichkeit ist doch dieses Generalinspektorat keineswegs das
hohe militärische Amt, wie wir es uns vorstellen. Im Gegenteil sind die Be¬
fugnisse des Generalinspekteurs sehr eng begrenzt, sie bestehn im wesentlichen
aus dem Recht, die Truppen und das Material zu besichtigen und auf Kriegs¬
brauchbarkeit und Bereitschaft zu prüfen. Irgendwelche Anordnungen oder
Maßnahmen zu treffen, um vorhcmdne Schäden abzustellen oder Mängel zu
beseitigen, ist der Generalinspekteur nach eignem Ermessen nicht berechtigt, auch
stehn die Verwaltungsangelegenheiten des Heeres in keiner Weise unter seinem
Befehl. Vielmehr muß er sich in allen solchen Fällen zunächst erst mit den
berschiednen Waffeninspckteuren. von denen die englische Hcercsorganisation
fünf kennt, ins Einvernehmen setzen, und alsdann erstattet er dem Armeerat
(^rin^ Coupon) Bericht, der den vorgebrachten Wünschen näher tritt und über
sie entscheidet. Vor der Tür dieses Armeerats, der erst im Jahre 1904 ins
Leben gerufen wurde, um die bisherigen Autoritätsrechte des Kriegsministers
und des Generalissimus einzuschränken, muß also der Befehlsbereich der nominell
höchsten Kommandostelle des Heeres Halt machen. Große Verdienste soll sich
der Herzog von Connaught erworben haben in seiner Eigenschaft als Vor¬
sitzender des Lölöotion Loarä, der sich mit deu Vorschlägen zur Beförderung
von Offizieren vom Hauptmann aufwärts zu befassen hat. Lag auch für diese
Anträge die Entscheidung beim Armeerat, so war dies doch hier mehr eine
Formsache, und niemals soll es vorgekommen sein, daß solchen Wünschen des
Generaliuspekteurs nicht sofort entsprochen worden ist.
Also in bezug auf die Zahl der ihm in Zukunft unterstehenden Truppen
wird das Oberkommando im Mittelmeer vorläufig wenigstens nicht sehr in
Anspruch genommen sein. Denn die in Ägypten und im Sudan, in Malta
und in Gibraltar, auf Kreta und in Cypern untergebrachten englischen Heeres¬
bestandteile erreichen zusammen nur die Stärke von 19500 Mann. Schon
darin liegt begründet, daß, um sie zu besichtigen, die britische Negierung schwerlich
nötig hätte, den verdienten Generalinspekteur der Armee im Amte abzulösen.
In der Aufgabe des neuen Oberkommcmdiercnden soll es nun liegen, zunächst
zu prüfen und dementsprechend Vorschläge zumachen, wie viel Landstrcitkrüftc
England auf den einzelnen Mittelmeerstationen haben muß, um den an sie in
Zukunft möglicherweise herantretenden großen Aufgaben gewachsen zu sein.
Vor allen Dingen wird es sich dabei um Ägypten handeln, wo die 5000 englischen
Truppen schon lange nicht mehr für ausreichend erachtet werden, den sich so
häufig wiederholenden Unruhen im Innern und bei Übergriffen seitens der
Türkei mit Erfolg gegenübertreten zu können. Zur Verfügung für solche Ver¬
stärkungen steht das vom Kriegsminister Haldane neu geschaffne Feldheer, das
auf diese Weise vielleicht nach und nach unter den Befehl des Oberkommandos
im Mittelmeer tritt. Es heißt aber, daß die Vefehlsgewalt der in Malta neu
geschaffnen Kommandobehörde nicht auf die Landtruppen beschränkt bleiben soll,
sondern im Laufe der Zeit auch auf die Flotte im Mittelmeer ausgedehnt
werden wird, um dadurch die Operationen der Landtruppen und der Kriegs¬
schiffe im gegebnen Falle in einer Hand zu vereinigen. Damit erscheint die
künftige Stellung des Herzogs von Connaught natürlich in ganz andern: Lichte.
Sie bringt den Willen der englischen Regierung nachdrücklich zum Ausdruck,
daß die Vormachtstellung Großbritanniens im Mittelländischen Meer in festen
Händen liegt und sich keinen Schritt beiseite schieben lassen will. Die Richtigkeit
dieser Auffassung bestätigt ein höchst lesenswerter Artikel in der ^rin^ -ma
Mo? O^steh, der am Schluß lautet: „Es ist für England von der größten
Wichtigkeit, daß wir die Verbindungswege zwischen dem Occident und dem
Orient unter dauernder Kontrolle behalten. So war es seit den Zeiten des
großen Herzogs von Marlborough, der als der erste die eminente Bedeutung
der Mittelmeerstraße für unsern Welthandel erkannt und festgelegt hat. Unsre
Lage in diesem Meer ist von unsern Lebensinteressen nicht zu trennen. Das
Wird bis in die fernste Zukunft so bleiben, und daher müssen wir zum Schutze
an dieser Stelle unsre militärischen Vorbereitungen treffen. Denn in einem
großen Kampfe gegen die gesamten Streitlüste einer bedeutenden Macht wird
der Ausgang davon abhängen, wie wir vor allem unsre militärischen Maßnahmen
im Mittelmeer, in Ägypten und im Sudan eingerichtet haben. In Gibraltar,
Malta und Ägypten haben wir ja schon starke Stützpunkte für unsre Flotte.
Nun wird es nur noch darauf ankommen, daß wir die Garnisonen an der
Weltwasserstraße besser organisieren und ausbilden, damit sie sich beim Angriff
gut verteidigen können und sich gegebnenfalls auch als Expeditionskorps ver¬
wenden lassen. Aber dazu gehört ein besonders befähigter General an die Spitze
des Ganzen."
Inzwischen hat General French das Kommando über die englische Armee
im Mutterlande übernommen. Diese Gelegenheit hat der Höchstkommandierende
benutzt, gleichsam als Armeebefehl seine taktischen Anschauungen, die grund¬
legend für die Ausbildung der ihm unterstellten Truppen sein sollen, bekannt
zu geben. Er hat dazu eine lehrreiche Kritik herangezogen, die er an das
Aldershotkorps, das er bis jetzt befehligte, nach den letzten Herbstübungen
gehalten hat. und die auch für uns höchst interessant ist, weil sie uns einen
Einblick gibt in die Grundsätze, nach denen das englische Heer gegenwärtig
ausgebildet und geleitet wird.
Sehr günstig beurteilt der General zunächst die Leistungen seiner In¬
fanterie; sie sei einzig in ihrer Art (sui gönsris) und habe nirgendwo ein
Seitenstück (oovw-part). Besonders hervorgehoben zu werden verdiene die ge¬
schickte Angriffsweise der Truppen der Division Grierson gegen die gegnerische
Stellung bei Chillon. Völlig der feindlichen Sicht entzogen, wäre die Entwicklung
der vordem Schützenlinie vor sich gegangen, und dahinter hätten die Sturm¬
kolonnen in aller Ruhe und in guter Deckung abgewartet, bis die eigne Artillerie
hinreichend den Angriff vorbereitet hatte, um dann den entscheidenden Stoß
durchzuführen. Das Zusammenwirken der drei durch Waldungen getrennten
Brigaden hierbei sei mustergiltig zu nennen. Als sehr nachteilig für die
Ausbildung der Infanterie werden die geringen Stunde der Einheiten bezeichnet,
und es wird gefordert, daß durch geeignete Mittel diese ungünstigen Verhält¬
nisse geändert werden. Bei den heutigen Einrichtungen komme es alljährlich
vor, daß Tausende von Leuten niemals an Manövern teilnahmen. Die Urlaubs¬
zeit müsse daher auf die Monate Oktober und November verlegt und die
Einberufung der Rekruten bis zum November verschoben werden, damit man
auf diese Weise genügend ausgebildete Mannschaft im September unter der
Fahne habe.
Nicht so günstig wie über die Infanterie lauten die Urteile des ehemaligen
Korpskommandeurs über die Kavallerie. Es wird ausgesprochen, daß die
Regimenter an sich gut seien, das Pferdematerial und die Reitausbildung der
Leute mit jedem Jahre besser würden, aber die Führung der Reiterei im Felde
lasse viel zu wünschen übrig. Der Hauptfehler sei dabei, daß sich die Kavallerie
nicht in den Verband der übrigen Waffen hineinschicke, sondern immer nur auf
eigne Faust operiere. Fast an jedem einzelnen Übungstage habe man die
Wahrnehmung machen können, daß der Zusammenhang zwischen der Kavallerie
und der Infanterie und der Artillerie fehle, daß sich jene um die Vorgänge
auf dem Gefechtsfelde so gut wie gar nicht kümmere, und daß die Patrouillen
nicht darüber instruiert gewesen seien, an welche Stelle die Meldungen ab¬
gegeben werden müßten; sie seien immer nur zu den Vorgesetzten ihrer Waffe
zurückgeeilt. Vielfach haben es die Regimenter auch an Geschicklichkeit im
Gelände gegenüber den Wirkungen des Infanterie- und Artilleriefeuers fehlen
lassen, und von einer katzenartigen lMliKs) Beweglichkeit im Verschwinden und
Erscheinen bald hier bald dort, die heutzutage von der Kavallerie unbedingt
gefordert werden müsse, sei nirgends etwas zu sehn gewesen. Kurz die Führung
und das Auftreten der Reiterei habe fast durchweg einen etwas veralteten
(Al'u,na-inotuörl^) Eindruck gemacht. Vielleicht kommen diese Fehler daher, daß
die Kavallerie zu viel für sich allein übe und darüber die Übungen der gemischten
Waffe versäumt habe.
Am eingehendsten behandelt die Kritik die Leistungen und das Verhalten
der Artillerie. Das erklärt sich einmal aus der Neubewaffnung dieser Waffe
mit Nohrrücklaufschnellfeuergeschützen und dann aus den neuen reglementarischen
Bestimmungen, die zum erstenmal in der Manöverpraxis erprobt worden sind und
Stoff zu vielerlei Erwägungen geben. Wir lassen darum eine der interessantesten
Stellen aus dieser Beurteilung im Wortlaut folgen: „Der wahre Wert einer
Artillerie kann nur auf dem Übungsplatz ermessen werden, und es ist erfreulich,
festzustellen, daß die neuen Geschütze fortgesetzt uneingeschränktes Lob ernten,
und daß die Geübtheit der Batterien, samt denen der berittncn Artillerie,
immer weiter fortschreitet. Bedauerlich ist jedoch, daß wir immer noch ohne
die notwendige Haubitze sind, nämlich eine solche, die eine 351hö (15,9 Kilo¬
gramm) Granate 7000 Jards (6400 Meter) weit zu verfeuern vermag und hinter
dem Gespann nicht schwerer ist als unsre 18-Pfdr.-Feldkanone. Unbefriedigend
ist ferner, daß wir der Gewinnung einer schweren Haubitze nicht näher gekommen
sind als vor einem Jahre. Die Haubitze ist eine wirklich unschätzbare Waffe,
und die Offiziere und Mannschaften der Haubitzbatterien sind so gut, daß sie
es verdienen, mit einer bessern Waffe ausgerüstet zu werden, als worüber sie
jetzt verfügen. Seit dem letzten Jahre ist in unserm Feldartillerie-Exerzierreglement
eine Anzahl von Änderungen vorgenommen worden, und diese sind während
der soeben beendeten Übungen versucht worden. Manche von ihnen sind technischer
Art und betreffen das Richten, die Seitenabweichung usw. Man hat aber auch
wichtige Änderungen im Verfahren zum Einschießen angeordnet, was erkennen
läßt, daß man den Wert der Geschwindigkeit und die durch Einschießen mit
dem Lü.-Schrapnell erhaltnen Ergebnisse besser zu schätzen weiß. Diese und
andre Änderungen in bezug auf die Feuerleitung scheinen von praktischer
Bedeutung und wohl erwogen zu sein, obwohl wir bis jetzt noch nicht über¬
zeugt zu sein scheinen, daß wir viel gegen Schutzschildartillerie durch direkte
Treffer auszurichten vermögen, wie die französische Artillerie dies tun zu
können glaubt.
Das doktrinäre Gezänk über direktes und indirektes Zielen dauert fort.
Das eine Kommando in unsrer Armee geht den einen Weg und das andre
einen andern. Tatsächlich ist an diesem Streit gar nichts. Wie fast alles andre
in der Taktik hängt es von den Umständen ab, welches Verfahren die Artillerie
wählen muß, und sie kann sogar beide Verfahren in einer einzigen Brigade
zugleich ganz und richtig in Anwendung bringen. Im Aldershotkommando
bestand in diesem Jahre das Bestreben, zum direkten Zielen zurückzukehren und
die Batterien bis an die Front vorzuschieben, um die Infanterie näher als
früher unterstützen zu können. Das wird General Rohre gefallen. Das Bestreben
führte jedoch zu einer etwas unnötigen Bloßstellung einzelner Batterien, so
zum Beispiel am 19. September, weshalb General Sir John French in schonender
Weise dagegen Widerspruch erhob, indem er sagte, »daß es zwar nicht seine
Absicht sei. dies allzusehr zu betonen, daß aber die Bloßstellung von Geschützen
und Gespannen nicht ganz wünschenswert sei«. Andrerseits ist auch bekannt
geworden, daß sich der Führer einer Haubitze entschieden geweigert hat, sich am
19. September in der Front von Chillon nach vorwärts in die Deckung eines
Eisenbahnkürpers zu begeben, indem er einwandte, daß. wen,: er gehe, er in
dreiviertel Stunden außer Gefecht gesetzt würde, und daß er von der Stellung
aus, die er eingenommen hatte, imstande sei. die ganze feindliche Stellung zu
übersehn und unter Feuer zu nehmen. Er schien in seiner Ansicht Recht zu
haben, und sein Divisionskommandeur pflichtete ihm bei. Wenn jemand in der
Armee nicht angetrieben werden darf, so ist es der Führer von Haubitzen.
Der Herzog von Connaught scheint den Nagel auf den Kopf getroffen zu
haben, als er sagte, daß die Artillerie im allgemeinen mit indirekten Richten
beginnen und später nicht zögern sollte, vorwärts zu gehn, um direkt visieren
zu können. Es sollte die Frage aufgeworfen werden, was eigentlich unter naher
Unterstützung der Infanterie durch die Artillerie zu versteh» sei. Die Idee, daß
Batterien in der Feuerlinie der Infanterie auftreten können, gehört zu denen,
die beim Angriff oft nicht ausführbar sind, wenn man nicht in Formationen
der ersten Viktorianischen Zeit gegen Wilde Krieg zu führen hat. Die zum
Angriff vorrückende Infanterie freut sich am meisten, wenn ihre eignen Geschosse
in ununterbrochnem Feuer gegen den Feind in der Front einfallen, und sie
sieht nicht nach rückwärts und fragt sich nicht, ob die Geschütze sich nahe oder
weit fort befinden, solange dieses Ergebnis erreicht wird. Es ist eine schlechte
Infanterie, die rückwärts sieht, und die unsrige ist glücklicherweise eine gute.
So geschickt waren unsre Batterien in Natal, daß sie am Pietershügel das
Vorrücken der Infanterie durch einen Hagel von Schrapnells deckten, die oft
nur wenige hundert Meter vor unsrer vorder» Linie krepierten. Wenn unsre
Kanoniere dies tun können, und wenn ihr Einschießen mit dem Vorrücken der
Infanterie gleichen Schritt halten kann bei indirekten Richten der Geschütze
aus der Deckung, so ist gegen die Verwendung des indirekten Richters in
solchem Augenblick nichts einzuwenden. Es ist aber fraglich, ob dies oft möglich
sein wird. Und auf jeden Fall müssen einige Batterien losgelöst werden, um
der vorrückenden Infanterie zu folgen und die eroberte Stellung mit möglichst
geringer Verzögerung zu besetzen. In solchem Augenblick ist der Feind vorüber¬
gehend in Verwirrung. Seine Reserven und seine Trains, die bisher im
Gelände versteckt waren, kommen plötzlich hervor, und die Wirkung einer einzigen
Batterie oder selbst einer einzigen Kanone bei den Truppen, die eine Stellung
erobert haben, kann entscheidend sein, da sie die Unordnung zu erhöhen und
eine Panik zu schaffen vermag. Sowohl in Wiltshire als in Buckinghamshire
schien es dieses Jahr an Batterien zu fehlen, die die besondre Aufgabe hatten,
diesen speziellen Zweck zu erfüllen, und auf jeden Fall verzögerte sich das
Vorwärtsdringen der Kanonen in die eroberten Stellungen."
ZZM?^Fi^M--'/in 9. Januar d. I. starb zu Berlin der Generalleutnant z. D.
von Müller. Mit ihm ist ein Offizier dahingeschieden, der sich
I nicht nur in Krieg und Frieden große Verdienste um die
Förderung seiner Waffe, der Artillerie, erworben hat, sondern
I auch als Militärschriftsteller weit über die Grenzen unsers Vater¬
landes hinaus das größte Ansehn genoß und als eine der ersten Autoritäten
auf dem Gebiete des Festungskrieges und des Waffenwesens galt. Nun wo er
die Feder niedergelegt hat, die er bis zu seinem fünfundsiebzigsten Jahre mit
so großem Erfolge*) geführt, sei es dem Verfasser, der ihm auch im Leben
nahestand und wie er an der Einschließung von Paris teilnahm, gestattet,
eine Meinungsverschiedenheit zum Austrag zu bringen, die zwischen ihm und
gewissen Kreisen bestand über die Frage, welche Bedeutung den Anschauungen
des Grafen Blumenthal, wie sie in seinem Tagebuch niedergelegt sind, für das
endgiltige Urteil über die Beschießung von Paris beizumessen sei.
Diese Frage will nicht zur Ruhe kommen. Es wird, trotz wiederholter
fachmännischer Widerlegung, immer wieder aufs neue versucht, die Anschauungen
des Grafen Blumenthal, wie er sie in seinem Tagebuch zur Darstellung bringt,
doch als richtig zu erweisen. Da diese Versuche nur dahin führen können, die
Verdienste der Armee und besonders anch des Königs herabzusetzen, so dürfen
sie nicht unwidersprochen bleiben.
Am 23. Dezember 1870 schreibt Blumenthal: „Es ist ein wahrer Segen,
daß der König fest bleibt und von dem kindischen Einzelschießen und dem zweck¬
losen Knallen nichts wissen will." Dazu bemerkt der General von Müller*):
Unverständlich ist es, wie nach den vom Könige in der Konferenz (am 17. De¬
zember) getroffnen Entscheidungen General von Blumenthal noch am 23. Dezember
behaupten kounte, der König sei gegen die Beschießung... Das große Ver¬
dienst, das König Wilhelm sich durch seine Initiative erworben hat, wird durch
jene Aufzeichnung Blumenthals verdunkelt, die von vielen ungenügend unter¬
richteten Lesern für zutreffend angenommen wird.
**
Diese Zurückweisung wird nun neuerdings) aus gewissen Kreisen angefochten.
Zwar die Tatsache, daß seit dem 28. November der König und demnächst auch
Moltke entschieden für die Durchführung des Artillerieangriffs eintraten, können
sie nicht in Abrede stellen. Auch die Entscheidung der Konferenz vom 17. De¬
zember steht fest, nämlich daß der König ein Bombardement vor der Nieder¬
kämpfung der Forts ablehnte, dagegen den Angriff auf die Forts in Aussicht
nahm, um dadurch ein Bombardement möglich zu machen. Ganz klar spricht
das der Beschießungsbefehl vom 29. Dezember aus: Die erste Aufgabe der Be¬
lagerungsartillerie ist das Niederkämpfen des Feuers der Forts ... und die
Gewinnung näherer Stellungen zur Einleitung einer kräftigen Beschießung
der Stadt.
Nun wird versucht, jene Bemerkung Blumenthals doch zu retten, indem
ihr die Bedeutung untergelegt wird, er habe dabei unterschieden zwischen Be¬
schießung der Forts und der innern Stadt, und nur diese habe er dabei im
Auge gehabt. Seine Befürchtung, der König werde nicht fest bleiben, habe sich
in der Tat als begründet erwiesen, da die Stadt doch auch alsbald beschossen
worden sei, nachdem durch eine neue Erfindung die Schußweite der Geschütze
vergrößert worden sei.
Wie steht es nun mit dieser neuen Erfindung? Wer vom Artilleriewesen
einige Kenntnisse hat, weiß, daß jedes Geschütz für eine gewisse größte Schu߬
weite konstruiert ist. Dieser entspricht die größte Erhöhung des Rohres, nach
der die Stärke der Lafette bemessen wird, so zwar, daß diese bei einer weitern
Vermehrung der Erhöhung der Gefahr des Unbrauchbarwerdens ausgesetzt ist.
Im Jahre 1870 wußte jeder Artillerieoffizier, daß durch besondre Maßregeln
die normale (schußtafelmäßige) Schußweite für außergewöhnliche Fälle vermehrt
werden kann, nämlich durch das Herumlegen oder Herausnehmen der Richt¬
maschine, wozu bei der Feldartillerie das Eingraben des Lafettenschwanzes kam;
und es ist danach auch in verschiednen Fällen verfahren, zum Beispiel bei Metz,
bei Sedan u. a. Was aber nicht bekannt war, das war die zahlenmäßige Angabe
der dadurch bei den einzelnen Geschützen erreichbaren Schußweite. Und deshalb
gai> der Oberst von Rieff dem ihm schon im Frieden zu ähnlichen Aufgaben
unterstellten Feuerwerksleutnant Prehn (nicht Zeugleutnant; die falsche Titulatur
und die Bemerkung „der davon mehr verstände wie Rieff", sind bezeichnend)
den Befehl, rechnungsmäßig die größtmögliche Schußweite zu ermitteln. Das
ist geschehn, und davon ist denn auch dem Prinzen Hohenlohe Meldung gemacht
worden. In der Tat haben dann auch später einige Geschütze mit dieser künstlich
vermehrten Erhöhung gefeuert, aber es sind dadurch auch alsbald, wie voraus-
gesehn worden war, eine Anzahl Lafetten unbrauchbar geworden. Auf die
operativen Anordnungen des Artillerieangriffs ist die Maßregel nachweisbar
ohne Einfluß geblieben. Die von vornherein in geringem Umfang angeordnete
Beschießung ist vielmehr eine allgemein übliche Maßregel. Jeder Laie, der die
Berichte über die zahlreichen Belagerungen von 1870/71 durchblättert, wird da
ersehen, daß bei der artilleristischen Niederkämpfung der feindlichen Festungs¬
werke in der Regel als Begleitmaßregel eine müßige nächtliche Beschießung der
Festung stattfindet zu dem Zweck, die Besatzung und Bevölkerung zu beunruhigen
und die meist in der Nacht stattfindenden Transporte von Munition und Lebens¬
mitteln nach den angegriffnen Werken zu stören. In diesem Sinne ist auch
der Vorschlag des Oberst von Rieff, gleich von Anfang an einige Granaten in
die Festung zu werfen, erfolgt und von dem Prinzen Hohenlohe alsbald ge¬
billigt worden. Der General von Blumenthal aber untersagte die Ausführung;
auf Antrag des Prinzen Hohenlohe hat dann der König ausdrücklich befohlen,
daß der Vorschlag ausgeführt werde. Dieser Sachlage entspricht auch der Be¬
schießungsbefehl vom 29. Dezember, der eine spätere kräftige Beschießung
vorsieht, also eine frühere schwache Beschießung zur Beunruhigung der Be¬
satzung schon im Auge hat.
Damit fällt doch jeder Versuch, die Darstellung des Generals von Müller
zuwiderlegen, in sich zusammen; besonders aber muß die Annahme, der König
habe sich in seinen Entschließungen schwankend gezeigt, entschieden zurück¬
gewiesen werden.
Will man nun der Frage näher treten, wie denn die in Frage stehende
Äußerung Blumenthals zu deuten sei, so muß man sich vor allem gegenwärtig
halten, daß die so schroff ablehnenden Urteile des Tagebuchs, also Worte wie
„kindisch", „fähnrichsmäßig" usw. im leidenschaftlichen Streit der Meinungen
niedergeschrieben sind, nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren und besser,
wenigstens in dieser Form, noch nicht sobald hätten veröffentlicht werden sollen.
Es wird doch niemand im Ernst glauben, daß der Kriegsminister von Roon,
auf dessen Vorschläge sich diese Worte zunächst beziehen, nicht ganz genau
gewußt hätte, was er wollte. Gerade als Kriegsminister war er über die Fragen
des Festungskrieges besser unterrichtet als irgendein Jnfcmteriegeneral in
Versailles. Was er erstrebte, liegt deutlich zutage; er wollte offenbar, daß
entsprechend der kraftvollen Offensive, die den ganzen Feldzug kennzeichnet,
auch gegen Preis offensiv, das heißt mit einer wirklichen Belagerung vor¬
gegangen werde. Wenn er zunächst nur ein Bombardement aus acht Geschützen
vorschlug, weil für mehr die Munition nicht vorhanden war, so war er sich
zweifellos klar darüber, daß das einen entscheidenden Erfolg nicht haben werde.
Er wollte offenbar nur den möglichst baldigen Beginn des Artillerieangriffs,
weil er sicher wußte, daß wenn der König den Angriff erst befohlen hätte,
auch alsbald die Mittel zur erfolgreichen Durchführung bereitgestellt würden.
Und gerade dieser selbe Gedanke war es auch, der die Schießer, also die
Artillerieoffiziere, aber auch den König und Moltke, denn auch sie zählen seit
dem 17. Dezember zu den Schießern, von einem vorzeitigen Angriff abhielt.
Sie wollten den Angriff erst dann, wenn auch die Sicherheit gegeben war, ihn
mit Erfolg durchzuführen.
Es muß dabei entschieden dem Versuch, Moltke und Blumenthal als einerlei
Meinung hinzustellen, entgegengetreten werden. Der König und Moltke waren,
solange die Einschließungsarmee durch die sich im Norden und im Süden Frank¬
reichs bildenden Entsatzarmeen bedroht war. in Übereinstimmung mit Blumenthal
der Ansicht, daß da eine ernstliche Belagerung nicht möglich sei; und das mit
vollem Recht. Denn es ist klar, daß wenn sich Metz auch nur vierzehn Tage
länger gehalten hätte, die Einschließung von Paris hätte aufgegeben werden
müssen, und also die dann etwa schon aufgestellten Belagerungsgeschütze ver¬
loren gegangen wären. Als aber die erste Armee im Norden, die zweite Armee
im Süden in ihre die Einschließung deckenden Stellungen eingerückt waren, hat
der König persönlich (vom 28. November ab) die Beschießung sehr entschieden
betrieben, und ebenso Moltke spätestens vom 17. Dezember ab, wo er sie als
„notwendig" bezeichnete. Da nun tatsächlich alle Anordnungen über die Be¬
schießung vom Könige oder von Moltke verfügt sind, so wird der Vorwurf,
daß sie das Verdienst des Königs oder seines genialen Generalstabschefs
herabsetzen, mit Recht gegen alle die erhoben, die jetzt an der Beschießung zu
nörgeln versuchen.
Blumenthal aber ist immer ein Nichtschicßer geblieben; er hat zwar an¬
fänglich am 7. und 10. Oktober die Übertragung des Oberbefehls über den
artilleristischen Südangriff mit voller Zuversicht auf Erfolg angenommen; bei
näherer Prüfung der Verhältnisse aber kam er zu der Überzeugung, daß mit
den vorhandnen Mitteln ein Erfolg nicht möglich sei, und diese Überzeugung
hat er mit Entschiedenheit vertreten. Das war sein Recht und sogar seine
Pflicht, und niemand wird ihn deshalb tadeln dürfen. Gleichwohl war es.
wie der Verlauf ergab, ein Irrtum, der vorwiegend darin seinen Grund hat,
daß er über die Überlegenheit der preußischen Belagerungsgeschütze über die
französischen nicht genügend unterrichtet war. Seine Äußerung vom 23. De¬
zember kann also nur den Sinn haben, daß er damals noch hoffte, den Be¬
ginn der Beschießung und damit diese selbst hintertreiben zu können. In
demselben Sinne schreibt er an jenem Tage: „Ich freue mich, daß noch immer
nicht die ganze Munition hier ist." (Das ist deshalb besonders bezeichnend,
weil der König schon im November die größte Beschleunigung des Munitions¬
transports sehr entschieden befohlen hatte.) Und noch am 27. Dezember
schreibt er von der Beschießung der Forts: „Mir scheint sie trotz aller Intrigen
noch recht fern zu liegen." Daß er Nichtschießer blieb, zeigen am besten die
Bemerkungen, mit denen er die Beschießung selbst begleitete. Über die glanz¬
voll verlaufne Beschießung des Mont Avron schreibt er am 28. Dezember:
„Die Kanonade scheint, wie ich vorausgesehen, kein nennenswertes Resultat
gehabt zu haben." Er muß dann freilich am 29. gestehn, daß er sich geirrt
habe. Als der Südangriff beginnt, nennt er die guten Berichte des ersten
Tages (5. Januar) eine „arge Täuschung". Am 7. Januar spricht er von
der „abscheulichen Beschießung". Am 9. Januar schreibt er: „Die Blamage
hat ihren regelmäßigen Anfang genommen und wird sich wohl noch weiter
ausbilden." Am 24. Januar nennt er die Beschießung „einen begangnen
militärischen Fehler". Am 26. ist er „über das Schießen förmlich erbittert".
Diese wenigen Aussprüche — sie könnten leicht stark vermehrt werden — mögen
genügen, das Bild der Beschießung zu geben, wie es sich nach dem Tagebuch
vorstellt.
Dagegen hat Moltke noch in Versailles in einer Selbstkritik ausgesprochen,
wenn er noch einmal die Dispositionen für die Operationen nach der Schlacht
von Sedan — und die wichtigste davon war doch die Einnahme von Paris —
auszuarbeiten hätte, so würde er es genau ebenso machen, wie es in Wirklich¬
keit geschehen war. Er war also ebenso wie der König, der das wiederholt
in Versailles ausgesprochen hat, mit der Ausführung und dem Erfolg der
Beschießung zufrieden. Über die materielle Wirkung der Beschießung sei der
sehr urteilsfähige und unparteiische General von Stosch, der zuerst zu den
Nichtschießern rechnete, angeführt, der am 30. Januar die große Genugtuung
über den Erfolg schildert und hinzufügt: „Die gewonnenen Resultate hatte
niemand erwartet." Größer noch war die moralische Wirkung, die selbst
Blumenthal anerkennt; er schreibt am 21. Januar: „Die Franzosen können
nun wenigstens später nicht sagen, daß wir es nicht gewagt hätten, ihre be¬
rühmte Weltstadt zu beschießen." Auf die Wichtigkeit dieser moralischen Wirkung
hat Moltke noch in Versailles hingewiesen, als er ausführte, in welcher Weise
die Kriegführung auf den schließlichen Frieden hinwirken müsse. Es müsse
nicht nur jeder Widerstand im freien Felde niedergeworfen, sondern auch die
moralische Widerstandskraft des französischen Volkes völlig gebrochen werden.
Nur so war ein so opferreicher und auch ein dauernder Friede zu erzwingen.
Bei der großen Bedeutung, die Paris für Frankreich hat, mußte in der Tat
vor allem die moralische Widerstandskraft der Hauptstadt gebrochen werden,
und dazu hat die Beschießung wesentlich beigetragen, der es also mit zu danken
ist, daß seit 1871 der Friede gewahrt geblieben ist. Genauern Aufschluß über
die tatsächlichen Erfolge geben die beiden Bücher des Generals von Müller*),
auch das sehr lesenswerte Buch des Professors Busch**). Jeder, der diese
Werke fachwissenschaftlich zu würdigen weiß, wird sich, wenn er sie mit den
Angaben des Tagebuchs vergleicht, in der Tat der Überzeugung nicht ver¬
schließen können, daß diese nur „von den vielen ungenügend unterrichteten
Lesern für zutreffend angenommen werden" können. Leider gilt das aber nicht
nur von ungenügend unterrichteten Lesern, sondern auch geistig hochstehende
Männer sind allmählich in den Bann der Blumenthalschen Darstellung geraten,
wenn sie***) die Beschießung eine verfehlte Maßregel oder gar einen völligen
Mißerfolg nennen. So schreibt General von Blume auch in seinem neuesten
Werke: Kaiser Wilhelm I. und Roon, daß der Angriff auf Paris „zum Stehn
gekommen" sei, was mit einem Mißerfolge gleichbedeutend wäre. Diese Be¬
hauptungen stehn aber mit den Tatsachen im Widerspruch; der Irrtum rührt
daher, daß diese Herren nur den Südangriff vor Augen haben, über den ja
auch das Tagebuch nur handelt, und ihn mit dem Artillerieangriff identifizieren.
Dieser setzte sich aber aus drei Teilen zusammen, dem Nord-, Süd- und Ost¬
angriff; der Ostangriff blieb Episode, die beiden andern aber bildeten ein
Ganzes, waren von vornherein als solches vorgeschlagen und können auch nur
so gewürdigt werden.
Nun ist es richtig, daß gegen Mitte Januar der Moment eintrat, wo
der erste Auftrag der Belagerungsartillerie (siehe Beschießungsbefehl vom
29. Dezember) beim Südangriff erfüllt war, und nun der zweite Auftrag,
der Bau weiter vorgeschobner Batterien, hätte befohlen werden müssen. Es
war alles dafür vorbereitet, und nach den bisherigen Resultaten war am Er¬
folge nicht zu zweifeln. Der Befehl wurde aber vom König nicht für den Süden
gegeben, sondern für den Norden, weil sich inzwischen herausgestellt hatte, daß
dort die französischen Werke viel weniger stark ausgerüstet waren, also mit
weniger Mitteln und mit geringern Opfern angegriffen werden konnten wie
im Süden. Solche Verschiebungen der Hauptangriffsfront sind wiederholt,
zum Beispiel auch bei Belfort, vorgekommen.
Infolge davon wurde nun im Süden nur ein hinhaltendes Feuergefecht
geführt, im Norden aber der Angriff kraftvoll weiter fortgesetzt, sodaß am
21. Januar vom Könige die Eröffnung des förmlichen Angriffs auf die Nord-
front befohlen^) und auch sofort mit der größten Energie begonnen wurde.
In diesem Sinne wurde zum Beispiel auch eine Anzahl Geschütze vom Süden
an den Nordangriff abgegeben. Die Batterien im Norden haben nicht nur,
wie sich nach der Übergabe zeigte, materiell einen sehr bedeutenden Erfolg ge¬
habt, sondern auch moralisch. Fürst Bismarck berichtete^), daß ihm die
französischen Unterhändler gesagt haben, die schnellen Fortschritte des Nord¬
angriffs hätten besonders dazu beigetragen, den Entschluß zur Kapitulation
zur Reife zu bringen, also das Ziel zu erreichen, das Moltke der Belagerungs¬
artillerie als Aufgabe gesetzt hatte.
Damit ist doch für jeden, der sich vorurteilsfrei über die Sachlage unter¬
richten will, der Beweis geliefert, daß von einem Zumstehnkommen des An¬
griffs, der allerdings einen Mißerfolg bedeuten würde, durchaus nicht die Rede
sein kann, sondern daß der Artillerieangriff trotz der feindlichen Überlegenheit
an Zahl seinen erfolgreichen Fortgang genommen hat. Und damit ist die er¬
freuliche Tatsache erwiesen, daß auch beim Angriff auf Paris, wie im ganzen
Feldzuge, die Leitung der Operationen durch den König und Moltke sachgemäß
und richtig war, und daß der Angriff von allen Truppenteilen mit voller
Hingebung und Tapferkeit und auch mit großem Erfolge durchgeführt wurde.
An diesem Urteil ändert auch der Umstand nichts, daß vor der voll¬
ständigen Durchführung des Angriffs die Lebensmittel in Paris zu Ende
gingen. Es war menschlich richtig und militärisch statthaft, deshalb die
Kapitulation abzuschließen. Es war von den französischen Machthabern sogar
klug, nicht bis zuletzt zu warten, wo sie jede Bedingung hätten annehmen
müssen, sondern daß sie sich hinreichende Zeit für Unterhandlungen sicherten.
Auf französischer Seite hebt man mit Recht als ruhmvoll hervor, daß nur der
Hunger zur Übergabe gezwungen habe; wenn das anch ans deutscher Seite,
und zwar sehr ostentativ geschieht, so erscheint das doch wenig angebracht.
Die Geschichte zeigt viele Beispiele, wie es in einer mit Heroismus verteidigten,
aber durch den Hunger bezwungnen Festung auszusehen pflegt. Auch Blumen-
thal spricht in seinem Tagebuch am 18. November zum Teil in recht drastischen
Ausdrücken von dem Elend und dem Schrecken der Hungersnot, wie sie eine
wirkliche Aushungerung als Ende mit sich bringt. Von alledem war in Paris
noch sehr wenig zu merken; eine Hungersnot ist nicht entstanden; es waren
noch reichlich Lebensmittel für einige Tage vorhanden, was durch mehrfache
Zeugnisse bewiesen wird. So haben die französischen Truppen, als sie die
Forts übergaben, darin eine Menge Lebensmittel, Schinken, Würste, sogar das
frisch gebackne, übrigens recht gute Weißbrot, was ihnen denselben Morgen
geliefert worden war, zurückgelassen. General von Stosch berichtet, daß der
König entschieden verboten habe, Lebensmittel aus den Armeebeständen an Paris
abzugeben, ein Beweis, daß der König bestimmt wußte, daß zu einer planmäßigen
Wiederverproviantierung noch Zeit genug war. Gegenteilige Äußerungen, wie
in den angezognen Artikeln der Preußischen Jahrbücher und des Militär-
Wochenblatts, sind also nicht nur unangebracht, sondern geradezu irrig.
Es erscheint deshalb zum Schluß der Wunsch wohl gerechtfertigt, es möge
nun die Zeit gekommen sein, wo man aufhört, Personenkultus zu treiben, und
wo man die Vorgänge in ihrer Wirklichkeit zu erfassen sucht. Der Ruhm
der preußischen Armee und die Ehre der deutschen Geschichtschreibung fordern
gleichmäßig, daß auch hier die Wahrheit zu ihrem Rechte komme.
!is Pauline im Januar 1796 als neue Herrin in Detmold einzog,
war der von ihr und ihrem alten Freunde Gleim so heiß er¬
sehnte Friede für das ganze deutsche Reich noch immer nicht zu¬
stande gekommen. Nur die norddeutschen Staaten waren dem
I Sonderfrieden, den Preußen mit der Republik geschlossen hatte,
beigetreten, und im August 1796 wurde eine Demarkationslinie gezogen, die
alles Land nördlich vom Main und rechts vom Rhein gegen die Schrecken des
Krieges schützen sollte. Im Bereich dieser norddeutschen Neutralität lag auch
die Grafschaft Lippe, und deshalb mußte sie für das aus preußischen, braun-
schweigischen und hannoverschen Truppen gebildete Observationskorps ebenfalls
Naturallieferungen und Geldbeiträge leisten."1 Sehr unangenehm aber empfanden
es Paulinens Untertanen, als preußische Soldaten bei ihnen einquartiert wurden
und sich mannigfache Übergriffe, sogar in die Hoheitsrechte des Landesherrn,
erlaubten. Die Fürstin Pauline, die eben erst vom Wochenbett aufgestanden
war, hatte Mühe genug, die Erbitterung des hitzigen Gemahls zu beschwichtigen.
Sie überarbeitete den Entwurf einer Beschwerdeschrift an das Berliner Aus¬
wärtige Amt, und ebenso gab sie einem etwas schroff gehaltnen Brief an den
Prinzen Louis Ferdinand, den Kommandeur der drei preußischen Bataillone,
einen versöhnlichen Abschluß. Wenn es da heißt: „Ich verlasse mich darauf,
Sie werden mich fürs künftige beruhigen und für dergleichen sicherstellen; wenn
man Ihrer schönen menschlichen Seele so gern und ganz vertraut, so wird man
sicher nicht getäuscht", so war dieser Zusatz eine fein berechnete Schmeichelei, die
jedoch ihre Wirkung verfehlte. Der preußische Prinz behandelte das kleine
Lippe ziemlich von oben herab. Der Freund Pauline Wiesels ist dieser Pauline,
deren Geist und frauenhafte Würde vielleicht auch in ihm tiefere Gefühle aus¬
gelöst hätten, nicht näher getreten und hat sie wahrscheinlich nicht einmal per¬
sönlich kennen gelernt.
Es ist ein seltsames Zusammentreffen, daß die erste nachweisbare Be¬
teiligung Paulinens an den öffentlichen Angelegenheiten sie in einen scharfen
Gegensatz zu dem großen Nachbarstaate brachte, der schon der anhaltinischen
Prinzessin so unheimlich gewesen war. Als ganz junges Mädchen hatte sie zum
Entzücken Gleims eine lateinische Ode auf Friedrich den Großen ins Deutsche
übersetzt. Aber diese Begeisterung war wohl mehr fritzisch als preußisch. In
ihren Briefen an den Augustenburger kommt manche bittere Bemerkung gegen
Preußen vor. Ihr Vater mag ihr oft genug erzählt haben, wie schwer die
anhaltinischen Lande im siebenjährigen Kriege durch Zwangslieferungen aller
Art gelitten hatten. Nun war sie als Fürstin von Lippe doch wieder in die
Nachbarschaft Preußens gekommen, und das sanfte und friedliche Regiment
Friedrich Wilhelms des Dritten zeigte sich in diesem Punkte nicht weniger
drückend und rücksichtslos. Moralische Eroberungen machte Preußen damals in
Norddeutschland nicht. Die schmähliche und nachgiebige Neutralitätspolitik seit
dem Basler Frieden nahm ihm zuletzt auch die Achtung, die seine glänzende
Vergangenheit und militärische Stellung beanspruchen durste. Daß es ini
Jahre 1803 die Besetzung Hannovers durch die Franzosen, die Verletzung der
Demarkationslinie ungeahndet ließ, war ein Fehler, der nie wieder gutgemacht
werden konnte. Die kleine Grafschaft Lippe lag jetzt wie eingekeilt zwischen den
beiden Großmächten, und darum überrascht es nicht, daß Pauline von nun ab
auch mit Frankreich rechnete. Von der Frau, die sich einst eine „Tochter
Thuiskons" genannt hatte, hätte man vielleicht eine nationalere Politik erwarten
sollen. Aber wo gab es die damals in Deutschland? Auch Preußen trieb ein¬
seitig preußische Interessenpolitik. hatte schon in Basel die allgemeine Sache
Deutschlands treulos preisgegeben und auch beim Reichsdeputationshauptschluß
nur an sich selbst gedacht.
Seit dem Tode ihres Gatten, der am 4. April 1802 starb, war Pauline
für die politischen Geschicke des kleinen Landes allein verantwortlich. Das
Testament des Fürsten hatte sie zur Vormünderin und Regentin eingesetzt, und
die Stände waren „in Rücksicht auf ihre ausgezeichneten Eigenschaften" damit
einverstanden. So hatte sie sich in ihrem Gedicht an Gleim als eine schlechte
Prophetin erwiesen; sie war nun doch Regentin geworden und mußte sich sehr
eingehend mit der ihr einst so unleidlichen Politik beschäftigen. Ihre erste Sorge
galt den Verhandlungen der Regensburger Reichsdeputation, die im August 1802
endlich zusammengetreten war, um die durch den Verlust des linken Rheinufers
völlig verwirrten Besitzverhältnisse des deutschen Reiches neu zu ordnen, in
Wahrheit aber doch nur zu bestätigen hatte, was die beutegierigen deutschen
Fürsten durch Sonderverträge mit der Pariser Regierung längst erreicht hatten.
Durch ein Versehen wurde auch das Damenstift Kappel, das seit lange unter
lippischer Landeshoheit stand, zur Entschädigungsmasse geschlagen. Pauline wandte
sich mit ihrer Beschwerde an Preußen und Rußland und setzte glücklich die
Streichung des betreffenden Artikels durch. Noch wichtiger aber schien die Frage,
ob es jetzt nicht an der Zeit sei, dem Hause Lippe eine Virilstimme am Reichs¬
tage zu verschaffen. Denn mit dem Fürstentitel des Landesherrn war die per¬
sönliche Reichsstandschaft bisher nicht verbunden gewesen, Lippe wurde in
Regensburg im Westfälischen Grafenkollegium mit vertreten. Als nun aber
verschiedne Reichsgrafen, die Salm-Salm, Fürstenberg, Löwenstein-Wertheim
und andre, in den Reichsfürstenrat neu aufgenommen wurden, um die durch
den Wegfall der geistlichen Stimmen entstandnen Lücken zu ergänzen, meldete
sich auch Pauline mit ihren Ansprüchen. Die Sache war jedoch nicht so ein¬
fach. Die Entscheidung lag nicht in Regensburg, sondern in Paris, wo damals
mit deutschen Landstücken und Hoheitsrechten ein einträglicher Handel getrieben
wurde. Es gab förmliche Taxen, wie einst beim römischen Ablaß. Eine Viril¬
stimme zum Beispiel kostete 24000 Franken, die zu bestimmten Teilen an höhere
und niedere Beamte des Auswärtigen Amtes gezahlt werden mußten. Von diesen
„Bestechungen" aber wollte Pauline nichts wissen: ihre Grundsätze erlaubten
ihr „dieses Pfades Betretung" nicht. Da sie fünf Jahre später, nach der Auf¬
nahme in den Rheinbund, den französischen Unterhändlern nicht geringere
Summen geopfert hat, ist zu vermuten, daß sie der Reichsstandschaft keinen
allzugroßen Wert beilegte. Um Sein oder Nichtsein des Landes Lippe handelte
es sich hier noch nicht.
Trotzdem schaute Pauline sorgenvoll in die Zukunft. Die große Umwälzung
von 1803 hatte gezeigt, wie morsch und verfallen, wie reif zum völligen Unter¬
gang die altehrwürdige Verfassung des Heiligen Römischen Reiches war. Die
durch Napoleons Gnade groß gewordnen Mittelstaaten gingen auf neue Beute¬
züge aus und versuchten zunächst die Reichsritterschaft ihrer straffen monarchischen
Landeshoheit zu unterwerfen. Nach diesen Kleinsten im Reiche mußten die
Reichsgrafen an die Reihe kommen. Schon im Jahre 1795 hatte Pauline die
Befürchtung ausgesprochen, daß vielleicht einmal die kleinern deutschen Fürsten
von ihren mächtigern Mitstünden verschlungen werden könnten. Doch niemals
würde sie der Verlornen Fürstenwürde eine Träne nachweinen, da der Privat¬
stand im ganzen glücklicher sei; sie hätte sehr wenig Bedürfnisse, und wie sie
sich schmeichle, Hilfsquellen genug in ihrer eignen Brust. Damals hatte sie
gemeint, die jetzige Generation würde diesen Umsturz wohl nicht erleben. In¬
zwischen sah sie mit eignen Augen, wie der gewaltige Erbe der Revolution das
Antlitz der Welt von Grund aus änderte. Nach dem Reichsdeputations-
hcmptschluß erschien ihr das Dasein der kleinern Staaten sehr unsicher. „Wahr¬
scheinlich werden unsre Enkel im Privatstande leben", schrieb sie im Juni 1804.
Und ähnlich Wie neun Jahre vorher fügt sie hinzu: „aber sind sie nur achtungs-
werte Menschen, ist ihr Auge dem Licht und der Wahrheit eröffnet, so wird
der Verlust des Hermelins sie nicht unglücklicher machen."
Diese philosophische Ergebenheit hindert sie aber nicht, so tapfer wie möglich
um die Selbständigkeit ihres kleinen Landes zu kämpfen. Als der schlimmste
Feind galt ihr nach wie vor der preußische Nachbar, und dieser stellte bei der
Mobilmachung von 1805 wieder recht hohe und unliebsame Forderungen, denen
sich Pauline immer nur schweren Herzens fügte. Die Berliner Regierung be¬
nahm sich so rücksichtslos, als ob Lippe schon ein preußischer Kreis geworden
wäre. Vielleicht würde die Fürstin dem Willen der Großmacht leichter nach¬
gegeben haben, wenn diese wirklich als Großmacht gehandelt und ihre eigne
und Deutschlands Ehre besser gewahrt hätte. Sehr treffend vergleicht sie das
Preußen von 1806, das Preußen des Schönbrunner und Pariser Vertrags,
mit einer von heftigen Stürmen schon arg initgenommnen Flotte. Schon im
März 1806 suchte sie, zunächst vergeblich, mit Napoleon Fühlung zu gewinnen.
Auch an eine Reise nach Paris dachte sie. Und obwohl schon vier Jahre vorher
zahlreiche deutsche Fürsten, unter ihnen ein Schwager des preußischen Königs,
dem ersten Konsul in Se. Cloud ihre Aufwartung gemacht hatten, obwohl sich
das unwürdige Schauspiel im Herbst 1804 vor dem neuen Kaiser in Mainz
wiederholt hatte, hielt sie es doch noch für nötig, sich vor den Holsteiner
Freunden gewissermaßen zu entschuldigen: sie wollte in deren Augen nicht als
frivol und zu dienstfertig (prompte) erscheinen. Aber es handelte sich nicht um
ihr eignes Schicksal; sie war Mutter und Vormünderin, und nichts, weder die
Rücksicht auf ihre Gesundheit noch persönliche Bedenken (ä^M-örriMtL) würden
sie von dieser Reise zurückgehalten haben, wenn sie damit ihren Kindern ge¬
nützt hätte. Doch vorläufig war das Schlimmste noch glücklich verhütet. Der
russische Kaiser hatte sie, wie sie meint, vor den Klauen des schwarzen Adlers
gerettet: sie konnte noch einmal Atem schöpfen. Das war Ende April. Dann
erfolgte die Gründung des Rheinbundes. Ein neuer unerhörter Gewaltstreich ver¬
nichtete die politische Selbständigkeit zahlreicher Reichsstände im deutschen Süden
und Westen. Was den Fürstenbergs und Hohenlohes zugestoßen war, konnte jeden
Augenblick auch Lippe-Detmold treffen. Preußen bemühte sich jetzt, dem Rhein¬
bund einen norddeutschen Bund entgegenzustellen. Dem Ehrgeiz und der Lünder-
sucht der beiden wichtigsten Mittelstaaten, Sachsen und Hessen, mußten einige
Zugeständnisse gemacht werden. Kein Zweifel, daß auch hier die Kleinern auf¬
geopfert werden sollten. Der Kurfürst von Hessen-Kassel warf sein Auge auf
die beiden Lippe und Waldeck-Pyrmont. Das Unwetter der Mediatisierung zog
drohend auch über Norddeutschland herauf.
Paulinen blieben diese geheimen Verhandlungen zwischen Berlin und Kassel
nicht verborgen. Im August 1806 machte sie sich auf das Einrücken hessischer
Truppen gefaßt und war entschlossen, in diesem Falle sofort nach Paris zu
gehn. Das fürstliche Blut regte sich in ihr, so sehr sie noch vor gar nicht so
langer Zeit die Vorzüge des Privatstandes gepriesen hatte. Der „Tochter,
Schwester und Witwe regierender Fürsten" kam es hart an, „Untertanin von
ihresgleichen zu werden". Und vor allem: sie hatte als Regentin eidlich gelobt,
ihrem Sohne alle seine Rechte zu erhalten, und wollte ihre Seele nicht mit
einem Meineid belasten. Aber auch für das Land selbst erschien ihr die Mediati-
sierung nicht heilsam: „Wo bleibt das liebliche Bild einer freundlich geleiteten,
glücklichen, zu übersehenden Familie, was nur kleine Länder bieten? Es wäre
für ewig verlöscht." Nicht gewöhnlicher engherziger Kleinstaatgeist spricht sich
in diesen Worten aus. Das Land Lippe konnte mit den zahllosen, zum Teil
arg verrotteten politischen Existenzen, die der eiserne Besen des Korsen vom
Reichsboden hinweggefegt hatte, nicht verglichen werden: Pauline verdiente
Herrscherin zu sein und zu bleiben. Für unser nationales Empfinden aber ist
es noch heute schmerzlich, daß ihr in dem Kampfe um ihre Selbsterhaltung
nichts andres übrig blieb, als sich Napoleon in die Arme zu werfen und so,
wie sie es selbst in einer Denkschrift ausdrückt, ihr kleines hilfloses Fahrzeug
„dem prächtigen, stolzen Kriegsschiff anzuvertrauen, das im Pompe des Sieges
sich bläht und einer ganzen ihm folgenden Flotte gebietet".
Noch vor Jena und Auerstedt bewarb sie sich um Aufnahme in den Rhein¬
bund. Daß sie es in ihren Gesuchen an Schmeicheleien gegen den Gewaltigen
nicht fehlen ließ, ist wohl begreiflich. Die Fürstenbriefe an Napoleon gehören
bekanntlich zu den betrübendsten Erscheinungen der deutschen Geschichte. Aber
auch hier weiß Pauline in die herkömmliche Melodie noch eine eigne Note zu
bringen. „Nur Eure Majestät, so schreibt sie, versteht es, den Erdkreis zu be¬
herrschen und noch bis in die kleinsten Einzelheiten mit Wohltaten zu über¬
häufen. ... Das beigefügte Memoire ist ohne Kunst und Beredsamkeit ge¬
schrieben; das Herz allein hat es diktiert, und ich habe keine fremde Feder dazu
entliehen, da es sich um meine geheimsten Gefühle handelte." Trotzdem ge¬
langte Pauline erst nach vielen Schwierigkeiten und nur mit knapper Not an
das ersehnte Ziel. Napoleon hatte keine große Lust, diese politischen Zwerg¬
gebilde Norddeutschlands zu erhalten, überließ aber die gleichgiltige Sache seinen
Unterbeamten, und einer von diesen war gutmütig genug, auf die Wünsche des
geschickten nassauischen Staatsmanns Hans von Gagern einzugehn. Der Kaiser
schalt nachher sogar darüber, daß er getäuscht worden sei. Pauline aber wußte,
warum sie diesmal mit Geld und Geschenken für die gefälligen Unterhändler
nicht sparte. Als sie im April 1807 endlich in den Rheinbund aufgenommen
worden war, verkündigte sie ihren Untertanen mit stolzer Freude, daß sie ihnen
„künftige Ruhe und bleibende Selbständigkeit durch mächtigen und kraftvollen
Schutz" gesichert habe.
Ganz ungetrübt war freilich diese Freude nicht. Napoleon stellte sehr
hohe Anforderungen an seine Vasallen. Lippe, das nach der alten Reichs¬
matrikel im Kriegsfalle 274 Mann zur Reichsarmee geschickt hatte, mußte jetzt
ein Kontingent von 500 Mann zur steten Verfügung des mächtigen Protektors
unterhalten. Das waren schmerzliche Opfer für die treue Landesmutter, be-
sonders als viele ihrer braven Soldaten in dem spanischen Kriege zugrunde
gingen. Auch die Kontinentalsperre war sehr drückend, und an außerordentlichen
Kriegsstenern fehlte es nicht. Im übrigen aber blieb Lippe während der
Rheinbundzeit von Truppendurchzügen und sonstigen Belästigungen ziemlich
verschont. Pauline benahm sich stets sehr geschickt und verstand durch den Reiz
ihrer Unterhaltung und die Liebenswürdigkeit ihrer Briefe Diplomaten und
Generale zu gewinnen. Auch mit Jerome in Kassel hielt sie gute Nachbarschaft und
lobte seine Gefälligkeit und Artigkeit im Gegensatz zu dem ehemaligen „Dünkel"
der Preußen. Wie aber dachte sie über Napoleon selbst? Sie hatte keinen
Grund, ihn zu hassen, wie Luise von Preußen oder Maria Ludovika von
Österreich; und in der Bewunderung für ihn stimmte sie mit dem Größten ihrer
Zeit überein. I/emM-sur xg.r ^xosllenos, es Asilis tsiridls se oolossÄl, so be¬
zeichnet sie ihn in ihren Briefen. Auch persönlich hat sie ihn kennen gelernt.
Im Spätherbst 1807 unternahm sie eine Reise nach Paris, um eine bei der
Errichtung des neuen Königreichs Westfalen beabsichtigte, unangenehme
Schmälerung ihrer Souveränität zu hintertreiben. Über diese Reise liegt ihr
Tagebuch vor, das in das Hofleben von Fontainebleau einen hübschen Einblick
gewährt. Die Kaiserin Josephine kannte sie schon von einem frühern Besuch
in Mainz her, und schon damals hatte es ihr die hübsche, aber oberflächliche
Kreolin angetan. Sie erschien ihr als ein „Muster der Grazie und Liebens¬
würdigkeit", ihren Wuchs und ihr Auge fand sie einzig schön. Die erste Be¬
gegnung mit Napoleon verlief sehr kurz und war nur ein rasches Wechselspiel
von Frage und Antwort: Wie alt ist Ihr Sohn? Ist er bei Ihnen? Wie
stark ist die Bevölkerung Ihres Landes? Wie groß ist Ihr Kontingent? Desto
gesprächiger war der Kaiser bei der Privataudienz, die sie endlich nach langem
Warten erlangte. Er ging auf ihre Angelegenheiten ein, als ob er nie ein
wichtigeres Geschäft gehabt hätte. Pauline erreichte ihren Zweck; der gefürchtete
Paragraph wurde in die westfälische Konstitution nicht aufgenommen. In Paris
besuchte die Fürstin die Ateliers berühmter Künstler und wohnte auch einer
Sitzung der Akademie bei. Unter den Sehenswürdigkeiten fesselte sie besonders
der Dom der Invaliden. Sie sah dort die erbeuteten österreichischen und
preußischen Fahnen und den Degen Friedrichs des Großen: „Es ist kein wohl¬
tätiges Gefühl, mit dem man das alles still betrachtet."
Eine kleine, schlichte Bemerkung, die aber doch wohl zeigt, daß in der
Nheinbundsfürstin noch das Herz der Tochter Thuiskons schlug. Es muß auch
hervorgehoben werden, daß sie in ihrem Lande niemals jenen entehrenden
Napoleonkultus duldete, der damals in andern Staaten getrieben wurde. Und
darum sind die begeisterten patriotischen Töne, die sie nach der Leipziger Schlacht
in verschiednen Ausrufer an ihre Untertanen erklingen ließ, nicht leeres Wort-
geprängc, sondern der lebendige Ausdruck einer starken, doch lange zurück¬
gedrängten nationalen Gesinnung. Das kleine Lippe erlebte jetzt eine Nachblüte des
großen preußischen Völkerfrühlings. Auch hier wurden Landwehr und Landsturm
errichtet, und die Spalten der Lemgoer Jntelligenzblätter füllten sich mit den
Verzeichnissen der freiwilligen Liebesgaben. Im Feldzuge von 1815 erwarb
sich das lippische Kontingent besondern Ruhm bei der Erstürmung der Festung
Montmedy, Blücher selbst teilte das der Fürstin in einem schmeichelhaften
Schreiben mit, und „dieses Zeugnis des verehrungs- und bewunderungswürdigen
Helden" machte sie öffentlich bekannt, um das ganze Land ihre eigne Freude
mitgenießen zu lassen.
Die äußere Politik Paulinens, die immer nur die Unabhängigkeit ihres
kleinen Staates im Auge gehabt und diesem Zweck alle andern Rücksichten unter¬
geordnet hatte, ist jetzt zu einem gewissen Abschluß gelangt. Frankreich war
nicht mehr zu fürchten, und in dem friedlichen und schläfrigen Deutschen Bunde
mit seinen neununddreißig Staaten war die lippische Souveränität auch vor
allen Anfechtungen des einst so unbequemen Preußischen Nachbars gesichert.
Paulinens äußere Politik ist aber doch trotz aller Geschicklichkeit und aller
Erfolge nur ein Teil ihres Wesens. Das, was sie hauptsächlich zur großen
Regentin gemacht hat und, wie Treitschke einmal sagt, den wenigen bedeutenden
Frauen der Geschichte an die Seite stellt, ist ihre innere Verwaltung. Daukbcir
gedachte sie, als sie Regentin geworden war, des Vaters, der ihr eine so un¬
gewöhnliche Erziehung hatte zuteil werden lassen. In seinem Kabinett, als
sein Geheimsekretär, hatte sie sich die nötige Geschäftsgewandtheit angeeignet;
schon damals, als sie noch mit dem alten Gleim von einem stillen Musensitz
schwärmte, war sie doch weit davon entfernt, sich ganz „der süßen Ruhe" hin¬
zugeben. Ihre lebensfrische Natur konnte sich nur in angestrengter Tätigkeit
wahrhaft glücklich fühlen. Lust und Liebe zum Wirken für ein größeres Ganze
waren ihr angeboren. Nicht gering schätzte sie die Freuden des Regierens ein;
es erlabte und ermutigte sie, auch nur für den Augenblick zu hoffen: siehe,
Tausende hängen an dir, erwarten alles von dir, lieben dich kindlich . . . Vor
dieser Sorge für das ihr anvertraute Land mußten alle andern Interessen und
Neigungen zurücktreten. Auch die Musen, denen sie in ihrer Jugend so gern
gehuldigt hatte, vernachlässigte sie jetzt. Sehr hübsch erklärt sie in einem Ge¬
burtstagsgedicht an die von ihr hochverehrte Stiefmutter ihres verstorbnen
Gatten:
Die Akten waren ihr jetzt wichtiger als alles, was die schöne Literatur
an neuen Werken hervorbrachte. Mechanisch griff ihre Hand nach dem Akten¬
stoß, und Matthissons Liedersammlung oder Goethes „Dichtung und Wahrheit"
blieb daneben unbeachtet auf dem Schreibtische liegen, bis sie ihr Tagewerk
vollendet hatte.
Ein stark patriarchalischer Zug geht durch Paulinens Regiment. Das, was
sie einst als den Vorzug des Kleinstaats gepriesen hatte, das Gemütliche, Über¬
sichtliche, kam darin aufs glücklichste zur Geltung. Sie erscheint als das Ober¬
haupt einer großen Familie, das nach allen Seiten hin seine Wohltaten aus¬
streut, aber streng auf Ordnung sieht und die Zügel fest in der Hand hält.
Seit ihrem Beitritt zum Rheinbunde hat sie den lippischen Landtag nicht mehr
berufen. Doch faßte sie die ihr jetzt zugestandnen Souverünitütsrechte nur
als eine vermehrte Verpflichtung auf „zur Ausübung der Gerechtigkeit, Billigkeit
und Milde". Die oft recht mechanische Vielregiererei der Vasallen Napoleons
war ihr fremd; in ihrer ganzen Art knüpft sie mehr an das aufgeklärte Fürsten¬
tum des achtzehnten Jahrhunderts an. Und ihr weibliches Empfinden ver¬
leugnet sie auch als Regentin nicht: ihre Erlasse und Veror^ ungen haben
vielfach einen kleinen Stich ins Feierliche und Gefühlvolle, so kräftige Töne
sie auch gelegentlich zu finden weiß. Da heißt es zum Beispiel in einem Erlaß
zur Beförderung der Schutzblatternimpfung und zur Verhinderung der An¬
steckung: „Wir haben zu der Mehrheit Unsrer geliebten Untertanen das feste
Zutrauen, daß ihnen das Leben ihrer Kinder höchst schätzbar ist, daß sie diesen
unsterblichen Wesen, denen sie das Dasein gaben, es auch erhalten wollen.. . .
Unterlassen die Eltern diese Pflicht, so wird ihr eignes Gewissen sie unerbittlich
strafen, ihr häusliches Glück für immer vernichtet sein und der nagende, nicht wieder
zu besänftigende Kummer, Mörder ihrer Kinder durch Unterlassung gewesen zu
sein, ihr Grab öffnen."
Pauline nahm das Gute, wo sie es fand. Als sie am Ende des Jahres 1808
die Leibeigenschaft aufhob, wies sie auf das Beispiel andrer Bundesstaaten hin;
die Steinsche Gesetzgebung konnte für die Rheinbundsfürstin selbstverständlich
nicht in Betracht kommen. Während Scharnhorst mit rastlosem Eifer der Be¬
gründung der allgemeinen Wehrpflicht zustrebte, führte sie nach französisch-west¬
fälischen Muster die Konskription ein. Doch auch diese schon war für den ge¬
plagten Bauernstand eine bedeutende Erleichterung. nachdrücklich bekämpfte sie
ständische Privilegien und Ansprüche: so erneuerte sie eine alte Polizeiordnung,
wonach niemand, weder Adlicher noch Geistlicher, von Leistungen für die Aus¬
besserung der Landstraßen befreit werden sollte. Sehr lag ihr die Rechtspflege
am Herzen; sie verkürzte das Prozeßverfahren und ordnete den Instanzenweg.
Regelmäßig ließ sie sich die Kriminalakten vorlegen und versah sie mit Rand¬
bemerkungen. Gern wies sie darauf hin, daß der Verbrecher doch auch Mensch
sei, und daß die Strafe dazu dienen solle, den Bestraften zu bessern. Als es
sich aber um einen Sohn handelte, der seine Eltern mißhandelt hatte, verwarf
sie jede Milde als Sünde gegen Tugend, Religion und Sittlichkeit. Auch ge¬
sellschaftliche Unterschiede wollte sie vor Gericht nicht gelten lassen: Vornehme
dürfen nicht entschlüpfen, wo Geringe bestraft werden. Unermüdlich war sie
bestrebt, ihre Untertanen zu belehren, zu bessern und zu erziehen. Bisweilen
tut sie wohl darin ein wenig des Guten zuviel. War es nötig, den Seil¬
tänzern die öffentliche Ausübung ihrer Künste zu verbieten, damit ja nicht die
Kinder zu gesundheitsschädlichen Nachahmungsversuchen verleitet würden? oder
den Juden die Feier des Hamans (Purim) festes zu stören, weil es geeignet
schien, den Aberglauben und das Gefühl der Rache zu nähren? Einen sehr
hartnäckigen Kampf führte sie gegen den Branntwein, „dies schädliche, zerstörende
Gift, was allgemein zu verfertigen erlaubt und sogar obrigkeitlich befördert
wird". In den von dem Detmolder Generalsuperintendenten Cölln heraus¬
gegebnen „Beiträgen zur Beförderung der Volksbildung" veröffentlichte sie einen
recht wirkungsvoll geschriebn«« Aufsatz, der die Folgen der Trunksucht aufs
grellste beleuchtet. Nacheinander führt sie die verschiedensten Bilder vor: den
allgemein verachteten Greis, der alles für den verderblichen Trank hingab, das
verzweifelnde Weib seines ihm schon ähnlichen, mit Zuchthaus bestraften Sohnes,
das epileptische, wimmernde Kind. Und noch widerlicher der Anblick eines
halbvertierten alten Weibes und einer jungen liederlichen Person. Zum Schluß
wendet sie sich an den Genius des neuen Jahrhunderts und fleht ihn an, das
deutsche Vaterland von dem lastenden, schimpflichen Vorwurf, die Verfertigung
eines so gefährlichen, doppelt tödlichen Giftes zu gestatten, endlich zu befreien.
Die begeisterte Idealistin verstand sich aber auch auf die nüchterne Realpolitik;
sie beabsichtigte den Branntweingenuß durch die Einführung einer sehr hohen
Verbrauchssteuer einzuschränken und hoffte auf diese Weise zugleich die Mittel
für die Anlage eines Generalarmenfonds und die Errichtung eines Irrenhauses
herauszuschlagen. Ihr Plan scheiterte — es war noch vor der Rheinbunds¬
zeit — an dem Widerstreben der Stände. Doch vermochte sie wenigstens den
Bau der Irrenanstalt durchzusetzen, und sie war glücklich, als sie ihrer Freundin
Luise von dem vollendeten Werk erzählen konnte. Wenn die meisten Regierungen
damals aus fiskalischen Gründen die Branntweinbrennerei begünstigten, so galt
der Kaffee als ein schädliches Luxusgetränk, das dem kleinen Mann die heimische
Biersuppe verleidete und unnötig viel Geld aus dem Lande führte. Es ist
bekannt, wie sehr die „Kaffeeriecher" der Volkstümlichkeit des alten Fritz ge¬
schadet haben. Auch in Lippe sind zu derselben Zeit eine ganze Reihe von
Verordnungen gegen das Kaffeetrinken erlassen, aber nicht befolgt worden. Und
da Pauline außerdem bemerkte, daß vielfach der Gesundheit noch nachteiligere
Surrogate eingeführt wurden, hielt sie es endlich für das beste, die völlig
wirkungslosen Verbote aufzuheben. Echt paulinisch klingt wieder die Begründung:
Gesetze, die nicht gehalten werden, schaden der Moralität.
Wirklich musterhaft entwickelte sich unter Paulinens Regentschaft das Schul¬
wesen des Landes. Pädagogische Schriften las sie mit Vorliebe, und an dem
Nachfolger Collus, dem Generalsuperintendenten Weerth, fand sie, besonders für
die Dorfschulen, einen ganz vorzüglichen Berater. Als in dem benachbarten
Königreich Westfalen die geistlichen Stifter aufgehoben wurden, verwandte sie
gewisse Einkünfte und Rechte, die diese bisher aus ihrem Lande bezogen hatten,
nicht für ihre eigne Kasse, sondern gab sie ihrem frühern Zweck zurück, das
heißt, sie stattete mit den flüssig gewordnen Geldern die Schulen besser aus und
erhöhte den Lehrern die Gehalte. In Detmold errichtete sie eine Art Real¬
schule. Ganz eigenartig aber war die Gründung von Erwerb- oder Industrie¬
schulen, in denen die Kinder unvermögender Eltern, die sonst entweder gar nicht
oder nur sehr unregelmäßig in die Schule gingen, nicht bloß unterrichtet, sondern
auch mit nützlichen Handarbeiten beschäftigt wurden. Es wurde dort genäht,
gestrickt und gesponnen, das Arbeitsprodukt verkauft und der Erlös den Kindern
teils sofort ausgezahlt, teils — ein ganz moderner Gedanke — als Spargeld
aufgehoben. Überhaupt erfreuten sich die Armen und Ärmsten ihrer besondern
Fürsorge, und durch öffentliche Aufrufe forderte sie auch das Publikum zur
Mitarbeit auf. Zweckloses Wohltun aber war ihr zuwider, da der Bettler mit
barem Gelde ja doch nichts anzufangen wisse. Mehr als einmal betonte sie,
die Unterstützungen dürften nicht zur Trägheit und Unordnung oder gar zum
Laster führen, die Armen sollten gewissermaßen erzogen und die Ursachen der
Armut beseitigt werden. Wer gesund war und arbeiten wollte, brauchte nicht
zu betteln: er fand in dem freiwilligen Arbeitshaus zu Detmold, auch im
Winter, eine warme Stube, gute Kost und ausreichende Beschäftigung, und für
die Miete seiner Wohnung erhielt er einen Vorschuß, den er allmählich abarbeiten
mußte. Auch hier wurden, ähnlich wie in den Erwerbschulen, Arbeitsmaterial
und Handwerkszeug gestellt. Pauline, die über das Gedeihen dieser ihrer
Lieblingsschöpfung in den Jntelligenzblättern alljährlich öffentlichen Bericht ab¬
stattete, wies oft darauf hin, daß viele Personen ihr Material, besonders Flachs
und Wolle, gern in der Anstalt verarbeiten ließen, während sie es dein ein¬
zelnen Armen nicht anvertraut hätten, und ebenso berechnete sie, wieviel Licht
und Feuerung kosten würden, wenn eine jede Familie für sich allein im Hause
arbeitete. Auch an behaglicher Lebensfreude sollte es den Armen nicht fehlen;
sie bekamen auf herrschaftlichen Boden ein Stück Land zugewiesen und konnten
sich dort in ihrer freien Zeit selbst ihr Gemüse ziehen. Aber so freundlich die
Fürstin den Arbeitslustigen entgegenkam, so hart traf ihr Zorn „die Faulen
und Schlechtdenkenden", die noch jetzt bettelten und die private Wohltätigkeit
in Anspruch nahmen: sie kamen ohne Gnade in das Strafwerkhaus. Dagegen
wurde für die Arbeitsunfähigen und Kranke» in liebevollster Weise gesorgt.
Pauline hatte in ihren sozialen Bestrebungen nicht nur selbst schöpferische
Gedanken, sondern wußte sich auch die Ideen andrer zunutze zu machen. Ohne
Zweifel hat sie der amerikanische Philanthrop Rumford beeinflußt, der am Ende
des achtzehnten Jahrhunderts in München soviel für die Beseitigung der Bettelei
tat. Die von ihm erfundne und nach ihm genannte billige Suppe stand fast
regelmäßig auf dem Speisezettel des Detmolder Arbeitshauses. Ein andermal
las sie in einem Journal einen Aufsatz über die von der damaligen Konsulin
Bonaparte in den verschiednen Stadtteilen von Paris errichteten Klcinkinder-
bewahranstalten, und sofort forderte sie die Deinen der Gesellschaft auf, ihr
behilflich zu sein, „diese Pariser Mode nach Detmold zu verpflanzen". Das
geschah denn auch wirklich. Die Anstalt wurde begründet, ältere Mädchen aus
dem Waisenhause oder der Erwerbschule übernahmen die Aufsicht über die
Kleinen, und abwechselnd erschienen die Damen, um nach dem Rechten zu sehen.
„Welch eine Erleichterung für arme Mütter, schrieb Pauline, für Witwer, denen
ihre Lage nicht gestattet, eine Wärterin zu nehmen, eine Quelle jener oft so
unüberlegt schnellen, das Zartgefühl der Sittlichkeit verletzenden zweiten oder
dritten Ehen, oft schon geschlungen, wenn die Erdenhülle der ersten Freundin
kaum erkaltet ist." Gedanken und Worte, wie sie treffender gar nicht Paulinens
Wesen bezeichnen können, in dem sich kräftig zugreifender Wirklichkeitssinn so
eng mit Gefühlsschwelgerei verbindet.
Die letzten Jahre ihrer Regentschaft wurden der Fürstin getrübt durch einen
unerquicklichen Streit mit den Stünden ihres Landes. Sie hatte die ehrliche
Absicht, den berühmten Artikel 13 der deutschen Bundesverfassung zu erfüllen,
wollte jedoch den seit lange nicht mehr berufnen Landtag nicht mehr in der mittel¬
alterlich feudalen Form bestehen lassen, sondern in modern bürgerlichem Sinne
umgestalten.*) Die ol-äsvimts, wie Pauline sie nannte, waren darüber außer
sich, verklagten sie beim Frankfurter Bundestag, verlangten die Wiederherstellung
der alten Verfassung, ja sogar die Revision der letzten zehn Regierungsjahre
der Fürstin, das heißt der Zeit, wo sie ohne Landtag regiert hatte. So begann
auch in Lippe-Detmold der Kampf ums alte Recht. Doch Pauline war keine
rücksichtslose Despotin wie der dicke Friedrich von Württemberg, und kein Uhland
erhob gegen sie seine Stimme. Abgesehen von der Ritterschaft Scharte sich das
ganze Land einmütig um die geliebte Herrin. Dadurch ermutigt, wagte sie den
äußersten Schritt. Am 26. Juni 1819 ließ sie die neue Verfassung, deren
Artikel sie persönlich ausgearbeitet hatte, in den Jntelligenzblättern veröffent¬
lichen. Es war eine wirkliche Volksvertretung, die auf dem Grundeigentum be¬
ruhte und die drei Stunde der Rittergutsbesitzer, Bürger und Bauern zu gleichen
Teilen berücksichtigte. Und recht ketzerisch und im Zeitalter Metternichs sehr
gewagt lauteten die Grundsätze, die der Archivrat Clostermeier im Auftrage der
Fürstin in einer Rechtfertigungsschrift darlegte: Der rechtliche Bestand der alten
landständischen Verfassung sei erloschen, sobald die fortschreitende Aufklärung
sie als unvereinbarlich mit der Vernunft und den geläuterten Begriffen des
allgemeinen Staatsrechts anerkannt Hütte und die Völker für fähig gehalten
werden müßten, ihre von jenen Korporationen als Standesprärogative usurpierte
und zum eignen Vorteil benutzte Vertretung selbst zu übernehmen. Die Det-
molder feierten den Staatsstreich durch eine Illumination, und die Bauern er¬
klärten laut, sie würden sich das, was ihre „Mutter" ihnen gegeben habe, nicht
wieder entreißen lassen, sondern es im Notfalle mit ihren Armen verteidigen.
Die alten Stände aber wandten sich von neuem an den Bundestag, auch der
Bückeburger mischte sich aus freundnachbarlicher Eifersucht ein, und schließlich
entschied die Rcklamationskommission, die Regentin Hütte die frühere Verfassung
nicht einseitig auflösen dürfen und solle mit der Einführung der neuen Ver¬
fassung warten. Pauline fügte sich dem Rechte des Stärkern, war aber auch
zu keinem Vermittlungsvorschlage geneigt; sie wollte lieber ihren ganzen Plan
aufgeben „wie einen frommen Traum als eine Adelskammer und etwas fremd¬
artiges ganz schreiender Natur darin aufnehmen, lieber ein zartes Kind ver¬
klären sehen im schönen Reiche der Ideen, als verderben, gemein werden und
jahrelang dahinwelken". So gelangte weder das neue Staatsgrundgesetz zur
Wirksamkeit, noch wurden die alten Landstände wieder berufen. Erst nach mehr
als sechzehn Jahren, im Jahre 1836 kam ein Ausgleich zustande.
Pauline sehnte sich nach Ruhe. Als die Karlsbader Beschlüsse dem Bundes¬
tage aufgezwungen waren, freute sie sich, dem Grabe näher zu sein als der
Blütezeit des Lebens. Ungern wollte sie eine zweite, der französischen ähnliche
Revolution erleben. Das Jahr 1848 blieb ihr erspart. Sie starb am 28. De¬
zember 1820, nachdem sie gerade sechs Monate vorher ihrem Sohne Leopold,
der inzwischen schon vierundzwanzig Jahre alt geworden war, in feierlicher
Versammlung die Negierung abgetreten hatte. Die Worte, mit denen sie sich
in ihrer Abschiedsrede an den jungen Fürsten wandte, sind das Bekenntnis
einer edeln Frauenseele und wahrhaft fürstlicher Gesinnung. Sie empfahl ihm,
nie jemand zu verdammen, der sich noch nicht verteidigen könne, nie auf Günst¬
linge zu hören, gut und sorgsam im Kleinen wie im Großen hauszuhalten, um
der christlichen Tugend der Wohltätigkeit, dem fürstlichen Vorzuge der Gro߬
mut sich nicht entziehen zu brauchen. Sie bat ihn um rasche Tätigkeit, dem
Regenten seien Freuden und Zerstreuungen nur nach Erfüllung seiner Pflichten
erlaubt. Nach diesen Grundsätzen möge er handeln, dann würde ihr mütter¬
licher Segen sein Teil, und was unendlich mehr sei, Gottes Wohlgefallen sein
Eigentum sein.
!er in Fallmerayers „Fragmenten aus dem Orient" im neunten
Stück (Hagion Oros oder der heilige Berg Athos) die herrlichen
Naturschilderungen gelesen hat, die ihn in einen romantischen
Urwaldzauber einspinnen und ihn trotz der Versicherung des
! Verfassers, das Bild sei nicht phantastisch, sondern naturgetreu,
manchmal an der Wahrheit der Schilderungen irre werden lassen, und wer
dann einige Seiten weiter jene mit Bangen um ihre Vernichtung gemischte
Apotheose der Waldeinsamkeit vernommen hat, den wird ein jubelndes Gefühl
überkommen, wenn er jetzt, nach über sechzig Jahren, den Spuren eines jüngern
Forschers folgt, der jene lange vernachlässigten Gebiete der alten Erz- und
Waldgebirge Griechenlands, die Chalkidike, mit offnen Augen und Sinnen
für alle ihre Schönheiten und Merkwürdigkeiten durchstreift und seine Be¬
obachtungen in einem anspruchslosen und doch so ansprechenden Schriftchen
niedergelegt hat.*) Denn jetzt sehen wir, daß Fallmerayers bangende Furcht
um das Schicksal der chalkidischen Waldgrunde nicht begründet war, daß ihre
Pracht und Üppigkeit noch jetzt den Wandrer mit Entzücken erfüllt. Wer das
Los des Waldes im Orient kennt, wer seine mutwillige Verwüstung geschaut
hat, der wird angesichts dieser neuen Schilderungen ein stilles Dankgebet gen
Himmel senden und zugleich allen Freunden der griechischen Landschaft laute
Kunde geben von der Neuentdeckung einer ihrer verborgensten Kleinodien.
Denn Struck hat, was auch Fallmerayer und viele andre nach ihm nicht
getan haben, die ganze Chalkidike mit Ausnahme des Athos durchforscht und
damit einen Überblick über ihren Gesamtcharakter ermöglicht, in landschaftlicher,
geo- und ethnographischer, wirtschaftlicher und historisch-antiquarischer Hinsicht
gegeben. Wir greifen einiges davon heraus, bringen in innern Zusammen¬
hang, was in der Form eines Reiseberichts auseinanderfiel, und werfen einige
vergleichende Rückblicke auf die frühere Reiseliteratur.
Des Lobes voll ist auch unser Gewährsmann über das Landschaftsbild
der Chalkidike. Das gilt zumal von dem Rumpf der Halbinsel, und zwar
weniger von ihrem westlichen Teile, der mehr das Gepräge einer südlichen
Kulturlandschaft zeigt mit Gruppen von Oliven, Platanen und Zypressen, als
von dem erzhaltigen Cholomondagebirge im Osten, das durch dichte Kastanien-,
Eichen- und Buchenwaldungen schon Fallmerayers Entzücken erregte und stellen¬
weise ganz den Charakter eines Urwaldes annimmt. Die Perle dieser Gegend
ist das Gebiet zwischen den Dörfern Nawenikia und Larigowi (Struck S. 17
und 21; vgl. Fallmerayer S. 273 und 275), das durch seine Riesenkastanien
berühmt ist, und wo es noch starke Wildbestände von Hirschen, Rehen und
Wildschweinen gibt. Die drei südlichen Landzungen, Ajon Oros, Longos und
Kassandra (im Altertum Akte, Sithonia, Pallene) Stufen sich in ihrem Wald-
reichtum von Osten nach Westen ab: Ajon Oros ein romantischer Walddom,
den Fallmerayer so unnachahmlich beschrieben hat, mit weichern, rundem
Formen, Longos von rauheren, wildromantischem Charakter und mit ebenfalls
noch wildreichen Waldbeständen von Fichten, Platanen, Buchen, Erdbeerbäumen
und Steineichen (Struck S. 61), endlich Kassandra, waldarm und, land¬
schaftlich dem westlichen Rumpfstück entsprechend, nur Kulturland ohne hohe
Gebirgszüge.
Dieser Verteilung von Wald- und Kulturgebiet entspricht auch die der
Ortschaften: am dichtesten besiedelt ist die westliche Hälfte; hier liegen auch die
vier größten Dörfer mit je 2000 Einwohnern: Apanomi, Vcissilika, Galätista
und Polijiros, während die größten der Osthälfte, wie Larigowi, Wawdos,
Ormylia und Jerissos, zwischen 1000 und 1500 Einwohnern schwanken. Im
ganzen zählt man 233 Ortschaften mit 72500 Einwohnern, wovon 163 mit
52000 Einwohnern auf den Westen, 70 mit 21000 Einwohnern auf den
Osten entfallen.
Auch ethnographisch läßt sich eine Scheidung in Ost und West durchführen.
Zwar ist die erdrückende Mehrzahl der Bevölkerung griechisch (60000), die
übrigen sind Slawen, Türken, Zigeuner sowie die auf zwei Distrikte beschränkten
Volkssplitter der Jürüken (vgl. über diese Struck S. 32 f.), doch ist zu be¬
achten, daß die Bewohner der östlichen Minendistrikte ursprünglich Bulgaren
waren, die aber jetzt gräzisiert sind, wie überhaupt der waldreiche Osten im
Mittelalter ganz slawisiert worden ist, wie man des näheren bei Fallmeraycr
S. 341 ff. nachlesen kann. Die Berg-, Fluß- und Ortsnamen geben noch
Zeugnis davon (den bei Struck S. 48 verzeichneten Namen sind noch hinzu¬
zufügen der des Gebirges Cholomonda sowie die Ortsnamen Zagliveri und
Larigowi). Altgriechische Ortsnamen haben sich bezeichnenderweise vorwiegend
im Westen erhalten, nämlich Anthimos (Vlumenau) in der Nähe von Galätista,
jetzt Flur-, einst Stadtname, dann der Name des Kalorongebirges (agr.
/ca^,«^too ö'^os), ferner Kassandra, aus Kassandria, einer Gründung König
Kassanders (an der Stätte des frühern Potidäa), deren Name sich dann der
ganzen Halbinsel mitgeteilt hat, endlich Athytos (agr. Aphytis) auf derselben
Halbinsel. Im Osten ist nur erhalten Stratoni (agr. Stratonikeia) am Golf
von Jerissos und Toronis (agr. Torone) an der Westküste der Halbinsel
Longos. Alle übrigen griechischen Ortsnamen sind byzantinisch, wie ja die
ganze Halbinsel im siebenten und achten Jahrhundert von den byzantinischen
Kaisern neu kolonisiert worden ist, sodaß von Resten altgriechischer Bevölkerung
keine Rede sein kann. Immerhin wäre es dankenswert gewesen, wenn Struck
außer den Landschaftsbildern und Volksszenen auch einige Volkstypen bei¬
gefügt hätte aus verschiednen Gegenden, die interessante Vergleiche gestatten
würden. Besonders in dem südlichen Mittelgebiet (der sogenannten Chassia)
sollen sich noch schöne Physiognomien finden (vgl. Cousinery, Voz^ö
Na<z6äoiiis II, 134).
Die byzantinische Kolonisierung hat besonders für die drei südlichen Halb¬
inseln bemerkenswerte Folgen in sozialer Hinsicht gehabt. Wie bekannt, ist die
östlichste Halbinsel seit fast tausend Jahren ein Klosterland, der „heilige Berg"
geheißen. Weniger bekannt aber ist, daß auch die beiden andern, Longos und
Kassandra, zahlreiche Metochien bergen, das heißt „aus frommen Schenkungen
herrührende Besitzungen der griechischen Klöster, vornehmlich der des Athos,
die in Gutshöfe umgewandelt wurden und entweder in Pacht gegeben oder
durch exponierte Mönche direkt bewirtschaftet werden" (Struck). Solcher
Metochien zählt man auf Longos 24, auf Kassandra 17, wogegen es auf der
ersten Halbinsel nur 8, auf der letzten nur 12 Freidörfer gibt, sodaß auf beiden
Halbinseln zusammen 20 Freidörfer 41 klösterlichen Meierhöfen gegenüberstehn.
Nimmt man dazu die 20 Stammkloster auf dem Athos selbst sowie die am
Südrande der eigentlichen Chalkidike verstreuten 14 Metochien sowie die
selbständigen Klöster außerhalb des Athos, so kommt man auf 120 klöster¬
liche Niederlassungen auf der südlichen Chalkidike. Man sieht, wie recht
Fallmerayer hatte, wenn er den Athos als den Vatikan von Byzanz be¬
zeichnete; denn durch diese Metochien, die alle äußerst günstig liegen, beherrscht
er auch wirtschaftlich einen großen Teil der Halbinsel, da die zu ihnen ge¬
hörenden Lündereien unveräußerlich sind.
Einen ganz andern sozialen Einfluß hatte der Bergbau im östlichen Teile
der Halbinsel. Hier hat sich vom Altertum bis zum Ende des achtzehnten
Jahrhunderts nicht mir eine intensive Industrie ausgebreitet, sondern auch im
Zusammenhang damit eine kleine Republik von 27 Ortschaften entwickelt, die
sich vom Ende des siebzehnten bis zum Anfang des neunzehnten Jahrhunderts
erhielt und mit eigner Verfassung und eigner Obrigkeit ausgestattet war —
in der Türkei eine ganz einzig dastehende, an antike Verhältnisse erinnernde
Erscheinung. Das Nähere kann man bei Struck nachlesen (S. 70 ff.), wo auch
von dem neuen Aufblühen der Minenausbeutung durch französisches und
italienisches Kapital berichtet wird, während noch zu Fallmerayers Zeit der
Betrieb völlig brachlag.
Die Haupterwerbsquelle der Bevölkerung der Chalkidike bildet teils der
Ackerbau, der aber trotz einer Ackerbauschule in Dallau (der einzigen in
Makedonien) noch auf sehr primitiver Stufe steht, teils, und häufiger, Obst-,
Weinbau sowie, besonders im Süden, Bienen- und Seidenraupenzucht. Nur
die halbnomadischen Jürüken treiben Viehzucht. Hier und da ist auch Haus¬
industrie zu finden, namentlich Wollen- und Seidenweberei. Vielleicht der
starke Anbau trügt daran Schuld, daß von Resten des Altertums bisher wenig
zutage getreten ist. Systematische Ausgrabungen sind hier noch nicht vor¬
genommen worden, daß sie aber gute Ergebnisse versprechen, darauf weisen
die Andeutungen des Verfassers über die Ruinenstätten der beiden einstigen
Politischen Mittelpunkte der Halbinsel, Olynth und Potidäa (S. 37 bis 43).
Interessanter ist, was Struck über den berühmten Xerxeskanal festgestellt hat,
der die Athoshalbinsel im Norden an ihrer schmalsten Stelle (2^ Kilometer)
durchzogen haben soll. An der Existenz der Kanallinie selbst ist nicht zu
zweifeln, wie man wohl früher, nach den fein-ironischen Bemerkungen Fall¬
merayers (Fragmente S. 277 f.) zu urteilen, trotz der ausführlichen Schilderung
Herodots (im siebenten Buch), getan hat. Fallmerayer wie Struck sprechen von
der grünen, durch üppigen Pflanzenwuchs bezeichneten und aus dem gelbgrauen
Grunde sich scharf abhebenden Linie, die nebst dem umgebenden Gebiete bei
den Umwohnern Provlaka heißt (was nicht, wie Fallmerayer meinte, ein sla¬
wisches, sondern ein gut griechisches Wort ist und aus ?r^o und «^«5 ent¬
standen ist, also etwa „Vorgraben" bedeutet*); Struck, der keine Deutung des
Wortes versucht, betont übrigens Provlaka, was kaum richtig sein kann, wie
er überhaupt die heutigen Namen nicht immer richtig betont). Die Frage ist
nnr die, ob der Kanal nur in Angriff genommen aber nicht vollendet, oder
ob er schon durchfahren worden ist. Was Struck vorläufig feststellen konnte,
ist folgendes: die Kanallinie durchzieht den Isthmus in einer Länge von fast
zweieinhalb Kilometern in einer von Norden nach Südwesten ausgeschweiften
oder in stumpfen Winkeln gebrochnen Linie. Am deutlichsten ist diese im süd¬
lichen Teil, wo „der Graben noch eine wenig unterbrochne, zwei bis drei
Meter tiefe und zwanzig bis vierzig Meter breite Mulde" bildet. Dagegen
ist diese Linie nach Norden zu nur schwach oder gar nicht erkennbar, und
zwar um so mehr, je höher sich das Terrain erhebt. Aber auch hier zeigt
sich, daß das Erdreich weich und mit Schutt gemengt ist, was Struck aus
dem allmählichen Verfall der nicht verkleideten Böschungen erklärt, wie über¬
haupt das ganze Werk einen rein provisorischen Charakter und später keine
Bedeutung mehr hatte. Soweit Strucks Darstellung in seinem Reisebericht.
Inzwischen hat er in einer eignen Studie über den Xerxeskanal (Neue Jahr¬
bücher für das klassische Altertum usw., Bd. 19 ^1907^. S. 115 bis 130) das
Problem von der historischen Seite zu fassen gesucht und eine höchst lehrreiche
Übersicht gegeben über die literarischen Denkmäler des Altertums und über die
neuern Reiseberichte, die den Kanalbau erwähnen. Danach sprechen die griechischen
Autoren, wie Platon, Lysias und Äschines, von ihm wie von etwas fest¬
stehendem und durch das Imponierende seines Werkes sprichwörtlich gewordnen.
Erst die spätern Satiriker wie Lukian, Juvenal und Catull bezeichneten das
Werk als etwas fabelhaftes und sprachen von einer Durchbohrung des Athos-
berges. Nur der Geograph Strabo glaubt noch an die Existenz des Kanals.
Für die Schwierigkeit des Baues zeugt der von Plutarch überlieferte Droh¬
brief des Xerxes an den Athos, wo es heißt: „Göttlicher Athos, dessen Spitze
zum Himmel ragt, setze meinem Werke keine großen und harten Felsen ent¬
gegen, sonst laß ich dich abhauen und ins Meer stürzen."
Eine wichtige Ergänzung zu den antiken Zeugnissen bilden die der neuern
Reisenden aus den letzten hundert Jahren. Von ihnen bezeugen fast alle,
Choiseul-Gouffier (1791), Hunt (1815), Leake (1806), Urquhart (1830), Spratt
(1838). Grisebach (1839) und Tozer (1853), übereinstimmend das Vorhanden¬
sein mehr oder weniger deutlicher Spuren einer alten Kanalfurche. Nur der
Franzose Cousinery kommt zu dem phantastischen Schluß, Xerxes habe beide
seitliche Abhänge des Athos leicht abböschen lassen und dann die Schiffe auf
einem festen Bretterboden hinüberrollen lassen, während er die Angaben des
Herodot über den Kanalbau für eitle griechische Prahlerei erklärt. Dem sowie
der ablehnenden Haltung Niebuhrs gegenüber hat jetzt Struck sicher nach¬
gewiesen, daß der Kanal nicht nur gebaut, sondern auch durchfahren worden
sein muß, und daß die Ergebnisse seiner Nachforschungen bestätigen, wie treu
„Herodot das ihm Überlieferte aufgezeichnet und uns erhalten hat".
So wird uns. wie aus dieser gedrängten Zusammenfassung hervorgehn
wird, ein landschaftlich, kulturhistorisch und archäologisch reizvolles Stück
griechischen Landes dem Naturfreunde wie dem Forscher hier neu erschlossen,
und man kann nnr lebhaft wünschen, daß auch der Reiseverkehr an diesem
auch mit einem gesunden Klima gesegneten Ländchen nicht länger mehr vorbei¬
gehn möge. Von Salonik aus ist ja wenigstens der westliche, kultivierteste
Teil der Chalkidike leicht zu erreichen, und hier findet man sogar schon zwei
aufblühende Kur- und Badeorte (Sedes und Galätista), die untrüglichsten Vor¬
boten und stärksten Vorposten moderner Kultur, die vielleicht auch einmal den
ehrwürdigen Athos aus einem Sitz mittelalterlicher Askese zu einer Stätte
modernen Naturheilverfahrens machen werden.
es möchte nicht behaupten, daß es irgend etwas mit meiner religiösen
Anschauung zu tun gehabt hätte, daß ich mir die Aufgabe stellte, den
Mann der Schmerzen zu malen, aber ich fürchte beinahe, daß mein
guter alter Papa in dem Pfarrhause diesen Entschluß für ein Zeichen
des Gnadendurchbruchs gehalten hat. Ich habe als Künstler immer
nur ungern eine Linie zwischen dem Geistlichen und dem Schönen
gezogen, da ich immer der Ansicht gewesen bin, daß die Schönheit dasselbe unbe¬
grenzte Element umfaßt, das das Wesen jeder Religion ausmacht. Es wird mir
übrigens nicht leicht, mich durch Worte auszudrücken, da der Pinsel bisher das
einzige Ausdrucksmittel war, dessen ich mich bedient habe. Wenn ich trotzdem in
diesem besondern Falle zu der Feder greife, um durch Worte zu erläutern, was
mir vielleicht nicht gelungen ist, durch meinen Pinsel auszudrücken, so geschieht dies,
weil die Kritik, die mein Bild „Der Mann der Schmerzen» so schwer angegriffen
hat, mich dazu reizt, eine Erklärung zu versuchen. Nehmen wir an, daß mein Bild
nur halb ausspricht, was ich sagen wollte. Vielleicht gelingt es meiner Feder, die
andre Hälfte zu sagen, besonders da diese aus Dingen besteht, die ich teils selbst
gesehen, teils mir habe erzählen lassen.
Zuerst möchte ich erklären, daß das Bild, das jetzt in seinem goldnen Rahmen
dahängt, weit verschieden von meiner ersten Auffassung ist, daß es sich nnr langsam
kurzen Blick auf die sechzig Jahre zu werfen, auf die zwei Menschenalter, die
Kaiser Franz Joseph als Monarch geschaltet hat, in denen sein Thron festgeblieben
ist, allen Umwälzungen, allem Wandel der Zeiten zum Trotz. Fürwahr, wenn
einer das Recht hat, das monarchische Prinzip als festen Halt zu rühmen, fo
hat er es.
Welche Wandlungen hat er vor allem in seinem Verhältnis zu Deutschland
und Italien erlebt wie innerhalb seines eignen Reiches! Seine Politik, oder viel¬
mehr die Politik, die dem jugendlichen Herrscher die Umstände aufdrängten und
seine Ratgeber empfahlen, wandte sich in seinem ersten Jahrzehnt gegen die
deutschen Einheitsbestrebungen, wie sie von Frankfurt und später, freilich schwächlich
und inkonsequent, von Berlin aus betrieben wurden, brachte sie zu Fall und behauptete
nachdrücklich die Vorherrschaft Österreichs im Deutschen Bunde, da Österreichs
Teilnahme am politischen Leben Deutschlands nur in der Form des Staatenbundes,
nicht in der eines straffen Bundesstaats, der allein den Bedürfnissen der Nation
genügen konnte, möglich war. Gleichzeitig wurden Italien und Ungarn mit
Waffengewalt niedergeworfen, die ganze Monarchie als zentralisierter Einheitsstaat
absolutistisch geordnet und regiert. Es waren bedeutende zielbewußte Männer,
die damals, einer großen Zukunft sicher. Osterreich leiteten. Aber die einzige
Gewähr für diesen Zustand bot die tapfre, siegreiche Armee, nicht die Gesinnung
der Volk r, und etwa die Hälfte des Reiches war im Belagerungszustande
Da begann mit der Übernahme der Regents^f durch Prinz W. Helm von
Preußen im Oktober 1858 wieder eine größere Selbständigkeit der preußischen
Politik. Sie wirkte entscheidend auf den Verwif des Ualienischm
die Lombardei ging für Österreich verloren, die Gründung des Königreichs Italien
war nicht zu verhindern, und der Absolutismus brach unter der Wucht seiner Mi߬
erfolge zusammen Im Innern begann die Zeit der Verfassnngsexperimente im
Deutschen Bunde die Zelt der Bundesreformversnche die im Frankfur er Fursten-
wge 1863 gipfelten und mit seinem vo« gen Fehlschlag endeten. Der sehr ernst
gemeinte Versens Bismarcks. das staatenbündische Deutschland unter die d^gemeinsame Führung Österreichs und Preußens zu bringen fu^ohne den Bund 1864 nach Schleswig-Holstein; aber eben der Zwiespalt über dessen
Besitz brachte 1866 den entscheidenden Bruch. Besiegt schied Osterreich aus dem
Deutschen Bunde, um dem Bundesstaat unter preußi^und gab auch Venezien auf. Ein Jahr spät
er 1867 verwandelte sich der Kai^
Staat aus einem zentralisierten, fast absolutistisch regierten Emheits a^ die kon¬
stitutionelle Doppelmonarchie Österreich-Ungarn die diesseits der Leitha vom bürger¬
lichen deutschen Liberalismus, jenseits in modern parlamentarischen Formen vom
magyarischen Adel ungefähr nach entgegengesetzte Prinzipien reg ert wurde.
Das dritte Jahrzehnt der Regierung Fr°n^weise von der Idee der Revanche für 1866 beherrscht die der von Sachsen uber-
nommne Freiherr von Beust ausführen soll e und wollte. In der Tat gedieh n
die Verhandlungen mit Frankreich und Italien über ein Kriegsbundnis gegen das
neue Deutschland bis nahe zum Abschluß. Doch schwerlich war der Kaiser selbst
mit der Kriegspartei unter dem Erzherzog Albrecht dem Sieger von Custoza
ganz einverstanden, denn zum französischen General Lebrun sagte er im Juni 1870
zum Abschied, er würde nur dann am Kriege teilnehmen, wenn die Franzosen in
Süddeutschland als Befreier begrüßt würden Die nationale Haken-nz der Süd¬
deutschen und die raschen deutschen Siege im August sund nach der Errichtung des Deutsche» Reichs näherte sich Osterreich von der
Friedlichkeit der deutschen Politik überzeugt, dem Nachbarstaat sodaß 1872 das
Dreikaiserverhältnis möglich wurde, zumal da Beusts Rücktritt (November 1871)
das alte Mißtrauen in Berlin beseitigt hatte. Österreich orientierte von neuem
seine auswärtige Politik; indem es die Umgestaltung Deutschlands und Italiens
als unabänderliche Tatsache anerkannte, richtete es seine Front nach der Balkan¬
halbinsel und besetzte 1878 als Mandatar Europas Bosnien und die Herzegowina,
allerdings unter schweren Kämpfen, die aber doch auch der hartgeprüften, tapfern
Armee eine Genugtuung gaben, wie sie andrerseits der österreichischen Verwaltung
einen neuen Schauplatz schufen, ihre Tüchtigkeit in kulturarmen Gebieten erfolgreich
zu entfalten. Endlich schloß sich 1879 das deutsch-österreichische Bündnis, eins der
größten Werke Bismarcks, das die Aussöhnung der alten Gegner besiegelte und
1883 durch den Beitritt des isolierten Italiens zum mitteleuropäischen Dreibunde
erweitert wurde. Auf dieser Grundlage hat sich seitdem in der zweiten Hälfte der
Regierung Franz Josephs die österreichische Politik bewegt.
Freilich das, was man die Versöhnung der Nationalitäten nannte, gelang auch
jetzt nicht. Fortwährend fühlten sich die Deutschen benachteiligt, und die Slawen
waren niemals befriedigt. Das Widerstreben gegen die Besetzung Bosniens und
die unumgängliche Heeresverstärkung kostete die deutschen Liberalen, die jene Gegen¬
sätze doch auch nicht hatten versöhnen können, 1879 ihre langjährige Herrschaft,
und alle übrigen nun zur Leitung berufnen Elemente erreichten das ersehnte
Ziel ebensowenig, höchstens, wie Graf Taaffe „die moderierte Unzufriedenheit
aller Parteien". Auch die jeweilige Erneuerung des ungarischen Ausgleichs konnte
immer nur Mit neuen Zugeständnissen an die magyarische Begehrlichkeit erkauft
werden, bis die Einführung des allgemeinen Wahlrechts zunächst in Österreich, der
sich auch Ungarn nicht auf die Dauer wird entziehen können, einen radikalen Versuch
machte, die nationalen Gegensätze wenigstens zurückzudrängen. Trotz ihrer hat sich
aber die Monarchie, namentlich ihre österreichische Hüfte, wirtschaftlich sehr erfreulich
entwickelt, und die Zweifel an dem Fortbestehen der Monarchie sind der Hoffnung
auf eine bessere Zukunft und größerer Zuversicht gewichen. Das mag den greisen
Herrscher, der niemals an solchen Aussichten verzweifeln durfte, am Abend seines
Lebens über so manchen Fehlschlag trösten und erheben. Freilich, worauf hatte
er alles in den sechs Jahrzehnten seiner Regierung verzichten müssen! Ans so
manche legitimistischen und konservativen Ideen seiner Jugend, auf die absolute
Gewalt feiner Krone, auf die Vorherrschaft Österreichs in Deutschland und seinen
schönen italienischen Besitz, auf die Einheit seiner Monarchie sogar! Daß er sich
in alle diese Schicksalswendungen ehrlich gefunden hat, darin liegt ein großer Teil
seiner persönlichen Bedeutung. So allein war auch die Begrüßung durch den
Kaiser und die Fürsten des Deutschen Reichs möglich, so nur auch die herzliche
Glückwunschdepesche des dritten im Bunde, des Königs von Italien. Aber wie
dieser 7. Mai eine glänzende Kundgebung des Dreibundes war, so bedeutete sie für
Österreich auch das Bekenntnis, daß die eigentlichen Träger des Staats doch die
Deutschen sind, in deren Sinn das Bündnis mit Deutschland von allem Anfang
an sein mußte und gewesen ist.
Wie es in der Ordnung war, entbot auch der deutsche Reichstag als Ver¬
tretung des deutschen Volks dem kaiserlichen Jubilar seinen Gruß. An demselben
Tage vertagte er sich bis zum 20. Oktober. Die Regierung und die Blockparteien
dürfe» mit Befriedigung auf diesen Abschnitt ihrer Tätigkeit zurücksehen. Nachdem
das Börsen- und das Vereinsgesetz unter Dach gebracht worden waren, hat die
Mehrheit in den letzten Tagen die Erhöhung der Subvention für den Norddeutschen
Lloyd, die besonders für die bessere Verbindung mit unsern Besitzungen in der
Südsee erforderlich war. wenigstens zur Hälfte bewilligt, und was ungleich wichtiger
war, die Eisenbahnvorlagen in sämtlichen afrikanischen Kolonien mit den dafür er¬
forderlichen Anleihen im Gesamtbetrag von 150 Millionen Mark unter Reichs-
garantie angenommen. Endlich ist ein großer Zug in unsre Kolonialpolitik ge¬
kommen, nachdem Dernburg das Verständnis dafür erweckt und große Ziele gesteckt
hat. Die Blockpolitik hat sich also trotz allem Nörgeln und Zerren völlig bewährt,
und das Zentrum hat die Erfahrung machen müssen, daß auch ohne seine Teil¬
nahme regiert werden kann. Für eine so große und lange so mächtige Partei ist
das auf die Dauer unerträglich; sie muß entweder den Anschluß wieder zu gewinnen
suchen oder sich spalten. Das Übergewicht ihres linken demokratischen Flügels, der
die törichte Haltung der Partei im Dezember 1906 verschuldet hat und fast so
radikal und demagogisch ist wie die Sozialdemokratie, legt eine solche Aussicht ohne¬
hin nahe. Bei der bevorstehenden Reichsfinanzreform wird die Probe gemacht
werden müssen, ob die demokratischen Jntransigenten siegen oder die immerhin
gemäßigte Rechte. Der „Block" wird hoffentlich auch hier zusammenhalten. Die
Geschichte, die beste Lehrmeisterin der Völker, von der allerdings die Völker als
solche niemals etwas lernen, beweist unwiderleglich, daß das alte Reich nicht zum
wenigsten an seiner elenden Finanzwirtschaft zugrunde gegangen ist. Soll der
Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ähnliches erleben wie der Anfang des
sechzehnten unter Maximilian dem Ersten und Karl dem Fünften? Damals war
es die Selbstsucht und die Kurzsichtigkeit der Reichsstände, die dem Reiche die
selbständigen gesicherten Einnahmen versagten und es ^auf die klägliche Aushilfe un¬
regelmäßiger, nur gelegentlich bewilligter Matrcku arbetträge - der -ins M so
geläufige Name stammt aus dieser Zeit - anwiesen; toll ,etzt d^Re^reform an dem eigensinnigen Doktrinarismus der Parteien und den selbstsüchtigen
Interessen einzelner Volksschichten scheitern? Es kommt doch viel wemger darauf
an. ob eine Steuer möglich t gerecht verteilt se - eme absolut gerechte Verteilung
direkter Steuern ist überhaupt unmöglich °is darauf daß sie möglichst ol ein¬
bringt und möglichst leicht getragen wird, und diesen Vorzug^ haben^ d^ idtte^Steuern unleugbar vor jeder direkten Steuer. Auch das mögen die Reichsboten
erwägen.
-.'..,..
Bei dem Tode des Right Honourable
Sir Henry Campbell-Bannerman hat sich wieder einmal jedem. ^und heimische Zustände objektiv an fremden messen will gezeigt, wieviel Stil Vor.
»ehmleit und Kultur in dem politischen Leben Englands stecke ^»icht zu Ende, wollte man alle dafür charakteristischen Einheiten, w
Ländern, auch in Deutschland in analogen Fällen wenn auch nicht un^möglich. so
doch unwahrscheinlich wären, hier erwähnen Nur einiges se.^ zufallig heraus¬
gegriffen Vor uns liegt eine Nummer der Times und eine des Punch. In der
Auch ist ein Br f veröffentlicht, den Mr Balfour der Mhrer d.r K^ewativen
und folglich der Opposition, an seinen gut». Freund »ut Polit schen^GMi^ ^en
jetzigen Preuuerminister Asqnith gerichtet hat. ^lfour schreibt ^tue. daß seine Kran heit ihm eine Teilnahme an den Tranes
Henry ve biete. Der Brief ist kein rein formaler "«d nichtssagender ^brief/sondern der Ausdruck hoher Achtung für d-e Personttchke t. des hinge^Politischen Gegners, geschrieben aus einem feinen Empfinden für d.e Würde der
^^°"
ökchafür die vornehme Kultur des politischen Lebens in Eng¬
land da^ bekämpfen, persönlich aber achten, ja be-
fre.endet 1^ s°« unantastbar sein; ^ ^ .^"Mmpft
entrückt, und dieser, den ja das Leben unvermeidlich macht, auf Meinungen und
Sachen beschränkt. ^ . . „ ^. ...
Je mehr eine Gesellschaft aristokratisch und ihrer Tradition sicher ,se, desto
mehr scheint sie unter der Herrschaft der Konvention zu stehn. In Deutschland
ist es ja noch vielfach aus einem gewissen unzivilisierten Naturburschentum heraus
Sitte, die Konvention für etwas äußerliches und schlechtes und des freien Menschen
unwürdiges zu erklären. Was an diesem Irrtum schuld ist, mögen die Kenner
der deutschen Kulturgeschichte untersuchen. Genau so wie die gesellschaftliche Kon¬
vention die Existenz mehrerer Menschen erträglich macht, indem sie ihre Be¬
ziehungen in festen und nicht immer, wie man in Deutschland zumeist glaubt,
innerlich bedeutungslosen Formen regelt, soll die feste politische Konvention die
Austragung sachlicher Gegensätze ermöglichen, ohne daß die Persönlichkeit, ihr
Inneres und ihre Würde dabei gefährdet oder vernichtet würde. Und die Herr¬
schaft dieser Sitte, in der die innere Gesinnung einer Gesellschaft ihren äußern
konformen Ausdruck findet, ist der Gradmesser für die Vornehmheit dieser Gesell¬
schaft. Alle die festen und genauen Sitten, Gebräuche und Konventionen, an die
in den verschiedensten Zeiten und bei den verschiedensten Völkern die Austragung
der Kämpfe zwischen einzelnen — man denke an die verschiednen Formen des Zwei¬
kampfes, die Ritterfehden usw. — gebunden war, sind aristokratischen Ursprungs.
Alle diese Normen zielen auf eines: die Rettung der innern Persönlichkeit vor den
Folgen des Kampfes.
Die Nummer des Punch bringt ein Bild, überschrieben: „Eine gemeinsame
Trauer", das zwei weibliche Gestalten, die die konservative und die liberale Partei
bedeuten, gemeinsam an der Bahre Bannermans trauernd zeigt. Eine einfache,
aber treffende Illustration der politischen Sitten in England. Ein deutsches Witz¬
blatt vom Schlage des Punch würde ein solches Bild schwerlich bringen. Bei uns
wird nicht immer der Gegensatz politischer Meinungen und Interessen von der
Persönlichkeit getrennt; er vernichtet allzuoft die Achtung vor deren Würde; das
Persönliche wird, was niemals sein sollte, zum Mittel im politischen Kampfe.
In derselben Nummer des Punch ist noch ein andres Bild, das sich zwar
nicht auf den Tod des liberalen Premierministers bezieht, aber ebenfalls auf seine
Art für das politische Leben Englands charakteristisch ist. Es ist ein Löwenkäfig
abgebildet, in dem ein Tierbändiger drei Löwen, die sich ängstlich in die Ecken des
Käfigs ducken, mit der Peitsche meistert. Die drei Löwen tragen die Aufschriften
Sozialismus, irischer Nationalismus und Antimilitarismus. Kein Engländer, er mag
noch so liberal, arbeiterfreundlich, radikal sein, wird jemals in England selbst den
antinationalen Bewegungen aus ideologischer Liebhaberei nur den kleinen Finger
reichen. Gegenüber diesen Bewegungen, handelt es sich nun um Sozialismus, Anti¬
militarismus, den irischen Nationalismus, wird auch jeder Radikale, ob er nun
Asquith, Haldane oder Burns heißt, mit schonungsloser Härte auftreten. Vielleicht
legen sich die liberalen Politiker gewisser ideologischer Schattierungen einmal die Frage
vor, wie es damit bei uns steht, und rufen sich zum Beispiel die Gründe ins Ge¬
dächtnis zurück, mit denen seit den Zeiten des Frankfurter Parlaments in Deutsch¬
land von Deutschen für die Sache der Polen gefochten worden ist. Man sei doch
nicht so naiv und lasse sich über die Stellung der Engländer zu diesen Bewegungen
durch die ganz andre Haltung täuschen, die derselbe Engländer, der bei sich zu
Hause die Peitsche empfiehlt, gegenüber denselben Erscheinungen einnimmt, wenn
sie im Auslande auftreten; man bete doch nicht einfach die Tiraden englischer
Zeitungen für die Polen und andre unterdrückte Nationen, für die ausländischen
AntiMilitaristen und Sozialisten nach! Der Engländer leistet sich eben gern den
Luxus der Beglückung Unterdrückter — aber nur auf fremde Rechnung. Geschieht es
in England: ja Bauer, das ist ganz was andres! Diese englische Eigenschaft soll
der Deutsche gewiß nicht nachmachen; was aber verlangt werden muß, ist, daß er
nicht darauf hineinfällt.
In der Neuen Freien Presse
ist kürzlich ein lesenswerter Bericht von Sigmund Münz über Tischgespräche des
Fürsten Bülow während seines jüngsten Aufenthalts in Venedig erschienen.
Wiederholt, so erzählt der Verfasser, kam die Rede auf die Villa Malta, den nunmehrigen
römischen Besitz des Fürsten. Der Reichskanzler sagte: „Ich habe in den Zeitungen gelesen,
daß in der Villa noch vieles einzurichten wäre. Das ist ganz und gar nicht der Fall. Es ist
so, wie wenn man sagte, daß dieser gedeckte Tisch, ein dem wir da sitzen, noch gedeckt werden
müßte. Ich habe die Villa Malta aufs beste eingerichtet vorgefunden. Graf Bobrinski, der bis¬
herige Eigentümer, hat sie aufs vollkommenste ausgestattet. Es bleibt uns nichts mehr zu
tun übrig." . ^.
vondenTae
Ich fragte den Fürsten, ob ihm die Villa gn her, da er Botschafter in Rom
war, vertraut sei. Der Fürst sagte, er wäre nur des Abends beim Grafen Bobrinski einige-
male zu Tisch gewesen, aber die Fürstin hätte die Villa genauer gekannt.
Der Fürst legt offenbar Wert darauf, in ein Haus einzuziehen, in welchem einstmals so
manche große Deutsche ein und aus gegangen sind. Der Fürst schilderte die Schönheit der Villa
Malta mit ihren vielen Nosenarten, die der russische Graf Bobrinski, ein Rosenzüchter ersten
Ranges, dort gepflanzt hat. „In Villa Malta wächst in dichten Gebüschen der Lorbeer und
ragen die Palmen stolz in die Lüste."
Der Fürst bemerkte: „Goethe hat die Villa anläßlich seines ersten ltaliemschen Aufenthaltes
im Jahre 1788 besucht — ein Jahr später verbrachte Herder in der Umgebung der Herzogin
Amalie von Weimar den Frühling dort. Zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts beherbergte
diese einstige Sommerresidenz der Malteserritter auch die bekannte Verfasserin des Römischen
Lebens: Friederike Brun, mit ihrer Tochter, der Gräfin Bombelles. Bald nach ihr etablierte
sich dort Wilhelm von Humboldt, der als preußischer Ge andter in Rom Wf Jahre ,n der Villa
Malta lebte und hier auch seinen Bruder Alexander bei sich zu Gaste sah, als dieser von seiner
südamerikanischen Forschungsreise zurückkehrte. Thorwaldsen, Canova und auch d,e ,n der
Nachbarschaft der Villa wohnende Angelika Kauffmann waren gern gesehene Gaste Wilhelm von
Humboldts. Im Jahre 1827 wurde Kronprinz Ludwig von Bayern Besitzer der Villa und se.n
Haus zum Sammelpunkt der hervorragendsten Künstler. Auch als König kam er zuweilen hin
und noch häufiger, nachdem er dem Thron entsagt hatte.
lt
Ich fragte den Fürsten, wann er sein neues Heu wieder besuchen wurde, und er ant¬
wortete: „Voraussichtlich im nächsten Frühling." ^ ... . . . ."
„Und werden Durchlaucht zuweilen auch den Herbst dort zubringen?
ne.
Der Fürst: „Das wird von den Geschäften abhägn
Zur Ergänzung dieses Gesprächs erinnern wir daran, daß sich Fürst Bülow
mehrfach dahin ausgesprochen hat, er werde seinen Lebensabend im Lande seiner
Väter, an der Elbe verbringen, wo seine Wiege gestanden hat. Die Villa Malta
in Rom wird also in der hoffentlich noch fernen Zeit seines Ruhestandes nicht
dauernder Wohnsitz des Fürsten sein, er wird sie aber wohl alle Jahre auf ein
paar Monate besuchen.
An einer andern Stelle des Berichtes heißt es:
Als ich dem Kanzler mein Befremden darüber ausdrückte, daß er, trotz seiner bekannten
Bewunderung für Schopenhauer, nach außen hin den Eindruck hervorrufe ein Optimist zu sein
meinte er: ,Man kann mit einer in der Theorie pessimistischen Weltanschauung in der Praxis
em optimistisches Temperament vereinigen. Das rühmt ,a Jakob Burckhardt den alten Griechen
als einen besondern Vorzug nach."
Wenn sich der Reichskanzler auch auf dem politischen Gebiete optimistischen
Auffassungen zuneigt so wissen wir aus seinem eignen Munde, daß dieser sein
politischer Optimismus in nichts anderm besteht als in dem festen Vertrauen auf
den guten Geist des deutschen Volkes.
Auch über den zweiten und dritten
Vortrag Reinkes in der Berliner Singakademie haben die Zeitungen — einschließlich
des Berliner Tageblatts, was viel sagen will — objektiv berichtet. Daß sich der
Vorwärts über den Bankrott seiner Wissenschaft mit einem elenden Witze zu trösten
versucht, wird jedermann natürlich finden. Die Vossische aber — hat den Rückzug
angetreten. Selbstverständlich sucht sie ihn mit einigen Witzeleien, Sophismen und
schwachen Argumenten zu maskieren. Im dritten Vortrage hat Reinke ausdrücklich
die Art und Weise, wie in „liberalen" Kreisen sein Austreten charakterisiert worden
ist, als Verleumdung bezeichnet. Die Vossische schreibt nun: „Freilich, die Polizei
hat er nicht gerufen. Aber ist es nicht bezeichnend, daß der geübte Journalist auf
der Parlamentstribüne, der gewohnt ist, den Inhalt langer Reden in kurzen Sätzen
Wiederzugeben, den Eindruck, den auf ihn die Worte Neinkes machten, in den Ruf
nach Polizei zusammenfaßte?... Was die Journalisten am meisten dazu veranlaßt
haben mag, das ist die Tatsache, daß Reinke im Herrenhause, in der doch wohl
unbestritten reaktionärsten öffentlichen Körperschaft Preußens, das Einschreiten des
Staates gegen eine Kulturbewegung forderte, daß er das Herrenhaus zum Tribunal
machte über die Wissenschaftlichkeit der Schriften von Gelehrten." Der Hörfehler der
Herren Journalisten ist eben daher gekommen, daß die Journalisten vom Schlage der
Vossischen Zeitung voller Vorurteile stecken. Sie sind a xriori überzeugt, daß Haeckel
der Inbegriff aller Wahrheit und Weisheit, daß jedes Mitglied des preußischen
Herrenhauses und jeder Mensch, der an Gott glaubt, ein Reaktionär und ein un¬
wissenschaftlicher Dummkopf ist, und daß alles, was an einem solchen Orte gesprochen
wird, schlecht und dumm sein müsse. Und so hören sie denn „Polizei", wenn Reinke
im Herrenhause „Biologie" fordert; Biologie kann er doch gar nicht gefordert haben,
denn die ist ja etwas Gutes, sogar, wie jeder Berliner Backfisch weiß, das allerbeste,
mit Liebesleben in der Natur und ähnlichen schönen Sachen garniert; wenigstens
muß er tendenziöse Biologie gefordert haben. Er hat aber in Wirklichkeit tendenziöse
gefordert. Nicht „Einschreiten des Staates gegen eine Kulturbewegung" hat er ge¬
fordert, sondern wissenschaftliche Belehrung der Jugend, damit diese zu erkennen ver¬
möge, daß Haeckel und seine Anhänger den Schein der Wissenschaft zu einer durchaus
unwissenschaftlichen Agitation gegen den christlichen Glauben mißbrauchen. Und nicht
zum Tribunal über die Wissenschaftlichkeit der Schriften von Gelehrten hat Reinke
das Herrenhaus gemacht, sondern er hat bloß in der Begründung der Forderung
einer Erweiterung des Schulunterrichts die zur Sache gehörende Tatsache konstatiert,
daß als wissenschaftliche Schriften Bücher und Broschüren verbreitet werden, die nach
dem Urteile der Fachgelehrten keinen oder vielmehr einen negativen wissenschaftlichen
Wert haben, da sie den Grundsätzen der Wissenschaft ins Gesicht schlagen. Nachdem
übrigens ein Jahr lang über die Herrenhausrede Reinkes debattiert worden war,
mußte die Vossische Zeitung über jenen Jouralistenirrtum längst aufgeklärt sein; es
gibt darum keine Entschuldigung für die Unverschämtheit, mit der sie im Bericht
über den ersten Reinkevortrag die Verleumdung wiederholt hat. Reinkes Polemik
gegen den Materialismus, behauptet ferner das Blatt, passe nur auf den Materialismus
von vor hundert Jahren. „Ist denn der Monismus religionsfeindlich? Ist der
Monismus nicht selber Religion? Man erinnere sich des Vortrags, den Pastor
Steudel vor einem Jahre gehalten hat." Reinke hat es nicht mit Steudel sondern
mit Haeckel zu tun, und wie dessen Religion aussieht, das weiß die Welt: sie besteht
in Lächerlich- und Verächtlichmachung nicht bloß des Christentums sondern schon des
Glaubens an Gott, also jeder Religion. Im zweiten Vortrage hatte Reinke gefordert,
daß Vermutungen nicht für Tatsachen ausgegeben, daß Tatsachen und Hypothesen
auseinander gehalten würden. Dazu bemerkt die Vossische: „Hypothesen soll man
nicht für Tatsachen ausgeben! Zugestanden! Darf man aber Hypothesen als Hypothesen
dem Volke vorsetzen? Die Frage wirft Reinke nicht auf, aber er bejaht sie durch
die Tat, denn der Theismus, den er so stramm vertritt, ist doch auch eine Hypothese."
Warum soll man dem Volke nicht Hypothesen als Hypothesen vorsetzen dürfen? Wird
doch die atomistische Hypothese in jedem Physikunterricht vorgetragen. Wenn man
nur nicht, wie Haeckel tut, Hypothesen und Phantasien, die nicht einmal den Namen
von wissenschaftlichen Hypothesen verdienen, für Tatsachen ausgibt. — Bei einem
, naht. das nach dem letzten Vortrag dem verdienten Gelehrten zu Ehren gegeben
wurde, dankte Baron von Flöckher. der die Anregung zu dem^ortragszyklus geg^hatte, der Berliner Presse für die Unterstützung, die sie durch ihre obMive Bencht-
erstattung dem Unternehmen haben angedeihen las en. Die Grenzbotenleser aber b in
wir aufs neue, die (bei Eugen Salzer in Hellbronn erscheinenden) Natnrw^^^^^^^^^
schaftlichen Vorträge für die Gebildeten aller Stande deren vjer es Heft die drei
Berliner Vorträge enthält, selbst zu lesen und für ihre weiteste Verbreitung
zu s
Angeregt durch die Enzyklika des Papstes Leo des Drei-
^ehrten in der die Philosophie des Thomas von Aauin als Norm empfohlen wird.
A n ti7 ^ 1882 an der katholischen U^persieae Löwen einen
Lebrstub für tbomistische Philosophie errichtet und den 1851 gebornen Professor
N^e?w !a? Ach bald großer Beliebtheit und starker Frequenz
ers ente. Auf seine Bitten und auf den Wunsch Leos wurden nach und nach noch
se^s Pr^a^e^ ^zusammen das Institut f"/ etwa stische ^ ^ ^ereier: „Das Bekenntnis des
sen und zu behält ein w, We h^h^ ^gen Unternehmungen
^ Genies/ Die berechtigte Freiheitdes Gelehrten »und nicht für die Äuhnyen Befürchtungen des reu-t s Mannes der Wchenschaft foll "echt duW Wissenschaft. ohne unmittel-giosen Sinns eingeschränkt werden Pflegen ^ Di Wis enschaft der Gegen¬bares apologetischester^ Auf allenwart ist vorzugsweise eine Wi herschaft ^ ' JalNgm ^13
ehren Gebieten aus en wir. wie Papst ^co Mi. v ^ mikusprechendurch ihre Leistungen das Recht erwer en in der ^und sich Gehör zu verschaffen; und ^um w°u sich ^^ A^ehe mit der Ver-wurf zu wiederhole», da er Glaub bi 'd
uunft vertrage, denn werden wir nicht in« « ' ^ antworten, sondern mit den.Bänden, nicht mit dem Hmwe s^^ g ^ aristotelisch-scholastische Philo-Hmweis ans unsre gegenwart gen ^ ^ dessen die Ergebnisse derSophie soll der erweiterungsfähig- ^ Z Fundament sein,modernen Wissenschaften xrd^ stehendes Gebäude errichtet
!de".?'^1?'^!^ K An^ oder N Die Neu-
K d e zugleich gläubige ^^^^^ betrieben sdas dürfte Selbst-chcllastik wird ohne re«g^ e Vor °»ge^ ^ l ^Wu chung sein^voille man ihr com apo^g > ^ ^ ^
^Ä^usum^^r^
d^'^'? ^) die lMtig.
Urin^? ? ?^ d-in Neukantianis und dem Positivismus einenPrinzipien scholastisch: sie stellt dem Rinen Gebiete d s Dogmatismusatwnellen Dogmatismus gegenüber' u d Vondas einzige zeitgenössische System, das ern, » » gewürdigt,denk chen Philosophen hat n. a. Eucken die Zungen °'e,er » »
Er schreibt- Anet wer diesen Versuch einer Versöhnung der Wissenschaft ver
Gege?7artmii'?mMela^^^^^ lehnen muß. wird
die ehrliche Überzeugung, in der er unternommen worden ist, sowie die Energie
und das Geschick, womit er durchgeführt wird, anzuerkennen haben. Namentlich
zwingt das unermüdliche Schaffen Merciers zur Hochachtung, ja Bewunderung.
Und sehr bemerkenswert bleibt die Tatsache, daß der Thomismus heute da die
größte Lebenskraft und Leistungsfähigkeit zeigt, wo er das mittelalterliche Gewand
abgelegt hat und in der Sprache der Gegenwart redet."
liegt uns um eine Probe vor: der erste (bei Jos,
Kösel in Kempten und München 1906) erschienene Band seiner Psychologie.
Der Übersetzer, L. Hädrich, schickt einen Bericht über die neuscholastische Löwener
Schule voraus, dem wir das oben angeführte entnommen haben. Der Studierende
findet in diesem „das organische Leben und das sinnliche Leben" darstellenden ersten
Teile alles, was die moderne Wissenschaft an biologischen, physiologischen und
anatomischem Material aufgehäuft hat, soweit es zum Verständnis des Seelen¬
lebens notwendig ist. Selbstverständlich beherrscht der Verfasser die einschlagende
Literatur und stützt sich namentlich auf die deutsche. Sehr gut wird S. 44 bis 46
der Unterschied zwischen dem chemischen Prozeß im anorganischen Gebiet und
der Ernährung der Zelle klar gemacht. Der radikale Dualismus des Cartesius
wird entschieden abgelehnt und der beseelte Organismus, das Tier, als eine Ein¬
heit aufgefaßt. Hier freilich mutet die scholastische Definition dieses Organismus
als einer mit dem innerlichen Bewegungs- und Bildungstriebe ausgestatteten
„Substanz" fremdartig an, da der moderne Denker gewöhnt ist, den Substanz¬
begriff entweder auf das Atom zu beschränken, oder, wenn er Phänomenalist und
Energetiker ist, ganz abzulehnen. Das Wesen der „sinnlichen" Erkenntnis, die auch
dem Tiere eignet, wird schon in diesem ersten Teile erörtert, das Seelenleben der
Tiere ganz ähnlich wie bei Wundt dargestellt, den Mercier oft zitiert. In der
Polemik gegen einen Franzosen, der aus den Gefühlsäußerungen der Hunde die
Wesensgleichheit der menschlichen mit der Tierseele folgert, schreibt Mercier: „Das
Tier hat gleich dem Menschen alle die Leidenschaften, die von sinnlichen Vor¬
stellungen abhängen sbesser: aus solchen entspringen^, aber das beweist nicht, daß
es Verstand habe, denn der Verstand ist das Vermögen, zu abstrahieren und zu
generalisieren. ^Dieses Vermögen suchen freilich die meisten heutigen Forscher auch
bei den Tieren nachzuweisen-! Gemütsbewegungen, denen eine sie erregende Ver¬
standeserkenntnis vorausgeht, empfindet nur der Mensch." (In der sehr ungeschickten
Übersetzung Habrichs lautet der Satz bedeutend anders.) Man darf gespannt darauf
sein, wie im zweiten Teile das Verhältnis des Geistes zum Menschenleibe bestimmt
werden wird. — Wir zeigen bei dieser Gelegenheit noch einige Philosophische Werke
an, für deren Besprechung der Raum fehlt. Plotin und der Untergang der
antiken Weltanschauung von Arthur Drews. Zur Harmonie der Seele von
Karl Landeck. Aus dem Dänischen übersetzt von Elisabeth Dauthendey, mit Ein¬
führung von Ellen Key. Beide bei Eugen Diederichs in Jena 1907 erschienen.
Menschheitsziele. Eine Rundschau für wissenschaftlich begründete Weltanschauung
und Gesellschaftsreform, herausgegeben von Dr. H. Molenaar. Heft 1: Wolfgang
Kirchbach-Nummer. Leipzig, Otto Wigand. Grundzüge einer neuen Glaubens-,
Seelen- und Lebenslehre von Ludwig Zöckler. Selbstverlag des Verfassers.
Zweibrücken, 1907. An Neuausgaben von Werken alter Philosophen sind uns zu¬
gegangen: des Aristoteles Metaphysik, deutsch von Adolf Lasson (Jena, Eugen
Diederichs, 1907) und zwei Bände der im Dürrschen Verlage zu Leipzig er¬
scheinenden Philosophischen Bibliothek: Jmmcinuel Kants Metaphysik der Sitten,
2. Auflage, von Karl Vorländer, und Hegels Phänomenologie des Geistes
(Jubiläumsausgabe) von Georg Lasson; beide 1907 erschienen.
aus dieser entwickelt hat, denn ich beabsichtigte ursprünglich nichts andres, als ein
realistisches Christusbild zu malen, ein Bild des Heilands, wie er in der Synagoge
von Jerusalem saß und an den Gestaden des Sees von Galiläa wandelte. Als
Maler, der die moderne Richtung vertritt, schien es mir, daß trotz der unzähligen
Darstellungen, die die Meister aller Nationen von Ihm gemacht haben, nur wenige,
vielleicht keiner ein realistisches Bild von ihm geschaffen hat. Jede Nation hat,
sich selbst unbewußt, der Christusgestalt ihren Nationaltypus verliehen, und die Be¬
rechtigung dazu läßt sich nicht ableugnen, denn was jedes Volk verehrt hat, war
doch wahrhaft der Gott, den es nach seinem eignen höchsten Ebenbilde wieder-
geschasfen hatte. Doch war das nicht die Aufgabe, die ich zu lösen suchte.
Ich verwarf von vornherein den blonden bartlosen Typus, den Da Vinci und
andre der Welt aufgedrängt haben, denn mein Christus mußte vor allen Dingen
ein Jude sein. Selbst als ich auf der Suche nach einem passenden jüdische» Modell
zu der Erkenntnis kam, daß es auch unter den Juden blonde Typen gibt, schienen
mir diese doch germanischer Herkunft zu sein. Was mir als das Charakteristische
eines orientalischen Gesichts erschien, war jene düstere Majestät, wie Rembrandts
Rabbis sie uns zeigen, und die in direktem Gegensatz zu den rotwangiger Göttern
Walhallas steht. Das den Juden charakterisierende Gesicht muß viel eher an den
Araber als an den Goten erinnern.
Ich weiß nicht, ob der nicht fachmännisch gebildete Leser es begreifen wird,
wie überaus wichtig für den Künstler sein Modell ist, wie abhängig er von dem
Zufall ist, in der Natur das Werk, das er schaffen will, vorgebildet oder doch in
schwachen Umrissen angedeutet zu finden. Für mich als Realisten war es unum¬
gänglich notwendig, in der Natur das Original zu finden, denn ohne das kann
kein Künstler jemals die zarten Nuancen wiedergeben, die seinem Werke den Schein
des Lebens verleihen. Wenn ich trotzdem behaupte, daß ich die Natur nicht kopiere,
sondern sie nur benutze und zu einem Kunstwerk umgestalte, so fürchte ich, daß
man mir vorwirft, ich widerspräche mir selbst. Aber das muß auf Kosten meiner
mangelhaften Fähigkeit, mich auszudrücken, gesetzt werden.
Vielleicht wäre es am richtigsten gewesen, wenn ich nach Palästina gegangen
wäre und mir dort ein Jdealmodell gesucht hätte, aber gerade um jene Zeit war
die Gesundheit meines Vaters so bedenklich, daß ich nicht wagte, eine größere Reise
zu unternehmen, und mich immer dem Pfarrhause so nahe hielt, daß ich es in
einer kurzen Fahrt mit der Eisenbahn erreichen konnte. Außerdem sind ja die
Juden so über die ganze Erde verstreut, daß es möglich war, überall jüdische
Typen zu finden, ganz besonders aber in London, wo sämtliche Wanderströme zu¬
sammenfließen. Aber ich wanderte vergebens lange Tage und Wochen durch das
Judenviertel und verzweifelte schon an dem Erfolge meiner Bemühungen. Ich fand
Typen und Modelle zu den Aposteln, aber nicht zu dem Meister.
Um mich etwas zu erholen, fuhr ich zum Sonntag nach Brighton, wo ich mich
der Kirchenparade auf dem freien Platze anschloß. Es war an einem schönen
sonnigen Morgen eines der ersten Novembertage. Die sich weit ausdehnenden
grünen Rasenflächen, die See und der darüber lachende blaue Himmel vereinigten
sich zu einem freundlichen Bilde, das selbst durch die verunzierenden Logierhäuser
mit ihrer geschmacklosen Stukkatur nicht verdorben werden konnte. Über den Scharen
fröhlicher Spaziergänger schwebten die buntseidnen Sonnenschirmchen der Damen
wie ein Schwarm bunter Schmetterlinge. Es amüsierte mich, zu beobachten, wie
die Pedelle ängstlich darüber wachten, daß sich keine ärmlich gekleideten Leute zu
der Kirchenparade eindrängten, und der Anblick der übertrieben elegant aufgeputzten
Juden, die merkwürdigerweise an der Festlichkeit teilnahmen, erinnerte mich an das
von mir so sehr gesuchte Modell zu meinem Bilde. Aber mein Auge schweifte ver¬
gebens über sie hin, allen diesen Gestalten fehlte jene Würde und Schönheit, die
ich oft bei den ärmsten Jsraeliten gefunden hatte. Da ganz plötzlich wurde mir
ein Anblick, der mein Herz vor Freude hoch klopfen ließ. Auf dem Randsteine
einer dem Platze gegenüberliegenden Straße saß ein ungeschlachter, zusammen-
gekauerter, mit einem Kaftan bekleideter Jude. Unter dem kleinen grünen Muschel¬
hute entdeckte ich das von einem langen ungekannten schwarzen Barte umrahmte
Antlitz, nach dem ich mich so sehr gesehnt hatte. Er hatte den Kopf gesenkt und
gönnte dem bunten fröhlichen Treiben keinen Blick, als ob auch das bloße An¬
schauen nicht gestattet wäre. Ich war gerade im Begriffe, dieses seltsame Wesen,
das so unbeweglich und in sich versunken dasaß, anzureden, als ein Maler der
königlichen Akademie, der in Hope wohnte, mir mit ausgestreckter Hand und herz¬
lichem Gruße entgegenkam und mich in eine lebhafte und angeregte Unterhaltung
zog. Ich sah sehnsüchtig zurück; es war beinahe, als wolle die Akademie mich von
der wahren Kunst fortziehn.
Bitte, entschuldigen Sie eiuen Augenblick. Ich möchte mir nämlich nur die
Adresse jenes alten Burschen geben lassen, sagte ich.
Er sah sich um und schüttelte mit lachendem Vorwurf den Kopf.
Ach so! Ein passendes Modell zu einer schmutzigen und häßlichen Studie!
O über euch jungen Leute!
Mein Herz empörte sich gegen die Selbstbefriedigung, die er über seine eignen
konventionellen Kutscher und Niedlichkeiten empfand.
Hinter dieser Häßlichkeit und dem Schmutze sehe ich das Antlitz des Heilands,
erwiderte ich. Auf der Kirchenparade habe ich ihn nicht gefunden.
Was, machen Sie jetzt in Religion? sagte er mit Hellem Lachen.
Nein, aber ich muß jetzt gehn, sagte ich und wandte mich zurück.
Eine Weile stand ich dort, als ob ich die lustigen, bunten Sonnenschirmchen
beobachten wollte, aber in Wahrheit studierte ich meinen Juden. Ja, in dieser
eigentümlichen Gestalt, die so seltsam zusammengekauert auf dem Pflaster der
Straße saß, entdeckte ich in dem Ausdruck des Gesichts die tiefe Traurigkeit und
das Geheimnisvolle, nach dem ich solange vergebens gesucht hatte. Ich wunderte
mich über die Einfachheit, mit der er solange in seiner demütigen Stellung ver¬
harrte. Ich sagte mir, daß er der Repräsentant des Ostens sei, der auf den
Steinen wie auf einem Diwan tief nachdenkend dasaß, während der Westen mit
Sonnenschirmchen und dem Gebetbuch in der Hand paradierte. Mich wunderte es,
daß die Pedelle ihn nicht bemerkt hatten. Genügte es ihnen, daß der Jude den
heiligen Grund der Kirchenparade und die etwas weniger heiligen daranstoßenden
Spaziergänge nicht zu betreten wagte, oder würden sie. wenn ihr wachsames Auge
die dürftige Gestalt erspähte, ihn auch von diesem Platze verweisen?
Ich näherte mich ihm endlich und sagte: Guten Morgen! Er erhob sich, und
ohne ein Klagewort schien er sich rasch entfernen zu wollen, wie einer, der es ge¬
wohnt ist, überall fortgejagt zu werden.aberdiealdeut
Guten Morgen! sagte ich noch einmal, sm in scher Sprache,
denn bei meinen nutzlosen Wanderungen durch London hatte ich mehrfach die Er¬
fahrung gemacht, daß die Juden der verschiedensten Nationen sich in einem ver-
dorbnen Deutsch, dem sogenannten Jiddisch, zu verständigen pflegen.
Er hielt inne, scheinbar beruhigt. Gut Morgen! sagte er leise. Ich sah nun,
daß er von königlichem Wuchse war, wie einer der Söhne Enaks, und daß in
seinem ganzen Wesen ein seltsames Gemisch von Majestät und Demut zum Aus¬
druck kam.
Verzeihen Sie, fuhr ich in absichtlich schlecht gesprochnen Deutsch fort, darf
ich eine Frage an Sie richten?
Er machte ein seltsam bejahendes Zeichen, indem er die Achseln zuckte, wobei auch
seine Handflächen leicht in die Höhe fuhren.
Suchen Sie vielleicht Arbeit?
Warum wünschen Sie das zu wissen, erwiderte er, meine Frage, wie das die
Juden sehr gern tun, mit einer andern Frage beantwortend.
Ich denke, daß ich Ihnen dazu verhelfen kann, sagte ich.
Wünschen Sie Gesetzesrollen von mir ausgeschrieben zu haben? erwiderte er
in ungläubigem Ton. Sie sind ja gar kein Jude!
Dennoch habe ich vielleicht Beschäftigung für Sie, sagte ich. Wollen Sie mit
mir kommen?
Ich merkte, daß uns einer der Pedelle schließlich aufmerksam beobachtete, und
ging daher mit meinem Modell rasch in eine Seitenstraße hinein. Es fiel mir auf,
daß er lähmte, als ob er Wunde Füße hätte. Er verstand nicht ganz, welche Art von
Arbeit ich von ihm verlangte, aber er begriff, daß er wöchentlich ein Pfund
Sterling verdienen könne, und das genügte, denn er war dem Hungertode nahe.
Als ich ihm dann sagte, daß er Brighton verlassen und mit mir nach London gehn
müsse, sagte er wie von heiliger Scheu ergriffen: Das ist der Finger Gottes!
Seine Frau und seine Kinder waren in London.
Sein Name war Israel Quarriar, seine Heimat Rußland.
Das Bild wurde schon am Montag Morgen angefangen. Israel Quarriar beehrte
das Atelier mit seiner Gegenwart. Seine edle Gestalt, das ernste, tragische Antlitz,
das demütige, gesenkte Haupt, der lange Bart, der ihm das Aussehn eines Propheten
verlieh, machten einen rührenden und zugleich anregenden Eindruck auf mich.
Es ist der Finger Gottes, murmelte auch ich und machte mich begeistert an
die Arbeit.
Ich arbeitete meist in verzückten Schweigen — vielleicht wirkte die Schweig¬
samkeit meines Modells ansteckend. Aber ganz allmählich, während des tagelangem
ungestörten Beisammenseins überwand seine scheue Seele die Zurückhaltung, und nach
und nach erfuhr ich die Geschichte seiner Leiden. Ich gebe die Erzählung, soweit
mir das möglich, mit seinen eignen Worten wieder; habe ich doch während der
Pausen seine Worte, wenn sie besonders charakteristisch erschienen, sorgsam nieder¬
geschrieben.
Ich bin hierher gekommen, weil das Leben in Rußland mit der Zeit uner¬
träglich für mich geworden war. Durch ein paar Generationen hindurch sind wir
Quarriars Inhaber eines Wirtshauses gewesen, auch meine Eltern und ich haben
dadurch unser Brot verdient. Aber Rußland hat uns den Lebensunterhalt genommen,
indem es das Branntweinmonopol einführte, und hat uns dadurch dem Elend
preisgegeben. Was sollte ich mit meiner großen Familie anfangen? Ich hatte immer
gehört, daß man in London wie in Amerika menschlich dächte und obdachlosen Fremden
ein gewisses Mitleid entgegenbrächte. Das sind nicht Länder wie Rußland, wo es
keine Wahrheit gibt. Die Sorge um meine Kinder drückte schwer auf mir. Es sind
alle fünf Mädchen, und in Rußland ist ein Mädchen, wenn es auch noch so schön,
gut und klug sein sollte, wenn es keine Mitgift bekommt, gezwungen, jede Gelegenheit
zum Heiraten zu ergreifen, selbst wenn der betreffende Mann ihm so unsympathisch
Wie möglich sein sollte. All dies kam zusammen, um mir Rußland zu verleiden. Ich
machte also all meine Habseligkeiten zu Geld und brachte dadurch eine Summe von
350 Rubeln zusammen. Man hatte mir versichert, daß die Reise nach London für
mich und meine Familie kaum mehr als 200 Rubel kosten würde, und ich berechnete
daher, daß mir dann immer noch 150 Rubel bleiben würden, um das Leben in dem
neuen Lande zu beginnen. Dennoch wurde es mir unendlich schwer, mein Vaterland
zu verlassen, aber wie der Muschik sagt: „Wenn es sein muß, so geht es." So
trennten wir uns also unter vielen Trauer von unsern Freunden; wir hatten es
niemals gedacht, daß wir in unserm Alter uns noch eine neue Heimat suchen müßten.
Aber was blieb uns übrig? Wie der Muschik sagt: „Wenn das Lamm nicht zur
Schlachtbank gehn will, wird es dahin getrieben." So brachen wir also auf, um
nach London zu gehn. Wir kamen bis nach Isola an der österreichischen Grenze.
Als wir dort am Bahnhof saßen und darüber nachsannen, wie wir es wohl anstellen
sollten, uns über die Grenze zu schmuggeln, kam plötzlich ein sehr gutmütig aus¬
sehender Jude mit ehrwürdigen Barte, zwei langen Ohrlocken und einem Gürtel
um die Taille auf den Perron. Er wusch sich umständlich die Hände an der Wasser¬
leitung und betete laut und mit großer Andacht das Asser Yotzer. Nachdem er sein
Gebet beendet hatte, blickte er uns alle erwartungsvoll an, und wir alle sagten: Amen!
Dann schlug er den Rockärmel zurück, streckte die Hand aus, begrüßte mich mit den
Worten Shalom Bleichen und fragte mich dann, wie es mir und den Meinen er¬
ginge. Er begann bald von den Schwierigkeiten zu erzählen, die uns an der Grenze
gemacht werden würden.
Dann sagte er mir: Ich als ein Iss kosher (das heißt ein streng ritueller
Jude) will Euch helfen, und zwar nicht des Geldes wegen, sondern nur um der
Mitzwah (der guten Tat) willen.
Ich schöpfte Verdacht und dachte, woher kommt es, daß er weiß, daß wir über
die Grenze wollen? Deine Freundlichkeit ist mir verdächtig. Aber wenn wir den
Dieb notwendig haben, schneiden wir ihn sogar vom Galgen ab.
Elzas Kazelias hat sich wirklich als ein Schuft erwiesen, dessen Hilfe wir
jedoch nicht entbehren konnten. Ich fragte ihn, was er dafür verlange, wenn er uns
über die Grenze helfen würde. Er antwortete mir folgendermaßen: Ich sehe wohl,
daß Sie ein kluger und anständiger Mann sind. Sehn Sie meinen Bart und meine
Ohrlocken an. und Sie werden einsehn, daß ich Sie in keiner Weise zu übervorteilen
beabsichtige. Ich will eine Mitzwah vollbringen und nur so ganz nebenbei ein
wenig Geld damit verdienen. <w >- ,
n
Dann warnte er mich, auf keinen Fall de Bahnhof zu verlassen, weil es in
den Straßen Juden ohne Bart gebe, die mich ohne weiteres verraten und bei der
Polizei angeben würden. Es gibt eben nicht viele Kazelias in der Welt, sagte er.
(Wollte Gott, daß selbst dieser eine nicht darin existiere!)
Dann fuhr er fort: Schütten Sie Ihr Geld hier auf den Tisch, wir wollen
zunächst mal feststellen, wieviel Sie haben, und dann will ich es Ihnen wechseln.
O. sagte ich, ich muß mich zuerst danach erkundigen, wie der Wechselkurs steht
Als Kazelias das hörte, schnellte er zurück und rief- Hol hol Es sind die
Juden Eurer Art. die schuld daran sind, daß der Messhiach (Messias) nicht kommen
kann, und daß sich die Befreiung Israels immer wieder verzögert! Wenn Sie in
die Straße gehn, werden Sie dort bartlose Juden finden, die Ihnen viel mehr
Wechselgebühren anrechnen werden als ich, ja die Ihnen sogar all Ihr Geld weg¬
nehmen möchten. Ich schwöre es Ihnen bei Messhiach Ben David, den mem Auge
zu erblicken hofft, daß ich nicht daran denke, Geld verdienen zu wollen! Ich wünsche
Ihnen Gutes zu tun. weil ich hoffe, daß diese kleine Mitzwah mir im Himmel an¬
gerechnet wird.
Ich ließ mich von ihm berede», und er wechselte mein Geld. Nachher fand
ich, daß er mich um volle fünfzehn Rubel beschwindelt hatte. Elzas Kazelias gleicht
dem russischen Wegelagerer, der den vorüberziehenden Bauern beraubt.
Wir sprachen nun darüber, wie er uns über die Grenze helfen wolle, und
er schwor hoch und teuer bei seiner koschern Jidischkeit, daß die Sache ihn selbst
fünfundsiebzig Rubel kosten würde.
Diese Nachricht fiel mir schwer auf das Herz, weil man mir gesagt hatte,
daß es höchstens zwanzig Rubel für uns alle kosten würde, und ich sagte ihm das.
Darauf antwortete er: Wenn Sie andre Juden mit kurzen Bärten suchen, so werden
die Ihnen das Doppelte abfordern. Trotzdem ging ich in die Straße, um einen
andern Helfer aufzufinden. Der wollte es auch wirklich billiger tun, sagte, daß
Kazelias ein Räuber sei, und versprach mir, mich am Bahnhofe zu treffen.
Unterdessen war Elzas Kazelias, der rechtgläubige koschere Jude, sofort zur
Polizei gegangen und hatte sie davon in Kenntnis gesetzt, daß ich und meine
Familie aus Rußland fliehen wollten, um nach London zu gehn. Wir wurden
ohne weiteres arretiert und mit unserm sämtlichen Gepäck in eine schmutzige Zelle
geworfen, die nur durch das eiserne Gitter der Tür Licht erhielt. Man gab uns
weder zu essen noch zu trinken und behandelte uns, als ob wir die größten Ver¬
brecher wären.
In Rußland verbietet die Menschlichkeit es nicht, völlig unschuldige Leute
beinahe verhungern zu lassen. Der kleine Speisevorrat, den wir in einer Reise¬
tasche hatten, reichte nicht lange aus, und wir wurden fast ohnmächtig vor Hunger.
Am zweiten Tage sandte Kazelias zwei Juden mit langen Bärten zu uus. Ich
hörte, wie die Tür unsers Kerkers geöffnet wurde. Dann kamen sie zu uns
herein und sagten mir: Wir sind hierher gekommen, um Ihnen eine Gefälligkeit
zu erweisen, aber es fällt uns gar nicht ein, dies umsonst zu tun. Wenn Ihnen
Ihr Leben und das Ihrer Familie teuer ist, so raten wir Ihnen, der Polizei
siebzig Rubel zu geben, wir selbst verlangen nur zehn Rubel für unsre Freund¬
lichkeit. Sie haben ferner Kazelias achtzig Rubel dafür zu bezahlen, daß er
Ihnen über die Grenze hilft; wenn Sie das nicht tun, läßt sich die Polizei
nicht bestechen. Verschmähen Sie es, unsern guten Rat anzunehmen, so sind Sie
verloren.
Was sollte ich darauf antworten? Wie konnte ich die letzte Kopeke weg¬
geben und dann mittellos in einem fremden Lande ankommen? Jeder Rubel, den
er mir abzwackte, war ein Stück meines Lebens. Mein Weib und meine Töchter
fingen an zu weinen, und wir baten um Erbarmen. Habt Mitleid mit uns! riefen
wir. Sie aber antworteten: In einer Grenzstadt wohnt das Mitleid nicht. Geben
Sie uns das Geld. Nur dann wird man Mitleid mit Ihnen haben.
Sie schlugen die Tür hinter sich zu, und sie wurde wie vorher fest verschlossen.
Unsre Tränen, unser Rufen half nichts. Meine Kinder weinten laut vor Todes¬
angst. O Wahrheit! Wahrheit! Rußland! Nußland! Wie niederträchtig behandelst
dn die schuldlosen! Wie ist es nur möglich, daß sich in einem aufgeklärten Lande
solche Dinge ereignen können!
Vater, Vater, sagten meine Müder, gib alles fort, nur laß uns nicht in diesem
Kerker vor Hunger und Angst umkommen.
Aber selbst wenn ich es jetzt gewollt hätte, so konnte ich doch hinter der ver¬
riegelten Tür nichts machen. All unser Rufen war nutzlos. Endlich gelang es
mir doch, die Aufmerksamkeit eines Gefängniswärters, der in dem Korridor die
Wache hielt, auf uns zu ziehen.
Rufen Sie einen Juden hierher, sagte ich ihm, ich möchte ihm sagen, in
welch übler Lage wir uns befinden. Er antwortete: Halten Sie das Maul, wenn
Sie nicht wollen, daß man Ihnen die Zähne einschlägt. Begreifen Sie denn
nicht, daß Sie ein Gefangner sind? Sie wissen sehr gut, was von Ihnen ge¬
fordert wird.
Ja, ich verstand es nun — mein Geld oder mein Leben I
Am dritten Tage unsrer Gefangenschaft fingen unsre Leiden an beinahe un¬
erträglich zu werden; die russische Kälte machte uns erschauern, und unsre Kräfte
ließen nach. Wir glaubten schon, daß dieser Kerker unser Grab würde, und wir
gedachten Kazelias als unsers Todesengels. Hier, so schien es, waren wir ver¬
dammt, des Hungertodes zu sterben. Wir verloren die Hoffnung, die Sonne
wieder zu erblicken. Denn wir kannten Rußland nur zu wohl. Sagt doch schon
das russische Sprichwort: „Wer die Wahrheit sucht, wird deu Tod finden."
Aber endlich schien der Gefängniswärter doch Mitleid mit unserm Jammer
zu empfinden, er ging und holte die zwei Juden wieder herbei. Wir sagen es
Ihnen jetzt zum allerletztenmale. Geben Sie uns das geforderte Geld, und wir
werden uns dafür erkenntlich zeigen und Ihnen helfen. Es geschieht aus Mitleid
mit Ihrer Familie.
Ich protestierte nicht länger, sondern gab ihnen alles, was sie von mir
forderten; alsbald erschien dann Elzas Kazelias und sagte vorwurfsvoll zu mir:
Es ist charakteristisch für die Juden, daß sie nie eher mit dem Gelde herausrücken
wollen, als bis sie gezüchtigt worden sind. Ich antwortete Elzas Kazelias darauf:
Ich glaubte, Sie wären ein ehrenhafter und frommer Jude. Wie konnten Sie
eine arme Familie so behandeln? . , .
Er erwiderte darauf trocken: Auch ein ehrenhafter und frommer Jude muß
Geld verdienen.
Darauf führte er uns aus dem Gefängnis und schickte nach einem Wagen.
Kaum hatten wir darin Platz genommen, als er sechs Rubel dafür verlangte. Nun,
was konnte ich machen? Wir waren eben in Räuberbande gefallen, und ich mußte
mein Geld hergeben. Wir fuhren zu einem Hause, wo man uns ein kleines
Zimmer anwies, in dem wir ein paar Stunden warten mußten, weil, wie es
schien, noch nicht alle nötigen Vorbereitungen zu unserm Überschreiten der russischen
Grenze getroffen waren. Wir mußten dafür drei Rubel bezahlen. Endlich führte
man uns zu der Grenze, die hier durch einen schmalen, ganz seichten Fluß ge¬
bildet wird. Man ermahnte uns ernstlich, so leise und vorsichtig als möglich zu
sein, da wir, wenn die Soldaten uns entdecken sollten, ohne weiteres erschossen
würden. Ich mußte meine Hosen hochstreifen, um durch das Wasser zu waten,
während ein paar handfeste Männer meine Familie hinübertrugen. Meine zwei
großen Bündel jedoch, die all mein Hab und Gut, unsre Kleider und Haushalts¬
schätze enthielten, blieben auf der russischen Seite. Plötzlich entstand ein wildes
Durcheinander. Die Soldaten, die Soldaten! Versteckt euch, rasch, in den Wald,
in den Wald!
Als endlich alles wieder ruhig wurde — es waren übrigens gar keine Sol¬
daten sichtbar geworden —, gingen die Männer zurück, um unser Gepäck zu holen,
aber sie brachten nur eins der Bündel herüber. Das andre, das viel mehr als
hundert Rubel wert war. war verschwunden. Unsre Klagen halfen nichts. Kazelias
sagte: Seid ruhig. Auch hier seid ihr noch von Gefahren umdroht.
Ich verstand, daß er falsches Spiel mit mir getrieben, aber ich war hilflos
seinen Händen überliefert. Er führte uns in sein Haus, wo das uns gebliebne
Gepäck deponiert wurde. Als ich etwas spater in die Stadt ging, begegnete ich
dem Rabbi, bei dem ich mich beklagte. Aber er zuckte nur die Achseln und meinte:
Was könnte ich solchen Erpressern gegenüber ausrichten? Sie müssen sich in den
Verlust finden.
Ich kehrte wieder zu meiner Familie in Kazelias Haus zurück. Er warnte
mich, mich in der Straße sehen zu lassen. Ich war nämlich auf meiner Wandrung
durch die Stadt einem Manne begegnet, der mir sagte, daß er uns für 28 Rubel
pro Kopf bis nach London befördern würde. Kazelias war augenscheinlich bange,
ich möchte in ehrlichere Hände als die seinen fallen.
Wir fingen dann an, mit ihm über unsre Reise nach London zu sprechen,
denn es ist am Ende noch besser, mit einem Teufel zu unterhandeln, den man
schon kennt, als wie mit einem, den man noch nicht kennt. Er sagte: Es wird
fünfunddreißig Rubel für jeden von euch kosten. Darauf sagte ich: Man hat mir
angeboten, uns für achtundzwanzig Rubel hinzubefördern, aber ich will Ihnen
dreißig geben. — Hol, hol! rief er darauf. An einem Juden ist jede gute Lehre
verloren! Es ist genau so wie an der Grenze: Sie wollten keine achtzig Rubel
bezahlen, und dann hat es Ihnen das Doppelte gekostet. Es wird Ihnen jetzt
ebenso gehn, Sie wollen es nicht anders. Man darf einem Juden keine Gefällig¬
keit erweisen.
Ich hielt also den Mund und nahm seine Bedingungen an. Aber ich fand,
daß mir fünfundzwanzig Rubel fehlten, um das Ziel unsrer Reise zu erreichen.
Da sagte Kazelias: Ich will Ihnen helfen. Ich kann Ihnen die fünfundzwanzig
Rubel auf Ihr Gepäck an der Eisenbahn vorschießen, wenn Sie dann in London
sind, können Sie es mir später zurückzahlen. Er nahm mein Bündel und brachte
es an die Eisenbahn. Was er dort getan hat, weiß ich nicht. Er kam zurück und
sagte mir, daß er mir einen Dienst erwiesen habe. (Diesesmal kam es mir wirklich
vor, als ob es ein guter Dienst gewesen sei.) Dann nahm er Kuverts und legte in
jedes das Fahrgeld, das wir an den verschiednen Stationen unsrer Reise zu zahlen
hatten. So erreichten wir endlich den Zug und fuhren fort. An jeder Haupt¬
station bezahlte ich das Fahrgeld aus einem besondern Kuvert. Unsre Mitreisenden
boten den Kindern unterwegs etwas zu essen an, aber wir bewahrten unsern Stolz
und nahmen es nur dann an, wenn es koscher war. Wir reisten mit einer sehr
guten, mitleidigen Jüdin aus Lemberg, die ein Herz von Gold und die köstlichsten
Würstchen bei sich hatte.
(Fortsetzung folgt)
Das Kaiserjubiläum in Wien am 7. Mai hat sich zu einer höchst eindrucks¬
voller Kundgebung gestaltet, an der die ganze Bevölkerung den wärmsten Anteil
nahm; es war vor allem eine Feier des deutsch-österreichischen Bündnisses. Als
treuen Bundesgenossen und als Muster fürstlicher Pflichterfüllung hat unser Kaiser
den greisen Jubilar begrüßt, und indem dieser selbst sich feierlich zu diesem Bündnis
bekannte, hat er, verzichtend auf jede Erwähnung dessen, was ihm vorausgegangen
ist, ausdrücklich das monarchische Prinzip betont, das den beiden verbündeten
Reichen ihre Festigkeit verbürge. Uns andern aber wird es verstattet sein, einen
er Krieg zwischen Rußland und Japan war der erste, in dem
sich zwei moderne große Armeen unter Verhältnissen entgegen¬
getreten sind, die uns erlauben, die Erfahrungen, die dort ge¬
macht worden sind, auch für europäische Verhältnisse anzuwenden
und — mit gewissen Vorbehalten natürlich — für unsre Heeres¬
ausbildung zu benutzen. Bei den Erfahrungen, die im Vurenkriege gesammelt
worden sind, war das lange nicht in demselben Maße möglich. Zwar waren
auch damals beide Gegner mit modernen Waffen ausgerüstet, aber die Eigen¬
tümlichkeiten des Burenheeres, einer undisziplinierten Jägermiliz, in Ver¬
bindung mit denen des Kriegsschauplatzes, der gerade dieser Jögermiliz be¬
sonders angemessen war, zwangen dazu, die Lehren dieses Krieges sehr vorsichtig
ZU untersuchen und sich vor Verallgemeinerungen zu hüten, um so mehr als
die Buren, deren taktisches Verfahren man sogleich überall als mustergiltig
anpreisen hören konnte, schließlich nach anfänglichen Erfolgen unterlagen.
Natürlich hatte man sich, aus Mangel an andern Kriegserfahrungen mit
modernen Waffen. immerhin einiges von dem zunutze machen können, was
der Burenkrieg gezeigt hatte, und die sogenannte Burcntaktik hat lange genug
in unsrer Presse und ans unsern Übungsplätzen ihr Wesen getrieben. Aber
der Krieg in Ostasien hat doch in vielen Dingen unsre Ansichten geändert
und berichtigt. Die Hauptfrage, die alle Taktiker beschäftigt, seitdem die Er¬
findung des rauchlosen Pulvers und der kleinkalibrigen Gewehre mit so vielen
alten Traditionen aufzuräumen nötigte, war der Verlauf des Jnfanterie-
kampfes: ob es möglich sei, einen Angriff gegen das verheerende Feuer dieser
neuen Gewehre zu führen, und in welchen Formen dieser sich abspielen werde.
Denn eines war von vornherein klar: jeder Fehler, den der Angreifer hierbei
machte, mußte ihn bei dem sicher wirkenden schnellen Fernfeuer, das die
neuen Waffen abgeben konnten, solche Verluste kosten, daß die Gefahr bestand,
der Angriff werde schon im Anfangsstadium zerschellen und zusammenbrechen.
Die ersten Mißerfolge der Engländer in Südafrika haben das bestätigt. Die
Folge dieser Wahrnehmung war zunächst, daß man in das Gegenteil verfiel:
man bekam vor den modernen Waffen einen solchen Respekt, daß man taktische
Formen erfand, in denen man schon auf die weitesten Entfernungen keine dichte
Schützenlinie, geschweige denn eine geschloßne Abteilung zu zeigen wagte und
nur mit ganz lichten Schützenlinien an den Feind heranging. Diese wurden
allmählich im Bereich des feindlichen Feuers durch ebenso dünne Linien, die
mit weiten Abständen einander folgten, so weit verstärkt, daß sie den Kampf
mit dem Gegner aufnehmen konnten. Das ist in großen Zügen das Wesen
des sogenannten Burenangriffs. Es ist ein Verfahren, das gewiß hier und
da sehr gut anwendbar ist, und dem die Engländer im weitern Verlaufe des
südafrikanischen Feldzugs auch manchen Erfolg zu verdanken hatten, nur
beging man bei uns vielfach den Fehler, zu glauben, daß man nun den
Stein der Weisen habe. Man übersah, daß die Sache doch auch ihre großen
Schattenseiten hatte, vor allem eine, die sich schon bei Friedensübungen in
großem Verbunden zeigte, nämlich die, daß es schon im Gefecht der Brigade,
erst recht aber bei Manövern von Divisionen und noch größern Einheiten
außerordentlich umständlich und zeitraubend war; kurzum, so gewissenhaft das
ganze Jahr auf Kompagnie- und Bataillonsexerzierplätzen der Bureucmgriff
geübt worden war, so wenig wußte man im Manöver damit anzufangen, und
so sah man dort das alte Verfahren sich siegreich behaupten, daß der Angriff
im wesentlichen von Anfang an mit starken Schützenlinien geführt wurde.
Das einzige Neue blieb, daß man das sogenannte sprungweise Vorgehen, das
früher immer von ganzen Zügen oder Kompagnien ausgeführt wurde, jetzt
im Bereich des wirksamen feindlichen Feuers in kleinen Abteilungen, meist in
Gruppen ausführte.
Man war noch zu keinerlei Klarheit gekommen, als der Krieg in Ost¬
asien ausbrach. Die Japaner hatten eingestandnermaßen ihre militärische
Ausbildung nach deutschen Vorbildern gerichtet. Wie sie diese Vorbilder
benutzt haben, ist mustergiltig und lehrreich für uns. Es war zu erwarten,
daß bei den Japanern ebensowenig wie bei uns Klarheit über das Verfahren
beim Jnfcmterieangriff herrschen werde. So konnte man denn auch zu An¬
fang des Krieges die verschiedensten Mutmaßungen lesen, die zum Teil Wohl
auch auf Äußerungen japanischer Offiziere zurückzuführen waren. Im all<
gemeinen war dabei wohl eine gewisse Abneigung gegen das Burenverfahren
zu erkennen. Die klugen Japaner erkannten dessen Mängel sehr wohl, die
hauptsächlich darin liegen, daß man sich künstlich immer in die Minderheit
setzt; die dünnen Schützenlinien, die möglichst weit in das feindliche Feuer
vorgehn sollen — denn wenn sie das nicht tun, hat es gar keinen Zweck, sie
so dünn und schwach zu machen —, sind so lange dem übermächtigen Feuer
des Verteidigers ausgesetzt, bis sie durch die nachfolgenden Linien aufgefüllt
sind. Da diese aber, wenn sie sich einigermaßen dem Feuer entziehen wollen,
nur mit weiten Abständen folgen können, so dauert es sehr lange. bis dle
vordersten Linien dem Verteidiger eine ebenbürtige Feuerkraft entgegenwerfen
können Da der Verteidiger mit Munition nicht zu sparen braucht - er
braucht sie ja nicht zu schleppen, sondern legt sie härtlich neben sich -. so
kann er. wenn auch die anfänglichen dünnen Schützenlinien ein schlechtes Ziel
bieten, ein solches Massenfeuer darauf abgeben, daß sich die einzelnen Linien
des Angreifers verbluten, ehe sie überhaupt zu wirksamen Feuer kommen.
Außerdem bedachten die Japaner wohl, daß sie keine mit der Büchse in der
Hand aufgewachsnen Jäger wie die Buren sich gegenüber hatten, sondern eme
reguläre Armee, bereu Schießausbildung sie jedenfalls kannten und bei ihren
Erwägungen mit in Betracht ziehen konnten. ....
Die Japaner haben nicht nur diese, sondern überhaupt ;ete einheitliche
Form verworfen. Die Berichte über den Krieg, die inzwischen in der Offen -
lichkeit erschiene« sind zeigen, daß die Japaner ganz verschieden gehandelt
habe d ^ ihrer Angriffsweise vermieden haben.
Und hierin l egt die wesentliche Lehre des Krieges; es gibt eben eine An¬
griffs "e Ar alle F^ ^ve^t^
2r^T^ "7 man ^ ^
sich sagen muß daß die Verständigsten das schon vorher gesagt haben, und
daß sich .in r al s Reglement von 1888 darauf beschränkt hat für da
Gerecht nur Anhaltspunkte zu geben, und sich vor ^r old^ängstlich gehütet hat So ist denn auch in dem neuen Reglement von 1906
°n den Gundsätzen für das Gefecht gar nichts geändert worden Das
Wesen def^ ist nach wie vor dasselbe. Es omne darau
an. dem Gequ r so nahe zu Leibe zu gehn, daß man ihn mit dem Feuer
niederkämen kann u.es dann die reife Frucht durch einen in glM^»naufhalt amen Sturm auf die feindliche Stellung zu ^nten Wie das in
einzelnen zu machen ist. ob man zuerst in dünnen oder gie es in d ehe n
Schützenlinien vor ehe. ob bei Tage oder bei Nacht. °
eingräbt oder nicht, wann, wo und wie man ge^folgen läßt, darauf gibt es keine allgemeine Antwort Es kommt eben
darauf an was sich der Gegner bieten ^t- SckM ^scheint ihm die Sonne ins Gesicht, daß er mich nicht sieht- s ""N ich
vielleicht mit einer langen dichten Schützenlinie so weit herankommen daß
ich von meinem Gewehr ausreichende Wir n„g auf die komm KopfM
des Verteidigers erwarten kann. Geht das nicht, so muß man zunächst
auf weitere Entfernung liegen bleiben und durch plötzliches, überraschendes
Vorspringen oder durch Herankriechen oder durch allmähliches Anschleichen
kleiner Teile näher heranzukommen suchen, vielleicht auch die Nacht er¬
warten, um das zu erreichen, was das Feuer des Feindes bei Tage ver¬
wehrt. Das die Truppe beherrschende Streben nach vorwärts muß diese in
jedem Falle andre Mittel und Wege finden lassen, an den Feind heranzu¬
kommen. Hierin aber, in dieser erfinderischen Selbsttätigkeit haben die Japaner
etwas bisher Unerreichtes und Neues geleistet. Ihnen darin gleich zu werden,
muß die höchste Aufgabe unsrer Ausbildung sein, die Aufgabe, von deren
erfolgreicher Lösung der Erfolg im nächsten Kriege abhängt.
Unser Exerzierreglement fordert, daß der Mann zum denkenden, selbständig
handelnden Schützen erzogen werde. Tapferkeit und todesverachtender Mut
genügen heute für sich allein nicht mehr zum Soldaten. An diesen Eigen¬
schaften hat es den Russen nicht gefehlt, aber wohl an dem andern, an dem
regsamen lebendigen Geiste, der nicht an der normalen Form klebt, sondern
der nur an den Zweck denkt, diesen aber mit eisernem Willen verfolgt und
unbekümmert alle Mittel findet und ausnutzt, die sich ihm bieten. Die Kriegs¬
geschichte ist hier wieder einen Schritt vorwärts gegangen. Zur Zeit Friedrichs
des Großen wurde das Denken nur von den obersten Führern besorgt. Sie
stellten die Bataillone auf den richtigen Fleck und erwarteten den richtigen
Moment, sie antreten zu lassen. Dann ging die Maschine vorwärts, und
wie ein Uhrwerk feuerte sie ihre Salven in den Feind. Die Offiziere hatten
nur zu sorgen, daß sie im Gange blieb, daß die „Kanaille" ihre Schuldigkeit
tat. Das Zündnadelgewehr stellte an die untere Führung aber schon be¬
deutend höhere Aufgaben, und wo man das vergaß, wie zum Beispiel beim
Angriff der preußischen Garde auf Se. Privat am 18. August 1870, da hat
es sich durch schwere, blutige Opfer gerächt. Heute sind wir so weit, daß der
Soldat in den schwersten Augenblicken, in denen es sich um die Entscheidung,
um Sein oder Nichtsein handelt, aus sich selbst oder höchstens auf die An¬
leitung seiner untersten Führer, des Gruppen-, allenfalls noch des Zugführers
angewiesen ist.
Das ist die neuste Konsequenz, zu der die fortwährend gesteigerte Technik
geführt hat, daß die Anforderungen des Krieges an jeden einzelnen Mann
ungeheuer gewachsen sind. Das Wort Friedrichs des Großen, daß der Geist
einer Armee nur in ihren Offizieren stecke, ist nicht minder veraltet wie die
Waffen und die Technik des großen Königs. Volk und Heer sind heute
identisch, und wenn die sittliche und geistige Kraft des Volkes diesem nicht
den festen, unbeugsamen Willen zum Siege zu geben vermag, dann wird uns
keine taktische Form und keine Feldherrnkunst dazu verhelfen.
Die Friedensausbildung muß ihre Aufgabe darin sehen, den Soldaten
auf die Eindrücke vorzubereiten, denen er im Ernstfalle ausgesetzt ist, und ihn
die Mittel finden lehren, die ihm den Sieg verschaffen. So etwas läßt sich
aber nur erreichen bei einer geistig und körperlich gesunden Nation, in der
jeder einzelne bereit ist, sich dem Wohle des Ganzen zu opfern in richtigem
nationalem Idealismus und Egoismus. Diese Eigenschaften haben die Japaner
zum Siege geführt. Mögen sie uns im rechten Augenblick auch nicht fehlen!
er Deutsche Reichsanzeiger veröffentlichte am 4. Februar 1908
einen Gesetzentwurf über Arbeitskammern, der für das ganze
Reich die Errichtung solcher Kammern für die Unternehmer und
die Arbeiter eines oder mehrerer Gewerbezweige in Anlehnung
an die Einteilung und die Bezirke der gewerblichen Berufs-
genossenschaften vorsieht. Die Arbeitskammern sind nach Paragraph 2 des
Entwurfs berufen, den wirtschaftlichen Fneden zu pflegen Sie sollen die
. ^ " '.... ernstlichen Interessen der Unternehmer undgemein amen gewerblichen und wmscyasmc^.. ^ , > ^;^„Arbeiter der von ihnen vertretnen Gewerbezweige sowie d e ans dem gleichen
Geb l egenden besondern Interessen der beteiligten Arbeiter wahrnehmen.
Die einzeln übrigen Bestimmungen desEntwnrfs »in uns ein dieser
Stelle, wo wir nu? die grundsätzlichen Fragen chaude n w lieu nicht
Es ist vielleicht kein Zufall, daß der skizzenhafte, für die praktische
DurchlU g ^ Entwurf ^de am 4. F^nar ^ren denn
an demselben Tage des Jahres 1890 wurde der kaiserliche Erlaß veroffen -
licht, auf dessen Grunde er ruht. In diesem Erlas e heißt ^: „Fu^Pflege des F lebens zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern s"'d 3 ^Bestimmungen über die Formen in Aussicht zu nehmen, in enen die A b cet
durch Vertreter, die ihr Vertrauen besitzen an der Regelmig gen nsamer
Angelegenheiten beteiligt und zur Wahrnehmung ihrer Interessen bei V -
Handlung mit den Arbeitgebern und mit den Organen meiner R-g:ermig be¬
fähigt werden. Durch eine solche Einrichtung ist den Arbeitern der f el und
friedliche Ausdruck ihrer Wünsche und Beschwerden zu e^gnaden und w
Staatsbehörden Gelegenheit zu geben, sich über die Verhältnisse d r ^dauernd zu unterrichten in.d mit den letzteren Fühlung des wu. S t
diesem Erlasse sind achtzehn Jahre verflossen, und vieles h°t steh 3wilde^die Regierung haucht heute vielleicht keine neuen Organe, um we Bednrfn se
der Arbeiter kennen zu lernen; die freie Organisation der Arbeiter hat sich
machtvoll entwickelt, allerlei Paritätische Or^
gründung zugibt. entstanden, und so ist denn auch ^ dem Gehe^reor^ w
Begründung des Bedürfnisses und die Berufung auf den kaiserlichen Erlaß
recht matt. Wenn man die wohlüberlegte, vorsichtige Fassung dieses Erlasses
richtig betrachtet, so sieht man, daß er wohl für die Arbeiter Formen ver¬
langt, in denen sie ihre Interessen vertreten und an der Regelung von An¬
gelegenheiten, die Unternehmern und Arbeitern gemeinsam sind, beteiligt
werden sollen, daß er aber über diese Formen wenig aussagt. Die Botschaft
legt sich auf eine bestimmte Form dieser Vertretung der Arbeiterinteressen
nicht fest, und es haben auch in den Kreisen der Parteien des Reichstags,
der Arbeiterorganisationen und der bürgerlichen Sozialpolitiker von jeher die
verschiedensten Meinungen über diese Form geherrscht, und sie haben bei den¬
selben Parteien und Personen mit der Zeit gewechselt. Es handelt sich dabei
immer um die Frage, ob die zur Vertretung der Arbeiterschaft dienende
Körperschaft nur aus Arbeitervertretern (Arbeiterkammern) oder aus Vertretern
der Unternehmer und Arbeiter in gleicher Stärke (Arbeitskammern) bestehn
soll. Die freien Gewerkschaften haben zuerst die Arbeitskammern vertreten,
neuerdings die Arbeiterkammern; die Sozialdemokratie hat dieselbe Wandlung
durchgemacht. Führende Parlamentarier, wie Hitze, haben sich früher für
Arbeiterkammern, jetzt für Arbeitskammern ausgesprochen. Auch bei den
Handlungsgehilfenverbänden werden die verschiedensten Formen einer besondern
Interessenvertretung gewünscht, neben einseitigen und paritätischen sogar solche
mit Anschluß an die Handelskammern.
Der Gesetzentwurf entscheidet sich für die paritätisch besetzte Arbeits¬
kammer. Er sagt zur Begründung: „Für die Gestaltung der Arbeitskammern
mußte ihre grundlegende Zweckbestimmung maßgebend sein, wonach sie zur
Pflege des Friedens zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern dienen. Danach
war zunächst von der Errichtung einseitiger Arbeitervertretungen abzusehen.
Nur auf dem Wege gemeinsamer Vertretungen kann es gelingen, Arbeitgeber
und Arbeitnehmer in engere Fühlung zu bringen, und nur bei einer gemein¬
samen Tätigkeit ist die Möglichkeit gegeben, daß der eine Teil die Ansichten
des andern Teils kennen und sie auch von seinem Standpunkt aus verstehen
und würdigen lernt. Damit ist aber eine wesentliche Vorbedingung zur
Milderung und Ausgleichung der bestehenden Gegensätze geschaffen. Hierfür
mußte also in erster Linie Sorge getragen und die Einrichtung von Ver¬
tretungen vorgesehen werden, die aus einer gleichen Zahl von Arbeitgebern
und Arbeitnehmern zusammengesetzt sind. Dementsprechend war der Wirkungs¬
kreis der Kammern dahin zu bestimmen, daß sie den wirtschaftlichen Frieden
zu pflegen und die gemeinsamen wirtschaftlichen und gewerblichen Interessen
der Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie die auf dem gleichen Gebiete liegenden
besondern Interessen der Arbeitnehmer wahrzunehmen haben."
Damit ist die große und entscheidende Frage für die Negierung gelöst
im Sinne der bürgerlichen Sozialpolitiker, die sich seit.Jahren zu ihr geäußert
haben. Die Regierung kann sich dabei auch auf zustimmende Erklärungen
aus den Kreisen der Handelskammern berufen. Von diesen hat die Handels-
kammer zu Mainz den paritätischen Standpunkt am folgerichtigsten vertreten,
und der hessische Handelskammertag und nicht wenige andre Handelskammern
haben sich ihr angeschlossen. Die Mainzer Handelskammer sagt: „Durch eine
Zusammenfassung beider gemeinsamen Organe, paritätische Arbeitskammern,
würde unseres Erachtens weit mehr erreicht als durch die Bildung reiner
Arbeiterkammern. Vor allem würde damit der Tatsache Rechnung getragen,
daß die sozialen Verhältnisse der Angestellten Fragen sind, die durchaus nicht
rein vom Standpunkte dieser Angestellten richtig zu beurteilen sind, sondern
solche, bei denen die wirtschaftlichen Grundlagen und Existenzbedingungen des
ganzen Gewerbes in Berücksichtigung gezogen werden müssen. Sind Unter¬
nehmer und Arbeiter in denselben Körperschaften vereinigt, so ist jede Partei
genötigt, zum wenigsten auf die Ansichten der Gegenpartei Rücksicht zu nehmen,
sie anzuhören, auf sie einzugehen und andererseits auf Einwürfe gegen ihre
Ansichten zu erwidern. Hiermit ist aber schon viel gewonnen; denn wenn
auch vielleicht bei der Wahl der Mitglieder zu den Vertretungskörperschaften
sich noch extreme Bestrebungen geltend machen, so kann doch erwartet werden,
daß die einmal in die betreffenden Körperschaften gewählten Mitglieder bei
gemeinsamer Arbeit richtigen Argumenten sich nicht völlig verschließen. Dies
ist um so mehr zu erhoffen, als ihr Mandat einige Jahre läuft und sie
daher in ihrer Stellungnahme von den Tagesströmungen weniger abhängig
und objektiver zu urteilen befähigt sind als oft die Führer freier Vereinigungen,
die häufig nur durch radikales Auftreten ihr Ansehen und ihre Führerschaft
ZU behaupten vermögen. Es entsteht also durch paritätisch zusammengesetzte
Organe die Aussicht, daß bei widerstreitenden Interessen leichter eine Ver¬
ständigung, oder wenn dies nicht möglich ist, doch eine größere Klarstellung
der in Betracht kommenden Gesichtspunkte erzielt wird. Auf der anderen
Seite halten wir die Besorgnis nicht für gerechtfertigt, daß etwa in paritätischen
Organen die Angestellten und Arbeiter mit ihrer Ansicht nicht genügend zur
Geltung kommen würden. Sollte wirklich bei ihren Vertretern zunächst eine
gewisse Scheu in der Darlegung ihres Standpunktes bestehen, was wir
übrigens nicht glauben, so wird sich diese jedenfalls recht bald verlieren und
völliger Unbefangenheit Platz machen."
Andre Handelskammern, fast sämtliche industriellen Vereine, die sich über
die Frage ausgesprochen haben, und mit ihnen viele maßgebende Arbeiter¬
organisationen und die Sozialdemokratie nehmen einen ganz andern Stand¬
punkt ein, und es ist ein gewiß beachtenswerter Umstand, daß die pari¬
tätischen Körperschaften von großen Unternehmer- und Arbeitergruppen ver¬
worfen werden.
Gegen die Arbeitskammern kann man folgendes geltend machen:
Die Arbeitskammern sind ganz neue Gebilde, die mit keiner der jetzt be¬
stehenden Körperschaften, die den Namen Kammern tragen, zu' vergleichen
sind. In den Handelskammern, Handwerkskammern, Landwirtschaftskammern
herrscht unter den beratenden Mitgliedern Jnteresscnglcichheit, bei den Arbeits¬
kammern der schärfste Interessengegensatz. Jene Gruppe von Körperschaften
berät Dinge, die oft nur mittelbar die materiellen Interessen des einzelnen
Betriebs der in der Körperschaft vertretnen Unternehmer angehn, oder bei
denen es sich doch um materielle Opfer dem Staate gegenüber handelt;
Arbeitskammern beraten viel häufiger, vielleicht sogar der Regel nach, Fragen,
deren Erledigung den unmittelbaren materiellen Vorteil oder Nachteil der ge¬
samten einen Hälfte der Kammermitglieder angeht. Es gehört ein übergroßer
Optimismus dazu, anzunehmen, daß unter solchen Verhältnissen die Arbeits¬
kammern geeignet wären, den wirtschaftlichen Frieden zu Pflegen. Die gemein¬
schaftlichen gewerblichen und wirtschaftlichen Interessen der Unternehmer und
Arbeiter mögen in manchen Fällen — nicht in allen — in der Tat gemein¬
schaftlich vom Standpunkte der Volkswirtschaft sein, vom privatwirtschaftlichen
Standpunkt des Unternehmers sowohl wie des Arbeiters sind sie gegnerische
Interessen, und das wird sich bei den Beratungen der Arbeitskammern deutlich
zeigen. Man muß den Dingen doch gerade ins Auge sehen, wenn man zu
klarer Einsicht und zu vernünftigen Entschlüssen kommen will.
Wenn man die Sachlage so auffaßt, wird man nicht immer von einem
Übelwollen der Unternehmer reden dürfen, wenn sie Arbeiterforderungen nicht
nachgeben, denn alle Sozialpolitik ist abhängig vom technischen Stande der
Industrie, von ihrer Organisation (Syndikate) und vom Verhältnis der In¬
dustrie zum Wettbewerb auf dem Weltmarkte. Man kann deshalb nicht immer
sagen, daß die Industrie früher gesündigt hat, weil sie heute unter ganz
andern technischen wirtschaftlichen Verhältnissen sozialpolitisch mehr tragen
kann, als sie früher unter andern Verhältnissen getragen hat. Solche und
andre Gedanken in einer Arbeitskammer zu entwickeln und vor allem zur
Anerkennung zu bringen, wird aber nach Ansicht der Industrie eine unmög¬
liche Aufgabe bleiben, weil da nach menschlichem Ermessen immer die gereizte
Stimmung des Kampfes herrschen wird. Es ist leicht ausgesprochen, die
Arbeitskammern müssen erzieherisch auf beide Teile wirken, aber schwer durch¬
geführt. Und was tuu, wenn das Experiment mißlingt? Wenn man zwei
Parteien in einer Arbeitskammer zusammengeschmiedet hat, die sich trotz bestem
Willen nicht versteh»? Dann hat man arbeitsunfähige Körperschaften, die
jährlich Niesensummcn kosten und ihren Zweck verfehlen. Nach den vor¬
liegenden tatsächlichen Verhältnissen würde man etwa 300 bis 500 Arbeits¬
kammern in Deutschland einrichten müssen, die einen jährlichen Kostenaufwand
von 15 bis 20 Millionen Mark erfordern und von den Unternehmern allein
getragen werden sollen.
Immerhin wird sich vielleicht bei allgemeinern Angelegenheiten, bei sozial¬
politischen Nebenfragen (man darf diesen Ausdruck nicht mißverstehen!) ein
Weg der Verständigung finden, man wird bei Fragen des Arbeiterschutzes,
der Verbesserung der hygienischen und der Wohlfahrtseinrichtungen manchen
gemeinsamen Beschluß fassen können, weil hrer die Neibungsflachen nicht so
breit sind. Doch kann man sehr zweifelhaft sem. ob man dazu so große neu
und kostspielige Körperschaften braucht, da sich auf diesem Gebiet bei den in
jedem Betriebe verschonen Verhältnissen am wenigsten generalisieren laßt,
sondern individualisiert werden muß. Darum w,rd eme ganze Reihe dieser
Fragen der Arbeitskammer entzogen sein, da sie sich acht mit den Verhal -
Nissen einzelner Betriebe beschäftigen darf. Auch eme gutachtliche Tatigw
werden die Arbeitskammern entfalten können. Damit ist aber noch längst nicht
das Bedürfnis für sie nachgewiesen. ^
,^
Der Hauptkampf zwischen Unternehmer um und Arbeiterschaft en spi ut
sich um die Arbeitsbedingungen und von w in allem um Lohn und
Arbeitszeit. Ist es in diesen Fragen des Arbeitvertrags nwM) in t in r
Arbeitskammer ,um Acte des sozialen Fadens zu kommen? Hierauf muß
un ^ Nein geantwortet werden. Wenn irgend^MögliclMt vorhanden wäre, die Arbeitsbedingungen im Strei falle b^end
of° diesem Wo'rde liegt der Nachdru ) u^ ^ s e geschabt.
^und^r^^Die Gewerkschaften werden nach der ^""crM"go< " der Arbeits-
^D^f^^der Arbeitskammerfrage do Er meint, die Gewerk-V°sfischen Zeitung (12. Februa 19W) n° ) ^oster würden nicht 7^ was ^ ^-im.
nArrddeemüssen sich für Kampf. Ver-
Gewerkschaften A ehe
^^ ^ suchen und finden sie auch.
^2it2in^ ^?^7'en^e^
^^Ti^S
o ^ Machtverhältnisse, die sich beidegr mdsa licher WM)°nungen und ta ach^ ^ ^.^
^ e acht nehmen w / ^ ^ ^ ^sah se kann und ^ wird Zugunst n d ausschlaggebende
^ se nur. soweit es ^es :se. f« ^ ^^^^Stellung aber gerade dann, wenn es > ' x,^ Arüeiter-s,°et ^> - - ^ ^un die Gewerkschaft me für den Aroeiicr-bestreiten. Das zeigt ^r Umstand, daß in ' ! '
ausschuß in den Fabriken eingetreten ist. fonoern in ver 45^»
ihn hinwegging, weil der Friedensschluß zwischen dem einzelnen Unternehmer
und seinem Arbeiterausschuß den Kampf zersplittert, ihm seine Geschlossenheit
nimmt, auf der allein der Erfolg beruhen kann. Daß sich die Arbeiterver¬
treter in einer Arbeitskammer dem Einfluß der Gewerkschaften entziehen sollten
oder könnten, ist unmöglich.
Der Gedanke, der Arbeitskammer einen ausschlaggebenden Einfluß in den
Hauptfragen des Arbeitsverhältnisses zu geben und den Einfluß der Gewerk¬
schaften so zu brechen, könnte vielleicht Wurzel schlagen, wenn die Gewerk¬
schaften nicht mit politischen Parteien untrennbar verbunden wären. Auf diesem
Zusammenhang aber beruht die Stellung der Sozialdemokratie und des Zentrums,
und der Umstand, daß die freisinnigen und christlich-sozialen Parteien politisch ohn¬
mächtig sind, erklärt die verhältnismüßige Machtlosigkeit der Hirsch-Dunckerschen
Gewerkvereine und der evangelischen Arbeitervereine, und umgekehrt sind diese
Parteien ohnmächtig, weil sie die Arbeitermassen nicht hinter sich haben. Einer
politischen und sozialpolitischen Neutralisierung der Gewerkschaftsarbeit in den
Arbeitskammern — und das ist der Grundgedanke des Gesetzentwurfs auf die
kürzeste Formel gebracht — können deshalb selbst die politischen Parteien, die
heute zum Teil, wie das Zentrum, für Arbeitskammern eintreten, aus Gründen
der Selbsterhaltung nicht zustimmen, und damit fallen die Hoffnungen auf die
Arbeitskammern.
Nun hat man gesagt, die Arbeitervertretungen seien schon aus dem Grunde
notwendig, um eine Körperschaft zu schaffen, die auch die Nichtorganisierten
Arbeiter umfaßt, und man hofft offenbar, daß diese den organisierten Arbeitern
ein Gegengewicht gemäßigter Anschauungen, denen sich die der Unternehmer
nähern könnten, bieten würden. Aber abgesehn davon, daß wir auch bei An¬
wendung der Verhältniswahl nicht an eine starke Gruppe Nichtorganisierter
Arbeiter in den Arbeitskammern glauben können, sondern von den Arbeits¬
kammern eher eine Stärkung der gewerkschaftlichen Organisationen erwarten,
wird auch der Einfluß einer solchen Gruppe nicht in dem gehofften Sinne
wirksam werden. Außerdem kann den Nichtorganisierten Arbeitern doch eine
stärkere Vertretung nur zufallen, wenn sie sich auch organisieren. Eine solche
Organisation aber kann man nach der Ansicht der Vertreter des paritätischen
Prinzips nur dann vaterlandsfreundlich und unternehmerfreundlich erhalten,
wenn diese Arbeiter sehn, daß auch die Unternehmer mit ihnen in paritätischen
Körperschaften verkehren wollen. Man vergißt dabei nur, daß jede Arbeiter¬
organisation gegen das Unternehmertum gerichtet sein muß. Der Gedanke, von
feiten der Unternehmer alles zu tun, was dazu dienen kann, die Arbeiter nach
der vaterlandstreuen Seite zu ziehn, ist sicherlich sehr beachtenswert, aber eine
Verwirklichung liegt doch wohl mehr in den allgemeinen politischen Ein¬
richtungen, und er allein genügt bei weitem nicht, die schweren Bedenken zu
zerstören, die gegen Arbeitskammern bestehn. Denn man wird den sozialen
Frieden in diesen Kammern niemals fördern können.
Die Hoffnung, daß die Arbeitskammern den sozialen Frieden fördern, daß
sie insbesondre die Kämpfe um die Arbeitsbedingungen vermindern oder gar
beseitigen werden, ist darum nichtig. Das Verhindern von Streiks ist aber die
große Aufgabe. Die Tätigkeit der Kammer nach dem Kampfe als Einigungs¬
amt bietet keinen Ersatz und wird ebensowenig ersprießlich sein können, wie
wir eben schon ausgeführt haben, und wie die Geschichte der ausländischen
Arbeitskammern und unsrer Gewerbegerichte erweist. Gerade den Frieden nach
dem Kampfe müssen die Organisationen selbst schließen, weil sie genau wissen,
worauf es ankommt.
Die kaiserliche Botschaft von 1390 fordert, daß die Arbeitervertretung den
Arbeitern den freien und friedlichen Ausdruck ihrer Wünsche und Beschwerden
ermögliche. Die Arbeiterorganisationen, die sich gegen paritätische Kammern
aussprechen, fügen hinzu, es müsse aber der reine und unbeeinflußte Ausdruck
der Arbeiterinteresfen sein, nicht ein mit den Unternehmern etwa geschloßner
Kompromiß; das sei keine Arbeitermeinung mehr.
Man könnte hierfür mehrere sehr charakteristische Äußerungen aus der
Arbeiterpresse anführen. An dieser Stelle möge nur ein Urteil des Reichstags-
abgeordneten Schack des Vertreters des Deutsch-nationalen Handlungsgehilfen¬
verbandes, über diese Frage Platz finden. Er sagte im Reichstage beim Justizetat
am 25. Februar 1903- ..Ich möchte zunächst darauf hinweisen, daß die Gut¬
achten der Kaufmannsgerichte in dieser Frage, auch von seiten des ReuHsjusüz-
amts. mit einer gewissen Reserve aufgenommen werden müssen, weil sie meiner
Ansicht nach, soweit sie mir bekannt geworden sind, nicht überall deutlich das
Zum Ausdruck bringen, was als tatsächliche Meinung der beteiligten Kreise
angesehn werden kann. Mir ist von verschiednen Seiten mitgeteilt worden. daß
in den Sitzungen der Kaufmannsgerichte, wo darüber verhandelt worden ist.
der Vorsitzende von vornherein erklärt hat: »Ein völliges Verbot der Konkurrenz¬
klausel werden wir doch nicht erreichen; es ist anzunehmen, daß die Regierung
darauf niemals eingehn wird; infolgedessen ist es besser, wir beschränken uns
von vornherein in unsern Wünschen, um ein möglichst übereinstimmendes
Gutachten der Prinzipale und Handlungsgehilfen beibringen zu können.« Meiner
Ansicht nach ist das eine unrichtige Auffassung; denn die gutachtliche Tätigkeit
der Kaufmannsgerichte soll nicht auf Vergleichen und Kompromissen zwischen
den verschiednen Anschauungen beruhen. Die paritätische Zusammensetzung ist
Wohl da. damit Prinzipale und Handlungsgehilfen sich gegenseitig von ent¬
gegengesetzten Ansichten überzeugen können; aber da, wo das nicht möglich ist.
müssen die beiderseitigen Ansichten auch unverfälscht und deutlich zum Ausdruck
komme», was bei Kompromißvorschlägen naturgemäß nicht der Fall ist." Eine
solche Ansicht ist sehr wohl vertretbar, nur verneint sie in schärfster Weise die
Möglichkeit, in einer Arbeitskammer Gutes zu schaffen; sie widerspricht dem
Sinne der ganzen Einrichtung und nicht weniger der Begründung des Gesetz¬
entwurfs über die Arbeitskammern, die ausdrücklich sagt, die Arbeiten der
Kammern sollten in ihrem weitern Verlaufe möglichst zum friedlichen Aus¬
gleiche führen.
Aber solche Urteile geben uns ein Bild davon, wie man den Äußerungen
der Arbeitskammern gegenüber verfahren würde. Man würde sie benutzen, wenn
sie der Partei und ihrer Richtung bequem sind; man würde sie als Ver-
Wässerungen und gar Mischungen der Arbeitermeinungen ablehnen und ver¬
ächtlich machen, wenn sie unbequem sind. Darin liegt aber eine große Gefahr.
Die Unternehmervertreter in einer Arbeitskammer können und werden vielfach
in einem gezwungnen Gegensatze zu ihren Berufsgenossen in andern nicht
paritätisch zusammengesetzten Körperschaften stehn oder doch infolge des Aus¬
falls der Arbeitskammerbeschlüsse zu stehn scheinen. Genau dasselbe wird bei
den Arbeitervertretern eintreten. Dem sozialen Frieden aber wird man mit all
dem nicht dienen.
Es ist merkwürdig, daß man die Pflege des sozialen Friedens von einer
Körperschaft erwartet, die in ihrer Zusammensetzung so wenig homogen ist.
Homogen ist sie nämlich noch nicht einmal, wenn man jede der beiden Parteien
für sich betrachtet. Es ist bekannt, daß sich niemand erbitterter und mit hä߬
lichem Schimpfworten befehdet als die Arbeiterorganisationen untereinander.
Diese werden sich auch in den Arbeitskammern fast allein gegenüberstehn, und
an einen Ausgleich der Gegensätze ist deshalb nicht zu denken, weil die Arbeiter¬
vertreter in den Kammern von ihren außenstehenden Verbänden überwacht werden.
Bei der Stärke der freien Gewerkschaften muß angenommen werden, daß diese,
also die radikalste Richtung meist herrschen und die Vertreter andrer Richtungen
oft zur Gefolgschaft zwingen werden. Auch aus diesen Gründen würde eine
friedliche Annäherung, die doch wohl gelegentlich einmal — um es ganz vor¬
sichtig auszudrücken — auch in einem Nachgeben der Arbeitervertreter und
nicht immer nur — wie es wohl die Regel sein wird — in einem Nachgeben
der Unternehmer bestehn müßte, sehr schwierig sein.
Wenn wir alle diese Gedanken zusammenfassen, so kommen wir nicht ohne
ein gewisses inneres Bedauern zu einer vollständigen Ablehnung des paritätischen
Aufbaues der Arbeitskammern.
Es ist ein unheilvoller Entschluß, zwei Parteien zu einer Körperschaft
zusammenzuschließen, die beide in ihr gar nicht arbeiten wollen, zu einer
Körperschaft, die keine Machtmittel hat, einen entscheidenden Einfluß auf das
Arbeiterverhältnis auszuüben, und der diese Machtmittel auch niemals gegeben
werden können, wenn man nicht die ganze Wirtschaftsverfassung grundsätzlich
ändert. Man sollte dazu um so weniger kommen, als auch die kaiserliche Botschaft
nicht zwingt, gerade die Form der Arbeitskammern als Arbeitervertretung
zu wählen. > . ,
Die Industrie erhebt wenigstens zum Teil keine Einwendungen gegen die
Schaffung von Arbeiterkammern. Sie hält sie aber auch nur in dieser Form
für möglich und ist der Ansicht, daß die Arbeiterinteressen erst unter sich aus-
geglichen werden müssen, daß sich erst einmal bei den Arbeitervertretern selbst
eine maßvolle Verfolgung ihrer Forderungen unter Berücksichtigung des Ge¬
samtinteresses der deutschen Industrie und Volkswirtschaft zeigen muß. Ist das
eingetreten, so wird es an Möglichkeiten, mit den Unternehmern zu verhandeln,
nicht fehlen, auch wenn keine paritätischen Kammern vorhanden sind. Die
Arbeiterkammer ist etwas in sich Einheitliches, nach der Art der Vertreter und
den gesteckten Zielen. Diese Einrichtung vermeidet auch tausend andre Schwierig¬
keiten der Organisation und der praktischen Arbeit, die bei den Arbeitskammern
sicher auftreten werden; sie beeinträchtigt die Handelskammern nicht im Wirken
und Ansehn. was die Arbeitskammern in hohem Maße tun.
^
Man hat allerdings gesagt, die Arbeiterkammer werde eine reine Kampf-
körperschaft für die Gewerkschaften werden und em Zwangsmittel, die Arbeiter
in die Verbände zu treiben, indessen ist darauf zu erwidern daß man diese
Gefahr in paritätischen Körperschaften in demselben Maße lauft, nur ist es da
viel schlimmer, weil in den Einflußkreis dieser gewerkschaftlichen Bestrebungen
auch d s Unke nehmertum offiziell hineingezogen wird. Außerdem ist es zweifel¬
haft, ob man den Arbeiterkammern durch Arbeitskammern entgeht. Schon heute
un d es offen ausaesprochen (Gewerkschaften. Naumann u. a.). daß durch tiuro es offen ausgeMo^« ^ > besondern Arbeitervertretung nicht
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daß irgendwo und irgendwann eine Umkehr erfolgt, und daß zur Verständigung
mit den Arbeitern Raum ist.
Deshalb meinen wir, man sollte zwar Unternehmern und Arbeitern ihre
eignen wirtschaftlichen Interessenvertretungen lassen, aber auch diese werden
Gelegenheit haben, sich, wenn es an der Zeit ist, zu gemeinsamen Besprechungen
zusammenzufinden; genau so, wie sich die Organisationen der Arbeiter und der
Unternehmer der bergischen Klein Eisenindustrie gemeinsame Organe, Schieds¬
gerichte, geschaffen haben. Aber wohlgemerkt, sie sind von den Verbänden der
Unternehmer und der Arbeiter geschaffen worden, die auch die Macht haben, ihre
Beschlüsse durchzusetzen. Und solche gemeinsamen Ausschüsse sind etwas wesentlich
andres als eine Arbeitskammer. In solchen gemeinsamen Besprechungen der
Ausschüsse treten sich Unternehmer und Arbeiter ganz anders gegenüber; die
Unternehmer sind nicht losgelöst von den Körperschaften, die ihre eignen
Interessen, oder richtiger, die objektiven Interessen der Unternehmung ver¬
treten, sondern werden bei allen Handlungen von ihnen gestützt. Gelingt eine
Verständigung in dem gemeinsamen Ausschuß nicht, so wird nicht die eine Partei
von der andern erdrückt; es ist nicht Gefahr, wie bei den Arbeitskammern,
vorhanden, daß ihre Kundgebungen eine einseitige Darstellung der in ihr vor-
handnen Ansichten enthalten; keine Partei wird durch steten oder häufigen
fruchtlosen Kampf der Meinungen verbittert, sondern wenn man in einer Frage
keine Verständigung erreicht, trennt man sich ruhig, um das nächstemal eine
andre Frage ohne Voreingenommenheit aufzugreifen. Sollte aber doch die
Neigung zur Verständigung wachsen, so ist der neutrale Boden in dem ge¬
meinsamen Ausschuß gegeben, diese Entwicklung zu fördern.
z n zwiefacher und zugleich entgegengesetzter Weise wird an unserm
höhern Bildungswesen Kritik geübt. Auf der einen Seite wird
im Interesse des praktischen Lebens eine Verminderung gefordert;
dagegen erheben die akademischen Wissenschaften die Klage, unsre
! höhern Schulen gewährten nicht mehr eine zulängliche Vorbereitung
für den Arbeitsbetrieb der Universität. Was an diesen Anklagen berechtigt ist,
und wie unser höheres Bildungswesen nach den neuen Ansprüchen der Zeit zu
gestalten ist, das sind Fragen, die nur in langer Arbeit bewältigt werden können.
Darüber ist kein Zweifel, daß die Welt, in der wir leben, anders ist als vor
fünfzig oder zwanzig Jahren. Daß auch die Bildung, die dem Leben dienen
will, durch seine Wandlungen mitbestimmt wird, ist ebenso unbestritten. Auf//Mez^v
der andern Seite steht die Wissenschaft, die sich ebenfalls in steter Wandlung
des Wachsens und der innern Erneuerung bewegt. Keine höhere Bildung ist
denkbar, die nicht aus dem befruchtenden Zusammenhang mit der wissenschaft¬
lichen Arbeit hervorwächst. Aber kann und darf die Schule alles, was an sich
wertvoll und wissenswert ist, in sich aufnehmen, ohne dadurch den innern Wert
ihrer Leistung bedenklich zu gefährden? Das ist eine Frage, die neuerdings für
den Geschichtsunterricht nahegelegt worden ist, einmal durch die innere Wandlung
der Geschichtsforschung, die neben die politische Geschichte die Geschichte der Wirt¬
schaft und des geistigen Lebens gestellt hat, sodann aber durch die zeitliche wie
räumlich-ethnographische Ausdehnung der Geschichte. Die bisher „geschichts-
losen" Völker Amerikas, Afrikas und der Südsee sind in der letzten Zeit Gegen¬
stand historischer Bemühungen geworden. Und zeitlich sind wir durch die Aus¬
grabungen im Nillande und in Babylonien um Jahrtausende nach rückwärts
geführt worden, ohne damit auch nur annähernd die Anfänge geschichtlichen
Lebens gewonnen zu haben.
In der letzten Zeit ist mehrfach die Aufnahme der altonentalischen Ge¬
schichte in den höhern Unterricht gefordert worden. In der Tat liegt die Frage
nahe, ob wir den großartigen Ausbau der alten Geschichte wie er durch die
Entzifferung der Hieroglyphen, der altpersischen und der babylonischen Keilschrift
und in der letzten Zeit durch die Auffindung des Archivs der hethiti chen Könige
in Boghazköi erreicht worden ist. unberücksichtigt lassen dürfen. Babylon zumal
erweist sich immer mehr als die große Kulturzcntrale. die auf Jahrtausende ganz
Westasien beherrscht und weit darüber hinaus gewirkt hat. Erst wenn ihm die
gebührende Stellung auch im Unterricht zugewiesen werde, kämen wir zu wahr¬
hafter Einheitlichkeit unsrer geschichtlichen Bildung. Erst vom Orient aus ver¬
möge man auch das ..klassische" Altertum in richtiger historischer Perspektive
An sehen.
Mit diesen Ansprüchen scheint uns allzufern liegendes und schon aus
praktischen Gründell uuerfüllbares gefordert zu werden. Doch gilt es auch hier,
das Berechtigte in den neuen Forderungen zu erkennen, wenn wir zugleich das
betonen, wodurch sie beschränkt werden. Es lassen sich in der Tat Gründe
dafür geltend machen, daß unsre geschichtliche Bildung den orientalischen Kultur¬
völkern ein höheres Maß von Beachtung zuwenden müsse.
Zwei Tatsachen legen diese neuen Forderungen auch dem allgemeinen
Interesse nahe Durch die Erschließung der altorientalischen Denkmäler hat
unser geschichtliches Gesamtbild eine tiefgreifende Umgestaltung erfahren. Die
Völker des Orients haben nicht nur für sich betrachtet ein bedeutsames ge¬
schichtliches Leben geführt, sie haben auch auf die Anfänge der europäischen
Kultur stark eingewirkt, sie haben unsre Geschichte mehrfach politisch wie kulturell
nachhaltig beeinflußt und angeregt. Aber nicht nur die Erweiterung der ge¬
schichtlichen Forschung kann es nahelegen, die geschichtliche Bildung durch
einen weitern Umblick. durch eine universale Betrachtung der Zusammenhange
des Weltlebens zu bereichern. Wir stehn heute an einem welthistorischen
Wendepunkt: seit der Erschließung des östlichen Asiens, das sich anschickt, seine
Bahnen bis an die Westgrenze des eigentlichen China zu führen, nähern sich
wieder die beiden großen geschichtlichen Hälften der Menschheit in einer sich
gegenseitig bestimmenden geschichtlichen Gemeinschaft. Eine wirkliche „Welt¬
geschichte", an der die gesamte Völkerwelt beteiligt ist, deren Wirkungen überall
fühlbar sind, die Umspannung der Erde durch ein gemeinsames, die ganze
Menschheit berührendes Leben beginnt erst mit unsrer Zeit. Die Voraussetzung
dafür ist die geographische Erschließung der Erde und die Eroberung und Er¬
schließung der Neuländer durch die europäische Expansionskraft in der großen
kolonialen Ära Europas. Aber diese kolonisierende und erobernde Erweiterung
Europas, seine Ausbreitung über die Erde, stößt heute auf Widerstände. Die
alten Kulturvölker Asiens, aus ihrem isolierten Leben aufgescheucht, sind gerade
durch die eindringenden Wirkungen des erregenden europäischen Wesens zu
stärkerem Selbstbewußtsein, zur selbständigen Behauptung und Gestaltung ihres
geschichtlichen Daseins gedrängt worden. Die nervös-erregbarste Nation natürlich
zuerst, die Japaner; aber ebenso gehn nationale Bewegungen durch Indien,
Persien und China.
Es ist vielfach von ausgezeichneten Kennern des Orients betont worden,
daß die neuen Beziehungen zum Orient eine tiefere Kenntnis seiner Völker, ein
eindringendes Verständnis ihres geistigen Lebens zu einem praktischen Er¬
fordernis machen. Die Orientalen sind keine Barbaren, sondern durch ein
großes historisches Leben geformte Völkerindividualitäten. Die Zeiten, wo uns
die Gebilde orientalischer Kulturen als Kuriositäten erschienen, sind vorüber.
Die wissenschaftliche Erforschung des Orients verbindet sich heute mit ge¬
wichtigen Interessen des realen Lebens, die jene befruchten und diesem dienen
sollte. Den Orient in seiner Geschichte, seinen wirtschaftlichen Verhältnissen
und seinem Kulturleben kennen zu lernen, ist eine Aufgabe, die nicht mehr ab¬
zuweisen ist.
So liegt in der Tat die Frage nahe: Was kann unsre geschichtliche Bildung
dafür leisten? Jede Bewegung unsers Kulturlebens stellt ja neue Forderungen
an unsern höhern Unterricht, als ob er alles zu leisten vermöchte. Das Neue
macht sich immer mit der Energie eines jungen Lebens geltend, übertreibt
deshalb bisweilen seine Ansprüche. Fragen wir, was erreichbar ist, so kann
man die allgemeine Bedeutung der orientalischen Welt erst einem etwas mehr
gereiften geschichtlichen Verständnis nahebringen. Es genügt, wenn sich der
Blick einmal an größere Fernsicht gewöhnt, wenn er Interesse für die Weite des
geschichtlichen Daseins und eine Vorstellung von seinem Inhalt erweckt. Erst
auf der obern Stufe läßt sich einiges aus der Geschichte der alt-orientalischen
Kulturvölker mitteilen, wie es auch geschieht. Daß dabei gelegentlich noch ver¬
altete und unhaltbare Ansichten mit unterlaufen, soll nicht bestritten werden.
Aber auch hier dürfen wir nicht zu viel erwarten; gerade das Wichtigste, das
Verständnis der allgemeinen Kulturbeziehungen, wird oft schwierig sein. Alles
geschichtliche Verstehen knüpft an das Wollen und Handeln der geschichtlichen
Persönlichkeiten an. Und darauf beruht der Bildungswert des geschichtlichen
Unterrichts. Das lebendige Vorbild des taten erfüllten Lebens ist es. was der
Geschichte ihren ethischen Wert gibt. Denn darin enthüllt sich — machtvoller
als es jede Lehre vermag — der höchste menschliche Lebenswert: der Wille und
die mit ihm verbundn- sittliche Verantwortung. Hier liegt die Schranke der
orientalischen Welt. Lebendige menschliche Größe, die uns fühlbar nahetritt, zu
der wir uns erhoben fühlen könnten, hat sie uns außer etwa dem ältern Kyrus
und Dareus kaum gezeigt.¬
Ermöglicht aber die bisher gewonnene Erkenntnis der orientalischen Ge
schichte ihre Berücksichtigung in unsrer historischen Bildung? Die Frage liegt
nahe bei den großen Gegensätzen unter den Forschern und bei der offenkundiger
Unsicherheit vieler einzelner Annahmen. Gerade neuerdings ist durch Ed. Meyers
bedeutende Abhandlung ..Sumerer und Semiten in Babylonien" (1906) ein
kulturgeschichtliches Problem von der größten Bedeutung, die Entstehung der
babylonischen Kultur, in ein neues Licht gerückt worden. Trotzdem darf man
nicht verkennen, daß es im Orient nicht schlechter steht als in der griechisch-
römischen Geschichte, vielfach sogar besser. Auch in der Geschichte des Altertums
sind wir über weite Strecken wenig unterrichtet, über viele, oft wichtige Ereig¬
nisse besteht mancherlei Ungewißheit. Und im bekannten Bereiche hat sich die
Auffassung von Persönlichkeiten. Vorgängen und Zuständen vielfach gewandet^
Was ist denn hier die historische Wahrheit? Die historische Betrachtung ist
immer Auffassung der Vergangenheit im Geiste der Gegenwart. Trotzdem ver¬
zichten wir nicht auf geschichtliches Erkennen.dunewibleibenma.sodarf
So vieles im einzelnen noch strittig ungg
deshalb doch nicht die in zahlreichen Erscheinungen zutage tretende historische
Tatsache verkannt werden, daß die babylonische Kultur eine Weltkultur war.
die ihre Nachwirkungen noch heute übt. obwohl das babylonische Weltbild als
Einheit seit Kopemikus und Galilei für unser Denken durch ein andres ersetzt
worden ist. Nicht minder interessant ist der große Versuch der Assyrer, über
der bunten Fülle der kleinern Stämme und ihrem Sonderleben einen Einheits¬
staat zu errichten. Sie haben das Werk des Kyrus und des großen Dareus
borbereitet.¬
Ein Vorzug der altorientalischen Geschichte aber liegt in der urkundlichen Über
lieferung durch Denkmäler. Wo die historische Überlieferung durch das Medium
der Literatur erfolgt, wird sie vielfach umgewandelt durch die Individualität
des Schriftstellers, durch die mannigfachen Wandlungen, die jeder Bericht in
längerer Überlieferung erleidet, oft auch durch rein literarische Abhängigkeits¬
verhältnisse und Absichten. Im Vergleich mit den historischen Berichten des
Alten Testaments oder der ältern griechischen Historiker, die - mit Ausnahme
des Thukydides - oft ein recht unklares Bild geben, hat das Tatsächliche in
^
der orientalischen Überlieferung oft eine erfreuliche Sicherheit. Natürlich fehlt
es in offiziellen Berichten über die Taten der Könige nicht an Übertreibungen
oder an Verhüllungen, wo etwas zu verschweigen war. Das gehört aber zum
Stil der Königsinschriften. Der König ist ein Gott, oder er steht den Göttern
nahe; so wird ihm menschliches Geschick ferngehalten. Freilich haben wir bisher
zwar große Massen an Aufzeichnungen geschichtlichen Inhalts aus dem alten
Orient; aber eine wirkliche Geschichtsdarstellung fehlt noch. In Indien ist die
Literatur von dem spekulativen Geist und der Kraft der Phantasie beherrscht.
Die geschichtliche Erinnerung ist ins Epos eingegangen. Die ungeheuer reiche
indische Literatur hat kein einziges wirkliches Geschichtswerk. Als den „geschichts-
losen Weltteil der Brahmanen" hat G. Bühler Indien bezeichnet, und auch
Pischel betont, daß den Indern der geschichtliche Sinn fehlt. Selbst die als
historische Dokumente wichtigen Inschriften zeigen auffallend wenig den Charakter
einer Geschichtsdarstellung. Der große Buddhistenkönig Asoka legt in Inschriften
seine Überzeugungen dar und ermahnt seine Völker zu moralischem Wandel.
Und die Inschriften der Guptadynastie (zweites bis fünftes Jahrhundert n. Chr.)
sind Preisgedichte auf Herrscher, ganz im Stil der höfischen Kunstpoesie gehalten.
Die beiden buddhistischen Mönchschroniken aus Ceylon (fünftes Jahrh, n. Chr.),
die wir durch W. Geiger kennen gelernt haben, sind rein legendarischen Charakters.
Erst aus dem zwölften Jahrhundert n. Chr. lernen wir eine Königschronik aus
Kaschmir kennen, die Rajatarangini. Das will wenigstens eine Landesgeschichte
sein. Aber auch dieses Werk, in Versen geschrieben, ist ganz im Stil des
dichterischen Panegyrikus gehalten und hat einen vielfach märchenhaften Charakter,
obgleich es nicht ohne historischen Gehalt ist. Otterberg, der kürzlich die indische
Geschichtschreibung zu würdigen gesucht hat, hat wohl mit Recht gesagt, daß
aus dem indischen Geist ebensowenig ein echtes Geschichtswerk erstehen könne,
wie seine Kunst einen Apollo zu schaffen vermöchte.
Dagegen hat ein andres Volk des Orients, die Chinesen, mit Recht den
Ruhm, die besten Überlieferer geschichtlicher Ereignisse zu sein. Freilich haftet
ihr Blick am einzelnen; es fehlt an dem Gefühl für die innern Zusammen¬
hänge, an historischer Perspektive, wie solche auch ihrer Malerei fehlt. Aus
Westasien ist zwar kein eigentliches Geschichtswerk erhalten; aber es ist nicht
ausgeschlossen, daß es solche gab. Wir werden noch glückliche Funde abwarten
müssen, ehe ein Urteil über die orientalische Geschichtschreibung möglich ist. Die
historischen Bücher des Alten Testaments genügen dafür bei weitem nicht.
Überhaupt liegt ein besonders schwieriges Problem in der Tatsache, daß
die „Tradition" auf verschieden Gebieten sehr verschieden zu bewerten ist. Sie
ist ein Spiegelbild der nationalen Geistesart; das geschichtliche Bewußtsein, der
Umfang wie die Sicherheit der Erinnerung hängen sowohl von den Beziehungen
des Volkes zu seinem Boden wie von der sozialen Konstruktion des Volkskörpers
ab. Ein Volk, das seit der ältesten Zeit als Ackerbauer mit seinem Boden ver¬
wachsen ist, bei dem überdies in Familien- und Stammesgemeinschaft das Leben
stark gebunden ist, kann eine weitreichende und zuverlässige Tradition haben.
Die Chinesen werden dafür ein Muster sein. Aber schon das starke Bewußtsein
für genealogische Zusammenhänge festigt bisweilen die geschichtliche Erinnerung
für lange Zeiträume, wie bei den Irokesen und zentralasiatischen Türkvölkern.
Ganz anders liegen oft die Verhältnisse, wenn die geschichtliche Erinnerung
Angelegenheit eines Standes wird, z. B. des Priestertums oder eines berufs¬
mäßigen Dichterstandes. Hier greifen oft neben der frei gestaltenden Phantasie
auch bestimmte Tendenzen verwirrend ein. So wird die Tradition, wo sie sich
entwickelt, eine sehr verschiedenartige Erscheinung, über deren Wert nur die
Kenntnis der Voraussetzungen, unter denen sie entstanden ist, entscheiden kann.
Auf dem Boden der orientalischen Geschichte liegt gerade in der Frage nach
Art und Wesen der Tradition eine besondre Schwierigkeit.
Aber wenn wir für Hellas und Rom ein geschichtliches Verständnis gewinnen
können, so ist es für den Orient bei der Fülle seiner Dokumente und Denkmäler
nicht minder möglich. Vielfach sind neuerdings die orientalische und die griechische
Kultur aneinander gemessen worden. Unfraglich sind sie die beiden großen, unsre
Geschichte bestimmenden Mächte. Heute darf man ihr Verhältnis zueinander nicht
dahin bestimmen, daß der Orient nur die militärisch-politische Macht, das Griechen¬
tum aber die eigentliche Kulturmacht bedeute. Einerseits ist das Griechentum aus
einer vom Orient beherrschten Kultur erwachsen, andrerseits hat auch der Osten
geistig wie künstlerisch Großes geschaffen. Auch an ethischem Wert darf man
den Orient nicht herabsetzen. Gewiß hat Hellas einen einzigartigen Reichtum
an Persönlichen Größen. Aber neben allen wertvollen Erscheinungen stehn auch
w den besten Zeiten der griechischen Geschichte die Erscheinungen menschlicher
Niedrigkeit Auf der andern Seite sind zumal Indien und China reich an
denkenden und handelnden Menschen von höchster Genialität und sittlicher
Größe und Würde Auch in der babylonischen Kulturwelt kann es nicht an
Persönlichkeiten von tiefem, wertvollen Lebensgehalt gefehlt haben, die sich
hoch über die Maße des Gewöhnlichen erhoben. In Indien stehn neben den
tiefsinnigen Lehrern einer religiösen Weltanschauung, neben einem Yajnavalkya,
Buddha und Krischna die großen, echt philosophischen Denker wie Kapila und
Kanada.
Der Abstand zwischen dem Orient und Hellas ist dabei deutlich fühlbar.
Nur muß man den Wesensunterschied an der rechten Stelle suchen. Bei aller
Kulturhöhe, bei den erstaunlichen technischen Leistungen ihrer Kunst und bei den
großartigen Organisationen der politischen und sozialen Lebensordnungcn sind
die orientalischen Völker niemals aus einer gewissen Gebundenheit herausgetreten.
Dem Orient fehlt es nicht an großen Persönlichkeiten, aber es fehlt der sem
eignes Leben frei darstellende, in sich und aus sich eine Welt gestaltende Mensch.
Hier gerade liegt die Kulturbedeutung des Griechentums, das vor einer alten,
übermächtigen Kultur stand, in der es aufgegangen wäre, wenn nicht em Neues
und Bleibendes mit dem griechischen Wesen in die Geschichte getreten Ware.
Die griechische Demokratie entfesselte die auf einen engen Raum beschränkten
Kräfte des persönlichen Lebens, das sich in der Wissenschaft und Kunst, im
Staate wie in der Religion darstellt. Darauf beruht die Vielgestaltigkeit und
Beweglichkeit des griechischen Lebens, darauf seine Schwäche.
Damit werden wir beiden Seiten, dem Orient wie dem Griechentum, als
den wirksamsten Mächten unsers geschichtlichen Lebenskreises gerecht werden.
Das ist nötig gegenüber einseitigen und überspannten Ansprüchen zumal von
babylonischer Seite. Man möchte den Wert und die Bedeutung des griechischen
Geistes für die europäische Entwicklung möglichst verkleinern und zugunsten der
Babylonier herabsetzen. Bisweilen scheint es fast, als sollte nun Babylon an
die Stelle von Athen und Rom treten. Solche Verirrungen zeigen nur, daß
mancher ausgezeichnete Gelehrte sein eignes Gebiet, dem er die Kraft seines
ganzen Lebens zugewandt und worin er seine Erfolge gewonnen hat, für das
einzige hält, was als Wissenschaft gelten könne. Dabei stellt sich leicht das
Streben ein, die ganze Weltgeschichte von einem Punkte aus zu durchleuchten
und als Einheit zu erklären. Von der babylonischen Flut ist denn in der Tat
kein Gebiet der Welt verschont geblieben. In ihr ist nicht nur die Schöpfer¬
kraft des Griechentums versunken. Es gibt bald überhaupt nichts mehr auf der
Welt, was nicht babylonischen Ursprungs sein soll. Die Kultur der Chinesen
und Inder soll im Grunde babylonisch sein — Berührungen sind in der Tat
vorhanden. Aber auch die kosmologischen Dichtungen der Polynesien Kalender¬
wesen, Architektur und religiöser Kultus der alten Mexikaner werden aus Babylon
abgeleitet. Gewiß sind oft überraschende Parallelen vorhanden, und die Ver¬
bindungen der Völkerwelt sind älter, mannigfacher und wirksamer, als man
früher bei einer allzu isolierenden Betrachtung annahm.
Wir stehn vor einem Gebiet unübersehbar reichen und großen Lebens,
wenn wir nach Osten blicken. Man kann seine Berücksichtigung in unsrer ge¬
schichtlichen Bildung damit begründen, daß die letzten Wurzeln unsrer Gesamt¬
kultur am Euphrat zu suchen sind. Wer in der eignen Zeit wirklich Bescheid
wissen will, der muß die Herkunft der Ströme kennen, die sie befruchten. Aber
nur was als lebendig wirkende Macht noch in unserm Dasein Bestand hat, was
für unser Bewußtsein Gegenwartswert hat, das allein hat auch in unsrer all¬
gemeinen Bildung Anspruch auf Beachtung. Was uns die wissenschaftliche
Forschung über die Bedeutung der babylonischen Kultur gelehrt hat, das ist
gewiß wertvoll und wichtig für historische Erkenntnis, aber es hat für unser
geistiges Sein kaum eine Bedeutung, es ist lediglich von antiquarischen Interesse.
Wohl läßt sich heilte manches seltsame Stück im europäischen Kulturleben, z. B. die
Astrologie, die sieben Wochentage u. a., auf babylonischen Ursprung zurück¬
führen. Aber wo ist jemals in der europäischen Entwicklung das Bewußtsein
für diesen Zusammenhang lebendig oder wirksam gewesen? Längst haben sich
andre Motive für uralte Überlieferungen eingeschoben. Gegenüber den vielfachen
Überspannungen wird man die einfache Wahrheit immer wieder betonen müssen,
daß nicht alles, was an sich wertvoll und wissenswürdig ist, auch im höhern
Unterricht eine Stätte finden kann. Was für Babylon recht ist, wäre für Indien,
China und Japan billig, Gebieten, mit denen uns obendrein starke Interessen
der eignen Gegenwart verbinden. Wer aber die Schranken des Menschlichen
kennt, der wird sie auch dem höhern Schulwesen zugestehen und von ihm nicht
erwarten, daß hier einmal ein Land unbegrenzter Möglichkeiten sei.
Hier gebührt sicher dem Griechentum in der geschichtlichen Betrachtung der
Vorrang, und zwar nach seinem Lebensinhalt wie wegen des lebendigen Zu¬
sammenhangs unsrer Gesittung mit den Schöpfungen von Hellas. Wenn ihm
gegenüber die Behandlung des Orients, soweit der höhere Unterricht in Frage
kommt, wohl stets auf ein bescheidneres Maß beschränkt bleiben muß, weil sein
Leben uns ferner gerückt ist, so kann darin doch das Wünschenswerte, eine
Vorstellung von seiner historischen Eigenart und Wirksamkeit gewonnen werden.
Beiden Seiten kann damit ihr Recht werden. Freilich dürfen wir die großen
orientalischen Kulturvölker nicht mehr in einem vorgeschichtlichen Halbdunkel
lassen und erst auf die Griechen das volle Licht des geschichtlichen Lebenstages
fallen lassen. Diese nach den kleinen europäischen Maßen verengerte Auffassung
ist heute unhaltbar: die Griechen selbst haben sie nicht gehabt, wie Herodot zeigt.
Es genügt, wenn sich dem Blicke die Tatsache erschließt, daß die geschichtliche
Welt nicht an irgendwelche Landesgrenzen gebunden ist. und daß das Mensch¬
heitsleben in seiner geschichtlichen Entfaltung trotz aller Abstände eine Einheit
bildet. Das Leben der Gegenwart fordert eine weitere Umsicht auf allen Gebieten
der Arbeit, weil wir in weitern Zusammenhängen wirken. Die höhere Bildung
kann nur zum Verständnis solcher Beziehungen hinführen. Darin mag ein
gewisses Recht neuer Forderungen liegen, die sich freilich immer in engen Grenzen
werden erfüllen lassen. So gern wir uns für die Erkenntnis des Altertums
vom Orient aus belehren lassen, so freudig wir zur Aufnahme jeder neuen,
gesicherten Erkenntnis bereit sind, so sehr scheint doch noch Vorsicht geboten
M sein gegenüber einer Konstruktion des geschichtlichen Bildes, das überreich an
unsichern Annahmen ist.
on Quixote sieht Kriegsheere, Niesen und goldne Rltterhelme,
wo der normale Mensch Schafe, Windmühlen und Barbierbecken
sieht, und zu Ehren einer nicht existierenden Dame von unaus¬
sprechlicher Schönheit verrichtet er Heldentaten, die ihm un-
^ gezählte Prügel eintragen, und peinigt er seinen ausgemergelten
Leib in der Waldwüste mit Bußwerken. Sollte Cervantes nicht auch ein
wenig an die wunderbaren Dinge gedacht haben, die so mancher spanische
Heilige seiner Zeit geschaut und vollbracht hat? Zum Helden seines Romans
konnte er freilich einen Mönch nicht wählen; das hätte die Inquisition nicht
erlaubt, und eine Mönchsgeschichte mit erotischen Novellen zu schmücken, das
hätte allenfalls dem italienischen, aber nimmermehr dem spanischen Volksgeiste
entsprochen. Damit sollen die Heiligengeschichten nicht auf das Niveau der
Rittergeschichten herabgesetzt werden. Während die weltliche Caballeroromantik
Spanien in Politik, Wirtschaftsleben und Wissenschaft zum Ritter von der
traurigen Gestalt heruntergebracht hat, darf es sich rühmen, durch die Visionen,
die Ignaz von Loyola in Mcinresa empfangen hatte, in den Gang der Welt¬
geschichte bestimmend eingegriffen zu haben. Es soll nur bemerklich gemacht
werden, daß es dasselbe Überwiegen der mit hoher Willensenergie gepaarten
Phantasietätigkeit gewesen ist, was beide Erscheinungen hervorgebracht hat,
und niemand kann die frappante Ähnlichkeit beider entgehn, wenn er liest,
wie Ranke in seiner Geschichte der Päpste die Fahnenwacht beschreibt, die
Ignaz auf dem Monserat abgehalten hat, ehe er nach Manresa ging. Ist
nun eine solche Persönlichkeit von vornherein nicht isoliert zu denken, so ist
ja eben schon gesagt worden, daß sie ein Produkt des damaligen spanischen
Volksgeistes war, der sich übrigens bis heute nicht wesentlich geändert zu
haben scheint. In der Tat sehen wir Loyola von vielen ähnlichen Gestalten
umgeben, die seine Wirkung verstärkten.
Die bedeutendste darunter ist Teresa de Cepeda y Ahumada, die sich als
Nonne Teresa de Jesus*) genannt hat. Sie wurde 1515 als das sechste von
den zwölf Kindern des Ritters Cepeda zu Avila in Altkastilien geboren. Von
ihren sehr frommen Eltern erbten diese Kinder eine schwärmerische Frömmig¬
keit, und sehr jung entwarf Teresa mit einem ihrer Brüder abenteuerliche
Pläne. Vierzehnjährig, verfiel sie auf das Lesen von Ritterromanen, wurde
kokett und benahm sich im Verkehr mit jungen Männern so, daß ihr Vater
es geraten fand, sie zur Erziehung in ein Kloster zu schicken. Nicht dieses
jedoch, sondern erst eine schwere Krankheit bekehrte sie und bestimmte sie,
nach zweijährigem Aufenthalt im Elternhause gegen den Willen des Vaters
heimlich in das Kloster der Karmelitinnen einzutreten; zugleich entfloh ihr
Bruder Antonio in ein Männerkloster. Der Vater gab nachträglich seine
Einwilligung und nahm sie, als ihr die Abtötungen des Noviziats eine neue
schwere Erkrankung zugezogen hatten, wieder in sein Haus auf. In einem
Kurort verschlimmerten ungeschickte Ärzte ihren Zustand dermaßen, daß sie,
nach Hause zurückgekehrt, vier Tage lang in einer starrkrampfühnlichen Ohr-
macht lag, und daß schon die Anstalten zu ihrer Beerdigung getroffen wurden.
Aber sie erwachte aus ihrer Betäubung, legte eine Generalbeichte ab, mit der
ihr innerliches Leben begann, und hatte damit auch die leibliche Krisis über¬
standen. Das geschah im Jahre 1536. Sie verlangte ins Kloster zurück¬
gebracht zu werden — „zusammengeschrumpft, nur einen Finger der rechten
Hand zu rühren fähig, in einem Leintuch getragen, weil ihr jede Berührung
Schmerz verursachte", wurde sie übergeführt —, wo sie noch acht Monate
festlag, dann mit Gehversuchen auf allen vieren begann; erst nach drei Jahren
konnte sie sich wieder frei bewegen. Mit Magenschwäche, Neigung zum Er¬
brechen und „Getöse" im Kopfe blieb sie zeitlebens behaftet. Ihr inneres
Leben nun entwickelte sich unter der Leitung ihrer geistlichen Führer, als
welche ihr aber nicht ihre Beichtväter dienten, von denen sie viel aufzustehn
hatte, sondern asketisch-mystische Schriften, über die in diesen Schriften be¬
schrieben Stufen hinweg zur Höhe. Sie hat diese Stufen selbst in ihren
Werken nach ihren eignen Erfahrungen noch einmal beschrieben und eine genaue
Terminologie eingeführt. Das Originellste an ihrer Darstellung sind einerseits
die Bilder, mit denen sie die innern Vorgänge veranschaulicht, andrerseits die
genaue Beschreibung ihrer ekstatischen Zustände. Sie vergleicht die ver¬
schieben Stadien des Weges zu Gott mit den verschieben Arten der Be¬
wässerung eines Gartens. Gleich einem Gärtner, der jeden Eurer Wasser
mit der Hand aus dem tiefen Brunnen schöpfen muß, hat der Anfänger auf
der ersten Stufe des Herzensgebets, des betrachtenden Gebets, schwere Arbeit;
er muß Meditationsstoff herbeischaffen, ihn in anstrengender Verstandestätigkeit
verarbeiten und hat dabei gegen Zerstreuungen anzukämpfen. Auf der zweiten
und der dritten Stufe, beim Gebet der Ruhe und dem der Vereinigung, bringt
die zu Hilfe kommende, Frieden und Wonne spendende Gnade große Er¬
leichterung. Auf der zweiten Stufe besorgt eine Maschinerie das Schöpfen,
auf der dritten wird der Garten mittelst kleiner Gräben bewässert, die jedes
Beet um- und durchziehen. Auf der vierten Stufe, in der Entzückung, verhält
sich die Seele vollkommen passiv; sie hat da nichts mehr zu tun und kann
nichts tun; das himmlische Wasser fällt in Strömen auf sie hernieder. In
der Seelenburg beschreibt sie die Seele als einen von sieben Höfen umgebnen
Palast, die Vervollkommnung der Seele als den unter allerlei Kampf mit
wüstem Getier anfangs sehr mühselig vollzognen Fortschritt aus den äußern
w die innern Höfe und schließlichen Eintritt in den von Gott mit Licht er¬
füllten Zentralraum. Des scheinbaren Widerspruchs, der darin liegt, daß die
Seele in der Seele, also in sich selbst, eine Wandrung unternehmen solle, ist
sie sich wohl bewußt; aber es sei nun einmal so, Wenn man „Seele" spricht,
müsse man sich eine Weite, eine Fülle vorstellen, ein Gebäude mit unzähligen
Gemächern, die alle aus dem Zentralraume ihr Licht empfangen. Und wenn
sie erfahren hätte, daß dreihundert Jahre nach ihr die Weltweisen finden
würden, durch das kopernikanische System sei Gott unterstandslos geworden.
so Würde sie herzlich gelacht haben, denn sie lachte oft und gern und verstand
das Spaßhafte jeder komischen Situation. Gott wohnt ja, hat sie oft hervor¬
gehoben, in der Menschenseele, und wo Gott ist, da ist der ganze Himmel,
und die Seele hat vollkommen Raum für diesen. Eines ihrer Gedichte
glossiert den Zweizeiler: „O Seele, suche dich in Mir, und Mich such nirgends
als in dir." Den Zuruf: suche dich in Mir, hatte sie einmal innerlich ver¬
nommen und teilte das als ein Geheimnis ihrem Bruder Lorenzo mit.
Was dann die Ekstase» betrifft, so lehrt sie, es bestehe eigentlich kein
wesentlicher Unterschied zwischen der auf der dritten Stufe schon erlangten
Vereinigung mit Gott und der Verzückung, die sie als vierte Stufe bezeichnet,
aber der Unterschied des Grades sei so bedeutend wie der zwischen einem
kleinen und einem großen Feuer; jenes vermöge nur sehr langsam, dieses
im Nu ein Stück Eisen in Glut zu versetzen. Die liebende Seele gleiche
einem Vöglein, das von Zweig zu Zweig aufwärts strebt, bis der Herr es
nimmt, es ins Nest setzt und ihm die Ruhe gönnt. Dort „fühlt sie mit un¬
gemein lebhafter und süßer Freude, wie mehr und mehr ihre leiblichen Kräfte
nachlassen, der Atem ausgeht, und sie in eine selige Ohnmacht versinkt. Sie
kann ohne Anstrengung nicht einmal die Hand regen; die Augen schließen sich
von selbst, und wollte man sie offen halten, würde man dennoch so gut wie
nichts sehen. Sie kann nicht lesen. Buchstaben erkennt sie, doch nicht den
Sinn, den Zusammenhang; der ordnende Verstand ist anderwärts beschäftigt.
Ihre Sinne dienen ihr also nicht mehr; ja sie stören die Seele im Genuß
reiner Wonne und hemmen ihn. Umsonst würde sie versuchen zu reden; sie
vermag nicht Worte zu finden und hat nicht die Kraft, solche auszusprechen.
Je mehr alle äußern Kräfte nachlassen, desto mehr nehmen die innern zu,
desto größer wird ihre selige Wonne. Auch nach außen hin gibt sich die
hohe Freude zu erkennen, die sie genießt." Wer sie gekostet hat, und wer
erfahren hat, daß sie endloser Steigerung fähig ist, der würde gern im irdischen
Leben alle erdenkbaren Martern erdulden, wenn er wüßte, daß er dadurch
seine dauernde Seligkeit im Himmel um einen Grad erhöhen könnte. Der
Gesundheit schade dieser Zustand niemals. Erleide man ihn während einer
Krankheit, so fühle man sich nach dem Erwachen aus ihm besser. Er dauert
niemals lange, höchstens eine halbe Stunde. (Viele Nonnen hatten stunden¬
lang währende Ohnmachten, die sie für Ekstasen hielten. Teresa schreibt in
ihren Anweisungen, das seien keine Ekstasen, sondern entweder wirkliche Ohn¬
machten infolge von Krankheit oder übermäßigem Fasten, oder es sei ein
Schwelgen in angenehmen Phantasien; die Oberinnen sollten dergleichen Ohn¬
machten nicht dulden.) „Der Wille hält die Vereinigung mit Gott am ent¬
schiedensten fest, während Verstand und Gedächtnis sich recht bald wieder
selbständig regen und unruhig werden. Dann muß der Wille, der in der
Ruhe ist, sie wieder sanft zurück und in die Gebundenheit hineinführen. Da
verbleiben sie ein Weilchen und beginnen dann wieder ihre natürlichen Lebens-
äußerungen." Mit solchen Unterbrechungen könne sich der ekstatische Zustand
allerdings stundenlang hinziehen, aber die völlige Gebundenheit, die eigentliche
Verzückung sei immer von kurzer Dauer. Höre sie auf, so erlangten die
leiblichen und die Seelenkräfte nicht sofort wieder ihre volle Leistungsfähigkeit,
sondern blieben noch stundenlang in einem süßen Rausche. Anderwärts spricht
sie von den süßen Schmerzen und peinvollen Wonnen der Ekstase, von der
Lanze mit glühender Spitze, mit der ein Seraph sie durchbohrt habe. Ihre
ersten Beichtväter erklärten diese Zustände für Teufelswerk. Erst der Jesuit
Vorgia, der spätere General des Ordens, beruhigte sie und half ihr aus
großer Not. Aber daß Verzückungen auch vor Zeugen eintraten, verursachte
ihr Pein. Sie wehrte sich aus Leibeskräften dagegen, was ihr jedoch nichts
nützte, sondern nur ihre Pein erhöhte. Der Wille sei der ihn ergreifenden
Kraft Gottes gegenüber so ohnmächtig wie der Strohhalm, wenn er vom
Bernstein angezogen wird, oder die abgeschossene Kugel. Lebensgefährlich
nennt sie einmal die Ekstasen; im ersten Moment werde sie von Schrecken
ergriffen und müsse schreien. Ganz besonders unangenehm war es ihr, wenn
sie sich, was einigemal geschah - einmal in der Kirche bei der Vorbereitung
auf die Kommunion -. in die Höhe gehoben fühlte, sodaß sie den Boden acht
mehr berührte. (Wie das zu erklären sei. darüber ist im 7. Heft S. 325 eme
Vermutung aufgestellt worden.) Auch schärft sie ihren Nonnen ein. sie sollten
dergleichen Zustände nicht etwa verlangen, erstreben, von Gott erbitten, herbei¬
zuführen sich bemühen. Sie seien keine Leistungen der Frömmigkeit, sondern
reine Gnadengeschenke Gottes, zu deren Erlangung man nichts tun könne
und auch nichts tun dürfe. Ja sie seien nicht einmal ein Beweis besonders
hoher Vollkommenheit oder auch nnr des erlangten Gnadenzustandes. Einem.
der wissentlich im Zustande der Todsünde lebe, würden sie freilich wohl kaum
Zuken werden, aber daß sie einer erlebe, der sich unwissentlich in diesem
schlimmen Zustande befinde, das könne vorkommen. Was der Mensch, der
nach Vollkommenheit strebt, wünschen und wollen müsse, das sei einzig und
allein die vollkommne Vereinigung seines Willens mit dem göttlichen, sodaß
er jede, auch die kleinste Sünde meide (auf die katholische Sündenlehre kann
hier nicht eingegangen werden) und Gott durch Pflichterfüllung diene. Vor
allem solle man nicht fliegen wollen, ehe einem die Flügel gewachsen sind,
und nicht Maria spielen wollen, ehe man aus dem Marthastadium heraus
ist- Der Weg der Martha sei der sichrere und für die meisten Menschen allem
gangbare, doch sei es unrecht, solche zurückzuhalten, die Gott auf den andern
Weg rufe. Übrigens ließen sich beide Lebensweisen miteinander verbinden.
Sie habe lange Zeit alle ihre äußern Obliegenheiten auf das genaueste ver¬
richtet und doch keinen Augenblick ihre Vereinigung mit Gott unterbrochen
gefühlt, die dann natürlich nicht ekstatischer Natur gewesen sei. Sie habe
gewissermaßen zwei Seelen gehabt, die verschieden beschäftigt gewesen seien.
Das möge wie Unsinn klingen, aber sie könne es nicht anders sagen. Es
^
würde ja auch wohl Vermessenheit sein, wenn sie all das Wunderbare, das
in der so sehr komplizierten Menschenseele vorgeht, erklären wollte, sie, die
nicht einmal Philosophie studiert habe. Daß sie dies nicht habe tun können,
und darum über ihre innern Erfahrungen, die sie aus Gehorsam gegen ihre
Beichtvater aufschreibt, nur in sehr unvollkommner Form berichten könne,
bedauert sie; wie sie denn überhaupt manchmal bedauert, daß sie kein Mann
geworden ist und nicht als Mann wirken kann, sondern zu den Weibern
gehört, die nur beten können und zu sonst nichts taugen, und sie möchte auch
ihre geistlichen Töchter zu tapfern Männern erziehen. Was nun den Inhalt
der Offenbarungen betrifft, die ihr in ihren Entzückungen zuteil werden, so
beschränken sie sich auf Weisungen über den einzuschlagenden Weg — ge¬
wöhnlich besagen sie dann, daß sie tun soll, was sie sich vorgenommen hat,
ohne sich durch Einreden beirren zu lassen — und auf Vergewisferungen
ihres Glaubens. Die Worte, die sie vernimmt, hört sie nicht, sie wird ihrer
auf eine unbegreifliche und unbeschreibliche Weise inne. Und die Nähe Jesu,
ja aller drei göttlichen Personen, fühlt sie, ohne äußerlich oder innerlich irgend
etwas zu schauen. Visionen von Jesus, von Heiligen und von Engeln kommen
vor (Visionen von Gott Vater und dem Heiligen Geist sind selbstverständlich
nicht möglich), aber sie sind selten, und sie sind nicht wesentlich für die innere
Gewißheit, die ihr ohne Vermittlung der Sinne und der Phantasie zuteil
wird. Sie unterscheidet dieses Wahrnehmen auf das bestimmteste und ent¬
schiedenste von Phantasiebildern, die, wie sie sagt, auch vom Menschen selbst
und vom Teufel erzeugt werden können; das, was sie wahrnimmt, könne
weder der Mensch noch der Teufel machen. Als Kriterien zur Unterscheidung
göttlicher von teuflischen Eingebungen stellt sie auf: was gegen den katholischen
Glauben und gegen das Sittengesetz verstoße, das könne nicht von Gott
kommen; fühle sich die Seele durch innerlich vernommne Worte zur Ver¬
letzung des Glaubens oder der Sitten versucht, so brauche sie keinen Beicht¬
vater und keine Gelehrten zu befragen: der ungöttliche Ursprung einer solchen
vermeintlichen Offenbarung stehe von vornherein fest. Das zweite der beiden
Kriterien, die sittlichen Wirkungen, lassen wir selbstverständlich gelten. Theresen
verbürgte es den göttlichen Ursprung ihrer Ekstasen, daß sie sich nach jeder
solchen heiter, ruhig, demütig, menschenfreundlich, zu jeder Pflichterfüllung
aufgelegt, von allem sündhaften angewidert fand. Ein paarmal hat sie anch
den Teufel gesehen — nicht oft —, sich jedoch vor ihm nicht gefürchtet,
sondern ihn mit Weihwasser verjagt; er sei ein feiger Gesell, der vor Mutigen
Reißaus nehme. Und zweimal ist sie in der Hölle gewesen. Das einemal
ist sie durch einen engen, mit stinkendem Unrat angefüllten Gang in die Zelle
gelangt, die ihr, falls sie verloren ginge, bestimmt war. Dort hat sie, obwohl
in tiefem Dunkel, ein seelisch-leibliches Feuer und im Gedanken an die ewige
Dauer dieses Zustandes eine Angst ausgestanden, mit der keine der von ihr
in Krankheiten erduldeten Qualen auch nur im entferntesten zu vergleichen
sei. Offenbar ein Angsttraum, dem ihr Kirchenglaube den Phantasiestoff und
ihr feines Nervensystm die Intensität gab. Es ist ein schönes Zeugnis für
den edeln Sinn und die reine Phantasie der Heiligen, daß sie nicht Henker¬
szenen beschreibt, die ihr doch im Lande der Inquisition und im Zeitalter der
greuelvollsten Justiz näher lagen, als sie dem Dichter der Hölle gelegen haben
mögen. Das zweitemal, wo sie, ohne selbst gepeinigt zu werden, nur andre
leiden sah, steigerte die Vision ihre Liebe zu den Seelen und ihr Verlangen,
sie vor der ewigen Pein zu bewahren; besonders mit den unglücklichen
Lutheranern und den armen Heiden in Judien empfindet sie herzliches Mit¬
leid. Eine andre Nonne, von der sie erzählt, hatte einmal erfahren, daß
andern Tags einige Verurteilte verbrannt werden sollten, die verstockt blieben.
Sie bat Gott, diese Unglücklichen zur Reue zu erwecken, und dafür ihr die
ärgsten leiblichen Qualen aufzuerlegen. Ihr Gebet wurde erhört. Die Ver¬
brecher starben bußfertig, sie aber fiel in eine Krankheit, die jahrelang bis zu
ihrem Tode dauerte und schreckliche Schmerzen verursachte.e
So bereit Teresa auch war. ihre äußern Pflichten zu erfüllen, bereitet
ihr dennoch die Rückkehr aus der Ekstase in die „traurige Komödie des Lebens"
jedesmal Schmerz; als eine Pein empfand sie die Notwendigkeit. Nahrung zu
sich zu nehmen, zu schlafe» und so viele weltliche Geschäfte besorgen zu müssen,
besonders so lästige wie die Geldgeschäfte und die ewige Briefschreiberei, für die
sie. wenn sie die Geduld verliert, auch manchmal den Teufel verantwortlich
macht. Diese vielen Geschäfte zog ihr die Klosterreform zu, die sie unternahm.
Wie das so zu gehn pflegt, die Karmeliter und Karmelitinnen waren von der
Strenge ihrer Ordensregel abgewichen, und Teresa fand, das Leben, das die
Mönche und Nonnen des Ordens führten, sei weit schlimmer als das weltliche
Leben. „Wollten die Eltern, schreibt sie in ihrer Biographie, meinen Rat an¬
nehmen, so würden sie trotz allen Gefahren der Welt schon im Interesse ihrer
eignen Ehre ihre Töchter lieber - sei es auch tief unter ihrem Range - ver¬
heiraten oder in ihrem Hause behalten, als sie in ein Kloster mit laxer Disziplin
treten lassen, es sei denn, daß sie so gut geartet wären, daß sie sich auch unter
höchst ungünstigen Verhältnissen zu halten vermöchten. Führen sich Mädchen im
elterlichen Hanse schlecht auf, so wird dies viel früher entdeckt als im Kloster,
wo sie ihre Ausschreitungen lange verbergen können, bis der Herr sie endlich
doch an den Tag bringt. Aber dann haben sie bereits nicht nur sich selbst,
sondern auch andern den empfindlichsten Schaden zugefügt. Die Ärmsten selbst
haben ja am Ende nicht die größte Schuld; sie gehn nur auf dem Wege fort,
der ihnen im Kloster gewiesen wird." Ermuntert durch das Beispiel und den
Rat des großen Asketen Peter von Alcantara. der den Franziskanerorden
reformiert hatte, und den sie 1560 persönlich kennen lernte, schritt sie zur Reform
ihres eignen Ordens. Sie stiftete ein Klösterchen zu Avila. in dem sich wemge
°rue Jungfrauen zur Beobachtung der ursprünglichen strengen und von ehr
noch durch Geißelungen und Versagung der Fußbekleidung verschärften Regel
verpflichteten. Ganz barfuß sollten nur die Männer gehn, die Frauen durften
Sandalen tragen. Die Karmeliter der strengen Observanz, die sich im Fortgang
der Reform als ein besondrer Orden konstituierten, nannten sich darum unbeschuhte
(äisoalvsati). Für die Gründung von Männerklöstern bot sich ihr Johann vom
Kreuz als Gehilfe an, der jünger und im geistlichen Leben ihr Schüler war,
von dem sie sich aber in den theologischen Wissenschaften unterrichten ließ. Daß
sie auf gänzlicher Armut bestand — ihre Nonnen sollten bloß von Almosen
und etwaigem Ertrag ihrer Handarbeit leben —, bereitete ihr gleich im Anfang
Schwierigkeiten; die Bürger fürchteten, daß ihnen diese Klosterleute zur Last
fallen würden. Auch die Gründung von Jesuitenkollegien erregte aus diesem
Grunde manchmal Unruhen, wie man aus Briefen Theresens erfährt; die Spanier
sind also damals noch nicht so bigott gewesen wie später. Teresa sah sich
genötigt, den Grundsatz der vollkommnen Armut aufzugeben und zu gestatten,
daß die Existenz der Klöster durch Schenkungen und durch die von wohlhabenden
Novizen mitgebrachten Kapitalien gesichert wurde. Daß die Brüder und Schwestern
von der mildern Observanz, für die in der Reform ein Vorwurf und eine Gefahr
lag, ihr nicht freundlich gesinnt sein konnten, versteht sich von selbst, und Teresas
Verfahren und Benehmen war nicht geeignet, sie und die geistlichen und welt¬
lichen Behörden, die von ihnen gewonnen wurden, zu versöhnen. Sie reiste in
ganz Spanien herum, gründete nach und nach über dreißig Klöster, machte sich
wenig aus Einsprüchen, Verboten und Exkommunikationen und liebte es, dans
aooomrM zu schaffen. Sie ließ nicht neue Häuser bauen, sondern kaufte Bürger¬
häuser, und um die Machinationen der Gegner zu vereiteln und zukünftigen
vorzubeugen, pflegte sie die Verhandlungen mit den Hausbesitzern geheim zu
halten und durch rasche, womöglich nächtliche Besitznahme alle Weiterungen
abzuschneiden. „Läßt man sich erst darauf ein, Gutachten zu sammeln, so bringt
der böse Feind alles in Verwirrung." Leute, die ebenso entschlossen sind wie sie
selbst, machen ihr Freude; furchtsame, bedächtige und unentschlossene bereiten ihr
Unbehagen. Von einer solchen nächtlichen Okkupation in Medina del Campo
erzählt sie, Gottes Barmherzigkeit habe es gefügt, daß ihnen keiner von den
Stieren begegnet sei, die für den Kampf des nächsten Tages in die Arena
geführt wurden. Die Einrichtung war natürlich im Anfang immer sehr dürftig,
was ja dem Ordensgeiste entsprach; je kümmerlicher sich die Nonnen behelfen
mußten, desto mehr freuten sie sich. Einmal brachte der bei der Gründung
behilfliche Bruder, weil Pünktlichkeit doch sehr wichtig sei, fünf Uhren geschleppt,
was den Nonnen großen Spaß machte. Manche der erworbnen Häuser waren
schlecht und verfallen. Da gab es viel Arbeit und Sorge wegen der Herstellung,
und in allen Fällen mußte ja manches verändert, namentlich, ein Saal zur Kirche
umgestaltet werden, und Teresa ließ es am Antreiben der Handwerker nicht
fehlen. Sie möchte nur bescheidne, womöglich ärmliche Häuser, ohne Wand¬
schmuck, freute sich aber doch, als sie in Sevilla ein sehr schönes Haus, das
zwanzigtausend Dukaten wert sei, „so gut wie umsonst" erworben hatte. Die
Lage sei vortrefflich; man werde darin die Hitze nicht spüren; der Hof sei „wie
aus Eiszucker gemacht" (also wohl mit weißem Marmor gepflastert); um den
innern Hof lägen gute Zimmer, in denen sie sich sehr wohl fühlten; sie hätten
einen reizenden Garten und prachtvolle Aussicht. Während ihre Regel den
Verkehr der Nonnen mit der Außenwelt in dem Grade beschränkt, daß nicht
bloß Tatsünden, die Anstoß geben könnten, sondern auch schon der Verdacht
solcher beinahe unmöglich gemacht erscheint, legt sie sich selbst auf ihren Reisen
gar keinen Zwang auf, wählt Neffen. Klosterbrüder, andre Herren zu Reise¬
begleitern, freut sich eines armen jungen Mannes, der sich ihr für allerlei Dienste
anbietet und sich ungemein eifrig und tauglich erweist. Sie berichtet über derlei
so unbefangen, daß man sieht, es kommt ihr gar nicht in den Sinn, daß jemand
etwas Arges darin finden könnte.rerenerdenieonin
Im Jahre 1576 entlud sich der Unwille ihg,
einzelnen Vexationen zu fühlen bekommen hatte, in einem großen Sturm, der
über drei Jahre anhielt. Sie kam darin verhältnismüßig glimpflich weg — ihr
Gehilfe Johannes hatte Hartes zu erdulden - mit Jntermeruug in einem
Kloster, das sie selbst wählen durfte; sie entschied sich für Toledo Mit welcher
Leidenschaft auf beiden Seiten gekümpft wurde, ersieht man ans folgender Szene,
die Teresa in einem Briefe an die Priorin zu Semlla schildert^ In ihrem Mutter¬
kloster zu Avila war Priorinwahl. Der Provenzal der Beschuhten am hin. die
Wahl zu leiten, und ..brachte Bannsprüche und andre Kirchenstrafen für die mit .
die Teresen wählen würden. Trotzdem stimmten fünfundfunfzig Nonnen für diese^
Bei jeder Stimme, die abgegeben wurde, „sprach der Provmzial Bann und
Ruch aus. zerklopfte und zerknitterte die Stimmzettel mit der Faust und ver¬
brannte sie" Als Teresa das schrieb, lebten die Nonnen schon vierzehn Tage
im Bann, durften keinen Gottesdienst besuchen und mit keinem Menschen sprechen.
..Was aber noch lächerlicher ist. der Provinzial berief sie am Tage nach der
Zerknitterten Wahl anderweit ^ zusammen, um eine neue Wahl vorzunehmen;
jene aber antworteten: die Wahl sei vollzogen, eine neue vorzunehmen, keine
Veranlassung." Teresa siegte zuletzt, wie es scheint, mit Hilfe Philipps des
Zweiten, an den sie sich in mehreren Briefen gewandt hatte. Die bei der
Inquisition gegen sie und ihre Gehilfen anhängig gemachten Prozesse wurden
eingestellt, der fernern Ausbreitung der Reform und der Konstituierung des
neuen Ordens keine weitern Hindernisse bereitet. Die Ekstasen haben in ihrer
letzten Lebenszeit (wie es scheint, während der ganzen Periode der Kloster¬
gründungen) aufgehört; ihre Vereinigung mit Gott war Me ruhige und habituelle
das äußere Wirken nicht hindernde, die sie als em Zweiseelenleben charakterisiert.
Sie starb auf der Rückreise von Burgos. w° sie 'hre letzte Klostergrundung
vorgenommen hatte, infolge von Erkältung und schlechter Pflege zu Alba am
4- Oktober 1582. Im Jahre 1622 wurde sie kanonisiert, und 1818 haben sie
die Cortes dem Apostel Jakobus (San Iago) als Patronin Spaniens beigesellt
Die Verdoppelung der himmlischen Patronanz hat den Spaniern nichts genutzt.
Besser wäre es gewesen, sie hätten sich die praktische Fran zum Beispiel genommen,
die ihren Nonnen einmal schreibt: Helft euch selbst, so wird Gott euch helfen.
Jene Loslösung von der Welt, die sie predigt, ist in ihren Briefen nicht
zu spüren. Sie berichtet einmal über eine „herrliche Freundschaft" mit einer
edeln Witwe; wie sie darob von ihrem Beichtvater getadelt worden sei, sie aber
geantwortet habe, ihre Freundschaften überschritten nicht die Grenzen des Er¬
laubten, warum also mit den Freunden lieblos brechen? Der Beichtvater habe
ihr jedoch geraten, diese Angelegenheit Gott zu empfehlen, da sei ihr, während
sie den Hymnus Veni ore^or Lpiriws betete, die erste Verzückung zuteil ge¬
worden, und darin habe sie die Worte vernommen: „Ich will, daß du fortan
nicht mehr mit Menschen, sondern nur noch mit Engeln verkehrst." Seitdem
sei es ihr leicht gefallen, den Verkehr mit ihren Freunden abzubrechen, und sie
empfinde besondre Liebe und Zuneigung nur noch für solche Personen, die Gott
lieben und im Gebet leben. Umgang mit andern, Verwandte und alte Freunde
nicht ausgenommen, sei ihr ein schweres Kreuz. Sei es nun, daß sie sich in dieser
Beziehung über ihr eignes Herz getäuscht hat, oder daß sie es für Pflicht der
Nächstenliebe hielt, eine Teilnahme und ein Interesse an den Schicksalen andrer
zu bezeigen, die sie nicht empfand — ihre Briefe (gesammelt und herausgegeben
sind deren 342) fließen über von solcher Teilnahme an weltlichen Dingen,
obwohl sich allerdings die größere Hälfte mit Ordensangelegenheiten und Er¬
fahrungen des innern Lebens beschäftigt. Sie hängt mit großer Liebe und
Verehrung an ihrem Vater („mit Zärtlichkeit" darf man nicht sagen, denn sie
versichert, daß sie nicht im mindesten zärtlich sei) und steht ihren Brüdern,
Schwestern und Neffen in deren weltlichen Angelegenheiten, die sie unausgesetzt
im Auge behält, mit Rat und Tat bei. Sie bittet ihren Bruder Lorenzo, einem
entgleisten Bruder, der sich ihm unausstehlich gemacht hat, ein Jahrgeld aus¬
zusetzen, und klagt sich bei dieser Gelegenheit an, daß ihre Liebe zu diesem
verunglückten Bruder so äußerst schwach sei; sie empfinde, zu ihrer großen
Betrübnis, nicht einmal den Schmerz, den sie beim Unglück eines fremden Menschen
zu empfinden verpflichtet sein würde. (Der bigotte Herausgeber Clarus nennt
diese Selbstanklage „heilige Verstellung". Die durchaus gerade, offne und
wahrhaftige Frau hat aber sicherlich nie in ihrem Leben Verstellung geübt und
würde mit einem, der ihr „heilige" Verstellung hätte anraten wollen, gründlich
abgefahren sein.) An den Bruder Lorenzo und seine Kinder hat sie zahlreiche
Briefe gerichtet. Er war sehr fromm und wählte sie zur Seelenführerin, gelobte
ihr sogar Gehorsam, was sie eine Dummheit nannte. Sie mahnte ihn, in Ab-
tötungen Maß zu halten, auf seine Gesundheit bedacht zu sein und sich namentlich
nichts am nötigen Schlaf abzubrechen. Daß er guten Schlaf habe, worüber er
klage, sei eine Gnade Gottes; alte Leute brauchten mindestens sechs Stunden
Schlaf. Ein Gutskauf verursacht ihm Besorgnis; er werde nun nicht mehr so
viel Zeit für Gebet und Betrachtung übrig haben; es würde für sein Seelenheil
vorteilhafter sein, wenn er als Rentner lebte. Sie beruhigt ihn. Auch das
Zinseneintreiben verursache viel Zeitversäumnis und dazu Ärgernis. Ein Land¬
gut bewirtschaften sei viel besser; das sei eine nützliche Beschäftigung! die darauf
und auf die Erziehung der Kinder verwandte Zeit sei nicht verloren, sondern
ebensogut angewandt, als wenn sie mit Gebet ausgefüllt wurde. Als Familien¬
haupt müsse er ein Haus machen und seine Kinder versorgen. (Einen andern
Edelmann tadelt sie. daß er, aus Besorgnis, mit seinen bescheidnen Mitteln nicht
standesgemäß auftreten zu können, auf seinem Dorfe hocken bleibt, anstatt in die
Stadt zu ziehn, wo er Schulen für seine Kinder fände.) Vor seinem Guts¬
verwalter, an dessen Ehrlichkeit sie zweifelt, warnt sie ihn. Sie freut sich über
die Verehelichungen in ihrem Verwandten- und Bekanntenkreise. Dem Bischof
von Valencia gratuliere sie zur Verlobung seiner Nichte. Daß der Bräutigam
em ültrer Mann sei, dürfe man nicht als einen Übelstand ansetzn; von ältern
Männern würden die Frauen gewöhnlich besser behandelt als von ganz jungen.
(Ihren Nonnen hält sie oft vor Augen, was es für ein Glück für sie sei. daß
sie nicht unter das Ehejoch zu kriechen brauchten.) Nach dem Tode ihres
Bruders Lorenzo schreibt sie an dessen Sohn Lorenzo. sie fühle sich jetzt sehr
vereinsamt, und spricht ihre Freude aus über die Verlobung eines andern Neffen,
dessen fünfzehnjährige Braut schön, klug und mit großen Familien verwandt sei
(sie nennt uuter andern zwei Herzöge und einen Marqms) Leider sei sie acht
reich; sie bekomme nur viertausend Dukaten mit. und da der Bräutigam ver¬
schuldet sei. würden sie schlecht durchkommen. Mehrere ihrer Verwandten haben
in Indien und Peru Vermögen gesammelt und unterstützen sie. Sie braucht
»unlieb oft Geld zu ihren Klostergründungen, obwohl einzelne ihrer Novizen
ansehnliche Summen mitbringen. Unter andermist bei Hausküufen eine Abgabe,
die Alcabala. zu entrichten. Deren Berechnung ist manchmal acht leicht aber
sie kennt sich, da sie genug Übung hat. in allen juristischen und Geschäftssachen
gut aus und ist schon eine rechte ..Schacherfrau" geworden. Manchmal muß sie
Geld leihen und wundert sich, daß sie so viel Kredit hat da sie doch keine
Sicherheit bieten könne Wenn eine Novize statt des baren Geldes Liegenschaften
abringe, ist ihr das verdrießlich wegen der Umstände, die es verursacht. Daß
sie eine Zeit lang zwei liebenswürdige Kinder bei sich haben darf, ist ihr eme
willkommne Erholung. Einer Priorin empfiehlt sie als Mittel gegen Harn¬
beschwerden getrocknete wilde Rosenäpfel l?). rät aber doch dringend den Arzt
^ befragen. Gegen Fieber hat ihr geholfen- Räucherung mit einer MiMr a.w
Haarstrang(?), Koriander, Eierschalen. Ol. Rosmarin und Lavendel Ein scherz¬
hafter Brief an eine Dame, die sich bei einem Besuch in Theresens Kloster
vergebens auf eine geistliche Unterhaltung gespitzt hatte, gibt dem Herausgeber
Anlaß zu der Bemerkung, daß Teresa solchen Unterhaltungen auszuweichen
pflegte, wenn man sie suchte (wenn sie interviewt wurde, sagen wir heute) Bei
H°fe brachte sie die Herren und Damen, die recht viel Mystik von ihr zu profitieren
gedachten, durch das Lob der schönen Straßen von Madrid aus der Fassung,
""d einen Jesuiten. der bei seinen. Besuch dreimal zu einer Erörterung der
Mystik ansetzte, behandelte sie als Luft, indem sie sich mit einem gleichzeitig
anwesenden Gutsbesitzer über landwirtschaftliche Gegenstünde unterhielt. In den
Briefen an den König ist ihre Sprache so natürlich wie in allen andern;
selbstverständlich beobachtet sie die konventionelle Form, die einfach genug ist:
„Euer Majestät unwürdige Dienerin und Untertanin Teresa von Jesus", in der
Anrede nichts als „Euer Majestät", während sie in den übrigen Briefen, auch
an ihre Verwandten, ihre jungen Neffen, nie das „Euer Gnaden" versäumt,
das die spanische Höflichkeit fordert. In einem der Briefe an den König schreibt
sie: „Die Göttliche Majestät erhalte Sie so viele Jahre, als die Christenheit
Ihrer bedarf." Gewiß originell. Charakteristisch ist eine Nachschrift in einem
Briefe an ihre Schwester Johanna. Sie legt einen Brief ihres Bruders Lorenzo
an diese bei, den sie in einer an sie gerichteten Sendung zur Weiterbeförderung
bekommen hatte. (Die Briefbeförderung war unsicher und umständlich, und Teresa
berichtet oft über die Sicherungsmaßregeln, die sie trifft.) Da bemerkt sie nun:
„Ich öffnete den beifolgenden Brief meines Bruders, um ... Nein! Ich wollte
ihn öffnen, bekam aber Gewissensbedenken. Steht etwas darin, was nicht dortige,
sondern hiesige Angelegenheiten betrifft, so benachrichtigen Sie mich!" Diese
verheiratete Schwester Johanna, schreibt sie einmal an Lorenzo, sei ein Engel;
sie selbst, Teresa, sei unter allen Geschwistern die schlechteste und böseste. Ihre
Geldklemmen entstanden einigemal daraus, daß sie Summen, die ihr später
fehlten, voreilig verwandt hatte, teils auf Almosen, teils auf Geschenke an
Gelehrte, die sie in Seelenangelegenheiten zu Rate zog; ich mache solche Ge¬
schenke, schreibt sie, „um mir diesen Herren gegenüber die Freiheit zu wahren,
ihnen meine Meinung zu sagen."
Ehe ich meine Meinung über Teresa ausspreche, will ich vorher noch etwas
von ihrem Gehilfen Johannes erzählen. Gleich diesem, hat sie auch Gedichte
hinterlassen; nicht viele, schreibt Zöckler, aber um so gehaltreichere. Die ersten
beiden Strophen der Motette an den Erlöser: 0 nsrinosurg, c^us 6xo6ä«zi3 lauten
in Diepenbrocks Übersetzung:
i cum jede Kunst im letzten Grunde Dichtung ist, dann ist Garten¬
kunst Wirklichkeit gewordne Poesie, schreibt Willi Lange in dem
Abschnitt seines Buches „Garteugestaltung der Neuzeit", der für
eine poetisch durchdachte Reform des Landschaftsgartens eintritt.
Der schöne Gedanke, der Gartenkunst einen geistigen Inhalt zu
«^ZK^iB geben der den verschiednen Neformrichtungen gemeinsam ist, steht
bei uns erst auf der Schwelle der Verwirklichung. Ihr näher ist er auf den
britischen Inseln wo sich schon eine weit zurückreicheude geschichtliche Tradition
Gartenkunst ausgebildet hat, und wo mancherlei technische Formfragen schon der
vor Jahrz Hüten ausqefochten worden sind. England besitzt neben einer sehr
reichen und gut orientierender Fachliteratur eine große Gruppe poetischer
Gartenbücher, d e sich an den Laien wenden. Zwar sprechen diese zarten Ge¬
bilde nicht .ur aroken Menge - ein wenig Natursinn geHort dazu, wenn man
ihre s lie imaufdrin^ verstehen will. Doch aus ihrer steigenden
Beliebt^ daß viele Leser den Standpunkt dieser
AuwreN^ Einsamkeit her in ruhevoller Be-
chaulichkeit Welt und Menschen betrachten, zu würdigen wissen. . . .
^
Nu d.slArnmi. aebören die feinen Bücher der Gräfin Arnim. besonders
das Ac ^ -S mit den behaglich idyllis^Schilderungen des vergessenen Gartens nahe dem Küstenwalde der Ostsee.
Zwischen des n v witterten Flieder- und Jasmmhecken Elizabeth einen einsamen
FrüMng ?r ü ^ jüngster Zeit Alfred Austins des?ost
Plauderbuch M^inZ owxters in tue ^on er.t 1 loof Macmillan. London.
in dem der Verfasser noch einmal auf ein früher gewähltes Thema zurück¬
kommt. Indessen fehlt diesen Schilderungen die ung^Mmgne Anmut des vorher¬
genannten Buches das. wenn auch schon weiten Kreisen em trauter Bekannter,
wohl verdient, sich zu den alten noch immer neue Freunde zu gewinnen.
Weniger bekannt als die durch den Tauchnch-Verlag verbreiteten Werk
..Elisabeths" dürfte ein andres Buch geworden se.n. dessen Erscheinen schon
ewige heit zurück lead ^ Laouelor in ^reaä? von Halliwell Sutcliffe (Fisher
UnZin.^!^ glückliche Junggesell dessen Arkadien in se nem heimat-
l?)en Yorkshire liegt, teilt mit Elizabeth die Freude am Weben der natu.
wie es sich aus dem kleinen Fleckchen Erde, einem väterlichen Erbe, kundtut.
Nach tu^Am A^ ist er zu dem beschaulichen Leben
seines Arkadiens nrückgekehrt. wo „Blumen des Jahres SonnenulMN sind, w
^ Zeit nicht nach geizigen Stuudeneinheiten. sondern nach Monden und
Jahreszeiten messen; und die Blumen sind die einzigen Uhren, deren man in
Arkadien bedarf" '
^, . <
^ Denn dieserEinteilung entsprechend hat man natürlich viel M - me
wehr, als sich der von einer Arbeit zur andern hastende Stadt er r°um^laßt. Man findet Muße, die Unterhaltungen der beflügelter und vierbeinigen
Bewohner Arkadiens zu beobachten, belauscht das Gespräch eines Amselpärchens,
dessen männlichem Teil bei einem allzu dreisten Raubzug in des Hausherrn
Erbsenspalier die Schwanzfedern weggeschossen worden sind, oder man beobachtet
das wunderliche Gebaren der Krähen, wie sie ihre Schildwachen ausstellen,
um in Sicherheit und Ruhe ihre wichtigen Staatsverhandlungen führen zu
können. Für so feinhörige Ohren haben auch die Waldbäume ihr eignes Lied
in jeder Jahreszeit: wenn der Wintersturm die schneebelasteten Zweige rührt,
dann rauscht der Wald schwermütigen Sang aus alter Zeit; wenn aber die
Sommerluft verträumt mit dem Blattwerk tändelt, dann erklingen im Geäst die
Liebeslieder Arkadiens.
Doch wäre es ein allzu müßiges Leben, das seine ganze Befriedigung
darin suchte, solche Laute zu deuten, die jedem Lauscher anders klingen, da ihr
tiefster Sinn dem Menschenohr verschlossen ist. Die Bewohner von Arkadien
glauben noch an das Evangelium der Arbeit im freien Felde: „Kein Mann
kann mit seinem Lebenswerk größere Ehre gewinnen als durch treue, ver¬
ständige, unentwegte Arbeit auf gutem, fruchtbarem Boden." Zwar um die
Blumen macht man sich nicht allzuviel Sorge — die bleiben der gütigen
Mutter Natur überlassen, die sie zur Freude der Menschen ins Leben rief.
Aber der Küchengarten erfordert schon ernsteres Zugreifen, und ferner warten
die Wiesen in der Üppigkeit des Frtthsommers auf den ersten Schnitt. Dann
nimmt der Gutsherr in Gesellschaft seines getreuen loin 1g,Z, der Verwalter
und Gärtner in einer Person ist, selbst die Sense auf die Schulter, und im
Morgengrauen, wenn der Tau noch schwer an den Halmen hängt, gehts
ans Werk. Drei heiße, arbeitsfrohe Tage genügen, den Wiesenbestand des
kleinen Gütchens zu mähen, denn die einst so weit ausgedehnten Ländereien
sind im Lauf der Jahrzehnte arg zusammengeschmolzen. Zwar gegen den
Schluß des Buches weiten sich die Grenzen dieses Arkadiens, auch wandert
sein Besitzer nicht mehr allein darin. Immer wieder hat er sich eingeredet,
daß die niedliche Kathi, seines Gutsnachbarn Töchterlein, noch lange nicht
erwachsen sei. Es kommt doch ein Tag, da die beiden nebeneinander auf der
„Freundschaftsbrücke" stehn, wo sich schon früher einmal ein Pärchen aus
ihren Familien zusammengefunden. Und da entdeckt Murphy, daß das Baby
als Königin in seinem Herzen regiert, und daß er sie keinem andern lassen
kann. So bleibt ihm denn nichts andres übrig, als sie selbst zu heiraten, und
er schließt seine Bekenntnisse mit der Versicherung, daß sein Arkadien noch viel
schöner geworden, seit eine junge Hausfrau darin waltet.
Wenn auch die eben besprochnen Werke dem Naturfreund manche an¬
genehme Stunde und mehr als einen schätzbaren Wink zu eignem Nutz und
Frommen bieten, so tritt doch jede absichtlich praktische Anleitung bei ihnen
hinter das belletristische Interesse zurück; hingegen ist Gertrude Jekylls „Wald
und Garten" (Julius Baedeker, Leipzig) ein Fachbuch, aber eins, das durch
seine gefällige Form und den Reichtum an künstlerischen Gedanken weit über
den Kreis der Fachleute hinaus Leser finden wird. Es liegt in einer vor¬
trefflichen deutschen Übersetzung von Gertrud von Sanden vor und besticht
gleich auf den ersten Blick durch 71 wohlgelungne Abbildungen nach Photo¬
graphien aus Mrs. Jekylls Garten.
Ein kleines Juwel in Farben und landschaftlicher Gestaltung muß dieses
Fleckchen Erde sein mit den weichen Übergängen vom gepflegten Blumengarten in
den Hain mit den breiten Graswegen und von dort in den Wald mit seinen tief-
eingeschnittnen Senkungen, vor deren urwüchsiger Schönheit die Hand des Gärtners
innehält, um nur hin und wieder dem Naturgemälde sparsame Lichter aufzusetzen.
So leuchten aus tiefem Waldesschatten Rhododendren in weißen, lila und Purpur
Nuancen hervor, von dunkeln Föhren zeichnen sich die kerzenschlanken Blüten¬
stengel des weißen Fingerhutes ab, und an schattigen Abhängen, wo kleine
Lücken im Baumbestand sind, neigen sich die dreistrahligen Sterne der nord¬
amerikanischen Waldlilie (Irillium).
Die zwölf Monate ergeben die Kapitelemteilung, in denen Mrs. Jekyll
den Leser durch ihr Besitztum führt. Nun wird man fragen: Was gibt es
denn in den toten Monaten in solchem Garten zu sehen? Darauf weiß die
Verfasserin Antworten ohne Ende. Da ist zunächst der Nußweg. dessen
Sträucher im Januar schon fingerlange Kätzchen haben, und um die Büsche
herum ist die durch sechs kalte Monate hindurch blühende Iris se^losa gepflanzt,
zu deren zartem Blütenflor sich später die Helleborus gesellen. Und auch wenn
nichts blühen würde, wären Hain und Garten schön. Genug des wintergrünen
Laubwerks tragen Stechpalme und Wacholder und das rötliche, schwingende
Schleiergewirk der Birken, die tiefen Farben der absterbenden Brombeerranken
und der teppichartiq ausgebreiteten Walderdbcerstauden bringen eine seine, warme
Abtönung in das winterliche Bild. Zudem weiß man im Sommer nie — so
schreibt die Verfasserin -, wie schön die Formen der Laubbäume eigentlich
sind. Erst im Winter, wenn die Blätter abgefallen sind, kann man sich voll
an all "der Herrlichkeit in Wuchs und Zeichnung erfreuen, dem meisterhaften
Gleichmaß an Kraft und Grazie und an der Art. wie die brntasüge Krone dem
weitreichenden Griff der Wurzeln im Boden entspricht. . . . Die Schönheit alter
Apfelbäume ist im Winter besonders auffallend, wenn ihre seltsam verschlungnen
und doch graziösen Formen, die im Frühling unter der Vlutenherrlichkeit oder
w der reichen Fülle der Herbstfrucht nicht so deutlich zutage treten, sich dem
Auge voll darbieten." ^ ^ < ,^ - -
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So schaut es im Februar aus. Doch bald darauf zeigen sich die ersten
schüchternen Sendboten des Frühlings. Im Fels garder b übt Niederes Ge¬
sträuch, in der Waldlichtung sprießen die blaulichen Blattspeere der wilden
Narzissen, und bald danach wogt die ganze Pflanzung in leuchtendem Gelb;
in leichtqeschwungnen Linien ist sie angeleg. den alten Spuren nicht mehr be-
fahrner Heideweae folgend. Und kaum lst diese Blütenpracht vergangen, so
beginnen im Birkenwäldchen die Primeln ehre zarten BüM zu entfalten, und
von nun an blüht es im Garten bis in das fernste Eckchen, bis sich das
Jahr neigt. Im Päoniengarten öffnen sich die ersten Knospen, dann breiten
Mischen Hain und Wald die Holundersträucher ihre Dolden aus, und zugleich
setzt die Hauptblüte der Rosen ein. deren Mrs Jekylls Garten eme schier un¬
erschöpfliche Menge von Arten aufzuweisen hat. Da gibt es hochstämmige mit
breiten Wipfeln von einer Elle im Durchmesser, ferner solche in Fontanenform.
am Stamme einer 25 Fuß hohen Stechpalme klettert em vunäso ^otter
hinauf und läßt seine blütenschweren Zweige tief hinabfallen. Die chnell-
wachsende Rosa xol^iMa hat sich zu einem Busch von hundert Fuß Umfang
ausgebreitet, andre ranken in hohem Bogen über Heckentoren, und so geht es
ort Blütenpracht ohne Ende, doch jede verlockende Schilderung mit nütz¬
lichen Winken über die Eigenart der verschieden Pflanzen versehen.
. Da findet sich eine genaue Beschreibung wie dle atte Mauer entstand
°uf deren oberer mit festgestampftem Humus gefüllter Mache Berbentzen. wilde
Rosen. Ribes und Ebere chen abwechselnd mit den zartern Ranken des ^illum
und andern Farnen mit breitern Wedeln wachsen, wahrend Stembrech und
allerlei den Alpen entstammende niedre Pflanzen die Steine der Seitenwände
umklammern. Auch die Pergola (Laubengang), dieses Lieblingskind des eng¬
lischen Gartens, wird ausführlich behandelt, und auch hier zeigt sich wieder der
feine Farbensinn der Verfasserin. Aus der grünen Dämmerung der Pergola
schweift der Blick des dort ausruhenden hinüber in das Licht der Rabatte mit
ihren roten und gelben Farbengluten oder, zu späterer Jahreszeit, nach den
mildern und doch noch so lebensfreudigen Blütenfarben des Asterngartens.
Ein Lebenswerk ist dieser Garten, und es ist vollkommen begreiflich, daß
eine dreißigjährige Erfahrung dazu gehört hat, ihn in so vollendeter Schönheit
erstehn zu lassen. Das Erscheinen des Buches in deutscher Sprache möchte
gerade jetzt von Wichtigkeit sein, wo in den Reihen unsrer Gartenkünstler und
Architekten ein erbitterter Kampf ausgefochten wird — hüben geometrischer
Garten, strenge Linienführung, Einheit der Farbe — drüben Einfügung in das
Landschaftsbild, harmonisches Anpassen an Bodengestaltung und weitere Um¬
gebung. Gertrude Jekylls Garten hält in glücklicher Weise die Mitte, und die
Bilder ihres „wilden Gürtnerns" dürften auch bei den begeistertsten Vorkämpfern
des Architekturgartens für schön gelten.
Noch eindrucksvoller zeigt sich die Verschmelzung der Stilarten in der
jüngst von der englischen Zeitschrift ?b.o Lwäiv zusammengestellten Separat¬
ausgabe ?d.6 (Zaräens c»k LnAlanZ, Text von Charles Holme, einer Samm¬
lung mustergiltiger Beispiele aus englischen Schloßgärten, die über den
Werdegang und den gegenwärtigen Stand der englischen Gartenkunst trefflich
orientieren.
Weitaus die meisten dieser Gärten sind nach geometrischen Zeichnungen
angelegt, und die schönsten stammen aus früherer Zeit. In ihnen hegt man noch
liebevoll die bizarr verschnittnem Hecken des alten holländischen Stils, doch
zwischen den rechtwinkligen Fliesengängen sprießen, wie zufällig, feingefiederte
Pflänzchen, und an das dunkelbelaubte Rund eines doppelkugligen Taxus schmiegt
sich ein schlanker Azaleenstrauch mit leuchtenden Blüten. Das um seiner Wasser¬
gärten willen berühmte Sedgwick Park in Sussex bewahrt noch die massigen,
palisadenartig verschnittnem Hecken; doch gerade hier ist ihr Kontrast mit der
unbewegten Wasserfläche, auf der hier eine kleine Insel weißer Mummeln schwimmt,
dort ein märchenhaftes Seetier auf einen Callabusch zuzusteuern scheint, von
hohem malerischem Reiz. Der Eindruck ist der eines Kunstwerks, das man ein
Weilchen den Händen der schaffenden Natur überlassen hat, und überall, wo
ihr die Linien zu herb, die Farben zu düster schienen, hat sie ihre Blumenkinder
dazwischen gestreut, um zu mildern, zu erhellen und zu verschönen. Natürlich
verdanken die eben genannten Gärten diese scheinbar zufälligen Schönheiten
eben auch der gärtnerischen Kunst; doch ist die Art dieses Blumenschmucks
zweifellos durch die phantastische Anmut eines verwilderten Architekturgartens
angeregt worden.
Dem, was wir Landschaftsgarten nennen, nähern sich einige sehr schöne
Beispiele von Devonshire-Gärten, wo das hüglige Terrain mit seinen mannig¬
faltigen Ausblicken die Hineinziehung der Landschaft zu fordern scheint. Hier
winden sich die Wege in freien Krümmungen, die Felsgärten folgen den natür¬
lichen Bodenwellen, und ein anmutiges Landhaus (vdaäälövvoocl) nimmt die
Formen der Schweizerhütte an — nicht ohne praktische Modifikationen. Breit
und hoch ist das Fenster des Speisezimmers, damit Licht und Luft frei herein¬
ströme, und der Blick ungehemmt über den lichten Blütenteppich schweife, der
sich in unmittelbarer Nähe ausbreitet.
Diesen hübschen Neuerungen unbeschadet hütet die englische Gartenkunst
^^-nV'^ i,.^! ^s/.n Traditionen die Statuen und Deckelvafen aus Blei. me
Wind u^d W et in Laufe 7Ähre so köstlich tönen, die kunstvoll geschmiedeten
Mtterwre die we umsponnenen gotischen Pförtchen - auch wohl hier und da.
^ er Fuß übe^P schreitet, e.n altersgraues Kreuz an einem
in^c t ^'Z. ^ ^n^lösen vor einer dunkeln Laubwand. Auch meRasenteppich ^ Bald beherrscht sie eine
ZUr7u^ Mittelpunkt/ bald steht'sie auf freiem
5Z^^t^
W^öT'sehr LMe "Rosengarten von Brought^n Castle:
Ein sinniaer Spruch für einen alten Garten, der jahraus jahrein zahlloselanger ^pruu.) ,«>- ^ . (Aescliövfe vorüberwandern sah.Schatten der lebenden
^3-»des anfangs erwähnten
d....^ ^'V^, w'^in^ denken kann ohnedeutsches Bildwerke - lebensfreudigerLeitmotiv. Nur daß Langes LeümoNve > ^ Garden. Lange stellt densind als die Sonnenuhren in den alten ^ » >
betenden Knaben auf. einen r°ten Mu ^ der ?mdit!o?leiten ^Art.den Dornauszieher in «neu Rosenhag und g , ^.^Anlagen mit Statuen^mu^ daß sie eigne WegeGartenkunst 'se es zweMos von günstige .^^^und. ihren eignen Zielenzu wandeln trachtet und das gute Ane, vu» >
is wir in Leipzig ankamen, sagte man uns. daß an dem Fahrgeld
wo^M rk sidem M°n erlaubte uns nicht in den Zug zu steige»
und wir wußten nicht, was wir mengen sollten da ich kein andres
Geld mehr hatte als das für die Reise bestimmte
Als der Ta anbrach, war ich zu einem Entschluß ge omnem ; ich
nahm !wo Mark aus dem Kuvert, das das Geld für die Seefahrt
enthielt, nahm Billets und erreichte s° das Ende unsrer L^Als wir an das Schiff kamen, brachte mau uns dort in einer Ar on Schupp u
unter, als ob wir Vieh gewesen wären. Einer der mit K°zeli°s Verbünde en - denn
ein Arm relate über Europa - rief uns in ein Bureau und fragte mich: Wieviel
Geld^den S e/ Ich M das in den Kuverts befindlich Geld v°r i in in.
den Tisch. Da sagte er da fehlten zwölf Mark daran; Kazelias habe i^d°ß ich eine bestimmt Summe bringen würde und die hätte ich n ehe.
Sie können diese Nacht an Bord bleiben. Aber morgen früh gehn S.e
Zurück. So nützte er meine Unwissenheit ans. denn in Wahrheit habe ich °n °Um
Stationen mehr gezahlt, als das richtige Fahrgeld betrug. Ich wußte nicht, welche
Macht er hatte. Jeder Beamte erregte unsre Furcht. Wir verlebten eine trost¬
lose Nacht.
Am andern Morgen bat ich flehentlich, doch meinen Tallis und Tephillin
(meinen Gebetschal und meine Amulette) anstatt der zwölf Mark in Zahlung zu
nehmen. Er aber sagte: Für die habe ich keine Verwendung, Sie müssen zurück¬
gehen. Mit Mühe erhielt ich die Erlaubnis, einen Gang in die Stadt machen zu
dürfen. Ich nahm Tallis und Thephillin und ging damit in die Schul (die
Synagoge) und versuchte dort, irgendwen durch meine Bitten zu bewegen, mir
die Sachen abzukaufen. Aber es fand sich ein edler Mann, der den Handel nicht
gestatten wollte. Er gab mir ohne Zögern zwölf Mark. Ich bat ihn, mir seine
Adresse mitzuteilen, damit ich ihm später das Geld zurückerstatten könne, er aber
sagte: Ich begehre weder Dank noch eine Zurückerstattung dieses Geldes. So
gelang es mir, das für die Überfahrt fehlende Geld beizubringen.
Wir schifften uns also ein, und zwar ohne auch nur noch einen Heller oder
einen Bissen Brot zu haben. Wir kamen um neun Uhr morgens in London an,
ohne Geld und Gepäck, während ich darauf gerechnet hatte, wenigstens 150 Rubel
und unsre Kleider und Haushaltungssachen mitzubringen. Ich hatte jedoch die
Adresse eines guten Freundes, und wir machten uns sofort auf den Weg, ihn auf¬
zusuchen, aber als wir die angegebne Wohnung erreichten, hieß es, daß er London
verlassen und nach Amerika gegangen wäre. Wir wanderten den ganzen Tag bis
um acht Uhr abends verzweifelnd in den Straßen Londons umher. Die Kinder
vermochten es kaum, sich weiter zu schleppen, so hungrig und müde waren sie.
Endlich setzten wir uns erschöpft auf die Stufen eines Hauses in Wellclose-Square.
Ich blickte um mich und entdeckte ein Gebäude, das ich für eine Schul (Synagoge)
hielt, weil hebräische Zeichen daran waren. Ich ging darauf zu. Ein alter Jude
mit langem grauem Bart kam auf mich zu und fing eine Unterhaltung mit mir
an. Aber ich verstand rasch, was für eine Art von Mensch er war, und wandte
mich von ihm ab. Dieser Meshummod (bekehrte Jude) ließ jedoch nicht nach und
drängte mich, seine Hilfe anzunehmen, er bot mir an, meine Familie mit Essen
und Trinken zu versorgen und mir in London weiter zu helfen. Ich aber sagte:
Ich begehre nichts von Ihnen und wünsche nicht mit Ihnen bekannt zu werden.
Ich ging dann zu meiner Familie zurück. Die Kinder saßen und schrien nach
Brot. Sie erregten die Aufmerksamkeit eines Mannes namens Baruch Zezcmgski
(25 ship-Allee), der ging weg und kehrte mit Brot und Fisch zurück. Als die
Kinder das sahen, war ihre Freude groß, sie erfaßten die Hand des Mannes und
küßten sie. Unterdessen brach die Dämmerung herein, und wir wußten nicht, wo
wir eine Unterkunft für die Nacht finden sollten. Ich bat also den Mann, uns
doch dazu zu verhelfen. Er führte uns zu einem Keller in ship-Allee. Es war
vollständig dunkel. Man sagt, daß es eine Hölle gibt. Ob dies so ist oder nicht,
jedenfalls haben wir in der Nacht, die wir an diesem Orte verlebten, mehr als
Höllenqual erlitten. Es schien, als ob sich die scheußlichsten Geschöpfe dort ver¬
sammelt hatten. Wir saßen die ganze Nacht und suchten das Ungeziefer von uns
wegzufangen. Nach langen, qualvollen Stunden, die uns wie Jahre vorkamen,
dämmerte endlich der Tag. Am Morgen erschien der Wirt und forderte einen
Schilling Logisgeld. Ich hatte keinen Pfennig mehr, aber ich gab ihm eine lederne
Tasche für das Nachtquartier und bat ihn dann, mir doch ein kleines Zimmer im
Hause zu überlassen. Er vermietete mir darauf ein ganz kleines Hinterzimmerchen
ganz oben im Hause zum Preise von dreieinhalb Schilling die Woche. Er verließ
sich darauf, daß wir die Miete von mitleidigen Glaubensgenossen zusammenerbitten
würden, . ,
Wir waren froh, eine Unterkunft gefunden zu haben, und setzten uns auf den
Fußboden des ganz leeren, unmöblierten Zimmers. Wir blieben den ganzen Tag
ohne Brot. Die Kinder bekamen ab und zu eine trockne Kruste von den andern
Mietern, aber sie weinten doch tagsüber vor Hunger und abends wieder, weil sie
nichts hatten, um darauf zu schlafen. Ich fragte unsern Wirt, ob er mir nicht an¬
geben könne, wie ich es anstellen solle, Arbeit zu finden. Er sagte, er wolle sehen,
was er für mich tun könne. Am nächsten Tag ging er aus und kam mit einem
großen Haufen Wäsche zurück, der gewaschen werden sollte. Die Familie machte
sich sofort an die Arbeit, und ich bin sicher, meine Frau wusch die Sachen nicht
nur mit Wasser, sondern auch mit Tränen. O Kazelias! Wir wuschen die ganze
Woche über, der Wirt besorgte uns jeden Tag Brot und neue Arbeit. Am Ende
der Woche sagte er: Ihr habt eure Miete abverdient und braucht mir nichts zu
bezahlen. Ich denke, daß wir das getan haben.
Meine älteste Tochter war glücklich genug, bei einem Schneider eine Stellung
zu finden, wo sie wöchentlich vier Schilling bekam. Die andern suchten sich durch
Waschen und Putzen etwas zu verdienen. Auf diese Weise gelang es. uns not¬
dürftig durchzuringen und jeden Samstag unsre Miete zu bezahlen. Indessen
lebten wir nur von Wasser und Brot. Dann aber kamen die Ferien meine Tochter
wurde entlassen. Man sprach von einer Sauregurkenzeit. ich verstand das nicht
und fragte meine Tochter, was damit gemeint werde Sie erklärte, das es schlechten,
flauen Geschäftsgang bedeute. Sie konnte keine Arbeit bekommen Was sollte ich
"tho anfang n? Ich hatte kein Geld zum Leben. Die Kinder sehnen nach Brot
und nach Betten und Decken. So ging es bis zum No es Haschonoh (dem neuen
Jahre), wir hofften, daß wirklich ein neues, besseres Jahr für uns anbrechen wurde
Es war am Erco Yontow (dem Tage vor dem Feste) wir konnten keine
Wäsche zu waschen bekommen. Wir kämpften verzweifelnd an Hunger und Frost.
D° kam der Hauswirt zu uns herein. Schämen S e sich nicht, sagte er zu mir
'ehen Sie denn nicht, daß Ihre Kinder kaum mehr Kraft zum Kben haben?
Warum haben Sie kein Mitleid mit den armen Klewn? Gehn Sie nach dem
Armenkomitee, dort wird man Ihnen helfen. Glauben Sie es nur ich Ware lieber
gestorben. Aber meine Kleinen hungerten, und Ar Weinen zerriß "Ur das Herz
S° ging ich wirklich zu einem Armenkomitee. Ich sagte weinend- Meine Kinder
sterben, weil sie kein Brot haben. Ich kann ihre Leiden nicht mehr in ansehen.
An Herr des Vorstandes antwortete mir: Wenn das Erco Yontowfest vorüber
ist. wollen wir Sie nach Rußland zurückschicken. Aber antwortete ich. :in erdessen
müssen die Kinder etwas zu essen haben. Darauf ließ der Herr -we Glock^er-
teilen, worauf ein handfester Hausknecht, der mir wie der Todesengel selbst vorkam,
wich so fest am Arm packte, daß er noch den ganzen Tag schmerzte und .nich ohne
weiteres aus der Tür warf. Trostlos ging es davon, meme Augen waren so
v°n Tränen geblendet, daß ich meinen Weg acht sehen konnte. Es dauerte sehr
«uge. bis ich mich nach ship-Allee zurückfand. Meine Frau und meme Töchter
hatten schon aealaubt daß ich in der Verzweiflung in das Wasser gegangen wäre.
S° tränig ^ großen Versöhnungstags, wir hatten
eine Rinde Brot zu essen, um uns für die vorgeschriebnen religiösen Fasten u
stärken. Aber gerade als unser Elend den Höhepunkt erreicht hatte, kam eine in
dem neben uns liegenden Zimmer wohnende Frau zu uns und engagierte die e r-
oe ner Töchter dazu, während der Fasten, wenn sie selbst in der K.res s i hr
keines Kind zu verwahren, sie bot ihr da ur com Schilling und e^
^raus zu bezahlen. Wir waren ganz glücklich, kauften für alles G it Brot und
Mteu unsern Hunger; dann beteten wir, der Versöhnungstag möge lange dauern.
damit wir gezwungen wären zu fasten und kein Essen zu kaufen brauchten. Denn
wie der Muschik sagt: „Wenn man nicht den Mund zu stopfen hätte, könnte man
goldne Kleider tragen."
Dann ging ich in die Freischule der Juden, die als Synagoge hergerichtet
war, und verbrachte den ganzen Tage in heißem Gebete. Als ich am Abend nach
Hause zurückkehrte, saß meine Frau da und weinte. Ich fragte sie, warum sie weine.
Sie antwortete: Warum hast du mich in ein Land geführt, wo selbst das Beten
Geld kostet, wenigstens für Frauen. Ich bin den ganzen Tag von einer „Schul"
zur andern gewandert, aber man wollte mich nirgendwo hereinlassen. Endlich ging
ich zur „Schul der Söhne der Seele", wo die orthodoxen Jude» mit langen
Bärten und Ohrlocken beten, aber selbst dort wollte man mich nicht hereinlassen.
Der heidnische Polizist bat für mich und sagte ihnen: Schämt euch, daß ihr diese
arme Frau nicht hereinlassen wollt. Der Gabbai (Schatzmeister) antwortete: Wenn
man kein Geld hat, muß man zu Hause bleiben. Da sagte meine Frau weinend zu
ihm: Meine Tränen kommen über dein Haupt — und ging nach Hanse und blieb
dort und fuhr fort bitterlich zu weinen. Für eine Frau ist Jon Kippur ein
wundertätiger Tag. Meine Frau glaubt, daß ihre Gebete erhört werden, wenn
sie sich in der Synagoge ausweinen und dem Allerhöchsten ihr Leid klagen darf.
Aber dieses Vorhaben wurde vereitelt, und das war vielleicht einer der härtesten
Schläge, die sie getroffen haben, um so mehr, da es ihre Glaubensgenossen waren, die
ihr den Eingang in die Synagoge versagten — das war ihr das Bielersee. Wenn
es durch Andersgläubige geschehn wäre, dann würde sie sich mit dem Gedanken ge¬
tröstet haben: Wir sind eben im Exil. Als der erste Fasttag vorüber war, hatten
wir nur noch ein kleines Brot, um uns damit für den folgenden Hungertag zu
stärken. Dennoch und trotz aller unsrer Sorgen schliefen wir die Nacht über in
Frieden. Als wieder der elende Tag herankam, gingen meine ältern Töchter in
die Straße, um Parnoso (Arbeit) zu suchen; sie nahmen Scheuer- und Schrubb¬
arbeit an, die ihnen ungefähr einen Schilling einbrachte. Wir kauften Brot dafür
und fristeten damit unser armseliges Leben. Wenn wir ab und zu drei Schilling
für Waschen einnahmen, dann glaubten wir, reich wie Rothschild zu sein. Als
Sukkoth (das Laubhüttenfest) herankam, hatten wir jedoch weder Brot noch Arbeit,
und ich irrte den ganzen Tag in den Straßen umher, um Arbeit zu suchen. Wenn
man mich fragte, was für ein Handwerk ich verstünde, war ich natürlich gezwungen,
zu antworten, daß ich in keinem Bescheid wüßte, denn seltsamerweise halten es
die Juden in dem Teile Rußlands, aus dem ich komme, für eine Schande, Hand¬
werker zu werden, und wenn man seine Verachtung vor jemand ausdrücken will, so
sagt man zu ihm: Jeder kann es sehen, daß du von einem Handwerker abstammst.
Ich konnte Gebetrollen schreiben, verstand es, ein Wirtshaus zu führen, aber
wozu konnte mir das hier helfen? Als ich sah, daß ich nirgends Arbeit fand, ging
ich in die „Schul der Söhne der Seele". Ich setzte mich neben einen Glaubens¬
genossen, der mich freundlich anredete. Ich erzählte ihm von meiner Not. Da
sagte er: Ich will Ihnen einen Rat geben. Wenden Sie sich an unsern Rabbi.
Das ist ein edeldenkender Mann.
Ich tat es. Als ich zu ihm in das Zimmer trat, saß noch ein andrer Mann
bei ihm, der seine Lukow und Esrog (Palmzweig und Paradiesäpfel) in der
Hand hielt. Was wünschen Sie? Mein Herz war so schwer, daß ich ihm nicht
antworten konnte, aber die Tränen drängten sich mir plötzlich in die Augen. Mir
war, als müsse nun endlich die Hilfe nahe sein. Ich glaubte, daß er Teilnahme
für mich empfinden werde. Ich faßte mich und erzählte ihm, daß wir dem Ver¬
hungern nahe wären und kein Brot mehr hätten, und daß ich keine Arbeit finden
könne. Ich bat ihn, mir zu raten, was ich tun solle. Er antwortete mir mit
keiner Silbe. Er wandte sich an den andern Mann und sprach mit ihm über die
Laubhütte. Von mir nahm er nicht die geringste Notiz, er ließ mich einfach stehn,
Wo ich stand.
Da begriff ich, daß er nicht besser sei als Elzar Kazelias. Und das war ein
Rabbi! Ich begriff nun, daß ich ebensogut mit der Mauer hätte reden können,
und ich verließ das Zimmer, ohne daß er ein Wort an mich gerichtet hätte. Wie
der Muschik sagen würde: Traurig und bitter ist das Los der Armen. Es ist
besser, im dunkeln Grabe zu liegen und die Sonne nicht mehr zu sehen, als arm
und gezwungen zu sein, un, Geld zu bitten. . .
^«
Ich ging nach Hause, wo meine Familie geduldig meine Heimkehr erwartete,
in der Hoffnung, daß ich Brot mitbringen würde. Ich sagte: Guten Abend! und
weinte bitterlich denn sie sahen alle so elend aus. als ob sie sterben wollten, da
sie an jenem Tage keinen Bissen zu essen bekommen hatten
^^^
Wir versuchten zu schlafen, aber die Natur forderte ihre Rechte, der Hunger
quälte uns so, daß wir keine Ruhe fanden. Hunger, du alter Narr, warum läßt
du uns nicht schlafen? Aber er wollte nicht mit sich reden lassen. So verbrachten
wir die Nacht. Als aber der Tag kam, fingen die kleinern Kinder an zu weinen
und riefen: Vater, laß uns gehn. Wir wollen in der Straße um Brot betteln.
Wir sterben vor Hunger. Halte uns nicht zurück. . . .
„,
Als die Mutter hörte daß sie davon prachen. in der Straße zu bettet«.
wurde sie ^ Kinder in große Aufregung und Angst gerieten.
Als es uns endlich gelang, sie wieder zu sich zu bringen, machte sie uns bitterliche
Vorwürfe darüber daß wir sie zum Leben erweckt ha^
^et würde Ueber als davon zuhören, daß ihr in den Straßen
betteln ?volle
7 ehe Ä eh möchte ich meine Kinder vor Hunger sterben sehen.
Über diesen Worten vergaßen die Kinder ihren Hunger, sie setzten sich zueinander
^"""
InbenachbartenZimmer wohnte ein Mann, Gershon Kateol hieß;
°is der das Weinen meiner Kinder hörte, kam er zu "us he u in ^ .
was denn los sei. Er sah umher, begriff un,er Elend, und es ging ihm zu Herzen
Er verließ uns aber nur um sehr rasch zurückzukehren und uns Brot F's
L . Tee
und Zucker zu bringen- dann ging er wieder weg und kam nut fünf Schilling
zurück. "Er Saale- Dies leihe ich euch. SMer kam er noch einmal zurück und
duchte uoch ^ Ma in At. der Nathan Beck lM Der ließ sich unsre Ge¬
pichte erzählen und nahm dann die drei jünger» Kinder in.t sich dankt sie ur
das erste bei ihm bleibe» sollten. Als ich nachher nach ^r Se -Ge rgesstr ß
Sing, wo er wohnte, und die Kinder dort besuchen wollte, versteckten sie sich vor
wir. weil sie sürckteten bat ich sie wieder mitnehmen und den Qualen des Hungers
aussetze» >!ü^ hart für mich. in^e Kinder der Sorge el^Fremden überlassen zu müssen, und noch bitterer empfand ich es. daß sie Furcht
°uf. um zu sehen.
°b meinGep^ sei. da mir Kazelias gesagt hatte daß e
etwa in einem Monat hier sein würde. Ich zeigte meinen Pfandschein und fr g
danach. Er sagte- ^hr Gepäck wird nicht nach London kommen, sondern mir nach
Rotterdam. Wenn S e es wülischen. will ich einen Brief nach R°leer am schrei en
um mich zu erkundigen, ob es dort ist. und wieviel Geld notwendig ist um es ^
öulösen. Ich wate nu i daß ich fünfundzwanzig Rubel darauf geliehen hatte. Er
rechnete da2 aus des'es mich mit der Schiffsfracht immerhin vier Pfund S.ert.ug
und sechs Schilling kosten würde, es einzulösen. Ich bat ihn, jedenfalls zu schreiben
und nachzufragen. Einige Tage später kam ein Brief aus Rotterdam; darin stand,
daß ich ohne die Schiffsfracht dreiundachtzig Rubel (acht Pfund Sterling dreizehn
Schilling) bezahlen müsse. Als ich das erfuhr, erschrak ich sehr und schrieb sofort
an Kazelias: Warum behandeln Sie mich, als ob Sie ein Wegelagerer wären, und
verlangen dreiundachtzig Rubel für Rückgabe meines Gepäcks, da Sie mir doch
nur fünfundzwanzig Rubel darauf geliehen haben? Er antwortete: Schämen Sie
sich, mir einen solchen Brief zu schreiben. Sind Sie nicht in meinem Hause ge¬
wesen und haben gesehen, daß ich ein rechtschaffner, ehrenhafter Jude bin? Schämen
Sie sich! Solchen Leuten, wie Sie es sind, sollte man sich niemals gefällig er¬
weisen. Denken Sie vielleicht, daß es viele so gute Menschen wie Kazelias in der
Welt gibt? Ihr seid alle miteinander Dickköpfe. Ihr könnt keinen Brief lesen. Ich
habe bloß vierundfünfzig Rubel auf das Gepäck genommen, und ich mußte dann
noch etwas draufschlagen, weil ich Unkosten davou hatte, daß ich Ihnen nach London
verhalf. Ich habe meinen Verlust berechnet und nur das genommen, was mir
rechtmäßig zukommt. Ich zeigte Grumbach den Brief, und der schrieb noch einmal
nach Rotterdam; man antwortete von dort, daß sie nichts von Kazelias wüßten,
daß ich aber acht Pfund Sterling dreizehn Schilling bezahlen müßte, wenn ich
mein Bündel wieder haben wollte. Gut, was konnte ich machen? Das Wetter
wurde kälter. Daran, immer hungrig zu sein, hatten wir uns schon gewöhnt. Aber
wir konnten doch die kalten Winternächte nicht auf dem nackten Fußboden und ohne
Decken und Kissen verbringen! Ich schrieb noch einmal an Kazelias und erhielt
diesmal überhaupt keine Antwort. Tag und Nacht lief ich umher und fragte um
Rat, wie ich es anstellen solle, zu meinen Sachen zu kommen. Niemand konnte
und wollte mir helfen.
(Fortsetzung folgt)
In dieser Woche standen die heimischen Verhältnisse im Vordergrunde des
Interesses. Beim Besuche des Kaisers in Karlsruhe ist das alte schöne Verhältnis
beider Höfe anch unter dem neuen Großherzog wieder erfreulich in die Erscheinung
getreten, und dankbar hat der Kaiser des verstorbnen Großherzogs gedacht, dessen
Verdienste um die Einigung Deutschlands niemals vergessen werden können. Die
Kaiserin war vorher in Straßburg gewesen und hier mit einem Jubel empfangen
worden, der weder gemacht noch erfunden sein kann, der vielmehr wohl beweist,
daß die den neuen Verhältnissen noch widerstrebenden Kreise der „Frcmzöslinge"
nur in den höhern Schichten, den städtisch Gebildeten zu suchen sind. Hat sich doch
auch bei der Einweihung der erneuerten Hohkönigsbnrg am 13. Mai, deren mächtige
Ruinen die Gemeinde Schlettstadt demi Kaiser schenkte, ein fröhliches Volksfest mit
all deu bunten Trachten dieser Täter entwickelt, wie es mir irgendwo im innersten
Deutschland gefeiert werden konnte. Als die Wiedereroberung des Elsasses 1870
»aherückte, da mahnte Heinrich von Treitschke in seiner berühmten Flugschrift
»Was fordern wir Von Frankreich?" gegenüber der verwelschten Gegenwart des
Landes wieder anzuknüpfen an die ungleich längere und bedeutendere deutsche Ver¬
gangenheit, all die starken und tiefen Geister zu rufen, die zwischen Vogesen und
Rhein am deutschen Leben teilgenommen haben. Das hat der Kaiser getan, indem
er die Hohkönigsburg weihte; er hat sie als ein Wahrzeichen deutscher Kultur und
Macht hier im äußersten Westen des Reichs neben die Marienburg im Osten an
der Weichsel gestellt, wie sie einst entstanden ist durch jenen Schwabenherzog
Friedrich von Hohenstaufen. den Vater Kaiser Friedrich Barbarossas, der die Macht
seines Geschlechts begründete. Der Hohenzoller sah dabei „die Zeiten mittelalter¬
licher Ritterherrlichkeit" vor seinem geistigen Auge aufsteigen, wie sie dann das
bunte Bild des historischen Festzuges leibhaftig vorführte, und er bestimmte die
Burg zu einer Sammelstätte für elsässische Kulturgeschichte. Denselben historischen
Sinn hat er bewiesen bei der Enthüllung des Denkmals seines oranischen Ahnherrn
Wilhelms des Schweigers in Wiesbaden. Freilich gibt es Leute. die darin eine
bedenkliche Romantik sehen, die in seinen Worten eine Hinneigung des Kaisers zu
mittelalterlichen Ideen wittern. Es sind dieselben die im Mittelalter, von dem
sie nichts richtiges wissen, eine Zeit dumpfen Ge. esdrucks und feudaler Knechtung
des Bauernstandes sehen. Tatsächlich war das Mittelalter em sehr lebendiges trotz
"iter Asketik sinnen reudiges Zeitalter, und die Knechtung des Bauernstandes hat
erst das sechzehnte Jahrhundert, das erste der Nerz^t vollends d.e Bauer... die
den Osten jenseits der Elbe, der Saale und des Bohmerwaldes besiedelte., und
deutsch machten, die kamen als freie Männer, n.es °is Hörige oder LeibesUnd eins hatte das Mittelalter vor der Gegenwart voraus: es hatte die Ende.t
der Weltanschauung, und darum hatte es Stil, zwe Guter die w.r in unsrer
zerrissenen Z it vermissen und entbehren bis zum Verzweifeln. Der K f r se
^ das hat er bunter ach bewiesen - ein ganz moderner Mensch und gar ke.n
Romantiker a!er er Will den Zusammenhang mit der Vergangen eit nich vert.ereu.
""s der die Gegenwart und seine eigne Stellung erwachsen ist- Das eng ^Boll ist das konservativste der Welt, und es ist trotzdem oder deshalb zur ersten
Weltmacht geworden
Die feudale ständische Staatsordnung Mecklenburgs die der am 12. Mai
öffnete..Reformlandtag" durch eine „cuc modern konstit.M°nelleVerasu^ um¬
gestalten soll beruht wohl in ihren Grundlagen auf dem M.ttelalter, ist aber ein
Ergebnis erst der ständisch-territorialen Zeit, als der „Staat" »och nichts weiter
war als ein Bündel von fürstlichen Domänen Rittergütern und Städten; der
"Landesgrnndgesetzliche Erbvergleich", auf dem die gegenwärtige Verfassung be¬
ruht, stammt erst von 1755. In ihn. ist ein Zustand wie er anderwärts s h n
damals überwunden war oder wurde, gew^rmaßen versteinert und ^'"»"er stärkern Widerspruch geraten mit den Zustanden im übrigen Reiche anch
von des en moderner Gesetz ebung nur hier und da durchbrochen worden, nach em
die liberale mecklenburgi che Verfassung von 1848 in den Jahren der Reaktion
wieder aufgehoben worden war. Aber eine alte, festgewurzelte AriMratie reformwt
s'es selten von sich aus. und so hat anch hier em monarchischer W.lie den Anstoß
geben müssen
. Die Revision des sächsischen Wahlrechts scheint auf eiuen, t^en Pnnkte in.g^wgt zu sein; die Kommission hat die Gesetzvorlage ^ Regierung «
Kr einen Vorschlag entgegengesetzt, der zwar ein Plnralsysten. und ^ Vernietung
der Wahlkreise er!f 96) enthält, aber die teilweise Ergm,zung er Zoe.ten K me
durch Wahlen der Seid tverwaltuugskörper a.'sschl.eßt; Graf Hohenthal hat dagegen
erklärt, daß die Regierung auf ihrem Standpunkte stehn bleibe. Wer wird nach¬
geben? Oder soll es doch zu einer Auflösung der Kammer oder gar zu einer
Oktroyierung kommen?
In Italien ist es in mehreren Provinzen des Nordens (Parma und Piacenza)
wie des Südens (Bari) zu ausgedehnten Arbeitseinstellungen der Landarbeiter ge¬
kommen, die besondre polizeiliche und militärische Vorsichtsmaßregeln veranlaßt
haben. Die Führung liegt ja natürlich in den Händen der Sozialdemokratie,
deren linker Flügel aber ist dort gänzlich dem Anarchismus verfallen, der in Italien
nicht die unbedingte Souveränität des Individuums, sondern des Proletariats
predigt, bis zur sogenannten „Sabotage", d. h. der Zerstörung der Arbeitswerk¬
zeuge, Maschinen u. a. in., also bis zur brutalsten zivilisierten Barbarei. Dagegen
haben sich die Arbeitgeber, Pächter und Grundbesitzer zu festen Verbänden zu¬
sammengeschlossen. Da es sich gar nicht um eine Verbesserung in der Lage der
Landarbeiter handelt, sondern um die Herrschaft des Proletariats, so steht hier
lediglich eine Machtfrage zur Entscheidung, und nur eine feste Hand kann das Ärgste
verhüten. Freilich steht bei irgendwelchen Konflikten mit der Polizei die italienische
Presse größtenteils immer auf der Seite der Massen im Namen der „Freiheit", sieht
in etwaigen Verwundeten oder gar Toten nur die „Opfer" polizeilicher Willkür,
niemals Schuldige, und unterstützt die Regierung nicht, sondern lahmt sie.
In dieser Woche wird der Staatssekretär des Kolonialamts Dernburg seine
auf fünf Monate berechnete Reise nach Südafrika antreten und zunächst nach
Kapstadt gehn, um das holländisch-englische Südafrika zu studieren. Das ist der
richtige Weg. Drei Zweige der germanischen Rasse beherrschen jetzt den Süden
des Erdteils, Holländer, Briten und Deutsche. Daß sie den einheimischen Rassen
gegenüber auf sich angewiesen sind, und daß sie also miteinander, nicht gegeneinander
an dem großen, ihnen zugefallnen Kulturwerke arbeiten müssen, das ist ein Satz,
der jetzt wohl allgemeine Anerkennung gefunden hat, und den auch Dernburg in
London ausgesprochen hat, wo er zugleich das gute Wort geprägt hat: „Der Bau von
Eisenbahnen bedeutet den Bau des afrikanischen Reichs." Diese Solidarität der
Kulturvölker europäischer Gesittung hat einmal im Mittelalter bestanden, als die
christlichen Nationen des Abendlands geschlossen gegen Heiden und Mohammedaner
auftraten; seit dem sechzehnten Jahrhundert begann sie sich aufzulösen und verschwand
endlich beinahe aus dem Bewußtsein. Heute ist Ostasien erwacht, und seitdem geht
ein verstärktes Selbstbewußtsein auch durch Indien und die ganze Welt des Islams.
Das spüren die Franzosen auch in Marokko, und bei einem Fehlschlag drüben
dürfte der Funke auch nach Algier überschlagen. Denn man täusche sich nicht
darüber: die Zivilisation mit Eisenbahnen, Fabriken, Waffen und Automobilen
bringen wir den fremden Rassen, aber innerlich, in ihrer Kultur bleiben sie un¬
verändert. Gegenüber diesen, Zusammenstoß alter und mächtiger Kulturen erscheinen
alle die heimischen Parteien- und Jnteressenkämpfe kleinlich und unbedeutend; sogar
die alten europäischen Gegensätze verblassen, wo es sich um die Frage handelt, ob
die weiße Rasse, ob die christliche Kultur ihren Vorrang in der Welt behaupten
soll oder nicht; das Mahnwort unsers Kaisers lange vor der großen Entscheidung
in Ostasien: „Völker Europas, währet eure heiligsten Güter!" beginnt erst jetzt
ist in der letzten Woche ohne weitere
Erörterung angenommen worden, der Reichstag hatte nichts mehr daran zu er¬
innern. Wir haben mit unsrer Ansicht, daß die Vorlage, soweit sie Ostafrika be¬
trifft, in der bewilligten Form bedenkliche Folgen zeitigen kann, nicht hinterm Berge
gehalten. Da sich die gegen die ostafrikanische Vorlage von vielen ernst zu
nehmenden Seiten erhobnen Bedenken nicht auf vage Befürchtungen, sondern auf
offensichtliche Tatsachen gründen, so wundern wir uns immerhin, daß sich im Reichstag
neulich keine Stimme erhob. Freilich sind gerade die beiden „alten Afrikaner" im
Reichstag, von Liebert und Arning, als alte Zentralbahnfreunde bekannt, und es
war seitens des Herrn von Liebert eine anerkennenswerte Selbstverleugnung, daß
er wenigstens bei der ersten Lesung aus die Gefahr der Überflügelung durch die
englische Konkurrenz im Süden Ostafrikas hinwies. Wir haben die hier in Be¬
tracht kommenden Verhältnisse schon ausreichend dargelegt, können uns al,o hier
auf den Hinweis beschränken, daß die Frage auch einen ernsten politischen
Hintergrund hat. Das portugiesische Ostafrika ist völlig unter britischen Ein¬
fluß. Beira ist in Wirklichkeit eine englische Stadt, denn von dort geht schon
jahrelang eine englische Bahn in das englische Hinterland (Anschluß an die Rhodesia-
bahn). dasselbe ist mit Loureuzo Marquez der Fall^ Und ein großer Teil des
Landes, namentlich auch das uns benachbarte Nyassagebiet ist vorwiegend in Handen
v°n englischen Konzessionsgesellschaften. Überlassen wir durch unsre Untätigkeit im
Süden Ostafrikas den Engländern die Erschließung des Nyassagebiets durch E.se.^
bahnen. so stärken wir deren Einfluß und beschleunigen den Al.fMgungsprozeß.
Erst vör wenigen Wochen wurde in maßgebenden englischen B at ern le
Liquidation des vortuaiesischen Kolonialbe itzes gefordert, falls sich
d.-'u/
S^^n '^.'^ >!..'-- «7.°. d..-AZ«
Wirtschaftlicher Erschließunastätigkeit. Vor wenigen Jahren stritt man sich im Reichs¬
tag 'mock) Z en Vere ^ Eisenbahn Wochen arg ^.in un >loi sind
rund 1500 Kilometer fast ohne Debatte bewilligt worden Angesichts dieses Fort¬
schritts der d kühnsten ^ des verflossenen Jahres übertnf t. vertraue»
wir. daß der ^ bald auch die erwähnten Lücken ausgleichen und die
L°ut^7 n ^Kolonialsekretär hatte sich der üblichen
Ehrung . z?e e. en Aus den mehr oder minder unverbindlicher Begrnßnngs-
reden klang 7 d utliche Bestreben heraus den Ver reter unsrer koloMlen
J"teresfen ein wenig einnwickeln. Zugleich die dringende Ermahnung sich ti.
koloniale Praxis der°Engländer zum Muster zu nehmen und dle „gemeinsame
Interessen" beider Volker in Südafrika nicht zu vergessen. Gewiß wir aben
gemeinsa'in^Jn eres „.^^^^^^^^^^^^ sie auf einem andern Gebiete, als le Engländer
'"einen. Nach der oft Manischen Reise betonte Dernburg in bezug uf ti Nord
habn", er hatte es für fal et der engli chen Ugandabahn, die nun einmal den
Viktor as er es ieße K ulu r^,z zu machen Für eine» Kaufmann el.i etwas merk¬
würdiges StaVt, ^ ? xr^i noch nirgends der rewi haben
Hustens in der Richtung daß sie sich beeilen, im Süden unsrer ostafrikanischen
Kolonie die elbe lo i' ^ schaffen und das deutsche Gebiet anznzapfen. in er
Erwartung daß wir ihnen loyalerweise" auch hier keine Konkurrenz n ach n
werden. So haben wir nicht gewettet, «ut wir können erwarten des ^
^i seinen Ver andlungen mit den maßgebenden Stellen in ^
°°si nur gedankenlos hingeworfne Bemerkung n ehe in die Pr«^ »asch. Was
wir in Afrika brauchen, ist eine reie aber anständige Ko.cknrrenz. die wi . redende^
bemerkt, immer hochgehalten haben. Die gemeinsamen Interessen lieg^
Gebiete der Eingebornenpolitik und der Solidarität aller Weißen w den
Kolonien. In x^vo Eingebornenpolitik wollen wir um Gottes willen nicht die
Engländer nachahmen, und mit der Solidarität war es, wie wir leider im süd-
westafrikcmischen Aufstande spüren mußten, bei unsern Nachbarn nicht weit her.
Wenn wir von den Engländern etwas lernen können, so ist es namentlich der ihnen
eigne nationale Egoismus!
Mau spricht wieder von dem Austausch der Walfischbai gegen den Caprivi-
zipsel oder sonst etwas für die Engländer Wertvolles, das heißt, es ist wahrscheinlich,
daß darüber in London oder in Kapstadt geredet wird, denn für die Engländer
ist die Frage wichtig. Für sie ist dieser mitten im deutschen Gebiete liegende Hafen
ein teures Vergnügen, das ihnen nie etwas einbringt. Für uns ist er ebenso wertlos
und höchstens ein Schönheitsfehler auf der Karte. Wir habe» das benachbarte
Swakopmund mit teueren Geld zu unserm Ein- und Ausfuhrplatz gemacht, und
wenn wir es aufgeben wollten, so wären viele Millionen verloren. Einen Aus¬
tausch mit einem andern Gebiete, namentlich dem für uns wichtigen Caprivizipfel,
ist die Walsischbai nicht wert, und Kauf durch Bargeld erst recht nicht. Das können
wir vorest in Südwest besser verwenden. Später, wenn die Kolonie blüht und
voll entwickelt ist, läßt sich vielleicht über Luxusausgaben, wie die Beseitigung dieses
Schönheitsfehlers, reden, aber das hat noch Zeit.
Doch zurück zu näherliegenden Dingen. Dernbnrgs Reise wird der Kolonie,
Wie ziemlich sicher anzunehmen ist, eine erneute Erweiterung ihres Eisenbahnnetzes
bringen, und zwar vermutlich die allerdings dringend notwendige Süd-Nordbahn
Wiudhuk—Keetmanshoov, die gewissermaßen das Rückgrat des künftigen Eisenbahn¬
netzes der Kolonie bildet. Denn das Ziel ist der Anschluß unsrer Querbahnen an
das englisch-südafrikanische Bahnnetz und die Hereinziehung der uns benachbarten
Gebiete in den Einfluß unsrer Bahnen. Die Voraussetzung für die Erreichung
solcher Ziele ist natürlich eine vernünftige und bewegliche Tnrifpolitik, die die Aus¬
nutzung der Marktlage gestattet und der Nutzbarmachung des Landes in jeder Be¬
ziehung in die Hände arbeitet. Wenn aber zum Beispiel gegenwärtig eine Linie
so hohe Frachten für Vieh, das Vielfache der andern Linien, verlangt, daß der
Transport fast unmöglich ist, so ist dies eine Tarifpolitik, die dem Lande nichts
nützt, sondern schadet, indem sie einen Produktionszweig in der Entwicklung hemmt.
Dernburg wird sich diesen Fall näher ansehen müssen. Doch dies nur nebenbei.
An einer Reihe von Plätzen Südwests ist man unter Anleitung des eigens
dazu hinausgesaudten Oberbürgermeisters Dr. Külz dabei, die Grundlagen für die
Einführung der Selbstverwaltung zu schaffen. Es spricht für den Gemein¬
sinn der Ansiedler, daß diese Bestrebungen, obwohl sie mit manchen unter den jetzigen
Zeitläuften recht fühlbaren Opfern für diese verbunden sind, nur auf geringen
Widerstand stoßen. Es ist anzunehmen, daß Dernburg drüben sein Augenmerk
darauf richte» wird, wie die Lage der jungen Kommunen im Anfang in finanzieller
Hinsicht erleichtert werden kann.
Recht neugierig kann man sein, wie Dernburg der Eingebornenpolitik in
Südwestafrika gegenübertreten wird. Soeben erst ist die Kriegsgefangen¬
schaft der Hereros aufgehoben worden, und die in der letzten Rundschau er¬
wähnten Eingebornenverordnungen gelten jetzt auch für sie. Dernburg macht nun
kein Hehl daraus, daß er die durch diese Verordnungen charakterisierte Politik der
festen Hand als ein Übergangsstadium betrachtet. Es kommt darauf an, für wie lange
er sich dieses Übergangsstadium denkt. Aus wirtschaftlichen Gründen mag es
praktisch sein, daß die Kriegsgefangenschaft aufgehoben worden ist, obwohl eine
Reihe bandenmäßiger Widersetzlichkeiten der Hereros eigentlich nicht sonderlich dazu
ermutigt hat. Um so weniger darf aber daran gedacht werden, die von Herrn
von Lindequist eingeführte scharfe Kontrolle vor einer Reihe von Jahren aufzu¬
heben. Größerer Freiheiten müssen sich die Eingebornen erst durch mehrjähriges
Wohlverhalten und ernsthafte Mitarbeit an unsern wirtschaftlichen Bestrebungen
würdig zeigen.le»
Hoffentlich wird es Dernburg bei seinem Besuch englischen Gebiets geing,
den zunächstliegenden Mißstand zu beseitigen, nämlich jene „Geschäftsleute" unschädlich
z» machen, die durch Waffenschmuggel im Süden und Osten den Widerstand der
Hottentotten nähren. Ein zweiter Punkt wäre die gegenseitige Sicherung des Ein-
gebornenbestands. damit die Abwandlung der Hereros nach Transvaal aushört.
dieinteienderalvonNorden
Anzunehmen hiervon sind die Ovambos. sg Zh
ins Hereroland herüber zur Arbeit kommen und ein sehr wertvolles Arbeitermaterial
für die Kolonie darstellen Darum muß auch vereinzelt hervortretenden Bestrebungen,
die auf eine gewaltsame Unterwerfung dieses Stammes zielen, entschieden entgegen¬
getreten werden Wir können froh sein, wenn die Unterwerfung auf friedlichem Wege
vor sich geht und sollten uns hüten, die Leute zu vcrgrttmen. Die Ovambos sind
für uns zu wertvoll als daß wir ohne Not eine kriegerische Auseinandersetzung
heraufbeschwören sollten, die auch diesen Stamm unnötig dezimieren würde.
eitspunkte beobachtet werden, ist die
Nur wenn alle diese elementarenGsch
Gewähr geboten, daß sich die Kolonie, die am 1. ^
ihriges Bestehen seit Besitzergreifung durch Adolf Luderitz und Heinrich Vogelsang
zurückblicken kaun, einer ungestörten Entwicklung erfreuen wirdtarikauerneint
Das Verhältnis zwi eben Dernburg und den Osf sch
A) nicht bessern zu wollen. Auf beiden Seiten fallen immer noch harte Worte.
Auf ti offnen Br efe und Erklärungen der Pflanzer und Bergwerksnnteruehn.er
wollen wi nicht we ter eingehen, ebensowenig wie auf die schroffen Äußerungen
Dernburgs: x^or ind. muro. ot extra. Dagegen mochten wir darauf hin¬
weise», daß verschiedne neue Maßnahmen der Regierung acht geeignet send. unsre
Landsleute trübwerbeteuer, in der die davon
Ges
witbett^ °uf )hre Vorstöße sehen Wohl
'"it Unrecht. Ä? wir können nicht umhin. die H^anz'ehnng gerade der Pflanz^
zu dieser Steuer wenig glücklich und sachgemäß zu finden Es se n steh gewiß
anerkennenswert, daß die Verwaltung der Kowüe such ehre Einnahmen zu e-
bessern, um den ihr aus der gesteigerte» Erschüeßungstatigkeü erwachsenden Auf¬
gaben gerecht werden in können. Voll entwickelte und gut rentierende Gewerbe¬
betrieb? mZ n „h hr SÜerflein zu den Verwaltnngsansga e» des Landes bei¬
tragen, das sie ernährt Ver ruht ist es aber, daß auch die Pflanzungen durch die
Gewerbe eene '^ wu Ertrag der landwirtschaftlichen ^od>Mon
beruht vorlttufia die Wirtschaft des Landes, und der Plautagenbetneb ,se das Rück-
grat'und de^h ur ^e.. Hin.ptproduktionszweig. Nur er vermag hervor-
r?gente Produkte an deu Markt zu bringe., und durch so^anfend V stich
,e Erzei.gi.ngs- und Aufbereitungsmethoden zu verbessern ..ut damit und auf ti
Eingeboru°ut.cktnr mit d r ^eit veredelnd einzuwirken. Nun ist es el e nicht zu
leugnende Tac aß die M in Ostafrika kann erst aus dem
^um ^Ver,^ « ^"^ ^ces i^
^eS^ .L in der Entwi lung ^.ende Er¬
werbszweig durch eine Gewerbesteuer nicht umwehen l.es belastet wird, um o räh
tete Pflanzungen noch gar keinen Reingewinn abwerfen und sich se'»' t h Be-
riebs.„ndet durch die S?euer kürzen lassen müßten. Unsers Erachte s wa e es v
beruünftiger. vor ämsig die Besteuerung der Eingebornen w^ter auszubauen
wäre den. Fiskus viel besser geholfen und außerdem der Erziehung der Neger zur
Arbeit Vorschub geleistet.
Noch eine zweite Maßnahme der Regierung hat drüben böses Blut gemacht.
Dernburg ist bekanntlich kein besonders begeisterter Freund der europäischen
Besiedlung. Im Reichstag in die Enge getrieben gab er aber doch zu, daß die
Negierung der Frage Pflichtgemäß ihre Aufmerksamkeit schenken werde. Sie könne
zwar vorläufig nicht dazu ermutigen, aber wer auf eigne Gefahr komme, solle will¬
kommen sein. In der Praxis scheint man anders Verfahren zu wollen, denn im
Bezirk Muansa, der dank der englischen Ugandabnhn die erforderlichen wirtschaft¬
lichen Voraussetzungen für europäische Besiedlung bietet, ist plötzlich durch das
Gouvernement der Preis für Kronland verzehnfacht worden. Bei dieseni Landpreis
ist aber eine Besiedlung unmöglich. Wie reimt sich dies mit den Versprechungen
des Staatssekretärs zusammen?
Da wir gerade bei der Besiedlungsfrage sind, noch ein paar Worte über die
Russensiedlungen am Meruberg, die bekanntlich mit Hilfe der Wohlfahrts¬
lotterie durch ein besondres Komitee der Deutschen Kolouialgesellschaft ins Leben
gerufen sind. Schon seit längrer Zeit munkelt man allerlei, daß dieses Unternehmen
ziemlich verfehlt sei. Obwohl sich das Komitee im Organ der Gesellschaft sehr
energisch gegen dieses Gerücht gewandt hat, wollen die Stimmen nicht verstummen,
daß es mit den Deutschrussen am Meru nicht gut stehe. Und die in Tonga er¬
scheinende Usambara-Post, ein sehr angesehenes Blatt, das eigentlich Bescheid wissen
müßte, wußte wiederholt zu berichten, daß verschiedne Ansiedlerfamilien verlangen,
in ihre Heimat, den Kaukasus zurückgesandt zu werden. In der letzten Nummer
derselben Zeitung wird sogar berichtet, daß sich sämtliche russischen Ansiedler diesem
Verlangen anschließen wollen. Wir wollen nicht weiter untersuchen, was an diesen
Gerüchten ist. Aber es will uns scheinen, daß diese Russen, die so splendid von
dem erwähnten Komitee unterstützt worden sind, nicht das geeignete Ansiedlermaterial
für Deutsch-Ostafrika sind, und daß man mit dem schönen Gelde lieber reichs-
deutsche Bauer» hätte glücklich machen sollen. Wenn die Merusiedler absolut nicht
zufriedenzustellen sind, so sollte man sie in Gottes Namen leichten Herzens zieh«
lassen und auf unsre vielen deutschen Auswcmdrnngslustigen zurückgreifen. Der
Boden ist ihnen ja bereitet. Vielleicht nimmt sich die Regierung der Sache an und
beweist ihren guten Willen durch Unterstützung des Siedlungsausschusses.
Zum Schluß möge noch des Grenzabkommens zwischen Kamerun und
Frnnzösisch-Kongo in wirtschaftlicher Hinsicht gedacht werden, nachdem dieses im
letzten „Reichsspiegel" vom politischen Standpunkt beleuchtet worden ist. Es ist in der
Presse lebhaft darüber gestritten worden, ob wir bei dem Abkommen gut abgeschnitten
haben oder wieder die Hereingefallnen sind. Die Mehrheit neigt der letzten Ansicht
zu, und nach den frühern Erfahrungen ist dies begreiflich. Demgegenüber muß darauf
hingewiesen werden, daß man ein solches Abkommen nicht rein mechanisch nach der
Zahl der ausgetauschten Geviertkilometer beurteilen darf, sondern vom wirtschaft¬
lichen Standpunkte aus. Und da muß man sagen, daß wir, soweit sich dies nach
der Karte beurteilen läßt, unsern Besitz anscheinend sehr geschickt abgerundet und für
uns wertlose, weil unkontrollierbare Gebiete gegen Landstriche eingetauscht haben,
die vermöge ihrer Lage an natürlichen Verkehrsstraßen, Flüssen für die Nutzbar¬
machung der Kolonie sehr wertvoll sind. Im übrigen ist das Kopfzerbrechen ziemlich
zwecklos, denn die volle Wahrheit wird erst die Zukunft lehren.
Immerhin kann nur noch darauf hingewiesen werden, daß wir von den andern
Mächten kolonialpolitisch allmählich ernst genommen werden. Mit dem Übertölpeln
in Grenz- und ähnlichen Fragen geht es nicht mehr so leicht Dernburg hat in
is am 27 Januar Freiherr von Aehrenthal in der Kommission
der ungarischen Delegation für die auswärtigen Angelegenheiten
seine bekannte Programmrede gehalten hatte, brach ein Sturm
los Die am tollsten schrien, die Russen, beruhigten sich alsbald.
_ als' das Unerwartete geschah und der aus verstaubten Pult
hervorgeholte Plan der Adria - Donaubahn von dem kühnen Österreicher
°"standlos angenommen wurde. Als dann in den ersten Manager Sir
Edward Grev das Wort von dem europäischen Gouverneur Mazedoniens
sprach, erhob sich wieder ein drohendes Murmeln. Man ist namentlich u.
Konstantinopel ..unangenehm überrascht', und man behauptet. das englische
Vorgehen trage nur zur Verwirrung der ohnehin heikeln Situation bei: der
Sultan sei durchaus bereit, die Mandate der Reformbeamten zu verlängern,
und ein so gewaltsamer Schritt sei unnötig und gefährlich.
Die programmatischen Erklärungen der beiden Staatsmänner des öster-
reichischen und des britischen, beleuchten scharf die beiden Wege auf denen sich
die Lösung der mazedonischen Frage zu bewegen hat den verkehrspo nischen
und den staatspolitischen. Kann man auch aum sagen daß der britische
Vorschlag eine unumgängliche Ergänzung des Aehrenthalschen bietet, so ist er
d°es mit Freuden als ein Mittel zu begrüßen , den Erfolg den teuer h^„
"wß. zu erleichtern und zu beschleunigen Dem mit der Geschichte des
Omanischen Reichs nicht vertrauten mag die britische Losung etwas gewaltsam
«scheinen, und der Urteilslose wird geneigt sein , sich dnrch die Larmsignale
°in Goldner Horn ängstlich machen zu lassen. In Wirklichkeit ist diese LoMg
bei nur einigem gutem Willen der Beteiligten die leichteste und einfachste,
und darauf ist. soviel mir bekannt, noch nicht hingewiesen worden, sie hat e.ne
Parallele, die man wohl einen Präzedenzfall nennen darf.
Die Organisation des Libanon, die im Jahre 1845 von der Pfor e in
Einverständnis mit den Mächten geschaffen worden war hatte nicht g ha ten.
was man von ihr erwartet hatte. Immer von neuem kam e- zu Zusammeu-
G
stoßen zwischen Drusen und Maroniten, die ebenso erbittert kämpften wie
Bulgaren und Griechen in Mazedonien. Die Gemetzel des Juni 1860 im
Libanon und die sich daran schließende Christenschlächterei in Damaskus
scharfem Europa das Gewissen. Österreich, Frankreich, Großbritannien, Preußen
und Rußland entsandten Kommissare nach Beirut, um nach dem Rechten zu
sehen; hinter ihnen stand eine französische Okkupationsarmee. Das wirkte.
Es ist bekannt, daß die Pforte bedeutende Opfer bringen mußte, und daß
dem Libanon eine Verfassung gegeben wurde, die das Gebirgsland den
Intrigen der unmittelbaren osmanischen Beamten entzog und ihm eine Auto¬
nomie sicherte, die mit einem Schlage jenen wüsten Kämpfen ein Ende machte
und ihm eine Entwicklung schuf, die keine andre unmittelbare Provinz des
osmanischen Reichs zu verzeichnen hat. Weniger bekannt ist, daß Gro߬
britannien nichts Geringeres anstrebte, als die Schaffung eines halb unab¬
hängigen Syriens. Am 8. November 1860 unterbreitete diesen Plan Lord
Dufferin, der britische Kommissar in Beirut, Sir H. Vulwer, dem Botschafter
in Konstantinopel. Natürlich erfolgte ein Gegenzug der Pforte. Ali Pascha
protestierte, indem er unter dem 22. Januar 1861 an den osmanischen Bot¬
schafter in London, Musurus Pascha, ein Programm für die Verwaltung
Syriens zur Mitteilung an die britische Regierung schickte, das völlig befriedigen
würde. Dieses Programm, mitgeteilt bei Edwards, S^ris 1840 5 1862,
läßt alles beim alten: von fremder Kontrolle ist keine Rede. Großbritannien
bestand nicht auf der Einbeziehung ganz Syriens. Aber auch gegen die ma߬
vollen Forderungen der fremden Mächte betreffend den Libanon erhob die Türkei
als zu demütigend Einwendungen. Indessen man blieb fest, und am 9. Juni 1861
wurde das Reglement des Libanon von dem Großwesir und den fremden Ver¬
tretern in Pera unterzeichnet.
Alle Vergleiche hinken, und man muß zugeben, daß die Lage in Maze¬
donien eine etwas andre ist als die des Libanon. Es handelt sich um ein
ungleich reicheres und größeres Gebiet. Es leben da sechs größere und eine
Anzahl kleinerer Gruppen nebeneinander, zum Teil durcheinander, die sich
befehden, und von denen einige, wie Bulgaren und Griechen, einen dauernden
organisierten Kampf miteinander führen. Den Schwierigkeiten, die sich hier
einem geeinten Vorgehn der Mächte bieten, steht aber eine Hilfe gegenüber,
die im Libanon nicht vorhanden war: die wirtschaftspvlitische Seite. Bei
deren richtiger Behandlung wird sich sowohl die ungünstige innerpolitische
Lage des Landes heben wie auch der zu erwartende Widerstand des Sultans
beseitigen lassen.
Unter den wirtschaftlichen Maßnahmen, die den ausgezeichneten natür¬
lichen Bedingungen des Bodens eine Entwicklung schaffen sollen, steht der
Anschluß der Linie Mitrovitza-Salonik an das österreichisch-böhmische Bahnnetz
in erster Linie. Diese Verbindung schafft dem Lande neue Wege der Ein-
und Ausfuhr. Dazu wird schon durch diesen Anschluß Westmazedonien in
Verbindung mit der Adria gebracht, denn Serajevo ist über Mostar mit
Gravosa und andern Hafenplätzen verbunden. Doch diese Verbindung darf
nicht die einzige bleiben, soll ganze Arbeit geleistet werden. Es handelt sich
dabei nicht bloß um ein wirtschaftliches Interesse, sondern zugleich um die
Beruhigung der Gemüter, die sehr wohl als Posten wirtschaftlicher Entwicklung
in Rechnung zu stellen ist. Es wird beständig über die Prütentionen der
kleinen Balkanstaaten gespottet, von denen ein jeder auch seine Bahn haben
will. Es darf aber nicht verkannt werden, daß diesem Streben ein durchaus be¬
rechtigtes wirtschaftliches Entwicklungsbedürfnis zugrunde liegt. Bei der Be¬
hauptung, daß die von Serbien und Bulgarien gewünschten Anschlusse gar
keine Bedeutung für den Verkehr hätten, wird ein wichtiger Punkt außer acht
gelassen: die Nähe Italiens, mit dessen vortrefflichem Hafen Brindisi sich eine
Verbindung herstellen läßt, die nicht bloß dem Transport von Personen und
Stückgütern, sondern auch dem von Massengütern neue Wege weisen würde.
Auch hier gibt die historische Betrachtung einen Fingerzeig, der nicht zu ver¬
achten ist Der westeuropäisch-mazedonische Verkehr ging über Dyrrhachium,
das heutige Durazzo (slawisch Dratsch). das Epidauros der Griechen. Dieser
Ort. heut ein ärmlicher Hafenplatz, der von den Küstendampfern des Oster¬
reichischen Lloyd berührt wird, liegt nur 150 Kilometer von Brut.se entfernt,
wäre also von dort in fünf Stunden zu erreichen. Nun ist heute Durazzo
als ein ungeeigneter Ausgangspunkt einer Bahnlinie zu betrachten. Der
Schienenweg ist aber mit Leichtigkeit die 60 Kilometer der Kustenebene uach
Norden zu führen in die Nähe des letzthin vielgenannten San Gwvanm
ti Medua. von wo aus er dem Drintale zu folgen hat. um nach 200 Kilo¬
metern Prizrcnd zu erreichen. Der diesem Orte in der Luftlinie am nächsten
liegende Punkt der Bahn Mitrovitza-Üsküb-Salonik ist Varos. 40 Kilometer
östlich von Prizrend doch wird der Terrainvcrhältnisse halber der Anschluß
"n einem etwa 20 Kilometer nördlicher gelegnen Punkte, am Südende des
berühmten Amselfeldes zu erfolgen haben. Schon durch eine solche Verbindung,
die doch nur eine unbedeutende Strecke darstellt und kostspieliger Kunstbauten
nicht bedarf wird Serbien mit der Adria in Verbindung gesetzt, und ebenso
Bulgarien, wenn man ihm die kurze Strecke Köstendil-Kumanowa (an der
Linie Risch-Üsküb) bewilligt. Wollen die Serben dann noch ein übriges tun.
s° mögen sie Risch mit dem Amselfelde durch eine Bahn verbinden. die un
Tal der Toplica aufsteigt zu dem Punkte der serbisch-türkischen Grenze, bis zu
dem auf den neusten Karten eine ans dem Amselfelde nach Norden ab¬
zweigende Seitenbahn schon trassiert ist. Wird eine gut funktionierende See¬
verbindung Brindisi-Durazzo oder Brindisi-Sau Giovanni ti Medua ge¬
schaffen, und werden direkte Züge auf der Linie Adriaküste-Prizrend-Amselfeld
geführt, so wird der Hauptverkehr Italiens mit Konstantinopel und Salvat,
und sobald die von Herrn von Aehrenthal in Aussicht genommne Verbindung
""t Athen hergestellt ist. auch mit diesem den Weg über den Adnahafen
nehmen. Es ist namentlich ein gewaltiger Aufschwung Saloniks zu erwarten,
das bei Ausbau dieses Netzes mit Italien, mit Österreich (durch die Linie
Üsküb-Mitrovitza-Serajevo), mit Ungarn (durch die alte serbische Linie) und
mit Bulgarien und Rumänien in Schnellverbindung gebracht ist.
Man wird die Wirkung der ungeheuern Arbeitsmenge, die durch die Be¬
völkerung zu bewältigen ist, wenn es zur Ausführung der hier kurz skizzierten
Unternehmungen kommt, nicht überschätzen dürfen. Die berühmten Hammel¬
diebe, die in jenen Gegenden Hausen, wobei sich die Unfähigkeit, mein und
dein zu unterscheiden, durchaus nicht ans die niedern Klassen beschränkt, sind
nicht ganz leicht zu erziehen. Vielleicht kann man für ihre Arbeitsfähigkeit
anführen, daß der Krieg aller gegen alle, der jetzt dort herrscht, nicht unbe¬
trächtliche Anforderungen an physische Kraftleistung, Energie und Ausdauer
stellt. Ein nicht geringer Prozentsatz wird sehr bald einsehen, daß die Aus¬
nutzung der Arbeitsgelegenheit bekömmlicher und einträglicher ist als das
Brigantenhandwcrk und das Komitadschigewerbe. Hier wird die staatspolitische
Leitung einzugreifen haben.
Um diese in die Wege zu leiten, bedarf es hauptsächlich der wohlwollenden
Haltung des Landesherrn, des Sultans. Glücklicherweise ist hier durch die
Mürzsteger Puuktationen vom 1. Oktober 1903 und die wohlwollende Haltung,
die die andern Mächte den Abmachungen Österreichs und Rußlands gegenüber
eingenommen haben, vorgearbeitet worden. Die osmanische Regierung kaun
sich nicht darüber täuschen, daß es den Mächten mit dem Willen, dem un¬
erträglichen Zustande in Mazedonien ein Ende zu machen, Ernst ist, und daß
keine Intrige von Stambul aus auf die Dauer diesen Willen wird brechen
können. Es ist auch nicht abzusehen, warum Abdul Hamid nicht tun sollte,
was Abdul Medschid im Jahre 1860 tun konnte: eine seiner Provinzen dnrch
einen seiner christlichen Untertanen regieren zu lassen und diesem General¬
vollmacht zu seiner Vertretung zu geben. Die kleine Beschränkung, daß dieser
Beamte in Übereinstimmung mit den fremden Mächten auf Zeit zu ernennen
ist und vor Ablauf der Zeit nicht absetzbar ist, ist ein unwesentlicher Neben¬
umstand, den der erleuchtete Herrscher des osmanischen Reichs gern gewähren
wird, wenn mau ihm die Vorteile dieses Verhaltens klarmacht.
Diese Vorteile sind bedeutend. In erster Linie steht die Geldfrage.
Die drei Wilajets Salonik, Monastir und Kossowo, die Mazedonien aus¬
machen, mögen schon jetzt ganz gute Erträge abwerfen, aber die Aufwendungen
für Verwaltung und militärische Expeditionen dürften den größern Teil
verschlingen. Daneben die Opfer an Leben und Gesundheit der tapfern
türkischen Soldaten, die immerwährend im Felde stehn müssen, um die aller¬
orten ausbrechenden Aufstandsbrände zu löschen! Nur wenige Jahre der Ruhe
und eines geordneten gewerblichen Lebens, und das herrliche Land, in dem
hochragende Berge, liebliches Hügelland und weitgedehnte, fruchtbare Ebenen
schön wechseln, wird dem kaiserlichen Schatze die reichsten Erträge zuführen.
Eine zweite, nicht minder wichtige Seite ist, daß durch den Ausbau des
Bahnnetzes in dem ausgeführten Sinne die Zentralregierung von Stambul
die Möglichkeit erhält, zunächst die nördliche der beiden albanischen Provinzen,
Schkodra, zu pazisizieren. Auch dort gard es bestündig, und gerade der
unbotmäßigste Teil wird von der Bahn durchschnitten werden. Ist einmal
dort Ordnung geschaffen, dann wird sich auch die südliche Provinz, Janina,
leicht völlig beruhigen lassen.
Diese Aussichten werden den Großherrn geneigt machen, dem Drängen
der Mächte nachzugeben und einem seiner Untertanen die Verwaltung des
Landes in der freiesten Weise anzuvertrauen. Ein Mann mit Generalvollmacht,
dem der Rat erfahrner fremder Kommissare zur Seite steht, wird leicht die
Geschäfte führen können nach einem Reglement, das ähnlich wie das Statut
Or^api^us an I^idau die Hauptzüge festlegt. Es wird alles darauf ankommen,
ähnlich wie im Libanon die tatsächlichen Verhältnisse richtig einzuschätzen, und
den verschiednen Gruppen die Institutionen zu gewähren, die ihrer Vorstellungs¬
welt angepaßt sind: der oberste Verwaltungsbeamte eines Bezirks muß der
Religion der Majorität angehören, ebenso die Richter. Im Libanon hat sich
dieses System vortrefflich bewährt. Wo ein Bezirk in mehrere Gruppen ge¬
spalten ist, ist möglichst eine Verschiebung herbeizuführen. Man wird es
bei gehöriger materieller Entschädigung immer erreichen, daß Elemente, die in
stammfremder Umwelt wohnen, zu den Stammesgenossen übersiedeln. Die Kosten,
die durch solche Schiebungen verursacht werden, werden sich reichlich einbringen.
Noch ist die Bevölkerung jener Gegenden bedürfnislos, und das Geld hat eine
bedeutende Kaufkraft; da werden die Aufwendungen zu solchen Zwecken nicht
zu hoch sein.
Von dem Lärmen gegen Herrn von Aehrenthals Bahn durch Novibazar
ist es stille geworden. So wird auch das Geschrei verhallen, das über den
durchgreifenden Vorschlag Sir Edward Greys erhoben wurde. Wenn Friedrich
List vor nun etwa achtzig Jahren predigte: „Deutschland hat eine Kulturmission
in Südosteuropa", so ist die Gelegenheit dazu verpaßt, und es ist müßig, zu speku¬
lieren, durch wessen Schuld. Das Österreich des Herrn von Aehrenthal wird,
daran dürfen wir nicht zweifeln, Träger deutschen Wesens seien. Das Reich kann
und darf einen direkten Einfluß in den Gebieten, um die es sich hier handelt, nicht
üben. Es hat aber die Pflicht, an der gemeinsamen Aktion der Mächte im Sinne
der Kulturentwicklung teilzunehmen und nicht etwa den Widerstand zu unterstützen,
der voraussichtlich in Stambul wird versucht werden. Die deutsche Nation hat
die Pflicht, in den Wettbewerb, der nun da unten beginnen wird um Gewinnung
moralischer und materieller Werte, energisch und zielbewußt einzutreten.
> cmgsam, aber lang wirkte der Erfolg, den die Pillauer Artilleristen
mit ihrem Siebenpfünder im Jahre 1823 auf dem Möwenhaken
errungen hatten, nach. Der Bericht über das Ereignis, der im
Jahrgang 1836 des Archivs für die preußischen Artillerie- und
! Ingenieur-Offiziere erschienen war, veranlaßte im Jahre 1845 den
Kaufmann und Leutnant a. D. Gaedtke in Leba, bei dem Oberpräsidium der
Provinz Pommern die Errichtung einer Mörserstcitivn in Leba anzuregen.
Aus dieser Anregung erwuchsen zwischen 1845 und 1349 die Stationen Leba,
Stolpmünde, Rügenwaldermünde und Kolbergermünde.
Unmittelbar nach dem Unglücks- und Glückstag hatte es den Anschein, als
solle die preußische Küste bald eine Strandungswehr erhalten. Der Minister des
Innern entschloß sich, eine Anzahl von Küstenorten mit Manbyschen Nettungs-
apparaten auszurüsten. Der Kriegsminister war bereit, die Mörser und die
Munition zu stellen. Die Regierungen wurden beauftragt, mit den Militär¬
behörden zu beraten, welche Ansrüstungsgegenstände für die Apparate aus den
Artilleriedepots entnommen werden könnten. Die Ergebnisse der Versuche, die
von Danziger und Königsberger Artillerieoffizieren „mit so großer Bereit¬
willigkeit" angestellt worden waren, sollten bei den neuen Apparaten nutzbar
gemacht werden. Diese sollten in Danzig hergestellt werden, in der Stadt,
deren Türmer nach Eichendorff seit uralten Zeiten singt:
Wolle Gott den Schiffer wahren,
Der bei Nacht vorüberzieht! —
im Bereiche der Behörden, die das Verfahren bis jetzt am freudigsten auf¬
genommen und am verständigsten gefördert hatten, an der Küste, auf der die
Weihe dieses guten Strebens und des ersten Erfolgs lag. Ein englischer
Originalapparat, der sich seit dem Jahre 1825 in Neufahrwasser befand, sollte
als Muster dienen. An der ostpreußischen Küste, im Bezirke der Königsberger
Negierung gedachte der Minister in Memel, in Pillau und in Georgenswalde
auf der Frischer Nehrung Rettungsstationen zu errichten, an der westpreußischen
in Hela und nach der Wahl der Danziger Regierung in Großendorf, Pasewalk
oder Karlberg, im Regierungsbezirk Stettin in Hoff zwischen Treptow und
Dievenow, endlich im Regierungsbezirk Strnlsund in Glowe auf Jasmund.
Aber es stand kein freundlicher Stern über diesem Unternehmen.
Der Gründungsplan wurde am 17. Dezember 1829 an die Regierungen
hinausgegeben. Im Oktober des nächsten Jahres beauftragte Beuth, der seit
dem Jahre 1328 Direktor der Ministerialabteilung für Handel, Gewerbe und
Bauwesen war, die Stralsunder Regierung, einen Siebeupfünder und die
Munition für die Station Glowe aus dem Artilleriedepot zu entnehmen. Am
21. November 1830 erkundigte sich die Regierung bei ihrer Schwesterbehörde
in Danzig, ob die zur Ergänzung des Apparats nötigen Gegenstände, deren
Herstellung den Danziger Artilleriewerkstätten übertragen war, bald fertig seien.
Wenige Tage danach, am 29. November, erhoben sich die Polen in Warschau
gegen die russische Herrschaft, und die Stralsunder Regierung erhielt aus
Danzig den Bescheid, daß die Arbeit an den Rettungsapparaten „wegen höchst
dringender Artillerie-Arbeiten" unterbrochen worden sei. Die Kampfbereitschaft,
wozu Preußen im Jahre 1831 durch den Krieg im Nachbarlande gezwungen
war, ließ den Artilleriewerkstätten keine Zeit zur Herstellung von Rettnngs-
geräten. So wurden die Fäden, die man am Ende des Jahres 1830 not¬
gedrungen fallen ließ, erst im Frühling des Jahres 1832 wieder auf¬
genommen.
Der artilleristische Apparat war um diese Zeit fertig. Er war nicht in
den Artilleriewerkstätten, sondern von einem Waffenschmied in Langfuhr her¬
gestellt worden, aber die Danziger Geschützrevisionskommission hatte die acht¬
unddreißig Gegenstände, die neben dem Mörser, den Granaten und den Leinen
den Rettungsapparat bildeten, schon am 29. September 1831 abgenommen
und vorschriftsmäßig gefunden. Das Geschützzubehör war damit fertig, nun
wurden noch die Wurfleinen, ein Korb für das Zapfengerüst, auf dem die
Leine schußfertig aufgewickelt werden sollte, eine Wage und ein Pfundgewicht
angeschafft. Erst im August des Jahres 1832 war alles zur Versendung
bereit, und erst im Oktober kam der Apparat auf dem Seewege in Stralsund
an. Er wurde im Marinedepot untergebracht und kam so in die besten Hände.
Denn Vorstand des Marinedepots war der Marinemajor Longe", der erste
preußische Seeoffizier im neunzehnten Jahrhundert.
Diedrich Johann Longe entstammte einer französischen Protestantenfamilie,
die seit dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts in Finnland ansässig war. Er brachte
im Jahre 1815 als schwedischer Oberleutnant zur See sechs Kanonenschaluppen,
die Schweden bei der Abtretung Neuvorpommerns und Rügens der preußischen
Regierung zur Küstenverteidigung überlassen hatte, nach Stralsund. Seit dem
Jahre 1800 hatte er auf der englischen und auf der schwedischen Flotte „mit
Ruhm" gedient. Nun fand er in Preußen eine neue Heimat, trat in preußische
Dienste und wurde am 28. Dezember 1815 als Hauptmann und Marineoffizier
übernommen. Noch vor seiner Anstellung reichte er bei dem Kriegsministerium
eine Denkschrift ein, worin er riet, die preußische Küste durch Kriegsschoner
zu verteidigen. Nachdem er als Hauptmann übernommen war, wurde nach
seinen Ideen und nach seinem Anschlag der Kriegsschouer Stralsund erbaut,
der als erstes preußisches Kriegsschiff die Orlogsflagge mit dem Eisernen Kreuze
führte, die nach dem Vorschlage des Kommandanten von Stralsund, des
Generals von Engelbrechten, festgestellt worden war. Seitdem kämpfte Longe,
von dem General von Engelbrechten und andern unterstützt, mit der Kraft des
Genies für die Gründung einer preußischen Marine, und er war zu diesem
Werke als Konstrukteur und als Organisator gleich berufen. Als auf Rügen eine
Rettungsstation errichtet werden sollte, griff der geniale Offizier, dessen „prak¬
tische und theoretische Kenntnisse auf der Höhe damaliger Zeit standen", auch
diese kleine Aufgabe mit dem sichern Scharfblick und mit der unvergleichlichen
Gewissenhaftigkeit an, die er im Dienste seines Adoptivvaterlandes immer be¬
wahrte. Er hatte zwei Jahrzehnte lang unermüdlich immer wieder neue
Flottengründungspläne gemacht und sich gewöhnt, immer noch geringere Mittel
zu fordern. Er kannte die damaligen knappen Finanzverhältnisse Preußens
gut. So war sein Anschlag zur Vervollständigung des Apparats mäßig genug.
Er forderte nur eine Bettung für den Mörser, ein Boot, das in seinem Bau
den Strandverhältnissen auf Jasmund angepaßt werden sollte, einen Wagen
zum Transport des Bootes, Leinen zur Herstellung und Blocke zum Befahren
des Taugeleises zwischen dem Wrack und dem Strande, Signalgeräte und andre
Gegenstünde, die ihm zur Anwendung und zur Instandhaltung des Apparats
unentbehrlich erschienen. Die Mörserbettung kostete nach seinem Kostenanschlag
nur 4 Taler 28 Silbergroschen, das Boot mit allem Zubehör 106 Taler
22 Silbergroschen, der Wagen 100 Taler, die Blöcke 12 Taler 6 Silber¬
groschen, durch die Forderung von vier Trossen mit Zubehör stieg jedoch der
Gesamtbetrag auf 532 Taler 3 Silbergroschen. Das Geschützzubehör, das in
Danzig hergestellt worden war, hatte 151 Taler 23 Silbergroschen gekostet.
Die Einrichtung der Station Glowe forderte demnach rund 1100 Taler. Und
nun teilte Longes bescheidne Forderung das Schicksal seiner Flottengründungs¬
pläne. Der Staat war zu arm für solche Unternehmungen.
General von Rauch, der im Jahre 1825 Beratungen „über das Er¬
fordern^ und die Ausführbarkeit der Bildung einer Seewehr für Preußen"
geleitet hatte und ein begeisterter Mitarbeiter Longes gewesen war, kannte
diese Schwäche seines Vaterlandes wohl und lehnte darum im Jahre 1834
den Vorsitz in einer neuen Kommission zur Gründung einer Flotte mit
folgenden Worten ab: „Mir hat sich die Überzeugung aufgedrängt, daß ich
den dadurch an mich gemachten Forderungen nicht gehörig gewachsen bin,
meine Kenntniß der Sache dazu nicht ausreicht und meine überhäuften Dienst¬
geschäfte, sowie der Zustand meiner Gesundheit es mir nicht gestatten, mich mit
einer so verwickelten Angelegenheit, als die in Rede stehende solches ist, mit
der dazu erforderlichen angestrengten Thätigkeit zu befassen, indem ich zugleich
voraussehe, daß die ganze neue umfassende Berathung wiederum fruchtlos sein
und ebenso wenig als die früheren mit so großer Mühe und Zeitaufwand
ausführlich bearbeitete Secwehr-Angelegenheit von ersprießlichem Nutzen und
Folgen sein wird, da die Ansichten der höheren Behörden über diese ganze
Angelegenheit zu verschieden sind, die der Sache selbst zu viel materielle
Hindernisse und Schwierigkeiten entgegensetzen und besonders die Kosten allzu
bedeutend sind, um nur etwas den beabsichtigten Zwecken Entsprechendes her¬
zustellen, halbe oder unzureichende Maßregeln aber zu nichts Reellem führen
können und das ganze Geschäft mithin nur neue vergebliche Anstrengungen
und Mühwaltungen veranlassen wird!"
Das waren die Verhältnisse, die auch die Rettungsstationen nicht ge¬
deihen ließen.
Beuth fand den Betrag von 1100 Talern für die Station Glowe sehr
hoch. Er forderte die Rechnungen, die dem Kostenanschlage Longes zugrunde¬
lagen, ein. Um beurteilen zu können, ob „wohlfeile ähnliche Apparate", die,
wie er hoffe, im Laufe der Zeit erfunden würden, an der Küste des Stral-
sunder Bezirks anwendbar seien, beauftragte er die Regierung, festzustellen, „in
welcher Entfernung Strandungen nach Maßgabe der Beschaffenheit der Küste
in der Regel vorkommen dürften".
Die Regierung erhielt auf ihre Frage von den Landräten der Bezirke
Franzburg und Bergen den Bescheid, daß die Schiffe, je nach der sehr un¬
regelmäßigen Formation des Vorlandes — des Schaars — und dem un¬
berechenbaren, von der Windrichtung und von der Windstürke abhängigen
Wasserstande, bald, vom Sturm und vom Hochwasser das Schaax hinangetragen,
auf der Küste selbst strandeten, bald vom Schaar 500 Ellen (330 Meter) weit
und oft noch weiter draußen festgehalten würden. Die Technik schritt voran,
sie schuf leistungsfähigere Rettungsapparate, aber die Hoffnung Beuths, daß
sie billigere liefern werde, erfüllte sie nicht.
Das Boot, der Wagen und der Schuppen für Glowe sollten im Jahre 1833
107, 100, 416 Taler kosten, als die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiff¬
brüchiger im Jahre 1865 die Station Aurum errichtete, kosteten die gleichen
Gegenstände 930, 260. 441 Taler, heute erfordern sie einen Aufwand von
2500 bis 5500, 1500. 7000 bis 10000 Mark. Ein Mörserapparat kostete
zu Beuths Zeiten ungefähr 600. im Jahre 1854 620 Taler, der Dennettsche
Raketenapparat, womit im Jahre 1866 die englische Küste ausgerüstet war,
kostete 660 Taler, und die Rettungsgesellschaft bezahlt für einen modernen
deutschen Raketenapparat 4500 Mark.
Der Landrat von Franzburg hatte in dem Bericht über die Strandungen
an der Küste seines Kreises für Darsserort eine Feuerbake beantragt, weil sich
von diesem Punkte aus ein gefährlicher Untiefenhaken ungefähr zwei Kilometer
ostwärts erstreckt. Die Regierung befürwortete beim Ministerium die Errichtung
der Bake. Ob wenigstens dieser Stern für die Schiffer, die dort bei Nacht
vorüberzogen, aufging, ist aus den Akten nicht ersichtlich. In Glowe war seit
dem Spätherbste des Jahres 1332 die Bedienungsmannschaft für den Apparat
zusammengestellt. Es waren fünf Kossäten, Seeleute und Fischer, brave
Männer. Sie hatten sich im Jahre 1826 bei der Rettung der Mannschaft
eines gestrandeten Schiffes ausgezeichnet und waren vom König mit Geld¬
geschenken belohnt worden. Die Mannschaft wartete vergeblich auf das Ge¬
schütz. Die Station Glowe wurde nicht errichtet. Der Mörserapparat wurde
im Jahre 1834 inventarisiert, dann blieb er vergessen im Marinedepot. Die
leise, sorgsame Pflege, die das Rettungsgerät unter den Vernichtungsgerüten
genoß, störte seine tiefe Ruhe nicht.
Ein Dornröschenschlummer senkte sich auch auf die Nettungsidee. Und
eine Tarnkappe muß sie und ihre Waffen unsichtbar gemacht haben. Denn
als sich im Jahre 1846 das mecklenburgische Amt Ribnitz bei der Regierung
in Stralsund nach der Art, der Ausdehnung und den Kosten der Rettungs¬
einrichtungen erkundigte, die es im Stralsunder Bezirk vermutete, gab die Re¬
gierung diese Anfrage zur Beantwortung an die Stettiner Schwesterbehörde
weiter. Der Rettungsapparat im Marinedepot und die Verhandlungen, die
man über die Station Glowe sieben Jahre lang, von 1827 bis 1834, geführt
hatte, waren ganz vergessen.
Ein Schreiben, das Hauptmann Trost, Artillerieoffizier des Platzes in
Stralsund, unter dem 9. November 1847 an das Finanzministerium richtete,
brach den Bann.
Trost berichtete, daß er im Sommer bei der Übernahme des Artillerie-
und Marinedepots einen unvollständigen Manbyschen Rettungsapparat vor¬
gefunden habe, und erbot sich, ihn zu ergänzen und aufzustellen.
Er hatte im Dezember 1840 und im November 1842 zu Swinemünde
Versuche mit dem Mörserapparat angestellt, die Wurfkraft der preußischen
Sieben- und Zehnpfünder mit der des Dennettschen Raketenapparats verglichen
und eine „Instruktion für den Gebrauch des Manbyschen Rettungsapparats
bei Strandungen" verfaßt. Damals war er Premierleutnant, als Frontoffizier
in der 2. Artilleriebrigade begann er die Versuche, als Adjutant bei der
1. Artillerieinspektion setzte er sie fort. Zehn Jahre war er Adjutant der
3. Abteilung der 2. Brigade in Stralsund. In dieser Stellung trug er die
Uniform der reitenden Artillerie, aber eine geheime Sympathie scheint ihn zu
den Rossen Poseidons gezogen zu haben, eine ähnliche Sympathie wie jene,
auf der die Tatsache beruht, daß in Bayern die Flottenidee im letzten Jahr¬
zehnt bei keiner Waffe so freudige, tatkräftige Förderung gesunden hat wie bei
der Kavallerie.
Ludwig Trost war ein Märker, das Dörfchen Thyrow im Kreise Teltow
war sein Heimatort. Fontäne weiß nichts von ihm. Und doch verdient auch
dieses Kind der Mark, daß man seiner gedenkt.
Weitab von der See verlebte Trost seine erste Jugend, die nächsten
größern Gewässer, der Schwielowsee und der Rcmgsdorfer See, waren acht¬
zehn und zehn Kilometer entfernt, für einen frischen Knaben nicht weit, aber
doch zu weit, als daß sie ihm täglich als Tummelplatz hätten dienen können.
Aber seine Phantasie mögen sie genährt haben. Mit sechzehn Jahren trat er
im Jahre 1817 bei der 2. Artilleriebrigade in Stettin in den Heeresdienst.
Nun war er am Meer, und er blieb wohl zeitlebens dort. Wenigstens ver¬
lebte er seine ganze Dienstzeit an der Küste. Die zwanzig Jahre seiner
Leutnantszeit — er war fünfzehn Jahre Sekondleutnaut, fast sechs Jahre
Premierleutnant — stand er in Stettin und Stralsund, Hauptmann, Kom-
pagnicchef, Artillerieoffizier des Platzes und Batteriechef war er ebenfalls in
diesen Städten, und auch bei seiner Beförderung zum Major und Abteilungs¬
kommandeur mußte er nicht von der See scheiden. Er kommandierte die
Festungsabteilung des 1. Artillerieregiments in Danzig und Pillau. Im
Jahre 1858 wurde ihm der Abschied mit Pension, der Regimentsuniform und
dem Charakter als Oberstleutnant bewilligt.
Jene Versuche, die er als vierzigjähriger Premierleutuant in Swinemünde
mit dem Mörserapparat anstellte, hat er mit der grübelnden Gründlichkeit, die
auch die Berichte des Oberfeuerwerkers Kohler über die Mcmeler Versuche
auszeichnet, beschrieben.
Es ist überhaupt viel grübelnde Gründlichkeit auf das artilleristische
Nettungsverfahren verwandt worden. In den Jahren 1816, 1819, 1820,
1321, 1825, 1826, 1828, 1832, 1840, 1842 wurde es sorgfältig erprobt,
immer wieder. Immer wieder arbeiteten Artillerieoffiziere und -Unteroffiziere,
Hafcnbaubenmte, Lotscnkommandeure und Ballastiuspektoren mit preußischer
Zähigkeit an der Errichtung von Mörserrettungsstationeu, aber es war niemand
da, der die Ergebnisse dieser Mühe addierte, diese Summe hätte schon in den
ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts ausgereicht, die preußische
Küste vor allen andern Festlandküsten mit Rettungsstationeil auszustatten. Die
einzelnen Versuche wurden ohne jeden Zusammenhang veranstaltet, Erfahrungen,
die in Memel gewonnen worden waren, mußten ein Jahr später in Pillau
erarbeitet werden. Man sang von den braven Männern an der Küste kein
Lied, man ließ ihre hilfreiche Begeisterung immer wieder ermatten und erkalten
und hielt die Rettungsidee in der Enge einer untergeordneten Etatsposition
gefangen. Man ließ Gießbäche von Kraft und gutem Willen verrinnen, man
sparte die Räder, die sie gern getrieben hätten, man vergeudete im Großen:
das konnte man, Kraft und guten Willen gab es genug im Lande — und
sparte im Kleinen: das mußte man, man brauchte Geschütze zur Erfüllung
einer großen nationalen Aufgabe, hinter der die Rettungsidee und ihr Bedarf
an Geschützen zurücktraten. Preußisch war die Zähigkeit, womit man immer
wieder an einer Aufgabe arbeitete, deren Lösung einer reifern Technik vor¬
behalten war, aber uupreußisch mutet das Tempo an, in dem die Angelegenheit
durch die Jahrzehnte ging. Durch drei Jahrzehnte. Der Geschäftsgang litt
unter einem ewigen Verwickeln und Zerreißen der Fäden, als hätte er sich die
Leinen und ihre Launen zum Vorbilde genommen. So wurden die Schie߬
versuche und die Organisation der Rettungsstationen zu einer Danaidenarbeit.
In die Reihe dieser weichherzigen Danaiden war Trost getreten, als er
in Swinemünde seine Versuche anstellte. Aber es ist wahrscheinlich, daß er
schon länger für die Sache arbeitete, und daß er es war, der im Jahre 1836
die abgerissenen Fäden der Angelegenheit dadurch aufhob und verband, daß
er im Archiv für die Offiziere der Königlich Preußischen Artillerie- und
Ingenieur-Korps Mörserschießversuche, die bei Danzig im Jahre 1820 und bei
Swinemünde im Jahre 1832 angestellt worden waren, beschrieb und von der
Rettung auf dem Möwenhaken erzählte.
Nun knüpfte er wieder die Fäden an. Seine Tätigkeit in Stettin gab
der Mahnung, die in seinem Berichte lag, Gewicht, und er erschien danach ge¬
eignet, auch die Küste des Stralsunder Bezirks mit Rettungseinrichtungen zu
versehen.
Das Ministerium nahm die Angelegenheit, die nun fünfzehn Jahre ge¬
ruht hatte, wieder auf.
Der Nachfolger Beuths, Pommer-Esche, teilte der Negierung zu Stral-
sund den Bericht Trosts mit und schrieb hiezu, daß die Ausrüstung der vor-
pommerschen Küste mit Manbyschen Apparaten seinerzeit zurückgestellt worden
sei, weil zur Zusammenstellung und Aufbewahrung der Apparate bedeutende
Geldmittel gefordert worden seien, ohne daß man von ihrer Anwendbarkeit
hinreichende Beweise gehabt habe. Obwohl dem Ministerium seit dem Jahre 1827
nur zwei Strandungsfülle bekannt geworden seien, bei denen sich der Mörser¬
apparat an der preußischen Ostseeküste bewährt habe, und obwohl sich ergeben
habe, daß der Apparat nur eine etwa 300 Meter breite Strandzone beherrsche,
solle dennoch wenigstens der in Stralsund schon vorhcmdne Apparat mit Trosts
Unterstützung nutzbar gemacht werden. Da der Apparat voraussichtlich nur
selten angewandt werden könne, sei die Aufstellung besondrer Mannschaften
zur Bedienung des Apparats ausgeschlossen. Zur Unterbringung solle ein
Raum gegen mäßigen Zins gemietet werden. Überhaupt komme es darauf
an, die Kosten der Einrichtung mit dem vermutlich geringen Erfolge in Ein¬
klang zu bringen.
Nachdem die Vorbereitungen zur Errichtung der Station — allerdings erst
nach fünf Monaten — so weit gediehen waren, daß die Tätigkeit Trosts ein¬
setzen konnte, wurde durch den Ausbruch der Feindseligkeiten mit Dünemark
seine Beteiligung an dem Werke unmöglich gemacht, sodaß die Regierung ge¬
zwungen war, die Angelegenheit zu „reponieren".
Doch kam das Unternehmen nicht wieder in Vergessenheit. Man stellte
aus den Akten und aus Zeitungsberichten die Strandungen zusammen, die
sich ein den Küsten des Bezirks ereignet hatten. Da aus den Jahren 1819
bis 1827 in den Akten kein Strandungsfall verzeichnet war, und die Zeitungs¬
berichte nur bis zum Jahre 1835 zurückgingen, war das Bild, das sich ergab,
sehr unvollständig. Aber auch so war es düster genug.
Nach den Akten waren zwischen 1828 und 1847 an dem verhältnismäßig
kurzen Küstenstreifen des Bezirks 43 Schiffe gestrandet, hinzu kamen, nach den
Zeitungsberichten, zwischen 1835 und 1845 29 Strandungsfälle. Der von
Darsserort ostwärts sich erstreckende Untiefenhaken, überhaupt die Küsten der
Halbinseln Darß und Zingst, ferner die Küsten der rügischen Halbinseln
Jasmund und Mönchgut waren nach dieser Zusammenstellung mit 14. 17. 9,
7 Strandungsfüllen die gefährlichsten Punkte des Stralsunder Küstenbezirks.*)
Nach diesem Verzeichnisse erschien der Regierung die Errichtung von
Rettungsstationen an der Ostküste von Rügen am notwendigsten. Wieder
wählte man Glowe als Stationsort, da es dort nicht an Bedienungsmann¬
schaften fehlte.
(Schluß folgt)
in es im Herzogtum Sachsen-Weimar und besonders in dessen
Residenz zu der Zeit aussah, wo hier Karl August regierte und
die großen Dichter wirkten, wissen wir aus Hunderten von Literatur¬
geschichten, Biographien, Tagebüchern und Briefwechseln und aus
Tausenden von Spezialarbeiten- Dank der reichen Überlieferung
und der unermüdlichen Forschung sind wir über das Weimarische Leben in der
klassischen Periode so genau unterrichtet, daß wir beinahe über zeden einzelnen
Tag den ausführlichsten Bericht erstatten könnten, einen Bericht, aus dem zu
ersehen wäre, was bei Hofe geschah, was sich in der Sode ereigne^ welcher
Fremde ankam oder abreiste, womit Goethe sich be chafttgte. wie Schillers Ge¬
sundheitszustand war. wer dem greisen Wieland seine Aufwartung machte und
mit wem Herder korrespondierte. .
Diese Zeit beginnt mit Karl Augusts Regierungsantritt oder, was so ziemlich
auf eins herauskommt, mit Goethes Erscheinen in Weimar. Was diesem Wende-
Punkt vorangeht, versinkt für die meisten in ein trübes Dämmerlicht, aus dem
im besten Falle ein paar Namen und Daten hervorleuchten. Und doch ist es
so wichtig, das gelobte Land der deutschen Literatur in einem Zustande kennen
zu lernen, worin es sich noch durch nichts von jedem beliebigen deutschen Klein¬
staat unterschied, und den Acker zu untersuchen, auf dem bald danach eine so
verheißungsvolle Saat keimen sollte.
Hierzu gibt uns ein Buch von Wilhelm Bode, zurzeit wohl dem besten
Kenner der in Frage kommenden Verhältnisse, eine Anleitung, das als der erste
Band einer ausführlichen dreibändigen Biographie der Herzogin Amalie unter
dem Sondertitel Das vorgoethische Weimar soeben erschienen ist.*) Es
zeigt uns die junge Witwe des früh verstorbnen Herzogs Ernst August Konstantin
als Vormünderin ihrer beiden Söhne und als Regentin. Die begabte, lebhaft
empfindende Frau, die als Prinzessin am braunschweigischen Hofe die Rolle
des Aschenbrödels gespielt hatte, hatte auch in Weimar keinen leichten Stand.
Die maßgebenden Männer beim Hof und bei der Regierung waren nicht gewillt,
sich einer unerfahrnen Frau ohne weiteres unterzuordnen, und von den Söhnen
verriet wenigstens der Erbprinz Karl August schon früh einen zuweilen an
Starrsinn grenzenden Hang zur Selbständigkeit.
Das Geheime Konsilium, die oberste Regierungsbehörde, mit der die Herzogin
am meisten in Berührung kam, und der der Minister von Fritsch, ein pflicht¬
treuer aber nicht immer bequemer Beamter, präsidierte, entsprach etwa dem, was
wir heute ein Ministerium nennen. Ihm untergeordnet waren an höhern Be¬
hörden die „Landesregierung", etwa nach heutigen Begriffen Justizverwaltung
und Oberappellationsgericht, das „Kammerkollegium", dem in der Hauptsache
die Verwaltung des fürstlichen Grundbesitzes oblag, das „Oberkonsistorium", das
„Landschaftskassendirektorium", die „Generalpolizeidirektion", die sich vorwiegend
mit der Wohlfahrtspflege zu befassen hatte, das „Obergeleitsamt" — Weimar
beanspruchte das Geleitsrecht auf den wichtigsten Straßen im nördlichen
Thüringen —, die „Oberaufsicht in Jena", die „Landesregierung in Eisenach",
der ein besondres Oberkonsistorium zugeordnet war, die „Jägerei", der neben
dem Jagddienst auch die Verwaltung des Forstwesens zufiel, und die „Kriegs¬
kommisston" mit besondern Ressorts der Kriegskanzlei, der Proviantbäckerei und
der Marschkommission.
Das Militär setzte sich aus Garde du Corps, Husaren und Infanterie
zusammen, es entsprach, was die Zahl der Soldaten anlangte, den Anforderungen
der Reichsverfassung, war aber alles andre als kriegstüchtig und diente fast nur
zu Polizeizwecken, zur gelegentlichen Erweiterung der Hofdienerschaft und zur
Repräsentation. Die Soldaten lagen nicht in Kasernen, sondern in Privat¬
quartieren bei Bürgern; zuweilen wurden sie auch in die Häuser säumiger
Steuerzahler gelegt. Sie erfreuten sich übrigens des ausgedehntesten Urlaubs
und beschäftigten sich als Tagelöhner oder als Handwerker.
Bekannt sind Goethes Klagen über die komplizierte Organisation und die
unverhältnismäßig hohen Kosten der Verwaltung, die ein Land tragen mußte,
das weniger volkreich war als heute die einzige Stadt Erfurt. Am stärksten
wurden natürlich die Bauern und die Handwerker ausgesogen. Dieser Vorwurf
trifft weniger das Fürstenhaus; der Mißstand war durch die historische Ent¬
wicklung des außerordentlich zerrissenen Gebiets hervorgerufen. „Gerade die
Fürsten, sagt Bode, pflegten die Freisinnigsten und Neuerungsfreundlichsten zu
sein; aber wo sie zugreifen wollten, faßten sie in einen Rattenkönig von alten
Gesetzen, Rechten, Freiheiten, Privilegien, Observanzen, Kompetenzen, Jnkumbenzen,
Lehnsbriefen und Erbpflichten, von denen immer eins mit dem andern und alles
wieder mit ihren eignen Fürstenrechten verwachsen war." Kein Wunder, daß hier
der Weizen der Advokaten blühte; im Jahre 1776 gab es in Weimar-Jena ihrer 77,
in Eisenach 38, es kam also 1 Advokat auf 790 Einwohner in Stadt und Land.
Jedes Fleckchen Land hatte seine eigne politische Geschichte und deshalb
auch seine besondern Gesetze, Rechte und Obrigkeiten, die Zugehörigkeit mancher
Gebiete zum Herzogtum war allerjüngsten Datums und deshalb rechtlich noch
keineswegs geklärt. „Eisenach und Jena waren erst seit 1741 mit Weimar
wiederum vereinigt; die Dörfer Fischbach, Wiesental und Urnshausen im Eisenacher
Oberlande erwarb erst Herzogin Amalie endgiltig, indem sie den seit 1741 zwischen
Weimar und dem Kloster Fulda geführten »Fischbacher Streit« durch einen sehr
magern Vergleich beendete."
Das alles waren die Schattenseiten der deutschen Kleinstaaterei. Daß ein
solches Duodezfürstentum auch seine guten Seiten hatte, darf nicht geleugnet
werden. Der Fürst konnte seinen Landeskindern gegenüber wirklich die Vorsehung
spielen, er kannte nicht nur den Adel und die höhere Beamtenschaft seines Landes
Persönlich, sondern auch viele der niedern Beamten, der Bürger und der Bauern.
Das Vertrauen seiner Untertanen sprach sich besonders in den unzähligen Bitt¬
schriften aus, mit denen man ihn, besonders wenn er sich auf Reifen befand,
überschüttete. Schon deren Lektüre verlangte ein gewaltiges Maß von Zeit und
Hingebung. Amalie sah sich genötigt, in einer Verordnung von 1764 zu tadeln:
»daß viele an Uns eingereichte Bittschriften zur Ungebühr weitläufig abgefaßt
und durch Einmischung vieler zur Sache nicht gehöriger Nebenumstände, be¬
sonders auch Uns unangenehmer und beinahe ekelhafter Schmeicheleien und
Lobeserhebungen ungebührlich ausgedehnt werden." Dafür machte das Bestreben
der Untertanen, sich in die Angelegenheiten der Negierung und der Politik ein¬
zumischen, den Landesherren noch keine Sorge, von der sogenannten „öffentlichen
Meinung", die bekanntlich alles besser versteht und ihre Wissenschaft aus den
von heute auf morgen zusammengeschriebnen Leitartikeln der Tagespresse bezieht,
konnte keine Rede sein, da es politische Zeitungen in unserm Sinne noch nicht
gab. Die Wochenblättchen, die seit 1755 in Weimar und Eisenach erschienen,
brachten zwar hie und da Nachrichten aus der großen Welt, verlegten sich
jedoch noch nicht darauf, an den gemeldeten Ereignissen eine Kritik zu üben.
Eine Volksvertretung gab es allerdings damals auch schon in Weimar,
aber die Bauern und die Arbeiter waren in dem kleinen Feudalstaate, wo nur
die Freien und Herren mitregieren konnten, logischerweise von dieser Vertretung
ausgeschlossen. Sie genossen die Wohltaten eines geordneten Staatswesens und
der ihnen für ihre Person und ihren Besitz gewährleisteten Sicherheit, hatten
jedoch sonst nur Pflichten und keine Rechte, während man heute die Theoretiker,
besonders unsre weltfremden Kathedersozialisten, immer nur von den Rechten,
nie aber von den Pflichten der handarbeitenden Staatsbürger reden hört.
Der Landtag, der eigentlich aller fünf Jahre zusammentreten sollte, in
Wirklichkeit aber so selten wie möglich einberufen wurde, bestand für das Fürsten¬
tum Weimar aus 1 Prälaten, 43 Rittergutsbesitzern und 9 städtischen Ab¬
geordneten, für Jena aus 1 Prälaten, 18 Rittern und 4 Städten, für Eisenach
aus 23 Rittern und 3 Städten. (Der „Prälat" ist die Akademie zu Jena.)
Seine Tätigkeit beschränkte sich auf die Kritik der Regierungsmaßnahmen, be¬
sonders der Gesetzgebung, auf die Äußerung von Wünschen und auf die Bewilligung
der Steuern. Die Stände verhandelten unter sich ohne besondern Aufwand von
Beredsamkeit und verkehrten mit der Regierung auf schriftlichen Wege, was trotz
der sorgfältig gewahrten devot-weitschweifigen Form und der recht häufigen
grundsätzlichen Gegensätze merkwürdigerweise gewöhnlich nur zwei bis vier Wochen
in Anspruch nahm. Die Tagung wurde mit einem feierlichen Aufzug im Schlosse,
wobei der ganze Hof, die Beamtenschaft, das Militär und die Bedienten in
Aktion traten, einer Predigt in der Schloßkirche, der feierlichen Eröffnungsrede
einer Exzellenz vom Geheimen Konsilium im „Großen Saal" und einem Festmahl
im „Schönen Saal" eingeleitet und später durch einen Festakt, den „Landtags¬
abschied", beschlossen. Die Verhandlungen wickelten sich nicht immer glatt ab;
Regierung und Stände pochten auf ihre alten Rechte, und die Herzogin ließ es
sich nicht nehmen, die Beschlüsse des Landtags gelegentlich zu „korrigieren".
Kein Wunder, daß man nicht immer in Frieden schied, und daß der Minister
bei der Schlußrede einen ermahnenden Ton anschlagen mußte, wie zum Beispiel
bei der Tagung von 1763, wo er sagte: „Wenn getreue Stände und Untertanen
gewahr werden, daß eine Landesherrschaft ihre Pflichten beobachte, so müssen
sie sich solches zu einem desto stärkeren Triebe dienen lassen, ihren eignen
Pflichten genug zu tun. Sie müssen die Größe der durch eine sanfte, weise und
gerechte Regierung ihnen zufließenden Wohltat erkennen. Sie müssen vor ihre
Obrigkeit beten. Sie müssen derselben die Regierungslast nicht noch mehr er¬
schweren, sondern durch Vertrauen, Liebe, Treue und Gehorsam erleichtern."
Bewiesen die Stände dagegen ein ausreichendes Maß von Entgegenkommen, wie
zum Beispiel bei dem Eisenachischer Landtage desselben Jahres, so erhielten sie
zum Schluß auch eine gute Note im Betragen: „Unsere verehrungswürdigste
Regentin haben sowohl in der Proposition als in dem anjetzo auszuhändigenden
Landtagsabschied Dero Sorge vor das Beste des Landes sowohl, als Jhro
edelmütige Uneigennützigkeit überzeugend zutage geleget. Und denen getreuen
Ständen muß ich öffentlich nachrühmen, daß sie sich als rechtschaffene Patrioten
erwiesen und die unumgängliche notwendige Landesbedürfnisse ohne Zurückhaltung
gerne bewilliget."
Dieser Ton paßte vollkommen in eine Zeit, wo sich die Bevölkerung eines
deutschen Kleinstaates noch als eine große Familie fühlte und in dem Landes¬
herrn tatsächlich auch den Landesvater sah.
Die Fürstentümer Weimar und Eisenach waren wirtschaftlich durchaus nicht
auf das „Ausland" angewiesen, sie produzierten alles, was sie brauchten, vielleicht
mit Ausnahme einiger Luxusartikel, selbst. Handel und Wandel waren durch
gesetzliche Vorschriften, Privilegien und Taxen geregelt, gesichert und bis zu
einem gewissen Grade auch eingeschränkt; Grundsatz war, daß „Erzeuger und
Verbraucher einander in die Augen sehn mußten". Am besten standen sich die
Handwerker. Sie waren durch ihre Innungen vor unliebsamer Konkurrenz
geschützt, sie arbeiteten nicht gerade mit Überstürzung, dafür aber mit Geschick-
lichkeit und Liebe und waren in ihrem Fache mehr oder weniger Künstler. Der
Zwischenhandel galt noch als Wucher, „nur Ernte und Arbeitslohn galten als
ehrliche und christliche Einnahmen". Wenn sich bei außerordentlichen Ereignissen
die bestehenden Verordnungen als unzureichend erwiesen, griff die Landesherr¬
schaft fürsorglich ein: so verbot Amalie bei schlechten Ernten die Verwendung
von Korn zum Branntweinbrennen oder bei einer Fleischteuerung die Viehausfuhr.
Den Judenzoll hob sie auf, beließ es jedoch bei der Bestimmung, daß die Juden
für jeden Tag Aufenthalt im Lande einen Taler zu zahlen hatten.
Der Großgrundbesitz galt noch nicht als beliebig veräußer- oder teilbares
Eigentum, sondern als Lehn. Der Erbe mußte den Lehnseid leisten und dabei
gewisse Abgaben zahlen. Starb die Familie aus, oder machte sich der Lehns¬
träger eines gemeinen Verbrechens schuldig, so fiel das Gut an die Herrschaft
zurück. Dafür waren die Gutsbesitzer auch hoffähig, regierten als „Stände" mit,
..hatten im Theater einen besonderen Platz und konnten in Weimar mit vollem
Geläut Schlitten fahren".
Viel schlimmer waren die Bauern daran, da sie für ihre Produkte an
bestimmte Absatzgebiete und Preise gebunden waren und bedeutende Abgaben an
Geld und Naturalien zu entrichten hatten. Am schwersten empfanden sie wohl
ihre Verpflichtung zu Hand- und Spanndiensten. Doch schaffte Amalie hier
Wandlung, indem sie die Fromm bei fürstlichen Bauten durch eine sehr mäßige
Steuer ablöste und die Holzfuhren der „Küchenamts-Untertanen" in eine Geld¬
abgabe verwandelte.
Die Häuser, sogar die in der Residenz, waren aus Holz und Lehm gebaut
und mit Stroh oder Schindeln gedeckt. Ihr Wert war deshalb gering, die
Feuersgefahr dafür um so größer. Die Herzogin suchte darauf hinzuwirken, daß
'hre Untertanen zur Bedachung mit Ziegeln übergingen, für Neubauten ordnete
sie solche durch eine Vorschrift von 1768 an; wer alte Häuser mit Ziegeln deckte,
erhielt den fünften Teil der Kosten ersetzt. Die wichtigste Regierungshandlung
Amaliens ist die Einführung der Feuerversicherung, die sie in den Jahren 1763
bis 1772 trotz des Widerstandes der Stände und der Bevölkerung durchsetzte.
Über die öffentliche Sittlichkeit, soweit sie das Volk betraf, wurde mit
drakonischer Strenge gewacht. Bei den Entgleisungen der Honoratioren drückte
man dagegen ein Auge zu, und zwar aus dem Grunde, weil hier die wirtschaft¬
lichen Folgen weniger schwerwiegend waren als bei den Unbemittelten, deren
uneheliche Deszendenz in der Negel der Allgemeinheit zur Last fiel und das
Landstreichertum vermehrte. Aus demselben Grunde erneuerte Amalie 1763 auch
das Gesetz, das allen Männern unter vierundzwanzig Jahren das Heiraten verbot.
Es entsprach durchaus dem Geiste der Zeit, daß man mit immer neuen
Verordnungen den Luxus bekämpfte, was in einem Lande ohne nennenswerte
Industrie gewiß seine Berechtigung hatte. Hand in Hand damit gingen Amaliens
Bemühungen um die öffentliche Gesundheitspflege und die Hebung des Ent¬
bindungswesens, Bestrebungen, bei denen sie freilich dank den Vorurteilen und dem
Aberglauben ihrer Untertanen häufig genug auf Mißtrauen und Widerstand stieß.
Von ganz besondrer Bedeutung waren in dem Lande, dein die Rolle zufallen
sollte, die erste Pflegestätte geistiger Freiheit zu werden, die Stellung und die
Macht der Kirche. Sie war ein wesentlicher Teil des Staates, die Erhaltung
des strengsten Luthertums war die vornehmste Pflicht der Landesherrschaft. In
jedem Ereignis erkannte man den Finger Gottes; mit einer an den Gewissens¬
zwang des Katholizismus gemahnenden Machtfülle machte die Kirche ihren Einfluß
bis in das Privatleben des Einzelnen hinein geltend. Die Kirchenbuße wurde
der ihr zugrunde liegenden vernünftigen Idee entfremdet und zu einer entehrenden
Strafe gemacht, von der sich — und das war das Bedenklichste! — Vermögende
mit Geld loskaufen konnten.
Die Volksschule lag, besonders auf den, Lande, wie damals überall im argen.
Die Lehrer, als Glöckner und Küster den Pfarrern untergeben, mußten ein
Handwerk oder Ackerbau treiben. Sie hatten täglich vier Stunden zu unterrichten,
sollten aber auch „die Kirchhöfe mit allem Fleiß verwahren und acht haben, daß
dieselben nicht etwa von den Schweinen zerwühlet und die Gräber von den
Hunden aufgescharret werden". Die meisten waren wohl alte Soldaten, Bediente
oder verkommne Handwerker. Für die wenigen besser gestellten diente das
Gymnasium zu Weimar als Seminar. Es war überhaupt eine seltsame Mischung
verschiedner Bildungsanstalten. Im Jahre 1766, als Professor Musäus, der
Märcheudichter, als „Schulkollege" daran wirkte, zählte es in sechs Klassen
etwa vierhundert Schüler, darunter viele vom Lande, die bei „christlichen, ehr¬
lichen Leuten" untergebracht waren. Über Schulordnung und Lehrplan berichtet
Bode mancherlei Interessantes. Ergötzlich ist, daß zu den vielen Dingen, die
den Schülern verboten waren, auch das Schießen auf der Gasse, das „Auslaufen
auf die Dörfer", das Tabakrauchen und das Baden in der Ilm gehörten. „Kein
Schüler soll sich gelüsten lassen, sich mit Weibspersonen einzulassen und ihnen
die Ehe zu versprechen."
Die Besprechung der Akademie zu Jena greift schon mehr in das wissen¬
schaftlich-literarische Gebiet hinüber und braucht uns deshalb hier nicht zu
beschäftigen. Auch gehörte diese Anstalt ja nur zum Teil zu Weimar, da sie
von vier ernestinischen Fürsten unterhalten wurde. Aber auch hier verrät die
Überfülle der Gebote und Verbote, wie schwer es den nutritoros wurde, mit der
zum Teil recht leichtsinnigen und gewalttätiger Jugend fertig zu werden und
den Geist einer neuen Zeit, der sich zunächst in rohen und abstoßenden Formen
se man sich darüber einig, daß der russisch-japanische Krieg und
sein Ausgang nichts Geringeres bedeutet als einen Sieg des öst¬
lichen Asiens über das östliche Europa, so wird es lehrreich sein,
zu untersuchen, wie sich das geistig-seelische Leben beider Völker
zueinander verhält, und ob dieses schon die Ansätze zu den Er¬
gebnissen erkennen läßt, die die Kulturüberlegenheit der Japaner gegenüber den
Russen offenbart haben. Eine Gegenüberstellung der russischen und der japa¬
nischen literarischen Kultur und ihrer Grundlagen wird zur Lösung dieser Frage
vielleicht einiges beitragen. Eine willkommne Gelegenheit zu einer solchen
Gegenüberstellung bieten uns die beiden neuesten Darstellungen der russischen
und der japanischen Literatur, die in dem großen und mustergiltigen Sammel¬
werk der „Literaturen des Ostens" in Amelangs Verlag erschienen sind, be¬
arbeitet von zwei so bedeutenden Fachmännern wie Al. Bruckner in Berlin und
K. Florenz in Tokio. Durch Heraushebung zweier charakteristischer Literaturen
des europäischen und des asiatischen Ostens soll dem Leser zugleich eine Probe
des dankenswerten Unternehmens vorgeführt werden.
In den Grundlagen der Kulturen Rußlands und Japans beobachten wir
zunächst einige hervorstechende Übereinstimmungen. Beide ruhen auf einer ältern,
höhern Kultur, die ihrerseits durch ihre Abkömmlinge überholt, ja überwunden
worden ist: ist die russische Kultur ein Kind der byzantinischen, so die japanische
ein Kind der chinesischen Kultur. China und Byzanz pflegt man ja gern zu¬
sammenzustellen als Jubegriffe aller geistigen Stabilität und Sterilität. Wie
Hütten sie aber dann so kulturzeugend wirken können? Diese Frage zu be¬
antworten, ist hier nicht unsre Aufgabe; wer sich darüber unterrichten will,
findet dazu Gelegenheit in den Bänden unsrer Serie, die die chinesische und
die byzantinische Literatur behandeln. Uns muß hier die feststehende Tatsache
genügen, daß, wie Rußland die byzantinische, so Japan die chinesische Kultur
ererbt und weitergeführt hat, in sprachlicher, kirchlicher und geistiger Hinsicht.
Wie die ältere russische Literatur lange unter dem von Byzanz über-
kommnen Dualismus zwischen literarischer und gesprochner Sprache litt (siehe
Bruckner S. 45f.), so auch Japan unter dem von der chinesischen Kultur her¬
rührenden (siehe Florenz S. 257).
Und wie sich Rußland zu dem Christentum der griechisch-orientalischen
Kirche bekehrte, so Japan zum chinesischen Konfuzianismns, daneben freilich
auch zum indischen Buddhismus.
Wie endlich die altrussische Literatur größtenteils eine Kopie der byzan¬
tinischen war (s. Bruckner S. 15f.), so wurde die japanische jahrhundertelang
von der chinesischen gespeist (s. Florenz, Index unter „Chinesisch").
Auch im politischen Leben wäre die Parallele weiterzuführen, wenn —
Rußland von einer Schickung verschont geblieben wäre, die auch Japan zu derselben
Zeit (im dreizehnten Jahrhundert) gedroht hatte, die es aber glücklich abwandte,
von dem Mongoleneinfall. Dieser brachte in die russische Kultur einen Riß,
der noch viel verhängnisvoller gewirkt hat als für uus der Dreißigjährige Krieg
und an dessen Folgen Nußland bis heute krankt. Das alte Nußland mit
seinem politischen und Kulturmittelpunkt Kiew enthielt alle Keime zu einem
freiheitlichen Staatswesen, und erst nach dessen Zerstörung durch die Mongolen
und der Verlegung des Schwerpunktes nach Norden kam der im Moskowiter-
tum verkörperte tatarisch-mongolische Despotismus und griechisch-orientalische
Cäsaropapismus auf, unter dem Rußland bis jetzt gelitten hat (vgl. Bruckner
S. 24) und auch geistig zurückkam.
Von diesem Despotismus ist Japan dank seiner insularen Lage verschont
geblieben; sein Staat und seine Kultur konnte sich in gerader Linie fortentwickeln,
und das Gesunde dieser Entwicklung liegt vor allem darin, daß Japan im
wesentlichen ein Feudalstaat blieb bis in die jüngste Zeit (1868), indem sich
schon in früher Zeit durch das Vorherrschen einer starken Kriegerkaste eine Art
Hcmsmeiertum bildete (Shögunat), das die kaiserliche Gewalt immer in Schranken
hielt. Dieses System wurde am dauerndsten begründet durch den Militär¬
gouverneur Joritomo (1186). „Von Kamakura aus, das er sich in Ostjapan,
fernab von der Hauptstadt Kyöto, zum Sitz erkoren hatte, regierte er die sechs-
undsechzig Provinzen des Landes durch von ihm selbst ernannte Beamte, und
dem Kaiser blieb, wie einst den letzten fränkischen Königen, nur der ünßere
Schein der Macht. Fast siebenhundert Jahre hat sich das von Joritomo be¬
gründete System gehalten, dem Kaiser in Kyöto als dem scheinbaren Inhaber
und Spender aller Macht und Ehren theoretisch die höchste Ehrfurcht zu be¬
zeigen, ihm dabei aber nicht ein Atom von Einfluß auf die Rcgieruugsgeschcifte
zu erlauben." (Florenz S. 255.) Es ist bezeichnend, daß die verschiednen
Perioden der japanischen Geschichte nicht nach den Kaiserdynastien, sondern viel¬
mehr nach diesen Shögunaten benannt werden. Daß diese sich nicht zu fest
einnisteten, dafür sorgten schon die zahlreichen kleinen Feudalfürsten, von deren
Bezwingung oder Nichtbezwingung oft ihr Schicksal abhing. Das letzte und
längste Shögunat war das der Tokngawa (1601 bis 1868), dessen Stammherr
Jeyshu „eine kluge, weitsichtige, feste, aber das Volkswohl befördernde Politik"
einleitete, die auf Jahrhunderte in Geltung blieb.
Vergleichen wir nun, wie sich hiernach das Kulturbild ausnimmt, das uns
Rußland und Japan im sechzehnten Jahrhundert bieten.
Die Nationalisierung und Sozialisierung der Sprache hatten sich in Japan
schon im dreizehnten Jahrhundert vollzogen (die ältesten Denkmäler der japa¬
nischen Literatur stammen aus dem Anfang des achten Jahrhunderts), also zu
einer Zeit, wo in Nußland zwar noch der kleinrussische (Kiewer) Dialekt in
Blüte stand, aber durch die Verschiebung nach Norden bald ganz zurück¬
gedrängt wurde, um dann der tyrannischen Macht des Kirchenslawischen zu
weichen, das jede volkstümliche Regung bis in die Mitte des achtzehnten Jahr¬
hunderts erstickte und auch jede freiere Entfaltung der Literatur unterband.
„Das Wesen der Schriftstellerei erkannte man in dem »schlauen Verflechten«
der Worte, hinter denen sich der Verfasser selbst nichts Rechtes mehr gedacht
hat" (Bruckner S. 18). Als 1683 der Psalter ins Großrussische übersetzt wurde,
verbot der Patriarch die Drucklegung. Die Buchdruckerei lag ja noch das ganze
siebzehnte Jahrhundert hindurch in den Händen der Geistlichkeit.
Demgegenüber finden wir in Japan schon im dreizehnten Jahrhundert die
organische Mischung zwischen Chinesisch und Japanisch in dem Grade vollzogen,
als neues Blut aus andern Kreisen der Bevölkerung (als den höfischen) in die
Schriftstellerzunft drang. „Die Schlachtenepen sind bereits in der Sprache ge¬
schrieben . . ., die in vielerlei Abstufungen ... das Ausdrucksmittel der spät-
mittelalterlichen und modernen Literatur und weiterhin die moderne Umgangs¬
sprache geworden ist." (Florenz S. 258.)
Man sieht also schon hieran: organische Entwicklung in Japan, unorganische
M Rußland. Welcher Unterschied zwischen dem Moskau und dem Yedo des
sechzehnten Jahrhunderts! Dort war alles geistige Leben unter dem dumpfen
Druck der Geistlichkeit erlahmt, hier herrschte unter dem Shogun Jeyashu ein
völlig demokratisches Bildungssystem. „Überall erwachte die schlummernde
Energie und trat eine vordem nie erlebte Rührigkeit aller Schichten des Volkes
vom Fürsten bis zum gemeinen Manne zutage." (Florenz S. 417.) Gab es
in Moskau nur eine einzige Druckerpresse auf dem Hofe des Patriarchats
(Bruckner S. 40), so wurden in Aedo die wichtigsten Bücher durch Druck mit
beweglichen Typen vervielfältigt, sowohl in der offiziellen wie in zahlreichen
Privatdruckereieu (Florenz S. 418), die das Lesebedürfnis der mittlern und der
untern Volksklassen befriedigten, was in Rußland noch heute ein frommer
Wunsch ist. Und lag hier die literarische Produktion im sechzehnten Jahr-
hundert noch völlig im argen, so war sie in Japan schon bis ins Volk gedrungen:
„das Volk begann für das Volk zu schreiben".
Faßt man diese grundlegenden Unterschiede fest ins Auge, so wird man
sich von hier aus schon einen Begriff von dem Charakter der russischen und
der japanischen Literatur machen können, in ihrem allgemeinen psychischen Ha¬
bitus wie in den einzelnen Gattungen.
Die russische Literatur nimmt sich neben der japanischen aus wie die Ilias
neben der Odyssee. Dort ist alles von Kampfesstimmung erfüllt und von
Kampfeswogen, von Ruhelosigkeit und Unstetigkeit; es ist der Kampf eines
Volkes, das noch kein festes Kultur- und Lebensideal gefunden hat, dessen
geistiges Leben in keinem festen Punkte ruht, das wie eine Magnetnadel bald
zu dem einen, bald zu dem andern Pol zittert, bald gegen Nußland, bald
gegen Europa kämpft, das seine Vergangenheit verleugnen möchte und doch von
ihr nicht los kann und so in einen Zwiespalt mit sich selbst gerät.
Hier aber herrscht eine friedliche, genußfrohe, mit sich selbst zufriedne, mehr
beschauliche als tatenlustige Stimmung; die Stimmung eines Volkes, das sich in
einem selbstgebauten Hause wohl fühlt und keine Neigung empfindet, dieses
Haus zu zerstören, aber auch keine, sich in diesem Hause ein- und abzuschließen;
eines Volkes, das die Harmonie des Daseins zu schätzen weiß, das auch in
dem freiwilligen Umbildungsprozeß, dem es sich unterzogen hat, keine Knltur-
dissonanzen aufkommen läßt, das vielmehr, in seiner eignen alten Kultur fest
ruhend, nun die fremde zu sich heranzieht und sich assimiliert.
Diesen Unterschied bemerkt man schon in dem Versuch, die Entwicklung
beider Literaturen zu gruppieren: die neunzehn Kapitel, in die Bruckner die
russische Literatur zu bringen suchte, lassen sich schwer unter größere, gemein¬
same Gedanken zusammenfassen; die russische Literatur löst sich in Persönlich¬
keiten auf, von denen jede ihren eignen Weg geht; Puschkin, Gogol, Tolstoj,
Dostojewskij bilden bei ihm eigne Kapitel.
Ganz anders in der japanischen Literatur: diese bildet eine große, unge-
brochne Entwicklungslinie von der ältesten Zeit (bis 792) über das Mittelalter
(792 bis 1601) zu der neuern Zeit (1601 bis 1868). Nur die neueste Zeit,
die des europäischen Einflusses, bezeichnet einen gewissen Bruch mit der Tra¬
dition, ohne aber darum, soweit aus der etwas zu knappen Darstellung auf fünf¬
zehn Seiten erkennbar ist, in eine Feindschaft gegen die eigne Vergangenheit
umzuschlagen. Der friedliche Übergang scheint auch hier gewahrt worden zu
sein, wenn es auch an kleinern Konflikten und Spannungen nicht fehlen kann.
Freilich wird man sagen, daß sich wahre Größe erst unter widerwärtigen
Verhältnissen entfaltet. Soweit man darunter Seelengröße versteht, hat die
russische Literatur diesen Beweis geliefert, rein ästhetisch wird man auch an
ihren bedeutendsten Werken vieles auszusetzen haben. Die japanische Literatur
als ein Kind des Glückes und des Friedens kann freilich nicht an innerer
Gewalt mit der russischen wetteifern; sie zeigt vielmehr nur zu oft die Züge
des Epikuräers, der einen leichten Lebens- und derben Sinnengenuß liebt, dazu
einen burschikosen, hausbacknen Humor und eine beschaulich-sentimentale Freude
an der Natur. Die japanische Phantasie erschöpft sich also wesentlich in der
Darstellung der bunten Erscheinungswelt, sie ist vorwiegend objektiv gerichtet,
steht also hierin im Gegensatz zu der subjektiven, nach innen gewandten, darum
weniger künstlerischen, aber um so mehr philosophisch-skeptischen russischen Literatur.
Dekadenten hat die japanische Literatur bisher nicht aufzuweisen, und wenn sie
vielfach schlüpfrig ist, so liegt darin mehr der Ausdruck einer naiven Natur¬
freude als einer moralischen Morbidität.
Was also die japanische Literatur im Gegensatz zur russischen kennzeichnet,
ist eine frühe und starke Neigung zur Lyrik, eine Vorliebe für die humoristisch¬
realistische Erzählung und eine besonders hohe Entwicklung des Dramas.
„Zeiten und Menschen waren der Entwicklung einer lebensvollen, ja nur
lebensfähigen Lyrik nicht günstig gewesen. Bei dem Betonen des sozialen
Zweckes der Literatur, wie es seit und durch Bjelinskij Mode wurde, mußte
subjektive Kunst zurücktreten." (Bruckner S- 467.) Demgegenüber ist die ja¬
panische Literatur mit Lyrik gesättigt, und zwar mit einer Lyrik, die uns zeigt,
„daß schon die ältesten Japaner ein lebenslustiges, gesangesfreudiges, selbst¬
bewußtes und kriegerisches Volk waren, von dem wir sehr wohl begreifen, daß
es zwar später die Lehren des weltflüchtigen Buddhismus übernehmen konnte,
sich aber dadurch nicht dauernd um seine Tatkraft bringen ließ" (Florenz S. 12).
Die für die spätere Lyrik so charakteristische Liebe zu sinniger Naturbeobachtung,
„das ewige Schwärmen und Tändeln mit Blumen und Blüten, Vögeln, In¬
sekten, Wind und Mond", das Besingen von Astern, Pflaumen- und Kirsch¬
blüten findet sich erst seit dem achten Jahrhundert und beruht auf chinesischem
Einflüsse, den sie „mit merkwürdiger Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit"
auf sich wirken ließen, sodaß die ihnen ursprünglich fremde Gedanken- und
Gefühlswelt bald „ein wesentliches Element ihrer eignen Seele bildet". Die
Japaner haben denn anch bei ihrer Neigung für die Kleinkunst dieses malerische
Element in den beliebten Kurzgcdichten zu hoher Virtuosität entwickelt. Ich
setze einige Proben her.
Die Hauptstürke der russischen Erzählungskunst bildet die realistische und
die satirische Erzählung, die der japanischen die historische und die humoristische.
Darin spiegelt sich wider die verschiedne Stellung beider Völker in politischer,
kultureller und psychologischer Hinsicht. Der russische Erzähler stellt sich außer¬
halb der Gesellschaft, die er schildert, der japanische stellt sich mitten in sie
hinein. Jener hat immer irgendeine Tendenz, eine soziale, moralische oder der
Kultur, dieser will nur durch die Schilderung wirken, erheiternd und unter¬
haltend; nur selten wird er lehrhaft, mystisch überhaupt nicht. Es ist übrigens
eine höchst auffallende Tatsache: während die hervorragendsten russischen Roman¬
dichter wie Gogol und Tolstoj im spätern Alter einen: ungesunden Moralis¬
mus und Mystizismus, ja Asketismus verfallen (s. Bruckner S. 248 und
357f.), finden wir bei den buddhistischen Japanern eine solche Neigung nicht,
sie sind vielmehr in viel höherm Grade „Kinder der Welt", als man von Orien¬
talen erwarten sollte. Wir greifen zur Charakteristik je einen Hauptvertreter
der historisch-romantischen, der komischen und der realistischen Richtung heraus,
und zwar für die erste Bakin (1767 bis 1848). für die zweite Jkku (1765 bis
1831) und für die dritte Shunsui (1789 bis 1842).
Bakin. dessen Popularität bis in die achtziger Jahre vorhielt, wirkte weniger
durch künstlerische und psychologische als durch technische und sentimentale
Effekte und lyrische Anwandlungen. Er hat sich durchaus dem herrschenden
Durchschnittsgeschmack angepaßt; seine Helden sind konfuzianische Idealmenschen,
die mit moralischem Pathos auftreten und tugendhaft handeln. In seinen
Romanen wimmelt es von Phantastischen Ereignissen, die gestrüppartig durch¬
einander wuchern; es sind nach unserm Begriff mehr Märchen als Erzählungen
und weit ausgesponnen — sein beliebtester Roman umfaßt 106 Bände —,
sodaß er sich oft selbst nicht mehr zurechtfand. Als sein bestes Werk gilt die
„wunderbare Geschichte vom Bogenspannmond" (Florenz S. 532).
Höher als der Moralist Bakin steht der genial-leichtsinnige Humorist Jkku.
Sein Reiseroman „Auf Schusters Rappen" (Florenz S. 557ff.), der in der
Erfindung einigermaßen an Chaucers „Canterbury-Geschichten" erinnert, zum
Teil auch in der naiven Derbheit der Schilderungen, erfreut sich der größten
Beliebtheit und verdient sie auch vollauf schon durch die Zeichnung der beiden
Hauptgestalten Yaji und Kida, „die gelungensten Gestalten, welche bisher ein
japanischer Dichter dargestellt hat; lebensvolle Individuen, deren Bekanntschaft
man so leicht nicht wieder vergißt, und welche in der komischen Literatur für
das japanische Volkstum eine ähnliche Rolle spielen wie Sancho Pansa, Fal-
staff, Tartarin und Onkel Brüsig für die westlichen Völker".
Die realistische Erzählungskunst ist fast ganz erotisch, und zwar im
niedrigsten Sinne; ihre bedeutendsten Vertreter, Saikwaku im siebzehnten und
Shunsui im neunzehnten Jahrhundert, zeichnen nur Wüstlinge und Lustdirnen.
..Die bürgerliche Gesellschaft war eben sittlich so tief verkommen, daß eine rea¬
listische Darstellung des Lebens von der anständigen Seite überhaupt nicht mehr
denkbar erschien." Auffallend ist, daß sich auch in der neuesten Zeit des euro¬
päischen Einflusses (seit 1889) eine naturalistische Reaktion im Geiste Scnkwakus
vollzieht (Florenz S. 615), nachdem schon der modern-europäische Realismus
manche schöne Probe seines Wirkens geliefert hatte.
Man sieht jedenfalls: ethische und künstlerische Tendenz stehn bei den
Japanern in umgekehrtem Verhältnis zueinander wie bei den Russen.
Wie ist es nun im Drama? Hier gilt, was seine Pflege betrifft, das¬
selbe wie für die Lyrik: wie diese ist es in Nußland nur schwach, in Japan sehr
stark ausgebildet. Die Gründe für das eine wie für das andre mag man bei
Bruckner (S. 466) und Florenz (S. 370 f.) nachlesen. Jedenfalls beweist der
Unterschied wieder den mehr volkstümlichen und historischen Ursprung der ja¬
panischen Literatur. Das Drama hat sich in Japan ganz ähnlich entwickelt
wie in Griechenland (f. Florenz S 372f.). liegt jedoch wie die Lyrik mit
seinen Wurzeln in China; es hat im Gegensatz zur Erzählung einen ernsten
Charakter, sodaß ein komisches Drama bis heute uicht aufkommen konnte. Wohl
aber hat sich, wie bei den Griechen das Satyrspiel oder bei den ältern Italienern
..Intermezzo", ein Scherzhaftes Zwischenspiel entwickelt, das sich später zur Ko¬
mödie oder besser zum Schwank auswuchs. War auch dieses ältere Drama aus
dem Mittelstande hervorgegangen, so nahm doch das Bürgertum erst einen
stärkern Anteil daran im achtzehnten Jahrhundert, wo es seine höchste Blüte
erreichte, indem es seine Hauptnahrung aus dem Puppenspiel und der Paulo-
«"me zog und mit musikalischer Begleitung verbunden war. Der bedeutendste
und fruchtbarste Bühnendichter war Chikamatsu (siebzehntes und achtzehntes Jahr¬
hundert; s. Florenz S. 587 bis 600); seine Bedeutung liegt weniger in seinen
historische» als in seinen bürgerlichen Schauspielen — wieder eine wichtige
soziale Tatsache —, und zwar ist er hierin ein Pendant zu Saikwaku, nur daß
der Dramatiker künstlerisch und psychologisch höher steht als der Novellist. Für
Japan hat er jedenfalls dieselbe Bedeutung wie Shakespeare für England.
Sein beliebtestes Stück ist noch jetzt „Die Kämpfe des Neichsvatcrs", eines
berüchtigten Piraten, der die Holländer aus Formosa vertrieb. Dieses Stück
verdankt seinen Erfolg vor allem der Verherrlichung der japanischen Tapferkeit
und Vaterlandsliebe. Neuerdings bereitet sich eine große Reformbewegung in der
dramatischen Dichtung wie in der Schauspielkunst vor (s. Florenz S. 617 ff.).
Manchen wird vielleicht die vorstehende flüchtige Übersicht enttäuscht haben,
und vor allem wird ihm die Vergleichung mit der russische» Literatur bedenklich
vorkommen. Die japanische Literatur, so wird man sagen, ist ja noch gar nicht
in die Reihe der Weltliteraturen eingetreten, während die russische schon längst
ihren Platz darin einnimmt. Es kam uns auch nicht auf die literarisch-ästhe¬
tische, sondern auf die kulturpsychologische und soziale Seite an, und da muß
man sagen: wenn ein Volk, das bis vor kurzem nicht aus seiner Kultursphäre
herausgetreten ist und auch keine nennenswerte Volkspoesie besitzt, eine so reiche
Kunstliteratur erzeugt hat, und zwar durch glückliche Anpassung an die chinesische
Literatur, so muß das für die Zukunft die besten Hoffnungen erwecken, zumal
wenn man bedenkt, daß sich die russische Literatur trotz ihrer so reichen Volks¬
poesie erst entfalten konnte, als sie in Berührung mit dem kulturfremden euro¬
päischen Geiste trat. Gerade die frühe Individualisierung ist es, die man bei
aller Macht der Überlieferung an der japanischen Literatur bewundern muß,
die geistige Regsamkeit, die alle Stände auszeichnet und ein lebendiges Zu¬
sammenspiel der Kräfte ermöglicht, im Gegensatz zu den vielen hemmenden Ele¬
menten in der russischen Kultur. Diese alte Individualisierung aber bietet die
beste Gewähr dafür, daß sich auch die jetzt sich vollziehende Literaturreform,
wie alle übrigen Reformen, weniger gewaltsam, aber um so durchgreifender ge¬
stalten werden als die des petrinischcn Rußland.
l s war meine dritte Reise, die ich im Frühjahr 1907 nach Rom
unternahm. Schon bei den ersten beiden Fahrten reifte in mir
der Entschluß, die römische Campagna, jenes eigenartige Gebiet
außerhalb der Mauern Roms, eingehend kennen zu lernen. So-
I wohl die gewaltigen historischen Ereignisse, die sich hier abspielen,
als auch die eigentümlichen wirtschaftlichen Verhältnisse und ebenso die Reform¬
maßnahmen der italienischen Regierung, die sich auf das Gebiet beziehen,
regen zum Studium an. Weitgehende Empfehlungen ermöglichten es mir, die
eigenartigen Verhältnisse des Gebiets kennen zu lernen.
Unmittelbar hinter den Mauern der Stadt Rom beginnt das ehemalige
Suborbio, ein 7530 Hektar großer Gürtel, bedeckt mit Weinbergen, Gärten
und Parkanlagen, zwischen denen einzelne Gehöfte, Ostarier, Villen und Kirchen
hervortreten. Ganz unmerklich geht nun dieses Gebiet in die eigentliche römische
Campagna über. Im Norden und Osten von einem schützenden Wall freund¬
licher Gebirge, nach Süden und Westen vom Meere umgeben, bildet sie eine
fast unbewohnte, wellige Grasfläche mit größern und kleinern Plateaus.
Bogen antiker Wasserleitungen ziehn vom Gebirge her; auf dem langen Rücken
der Via Appia erkennt man die Trümmer ehemaliger Grabdenkmäler; in den
Niederungen breiten sich Wassertümpel und Nohrpflanzen aus; einzelne Pinien
Und hohe Eukalyptusbäume wechseln mit kleinen Gehölzen von Steineichen.
Akazien u. a. ab; zerstreut treten größere Gehöfte, Strohhütten und Stroh¬
feime hervor; wenige Herden langwolliger Schafe oder silbergrauer, langgehörnter
Rinder, von berittenen Hirten bewacht, beleben diese menschenleere, öde und
doch ausdrucksvolle Landschaft. Es ist ein seltsames Bild von melancholischer
Größe, das wir um die ehemalige Weltstadt erblicken!
Das gesamte Gebiet hat einen Umfang von mehr als 204300 Hektar.
Davon wird der größte Teil, und zwar etwa neun Zehntel, als Weide und Wiese
genutzt, während sich nur ein geringer Teil, etwa ein Zehntel, unter dem Pfluge
befindet. Die bewaldete Fläche beträgt beinahe 20 Prozent der Gesamtfläche.
Der größte Teil des Waldes besteht aber aus wirrem Gestrüpp der Macchicn
und nur zum Teil aus landschaftlich zwar schönen, aber wirtschaftlich wertlosen
Wäldern von immergrünen Eichen und Pinien. Solche bedecken die Küste von der
Mündung des Tibers bis zur Bucht von Antium. Südlich von Castel Fnsano
beginnt das Gestrüpp der Macchien, das von langgestreckten Sandhügeln unter¬
brochen wird, in denen die Ruinen der römischen Villen vergraben liegen.
In das Gebiet teilen sich nicht viel mehr als zweihundert Eigentümer.
Selbst nach der Säkularisation der Kirchengüter im Jahre 1873 versäumte man
eine dem Staate zugefallne Fläche von 47000 Hektar zur Gründung von
Bauerngütern zu benutzen, statt dessen verkaufte mau die Güter an wenige
Großgrundbesitzer. Acht Eigentümer besitzen über die Hülste des Areals. Fast
die Hälfte umfaßt Güter von 1000 bis 7400 Hektar, das Haus Fern besitzt
sogar 15000 Hektar, etwa 7 Prozent der ganzen Campagna. Von dem Grund¬
besitze sind heute 8 Prozent im Besitz der Toten Hand. 92 Prozent sind freies
Eigentum. Davon besitzen adliche Grundherren 51 Prozent und bürgerliche
41 Prozent. Der adliche Besitz befindet sich größtenteils in den Händen päpst¬
lichen Nepotenadels. Jedes dieser Geschlechter hat einen oder mehrere ihrer
Angehörigen auf dem Stuhl Petri gehabt, daher verdanken sie ihre Besitzungen
ihrer päpstlichen Verwandtschaft. Die andre Klasse der Campagnaeigcntümer
ist größtenteils aus dem Pächterstande hervorgegangen.
Die charakteristische Eigentümlichkeit unsers Gebiets ist die Latifundien¬
wirtschaft und die nomadisierende Schafweidewirtschaft zum Teil in Verbindung
mit einem extensiven Ackerbau. Diese Wirtschaftsweise kann als Prototyp eines
großen Teils der Landwirtschaft des südlichen Italiens angesehen werden. Kennen
wir die Landwirtschaft der römischen Campagna, so kennen wir damit zugleich
einen großen Teil der landwirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse des übrigen
Italiens überhaupt. Man hat zwar im Auslande die Landwirtschaft dieses
Landes als eine Teilbauwirtschaft betrachtet. Und doch dominiert der Teilbau
nur in Toskana, in der Romagna, in Umbrien und im Norden Mittelitaliens
in der Hauptsache, während das Latifundium in Süditalien und in Sizilien,
wenn auch nicht ausschließlich, so doch größtenteils verbreitet ist. Nur an der
Küste und in einzelnen Talgebieten ist die Kleinwirtschaft in Verbindung mit
der Baumkultur vertreten. Es ist einleuchtend, daß die Anhäufung des Grund
und Bodens in wenigen Händen ein Hemmschuh für die wirtschaftliche Ent¬
wicklung des Landes sein muß. Rückwirkend beeinflußt dieser Zustand aber auch
ganz besonders die ganze ökonomische Entwicklung des Landes, da Italien ein
ackerbautreibendes Land ist und auch infolge seiner natürlichen Beschaffenheit
ein solches bleiben wird. Aber auch bei der jetzigen Besitzverteilung würde die
Landwirtschaft ihre Aufgabe weit besser erfüllen, wenn sich der Grundbesitz
nicht in den Händen des hohen Adels befände. Der römische Edelmann ist
meist kein ausübender Landwirt. Es fehlt ihm jede Lust am Landleben. Er
verpachtet seine Güter in der Regel nur an einen Pächter, um möglichst wenig
Unangenehmes zu haben. Erfreulicherweise hat sich aber in neuerer Zeit in
der Bewirtschaftung der Güter, wie überhaupt in landwirtschaftlicher Beziehung,
ein Wandel wohltuend bemerkbar gemacht. Es gibt auch jetzt größere Grund¬
herren in Italien, die sich die Bewirtschaftung ihrer Güter sehr angelegen
sein lassen und mustergiltig wirtschaften. Der wirtschaftliche Zustand der
römischen Campagna ist jedoch heute im wesentlichen derselbe, wie er sich im
vierzehnten Jahrhundert entwickelt hat. In den letzten Jahren sind zwar
Landwirtschaftsbetriebe eingerichtet worden, die das Ackerland unter dem Pfluge
intensiv bewirtschaften, doch ist ihre Zahl so gering, daß der Gesamtcharakter
der Landwirtschaft der römischen Campagna dadurch nicht beeinflußt wird.
Historisch interessant ist nun, daß das Gebiet im kaiserlichen Rom ein
völlig andres Bild zeigte. Wie bekannt, nahm Reichtum und Wohlstand im
alten Rom ins Ungemessene zu, weshalb auch die Nachfrage nach verfeinerten
Nahrungs- und Genußmitteln stetig steigen mußte. Brodgetreide erzeugte man
in der Umgegend schon längst nicht mehr, da dessen Bedarf durch den über¬
seeischen Import gedeckt wurde. Dagegen brachte die Landwirtschaft der Um¬
gegend solche Nahrungs- und Genußmittel hervor, deren die verfeinerte
Millionenstadt bedürfte. Frisches Gemüse und Obst wurden im alten Rom
in großen Mengen verzehrt. Solche konnten wegen ihrer geringen Haltbarkeit
nur aus der Umgegend bezogen werden. So befinden sich hinter den prächtigen
Parks der herrlichen Villen die Gemüsegurken, Obstbaumpflanzungen und
Blumenfelder. Die Gegend war ein weiter Garten, und jedes Fleckchen Erde
wurde sorgsam bearbeitet, gedüngt und bewässert. In der landwirtschaftlichen
Tierhaltung trat die Zucht von Hühnern, Tauben, Krammetsvögeln, Pfauen,
Rebhühnern, Kranichen, Schwänen und dergleichen mehr in den Vordergrund.
Es handelte sich namentlich um die Gewinnung einzelner Körperteile, wie u. a.
von Leber, Zunge usw., die zu feinen Gerichten verarbeitet wurden. In der
weitern Umgegend folgten dann Milchwirtschaft und Futterbau. Von hier aus
verkaufte man Kuh- und Schafmilch, gemästete Kälber und junge Lümmer. Die
Viehhaltung muß hier eine weite Verbreitung gehabt haben, denn der Bedarf
an frischer Milch und Fleisch in der damaligen Millionenstadt ist ungeheuer
gewesen. Plinius der Ältere berichtet uns, daß die Landwirtschaft in unserm
Gebiete zur Zeit des kaiserlichen Roms die höchste Stufe der Entwicklung erreicht
hatte. Sobald nur die Nachfrage nach den überfeinerten Genußmitteln nachließ,
mußte eine furchtbare Krisis über das Gebiet hereinbrechen. Es ist bekannt, wie
Roms Glanz schnell verblaßte. Volkszahl und Reichtum verminderten sich schnell;
Gregorovius schlüge die Einwohnerzahl der Stadt bei der Ankunft Alarichs auf
höchstens 300000 an. Im vierten und im fünften Jahrhundert war dann die
römische Cnmpagna völlig ruiniert. Am Ende des sechsten Jahrhunderts-ge¬
langte das Gebiet in den Besitz der Kirche, die dann für eine Bebauung des
Bodens sorgte. Doch wurde dessen weitere Entwicklung durch das Hereinbrechen
der Barbaren und der Langobarden gehemmt. Bei dieser fortdauernden Unsicher¬
heit rief die Kirche die ansässigen Baronalherren als Beschützer an. Sie übertrug
ihnen die Verteidigung des Landes, wofür sie mit Land beschenkt wurden. Sogar
die Päpste selbst wandten sich in der Not an die Großen. Im elften und im
zwölften Jahrhundert befand sich das Land in der Hand von wenigen Ge¬
schlechtern. Die Zustände mußten natürlich auf die wirtschaftlichen Verhältnisse
unsers Gebiets verderblich einwirken. Unter dem ewigen Kriegsgetümmel wurde
der Boden nicht regelrecht bebaut, denn der ehemalige Ackerbauer war nun
Kriegsknecht. So mußte unter dein Einfluß des Feudalismus das römische
Gebiet entvölkert werden. Daher kamen auch weite Strecken Landes in völlige
Verwahrlosung. Der Großgrundbesitz gelangte nun auch im übrigen Italien
zur Entwicklung. Nach dem elften Jahrhundert begann auch ein neuer Kampf,
der zwischen dem Adel und den Städten. Die ^ugendfrischen aufblühenden
Städte Norditaliens warfen den Landadel zu Boden. Rom dagegen fand
dazu nicht Kraft genug. In Norditalien konnte sich demgemäß der Grund und
Boden nicht in wenigen Händen konzentrieren, wie es in Mittel- und Süd¬
italien geschah. Das Papsttum bildete sich aber allmählich zur Fürsteumacht
aus und brach nach langen Kämpfen die Gewalt des Adels. Dessen Grundbesitz
wurde zum überwiegenden Teil von der Kirche konfisziert. Das auf diese
Weise in die Hände der Päpste gelangte Eigentum wurde nun an die nepotischen
Anhänger des jeweiligen Inhabers des Heiligen Stuhls vergeben. Doch unser
Gebiet war schon entvölkert, und es ist auch nach dieser Zeit nicht mehr be¬
völkert worden.
Ebenso wie der Großgrundbesitz ist die weltberüchtigte Malaria ein un¬
umschränkter Gewalthaber für die wirtschaftlichen Zustände der römischen
Campagna geworden. Vor nicht langer Zeit hat man noch die Krankheit als
alleinige Ursache für die ungesunden wirtschaftlichen und sozialen Zustände des
Gebiets angesehn. Man war in maßgebenden Kreisen der Ansicht, daß an
eine Reform der Campagna in volkswirtschaftlicher und sozialer Richtung nicht
gedacht werden könne, bevor nicht die natürlichen Bedingungen für die land¬
wirtschaftliche Produktion gebessert würden. So sehr dies auch als richtig
anerkannt werden muß, so ist doch zu bedenken, daß auch eine intensive Boden¬
kultur die Malaria nicht völlig beseitigt. Auch in der blühenden Campania und
in der fruchtbaren Poebene schleicht die Malaria ebenso wie in der romanischen
und apulianischen Steppe umher. Wohl aber werden durch die Entwässerung die
sanitären Verhältnisse verbessert, sodaß die Zahl der Erkrankungen, namentlich
die der schwere» Fälle, ganz bedeutend vermindert wird. Als Beispiel möge
hierfür das entwässerte Gebiet von Ostia und Maccarese dienen. Die Malaria
verhindert jedoch keineswegs eine intensive Kultur und hat durchaus nicht eine
Verödung des Landes zur Folge. Darum sind auch in der römischen Campagna
die wirtschaftlichen Zustünde hauptsächlich an der Verödung des Gebietes schuld.
Das Gebiet würde sich bald bevölkern, wenn man Land zu günstigen Be¬
dingungen hätte kaufen können. Eine Melioration des Bodens würde dann
schon bald gefolgt sein. Als Ursache der Krankheit erkannte im Jahre 1880 der
französische Arzt Laveran einen Parasit, der sich im Blute der an der Malaria
erkrankten vorfindet. Der englische Bakteriologe Roß stellte weiter fest, daß
Blntparasiten der Vögel von Mücken aufgesogen und durch den Stich auf andre
Tiere übertragen werden. Später ist es dann dem italienischen Zoologen Grassi
gelungen, unter den Moskitoarten die Familie Anophclcs als die Malariaträger
festzustellen. Der Malariaparasit gelangt durch den Mückenstich in das mensch¬
liche Blut, wo er sich ungeschlechtlich vermehrt, und kehrt dann wieder beim
Saugen der Mücke in deren Leib zurück, wo er sich geschlechtlich und ungeschlecht¬
lich vermehrt. Stagnierendes Wasser ist die Brutstätte für die Mücke. Es gilt
demnach, dieser ihre Lebensbedingung durch Entwässerung zu nehmen. Sodann
ist der Keim im Blute des Menschen dnrch Einnehmen von Chinin zu ver¬
nichten. Als Schutz dient weiter die Absperrung der Wohnung durch Schutznetze
an Fenstern und Türen sowie das Tragen von Gesichts- und Handschuhuetzen,
wie sich dies bei Eisenbahnangestellten äußerst wirksam erwiesen hat.
Nach diesen allgemeinen Betrachtungen wollen wir uns dem natürlichen
Faktor für die wirtschaftliche Technik, dem Grund und Boden, der Campagna
zuwenden. Wie die ganze Westküste Italiens, so ist auch unser Gebiet dadurch
entstanden, daß sich das Apenningebirge auftürmte, dann nnchsank und so zu
sogenannten Kesselbrüchen Veranlassung gab. Gemeinsam wurden dann die
Vertiefungen vom Meere bedeckt. Später, am Ende der Tertiärzeit, traten
dann wieder die Senkungsfelder mit dem vom Meere abgelagerten Ton, Sand
und Muscheln aus den Fluten hervor. Auf dem Seegrunde bildete sich nun eine
mit Sümpfen bedeckte Ebene, die in der Folgezeit viele Jahrhunderte hindurch
mit den Auswurfsstoffen der umliegenden Vulkane bedeckt wurde. An der West¬
küste Mittelitaliens zog sich eine Reihe von Vulkanen hin. Aus den südetruskischen,
deren crloschne Krater Seen geworden sind (Lago Bolsena, Lago Vico, Logo
Brcicciano), ergoß sich die Aschen- und Schlackenmasse in die Ebene und bildete
mit Wasser vermischt eine bis 80 Meter mächtige, bald feste, bald bröcklige Schicht,
die des rotbraunen und schwarzen Tuffs. Später flössen dann wieder neue
Lavaströme über diesen hinweg. Im Laufe der Zeit traten dann noch neue
Vulkane im Albanergebirge in Tätigkeit, die ebenfalls das Gebiet mit einzelnen
Lavaströmen überzogen und weite Flächen bedeckten. Aus den vulkanischen
Ablagerungen erheben sich die ältern Massen, die zu unterst aus graugelbem
sandigem oder mergeligem Ton und reinem Ton und darüber aus ver¬
steinerungsreichen gelbem Mergelsande bestehn. Diese sind vielfach mit Ton
durchsetzt und zu einem kalksandigen Gestein (Breccia) verkittet. Eine solche
vom Meere abgesetzte Lagerung findet'sich auf dem rechten Tiberufer; sie
bildet ferner den Monte Mario und den Monte Verde. Auch hat der Tiber
an seinen Ufern und seiner Mündung Boden gebildet, indem er ungeheure
Schlammassen zur Zeit der Herbstregen und der Schneeschmelze mitführe
und damit das nahe Gelände bedeckt. Zahlreiche Wasserlüufe. aus den um¬
liegenden Seen kommend, haben in der spätern Zeit an dem Tuff und dem
sich darunter befindenden Mergel genagt und so die heutigen Täter und Hügel
der römischen Campagna geschaffen. An Stelle geschlossener oberirdischer
Wasserlüufe treten teils unterirdisch verlaufende Grundwasserströme, die zur
Quellen- und Sumpfbildung Veranlassung gegeben haben. Auch im Sommer
führen sowohl oberirdische wie unterirdische Wasserlüufe bedeutende Wasser¬
mengen. Die Sümpfe in der Nähe des Meeres, die von Maccarese und
Ostia. die nun entwässert worden sind, entstanden dadurch, daß einmal die
Brandung des Meeres das Küstenland mehr und mehr abtrug und das zer-
riebne Gestein vor die Küste lagerte, daß zum andern der Tiber ungeheure
Schlammassen mit fortführte und hier ablagerte.
Die römische Campagna ist eben oder doch wenig geneigt, sodaß der größte
Teil mit dem Pfluge bearbeitet werden kann. Nur ein verschwindend kleiner
Teil ist wegen starker Neigung der Bearbeitung mit dem Pfluge nicht zu¬
gänglich. So beträgt zum Beispiel der Umfang des stark geneigten Bodens
in einem Umkreise von 10 Kilometern um Rom etwa 10 Prozent. Die
Tiefe der Ackerkrume ist, wie ich beobachtet habe, recht verschieden. Böden
N"t flacher Ackerkrume und steiniger Beschaffenheit sind vorhanden, doch sind
solche mit einer tiefen, der Pflugkultur zugänglichen Ackerkrume vorherrschend.
Vielfach läßt sich die seichte Ackerkrume vertiefen, da der Untergrund meist zu
bearbeiten ist. Außerdem zersetzt sich der Tuff unter dem Einfluß der
Atmosphärilien leicht, sodaß er bald zu Kulturboden wird. Die Fruchtbarkeit
des Bodens ist teils bedeutend größer als die der meisten Böden Deutsch¬
lands. Sogar Ackerland, das ohne Düngung bebaut wird, liefert immer
noch mittlere Getreideernten. Die Erfolge, die in neuerer Zeit in einzelnen,
modern eingerichteten Wirtschaften in der Nähe Roms erreicht werden, liefern
den Beweis, daß der Tuffboden der römischen Campagna sehr fruchtbar ist.
Es gedeihen Kulturpflanzen, wie Tabak, Zuckerrüben, Wein, Melonen, Luzerne,
Klee, Obst, Maulbeerbüume, Gemüse, Weizen, in solcher Üppigkeit, wie wir
es in unsrer Heimat nicht kennen- Die Fruchtbarkeit der römischen Campagna,
die die Alten einst bewunderten, besteht also anch heute noch. Eine Aus-
randung des Bodens findet kaum statt, da der an Mineralien reiche vulkanische
Tuff immer von neuem pflanzliche Nährstoffe hergibt. Der Boden selbst,
dann vor allem die umliegenden vulkanischen Gebirge sorgen für neuen Ersatz,
indem das Quell- und Gebirgswasser die Mineralien auflöst und in die Ebene
mit fortführt. Treffend sagt Theobald Fischer: „An ein Aufbrauchen der
zum Wachstum der Pflanzen nötigen Stoffe: Kali und Natronverbindungen,
Phosphor- und Kieselsäure ist recht wohl in den Tiefebenen Deutschlands zu
denken, wo keine vulkanischen Kräfte das Innere erschlossen haben, keine
Quellen aus dem Innern des Berges heraus deren mineralische Schätze
immer von neuem herbeiführen . . . nicht so in Südeuropa. Hier fehlt die
Formation der Ebene fast ganz . . . überall türmen sich die Berge auf, die
schreinartig in ihren zahllosen Spalten und Poren Wasser aufnehmen und
aufbewahren, um es dann als reiche Quelle den Bergabhängen, Tälern und
Küstenebenen gesättigt mit mineralischen Bestandteilen aus ihrem innern Herzen
heraufzuführen."*) Die Worte sind auch auf unser Gebiet anzuwenden. Eine
Frage, die sich jedem unwillkürlich in der Bewundrung solcher Fruchtbarkeit auf¬
drängt, ist die, weshalb man nicht schon früher die Naturschütze des Bodens
besser auszunutzen verstanden hat. Der Grund hierfür liegt darin, daß die
wenigen Großbesitzer, denen die römische Campagna gehört, mit der bestehenden
Benutzung und landwirtschaftlichen Betriebsform zufrieden sind, da ihnen der
Pachtzins eine hohe Bodenrenke liefert. Die Pächter als kapitalistische Unter¬
nehmer verpachten ihrerseits wiederum einen großen Teil der Gutsfläche als
Schafweide an Herdenbesitzer, und infolge der großen Nachfrage nach Weide
ist der Pachtzins der Weiden ebenfalls hoch. Mit Rücksicht auf die hohe
Bodenrenke haben sowohl Gutsbesitzer als Pächter wenig Neigung, an Stelle
der bestehenden Betriebsform eine kapitalintensive einzuführen.
Mit Ausnahme der wenigen „Bonifikationsgüter" in der römischen Cam¬
pagna wird der größte Teil des Gutsareals als primitive Dauerweide (d. h. ohne
künstliche Ansaat, Düngung und Pflege) genutzt, dann wird auch wohl eine
Weide von Zeit zu Zeit umgebrochen und auf einige Jahre mit Getreide be¬
baut, worauf dann wieder die natürliche Berasung erfolgt, und schließlich
wird ein Teil in Rotation regelmäßig ein oder zwei oder drei Jahre mit
Getreide bestellt und ebensolange als natürliche Weide genutzt. Im ersten
Falle herrscht das System der wilden Feldgraswirtschaft, im letzten das der
geregelten Feldgraswirtschaft vor. Auf dem gepflügten Lande wird Weizen,
Mais und Hafer angebaut. Die Aufeinanderfolge der Früchte ist verschieden
und richtet sich nach dem Kulturzustande und nach der Bodenbeschaffenheit.
Vielfach werden die Früchte ohne jede Düngung angebaut. Zwar bringen
auch manche Pächter eine rationelle Düngung und eine moderne Technik der
Bodenkultur in Anwendung, doch ist im großen und ganzen der Feldbau noch
recht primitiv. Moderne Pflüge und größere landwirtschaftliche Maschinen sind
größtenteils in der römischen Campagna eingeführt worden.
Eine künstliche Beförderung des Graswuchses durch Bewässerung und
Düngung findet in den extensiven Gutswirtschaften nicht statt, ebenso ist der
Anbau von Futterkräutern unbekannt. Die Heugewinnung ist nur in geringem
Umfange gebräuchlich. Sie wird dort vorgenommen, wo der Graswuchs be¬
sonders üppig ist. Die betreffende Fläche wird für die Zeit vom 15. Mürz bis
Ende Juni eingezäunt und für sich verpachtet. Heu für die eigne Wirtschaft
wird nur in geringem Umfange gewonnen. Es wird gefüttert, wenn die Weide
am Ende des Winters wenig Futter liefert.
Der Viehbestand besteht aus Pferden, Rindvieh und Schafen und nur
zum geringen Teil aus Schweinen. Das römische Pferd wird nur zur Zucht
und zum Reiten, dagegen nicht zur Arbeit verwandt. Es ist mittelgroß, ge¬
drungen, anspruchslos und von großer Ausdauer, da es zeitlebens auf der
Weide gehalten wird. Die Pferdezucht spielt in der römischen Campagna
eine große Rolle; das Gebiet ist eine der bedeutendsten Zuchtstütten des
italienischen Remontepferdes. Von der Viehzucht überwiegt die Schafzucht.
Große Herden von 2000 bis 3000 Stück beweiden dreiviertel Jahr, von Ende
September bis Johanni, die Campagna. Die Herden beziehen nach dieser Zeit
die Weiden des Apennins. In die römische Campagna ist das Schaf ein¬
gedrungen, nachdem sie wirtschaftlich ruiniert war, und eine Nutzung des
Bodens nicht mehr stattfand. Noch heute ziehen in Süditalien die Schaf¬
herden auf denselben Triften wie zur Zeit des Hohenstaufen Friedrich, der
für die Weidewanderwirtschaft besondre Rechtsverhältnisse und festgefügte
Organisationen schuf. Aber auch schon vorher dominierte in Mittel- und
Süditalien die Schafwirtschaft mit ihrem Wanderbetriebe. Schon Varro be¬
uchtet von den periodischen Wanderungen der Schafherden zwischen Apulien
und dem Apenningebirge. — Die wichtigste Nutzung des Schafes ist die
Milcherzeugung. Schafmilch wird fast ausschließlich an Ort und Stelle zu
Käse verarbeitet (toiiNÄMo xecormo und riootto). Nächst der Milcherzeugung
bilden die jungen Lämmer, die dem Geschmacke des Südländers besonders ent-
sprechen, das wichtigste Erträgnis. Der Hammel ist unbekannt. Sodann
liefert die Wolle, die von guter Qualität ist, eine weitere Einnahme. Die
Schafrasse, die in der Campagna weidet, ist eine Naturrasse im wahren Sinne,
sie stammt aus den Bergen und ist an karges Futter, rauhe Haltung und
an das Wandern gewöhnt. Neben dieser ursprünglichen Rasse unterscheidet
man das Halbmerino, ein Kreuzungsprodukt der einheimischen Nasse mit dem
spanischen Merinoschaf. — Die Rindviehzucht tritt gegenüber der Schafzucht in
der Campagna zurück. Das Rind verbleibt Sommer und Winter auf der
Weide, die Kälber werden hier geboren. Die Tiere werden zur Zucht und
Mast, dagegen selten zur Milchgewinnung gehalten. Die Ochsen werden nur
in der Landwirtschaft zur Arbeit verwandt. Das Rind ist grauweiß von
Farbe, es zeichnet sich durch eine stattliche Größe und prächtige Formen aus.
Lange, schöngewundne Hörner zieren den Kopf des Tieres.
Der moderne Landwirtschaftsbetrieb der römischen Campagna unterscheidet
sich nun wesentlich von der extensiven Weidewirtschaft. Was die Technik auf
landwirtschaftlichen Gebiete neuerdings in der römischen Campagna leistet, ist
bewundernswert. Der Fürst Torlonia war einer der ersten, der auf seiner
Tenuta delle Caffarella Entwässerung durchführte und einen modernen Land-
wirtschaftsbetrieb einrichtete. Alsbald folgte der Herzog Salviati auf seiner
Tenuta Cervellata, dann folgten u. a. die Güter Bocca ti Leone, Grotta ti
Gregna, Grotta perfetta. Große Verdienste um die Reform des Landwirtschafts¬
betriebes gebührt den Gebrüdern nardi. Durch die Entwässerung des Bodens
sind die sanitären Verhältnisse auf den Gütern derartig gehoben worden, daß
sie nun dauernd bewohnt werden können. Malaria tritt in diesen Gegenden
nicht oder doch nur mit geringer Heftigkeit auf. Auf den genannten Gütern
sind die durch das „Bonifikationsgesetz" des Agro Romano den Gutsbesitzern
vorgeschriebnen Verbesserungen völlig durchgeführt worden.
>nennten dieser Trübsal bekam ich Nachricht von einem Landsmann,
dem ich in bessern, glücklichen Tagen und als ich noch mein Wirts¬
haus hatte, einmal geholfen hatte, aus der russischen Armee zu ent¬
weichen. Man sagte mir, daß er ein großes Juweliergeschäft habe
in der Nähe des Meeres, in einer Stadt, die Brighton heiße. Ich
! machte mich sofort auf den Weg, um ihn aufzusuchen. Zwei Tage
mußte ich wandern — aber ich war fest davon überzeugt, daß er mir helfen
werde; wenn er es nicht tat, wer sollte es dann tun? Ich wollte als sein Sabbat¬
gast zu ihm kommen; er würde mich ganz bestimmt mit offnen Armen aufnehmen.
In der ersten Nacht schlief ich mit einem Landstreicher in einer Scheune; er wies
mir den richtigen Weg. D° ich mich aber unterwegs aufhielt "./^Schilling durch Holzhacken zu verdienen, geschah es d«ß ich mich verspätete Ich
war noch zwölf Meilen von Brighton entfernt als der Sabbat anfing; ich wagte
es nicht, den Tag des Herrn dadurch zu entheiligen, das; ich meine Wandrung
fortsetzte. So blieb ich an jenem Freitag Abend in -wem kleinen Dorfe und
dankte Gott, och ich wenigstens Geld zu einem bescheidnen Nachtlager hatte, obwohl
es ja schon sündhaft ist. am Sabbat Geld S» berühren Am nächsten Tage jedoch
wurde ich. ich weiß nicht weshalb, von den Straßenbuben verfolgt, sie nannten
mich Goi (Heide) und Fuchs; Goifuchs. Gmfuchs höhnten sie mich und warfen
mir brennendes Feuerwerk in das Gesicht. Ich floh vor ihnen und verbarg in es
im Walde, und erst als die drei ersten Sterne am Himmel eychieneu. nahm ich
meine Wandrung nach Brighton wieder auf. Aber meine Futze waren wund, und
ich kam erst gegen Mitternacht dort an. w°aß meinen Freund nicht mehr aus¬
suchen konnte Ich setzte mich also auf eine B°ut; es war sehr kalt, und ich w-w
ehr müde. Aber da kam ein Polizist und weh n. es weg - er war ieber von
Gott gesandt, denn wenn ich in der Kalte sitzen geblieben Ware, so Ware ich gewiß
^ K^b^ge in?.e? «g^zur^i All^
A k ^^i Zlief w dieser Nacht^w einem Be. Am
d2alle Laden geschlossen waren. Endlich enwe ^ ^der Name meines Landsmanns stand. ^n »
und Diamanten, und dazwischen lagen kleine Ze - daran sea ^ Aus-
verkauf' Großer Ausverkauf!» Ich ^« A ' Tu^zu. aber^w wa
W?^^
x^i^^^s^"
Kopfe und el"e ebenso S h.,>
^^^ur
v°r A^efi
?z7'J7s^ ?'die Pflastersteine vor dem
Hause, selbst meine Tränen versagten, ich wurde w.e eine Salzsanle. Aber als
ich aufblickte, da sah ich den Engel des Herr».
, . . >>i <x^/i>iluna meines Modells. Ihr schlichter Realismus
nack»- l°nee e die einfach EMh ung n ^ ^n all ti sen traurigen Detailsmachte einen tiefen Eindruck aus nncy, va p^, !
^
^ ^^»^ Bging ganz von meinem ersten Plane ab ^ suchte einen durch s^körperteu Christus darzustellen, einen leidtragenden Chr'sens - und wer
er nicht durch die Leiden seines Volkes d.e Marter wiederum empfinde ? Ja.
Israel Quarriar konnte mir als Modell dienen, aber nur nachdem ich mich zu einer
ganz andern Auffassung entschlossen hatte.
Ich konnte übrigens die schon vollendeten vorbereitenden Arbeiten zu meinem
Bilde sehr gut benutzen. Die Hauptsache sollte der Kopf sein, und da ich nun
beschlossen hatte, die Gestalt in der den Juden eigentümlichen Tracht des Kaftans
darzustellen, hatte ich nur wenig an der Zeichnung zu ändern. Ich ging also mit
erneutem Eifer an meine Arbeit, und nun, da ich zu malen angefangen und ein
so brauchbares Modell gefunden hatte, fühlte ich mich viel sichrer, als da ich nur
aus der Phantasie die geheiligte Gestalt, die in Galilü'a wandelte, zu rekonstruieren
versucht hatte.
Aber ich hatte kaum damit angefangen, mein Bild in meiner neuen Auf¬
fassung darzustellen, als ich dahinter kam, daß diese im Grunde eine sehr alte war.
Sie schien sogar in der Heiligen Schrift begründet zu sein, denn aus einem kurzen
Berichte über die historisch-theologische Vorlesung eines protestantischen deutschen
Professors erfuhr ich, daß viele der Stellen in den Propheten, die man fälschlich
als Prophezeiungen auf das Erscheinen des Messias gedeutet hat, sich in Wirklich¬
keit auf das Volk Israels beziehen. Es ist das Volk Israel, von dem Jesaias in
seinem berühmten 53. Kapitel spricht, und das er beschreibt als „verachtet und ver¬
worfen von den Menschen: ein Mann der Schmerzen". Israel ist es, der die
Sünden der Welt trägt. „Er war beladen und betrübt, und doch öffnete er seinen
Mund nicht, er ist wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt worden." Ja, Israel
war „der Mann der Schmerzen". Ich entdeckte, daß diese Ansicht des deutschen
Professors nur ein Echo des Glaubens der Rabbiner war. Mein Modell erwies
sich mir als eine wahre Fundgrube dieser Wissenschaft wie vieler andern Dinge.
Er hatte sogar den Glauben des von den Juden allgemein erwarteten Erscheinens
des Messias niemals geteilt — er lehrt, daß der Messhiach auf einem weißen
Esel reitend kommen würde. Israel würde sich selbst erlösen, obwohl viele seiner
Glaubensgenossen dies für eine epikureische Irrlehre hielten.
Wer immer mich erlöst, der ist mein Messhiach, erklärte er plötzlich und ergriff
meine Hand, um sie zu küssen.
Nun erregen Sie mein Mißfallen, sagte ich ihn wegstoßend.
Nein nein, sagte er. Ich stimme mit dem Worte des Muschik überein: „Der
gute Mensch, das ist Gott."
Mir scheint beinahe, daß Sie ein sogenannter Zionist sind? sagte ich.
Ja, erwiderte er, und nun, da Sie mich gerettet haben, erkenne ich, daß sich
Gott nur durch die Menschen offenbart. Was den Messhiach auf dem weißen Esel
betrifft, so glauben sie in Wirklichkeit nicht daran, sie wollen aber trotzdem von
keinem andern Glauben wissen. Was mich betrifft, so denke ich, wenn ich jetzt
bete: Gesegnet seist du, der du den Toten zum Leben erweckst, dabei immer nur
an Sie.
Diese übertreibende orientalische Dankbarkeit hätte auch den lobgierigsten Wohl¬
täter befriedigen müssen, sie stand in keinem Verhältnis zu dem, was ich für ihn
getan hatte. Er schien gar nicht zu begreifen, daß er mir schließlich doch eine
Gegenleistung für das vereinbarte Geld machte, wenn er unermüdlich und in jedem
Wetter einen meilenweiten Weg machte, um rechtzeitig in meinem Atelier zu sein.
Es ist ja wahr, daß ich ihm so schnell wie möglich dazu behilflich war, seine
Penaten einzulösen, aber konnte ich weniger für einen Mann tun, der immer noch
kein Bett zum Schlafen hatte?
Ich gab ihm das nötige Geld, um das Gepäckbündel in Rotterdam einzu¬
lösen. Die Agenten in East-End forderten drei Schilling für jeden Brief, den
sie in dieser Angelegenheit schrieben, und zogen die Sache so viel wie möglich in
die Länge. Aber erst als einer dieser Herren erklärte, daß Kazelias ein sehr ehren¬
hafter Mann sei, befestigte sich in mir und meinem Modell der Verdacht, daß sich
die lange Kette der Betrügereien bis nach London hinziehe, daß man absichtlich
die Sache hinziehe, damit der Pfandschein Quarriars verfalle und die Eisenbahn
das Recht hätte, das nicht eingelöste Gepäck zu verkaufen, wobei sie sicher Nutzen
gehabt hätte.
Quarriar sagte mir dann eines Tages, daß seine zweite Tochter, die älteste
war auf einem Auge blind, sich entschlossen habe, allein nach Rotterdam zu fahren,
da dies der sicherste, kürzeste Weg sei, das Eigentum der Familie zurückzuerhalten.
Ich bewunderte den Mut des Mädchens und gab Quarriar das Reisegeld für sie.
Eines schönen Morgens erschien dann mein Jsraelit freudestrahlend in meinem
Atelier.
Wann freut sich der Mensch am meisten? rief er. Wenn er etwas Verlornes
Wiederfindet!
Ach, dann haben Sie wohl endlich Ihr Bettzeug bekommen; ich hoffe. Sie
haben gut darauf geschlafen, sagte ich. An seine wunderliche Ausdrucksweise hatte
ich mich schon gewöhnt.
Nein, wir konnten nicht schlafen, weil wir die ganze Nacht Segen auf Sie
herabflehten. Wie sagt der Psalmist? „Alles, was in mir ist, lobe den Herrn", war
die unerwartete Antwort. , ,
inesweslattabe
Doch war die Sache bis zuletzt noch keg g ggangen. Die Bande
des Kazelias in Rotterdam tat. als ob sie überhaupt gar nichts von dem Gepäck
wisse, und schickte das Mädchen zum Bahnhofe wo man ihr sagte daß die Un¬
kosten durch das Lagern des Gepäcks jetzt auf zehn Pfund Sterling gestiegen
seien. Wieder wurde ihr der Becher vor dem Munde weggezogen denn ich hatte
ihr nur neun Pfund Sterling gegeben. Aber s.e ging zu dem Rabbi in Rotter¬
dam, bat ihn. ihr zu helfen und sich dafür durch die zwei silbernen Sabbatleuchter
die einzigen wertvollen ererbten Familienstücke, die in dem Bündel waren bezahlt
zu machen. Während sie noch ihn anflehte, kam ein edeldenkender Jude dazu er
bezahlte das fehlende Geld, brachte sie in ein Logis, ließ ihr zu essen geben
und sorgte dann selbst dafür, daß sie sicher mit den lange Verlornen schätzen an
Bord kam. . ^- i^i
Wochen gingen vorüber, und meine Befriedigung über die Fortschritte meiner
Arbeit wurde sehr dadurch gedämpft, daß ich mir sagen mußte, daß nach Vollendung
meines Bildes mein Modell wieder brotlos sein würde. Es kam mir manchmal
so vor. als weile sein Auge mit einer Art von hoffnungsloser Angst auf meiner
Leinwand. Meine Besorgnis, was aus ihm und seiner Familie werden solle, wuchs
v°n Tag zu Tag, aber es gelang mir nicht, ein Mittel ausfindig zu machen.
Quarriar endgiltig' zu helfen. ^ ., .
^^
. Er war rührend gewissenhaft, bot alles auf. um mich zu befriedigen und
klagte niemals über Kälte und Hunger. Einmal gab ich ihm ein paar Schilling,
um ein Paar alte hohe Stiefel zu kaufen, die ich für irgendein Bild gebrauchte
Es gelang ihm. diese auf dem Ghettotrödelmarkte lächerlich billig zu erstehn und
er brachte mir gewissenhaft das übriggebliebne Geld zurück, es war über zwei Drittel
der ihm anvertrauten kleinen Summe. „ ^ .
^».ce.
« Ich verkaufte um diese Zeit zufällig eine englische Landschaft an Sir Asser
Aaronsberg. den berühmten Philanthropen und Kunstmacen von Middleton. der
sich zurzeit seiner parlamentarischen Pflichten halber in London aufhielt^ Da ich
wußte, wie unermüdlich er ist. und daß er in steter Fühlung mit den Wohltatig-
keitsangelegenheiten der Londoner Juden steht, wandte ich mich an ihn mit der
Frage, ob er mir kein Komitee angeben könne, an das ich mich wenden könne, rum
dauernde Hilfe für Quarriar zu erlangen. Sir Asser nahm meine Bitte in nicht
sehr ermutigender Weise auf. Der Mann verstünde kein Handwerk. Doch solle
Quarriar alle auf einem mir übergebnen Papier gestellten Fragen auf das gewissen¬
hafteste beantworten; er wolle dann sehn, was sich machen ließe. Ich sorgte dafür,
daß Quarriar den Fragebogen, wie es sich gehörte, ausfüllte: Namen, Alter und
Geschlecht seiner fünf Kinder angab usw.
Aber das Komitee kam zu dem Schlüsse, das einzige, was es tun könne und
wolle, sei, den Mann in sein Vaterland zurückzuschicken. Nach Rußland zurück!
Niemals! rief Israel entsetzt.
Gelegentlich fragte ich ihn wohl, ob er sich selbst irgendeinen Zukunftsplan
gemacht habe. Aus eignem Antriebe sprach er niemals von seiner bedrängten Lage,
und das ernste Schweigen, die gelassene Würde dieses armen Mannes erschien mir
unendlich rührend und pathetisch. Hin und wieder kamen etwas hellere Aussichten.
Seine zweite Tochter wurde, wenn die Arbeit gut ging, für einige Schilling von
dem Hauswirte, der ein Schneidermeister war, zum Helfen engagiert. Die Familie
war dadurch instaudgesetzt, zwei kleine Speicherzimmer zu mieten. Die halbblinde
Tochter suchte durch Waschen etwas zu verdienen. Der Hauswirt gestattete ihr den
Gebrauch der Waschküche.
Eines Tages aber entdeckte ich, daß er einen Zukunftsplan gemacht habe — es
war schon mehr, er hatte ihn bis in alle Details ausgearbeitet. Für mich war der
Plan, den er entwickelte, ganz neu und überraschend; er bewies mir, wie sehr sich
die Kunst, unter den schwierigsten Verhältnissen einen Lebensunterhalt zu suchen,
in einem Volke entwickelt hat, das seit Jahrhunderten gezwungen ist, unter fast
unmöglichen Bedingungen zu leben.
Sein Plan war kurz folgender: In den unzähligen Schneiderwerkstätten dieses
Distrikts sammelten sich große Haufen von kleinen Stückchen Tuchs jeglicher Art und
Qualität, und eine gewisse Klasse von Leuten, die sogenannten Sortierer, waren immer
bereit, diese Tnchabschnitte zu kaufen. Der Verkauf solcher Abfälle nach Gewicht und
gegen Barzahlung brachte den Schneidermeistern eine ganz annehmbare kleine Rente
ein, die um so willkommner war, da sie eine Art von Nebenverdienst war. Die
Schneidermeister durften sogar Borherbezahlung für diese Abfälle fordern, und die
Sortierer kamen dann am Schlüsse jeder Woche, um das abzuholen, was sich angesammelt
hatte, bis die Vorschußzahlung, die sie geleistet hatten, beglichen war. Quarriar
wollte ein Sortierer werden und hoffte dann auch seine Töchter in diesem Geschäfte
beschäftigen zu können. Die ganze Familie konnte ihm beim Sortieren seiner Ein¬
käufe helfen. Die Tuchabschnitte mußten nach Qualität und Größe geordnet werden,
wurden dann als Rohmaterial verkauft, um von neuem zu billigern wollnen Stoffen
verwebt zu werden. Einige seiner Landsleute hatten sich warm für ihn verwandt,
und infolgedessen hatten sich mehrere Schneider bereit erklärt, ihm den Vorzug zu
geben. Besonders sein Hauswirt hatte ihm fest versprochen, ihm freundschaftlich ent¬
gegenzukommen, und sammelte jetzt schon alle Abfälle, um sie ihm zu überlassen,
sobald er über bares Geld verfügen würde. Überdies hatten seine Freunde ihn
mit einem sehr achtungswerten und ehrlichen Sortierer bekannt gemacht, der sich mit
ihm assoziieren, ihn das Geschäft lehren und ihm gestatten wollte, daß seine Töchter
Sortieren hülfen, wenn er nur 20 Pfund Sterling deponieren wolle. Seine Freunde
hatten sich bereit erklärt, ihm 8 Pfund Sterling auf die silbernen Armleuchter
vorzustrecken, wenn es ihm gelingen sollte, irgendwo die andern 12 Pfund Sterling
aufzutreiben.
Dieser verlockende Plan nahm wirklich einen Alp von meinem Herzen. Ich
beeilte mich, dem Philanthropen von Profession, der gar keinen Ausweg hatte finden
können, die Mitteilung zu machen, daß ich die Absicht hätte, Quarriar dazu zu
verhelfen, Sortierer zu werden.
Ach, antwortete Herr Asber sehr gleichmütig, dann sollten Sie sich an einen
gewissen Conn wenden, er tut viel derartige Arbeit für mich. Er wird schon einen
passenden Partner für Quarrtar finden, der ihn auch in dies Gewerbe einführt.
Aber Quarriar hat schon einen Partner gefunden, erklärte ich ihm.
Das ist einer, der ihn unfehlbar betrügen wird. 20 Pfund Sterling zu fordern,
ist einfach lächerlich. 5 Pfund Sterling ist ganz genug. Nehmen Sie meinen Rat
an, und lassen sie alles durch Conn besorgen. Wenn ich mein Porträt gemalt haben
wollte, würden Sie mir nicht raten, daß ich mich an einen Dilettanten wenden
sollte. Übrigens, hier sind fünf Pfund Sterling für Ihren Schützling, aber bitte,
sagen Sie Conn nicht, daß ich sie gegeben habe. Ich glaube nämlich kaum, daß mit
dem Gelde irgend etwas Gutes ausgerichtet wird, und Conn mochte dann die Achtung
vor mir verlieren. ^ ^»c.-
Mein Interesse für Sortieren — eine Beschäftigung, von der ich bisher noch
niemals etwas vernommen hatte — war abnorm gewachsen; ich interessierte mich
für die Details hatte ausgerechnet, welcher Vorteil bei hundert Pfund Abfällen, die
zu 15 Schilling eingekauft worden, zu erreichen wäre nachdem sie sortiert, geordnet
und zu verschiednen Preise verkauft wurde». Ich machte diese Berechnung und einem
Eifer, als olle ich mir selbst den Lebensunterhalt dnrch Sortieren verdienen
Ich gestehe, daß es mich einigermaßen befremdete, daß Sir Asser der Ansicht
war. die Kosten einer Partnerschaft seien so sehr viel geringer, wie Quarr.ar nur
gesagt hatte, aber ich war dazu geneigt, den S ePt.z.sans diese He^n auf Kosten
des Pessimismus zu setzen, der die Plage geller P
Auf der ander.. Seite mußte ich jedoch zugeben daß, gleichviel °b d e Pa er-
schaft 5 Pfund Sterling oder 20 Pfund Sterling koste. Quarrmrs Zukunft sichrer
unter dem Schutze von Sir Asser und seines Conn em wurde. So übergab ich
->is° diesem die 5 Pfund Sterling und bat ihn. für Quarriar einen passenden
Partner, Führer und Freund zu suchen. , . ^,
roenatenen
Mit dem Tage, an dem ich mit Conn gespch ht, sig meine Sorgen
der dritte und letzte Akt der Tragikomödie begann
Ich fand sehr bald heraus, daß es Quarriar und einen freunden durchaus
nicht paßte, daß sich Conn in die Sache mischen solle. S.e behaupteten, er begünstige
einige Leute auf Kosten andrer und sei gar nicht populär unter den Angestellten,
mit denen er arbeite Es wurde mir vollständig klar, daß Quarriar viel lieber »einen
eignen Weg gegangen wäre, und daß ihm eine offizielle Einmischung nicht paßte
, Etwas später erhielt ich einen Brief von Sir Asser worm er mir mitteilte,
daß der Partner, den Qnarriars Partei in Vorschlag gebracht habe, ein fauler
Kunde sei. Conn hatte einen ordentlichen Mann gefunden aber wie die Sachen
stünden, sei wenig Aussicht dafür, daß sich Quarr.ars Zukunft besser gestalten wurde
, Es schien mir. als mißtraue Sir Asser auch Quarriar aber ich röstete mich
damit, daß er ja in meinem Modell nnr einen ganz gewöhnlichen seine Hu e ...
Anspruch nehmenden Bittsteller sähe, während .es. der ich monatelang ... täglicher
Berührung mit ihn. gestanden hatte, ihn ja g°nz anders und von einem mersch-
"cherr Standpunkt aus beurteilte. ^ . ^
in>«Der Frühling war nun nahe. Ich vollendete mein Bild in den ersten März-
wgen — nachdem ich vier Monate lang angestrengt daran gearbeitet hatte; ich
nahm. Abschied von meinem Modell, schüttelte ihm die Hand »ut empfing seinen
Segen. Es verdroß mich etwas, als ich erfuhr, daß Conn ihn. noch nicht die fünf
Pfund Sterling gegeben habe, deren er bedürfte, um sei., neues Gewerbe zu beginne..;
^) hatte gehofft, daß er. sobald unsre Sitzungen vorüber wären den Anfang dam
wachen würde. Ich gab ihm ein kleines Geschenk, um ,du während der Wartezeit
über Wasser zu halten.
Aber es war, als ob das tragische Antlitz auf meiner Leinwand mich verfolge,
mich frage, was aus seiner Zukunft werden solle, und es waren kaum ein paar
Tage verflossen, als ich mich aufmachte, um Quarriar in seiner Wohnung aufzusuchen.
Er wohnte in der Nähe von Ratcliffe-Straße, ein Distrikt, der nichts von dem
unruhigen romantischen Treiben der Matrosen hatte, das ich in meinen Gedanken
immer damit verbunden hatte.
Das Haus war ein niedriges Gebäude, das sicher noch aus dem sechzehnten
Jahrhundert stammte; die Hausnummer war mit Kreide auf die mit Schmutz bedeckte
Tür geschrieben. Der Zufall wollte es, daß ich gerade am Tage des jüdischen
Passahfestes kam. Quarriar wurde herunter gerufen; er war offenbar erstaunt und
nicht darauf vorbereitet, daß ich ihn in seiner bescheidnen Wohnung aufsuchte, aber
er schien sich sehr zu freuen und führte mich die steile enge Treppe hinauf; mein
Kopf stieß dabei beinahe an die Decke, während ich hinter ihm hinaufkletterte. Auf
der ersten Etage kam uns der Hauswirt in festlicher Kleidung entgegen, stellte sich
mir in englischer Sprache vor (die er höchst unkorrekt sprach), protestierte dagegen,
daß ich noch höher steigen solle, und vollständig Besitz von mir ergreifend, führte
er mich in seine gute Stube, als ob es ganz unpassend sei, daß sein Mieter einen
wirklichen Herrn in seinem Dachzimmer empfinge.
Er war ein stämmiger junger Bursche, der gescheit und kräftig aussah — ein
direkter Gegensatz zu Quarriars gebeugter würdevoller Gestalt, deren Armut und
leidendes Aussehn doppelt bemerkbar wurden, wie er in dem kleinen getäfelten Zimmer
mit dem eleganten aus Nuszholz geschnitzten Kabinett, den bunten Farbendrucken und
den ausgestopften Vögeln gebeugt und demütig dastand. Der Schneidermeister hielt
sich offenbar dazu berufen, die Sache des armen Burschen zu verfechten, und protestierte
heftig gegen die Partnerschaft, die Quarriar durch den berüchtigen Conn aufgedrängt
werden sollte. Obwohl er sich das kaum leisten könne, hielte er doch schon die ganze
Zeit über alle Abfälle fest, trotz der verlockenden Anerbietungen, die ihm von andrer
Seite gemacht worden; man hatte ihm schon einen Schilling für den Sack geboten.
Aber das sähe er nun doch nicht ein, daß ein ihm ganz Fernstehender, der durch
das philanthropische Faktotum aufgedrängt werde, nun den Nutzen von seiner Güte
haben solle. Er erzählte mir mit beredten Worten von den Sorgen und Entbehrungen
seiner Mieter in zwei engen Speicherstübchen. Während dieser ganzen Zeit bewahrte
Quarriar seine stille würdige Haltung und sprach nur dann ein Wort, wenn ich
ihn direkt anredete.
Der Hauswirt holte zu Ehren des vornehmen Gastes eine Flasche und Frucht¬
limonade und Rum, und wir alle stießen miteinander an; der junge Schneidermeister
strahlte vor Vergnügen, als er sein Glas wieder hinsetzte.
Ich habe gute Gesellschaft gern, rief er, ohne sich bewußt zu sein, daß seine
Familiarität mir gegenüber ziemlich unverschämt sei.
Ich brachte das Gespräch wieder auf das Thema, das augenblicklich für mich
von so großem Interesse war, nämlich auf das Sortieren. Es fiel mir erst nachher
ein, daß ich an einem so hohen jüdischen Feiertage vielleicht besser nicht von welt¬
lichen Dingen hätte sprechen sollen, aber der Hauswirt hatte ja zuerst davon an¬
gefangen, und er wie Quarriar ließen sich sofort auf eine Diskussion dieses Gegenstandes
ein. Der Hauswirt fing wieder an darüber zu klagen, wie traurig es für Quarriar
wäre, wenn er wirklich gezwungen würde, den von Conn vorgeschlagnen Partner
anzunehmen, als Quarriar schüchtern damit herauskam, daß er schon den Kontrakt
mit dem künstigen Teilnehmer des Geschäfts unterschrieben habe, obgleich er das
versprochne Kapital von Conn weder erhalten, noch Näheres von ihm über
den betreffenden Mann erfahren habe. Der Hauswirt schien sehr überrascht und
ärgerlich zu sein, als -er dies erfuhr, er stutzte förmlich die 'Ohren.' als Quarrinr
das Wort ..unterschrieben" aussprach, und warf ihm einen entsetzte» Blick zu.
Unterschrieben! rief er in jidischer Sprache. Was hast du unterschrieben?
In diesem Augenblick kam die junge Frau des Hauswirth zu uns in das „gute
Zimmer". Sie trug ein hübsches Kind auf dem Arme, während sich ein andres verlegen
an die Mutter drängte. Sie sah zufrieden und heiter aus, und die ganze Häuslichkeit
machte deu Eindruck des Glücks und des Gedeihens, sie bildete einen schneidenden
Kontrast zu dem andern Heim, zu dem ich dann kurz darauf die steile dumpfe Treppe
hinaufkletterte. Ich war kaum ans den traurige« Anblick vorbereitet, der mich oben
erwartete. Es waren weniger die ärmlichen, schmutzigen Zimmer, in denen sich nur
ein paar Matratze«, ein wackliger Holztisch, ein paar Stühle und ein Haufen von
Passahkucheu befanden, als vielmehr die abstoßende Häßlichkeit der drei Frnnen, die
verlegen und vor dem wichtigen Besuche errötend dastanden. Die Frau und Mutter
war sehr klein und sah beinahe wie eine Zwergin aus. sie trug eine schwarze Perücke.
Die Töchter waren vierschrötig, mit talgfarbnen runden Gesichtern, die an die Ab¬
stammung vou russischen Bauern erinnerten, das älteste der Mädchen mit dem blinden
Auge war abschreckend häßlich. < -
,^^-
Wie wenig kennen meine akademischen Freunde mich wenn sie glauben daß
das Häßliche mich anzöge! Die Wahrheit ist daß ich manchmal durch die Häßlich¬
keit eine Schönheit schimmern sehe, für die sie blind send. Ich gestehe aber daß
ich hier nur das krasseste Elend und eine abschreckende Hcchlichkei fand. Dieser
trostlose Anblick, verbunden mit der verdorbnen drückenden Luft, wirkte so aus mich,
daß mir ganz übel wurde. ,, ,
Darf ich das Fenster aufmachen? fragte es unwillkürlich
Der liebenswürdige Hauswirt, der mir auf dem Fuye gefolgt war beeilte sich,
'"einen Wunsch zu erfüllen, und nachdem ich wieder freier atmen onnte. fand ich daß
die ganze Szene trotz ihrer Gemeinheit etwas unendlich Tragi ches hatte Mein Auge
siel wieder auf die Gestalt Quarriars. der immer noch in gebeugter aber königlicher
Haltung dastand; es war allerdings hier sehr notwendig daß er sich nicht hoch aufrichtete,
denn dann würde er sein stolzes Haupt an der niedrigen Decke zerstoßen haben
Gewiß, wenn ich eine hübsche Frau mit reizend graziösen Töchtern gefunden
hätte, so würde das Bild ein ganz andres und nicht so tragisches gewesen sein. Da
stand Israel von Häßlichkeit und Gemeinheit umgeben. ohne dabei seiner königlichen
Würde etwas zu vergeben — wahrlich, dies war „der Mann der Schmerzen".
^ Ehe ich fortging, fiel mir plötzlich ein. nach den drei jünger.. Kindern zu fragen.
Der Vater sagte mir daß sie immer noch bei dem freundlichen Wohltäter seien.
Ich denke, wenn es mit dem Sortieren gut geht, und Sie Glück haben, werden
Sie die Kinder wieder zu sich nehmen?
Gott gebe es. antwortete er. Meine Seele schmachtet nach diesem Tage. ^
Gegen ».eine ursprüngliche Absicht ließ ich die sieben Pfund ster og die ich
für ih» bestimmt hatte, in seine Hand gleite«. Wenn es mit dem Geschäftste.l-.ebener
""f die Dauer nichts sein sollte, so versuchen Sie es allein, sagte ich.
^ Er bealeitete mich mit Segen und Dankesworten die steile Treppe hinab. Seine
Manen verharrten in verlegner, schener Haltung, und ohne daß eine von ihnen auch
nur ein Wort gesagt hatte , ^ . ...
(Schluß folgt! . ^
Zu Beginn der verflossenen Woche hatte die politische Welt — oder war es
vielmehr die Börsenwelt? — einen kleinen Anfall von Nervosität. Während seines
Aufenthalts in Wiesbaden hatte der Kaiser eine Veranstaltung abgesagt, um Vor¬
träge entgegenzunehmen, und das gerade in einem Augenblick, als gewisse Nach¬
richten über das Vorgehn der Franzosen in Marokko unwirsche Klagen über fran¬
zösische Rücksichtslosigkeiten und Eigenmächtigkeiten gegenüber deutschen Interessen
hervorgerufen hatten. Man flüsterte von einer plötzlichen Zuspitzung der politischen
Lage und glaubte eine Parallele zu finden zwischen dem, was sich jetzt in Wies¬
baden abspielte, und den verhängnisvollen Ereignissen von Eins im Jahre 1870.
Es war blinder Lärm, aber die nervöse Stimmung spiegelte das Unbehagen wider,
das sich bei den Nachrichten aus Marokko weiter Kreise bemächtigt hatte.
Es war freilich kaum noch zu verbergen, daß das französische Expeditions¬
korps in Marokko anfing, sich mit zunehmender Unbekümmertheit über die Ver¬
pflichtungen, die ihm die Algecirasakte auferlegte, hinwegzusetzen. Und wenn auch
vielleicht die französische Regierung das loyale Entgegenkommen der deutschen Reichs¬
regierung dankbar anerkannte, so war doch die gerechte Würdigung dieses Sach¬
verhalts anscheinend in den Vorzimmern am Quai d'Orsny stecken geblieben; dem
französischen Volk und Heer erschienen die Deutschen mit ihrer ständigen Berufung
auf die Algecirasakte als übelwollende Mahner, und dementsprechend erschien auch,
was die deutsche Regierung der französischen loyal eingeräumt hatte, als wider¬
willig gemachtes, von Zaghaftigkeit und Schwäche eingegebnes Zugeständnis an die
kühne Initiative der französischen Marokkopolitik. In dem Gebaren des fran¬
zösischen Expeditionskorps mußte diese Auffassung mit der Zeit so stark hervor¬
treten, daß es auf die ganze politische Lage zurückwirken mußte. Mit zunehmender
Schärfe meldeten die Berichte der Vertreter deutscher Interessen in Marokko, daß
sich das Vorgehn der Franzosen nicht nur immer weniger mit der Algecirasakte
vereinigen lasse, sondern immer offenkundiger eine Spitze besonders gegen die
deutschen Interessen herauskehre. Nun kam dazu auch noch der Zwischenfall mit
unen deutschen Schutzbefohlnen, ein Fall, dessen peinliche Nebenumstände zwar in
einem Bericht des Generals dÄmade zum Teil abzuleugnen versucht wurden, der
aber nicht ganz verschleiert werden konnte und immer noch genug übrig ließ, was
der deutschen Regierung zu ernsten Vorstellungen Anlaß bieten konnte. Man darf
auch wohl annehmen, daß die französische Regierung nicht in Zweifel darüber ge¬
lassen worden ist, daß sie im Begriff stand, den Bogen zu überspannen. Es scheint,
als ob sich die französische Regierung nun doch die Frage vorgelegt hat, ob sie
es verantworten kann, die Dinge so weiter laufen zu lassen, oder ob es nicht
vielmehr notwendig ist, das Verhalten der Truppen in Marokko mehr in Über¬
einstimmung mit der offiziell verkündeten und vertretnen Politik Frankreichs zu
bringen. Darauf ist es Wohl zurückzuführen, daß neuerdings ernstlich von
Räumung einzelner Gebietsteile in Marokko, von Einschränkung der Operationen
und Zurückziehung eines Teils der Truppen die Rede ist.
Vorläufig überwiegt also auch in Frankreich augenscheinlich das Bedürfnis,
das mühsam genug hergestellte politische Gleichgewicht in der Weltlage nicht leicht¬
fertig zu stören. Der moralische Rückhalt, den Frankreich an England findet, ge¬
nügt doch nicht, um Deutschland von seinem fest und klar eingenommnen Stand-
Punkt in der Marokkofrcige abzudrängen. Dieser Standpunkt ist derselbe, den
Frankreich selbst offiziell anerkannt hat. Es ist darum auch nicht recht zu versteht,,
weshalb diese unsre Stellung ein Zeichen unsrer Schwäche sein soll, wie von
manchen Seiten immer wieder behauptet wird. Das könnte doch nur dann mit
einigem Recht gesagt werden, wenn wir in Marokko selbst eine» andern und weiter¬
gehenden politischen Einfluß gewinnen wollten, als er durch unsre Handelsinteressen
und das Recht der offnen Tür bestimmt wird. Aber wenn das auch wohl in
einzelnen politischen Kreisen gewünscht wird, offizielle deutsche Politik ist es nicht
und ist es auch nie gewesen. Wir haben nie auf dem Standpunkt gestanden, daß
die Franzosen bei ihrer gewaltsamen „friedlichen Durchdringung" Marokkos etwas
täten, was wir nur deshalb mißbilligen, weil wir es selbst gern tun würden.
Vielmehr halten wir ein derartiges Vorgehen einer einzelnen Macht mit den inter¬
nationalen Rechten überhaupt nicht für vereinbar. Und weil es sich eben nicht um
einen Wettlauf in irgendwelcher Eroberungspolitik handelt, sondern um Rechte, die
wir in jedem beliebigen Augenblick fordern können, darum kann es niemals Schwäche
bedeuten, wenn wir den Franzosen jede nur mögliche Rücksicht beweisen, und statt
mit nervöser Besorgnis bei jeder Gelegenheit dazwischen zu fahren, mit Ruhe und
Festigkeit nur unsre klaren und unantastbaren Rechte betonen.
Die Entwicklung aller solcher Fragen fordert Geduld und Wachsamkeit, und
diese Eigenschaften werden wir überall notwendig gebrauchen, wo es steh um das
Gewinnen eines sichern Urteils über unsre politische Lage handelt. Je mehr wir
uns zeitlich von der Epoche der Reichsgründung entfernen desto weniger können
wir erwarten, daß die andern Mächte unter dem unmittelbaren Bann des Über¬
gewichts unsrer Waffenmacht stehn. In langer Friedenszeit laßt sich eine moralische
Einwirkung dieser Art auf das allgemeine Bewußtsein fremder Volker nicht auf¬
rechterhalten. Es muß genügen, in den kundigen und verantwortlichen Kreisen des
Auslands die Überzeugung zu erhalten, daß unsre Wehrmacht °uf der alten esten
Grundlage ruht. Wir können ohne Überhebung und ohne verblendete Prahlerei
sagen, daß diese Überzeugung da. wo sie für uns von Wert ist in der Ta be¬
steht. Darum ist es kindisch und zwecklos, M politische Schwierigkeit, nut der
wir irgendwo zu kämpfen haben, dahin zu kennzeichne,^ als ob sich co Sinken des
Ansehens des Deutschen Reichs darin ausspräche. Eine bequeme Prestlgepolitik
können wir allerdings nicht treiben. Es ist ein verwickeltes Spiel und Gegenspiel
der Interessen, in dem wir uns behaupten müssen. Aber es ist falsch, zu behaupten,
d"ß wir ausschließlich von einem Ringe feindseliger, unter sich einiger Jnteresien
umgeben sind So einfach ist die Lage nicht, und wir haben genug Momente, die
Zu unsern Gunsten in die Wagschale fallen. Freilich werden wir immer mit den
Schwierigkeiten zu rechnen haben, die unsre zentrale Lage mit sich bringt.
Es ist jetzt wieder, wie vor einem Jahre, von Einkreisungspolitik die Rede,
weil König Eduard seinen offiziellen Besuch beim Kaiser von Nußland angesagt hat.
und weil besonders von französischer Seite große Hoffnungen auf einen neuen Drei¬
bund zwischen England. Frankreich und Rußland gesetzt werden. Dieser Gedanke
bedeutet natürlich ein wahres Labsal für alle, die von Mißtrauen gegen Deutsch¬
land erfüllt sind oder sich gar mit aktiven feindlichen Absichten tragen. Und doch
bietet die Lage eigentlich nichts neues. England und Frankreich haben sich längst
zusammengetan, und noch älter ist der berühmte Zweibund Frankreich-Rußland, der
die Blütenträume der französischen Revanchepolitiker zur Reife bringen sollte und der
doch in der Hand des einseitigen und mißtrauischen, aber ehrlichen und gewissenhaften
Alexanders des Dritten etwas ganz andres wurde. Es klappte zuletzt auch nicht immer
und wurde allmählich ein bißchen langweilig, aber schön war es doch, wenn im heiligen
Rußland die Marseillaise stieg und die Republikaner an der Seine den lieben Gott
um Schutz für den rechtgläubigen Selbstherrscher im Osten anflehten. Nichts kam dem
Reiz dieser Freundschaft gleich, bei der man Lächeln und Händedruck gerade über
Deutschland, das böse Deutschland, hinweg austauschte. Aber, wie gesagt, die nationalen
Hoffnungen kamen doch nicht ans ihre Rechnung, und fo sprach man von der Sache
nicht mehr so viel, als das neue Einverständnis mit England angebahnt wurde.
Aufgegeben wurde jedoch nichts, die Bundesgenossenschaft bestand fort und konnte
jeden Augenblick den frühern Wärmegrad wieder erreichen. Seitdem ist nun auch
das Abkommen zwischen England und Rußland über Asien abgeschlossen worden,
und damit ist die Möglichkeit gegeben, daß aus den beiden Freundschaften zu zweien
nun eine Freundschaft zu dreien wird. Das; die englische Politik diese Möglichkeit
nach Kräften auszunutzen bestrebt ist, läßt sich wohl verstehn. Die Lage des bri¬
tischen Weltreichs zwingt dazu, überall ein Eisen im Feuer zu haben. Seit Japan
seincni englischen Verbündeten hier und da unbequem und gefährlich wird, sucht
sich England Rußland weiter zu nähern, und der russischen Politik können diese
freundschaftlichen Beziehungen zu den Westmünster nur angenehm sein. Soweit
darin nur eine Tendenz zum Ausgleich drohender Gegensätze liegt, brauchen uns
diese Bestrebungen nicht zu beunruhigen. Es könnte ja nun freilich sein, daß sich
der neue Dreibund in den Dienst von feindlichen Absichten gegen uus und unsre
Verbündeten stellte. Aber es würde wohl bei diesen Absichten bleiben, so wie es bei
dem französisch-russischen Zweibnnd bei der Absicht geblieben ist. Denn das Schwer¬
gewicht der realen Interessen und Möglichkeiten ist größer als das luftige Gespinst
der volkstümlichen Sympathien und Antipathien, die gelegentlich als Mittel für die
ernstern Zwecke der Staatskunst dienen müssen, aber das Schicksal der Völker nicht
allein bestimmen können. Die Interessen der europäischen Mächte sind gegenwärtig
nach allen Richtungen so festgelegt, daß neue Bündnisse nur dazu dienen können,
unerwünschte oder gewaltsame Lösungen schlummernder Krisen hintanzuhalten, nicht
aber neue Konstellationen zu Angriffszweckcn zu schaffen. Wenn der erwartete
Dreibund England-Frankreich-Rußland zustande kommt und wirklich eine deutsch¬
feindliche Spitze zu zeigen versuchen wollte, so würde er sich sehr bald vor einer
Reihe von innern und äußern Unmöglichkeiten sehen und erkennen, daß der
Selbsterhaltungstrieb den Gliedern des Bundes nützlichere und wichtigere Aufgaben
stellt, mit denen sie vollauf zu tun haben, ehe sie überhaupt in der Lage sind, sich
um uns zu kümmern. Das Vergnügen, das deutschfeindliche Kreise in den be¬
teiligten Ländern vielleicht in der Vorstellung finden, Deutschland mit einem solchen
Bunde beunruhigen und in Schach halten zu können, brauchen wir den guten Leuten
nicht zu mißgönnen; es hält sie vielleicht von gefährlichen Plänen zurück.
Wie wenig das wichtigtuende, im Gewände politischer Weisheit einherstolzierende
Gerede von den ständigen Schwierigkeiten und Mißerfolgen der deutschen Politik
oft gilt, zeigt auch der Schritt vorwärts, der neuerdings wieder in der Frage der
Bagdadbahn getan worden ist. Das Unternehmen ist bekanntlich rein wirtschaft¬
licher Natur, vollzieht sich unter türkischer Oberhoheit, arbeitet mit internationalem
Kapital und dient keineswegs nur deutschen Interessen, sondern Handelsbeziehungen,
die ein großes Volkergebiet umfasse». Und doch weiß jedermann, daß man mit
vollem Recht dieses Unternehmen als deutsch, ja im politischen Sinne deutsch be¬
trachtet. Denn seine Ausführung wäre tatsächlich unmöglich gewesen ohne das Ver¬
trauen des Gultans und der Pforte zu deutschem Können auf technischem und
administrativen Gebiete, zu der Solidität deutscher Geschäftstätigkeit und zu der
politischen Loyalität Deutschlands. Erst dadurch ist die Sache in Fluß gekommen.
Daß dieses Vertrauen erworben und erhalten wurde, ist in Wahrheit eine politische'
Tat Deutschlands. Die Ausführung des Unternehmens ist daher auch stets von
einer starken politischen Gegenarbeit andrer Mächte begleitet gewesen. Diese hat
um so stärker eingesetzt, je mehr sich der Bahnbau dem wichtigsten Teil der Arbeit
näherte, nämlich der Überschreitung des Taurus. Denn war dies geschehn, so war
die Durchführung der Bahn bis zum Tigris so gut wie selbstverständlich. Deshalb
wurde alles getan, um das Steckenbleiben des Unternehmens aus anatolischem Boden
herbeizuführen. Mau ließ sich deshalb die Erschütterung der Stellung Deutsch¬
lands bei der Pforte so angelegen wie möglich sein, und in diese Bemühungen
wurden alle Fragen der Orientpolitik mit hineingezogen. Auch in der deuljcheu
Presse fand man oft genug nach französischen, englischen und russische» Quellen die
Behauptung, daß unsre Diplomatie in der Balkanpolitik falsch operiert habe, und
daß es mit dem frühern Einfluß Deutschlands am Goldner Horn vorbei sei. Jetzt
stehen wir der Tatsache gegenüber, daß die Verlängerung der Bagdadbnhn um
weitere achthundert und einige mehr Kilometer gesichert ist. Diese jetzt konzessionierte
Strecke aber bedeutet die Überschreitung des Taurus! Es muß doch also wohl
nicht so arg sein mit der Einflußlosigkeit Deutschlands im Orient und mit der Un¬
fähigkeit unsrer Diplomatie, deutsche Interessen gegen die widerstrebenden Einflüsse
Englands und andrer Mächte durchzusetzen.
Im Innern nähern wir uns den Zeiten politischer Windstille. Aber noch sind
vorher die preußischen Landtagswahlen zu überwinden. Man sollte meinen, das müsse
noch dem heftigen Sturme, der wegen des preußischen Wahlrechts bei Beginn dieses
Jahres den Blätterwald durchtobte, eine recht starke Bewegung werden. Doch davon
ist recht wenig zu bemerken. Die Parteien suchen in den einzelnen Wahlkreisen die
Kandidatenfrage so gut zu regeln, wie es nach den Umstanden eben geht. Da
werden denn die verschiedensten Bundesgenosienschaften geschlossen, und alle diese
Bündnisse act Iroo vertragen nicht die starke Aufregung einer gronen Prinzipienfrage.
die die Wählerschaft in zwei Heerlager teilt. So geht es emsiweileu uoch recht still
Zu. und niemand erwartet eigentlich, daß der neue Landtag e.u wesentlich andres
Gesicht zeigen wird als der bisherige. Nur daß mau infolge der Neuemte.lung
der Wahlkreise doch nicht ganz die Möglichkeit abweisen kann, einen oder den andern
Sozialdemokraten in den Landtag einziehen zu sehen. Anstrengungen genug werden
dazu gemacht werden
Ei
n Franzose,
el» Engländer ein Deutscher machten einst eme Wette. Keiner hatte noch je ein
Kamel gesehen- wer nach einem bestimmten Zeitraum ein solches am besten zeichne»
kannte, sollte gewinnen. Der Engländer reiste nach Ägypten, beobachtete zeichnete
photographierte, der Franzose ging in die Menagerie und in die Bibliothek, der
Deutsch, aber blieb zu Hause und schuf das Kamel aus der Tiefe ,e.ues Gemüts.
Die Anekdote hält es nicht für nötig zu erzählen wer nnn schließ ich die beste
Zei-Hnuug lieferte. Diese ^scheinbare Erzählung enthalt eine Wahrheit Es scheint
eine Eigenart des Deutschen zu sein, daß seine Urteile über Dinge vielfach ähnlich
zustande kommen wie seine Zeichming des Kamels. ^
Es gibt zwei logisch und ps chologisch getreu,, e Arten des Urteilen^ ur die
einzelnen Völker verschiedne Neigung und Fähigkeit zu haben scheinen. Die eine geht
v°u der Wirklichkei und dem einzelnen aus und ,..ehe e.n allgemeines die ^geht von. allgemeinen aus und sucht dann das einzelne, das dazu paßt Die Urteile
der ersten A?t wer en komplizi rter Natur, vorsich iger. weniger umfassend sem und
"uf manche Einschränkungen verweisen; die °"d,er"
viel einfacher deutlicher leichter faßbar, apodiktischer und formelhafter; die ersten
°ber h^be.7d'en V A' Ä sie von der Wirklichkeit etwas aussagen wä re.'d die
Zweiten immer nur eine Idee des Urteileuden geben, die eben alles von der Wirk-
uchkeit, was ihr nicht paßt, ignoriert. ^ c» ^ ^ -
<„^
Die zweite Art des Urteils, die keinem andern Bol der Erde '" fliegt
w'e dem deutschen, hat gewiß ihre Vorzüge - sie ist d.e Wurzel des Idealismus
hat Philosophien geschaffen, ein Reich des Geistes und der Idee — und die tiefsten
Dinge sind stets deshalb gesagt worden, weil ein allgemeinstes intuitio geahnt, aus
dem einzelnen nicht entwickelt, sondern in ihm wiedergefunden wurde.
Dieser Vorzug, der auf philosophischem Gebiete die Größe des deutschen
Denkens schafft, wird wie jeder Vorzug, in anderm Zusammenhang, zur empfind¬
lichen Schwäche. Der Wirklichkeit gegenüber bedeutet diese Denkweise Herrschaft
der Theorie und der Formel, das heißt Ungerechtigkeit und Gewalt. Noch ehe wir
einen Menschen richtig kennen, haben wir die Formel, die sein Wesen erklärt. Diese
Formel verhärtet sich dann gleichsam, ohne mit genauerer Erfahrung bereichert oder
verändert zu werden — weil für diese Art des Denkens die Aufgabe gelöst ist,
wenn die feste begriffliche Formel gefunden und alles Spätere unbewußt ignoriert
wird. Es liegt darin wohl der geheime Grund, warum die deutsche Nation andern,
insbesondre den Franzosen in der Feinheit der Psychologie, zumal der Frauen, die
ja zumeist begrifflich nicht meßbare widerspruchsvolle Wesen sind, so sehr nach¬
stehen wie in keiner andern Aufgabe des Denkens. Der deutsche Schriftsteller
liebt die Einfachheit der Charaktere ebenso wie der französische ihre verwickelte Un-
meßbarkeit, ihre geheimen Risse, ihre unfaßlichen Rätsel — die verlockendste, weil
schwerste Aufgabe einer jahrhundertealten ererbten und stets verfeinerten psycho¬
logischen Kultur. Der Franzose liebt das Irrationale, vor dem sich der Deutsche
angstvoll in den Begriff rettet. Ein Deutscher liebt sein Wirtshaus rechteckig, und
die Säulen, die die Decke etwa stützen, sollen in der Mitte stehn. Wer französische
Cafes, ganz gleich ob in Paris oder in der Provinz, sieht, erschrickt darüber, wie
peinlich und krampfhaft dort jede Symmetrie vermieden und unwahrscheinliche Poly¬
gone unwahrscheinlich eingeteilt sind. Das Wesen des Menschen aber ist irrational,
und wer das Geometrische liebt, wird stets ein schlechter Psychologe bleiben. Eine
Schilderung, wie sie z. B. Balzac in seiner Histoirs ckss trsiss auf zwei Seiten
von dem Charakter der OuoKssss Ah I^s-nAlais entwirft, wird ein deutscher Schrift¬
steller niemals schreiben, ein deutscher Leser zumeist nicht ganz genießen können.
Das alles ist natürlich nur im Durchschnitt wahr, wie das meiste, was von
Gesellschaften, Völkern, Rassen gesagt wird. Wir haben jeden Tag Gelegenheit,
Belege zu beobachten. Wie werden Persönlichkeiten, die die Augen auf sich ziehen,
beurteilt! Man begegnet Formeln, nicht aber Charakteren. Man braucht nur nach¬
zuprüfen, was zum Beispiel über den Kaiser gesagt wird. Eines der treffendsten
Beispiele ist noch in aller Gedächtnis. Irgend jemand hatte erzählt, der Reichskanzler
hätte gesagt: „Nur keine innern Krisen." Das Wort wurde aufgegriffen, wurde
zum Programm, zur Formel, zur Charakterschilderung. Der Reichskanzler hat das
Wort niemals ausgesprochen, wie er selbst im Reichstag erklärt hat. Es wurde
lediglich geglaubt, weil es eine bequeme Formel war und bleibt, als bequeme Formel,
auch noch im Gedächtnis, nachdem die Reichstagsauflösung eindringlich genug gezeigt
hat, daß Formel und Wirklichkeit nichts miteinander gemein haben.
Ja es scheint sogar, als hätte diese Formel unter Deutschen ein so zähes Lebe»,
daß das Urteil, das sie enthält, aus der innern Politik Vertrieben, sich nun in die
auswärtige rette, um dort seine Haltung zu behaupten, bis auch da einmal der
rechte Augenblick kommt, uno ein Staatsmann, dessen Werkzeug nicht die an keine
Zeit gebundne Idee, sondern die Situation ist, zeigen kann, daß die Hand, die
den Handschuh trügt, auch den Degen führen kann.
Es ist nnr eine andre Form derselben Erscheinung, der Liebe zur formelhaften
Charakterisierung, wenn wir so oft, am deutlichsten bei Gerichtsverhandlungen, jedes
einmal oft vor langen Jahren und in dieser oder jener Situation gesprochne Wort als
verbindliches Programm wiederkehren sehen. Der Deutsche spricht und hört Pro¬
gramme. Seine Worte sind nicht leichtbeflugelt, Irrlichter, Sterne, die nur für ein
paar Momente flimmern, sondern Programme, schwer und langlebig. Die deutschen
Gesellschaften verlieren so, was die philosophischen Bücher gewinnen. In Deutsch¬
land gilt, wer Ansichten äußert, die er nach einem Monat vergessen hat, sur un¬
moralisch, in Frankreich je nachdem für geistvoll oder sür vergeßlich.
Hatte der Fürst Bülow wirklich einmal ausgerufen: Nur keine innern Krisen!
er hätte zehn gegen eins wetten können, daß der deutsche Zuhörer dies nicht aus
der Situation, sondern als Programm verstanden hätte ,
^^^Dieses Kapitel könnte sehr weit sichren, und einzelne der tiefsten Verschieden,
heilen der Rassen werdeu offenbar aus dem Verhältnis des lebendigen Machen
zu dem toten Wort.
- Ziemlich
Wut gelangt nach Deutschland die Ur. 1 des diesjährigen Jahrgangs des in Warschau
erscheinenden Kurjer Warzawski. aus der man erfahr daß das Polentum den
ersehnten großen Kladderadatsch im Laufe des Jahres 1913 erwartet. In d ser
Nummer schreibt nämlich ein Herr Wladislaw M. Kozlowski. „das polnische Volk
im Posen chen" habe „ans Grund chronologischer Aufstellungen die Uberzeng.^gewonnen daß die pre ßis he Herrschaft in diesem Lande im J°hre 1913 ihr End
erreicht" Der s^err iüat lini. das unsinnige Vorgehn der preußycheu Regierung"
^ZS^^MSALlaut gewordne Stimme der Entrüstung" sei b^tes Zeu^nicht mehr möglich ist die elementaren Grundsätze für Recht und Gerechtigkeit zu
verge2wu^indem in hinter das PrwziP der Nichteinmischung in fremde
""
dnige-Vorgehn der ^MmR^Einbringung der Enteignungsvorlage gemein- Tatsach ich hat sich d'e p ^ ZStaatsregierung zu diesem Vorgehn erst entschlosen als si ''^ langer den^Weiseln konnte daß das massenhafte "ut,, pwmaß ge An^den Ostmarken ,n leben Vre se und die Achtung eines leben. ,einen Grundbesitz an
en.en?u che^v re?^ den Zweck hatten. der preu^n Herba t em
Ende zu machen N u ist also den Vätern der Vorlage nur die Enthüll eng des
Kiirje/Warlsli d ß ' s Polentum dieses Ende schon sür so nahe gerückt halt.
Hatten die Ägfe »ngsvertreter diese ans Grund chron^ogischer A'> Ewigen -
wonnene Über-euauna des polnischen Volks im Posen,chen und seiner War chaner
StammesgenU ? um s sie gewiß nicht ve^sie haben, die Ausla ungen
des Herrn Ko lonÄi im Landtage zu verwerten um die Kohlerglaub g^.de sich
'"ehe von Losreißnngsplänen der preußisch^ P^en^überzeugen äffen woll^^uräuw. zu führen und den prinzipiellen Gegnern einer be chrankteu und fret ichen
Enteignun/ge en reichliche Entschädigung 5» S°igen, in^meinen und gewaltsamen Enteignn.,gsplänen ohne Entschädigung pas die Polen
Dan es sick in der ?at nickt um vage, mit historischen Zahlen willkürlich
°perle^e°^ um durchdachte Pläne 7t destin.in.en Mittew
handelt, geht aus dem Aufsatze des Knrjer Warzawski klar hervor, sagt ga .
after, wie die russischen Polen mithelfen ,oller zur Verwirklichn g des Pro^w naher Zeit: durch Verdrängung der ..übermäßig dienstfertigen d »tscheu ^ -
dnstrie und des deutschen Ka ntals °us dem „Königreiche" sollen d w ^Industriellen. Kaufleuie und Kapitalisten bewogen werden, auf ^ Abg ordnet^n
einen Druck zur Ablehnung aller weitern. die freie Bewegung der P°lin
wenden Vorlagen auszuüben. In den oben zitierten Sätzen ist schon ange^wodurch das nichtpolnische Anstand dazu ^bracht werden soll von demi
d°r Nichteinmischung dem „die elementarsten ^u^Satze sur Rech^keit vergewaltigenden" Preußen-Deutschland gegenüber abzugehn. An einer andern
Stelle zeigt er auch, wie man es machen muß, um dem nichtpolnischeu Auslande
einzureden, Preußen habe von jeher an seinen Polen in schändlicher, ein Straf¬
gericht geradezu herausfordernder Weise gehandelt. Er schreibt nämlich: „Die
historischen Verhältnisse der brandenburgischen Fürsten zu Polen lassen sich kurz in
der Geschichte des geriebnen Burschen im Verhältnis zum mächtigen und gro߬
mütiger, doch unvorsichtigen Herrn zusammenfassen. Abgerissen, demütig und unter¬
würfig kommt der »plnndrige« Bursche, um sich bei dem Herrn in den Dienst ein-
zubetteln. Großmütig wird er angenommen. Der Bursche ist dienstfertig und
gewandt. Schnell gewinnt er an Bedeutung, er wird unentbehrlich. Zugleich mit
der Bedeutung wächst bei ihm auch der Hochmut, jenes »Pathos für Entferntes«,
das heißt für Rang, das der Philosoph des Preußentnms zu rühmen beginnt. Oft
muß ihn der Herr mit dem Stocke bekannt machen. Der Bursche erduldet die
Schläge, füllt sich aber die Taschen. Er tröstet sich mit dem Gedanken, daß er
in seinem Herzen den »Willen zur Macht« verborgen hält. Schrittweise verarmt
der Herr, ebenso wie sich der Knecht auf seine Kosten bereichert. Es kommt die
Zeit, die den Herrn zum Konkurs führt. Der Bursche, der sich während seiner
Dienstzeit den Beutel gespickt hat, übernimmt den größten Teil seiner Besitzungen,
und jetzt will er den Herrn aus seiner heimatlichen Stätte verdrängen, ungeachtet
des vereinbarten Lcbtagsrechts."
Wer die Geschichte Polens und die Rolle, die die brandenburgischen Fürsten
in ihr spielen, kennt, der weiß, daß man diese Geschichte gar nicht gröblicher fälschen
kann, als es hier geschieht. Jedenfalls spielen im letzten Jahrhundert die Rolle
des abgerissenen, plundrigen, sich die Taschen füllenden Dieners, der den ihn erst
zum Menschen machenden Herrn aus seinem rechtmäßigen Besitze verdrängt — die
Polen. Aber was verschlägt das dem Herrn Kozlowski! Er weiß ganz genau, daß
in den Ländern, für die seine „historische" Darstellung hauptsächlich bestimmt ist,
der Schulunterricht in der Geschichte sehr im argen liegt, und daß deshalb seine
Fälschung dort Tausende von Gläubigen findet, wenn sie unter die Massen gebracht
wird. Er weiß serner, daß in England, Frankreich, Italien und Amerika eine
Menge polnischer Preßagenten begierig auf solche Entstellungen stürzt, um sie in
die Landespresse zu bringen. Legt doch zum Beispiel die in Graudenz erscheinende
Gazeta Grudziadzka dem jungen Strazvereine die Pflicht auf, die ganze Welt über
die Gewalttaten Preußens an den unglücklichen Polen zu informieren und zu diesem
Zwecke wöchentlich mindestens zwei bis drei Mitteilungen über solche Taten für
Blätter jeuer Länder zu verfassen und durch sprachkundige polnische Damen in die
betreffenden Sprachen übersetzen zu lassen. Daß diese Pflicht im vollsten Maße
erfüllt wird, dafür sorgt schon der überaus eifrige Strazvater Herr Joseph von
Koscielski, unter dessen Leitung die polnischen Schriftsteller und Journalisten häufig
genug beraten und sich in die gemeinsame Aufgabe teilen.
Deutsche Gegner der Enteiguungsvorlage werden nun vielleicht sagen, der
Artikel Kozlowskis in dem Warschauer Blatte würde ohne die Enteignungs¬
vorlage nicht geschrieben worden sein und könnte schlechterdings nicht als beweis¬
kräftig für Losreißungsvläne der preußischen Polen angesehen werden. Nun, die
„chronologischen Aufstellungen" über das Ende der preußischen Herrschaft „im
Posenschen" sind sicherlich nicht erst nach der Einbringung der Enteignungsvorlage
erfolgt, und den Zweck, den Kozlowski mit seiner Enthüllung und seinen übrigen
Ausführungen verfolgt, haben längst vor ihm andre polnische Schiftsteller zu er¬
reichen gestrebt. Wer sich darüber genan unterrichten will, verschaffe sich das so¬
eben zu günstiger Stunde im Verlage von Puttkammer und Mühlbrecht in Berlin
erschienene Buch „Polen-Spiegel", das eine übersichtliche Darstellung der polnischen
Organisationen in den „drei Anteilen", ihrer Zwecke und Mittel sowie die wichtigsten.
Aktenstücke zur Beurteilung der polnischen Rechte und Pflichten darbietet und endlich
durch eine reiche Fülle von Zitaten aus polnischen Zeitschriften den unanfechtbaren
Beweis erbringt, daß schon längst die Polen im preußischen Staate eiuen wirt¬
schaftlich-politischen Ring bilden, dessen letztes Ziel es ist, in Gemeinschaft mit den Polen
in Österreich und Rußland das polnische Reich wiederherzustellen. In diesem ver¬
dienstlichen Werke fehlt es auch an Beweismaterial dafür nicht, daß schon lange
bevor die preußische Staatsregierung an Enteignung polnischer Güter dachte, sich
die Polen aller „drei Anteile" bemühten, das Ausland besonders gegen Preußen
und das ganze Deutsche Reich aufzureizen und der Unterstützung der polnischen
Pläne geneigt zu machen. Unter diesem Beweismaterial fehlt jedoch ein besonders
charakteristischer Artikel, der erst ganz neuerdings die Aufmerksamkeit auf sich ge¬
lenkt hat und besondre Beachtung deshalb verdient, weil er von dem ehemaligen
„Admiralski" und „Freunde des Kaisers", dem Herrenhausmitgliede und Straz-
vater von Koscielski herrührt und aus einer Zeit vor der Entstehung der Ent-
eignuugsvorlage und sogar vor dem großen Schülerstreik und seiner Bekämpfung
durch die preußische Staatsregierung stammt. Dieser sehr ausführliche, in der durch
ihren Deutschenhaß berüchtigten Londoner Zeitschrift Ins Mticmal Ksvis^ er¬
schienene Aufsatz geht den Engländern mit Schmeicheleien über ihre kolonisatorischen
Erfolge höchst geschmeidig um den Bart, um sie desto empfänglicher für das zu
machen, was er den Preußen anhängt. Zu dem gleichen Zwecke beginnt er seine
„historische" Schilderung der Preußen und ihrer Schandtaten mit einer Art von
Lob und scheut sich nicht einmal, den polnischen Magnaten früherer Zeit recht Un¬
rühmliches nachzusagen. Er führt nämlich aus, wenn man die Preußischen Erfolge
von 1866 und 1870/71 versteh» wolle, dürfe man nicht vergessen, daß der dürftige
Sandboden der Mark ein an harte Arbeit gewöhntes Geschlecht habe heranbilden
müssen, ein Geschlecht von geistig großem moralischen Ernst und körperlich eiserner
Stärke, ungleich fähiger als seine minder hart erzognen Gegner, andre zu beherrschen.
Das dürfe man auch nicht vergessen, wenn man volles Verständnis des Kampfes
um die Existenz zwischen Preußen und Polen gewinnen wolle. In diesem Kampfe
verdanke das preußische Volk dem unfruchtbaren Boden seines engern Vaterlands
hauptsächlich seinen Sieg über die Polen, die im Genuß der reichen Erträge ihrer
fruchtbaren Äcker schwach und endlich durch ihr politisches Streben nach dem Osten
und durch ihre Vermischung mit den Russen „byzantinischer Trägheit" zugänglich
geworden seien, die sich später zu „orientalischer Sinnlichkeit" entwickelt habe. In
dieser trägen Sinnlichkeit allgemach der größten Anarchie verfallend, habe das Polentum
ganz übersehen, daß ihm ein mächtiger Feind im Westen — der abgerissene Bursche
Kozlowskis — erwachse, der dann die „anmaßenden Hände" nach dem Osten ge¬
streckt habe.
Eine der dreistesten Behauptungen wird von Koscielski zu dem Zwecke unter¬
nommen, den Fürsten Bismarck wegen seiner Erklärung, die Polen hätten die im
Jahre 1815 von Friedrich Wilhelm dem Dritten in seiner bekannten Proklamation
abgegebnen Zusagen durch ihren Aufstand im Jahre 1848 verwirkt, der Unwahrheit
zu zeihen. Die Behauptung selbst lautet keck und kühn: „Dieser Aufstand war durch
die preußische Negierung selbst hervorgerufen." Wir begnügen uns damit, diese
Darstellung niedriger zu hängen. Wer über die historischen Vorgänge genaueres
zu erfahren wünscht, der nehme das von dem frühern Generalstabsoffizier bei dem
Posener Generalkommando, spätern General von Voigts-Rhetz verfaßte aktenmäßige
Werk über jenen Aufstand oder die von dem Kreisbürgerausschuß zu Rogasen unter
Benutzung der lcmdrätlichen Akten verfaßte Geschichte des Aufstands in der Provinz
Posen zur Hand. Dort mag man sich überzeugen, mit welcher — Wahrheitsliebe
die heutige polnische Geschichtsdarstellung arbeitet.
In dem Koscielskischen Gemälde spielt natürlich die „eifrige Protestcmtisiernng
der östlichen Provinzen" eine große Rolle. Von Friedrich dem Großen begonnen,
sei sie nach kurzer Unterbrechung bis in die neuste Zeit systematisch fortgesetzt worden
und stehe in schneidendem Kontrast zu der polnischen Toleranz«?). Wenn wir von
Friedrich dem Großen, der nicht auf die Konfession, sondern nur auf die Zuver¬
lässigkeit und Brauchbarkeit sah, ganz absehen, so müssen wir allerdings zugeben,
daß die preußische» Regierungen seit den Zeiten, wo die Wahl polnisch gefärbter
Katholiken zu ostmärkischen Beamten noch Hand in Hand ging mit blinder Ver¬
hätschelung der Polen überhaupt, die Einsetzung solcher Beamten vermieden, und
daß die Ansiedlungskommission, ans die sich Herr von Koscielski besonders beruft,
mehr Protestanten als Katholiken angesiedelt hat. Aber wer trügt daran die Schuld?
Aus eigner Machtvollkommenheit haben die Polen die Gottesmutter zur „himmlischen
Königin" des ungeteilten Königreichs ernannt, die nur polnisch redet und versteht,
nur polnisches Gebet erhört; nur Katholiken, die dieses politische Dogma annehmen,
gelten ihnen als rechte Katholiken. Selbstverständlich sind die Protestanten diesem
Dogma ungleich weniger zugänglich als Katholiken, die, mögen sie woher immer
kommen, von der polnischen Geistlichkeit mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln
drangsaliert werden, bis sie sich zur „polnischen Religion" bekennen. Die voll¬
ständige Polonisierung der „Bamberger" beweist, mit welchem Geschick und Erfolg
diese Bekehrungen und national-politischen Umstempelungen betrieben werden. Die
preußische Staatsregierung und ihre Organe würden also im höchsten Grade ver¬
blendet handeln und die östlichen Provinzen den nach Wiederherstellung des alten
Polenreichs trachtenden Elementen förmlich ausliefern, wenn sie diesen Provinzen
der Bekehrung zur „polnischen Religion" besonders zugängliches Menschenmaterial
zuführen wollten. Daß sich die deutscheu, d. h. die Katholiken, die ihre Religion
freihalten von politischer, landesverräterischer Zutat, in keiner Weise hinter die
Protestanten zurückgesetzt fühlen, haben sie oft genug dankbar anerkannt. Die
Toleranz des preußischen Staates gegen rein religiöse Bekenntnisse steht also himmel¬
hoch über der der Polen, die mit fanatischer Unduldsamkeit die deutschen, sich gegen
die polnische Aufsaugung wehrenden Katholiken bekämpfen und gegen diese allmählich
die ganze Wut gerichtet haben, mit der sie ehedem den Protestantismus verfolgten.
Was dieser von den Polen zu erdulden hatte, ist erst kürzlich in der Kreuzzeitung
in einer längern Abhandlung klargelegt worden, die den unanfechtbaren Nachweis
liefert, wie unduldsam und gewalttätig das Polnische Reich den Bekennern des
evangelischen Glaubens wie auch den Anhängern der griechisch-katholischen Kirche
innerhalb seiner Grenzen gegenübergetreten ist, und wie es in einer Zeit, wo
längst der Grundsatz on^us rsxio, s^jus rslissio von allen Mächten aufgegeben worden
war, doch mit Feuer und Schwert gegen Andersgläubige gewütet hat in einer Weise,
die wiederholt den Einspruch andrer Mächte hervorrief.
Daß ein Mann, der so mit der Wahrheit und der Preußischen Staatsregierung
umspringt, um dieser jenseits des Kanals Gegner zu schaffen, dem Deutschen Ost-
markcnverein nichts Gutes nachredet, kann nuche überraschen. Aber daß Herr
von Koscielski, der dem „edeln" Polentum als besondres Verdienst den Beschluß
anrechnet, „festzuhalten an den Eroberungen der Väter", die Führer und die Mit¬
glieder eines deutscheu Vereins, der schlechterdings nichts andres will, der krassesten
Habsucht, der niedrigsten Ziele, des gröbsten Eigennutzes, ruchloser und schamloser
Taten zeiht, sie eine „Maffia des Nordens" nennt, von der sich alle bessern Ele¬
mente abwenden, und ihnen vorwirft, „einen Flecken auf den deutschen Namen ge¬
bracht zu haben, wie die Geschichte der ganzen Welt keinen schändlichem kennt":
das würde man diesem Vorkämpfer für Gerechtigkeit und Wahrheit trotz allem,
was er schon geleistet hat, doch nicht zutrauen, wenn man es nicht schwarz auf
weiß vor sich sähe. Und begreifen kann man es auch uur, wenn man voraussetzt,
daß er aä irisjorsin xlorism U-u?las, der himmlischen Königin des ungetrennten
Polenreiches, zu handeln glaube, indem er die preußische Staatsregierung als
Helfershelferin und Mitschuldige, ja als gefügiges Werkzeug dieses raubsüchtigen
Banditenhaufens dem Auslande denunziert.
Und in dieses Mannes Händen laufen alle die Fäden zu dem Netze zusammen,
mit dem das Ausland umsponnen werden soll, damit es bei dem großen Kladdera¬
datsch im Jahre 1913 der preußischen Herrschaft „im Posenschen" ein Ende machen
hilft! Er leitet, wie gesagt, die Beratungen der polnischen Schriftsteller und Jour¬
nalisten, lenkt und leitet den Strazverein, sitzt alljährlich in dem bekannten Karpaten¬
bade Zakopcme, wo sich die Polen aus den „drei Anteilen" im Sommer wochen¬
lang versammeln, um die Maßnahmen zur Bekämpfung und Schädigung ihres
bestgehaßten Feindes, des preußischen Staats, zu beraten, läßt sich bald in Krakau,
bald in Lemberg hören und entfaltet sowohl als national-politischer Lyriker, der in
tönenden Versen seine Stammesgenossen zu unermüdlicher Arbeit anfeuert, wie als
Polnischer Schriftsteller eine ebenso eifrige wie umfangreiche Tätigkeit, von der der
gekennzeichnete Artikel in der National Rsvis^ nur eine Probe ist. In wie un¬
erhörter Weise er zur Zeit des großen Schülerstreiks im DoKo as l^i-is die
preußische Unterrichtsverwaltung, die treuen ostmärkischen Lehrer und das pflicht-
getreue Beamtentum im Osten beschimpft hat, ist wohl noch in frischer Erinnerung.
Daß er nun, nachdem das Enteignungsgesetz einen Strich durch die Rechnung,
allmählich den überwiegenden Teil des ostmärkischen Grund und Bodens in polnische
Hände zu bringen, gemacht hat, mit seinen in- und ausländischen Helfershelfern
fanatischer als je das Verhetzungsgeschäft betreiben wird, unterliegt keinem Zweifel.
Um so nötiger ist es, diese Arbeit fest im Auge zu behalten. Man unterschätze die
Gefahr nicht, die es im Gefolge hat. Wieviele Ausländer sind imstande, zu unterscheiden,
ob bei uns ein Gesetz durch eine gefährliche Strömung notwendig geworden ist oder
eine solche Strömung erst hervorgerufen hat! Und wie viel offne und geheime Gegner
haben wir sogar in solchen Ländern, deren Regierungen im besten Einvernehmen
mit der unsrigen stehn, aber doch vielleicht der Stimmung der Bevölkerung in
gewissem Maße Rechnung tragen müssen. Die Polen bemühen sich eifrig, jedes
Mittel zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung des Auslandes zu gebrauchen.
Mit welcher Lügenhaftigkeit dabei Verfahren wird, das sehen wir zum Beispiel augen¬
blicklich an der aus Rom gemeldeten Tatsache, daß dort in einem Volkstheater in
kinematographischen Bildern die Art und Weise, wie das neue Enteignungsgesetz in
den Ostmarken gehandhabt wird, den Italienern anschaulich gemacht wird. Diese
angeblich aus dem Leben gegriffnen Bilder sind natürlich Phantasieerzeugnisse, denn
das Gesetz hat noch nicht den leisesten Anfang der Ausführung erhalten. Hinter der
Täuschung aber steht, wie gemeldet wird, der Vertreter eines polnischen Blattes!
In unsern Tagen bekommt man immer mehr
Lust, vernachlässigte und von dem Strom des großen Reiseverkehrs wenig berührte
Gegenden aufzusuchen und sich an deren ursprünglichen Reizen zu erquicken. Selbst
w denk seit alten Zeiten von vielen Tausenden überschwemmten Italien gibt es
"och unentdeckte Schönheiten, vereinsamte Städte, weltferne Dörfer, mit wunderbar
träumerischen Winkeln und mit köstlichen Erinnerungen an eine größere und be¬
deutendere Vorzeit. Und wie viel Herrliches mag gar noch auf der griechischen
Halbinsel für schönheitsdurstige Augen und Herzen zu entdecken sein. Bernard
Wie man schildert uns seine böhmischen Erlebnisse, und ich möchte recht viele auf
sein feines und Stimmungsvolles Buch aufmerksam machen. Wieman ist, wie er es
schon in einem andern Buch bewiesen hatte, ein Dichter, und sein höhnisches Tagebuch
offenbart es uns von neuem. Er hat das Land mit allen seinen Schönheiten in sich
aufgenommen und versteht es, seine Eindrücke mit dichterischer Kunst wiederzugeben.
Ich bin nur einmal eilig ein Stück Weges durch die Welt, die er schildert, ge¬
fahren. Was ich da gesehen und in meinen Gedanken mitgenommen habe, alle
die verblaßten Bilder der Erinnerung sind mir beim Lesen des böhmischen Tage¬
buchs wieder lebendig geworden. Wer die Sehnsucht verspürt, einmal in diesen
„schönern, lichten Ländern" eine Weile unterzutauchen, und wer sich ohne die Aus¬
sicht zu haben, dorthinaus einmal wandern zu dürfen, doch gern von fremden Ländern
und Menschen erzählen läßt, der möge Wiemans Buch lese». Er wird seine Freude
an deu farbenvollen Schilderungen haben und am Ende etwas von der Sonne
und dem warmen Lichte, worin der Erzähler die Landschaft geschaut hatte, in sich
Man liest jetzt bei modern sein wollenden Kunstschriftstellern manchmal
den Satz: „Der Naturalismus ist tot." Das ist ein Irrtum. Die naturalistische
Kunst ist die Kunst der naiven; und solange Menschen geboren werden, wird ihre
Nachahmungslust zu naturalistischen Kunstwerken führen. Nur das darf man sagen:
die Vorherrschaft des Naturalismus ist heute — genauer gesagt seit zwei Jahr¬
zehnten — gebrochen durch zahlreiche verschiedne Bemühungen um einen Stil; der
Naturalismus ist bloß noch ein Teil der heutigen Kunst, dem die Jungen über¬
wiegend nicht mehr huldigen. Aber er ist und bleibt der Nährboden auch aller
gesunden Stilkunst, das möchten wir zu Abtes sechzigsten Geburtstag nicht unaus¬
gesprochen lassen.
Als Abbe größere Kreise zu erregen begann, ärgerte man sich meist über die
naturalistische Schweife seiner Bilder. Heute ist dieser Kampf vorbei, und man hat
die Ruhe gefunden, zu sehen, mit wie großer, nur ihm eigner Herzensfreundlichkeit
Abbe stets malt. Sein einzig treues Auge für die Erscheinung unsers Lebens, das
auch soviel unbewußten Humor aufliest, im Verein mit seiner großen lichtmnlerischen
Kunst läßt uns eben doch in ihm den nächsten Verwandten Rembrandts sehen, so
verschieden die Persönlichkeiten sind. Und vielleicht hat er mehr Freunde in dem
jetzt lebenden höher entwickelten deutschen Bürgertum, als er selbst glaubt. Sei»
sechzigster Geburtstag gibt ihnen Gelegenheit, ihr Verhältnis zu dem Meister zu
prüfen und zu bestätigen. E. A. Seemann bietet eine Uhdemappe mit sechs schönen
farbigen Reproduktionen an (2 Mark): zwei Bilder aus dem Volksleben (Trommler¬
übung, Heimkehr), zwei aus dem Neuen Testament (Heilige Nacht, Die drei Könige)
und zwei aus dem Hause des Künstlers (Kinderstube, Am Gartenzaun). Zu einer
vollständigen Neproduktlonensammlung seiner Gemälde, darunter auch einigen farbigen
Wiedergaben, hat sich die Deutsche Verlagsanstalt in ihrer Klassikersammlung ent¬
schlossen; H. Rosenhagen hat zu diesem stattlichen Band eine Einführung geschrieben,
die namentlich über Abtes Entwicklung zur Selbständigkeit neues bringt. Vermag
die Seemannsche Mappe rasch größere Freude zu stiften, so wird der Klassiker-
baud — auch dank seiner Verzeichnisse und Nachweisungen — in Zukunft für alle
ernsthaftere Beschäftigung mit Abbe die wissenschaftliche Grundlage abgeben.
OvOl-
/?S5 ^/7^SS5S/'
er Führer des polnischen Koko in der russischen Neichsduma,
Roman Dmowski, hat soeben in Krakau eine Schrift in polnischer
Sprache veröffentlicht, in der er die Polenfrage im Zusammen¬
hang mit der deutsch-russischen Politik behandelt. Dmowski ist
ein durchaus offner und ehrlicher Politiker, dabei eine charak¬
teristische Persönlichkeit und in seinen Ansichten das Spiegelbild der An¬
schauungen der polnischen Gesellschaft. Darum dürfte es nicht uninteressant
sein, seine Anschauungen über die erwähnten Zusammenhänge vorzutragen.
Nach dem Zusammenbruch von 1863, schreibt Dmowski, schien die Polen¬
frage aufgehört zu haben, eine internationale zu sein. Dies um so mehr,
als auf der einen Seite die deutschen Siege über Frankreich, auf der andern
die Wirkungen der großen Reformen in Rußland bei deu Polen alle Hoffnungen
auf eine Hilfe von außen getötet hatten. In den drei Kongreßmüchten blieb
die Polenfrage fortab eine innere Frage. Sie hat als solche während der
ersten zehn Jahre nirgends einen so scharfen Charakter angenommen, daß sie
eine der Teilungsmächte hätte in Gefahr bringen können. Jede der drei be¬
teiligten Regierungen erledigte die Polensrage nach eignem Gutdünken. Ru߬
land führte seine Nussifizierungspolitik durch. Aus der Verwaltung, aus den
Schulen und den Gerichten wurde die polnische Sprache entfernt. Späterhin
wurde sie im Eisenbahnverkehr und schließlich in Privatgesellschaften verboten
und aus Banken und sonstigen privaten Unternehmungen verbannt. Den
Beamten wurde verboten, untereinander polnisch zu sprechen. Der Ausländer,
der das Zartnm auf der Eisenbahn durchquerte und nur die russische
Sprache hörte, der der polnischen Sprache nicht einmal in privaten Unter-
Haltungen begegnete, mußte zu dem Glauben kommen, daß die polnische
Sache in Rußland vollständig unterlegen sei, usw. Der Leser findet Einzel¬
heiten über die Russifizierung im ersten Bande meines soeben im Verlage von
Fr. Wilh. Grunow erschienenen Buches „Die Zukunft Polens". Ich brauche
darum die Ausführungen Dmowskis nicht zu wiederholen, sondern darf nur
seine zutreffende Auffassung hervorheben, daß die Ergebnisse der Russe -
fizierungspolitik gleich Null geblieben sind, wenn auch die amtlichen Angaben
von jährlich wachsenden Erfolgen sprechen.
„In Preußen, so meint Dmowski, wurde das System einer planmäßigen
Germanisierung der polnischen Lande fast vom ersten Tage der Teilung
Polens an mit nur kurzen Abweichungen durchgeführt." Wie bekannt, ist
diese Angabe falsch. Denn Preußen hat bis zum Jahre 1886 gesäumt, ehe
es zu einer aggressiven Polenpolitik überging.
In Deutschland stand zwar der Negierung ein mächtiges Werkzeug zur
Verfügung, dessen sich die Nüssen niemals bedienen konnten, die Kolonisation
der polnischen Lande, die im Laufe von mehreren Jahrhunderten langsam
durchgeführt werden konnte. Die an Preußen gelangten polnischen Lande
hatten darum schon zur Zeit der Teilung Polens eine bedeutende Zahl deutscher
Bewohner, Posen gegen 20 Prozent, das sogenannte „Königliche Preußen"
ungefähr 50 Prozent. Die Kolonisation nahm ihren Fortgang, und bis zu
den 1870 er Jahren gab es im Großherzogtum Posen schon gegen 45 Prozent
Deutsche. Diese Zahl, meint Dmowski, sei zu hoch gegriffen. Damals sei
das polnische Selbstbewußtsein noch nicht genügend entwickelt gewesen, und
„ein Teil der Polen habe sich selbst für Deutsche gehalten". Angesichts der
allgemeinen Lage wagte die öffentliche Meinung der Polen nicht an der Tat¬
sache zu zweifeln, daß die völlige Germanisierung von Preußisch-Polen nur
eine Frage der Zeit sei.
„Späterhin trat in der durch das gleiche Übergewicht des Deutschtums
bedingten natürlichen Zunahme der Germanisation ein Stillstand und dann
ein Rückgang ein. Das geschah, als Bismarck zur Kräftigung des deutschen
Übergewichts den Kulturkampf in den Vordergrund rückte, und als späterhin
eine Reihe von Maßregeln ergriffen wurde, die nach Dmowskis Meinung die
Polen zu einer niedern Kategorie von Bürgern machen sollte. Das hob
und schürfte das nationale Selbstbewußtsein sowie die nationale Energie und
gab der polnischen Kultur ein moralisches und rechtliches Übergewicht über die
deutsche Kultur (!). Die polnische Kultur begann die deutsche unaufhörlich
zu besiegen. Im gegenwärtigen Augenblick ist das natürliche Übergewicht der
deutschen Kultur unwiderruflich verloren gegangen (!).
Österreich betrat einen andern Weg, als es Galizien der Verwaltung der
Polen überließ. Dadurch büßte die polnische Frage innerhalb dieses Reichs
den staatsfeindlichen Charakter ein, den sie in den andern Staaten angenommen
hat. Die Polen, die in Österreich-Ungarn leitende Posten einnahmen, waren
vor allem österreichische Staatsmänner. Ihre Politik diente immer der Groß-
Machtstellung der Monarchie, häufig sogar zum Schaden der polnischen Inter¬
essen (!). Die polnischen Volksvertreter setzten dem Bündnis mit Dentschland
keine Hindernisse entgegen; auch einer Annäherung an Rußland bereiteten sie
keinen Widerstand. Die Anerkennung der nationalen Rechte der Polen in
Österreich gestaltete sich somit zu einer glücklichen Maßnahme, die polnische
Frage zu regeln."
Es konnte somit den Anschein erwecken, als befinde sich die polnische
Frage überall auf dem Wege zur völligen Liquidation. „Jedoch nur in dem
Falle, wenn man das innere Leben des polnischen Volkes und seiner Gesell¬
schaft vollständig ignorierte." Dieser Satz des polnischen Führers sei ganz be¬
sonders Professor Delbrück vorgehalten.
Im Leben der polnischen Gesellschaft begann dann nach dem Jahre 1864
eine neue Periode der patriotischen Arbeit, die unter ganz andern Bedingungen
vonstattcn ging als zu früherer Zeit. Wegen dieses Teils der Entwicklung
möchte ich auf den zweiten Band meines Buches „Die Zukunft Polens" ver¬
weisen. Nach Dmowski richtete sich in dieser Periode die nationale Energie
nicht mehr nach außen oder nach oben, sondern nach innen hinein, in das
Herz des Volkes. „Dadurch wurde die ganze Struktur und der Charakter der
Gesellschaft verändert. Der Schwerpunkt des nationalen Lebens wurde immer
mehr von den obersten Schichten zu den Volksmassen abgelenkt; zugleich ent¬
wickelte sich innerhalb der Massen die nationale Selbsterkenntnis." Dmowski
Übersicht den stärkenden Einfluß des volontierten deutschen Elements.
„Auf dem Boden der Demokratisierung der Gesellschaft entwickelte sich ein
neuer Begriff der nationalen Stärke. Neue politische Energie verschafft sich
Geltung, die das neuheranwachsende Geschlecht vom alten unterscheidet.
Der polnische politische Gedanke erkennt, daß die Zeit des bewaffneten
Kampfes um die Unabhängigkeit, die Zeit der Aufstände abgeschlossen sei; er
strebt danach, die Polenfrage, indem er sie verschärft, immer mehr zu einer
wesentlichen Frage innerhalb der einzelnen Teilungsmächte zu machen und sie auf
diese Weise zu einer Tagesfrage der internationalen Beziehungen zu erheben.
Die deutsche Bevölkerung des Großherzogtums Posen ist seit den 1870 er
Jahren von 45 auf 38,5 Prozent zurückgegangen; die Städte werden polonisiert,
sie werden nicht nur von den Deutschen, sondern auch von germanisierten
Juden verlassen, deren Zahl unaufhörlich abgenommen hat und zurzeit bis
auf 1,5 Prozent gesunken ist." An dieser Stelle überschätzt jedoch Dmowski die
Stärke der Polen. Denn er übersieht den Grund für den Abzug des deutschen
Elements: die großen wirtschaftlichen Interessen im Westen des Reichs.
Dann heißt es weiter: „Zu derselben Zeit findet eine nationale Wieder¬
geburt in Polnisch-Schlesien statt. Dies Gebiet schien endgiltig germanisiert.
Nicht nur die polnischen obersten Schichten waren geschwunden; die schlesische
Bauernschaft selbst hielt sich für durchaus treue Preußen. Der Kulturkampf
hat die polnische Bevölkerung erweckt. ... Die Abonnentenzahl der polnischen
Zeitungen in Schlesien übertrifft die der polnischen Zeitungen im Zartum und
in Galizien. Wenn man hierzu noch die Hebung des nationalen Selbst¬
bewußtseins und der Energie der Polen in Westpreußen und die gleiche» Er¬
scheinungen unter den protestantischen Masuren in Ostpreußen hinzufügt, so
erhalte» wir das Bild einer allgemeinen nationalen Wiedergeburt der pol¬
nischen Lande in Preußen,*)
In Österreich, wo das Wahlsystem die polnische Vertretung im Wiener
Parlament demokratisiert hat, ist die polnische Bewegung noch lebhafter und
kühner geworden. Die demokratischen Elemente der polnischen Bevölkerung
Österreichs beginnen in den letzten Jahren immer entschiedner gegen die
hauptsächlichste Form der Unterdrückung in Galizien vorzugehn, gegen die
wirtschaftliche Ausbeutung, die sich für die Großgrundbesitzer nicht so fühlbar
gestaltet. Zugleich finden diese Elemente eine starke Unterstützung bei den
Volksmassen und stehn infolgedessen nicht in Abhängigkeit von der Regierung
wie die Konservativen. Daher sind die demokratischen Elemente mehr geneigt
und befähigt, sowohl in der innern wie in der äußern Politik eine selbständige
Stellung einzunehmen und zu behaupten.
Die Entwicklung der demokratischen Politik der Polen in Österreich, die
zurzeit erst die ersten Gehversuche macht, muß die Polen zu einem Kampf
gegen die vorherrschende Stellung der Deutschen in diesem Staat sowie gegen
das enge Bündnis zwischen Österreich und Deutschland führen, das zurzeit
schon »mehr als ein Bündnis« darstellt. Möglicherweise wird sich diese Richtung
der polnischen Politik nur langsam entwickeln. Ansätze sind jedenfalls vor¬
handen. In dieser neuen Phase wird sich der Rahmen der Polenfrage inner¬
halb Österreichs ausdehnen, und sie wird gerade dort die internationale Be¬
deutung erhalten, die ihr bisher abging.
In Nußland kann von einer Nussifizierung der Polen nicht mehr die
Rede sein. Das wird anch von den Vertretern der Regierung zugegeben. Die
Regierung stellte dem polnischen Autonomicentwurf kein Reformprogramm ent¬
gegen und fährt fort, das Gebiet nach altem System zu verwalten. Da aber
das System nnr bei Erhaltung der unbeschränkten Gewalt der Beamten bei¬
behalten werden kann, wurde nach dem Manifest vom 17. Oktober für die Ver¬
waltung des Zartums Polen der Kriegszustand als Grundlage eingeführt. Somit
hat die Poleufrage in allen drei Vertragsstaaten den Charakter einer erledigten
Frage verloren. Sie ist sogar zu einer wesentlichen Tagesfrage geworden, die
überall bei den laufenden Staatsangelegenheiten an der ersten Stelle steht."
Sehr interessant ist nun, wie der anerkannte Führer der russischen Polen
diese Sachlage auf internationalem Gebiet auszunutzen denkt.
Seit der Zeit des Wiener Kongresses seien zwar, so schreibt er, die Grenzen
der polnischen Gebiete nicht verändert worden, aber die rechtliche Lage dieser
Gebiete habe sich geändert oder auch nur die ihrer polnischen Bevölkerung.
Andrerseits habe sich auch der Stand und der Umfang des polnischen Kultur¬
besitzes geändert durch die Fortschritte der Entnationalisierungspolitik sowie
durch das Entstehn nationaler, gegen die Polen gerichteter Bestrebungen, wie
zum Beispiel der litauischen und der ukrainischen. Die polnische Machtsphäre
erweitere sich durch das Erwachen des polnischen Geistes und Lebens in Ländern,
die schon jahrhundertelang für deutsch gehalten worden waren, wie in Preußisch-
und österreichisch-Schlesien. „Gegenwärtig gibt es eine Polenfrage in einem
Gebiet, das größer ist als der polnische Staat vor den Teilungen, das andert¬
halbmal so groß ist wie das Deutsche Reich."
Herr Dmowski teilt das Gebiet in vier Teile ein: 1. Posen, Westpreußen,
Ostpreußens) und Oberschlesien, 2. Litauen und Weiß- und Kleinrußland, 3. das
Zartum Polen, 4. Galizien und das Fürstentum Teschen.
Mit Bezug auf die Bedeutung, die diese Gebiete für die einzelnen Staaten
haben, sind sie nach Dmowski in zwei Kategorien zu teilen. Erstens solche,
die eine geographische Notwendigkeit für die Staaten darstellen. Diese Kategorie
umfaßt die beiden ersten Teile. Die von Preußen in Besitz genommnen polnischen
Gebiete waren für Preußen notwendig, um eine mehr oder weniger normale
Ostgrenze zu schaffen, sowie um den deutschen Charakter der Ostseeküste bis zur
Mündung des Njemen zu sichern. Ebenso war für Rußland, das das Baltikum
mit Riga und das Schwarze Meer mit Odessa erworben hatte, Litauen und
Westrußland zur Herstellung einer normalen Westgrenze nötig. Weder Rußland
noch Deutschland hätten sich über einen etwaigen Verlust der genannten Gebiete
hinwegsetzen können. „Das Streben, diese Gebiete zu sichern, war das Leit¬
motiv für ihre ununterbrochne Tätigkeit, sich die Bevölkerung der gekennzeichneten
Gebiete völlig zu assimilieren."
Der Besitz der zur zweiten Kategorie gehörenden Gebiete — das Zartum
Polen und Galizien — sei weder für Rußland noch für Österreich eine Not¬
wendigkeit. Ihre Vereinigung habe sogar im Gegenteil die normalen Grenzen
dieser Staaten zerstört und sozusagen geographische Mißgestaltungen hervor¬
gerufen. So sei das Zartum Polen, das nur im Besitz des Mittellaufs der
Weichsel ist, sowohl von der Mündung wie von den Quellen abgeschlossen. „Der
Besitz dieser Gebiete kann nur dann dauerhaft sein, wenn Nußland und
Österreich den Gedanken haben, in Zukunft weitere territoriale Erwerbungen
Zu machen. Zugleich bilden diese Gegenden den Kern der polnischen Kraft, die
durchaus kein leicht zu verdauendes Element ist. In diesen Gegenden
ist die Liquidierung der Polenfrage durch Vernichtung der Polen
und Zerstörung der polnischen Kultur ganz unmöglich." Diese An¬
sicht Dmowski ist unbedingt zutreffend.
In der russischen Geschichte ist Dmowski aber nicht ganz zu Hause, wenn
er schreibt: „Als Alexander der Erste auf dem Wiener Kongresse die Vereinigung
Polens mit Rußland forderte, hielt er dieses Gebiet in keiner Beziehung für
einen notwendigen Bestandteil Rußlands." Wie bekannt hat Alexander die
Polen seine Avantgarde gegen Europa genannt und damit zum Ausdruck gebracht,
daß er seines großen Vorfahren Peters Pläne bezüglich der Weichsel zu den
seinigen machen wollte. Doch auf solche Kleinigkeiten kommt es dem Politiker
nicht an, der sich in das Gewand Konrad Wallenrods hüllt, um das berechtigte
Mißtrauen der Russen gegen die Polen einzuschläfern.
„Die Polenfrage, schreibt er weiter, ist somit auf zwei große Probleme
zurückzuführen: für die Gebiete der ersten Kategorie, für die es schon längst
entschieden ist, daß sie entweder deutsch oder russisch werden müssen, konzentriert
sich alles auf die Frage, ob es gelingen wird, dort die polnische Kultur und
das polnische Leben vollständig zu vernichten. In den Ländern der zweiten
Kategorie — im Zartum Polen und in Galizien —, wo man sich mit dem
Bestehen und der Vorherrschaft des polnischen Lebens abfinden muß, entsteht
ein andres Problem: was mit diesen polnischen Gebieten anzufangen, und auf
welchen Grundlagen das politische Leben in ihnen einzurichten sei."
Dmowski gibt darauf folgende Antwort: „Der preußische Staat ist, da er
in jedem Falle das polnische Land germanisieren will, gezwungen, die Grund¬
lagen seines Staatsbaus zu untergraben, das rechtliche Bewußtsein seiner eignen
Bürger zu erschüttern und den Glauben an die Dauerhaftigkeit der Einrichtungen,
auf denen ihr eignes gesellschaftliches und politisches Leben aufgebaut ist, ins
Wanken zu bringen. Infolgedessen wird schon in einer nahen Zukunft für das
Deutsche Reich eine der beiden Möglichkeiten eintreten: entweder wird der
Staat endgiltig den Weg des Rückschritts in der Zivilisation betreten. Alsdann
würden ihm in Zukunft große innere Umwälzungen drohen. Oder aber der
soziale Instinkt der Selbsterhaltung, den die Deutschen in einem hohen Maße
haben, wird die Überhand gewinnen und derartige gefährliche Experimente
überwinden und verhindern. Hierbei ist zu bemerken, daß Herr Dmowski zwar
die polnischen Gebiete Preußens zurzeit einer großen Gefahr ausgesetzt sieht,
aber dennoch behauptet, die Geschichte habe schon ihr Urteil gesprochen. Der
preußische Staat habe bisher noch nicht den Beweis erbracht, daß die ihm zur
Verfügung stehenden Mittel für die Vernichtung des polnischen Lebens und
der polnischen Kultur wirksam und unüberwindlich seien. Es sei im Gegenteil
die begründete Hoffnung vorhanden, daß die Polenfrage zum Ausgangspunkt
zu bedeutenden innern Verwickluttgen werden könnte. Diese Verwicklungen
könnten ein Territorium erfassen, das viel größer ist als das, auf dem jetzt
in Preußen die polnische Kultur das Übergewicht hat."
Woher schöpft Dmowski die Hoffnung? Hat er bindende Abmachungen
mit den Sozialdemokraten oder den Ultramontanen in der Hand? Doch hören
wir weiter.
„Die innere Verfassung des russischen Staates, lesen wir in Dmowskis
Ausführungen, stützte sich bisher nicht auf das Gesetz. Deshalb wurde das
Problem der Russifizierung von Litauen und Westrußland von andern Ge¬
sichtspunkten aus betrieben als wie die Germanisierung von Preußisch-Polen.
Rußland hatte in seinem Westgebiet fast ausschließlich mit der polnischen Schlacht«,
zu einem geringen Teil mit dem polnischen Bürgerstand und nur vereinzelt
mit polnischen Bauern zu tun. Den Grundstock der Bevölkerung bilden dort
die Weiß- und Kleinrussen. Unter solchen Bedingungen war die Aufgabe
der Entnationalisierung viel leichter. Die russische Politik hat die Kulturent¬
wicklung des Gebiets fast um ein halbes Jahrhundert aufgehalten. Wie früher
liegt aber das Kulturübergewicht auch jetzt noch auf der Seite der Besiegten.*)
Die Polen haben aufgehört, sich als die Herren des Gebiets und das Gebiet
selbst als ein polnisches zu bezeichnen. Wenigstens, so sei Dmowski hinzu¬
gefügt, in der Öffentlichkeit. Daraus darf jedoch nicht gefolgert werden, daß
das russische Leben und die russische Arbeit irgend etwas Positives geschaffen
oder den Eckstein für neue Grundlagen gelegt hätte. Nach wie vor hat das
Gebiet den Charakter eines eroberten und zu einem großen Teile desorgani¬
sierten Landes. Somit ist das Problem der Ausrottung des Polentums in
Preußisch-Polen, in Litauen und in Westrußland noch ungelöst geblieben." Der
einzige Ausweg aus der gegenwärtigen Lage sei folgender: die Russen und
Deutschen müßten sich mit dem Vorhandensein der polnischen Kultur in den
genannten Gebieten abfinden und sich bemühen, sie mit der staatlichen Or-
ganisation in Einklang zu bringen durch Befriedigung ihrer Bedürfnisse und
gesetzlichen Bestrebungen.
Jawohl, Herr Dmowski, der „gesetzlichen", genau so, wie es der preußische
Staat getan hat, bis die Polen ihn zwangen, zu erkennen, daß neben den
gesetzlichen auch ungesetzliche, nämlich staatsfeindliche Ziele vorhanden sind.
Was nun die Lösung des zweiten Problems anlangt, so meint Herr Dmowski,
weder sei Galizien Österreich noch Polen Nußland unumgänglich notwendig.
Der von Österreich erwählte Weg habe zur Folge gehabt, daß Österreich
während der ganzen Zeit seit 1863 nicht nur keinerlei Unannehmlichkeiten in
der Polenfrage gehabt habe, sondern daß die polnischen Politiker stets eine aus¬
gleichende Rolle gespielt hätten. Die Verwaltungsform Rußlands in Polen
könne als militärische Okkupation gekennzeichnet werden. Deshalb stelle sich
dieser Teil der Polenfrage als eine offne Frage dar. Der Staat, der im
Besitz des Zartums Polen ist, wisse nicht, was er mit ihm anfangen soll:
einerseits habe er keine Möglichkeit, es in ein russisches Gebiet zu verwandeln,
und andrerseits wolle er nicht zulassen, daß es ein polnisches Land bleibe.
Bedeutungsvoll seien die Beziehungen Deutschlands zum Zartum Polen.
Für Preußen habe es keinen Wert, die Zahl seiner Polen zu vermehren, so¬
lange die Germanisierung von Preußisch-Polen nicht klappt. Sobald sie
aber ihrem Abschluß nahe käme, würde vor Deutschland die Frage
einer neuen Teilung Polens erstes«. Bis dahin sei Preußen sehr
interessiert daran, daß das polnische Leben im Zartum Polen keine schnellen
Kulturfortschritte macht und dadurch seine Kraft mehrt. . .
Schließlich behauptet Dmowski: „Darum hat Preußen, obwohl es von
allen Teilungsmächten den kleinsten Teil der frühern »Rzecz pospolita«
besitzt, ein größeres Interesse als die andern Staaten, die Polenfrage in ihrer
Gesamtheit mit größter Aufmerksamkeit zu verfolgen, und muß zu verhindern
suchen, daß eine Lage eintritt, bei der ein bedeutender Teil des polnischen
Volks Fortschritte macht. »Wir kämpfen gegen das gesamte polnische Volk«,
dieses Bekenntnis ertönt immer offner in der deutschen offiziösen Presse." Die
Leser der Grenzboten wissen, daß bisher der preußischen Regierung nur der
Vorwurf gemacht werden konnte, sie kümmere sich zu wenig um die Vor¬
gänge außerhalb Preußens. Infolgedessen fallen die von Dmowski erhobnen
Beschuldigungen in sich zusammen. „Von Jahr zu Jahr entwickelt sich und
befestigt sich bei den Polen die Überzeugung, daß die hauptsächlichste Gefahr
für ihr nationales Dasein die Deutschen (das Deutsche Reich) bilden, und daß
der Kampf gegen sie das entscheidende Moment des Daseinskampfes des
polnischen Volks darstellt."
Das wäre ein mannhaft Wort, wenn es nicht den Zweck verfolgte, sich
in Rußland Bundesgenossen zu suchen, von denen Dmowski in seiner Bro¬
schüre „Vom nationalen Egoismus" noch vor gar nicht langer Zeit gesagt hat,
er bedürfe ihrer nicht. Die Schlußfolgerungen, die wir aus diesen Aus¬
führungen des polnischen Führers ziehn, aber lauten: Studium und Auf¬
klärung der Polenfrage auch außerhalb Preußens!
> ach der Beendigung des Krieges mit Dänemark stellte Hauptmann
Trost die zur Ergänzung des Apparattorsos nötigen Arbeiten
lind Anschaffungen zusammen. Die Kosten beliefen sich auf
11000 Taler. Die Regierung beantragte nun beim Ministerium
! nicht nur für Glowe, sondern auch für Mönchgut eine Station,
da an der Südspitze dieser Halbinsel das Landtief, die belebteste Straße der
vorpommerschen Gewässer, liege. Wir erfahren aus diesem Berichte, daß der
Mörser für den Apparat schon im Jahre 1832 requiriert wurde, von dem
Artilleriedepot aber nicht abgegeben werden konnte, da nur ein siebenpfündiger
Mörser vorhanden und als Übungsgeschütz unentbehrlich war.7>^S^5
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MM—? s''' sX^^I Ms
M^^?S^^'
Das Ministerium wünschte auf den Bericht der Regierung hin die For¬
mation des Strandes und des Vorlandes bei Glowe und Mönchgut kennen
zu lernen, da nach einem frühern Berichte der Negierung wegen der großen
Ausdehnung des Vorlandes bei Glowe die Verwendbarkeit eines Mörser¬
apparats zweifelhaft erschien. Der Landrat von Bergen berichtete darauf, was
sein Vorgänger schon im Jahre 1833 berichtet hatte: die Entfernung, die die
gestrandeten Schiffe vom Ufer trennte, hing, wie die Erfahrung lehrte, weit
mehr von der Windstärke und von dem Wasserstande als von der wechselnden
Neigung des Vorlandes ab. Und mit einer Ausnahme wären die Schiffe, die
während der Amtszeit des Landrath in der Tromper nud in der Prorer Wiek
strandeten, ungefähr zwanzig an der Zahl, für die Leine des Mörserapparats
erreichbar gewesen. Die Beaufsichtigung und Bedienung der Apparate erschien
dem Landrat durch die gedienten Artilleristen unter den Ortsvorstehern, Steuer-
beamten und Gendarmen gesichert.
Die Regierung beantragte daraufhin nur eine Station an der Nord- oder
an der Ostküste Rügens. Vor der Entscheidung der Frage, wo die zweite
Station errichtet werden solle, ordnete sie eine Peilung der Küste von Jas-
mund und des Außenstrandes von Mönchgut an. Der Lotsenkvmmcmdeur
Wolter zu Kleiuzicker auf Mönchgut nahm die Peilung im September 1850
vor und fand, daß die ganze Küste von Jasmund zur Anwendung eines
Mörserapparats ungeeignet sei, und daß sich an der Außenseite der Halbinsel
Mönchgut und der schmalen Heide nur einzelne, nicht verbindbare, daher einer
besondern Armierung bedürfende Punkte befinden, wo ein Mörserapparat allen¬
falls mit Erfolg angewandt werden könne. Ein Apparat reiche nicht ans,
und Bedienungsmannschaften seien an der spärlich bewohnten Küste schwer zu
gewinnen. Er empfahl, an seinem Amtssitze Thiessow auf Mönchgut ein
Rettungsboot nach der Konstruktion des Schiffbaumeisters Klawitter aufzu¬
stellen. Das Ministerium gab infolge des Berichts der Regierung über die
Ergebnisse der Peilung die Absicht, auf Rügen Mörserstatiouen zu errichten,
auf. Wenige Tage danach erklärte die Danziger Regierung auf eine Anfrage
der Stralsunder Schwesterbehörde den Mcmbyschen Apparat für unentbehrlich,
auch wenn schon ein Rettungsboot vorhanden sei, da nur das Zusammenwirken
der beiden Rettungsmittel den Erfolg einigermaßen sichere. Nun fragte die
Stralsunder Negierung die Lotsenkommandeure Eßing und Wolter, ob es außer
dem Manbyschen Apparat noch andre wirksame Methoden zur Herstellung einer
Verbindung zwischen gestrandeten Schiffen und dem Lande gebe. Eßing konnte
neben dem Manbyschen Apparat, der sich in England bewährt habe, nur den
weniger verlässigen Naletenapparat Trengronses nennen. Wolter kannte nur
den Mörserapparat und riet dringend, ein Rettungsboot anzuschaffen. Das
war im Jahre 1850.
Nun senkte sich wieder der Dornröschenschlummer auf das Unternehmen.
Der stockende, durch zwei Jahrzehnte sich schleppende Gang der Angelegen¬
heit wird gerade in dieser hoffnungslosen Phase durch ein Schreiben Longes
scharf beleuchtet. Der geniale Organisator hatte auf dem engen Gebiete des
Rettungswescns so wenig Glück wie auf dem weiten der Flottcngründung.
Als Oberst a. D. gibt er mit dem erwähnten Schreiben, „da die im Jahre 1832
beabsichtigte Aufstellung des Mcmbyschen Rettungsapparats bei Glowe auf
Jasmund, mithin auch die damit anzustellenden Versuche bis dato zu seinem auf¬
richtigen Bedauern nicht zur Ausführung gekommen, da er den ihm gewordenen
ehrenvollen Auftrag gern vollführt Hütte", im März des Jahres 1851 Beuths
Abhandlung über Kapitän Manbys und Trengrouses Ncttungsapparat, die er
im Jahre 1832 zu seiner Information erhalten hatte, der Negierung zurück.
Trost wurde im Jahre 1852 als Chef der 1. Sechspfünderbatterie des
2. Artillerieregiments nach Stettin versetzt. Die Förderung der Nettungs¬
einrichtungen war ihm zur Herzenssache geworden. Er hatte die Erfahrungen,
die ihm als Ertrag einer zehnjährigen Beschäftigung mit dem Manbyschen
Apparat geblieben waren, zu einer Belehrung für die Schiffsmannschaften über
den Gebrauch des Apparats und zu einer Instruktion für die Bedienungs¬
mannschaften verarbeitet. Diese Entwürfe ließ der Handelsminister von der Heydt,
der ebenfalls eine Vorliebe für die Rettungseinrichtungen gehabt zu haben
scheint, durch den Druck vervielfältigen. Trost benutzte diese Beziehung zu
dem Minister zur Förderung des Rettungswesens im Stralsunder Bezirk. Das
neue Erwachen des Unternehmens, der frische Schritt, womit es nunmehr der
Vollendung entgegenging, ist dem verdienten Offizier zu danken.
Der Minister beauftragte Trost, die Küste von Rügen zu bereisen und
die zur Armierung mit Nettungsmörsern geeigneten Pnnkte auszuwählen, da
er „wiederholt die Ansicht ausgesprochen habe, daß an der Küste von Rügen
mit Nutzen einige Manbysche Apparate aufzustellen sein möchten".
Trost trat am 29. November 1853 zu Thicssow, wo er seinen Begleiter,
den Lotsenkommandeur Wolter abholte, die Reise an, die die Ost- und die
Nordostküste von Rügen entlang bis Witte auf Wittow und von da über
Hiddensee zunächst nach Stralsund ging. Von Stralsund begaben sich die
beiden nach Ribnitz und bereisten von da aus auf den Wunsch der Regierung
die Küste des Darsses. Am 11. Dezember war die Fahrt beendigt. Trost
beantragte auf Grund der Erfahrungen, die er auf dieser Küstenreise gemacht
hatte, im Einverständnis mit Wolter die Errichtung von Mörserstationen zu
Göhren auf der Halbinsel Mönchgut, beim Hülsenkrug zu Neu-Mukrcm auf
Jasmund, zu Glowe auf der Schabe, zu Kloster auf Hiddensee und beim Leucht¬
turm auf Darsserort. Maßgebend für die Wahl dieser Orte war hauptsächlich
die Größe der Strandnugsgefahr und die Überzeugung, daß der Apparat dort
anwendbar sei, die sich auf die Formation des Strandes und auf die bei den
bisherigen Strcmdungcn beobachtete Entfernung zwischen den gestrandeten
Schiffen und dem Lande gründete. Dann war die Möglichkeit, aus der Zahl
der Küstenbediensteten oder Fischer die nötigen Bedienungsmannschaften zu
gewinnen, in Betracht gezogen worden. Auffüllig ist bei dieser Anordnung
der Rettungsstationen die ungleiche Größe der Strandstrecken, die ihnen als
Aktionsgebiet zugewiesen waren.
Das Gebiet des für Göhren und Mönchgut beantragten Apparats reichte
südwärts bis Thiessow, nordwärts bis zur Granitz, der Station Neu-Mukran
war die Schmale Heide und die ganze Küste von Jasmund bis Glowe zu¬
gewiesen, während das Gebiet der Station Glowe nordwärts bis zum Leucht¬
turm von Arkona reichen und ostwärts auf die der Station Neu-Mukran zu¬
gedachte Küste von Jasmund übergreifen sollte. Da nur noch für die Insel
Hiddensee und für den Darß je ein Apparat beantragt war, blieben die Nord-
uud die Nordostküste von Wittow und die Halbinsel Zingst ohne Rettungs¬
mittel. Heute sind Zingst und Wittow mit je zwei Doppelstationen aus¬
gerüstet, und von Darsferort bis zur Insel Rüden zieht sich eine Kette von
siebzehn Rettungsstationen um den Strand von Pommern und Rügen. Da¬
mals aber war es ein großer Fortschritt, als der Minister die fünf Stationen,
die Trost beantragt hatte, genehmigte.
Es galt nun zunächst die Abtretung des Baugrundes für die Stations¬
schuppen zu Neu-Mukran und Glowe sowie zu Kloster auf Hiddensee von den
Eigentümern, dem Fürsten zu Putbus und der Stadt Stralsund, zu erreichen.
Dies gelang ohne Schwierigkeit, nur wünschte der Fürst zu wissen, in welcher
Bauart man den Rettungsschuppen zu errichten gedenke, um sicher zu sein, daß
sich nicht unansehnliche Hütten auf seinem Grund und Boden erhöben.
Seinem Wunsche wurde entsprochen. Der Entwurf befriedigte ihn, kam
jedoch nicht zur Ausführung. Die Negierung hatte nach dem Anschlage Trosts
und des Bauinspektors Khün die Genehmigung der Kosten, die sich für eine
Station auf 1240 Taler beliefen, beantragt. Das Ministerium forderte weit¬
gehende Sparsamkeit, und so entschloß man sich, den Apparaten zu Göhren.
Neu-Mukran und Glowe keine Boote beizugeben, da an diesen Orten im Notfalle
Fischerboote zur Hand waren. Daher erschienen an diesen Orten auch kleinere
Schuppen genügend. Man begnügte sich aber nicht mit der Ersparnis, die sich
aus der geringern Größe der Schuppen ergab, sondern konstruierte die kleinen
Behälter auch noch leichter. Die Baumaterialien waren teuer und der Transport
an die Bauplätze schwierig, daher wurde trotz der Schmucklosigkeit der geplanten
Bauten bei ihrer Verdingung die Anschlagsumme um 535 Taler überschritten.
Nachdem man noch vergeblich in Göhren, Neu-Mukran und Glowe mietbare,
M Unterbringung der Apparate passende Räume gesucht hatte, entstanden
endlich im letzten Viertel des Jahres 1355 die Stationsschuppen.
Die Apparate waren schon früher fertig geworden und befanden sich schon
an den Stationsorten. Trost hatte, auch nachdem er Major und Abteilungs¬
kommandeur im 1. Artillerieregiment zu Danzig geworden war, die Anfertigung
der Apparate zu Stettin geleitet. Der alte Stralsunder Apparat war zur
Ergänzung und Verbesserung nach Stettin geschickt worden. Die Geschütz-
gicßerei zu Spandau hatte fünf neue Mörser geliefert. Trost übernahm die
Geschütze mit Zubehör vom Artilleriedepot in Stettin, stellte die Apparate zu¬
sammen und sandte sie nach Stralsund und von hier aus an die Stations-
orde. In den Monaten September und Oktober bereiste der Artillerieoffizier
vom Strand mit Wolter die Stationsorte. Er brachte die Apparate, so gut
es ging, vorläufig unter, wählte die Bauplätze für die Schuppen, vereinbarte
mit Pferdebesitzern die Stellung der Bespannung, gewann Lotsen, Leuchtturm¬
wärter, Holzwürter und Kossäten zur Beaufsichtigung und Bedienung der
Apparate und unterrichtete die neuen Rettungsmannschaften in ihren Ob¬
liegenheiten.
Minister von der Heydt genehmigte die Vorschläge Trosts, die sich auf
die Organisation der Stationen bezogen, und bewilligte den Nettnngsmann-
schaften ein Dienstzeichen in Form einer schwarzweißen Armbinde mit einem
Messingschild, worauf eine Krone graviert war. Dagegen konnte er sich uicht
dazu verstehn, nach dem Antrage Trosts der Station auf dem pfcrdearmen
Darß, deren Mannschaft aus deu beiden Leuchttnrmwärtcrn, frühern Artilleristen,
bestand, zwei Pferde als Bespannung zu bewilligen. Ein Signal vom Leucht¬
turm, das mit den Pferdebesitzern zu Prerow vereinbart wurde, und eine
Prämie für den, der seine Pferde im Falle der Not zuerst zur Stelle brachte,
mußten genügen.
Die Vorschläge Trosts sind für den auf seine Waffe und auf seine Uni¬
form stolzen Offizier charakteristisch. Als ich seine Berichte über die Auswahl
der Bedienungsmannschaften, Versuche mit den Apparaten und Bespannungs¬
sorgen las, hatte ich oft den Eindruck, als habe ihm eine militärische Organi¬
sation des Nettuugswesens als Ideal vorgeschwebt. Und freute es ihn wirklich,
vou Rettungsgeschützen, Rettungsbatterien, einer ganzen Nettungsartillerie mit
schwarzen Kragen und Aufschlägen und sich selbst als Inspekteur an ihrer
Spitze zu träumen, so durfte mau ihm den frischen Ritt durchs Traumland
wohl gönnen. Denn ihm, dem unermüdlichen Artillerieoffizier vom Strand,
war es hauptsächlich zu danken, daß die erste Einrichtung des Rettnngswesens
im Stralsunder Bezirk zu Weihnachten 1855 vollendet war.
Aus den Akten der Behörden, die die Rettungsstationen an der preußischen
Küste verwalteten, gewinnt man ein anmutiges Bild einer Mörserstativn in
friedlichen Zeiten, wenn die Stürme ruhten.
In jedem Frühjahr erging an die Hafenbaninspektionen die Weisung, mit
den in ihrem Amtsbereich vorhandnen Mcmbhscheu Apparaten die Frühjahrs-
schießübungen vorzunehmen. Diese Übungen wurden in der Regel von dem
Hafenbauinspektor und dem Lotsenkommandeur geleitet.
Im März oder im April, manchmal auch erst im Mai, ging ein lauter
Tag durch die Stranddörfer, deren Ruhe sonst die starken Laute der Luft und
der See so wenig unterbrachen wie eine tickende Uhr die eines mittagstillen
Wohnraums. Es war ein Fest für die Dorfjugend, wenn nach der Musterung
der Rettungsgeräte der Lenchttnrmwärter oder der Schulze, dem die Wartung
des Apparats in stillen Tagen und seine Bedienung im Ernstfalle anvertraut
war, in Gegenwart der inspizierenden Beamten, denen sich häusig ein Ab-
gesandter der Regierung beigesellte, Diensternst und Artilleristenstolz im An¬
gesicht, sein Geschütz aus dem Schuppen schaffte. Ein Fischer, mit dem ihn
der Stolz auf den schwarzen Kragen, den beide getragen hatten, verband, half
ihm den Mörser, das Tauwerk und den Schießbedarf auf deu Wagen heben,
des Försters Schimmel, das einzige Pferd, das auf der Spitze der Halbinsel
wieherte, zog an. Klein war die Truppe, zwei Mann, ein Pferd, ein Geschütz,
aber die vier hatten im Wintersturm nicht nur ihre Pflicht getan, sondern
mich Glück gehabt und in der dunkeln Januarnacht selbst schon verzweifelnd
mit der sechsten Kugel den drei verstummenden Menschen draußen bei dem
verglimmenden Lichte die schwanke Brücke zum Leben über das Schiff gelegt.
Nun aber dachten sie der Nacht nicht mehr, der Tag war zu hell, der Fischer
trug auf dem ergrauenden Kopfe die letzte gute Mütze aus der Stettiner Zeit,
und zufrieden musterte der Leuchtturmwärter seine Schar im hellen Lichte, aber
der Sonnenschein, der seine Seele füllte und aus seinen Augen leuchtete, war
nicht von jenem Tage, sondern aus der schönen Zeit, als er noch bei der
ersten Sechspfünderbatteric in Stettin Geschützführer war.
Drüben am Norderstrand ragte schon das Ziel, drei an der Spitze durch
ein Tau verbundne Flaggenstangen, die die Takelage eines gestrandeten Schiffes
darstellten. Zweihundert, dreihundert Schritt davon fuhr das Geschütz auf.
Der Mörser wurde herabgenommen und auf einer Bettung oder auf einem
rasch geebneten Strandfleck aufgestellt. Nun galt es noch die Rettungsleine
in Schlangenlinien auf dem Boden ueben dem Geschütz auszubreiten, die
Kugel mit der Leine zu verbinden, zu laden, zu richten, und dann setzte der
Leuchtturmwürter die Lunte auf die Stoppine, und der Schuß krachte. Meist
traf bei diesen Übungen die Bombe das Ziel, das heißt, sie fiel jenseits der
durch die Flaggenstangen bezeichneten Schiffsbreite nieder, sodaß die Leine auf
dem Tau liegen blieb, das die Stangen verband. Doch kam es auch vor,
daß die Kugel vor dem Ziele niederfiel, dann änderte man die Elevation und
die Pulverladung, bis die Kugel die Leine über das Ziel trug. Nicht selten
brach auch eine Leine, weil sie trotz der Sorgfalt, womit sie vor dem Gebrauch
gebeizt und nach dem Gebrauch getrocknet worden war, zu mürbe war, oder
weil sie beim Auffliegen eine Schlinge bildete. Dann fand die Kugel den
Weg ins Meer.
Mit der Musterung der Geräte und mit der Schießübung waren die beiden
ersten Aufgaben der inspizierenden Beamten erledigt. Nun galt es noch mit
Jvlltau, Trosse, Steertblock und Kinnbackblock markierte Schiffbrüchige ans
Land zu befördern. Diese Übung bildete für die Jugend des Stranddorfes
den Höhepunkt des ganzen Tags.
Das Geäst einer Föhre stellte das Takelwerk eines Wracks dar, die Fischer-
bnben enterten hinauf, zogen an der Rettungsleine die Trosse, das Jolltau
und die Blöcke heran und ließen sich, nachdem sie den Apparat kunstgerecht
angebracht hatten, in der Schlinge des Kiunbackblocks das Spcmntau entlang
an den rettenden Strand befördern. Lustig genug mag diese Fahrt in der
Schlinge gewesen sein und den armen Kindern des Stranddorfs einen Ritt
auf einem Karussellroß ersetzt haben. Mancher mag dann später die gleiche
Fahrt in einer schweren Stunde nicht aus der Krone einer Föhre durch die
fröhlich lärmenden Reihen der Spielgenossen, sondern vom Wrack eines
Schiffes, vielleicht des eignen einzigen Gutes, durch die tosende Brandung
gemacht haben.
Die Gegenstände, die sich bei der Revision des Apparats oder bei der
Übung als mangelhaft erwiesen hatten, zeichnete der Hafenbauinspektor auf,
um für ihre Erneuerung zu sorgen. Erlaubte es dann noch die Zeit und die
Windstärke, so unterwies wohl der alte Lotsenkommandeur die Fischer im Ge¬
brauche des Sperlingschen Nettungsdrachen, von dem er mehr hielt als von
dem Manbyschen Apparat. Er hatte sich in jungen Jahren überzeugt, daß
die Erfindung des Memeler Veteranen brauchbar sei, und wurde nicht müde,
für ihre Anerkennung und Verbreitung zu arbeiten. Hier bei der Fischerjugend
fand er Gehör und Aufmerksamkeit. Schade, daß seine Zuhörer deu Apparat
nur als Spielwerk auffaßten, und daß die erwachsnen Seeleute der Seemanns¬
aberglaube, der Rettungsmittel an Bord als unheilbringend scheut, abhielt,
dieses einfache Rettungsgerät an Bord zu nehmen.
Bald schieden die Gäste wieder aus dem Stranddorf, und wenn der
Mörser gereinigt, das Tauwerk getrocknet und der ganze Apparat wieder ge¬
brauchsklar gemacht war, schlössen sich die Tore des Nettungsschuppens, bis
sie sich beim Eintreffen neuer Geräte oder in einer Sturmnacht, die Schiffe
in Not brachte, wieder öffneten.
Das war die Form, in der Schaefers und Manbys Erfindung, von Trost
eingerichtet, am Strande des „Landes der dunkeln Haine" zum Helfen bereit
war, bis sie durch die Technik weiter gebildet und verbessert wurde.
Trost hatte so wenig wie die andern preußischen Förderer des Rettuugs-
wesens von Manby mit der Idee auch den Erfolg überkommen. Der eng¬
lische Menschenfreund muß eine eigne Gabe gehabt haben, die Leine so wurf¬
bereit zu machen, daß sie, ohne sich zu verwirren und ohne zu zerreißen, der
Bombe folgte. Schon vor dem Jahre 1823 bemühte man sich in England,
einen Haspel zu konstruieren, der Manbys geschickte und gesegnete Hand nicht
allzu schwer vermissen ließ. Im Jahrgang 1828 des Polytechnischen Journals
von Dingler, wo über einen Haspel des Engländers Thorold berichtet wird,
klagt der Berichterstatter: „Wo Hr. Manby selbst Hand anlegte, ging ge¬
wöhnlich alles sehr gut; allein seine Geschicklichkeit im Wickeln des Seiles
besaß nicht jeder, und Standort, Wind, Nacht usw. veranlaßten manches Mi߬
lingen des Rettungsversuches." Trotz allem Eifer gelang es den preußischen
Offizieren und Küstenbeamten nicht, diese Schwäche des Apparats zu beseitigen,
auch Trost nicht. Das materielle Kapital, das er und andre bei den Ver¬
suchen und bei der Organisation verbrauchten, war nicht groß- Dennoch mag
manchem die Rente, die es in Gestalt geretteter Schiffbrüchigen trug, gering
erscheinen.
Ungefähr zwanzig Jahre bestanden die von Trost an der preußischen und
mecklenburgischen Küste errichteten Stationen. Dann wurden sie durch die
Boot- und Raketenstationen des Neuvorpommerschen Vereins zur Rettung
Schiffbrüchiger abgelöst. In dieser langen Zeit wurde nur die Besatzung des
Preußischen Schiffes Ceres durch den Mörserapparat der mecklenburgischen
Station Wustrow gerettet. Wie stark die Besatzung war, konnte ich nicht er¬
fahren. Diese Rente an Menschenleben erscheint auch dann gering, wenn man
vor der Zahl geretteter Menschenleben ein nur überhaupt nicht gelten läßt.
Aber in diesen Einrichtungen steckte viel mehr ethisches Kapital als materielles.
Dieses Kapital war an der preußischen Küste von den Tagen Schaefers und
Nettelbecks bis zu dem Auftreten Trosts im Dienste des Rettungswesens nie
gespart worden, aber der preußische Offizier, der die Nettungseinrichtungen an
den Küsten der Heimat Kosegartens und Arndts organisierte, hat eine besonders
große, deutlich abgrenzbare Summe von Menschenliebe und Hilfsbereitschaft
beigesteuert. Ich habe diese Summe abgegrenzt. Sie wirft heute eine reiche
Rente ab. Einst lag auf jenen Gestaden der schwere Schatten der bösen Sage
vom Strandsegen. Heute bestehn dort neun Doppelstationen, vier Raketen¬
stationen und vier Bootstationen der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiff¬
brüchiger. Im Jahre 1906 auf 1907 wurden in diesem ehemaligen Arbeits¬
gebiete Trosts durch die Stationen Wustrow, Barhöst und Rüden siebzehn
Menschenleben gerettet. Diesem Fortschritt hat Trost den Weg gebahnt.
Er war ein Romantiker, Fouque und Eichendorff nicht an dichterischer
Begabung, aber im Empfinden verwandt. Das Kapital, das er an der Küste
von Rügen und Vorpommern aufwandte, war Gold von dem lautern Golde,
womit der Idealismus des preußischen Offiziers auf den Schlachtfeldern weit
über die Pflicht hinaus seine großen Liturgien geleistet hat.
er Grieche war von Natur ein geselliges Menschenkind, zum
Plaudern geneigt und mitteilsam, wie die Kinder des Südens
noch heute. Was im Staate vorging, interessierte ihn lebhaft, der
Mensch als solcher und seine Erlebnisse gingen ihn schließlich
doch noch mehr an als das tote Material, mit dem die Stadt
geschmückt war, wie Solon im „Armcharsis" des Lukian sagt: „unter Stadt ver¬
stehen wir nicht Häuser oder Mauern oder Heiligtümer oder Schiffswerften,
sondern das Wichtigste sind für uns die Bürger. Diese sinds, die alles erfüllen
und ordnen und wirken und bewahren, etwa was in einem jeglichen von uns
die Seele ist." Und so trieb man sich denn auf den Märkten, in den Luder
und Hallen herum, um neues zu erfahren, um sich im lebhaften Verkehr mit
dem Freund und Nachbarn auszusprechen und zu lernen. Dieses «^«^e/^
war es, das wir so schlecht übersetzen können, weil es so viele Begriffe in sich
schließt, wie: in den Buden der Händler sich herumtreiben, auf dem Markte
Verkehren, feilschen, deklamieren, ratschlagen, politisieren, schlendern. Dies war
„süßes Leben, schöne, freundliche Gewohnheit des Daseins und des Wirkens!"
Namentlich war es die Politik, die von den jungen Athenern eifrig getrieben
und verfolgt wurde; zur Zeit der sizilischen Expedition malten junge Herren
der Gesellschaft die Karte von Sizilien, Libyen und Karthago in den Sand
der Palüstren und disputierten eifrig über die bevorstehenden Ereignisse. Wehe
dem, der sich als Sonderling von der bunten Menge abschloß, wer dem Bei¬
spiele des Misanthropen Timon folgte oder allein speiste und sich ausschloß
von dem Interesse für Poesie und Kunst; die Komiker verfolgten ihn mit bitterm
Spott, wie Alexis, der den „Alleiuefser" oder Phrynichos, der das Lustspiel
„Der Sonderling" schrieb.
Die edelste Blüte dieser Geselligkeit war die Männerfreundschaft, die in
den guten Zeiten eine Reinheit und ideale Verklärung an sich trug, die wir
uns kaum vorstellen können. Das klassische Beispiel war hier Sokrates; auf
den außerordentlichen Einfluß, den der Meister mit seiner gewaltigen, faszinierenden
Persönlichkeit auf die Jünger ausübte, einzugehn, ist hier nicht der Ort. Die
Werke des Platon sind die Denkmäler dieser Freundschaft. Auch im Haupt¬
wunsche des Griechen: „gesund sein, ein schönes, imponierendes Äußere zu haben,
sich ehrlich erworbnen Reichtums zu erfreuen", erscheint als letzter Wunsch: „und
die Jugend genießen mit lieben Freunden!" Und sie haben ihre Jugend ge¬
nossen, die Griechen, im Verein mit frohen Gefährten, beim Sport und beim
Turnen, in der Palüstrci und der Rennbahn, aber auch bei ernsten und heiligen
Dingen, wie beim Gottesdienst und der Pflege der edeln Künste — und schließlich
schlössen sie sich aus praktischen Gründen zusammen. Das darf uns nicht
wundernehmen, denn den Griechen haben wir uns nicht nur als idealen, welt¬
entrückten, schönheitsdurstigen Schwärmer vorzustellen, sondern er war auch ein
recht schlaues Weltkind, das seinen Vorteil klug zu wahren wußte und recht
wohl einsah, daß der Einzelne nicht weit kommt, daß ein enger Zusammenschluß
im großen Strom der Menge sehr wichtig sein konnte. Darin sehen wir eine
Ähnlichkeit mit dem praktischsten Volke, den Engländern, und fast will es uns
scheinen, als weise auch das griechische geradlinige Gesicht Verwandtschaft mit
dem englischen Typus auf.
Fragen wir uns nun, wie der Grieche seinen Hang zur Geselligkeit be-
tätigte, so treten uns zahlreiche Vereine entgegen, die die verschiedenste Be¬
stimmung haben können, vom idealen Zwecke des gemeinschaftlichen Gottesdienstes
bis zum platten, alltäglichen des Amüsements und des Essens und Trinkens.
Eine Fülle von Vereinen tritt uns gleich bei der ersten Gruppe, den Kultgenossen¬
schaften (F/aoot), entgegen. Die Inschriften fördern ja so reiches Material zu¬
tage, daß wir uns nur mit wenigen, besonders charakteristischen Vereinen ab¬
geben können. Gleichwie im Mittelalter die Handwerker ihren himmlischen
Schutzpatron verehrten, wie zum Beispiel die Schuster Sankt Crispin, taten
sich Griechen zusammen zum Kult einer speziellen Gottheit, die sich als
Hausheilige, als Schutzengel erwies. So war es die Aphrodite Urania,
deren heilige Gestalt tief ins Bewußtsein des Volkes eingedrungen war als die
lebenschaffende Naturkraft, wie sie, von Blumen und Wasservögeln umgeben,
auf Paphos in einem frohen Frühlingsfeste gefeiert wurde. Das Hauptfest der
Göttin waren die Adoneia, das glänzende Fest der Aphrodite und ihres Lieb¬
lings, des schönen, frühverblichnen Adonis, dessen Feier in Alexandria uns so
Prächtig von Theokrit in dessen fünfzehnten Idyll geschildert wird. Die beiden
buntbemalten Statuen lagen auf silbernem Lager. Früchte und Schirme von
grünem Dill umgaben sie, Eroten flatterten darüber, und eine Sängerin pries
mit schmetternder Stimme Schicksale und Leiden des Frühgeschiednen, und Liebe
und Trauer der Göttin. Daß dieses Fest recht würdig und prunkvoll begangen
würde, dafür sorgten eben jene Thiasoten der Aphrodite, und daß man sich
wirklich alle mögliche Mühe gab, davon ist uns Kunde auf Stein geblieben¬
em Ehrendekret der Kultgenosfen für ihren Vorsteher vom Jahre 302 hebt das
Verdienst um die -ro^, den Festzug, hervor. Das war aber nicht die einzige
Kultgenossenschaft, alle nur denkbaren Gottheiten hatten ihre treue Gemeinde,
die sich zu ihnen bekannte, da gab es Asklepiastai, Agathodaimoniastai, Diony-
siastai usw., und zwar nicht nur in Athen, sondern diese Verbände zur Ver¬
ehrung der Götter waren über ganz Griechenland und die Inseln hin verbreitet.
So gab es in Milet eine Vereinigung der ^?ro/, der Tänzer, wieder zum
Zwecke des Gottesdienstes. Zwei Klassen unterschied man hier: die srePm^-x^vt
(die Kinnzträger) und die jüngern Eingeweihten, die o^trää«t ^- Eselinge, die
beim Opfer, beim Braten, beim Zerlegen des Fleisches als Köche tätig waren.
Ein ausgedehntes Vereinslokal nannte der Verein sein eigen, bedacht mit großem
Tempelinventar, so mit Ton, Eisen. Erzgeschirr, Tischen. Kienspänen zur Be¬
leuchtung. Matten, auf denen das Fleisch zerteilt wurde, Fesseln für die Opfer-
stiere. Ein herrliches Bild muß die Staatsprozession auf der heiligen Straße
zum heiligen Tor hinaus geboten haben, als sich der Festzug nach Didymä
bewegte zum gewaltigen Apollotempel, dessen Freilegung von dem Königlichen
Museum in Berlin unter Beiträgen deutscher Kunstfreunde 1905 begonnen
Worden ist. Wie hier, so war es auch überall, von Göttlichen allein lebt der
Mensch nicht, und so bot denn der Verein der Kultgenossenschaft mit seinen
zahlreichen Festen und Opfern auch reichlich Gelegenheit, die Geselligkeit in
unserm Sinne zu pflegen. Die Götter verzehrten nicht die dargebrachten Opfer¬
gaben, und so fragte man nicht: warum, die Götter blieben eben stumm, sondern
man hielt sich tapfer ans Weil und hielt eine fröhliche Mahlzeit in eng.iorsm
äsorum, Aloriain. Natürlich mußte der Verein völlig organisiert sein, sonst hielt
er nicht zusammen. So gab es einen Vorstand, einen Geschäftsführer, einen
Schatzmeister, einen Schriftwart, der Vereinskoch und der Vereinsdiener durfte
nicht fehlen, auch besaß jeder Verein seine eignen <7<!v6txot, Rechtsanwülte, das
unvermeidliche Stiftungsfest blieb auch nicht aus, ebenso nicht das Klublokal,
das wir uus aber nicht als räuchriges Vereinszimmer vorstellen müssen, sondern
als anmutiges Grundstück mitten in Gärten gelegen, mit denen Attika übersät
war, etwa in dem Stil unsrer Logengebäude. Auch hatte jeder Kultverein seine
Statuten; bei dem Thiasos der Jobacchen können wir uns eine nähere Vor¬
stellung von den Paragraphen der Eintrittsstatuten machen.
Paragraph 1: «Tro^«^': die offizielle Anmeldung.
Paragraph 2: jedes Mitglied hat sich einer Prüfung zu unterziehen. Da
wurden hochnotpeinliche Fragen gestellt, ob der Aspirant auch ein Ehrenmann
sei und dem Verein keine Schande bereiten würde.
Paragraph 3: der Geprüfte hat ein Eintrittsgeld zu zahlen (dem natürlich
Monatsbeiträge folgten).
Paragraph 4: der Nezipiend hat einen Eid zu leisten, daß er den Satzungen
treu bleiben will.
Paragraph 5: das aufgenommne Mitglied erhält eine Eintrittskarte.
So war der Betreffende aufgenommen in den Thiasos und nahm teil an
den Festen, Opfern und Schmäusen des Vereins. Wie es bei einem solchen
Mahle herging, können wir aus einem Relief sehen, auf dein die Mitglieder
eines solchen Thiasos zu Ehren einer Priesterin des Apollo und der Rhea
Kybele, der Stratonike, versammelt sind und unter Flötenmusik schmausen und
zechen (am besten bei Schreiber, Kulturhistorischer Bilderatlas, Tafel XV, 1).
So bietet denn schon die erste Gruppe der Vereine, die wir besprochen haben,
ein deutliches Bild des ganzen griechischen Lebens, das eine glückliche Mischung
von zwei Seelen bietet, von denen die eine sich hinanfsehnt zu den Gefilden
hoher Ahnen, die andre sich mit derber Liebeslust an die Welt mit klammernden
Organen hält. Um sich diese Mischung der Gefühle in einer solchen Kult¬
genossenschaft klarzumachen, vergegenwärtige man sich einen Tag in Bayreuth,
wo sich die Besucher am Nachmittag in ehrfurchtsvollem Schauder vor der
Kunst des Meisters und dem Heiligsten unsrer Religion im Parsifal beugen,
und wo abends im Künstlerkreise der laute Festjubel zum Ausbruch kommt.
„Beides verstanden die Griechen, am selben Tage zu beten und am selbigen
Tag froh sich des Lebens zu freun!"
Schreiten wir nun von den Göttern langsam zur Erde nieder. Das Band
zwischen Himmel und Erde knüpft der Dichter und der Philosoph. Auch solche
Vereine gab es, in denen Dichtkunst und Wissenschaft getrieben wurde: die
literarischen Vereine. Das klassische Beispiel ist die Akademie des Platon, der
selbst Dichter und Philosoph in einer Person, in dem Haine, dem Heros
Akademos geweiht, ein Museum gründete, eine Art Universität, mit Grundbesitz,
eine juristische Person, einen Verein junger Leute unter seinem Vorsitz, worin
Philosophie gepflegt wurde. Aber auch hier war das Ursprüngliche nicht die
Wissenschaft, sondern der Gottesdienst, den Musen sollte die Stätte heilig sein.
Auch Sophokles soll einen Thiasos der Musen gegründet haben. Das paßt
zu dem sonnigen, geselligen Wesen des Meisters, der im Gegensatz zu dem
menschenscheuen Euripides gern junge Gesellschaft um sich hatte. Es war viel¬
leicht eine methodische Schule für Schauspieler: wenn die Existenz dieses In¬
stituts bezweifelt wird, so erhebt sich von selber die Frage: warum soll Sophokles
nicht seine Theorien von der Bühnenkunst Praktisch in jenem Vereine dargelegt
haben? Goethe schrieb Regeln für Schauspieler. Wagner „über das Dirigieren",
warum soll sich der griechische Meister nicht mit technischen Fragen abgegeben
haben, indem er, wie der alte Goethe, Schauspieler um sich sammelte und diesen
seine Ideen einprägte? Wir Hütten somit die erste Stilbildungsschule in diesem
Musenthiasos, wie sie Wagner für Bayreuth plante. Ebenso hatte Epikur in
seinen Gärten einen philosophischen Verein etabliert; auch nach seinem Tode
sollte das Andenken an den Weisen gefeiert werden, indem er in seinem Testament
bestimmte, man solle in seinem Garten weiter philosophieren. Ebenso taten sich
andre junge Leute zusammen zum gemeinsamen Studium und zum wissen¬
schaftlichen Vereine, in späterer Zeit finden wir in den großen Universitäts¬
städten, wie Athen und Alexandreia, Studentenverbindungen vor, sogar der
Fuchsmajor ist durch eine Inschrift unsterblich geworden. Auch
Mädchen vom Gymnasium in Pergamon traten zu einer Korporation zusammen
und beschlossen — höchst seltsam! — für beliebte Lehrer Belobigungen und
Ehrenkrünze.
So sind wir denn unvermerkt ganz auf der Erde angelangt und wenden
uns zu den beruflichen Vereinen. Ärzte, Schmiede. Töpfer. Fischer, auch Bau¬
arbeiter, wie in Milet. und andre Gewerkschaften taten sich zu Vereinen zu¬
sammen, wenn auch richtige Korporationen von Handwerkergenossenschaften erst
später in der römischen Kulturperiode auftreten, was man schon daraus sehen
kann, daß das religiöse Element, dessen Betonung speziell hellenischen Charakter
verrät, zurücktritt und das rein Zunftmäßige im Vordergrunde steht, woran wir
vor allem den römischen Rechtsstaat erkennen. Berühmt und in allen Ländern
verbreitet war der Bund der Dionysischen Künstler, so in Teos, Argos. Cypern,
auch in Ägypten in dem durch seine Papyri so berühmten Oxyrhynchos, ferner
in Neapel, Rhegion, ein Verein der wichtigsten Mitwirkenden beim Bühnen-
spiel als Sänger, Schauspieler, Musiker. Dichter und — echt griechisch! —
Garderobiers, die ja, wie bei den Bayreuther Vühnenspielen, einen wichtigen
Bestandteil der Bühnengenossenschaft ausmachten. Aber es blieb nicht bei den
echten Künstlern, die im Dienste der rss ssvsrg- tätig waren, in späterer Zeit schlössen
sich dem Vereine auch allerlei Artisten, wie Jongleure. Zauberkünstler. Spa߬
macher, Clowns an, in einer Zeit, wo es möglich war, daß neben der Statue
des Äschylus im Theater die Statue eines Bauchredners aufgestellt wurde.
Diese Truppe zog nun von Ort zu Ort; es war dies das beste Mittel, be¬
kannt zu werden in einer Zeit, wo Presse und Reklame noch nicht blühten wie
jetzt. In hellenistischer Zeit hatte sich eine Truppe in Jonien niedergelassen,
die einen richtigen Staat im Staate bildete, und deren Ansehen so gewachsen
war, daß sie stolz wie souveräne Fürsten mit andern Städten durch vornehme
Gesandtschaften verhandelte. Selbstverständlich verfügten solche Vereine auch über
großes Vermögen, der Grundbesitz wuchs, Erbschaften und Schenkungen ver¬
mehrten das Bestehende, wenn sich auch im Budget gar manche Schulden
einstellten.
Auch die ^«^6ot, die städtischen Musikkapellen, gehören hierher. So
waren die Bürger von Smyrna stolz darauf, daß ihnen Kaiser Hadrian eine
Kapelle verliehen und dazu einen Beitrag gezahlt hatte. Gerade in diesen Musik¬
vereinen herrschte ein ausgeprägtes Schmaussystem, das trockne Gedeck mit
Wein wurde durch die Vereinskasse bezahlt. Aber gewiß trug der ganze Verein
auch Sorge beim Todesfall eines Mitglieds, denn nicht alle Musikdirektoren
besaßen eine so noble Ader wie der Kapellmeister Ebenos in Ephesos, der einem
verstorbnen Mitgliede aus eignen Mitteln einen Grabstein setzen ließ.
Auch Handelsgenossenschaften finden wir schon im Altertume vor. Athen
war nach den Perserkriegen die Stadt des Großhandels geworden. Die Anlage
der Häfen, die Ausdehnung des Hafenviertels, die Ansiedlung von Ausländern
im Piräus, das Emporion mit seinem Riesenquai, die Märkte, Herbergen, Heilig¬
tümer, Markthallen, das as?^-«, die Börse Athens, in dem Warenproben aus¬
gelegt wurden, die Wechslerbuden und Banken, die Konversationsräume — dies
bunte Bild, das sich bei diesen Stichworten vor unsern Blicken entrollt, zeigt
die Handelsmacht der sich entwickelnden Stadt. Der blühende Handel lockte
selbstverständlich in die Hafengegend viele Fremden, die sich zu Kolonien zu¬
sammenladen. Man bat den Staat um die Erlaubnis, ohne weitere Beteiligung
am Staatswesen als Schutzbürger zu leben, natürlich war es auch hier die
ausländische Gottheit, um die sich dieser kaufmännische Verein gruppierte. Da
treten denn namentlich die phrygische Göttermutter oder die kyprische Aphrodite
als fremde Gottheit, als Beschützerin des neuen Ausländervereins entgegen, und
wenn hier und da als Teilnehmer auch ein Bürger der Metropole erscheint, so er¬
klärt sich dies aus der Sehnsucht nach neuen Göttern, die die Herzen der da¬
maligen Athener erfüllte, denn seit dem Verfalle des Volksglaubens fand man
keine Befriedigung mehr im alten Glauben und erwartete das Heil eben von
den ausländischen Göttern und schloß sich jenen Kaufmannsvereinen an. Aber
auch die eingebornen Bürger taten sich zu Handelsverbänden zusammen. Ge¬
sellschaften vereinigten sich, rüsteten gemeinsam ein Kriegsschiff aus und ließen
es auf Beute ausgehn. Weil der Kaufmann persönlich sein Geschäft führte
und die Ware begleitete, waren solche Gesellschaften von großem Nutzen. Fast
nur beim Seehandel verlohnt sich solche Vereinigung, weil bei der Unsicherheit
des Landweges der Seehandel immer noch mehr abwarf. Oder es bildeten sich
Handelsgenossenschaften bei größern Unternehmungen, die ein bedeutendes Kapital
hatten, wie bei der Pacht von Staatsgefallen, beim Abbau von Bergwerken,
denn selten stand einem Manne das nötige Kapital zum Bergbaubetriebe zur
Verfügung.
Aber auch die Vereine zur gegenseitigen Unterstützung vergaß das Altertum
nicht; wenn freilich das Versicherungswesen heute viel entwickelter ist als da¬
mals, so tauchte doch schon in alexandrinischer Zeit der Assekurauzgedanke mit
Prämie auf. Es gab ferner Krankenkassen, von der Stadt oder vom Demos
eingerichtet, ein Bezirksarzt war angestellt, von den Bürgern wurde eine Ärzte¬
steuer erhoben. Auch Sterbelassen, wie die Fraternität zu Leipzig, finden wir
vor, nur daß nicht, wie dort, das Leichentuch über den verstorbnen Konfrater
gebreitet, sondern ihm ein Kranz aufgesetzt wird. Auch für den Leichenstein
trägt der Verein Sorge. Ferner taten sich Familien zu einem Erbbegräbnis
zusammen, namentlich kauften untereinander verwandte Familien solche Begräbnis¬
plätze, und der gemeinsame Leichenstein deckte die Reste der Mitglieder. Überall
sehen wir den praktischen Sinn der Griechen: der Einzelne schließt sich an eine
Mehrheit an, da er allein in der großen Gesellschaft nicht weiterkommt. Ebenso
gehören unter die gemeinnützigen Vereine die Genossenschaften von Junggesellen
oder Witwern, die lieber in Gemeinschaft mit Gleichgesinnten als allein im
öden Hause ihre Mahlzeiten einnahmen; man tat sich so zu Tischgenossenschaften
zusammen und speiste, wie die meisten unsrer Junggesellen ans Bequemlichkeit
am Abonnementsmittagstisch, bei einer gemeinsamen Tafel. Hier sind wir schon
an den Vereinen angelangt, die ohne ernsten Hintergrund und ohne den Ge¬
danken der gegenseitigen Unterstützung nur dem Vergnügen und dem Scherze
gewidmet waren. So gab es in Athen einen Klub vou sechzig Mitgliedern,
die 7->!.c-iro7rat0t, kurz „die Sechzig" genannt, unter dem Protektorat des alten
Zechers und Schmausbruders Herakles; hier war es gewiß wenig Religiosität,
die die fideler Brüder zusammenhielt, die im Demos Diomeia nahe beim
Kynossarkes ihr Klublokal aufgeschlagen hatten. Lief irgendein Bonmot in der
Stadt herum, wurde irgendeine heitere Anekdote erzählt, gleich hieß es: „die
Sechzig Habens gesagt!" So wurden diese lustigen Herren die Meister des
Witzes, ja ihre Klubwitze wurden sogar gesammelt, und Philipp von Mazedonien
ließ sich die Witzekollektion schicken und honorierte die Geistesblitze mit dein
königlichen Geschenke von einem Talent. Weniger harmloser Art war der Klub
des Jthyphallikus, über dessen tolle Mitglieder wir aus Demosthenes Rede
gegen Koror näheres erfahren und dabei einen tiefen Einblick tun in die
korrupten Zustünde der attischen jourissso cloröo; eine nächtliche Skandalgeschichte,
eine Schlägerei und eine Trunkenheitsszene sind uns dort vortrefflich geschildert.
Fast an Frivolität grenzte die Tendenz eines andern Vcrgnügungsvereins aus
der spätesten Zeit: Antonius, der geistvolle Wüstling, gründete mit den Seinen
den Verein der „Brüder vom unnachahmlichen Leben", deren Sinn war, jeden
Tag seine Kollegen zu bewirten. Später, als es den lustigen Genossen an die
Kehle ging, änderten sie den Titel und nannten den Bund mit furchtbarem
Witze: den Verein der Todeskandidaten. Erfreulicher sind andre Vereine, die
nur dem Vergnügen dienen, aber einem edeln Vergnügen, die Turnvereine mit
Vorturnern oder die Jagdvereine. Auch die harmlosen Vergnügungsvereiue vou
Oxyrhynchos gehören hierher, von deren Mahlzeiten eine Papyrusrechnung be¬
richtet: Essen zu Ehren des Kalatytis. Ein Hexachus Wein 2000 Drachmen,
sechs Diners zu 190 Drachmen, macht zusammen 2190 Drachmen, worauf
die Namen der Teilnehmer folgen.
So nähern wir uns denn immer mehr dem privaten Vereine, der Gesell¬
schaft, deren ausführlichere Besprechung hier zu weit führen würde.
Wir haben so die Griechen durch ihr geselliges Leben und ihre Vereine
begleitet, von der frommen Kultgenossenschaft zum praktischen Berufsverein und
von da zum Vergnügen. Freilich, in manchen Stücken haben wir es herrlich
weit gebracht, wie zum Beispiel im Versicherungswesen, aber in der Poesie und
künstlerischen Gestaltung des Vereinswesens können auch wir großen modernen
Übermenschen von jener fröhlichen, seligen Künstlergeineindc viel lernen!
tuam de Aepes wurde 1542 zu Fontiveros in Kastilien geboren.
Sein Vater Gonzalez war wegen Eingehung einer unebenbürtiger
Ehe von seiner vornehmen Familie verstoßen worden und mußte
sich und die Seinen als Weber ernähren. Beide Eltern waren
! sehr fromm, und der kleine Juan wußte bald von Erscheinungen
und wunderbaren Lebensrettungen zu berichten. Als er einmal in einen
schlammigen Teich gefallen war, reichte ihm eine Dame, in der er die heilige
Jungfrau sah, ihre weiße Hand, die er mit seinen schmutzigen Fingern anzu¬
fassen sich scheute, und hielt ihn so lange fest, bis ein Mann zu Hilfe kam,
der ihn vollends herauszog. Der Vater starb jung, und die Mutter siedelte
nach Medina del Campo über. Zwölfjährig sollte er ein Handwerk lernen.
Man versuchte es mit mehreren, er erwies sich jedoch zu keinem geschickt.
Dagegen war der Vorsteher des Krankenhauses, dem er sich als Helfer anbot,
sehr zufrieden mit ihm, und da er Talent in dem Knaben entdeckte, schickte er
ihn zu deu Jesuiten der Stadt in die Schule, um ihn nach Absolvierung seines
Studiums weihen zu lassen und als Hausgeistlichen anzustellen. Johannes trat
jedoch in den Karmeliterorden ein, weil ihm offenbart worden war, daß er
diesen reformieren solle. Er tat dies, wie schon mitgeteilt worden ist, im Verein
mit Teresa. Von seinem Aufenthalt in Avila wissen seine Biographen Wunder¬
dinge zu erzählen, Er hatte oft Verzückungen und wurde manchmal, im
Gespräch mit Teresa begriffen, in die Luft emporgerissen. Man will beide
zugleich in der Luft schwebend gesehn haben. Zwei Nonnen befreite er mit
seinen überaus kräftigen Exorzismen vom Teufel, der des Heiligen Gestalt
annahm, in dieser Gestalt sie besuchte und sie durch schändliche, denen Johanns
entgegengesetzte Lehren zu verführen strebte; auch schriftliche Anweisungen über¬
brachte er ihnen als von ihrem Beichtvater gesandt, indem er dessen Handschrift
fälschte. Als 1576 die Karmeliter der milden Observanz beschlossen hatten, die
Reform zu unterdrücken, kamen ihre Bevollmächtigten nach Avila, erbrachen die
Hütte, in der Johann mit einem Laienbruder wohnte, und führten ihn nach
Toledo. In ihrem dortigen Kloster sperrten sie ihn in ein enges, fensterloses
stinkendes Kümmerchen, worin er die schönsten seiner Lieder gedichtet hat. All¬
abendlich wurde er in den Speisesaal befohlen, mußte sich entblößen und an
den in Reihe und Glied stehenden Brüdern vorüberschreiten, deren jeder ihm
eine vorgeschriebne Zahl von Geißelhieben versetzte. Während dann die übrigen
speisten, bekam er seine karge tägliche Brotportion mit Wasser, die er auf dem
Fußboden sitzend verzehren mußte. Bei der Mahlzeit, und auch sonst vor der
dünnen Bretterwand seines Gefängnisses, setzten die frommen Brüder die
Geißelung mit ihren Zungen fort, indem sie einander alle erdenklichen Schänd¬
lichkeiten von ihm erzählten. Als man wahrnahm, daß er die tägliche Geißelung
nicht länger aushielt, beschränkte man sie auf dreimal in der Woche und dann
auf jeden Freitag. Nach zwei Jahren erschien ihm die heilige Jungfrau und
verhieß ihm baldige Erlösung; dann erschien Christus selbst mit seiner Mutter,
die ihn beide zur Flucht ermunterten, und diese gelang unter wunderbarem
himmlischem Beistand. Es waren ihm noch einige Jahre friedlichen Wirkens
beschert, aber gegen sein Lebensende, das 1591 eintrat, wiederholte sich die
Verfolgung noch einmal.
Seinen Prosaschriften (nebst den Gedichten und einer Biographie deutsch
herausgegeben von Gallus Schwab und Magnus Jocham, Regensburg 1859)
hat Johann die Form von Kommentarien zu zweien seiner Lieder gegeben. In
Diepenbrocks Übersetzung lautet die erste Strophe des ersten:
Und die erste Strophe des zweiten, dem Hohenliede nachgebildeten:
Die der Vereinigung mit Gott zustrebende Seele, lehrt Johann, hat zwei
Nächte zu durchwandern. Beide erzeugt sie selbst, die erste dadurch, daß sie
alle sinnlichen Regungen und Vorstellungen aus ihrem Innern bannt. Im
Jahre 1690 wurde es von der philosophischen Welt als eine Revolution
empfunden, daß Lockes lÄsss^ on murum nnäerstainLnZ erklärte: es gebe keine
angebornen Ideen; die Seele sei ursprünglich ein weißes Blatt Papier, das
erst von den sinnlichen Wahrnehmungen einen Inhalt empfange. Reichlich
hundert Jahre vorher hatte der spanische Mönch geschrieben: „Nach der Lehre
der Philosophen haben wir, sobald Gott dem Leibe die Seele eingehaucht hat,
gleichsam eine leere Tafel, auf die noch gar nichts gezeichnet ist. Auf natür¬
lichem Wege kann die Seele nur durch die Sinne etwas in sich aufnehmen.
Solange sie im Leibe ist, gleicht sie einem Menschen, der, in einem finstern
Kerker eingeschlossen, nichts wahrnimmt, außer was er durch die Kerkerfenster
sehn kann. Sieht er durch diese nichts, so kaun er überhaupt nichts sehn.
Ebenso kann die Seele, wenn nicht durch die Sinne, diese Fenster ihres
Kerkers, etwas in sie eindringt, auf einem andern Wege natürlicherweise
nichts wahrnehmen. Verschmähe sie es ^zum Zweck ihrer mystischen Vereinigung
mit GotH, durch die Sinne etwas aufzunehmen, so können wir sagen, daß sie
im Finstern und leer bleibt. Wer die Augen schließt, ist ebenso im Dunkeln
wie der Blinde." Aus dieser ersten Nacht tritt der nach Vollkommenheit strebende
in eine zweite noch dunklere ein: in die Nacht des Glaubens. In dieser wird
die Seele erst vollkommen blind, indem sie nicht allein auf die sinnliche Wahr¬
nehmung verzichtet, sondern auch auf den Gebrauch ihres Erkenntnisvermögens,
das aus den sinnlichen Wahrnehmungen Vorstellungen, Begriffe, Erinnerungs¬
bilder schafft. Dieser Verzicht ist notwendig. Denn Gott ist zwar seiner Wesenheit
nach wie in jedem andern Geschöpf so auch in jeder Seele, selbst in der des
Verdammten gegenwärtig, ohne diese erhaltende Gegenwart Gottes würden die
Geschöpfe ins Nichts zurücksinken. Aber die Vereinigung, die hier erstrebt
wird, ist andrer Art, ist die Vereinigung in Liebe. Diese ist nur möglich durch
Verühnlichung mit dem Geliebten. Gott aber gleicht keinem Geschöpf, darum
kann auch kein Geschöpf diese Vereinigung mit ihm vermitteln. Er hat keine
Form, geht in keinen Begriff, darum kann er weder durch Phantasiebilder noch
durch Begriffe erfaßt werden, und darum führt das Denken ebensowenig zu
Gott wie die sinnliche Wahrnehmung. Es gibt nur zwei Wege, Gott zu er¬
fassen: in diesem Leben den Glauben, der in Beziehung auf das gewöhnliche
Seelenleben Nacht ist, weil er auf begriffliches Erkennen verzichtet, und im
Jenseits die Anschauung. Um zu dieser zu gelangen, muß man eben sterben.
Einzelnen Begnadeten wird sie auf Momente schon in diesem Leben gewährt.
Gegen das letzte würde Kant freilich als gegen eine Selbsttäuschung, einen
Aberglauben protestiert haben, aber im übrigen ist seine Lehre von der des
Spaniers nicht wesentlich verschieden: weder die sinnliche Erfahrung noch
irgendeine Denkoperation vermittelt die Erkenntnis Gottes. Gott muß einfach
geglaubt werde«; das sei ein sittliches Postulat, meint der Königsberger. Nach
Johannes gibt es anßer dem Wege der natürlichen Erfahrung, der nicht zu
Gott führt, auch noch einen Weg übernatürlicher Erfahrung — allerdings nur
für die Vollkommnen; die ungeheure Mehrzahl der Meuschen muß sich mit dem
schlichten Glauben begnügen. Ich halte es weder ganz mit Kant noch ganz
mit Johannes, der die Unühnlichkeit der Geschöpfe mit Gott übertreibt, sondern
mit Paulus (Römer 1, 20) und den Scholastikern, die lehren, daß Gott aus
seinen Geschöpfen (und wie viele Neuere hinzufügen, aus Lebenserfahrungen)
erkannt werden könne; nur hatte Kant gegen die Scholastiker insoweit recht,
als er bestritt, daß ein zwingender Beweis für das Dasein Gottes geführt,
und daß Gottes Wesen förmlich beschrieben werden könne.
Die Wanderung durch die zwei oder drei Nächte — denn Gott selber, die
ewige Sonne, die das natürliche Auge völlig blind macht, ist für dieses die
allertiefste Nacht — stellt nur unter einem neuen Bilde dar, was die ältern
Mystiker als die on xur^itiva, i1Iuining,tivÄ und uintiva, (Dante als interrw,
xur^wrio und varacliso) beschrieben hatten. Johanns einzelne Anweisungen
decken sich darum im ganzen mit denen der übrigen Lehrer der Askese und
Mystik, enthalten jedoch so manches Originelle, namentlich feine psychologische
Bemerkungen. So zum Beispiel: die Erhebung der Seele im Gebet könne
sinnliche Regungen erzeugen, weil bei der innigen Vereinigung von Leib und
Seele das Wohlbehagen des einen Teils immer auch in den andern überfließe.
Daß der direkte Kampf gegen die Unkeuschheit die Versuchungen zu ihr mehr
hervorrufe als banne, haben auch andre Männer seiner Richtung eingesehn.
Der naheliegenden Folgerung, daß die ganze Mönchsaskese in dieser Beziehung
zweckwidrig sei, weil Ablenkung der Gedanken und der Phantasie durch stramme
Arbeit das beste Bewahrungsmittel ist, entgingen die großen Asketen für ihre
Person dadurch, daß sie, wie besonders Peter von Alcantara, von dem in dieser
Beziehung schier Unglaubliches aber gut Bezeugtes berichtet wird, die Askese
bis zur ununterbrochnem Selbstpeinigung trieben, die jedes sinnliche Wohl¬
behagen und damit auch die Regungen des Geschlechtstriebs physisch unmöglich
machte. Wenn Johann, ganz aristotelisch, alle Extreme für sündhaft erklärt, so
verwickelt er sich in Widerspruch mit seiner eignen Askese. An solchen Wider¬
sprüchen fehlt es natürlich auch sonst nicht; einem Menschen, der so außerordent¬
liche Wege wandelt, können sie am wenigsten erspart bleiben. Es gehört dazu,
daß er mahnt, den von Gott geordneten Weg, der durch die natürliche Er¬
kenntnis hindurch führe, nicht zu verschmähen, und schon das Wort „Anschauung
Gottes", also Anschauung des Formlosen, Unanschcmbaren, und die Sehnsucht
nach der Schönheit, die aus seinen Gedichten spricht, sind Selbstwidersprüche.
Auch die Visionen, die den nach Vollkommenheit ringenden zuteil werden,
erklärt er für einen — bei aller Übernatürlichkeit — natürlichen Anfang, an
dem man jedoch nicht haften bleiben dürfe. Von allen Phantasiebildern müsse
sich die Seele reinigen und frei machen. Geradezu gefährlich sei die Wunder¬
gabe; sie verleite zur Magie und Gaukelei; wer sie empfangen habe, solle die
Freude daran und das Verlangen, sie auszuüben, unterdrücken. Auch soll der
Strebende nicht in dem Verlangen nach seiner persönlichen Heiligung und Be¬
seligung befangen bleiben, denn nur wo zwei oder drei in Jesu Namen vereinigt
seien, weile der Herr, nur in der Gemeinschaft der Gläubigen. Er warnt davor,
gewissen Sprüchen, Gebeten, Formen, Bräuchen eine besondre Kraft beizulegen,
das sei böse, sündhaft und führe zur Teufelsbüudelei. Die besten „Zeremonien"
seien die zwei, die Christus empfohlen habe, nämlich wenn man beten wolle,
entweder in sein Kämmerlein oder in die Wüste zu gehn.
Die christlichen und die indischen Mystiker sind von derselben Erfahrung
ausgegangen. Sie wird sehr deutlich beschrieben in einem Gedichte des Johannes,
dessen erste Strophe lautet:
Kein einzelnes Geschöpf, keine Menge von Geschöpfen, kein irdischer Zu¬
stand vermag der feiner organisierten Seele volles Genüge zu gewähren. An
all das, was unsre heutigen Pessimisten vom Erdenjammer zu erzählen wissen,
braucht man dabei gar nicht einmal zu denken; dergleichen schreckt ja den
Asketen nicht. Von dieser Erfahrung aus aber haben die indischen und die
christlichen Mystiker entgegengesetzte Wege eingeschlagen. Jene wollten sich vor
allem von Leiden befreien und fanden als allein wirksames Mittel die „gänzliche
Vernichtung des Begehrens", wie Buddha es in der Predigt von Venares
nennt; also Lebensverneinung, stumpfsinniges Hinbrüten im Nichtsdenken, so¬
lange man lebt, bis man von dem ersehnten Tode völlig erlöst wird, und
wofern man nicht durch Sünden eine Wiedergeburt verschuldet hat, ins Nirwana
versinkt. Die christlichen Asketen sind vom intensivsten Begehren, vom Begehren
der bewußt genossenen Himmelswonne erfüllt, von Liebessehnsucht entflammt,
sind die allerentschiedensten Lebensbejaher. Teresa wünscht wie Paulus (Phi¬
lipper 1, 23) bei Christus im Himmel zu sein, zugleich aber, noch auf Erden
zu bleiben und hier zu wirken. Sie will ihr bewußtes, individuelles Leben
nicht loswerden, sondern sie wünscht sich tausend solche Leben, um sie alle
Gott zu weihen. In Leiden jauchzen diese Menschen vor innerer Freude und
Wonne. Aber das von ihnen erstrebte und schon genossene Glück ist ganz
geistiger Natur. Sie sind Virtuosen der Vergeistigung. Mit der Vergeistigung,
dem Intellektualismus und Moralismus, verbinden sie feines ästhetisches
Empfinden. Daß dieses die eine der Wurzeln ihrer Askese ist, habe ich schon
einmal hervorgehoben (in dem Bericht über eine Biographie der Katharina
Emmerich). Der physiologische Lebensprozeß erfordert ekelhafte Verrichtungen.
Teresa bewundert die Güte und Erbarmung Gottes, der sich einem „übel¬
riechenden Erdenwürmlein" mitteile. Vergiftet doch das reinste Kind die
Atmosphäre, in der es lebt. Deshalb wünscht der Asket, den Stoffwechsel auf
das erreichbare Mindestmaß herabzusetzen. Es ist das ganz dieselbe Empfindung,
die unsrer als Prüderie vielfach verspotteten heutigen Sitte zugrunde liegt. Zu
deren Erzeugung haben das Puritanertum mit seiner Angst vor der Sünde und
der Reinlichkeitslnxus der vornehmen Engländer zusammengewirkt. Auf dem
Kontinent sind nun die Sitten bis ans Ende des achtzehnten Jahrhunderts,
in entlegnen Gegenden bis tief ins neunzehnte hinein ungeniert, mitunter
unflätig geblieben. Der Unterschied besteht nur darin, daß der heutige Gebildete
das Natürliche verbirgt, ohne es zu verabscheuen, der katholische Asket dagegen
sowie der Puritaner es loszuwerden sucht. Aber nicht bloß negativ wirkt
der feine ästhetische Sinn; er erzeugt ästhetische Bedürfnisse. Dieses Bedürfnis,
der Drang, Schönes zu sehn, ist so stark, daß er Visionen hervorruft. Teresa
schreibt an einen ihrer Beichtväter, Gott habe ihre Schwäche geschont und ihr,
um sie nicht zu töten, seine volle Herrlichkeit nicht auf einmal sondern nach
und nach enthüllt. „Hochwürden werden meinen, es könne doch keine Kraft
dazu gehören, schöne Hände und ein schönes Antlitz zu beschauen. Aber die
verklärten Leiber sind so schön, ihr übernatürlicher Glanz strahlt so blendend,
daß bei ihrem Anblick die Seele außer sich gerät. Zuerst überfiel mich heiliges
Entsetzen und große Aufregung; allein die Überzeugung von der Gewißheit
und Wahrheit der himmlischen Vision sowie ihre gute Wirkung auf mich
verwandelten sehr bald die Unruhe in ruhige Zuversicht.... Aber kann nicht die
Einbildungskraft solche Visionen erzeugen? Das ist die unmöglichste aller
Unmöglichkeiten. Einen solchen Flug hat unsre Einbildungskraft nicht. Geht
doch schon die Schönheit und die Weiße einer Hand des Herrn über ihr Vor¬
stellungsvermögen." Schöpferin solcher Visionen ist die Sehnsucht nach der
Erlösung von den der irdischen Schönheit anhaftenden UnVollkommenheiten und
von allem mit dem leiblichen Leben verbundnen Widerlicher, von dem „Erdenrest,
zu tragen peinlich (und wär er von Asbest, er ist nicht reinlich)"; die Sehnsucht
nach den „heitern Regionen, wo die reinen Formen wohnen". Für den kritischen
Kantianer Schiller waren diese Formen eben reine Formen; Phantasiebilder, die
die Kunst zu verkörpern strebt, um sich unter Verzichtleistung auf „des Genusses
wandelbare Freuden" durch den schönen Schein über das elende Sein zu er¬
heben oder — hinwegzutäuschen. (Der Schönheit stille Schattenlande nennt er
das Reich der Gestalten, Formen, Ideale in seinem philosophischen Lehrgedicht,
das er ursprünglich „Das Reich der Schatten" überschrieben hatte.) Den platonisch
gearteten Mystikern waren sie Realitäten.
Solche Realitäten inne zu werden, dazu gehört eine abnorme Steigerung
der Nerventätigkeit, also, wenn man alles Abnorme trank nennen will, Krank¬
heit, wie denn die meisten Visionäre wirklich krank gewesen sind. Die heutigen
Nervenärzte nennen die Krankheit dieser Personen Hysterie. Willy Hellpach
schreibt in seinem Büchlein „Die geistigen Epidemien": „Wenn der Jesuiten-
Pater Hahn in einem merkwürdigen, übrigens dem Index verfallnen Buche den
Versuch gemacht hat, zu beweisen, daß die Visionen der heiligen Teresa über¬
irdische Offenbarungen gewesen sein müßten, weil sie die Inspirationen zu ihrem
Werke waren, sie dies Werk mit bewundernswürdiger Energie durchsetzte, und
dies nicht zur Hysterie stimme, so kann man ihm nur antworten, daß er dann
die Hysterie nicht kennt. Diese erlebt, was sie ersehnt, sie sieht, was sie glaubt.
Der Epileptiker glaubt bloß, was er sieht. Hier die krankhafte geistige Schwäche,
die den vom kranken Hirn erzeugten Bildern kritiklos gegenübersteht, und dort
die krankhafte seelische Kraft, die das Hirn die von der Seele ersehnten Bilder
gestalten heißt." Die spätmittelalterliche Menschheit befand sich nach Hellpach
in einem Zustande seelischer Erregung, Überspannung und Erschöpfung, der sie
hysterisch machte. „Darum hat auch die Reformation die Epidemien nicht be¬
seitigt, sondern zunächst gesteigert, denn sie trug, wie es bei jedem religiösen
Zusammenbruch unvermeidlich ist, Anarchie, Haltlosigkeit, grenzenlose Verwirrung
in Tausende von Gemütern, entfesselte nicht bloß den äußern, sondern auch den
innern, religiösen Kampf aufs wildeste. Die Balken des alten Glaubens krachten
zusammen, und man klammerte sich, in seiner Hilflosigkeit Gott allein gegenüber¬
gestellt, an die Strohhalme, die der neue Glaube ließ: Teufel und Dämonen.
sWir würden den Teufel nicht als einen Strohhalm werten und überhaupt
die damalige Revolution ein wenig anders charakterisieren.j Die Scheiterhaufen
der Hexenverfolgung illuminierten den Siegeszug der kirchlichen Befreiung.
Ein religiöser Genius hat schon damals den innersten Kausalnexus dieser
Verwilderung durchschaut. Die IZxsroitiA spirituMa des Ignatius von Loyola
sind der grandiose Versuch, die Hysterie zu überwinden und doch den alten
Seelenzustand zu erhalten. Und der Stifter der Gesellschaft Jesu wußte, wo
der Punkt lag, aus dem die Krankheit zu kurieren war. Er verbot die Askese
süchtiger ausgedrückt, er gab ihr ihren ursprünglichen Sinn als Übung,
Trainierung wieder^, die er durch eine fast militärische Gesundheitspflege, plan¬
volle Tagesordnung, zweckmäßige Ausfüllung jeder Stunde und Einschulung
der Phantasie auf die religiöse Vorstellungswelt ersetzte. Er sah, daß Erschöpfung
dem Hirn die Herrschaft über den Bewegungsapparat raubt, Glieder und
Muskeln eine unmoralische Ochlokratie an sich reißen läßt; sah, daß die Un¬
sicherheit im seelischen Leben Unordnung und Durcheinander züchtet und die
Seele den Visionen als Spielball ausliefert. In den Übungen wurde eine
krankhaft gesteigerte Bilderwelt in die Bande der Lebensaufgaben geschmiedet.
Eine krankhaft gesteigerte — doch diese Krankheit war ein Experiment; sie
sollte dem Willen unterworfen bleiben, und wo die Gefahr der Umkehr dieses
Verhältnisses drohte, dort gebot die Ordensregel halt. Die wenigsten durften
alle Exerzitien absolvieren." (Im dritten vorjährigen Bande S. 511 ist mit¬
geteilt worden, daß Max Weber ähnlich nicht bloß über die Exerzitien des
Ignatius, sondern über die ganze katholische Askese urteilt und zu dieser die
puritanische in Parallele setzt.) Hellpach will mit seiner Erklärung der Visionen
und Ekstasen diese religiösen Erscheinungen keineswegs herabsetzen. „Man muß
immer wieder zu dem alten Vergleich seine Zuflucht nehmen: die Perle ist eine
Mißbildung der Muschel, ein Krankheitsprodukt; das hat die Wissenschaft fest-
gestellt; aber wer möchte der Wissenschaft das Recht einräumen, daraus zu
folgern, daß die Perle nichts Schönes sein könne?" Daß sich Gott der
Krankheit bedient, um in der Seele gewisse Wirkungen hervorzubringen, ist
ja eine bekannte Erfahrung.
Worin besteht nun der Wert jener Erscheinungen? Religion ist bewußter
Verkehr mit dem Weltgrunde. Solcher Verkehr setzt voraus, daß auch der
Weltgrund bewußt, daß er Gott ist, denn mit dem „König Umschwung", den
die Sophisten an des Zeus Stelle gesetzt haben, kann man sich nicht unter¬
halten; unsre heutigen Sophisten, die behaupten, man könne Religion haben,
ohne einen Gott zu haben, hat schon Aristophanes durch den Mund seines
Strepsiades verspottet. Soll demnach Religion herrschen, so muß die Über¬
zeugung von der Existenz Gottes vorhanden sein. Die Religionsstifter und
Erneuerer waren Männer, die sich von der Realität einer jenseitigen Welt
überzeugt hatten und diese Überzeugung auf die Massen überströmen ließen.
Paulus wurde bis in den dritten Himmel entrückt — ob mit dem Leibe, ob
außer dem Leibe, er wußte es nicht — und vernahm dort Worte, „die aus¬
zusprechen einem Menschen nicht erlaubt ist". Luther und Calvin haben die
Realität des Jenseits ebenso erfahren wie Ignaz, Teresa und Johannes, wenn
gleich die Art, wie Gott sie diese Erfahrung gewinnen läßt, ihrer Eigenart
angepaßt und darum von der jener Spanier verschieden war. Und wenn die
Stimme, die den Ekstatischen Befehle erteilt, im Grunde genommen nur die
Stimme ihres eignen, seiner selbst und des einzuschlagenden Weges gewissen
Willens ist. so ist doch eben diese Selbstgewißheit ihres Willens, die sie zur
Erfüllung einer providentiellen Aufgabe befähigt, eine Wirkung dieser Providenz,
ganz ebenso wie die unerschütterliche Festigkeit Luthers, der alle Zweifel an
seiner Berufung durch Gott als teuflische Versuchungen verscheuchte. Die
unmittelbare Berührung mit dem Jenseits hat dann immer auch die sittliche
Energie neu belebt und ihr Schwungkraft verliehen, sodaß mit der religiösen
Erneuerung die sittliche Hand in Hand ging. Und wie leidenschaftlich die
Konfessionen einander hassen und bekämpfen mochten — sie haben das Werk
der religiös-sittlichen Erneuerung Europas in Wechselwirkung miteinander
vollbracht. Die protestantische Reform rief die katholische hervor, die sich ihren
Urhebern als das Streben darstellte, die durch den „großen Abfall" gefährdeten
und schon Verlornen Seelen zu retten, und die Schriften der katholischen
Asketen haben lange Zeit hindurch fromme Protestanten zur Nachfolge gereizt.
Tersteegen, der Begründer der Frömmigkeit im Wuppertals, hatte vorzugsweise
Schriften katholischer Mystiker auf sich wirken lassen, darunter die der heiligen
Teresa. Ein Buch Tersteegens hat den Heinrich von Below auf Seehof im
Kreise Stolp „erweckt" und durch diesen jenen ganzen Kreis pommerscher
Junker, aus dem Johanna von Puttkamer in Bismarcks Haus kam. Auf die
Katholiken unsrer Zeit wirken die alten Mystiker und Asketen unmittelbar ein
durch ihre Schriften, die noch immer von ihnen fleißig gelesen werden, Solcher
Lektüre hauptsächlich ist es zu danken, daß die katholische Bevölkerung im
Glauben an das Übersinnliche feststeht und für neumodische materialistische
Evangelien unzugänglich ist.
Personen und Völker, denen eine providentielle Aufgabe zufällt, pflegen
in irgendeiner Weise deren Opfer zu werden. Die mystischen Heiligen des
sechzehnten Jahrhunderts haben den Hang der Spanier zur Phantastik und
ihre Abneigung gegen geordnete, stramme, planmäßige Arbeit verstärkt, zum
Klosterleben angelockt, die Zahl der Klosterleute unmäßig gesteigert und dadurch
zum Niedergange Spaniens beigetragen, während die calvinische Askese Virtuosen
der gewerblichen Arbeit züchtete. Zwar hat Teresa die Gefahren des Kloster¬
lebens gekannt und ihnen vorzubeugen gesucht. Sie fand dieses Leben als
Mode vor und wollte die verderbliche, liederliche Möncherei und nommerai
durch eine heilsame ersetzen, ohne zu Übertreibungen nach der entgegengesetzten
Seite zu verleiten. Sie schrieb in den Abtötungen Maß vor, wurde unwirsch,
wenn Übereifrige und Skrupulanten alles mögliche verbieten und aus jedem
Genuß eine Sünde machen wollten, mahnte zu einer vernünftigen Gesundheits¬
pflege und zur Reinlichkeit in Leib-, Bett- und Tischwüsche. Aus vielen ihrer
Äußerungen ist zu schließen, daß sie selbst ziemlich stark, auch Fleisch, gegessen
hat, was ja bei ihrer anstrengenden Tätigkeit auch notwendig war. Dem
Müßiggang soll in ihren Klöstern nicht gefrönt werden. Wer nicht arbeiten
wolle, solle auch nicht essen, heißt es in ihrer Regel; auch sei die körperliche
Arbeit notwendig, um Versuchungen fernzuhalten. Neben Almosen, die nicht
zu erbetteln, sondern als spontane Gaben zu erhoffen seien, soll der Ertrag
verkaufter Arbeitprodukte ihren Nonnen den Lebensunterhalt liefern. Ihren
Erwerb sollen sie jedoch „nicht aus zierlichen Arbeiten gewinnen, sondern vom
Spinnen oder von jandern dergleichen) Arbeiten, die den Geist nicht so an¬
strengen, daß sie das Denken ganz in Beschlag nehmen und den Aufblick zu
Gott hindern. Es sollen auch nicht Arbeiten von Gold oder Silber sein, und
keine verlange eigensinnig, was man ihr für Arbeit zuleiten soll. Alle sollen
gutwillig die Arbeit übernehmen, die man ihnen übergibt, und wohl bedenken,
daß sie sich auf ihre Arbeit nichts einbilden dürfen." Alles ganz schön, obwohl
das zuletzt angeführte nicht als Sporn sondern nur als Dämpfer der Arbeits¬
lust wirken konnte. Teresa vergaß oder beachtete jedoch nicht, daß ihre eigne
Persönlichkeit wenig geeignet war, die Norm für eine zahlreiche Gemeinschaft ab¬
zugeben. Daß viele Visionen reine Phantasien sind oder „vom Teufel" stammen
(das heißt ins Rationelle übertragen aus Hochmut und Eitelkeit, manchmal
auch aus Lüsternheit), hat sie gewußt. Aber sie hat sich nicht vergegenwärtigt,
daß auf eine Person, der Visionen als Antriebe zu einer nützlichen Tätigkeit
zuteil werden, tausend Personen kommen, bei denen das ganze sogenannte innere
Leben, der vermeintliche Weg zur Vollkommenheit, ein nichtiges Spiel der
Phantasie, ein gefährliches und verderbliches Brüten bleibt, und daß es darum
heißt, die Menschen massenhaft ins Verderben stürzen, wenn man mit der
katholischen Lehre von der Verdienstlichkeit der Klostergelübde Tausende von
Unberufnen zum Eintritt verlockt. Und in Beziehung auf die beschaulichen
Orden, deren Leben durchaus unnatürlich ist, gibt es überhaupt keine Berufnen.
Teresa konnte seelisch gesund bleiben, weil sie in der Zeit ihrer Beschaulichkeit
mit eifrigem Studium, mit der Verarbeitung ihrer außerordentlichen innern
Erfahrungen und deren Niederschrift beschäftigt war (nebenbei hat sie auch
fleißig gesponnen), in der zweiten Periode ihrer Klosterzeit aber, wo sie die
Gründungen in Anspruch nahmen, gar nicht klösterlich gelebt hat; aber der
großen Masse der Karmelitinnen (die männlichen Mitglieder des Ordens können
wenigstens in der Seelsorge aushelfen) ist keine andre Beschäftigung übrig
geblieben als beten, das heißt brüten (denn kein Mensch kann täglich stunden¬
lang beten) und ein bißchen Tändelei wie das Bekleiden und Schmücken von
wächsernen Jesuskindlein und ähnlichen Puppen. Die durch die Ordensregel
vorgeschriebne Handarbeit, die die Seelen noch einigermaßen gesund erhalten
könnte, ist eingegangen, mußte schon aus dem Grunde eingehn, weil das
Spinnen und die Handweberei überhaupt aufgehört haben. Schon Teresa
klagte einmal, daß die im Kloster gefertigte Leinwand keinen Absatz finde. Der
Karmeliterorden hat weder Lebensfähigkeit noch Existenzberechtigung mehr; der
ganz anders geartete Jesuitenorden wird sich noch eine Zeit lang behaupten
einrieb Hart hat einmal in seiner frischen Weise festgestellt, wie
immer wieder durch alle literarischen Zustünde im Wechsel der
Zeit und des Geschmacks zwei Typen hindurchgehn: der Enthusiast
und der Pessimist; jener immer das alte Wort auf den Lippen,
daß es eine Lust sei zu leben — dieser immer bereit, die noch
ältere Mahnung an die Konsuln auszusprechen, sie mögen das Gemeinwohl
vor drohendem Schaden bewahren. In Übergangszeiten voll jäher Ereignisse,
auffälliger Erscheinungen pflegen diese beiden Beherrscher und Verkünder
öffentlicher Meinungen das Feld fast für sich allein zu haben; in ruhigern
Zeitläufen teilen sie es immerhin mit Betrachtern, die sich, von jeder Partei¬
eingenommenheit befreit, bemühen, das Vorhcmdne und Werdende in der
ruhigen Erwartung zu prüfen, daß nach dem Abschwellen der großen Gegen¬
sätze Tüchtiges und Erfreuliches geleistet werden könne. Dabei gebe ich ohne
weiteres zu, daß jene nun einmal hinter uns liegenden Tage stürmischer Er¬
wartung auf der einen, heftiger Verdammung auf der andern Seite auch ihren
großen Reiz haben; und wenn wir heute zum Beispiel in des nun auch schon
verstorbnen Adalbert von Hanstein geschichtlich überaus wertvollen Werk „Das
Jüngste Deutschland" die Entstehung und die Anfänge der jüngsten Bewegung
verfolgen, so kann uns sogar eine leichte Wehmut befallen (trotz allen Un¬
arten solcher Zeit), daß nun gar so viel des Spiritus verflogen ist. Dafür
müssen wir aber immer wieder feststellen, daß. im Gegensatz freilich zum
Drama und zur Novelle, der Roman und die Lyrik heut eine Durchschnitts-
Höhe erreicht haben, auf der manches gute Buch schon die Beachtung nicht
mehr findet, deren es in ürmern Zeiten gewiß wäre; das Versepos scheide
ich aus — es ist durch drei große Dichterpersönlichkeiten zu einer meister¬
haften Vollendung gediehen, steht aber mit ihnen auf einem einsamen Gipfel
für sich.
In der Lyrik ist der Vers im allgemeinen geschmackvoller, der Reim
reiner, der Ausdruck gewählter, oft freilich auch gezierter geworden als früher;
die Wirkung Storms und Liliencrons geht noch immer weiter, auf manche
Jüngere ist Dehmel von großem Einfluß, auf andre Stefan George, der aber
zu schwach ist, als daß er auf den mühsam gezimmerten Balken seiner Kunst
auch noch Fremde tragen könnte, und in der Ballade hat neuerdings Spitteler
wenigstens einen hochbegabten Nachfolger von eigenartigem Stil, den hier
mehrfach charakterisierten Tielo gefunden. Auch Fontanes Balladenart und
die Technik Münchhausens sind wirksam. Dabei aber ist nun unsre jüngere
Lyrik keineswegs nur ein Sammelbecken von Anregungen, sondern sie zählt
auch eine Reihe ganz selbständiger Charakterköpfe, die das Überkommene per¬
sönlich weiter verarbeiten und genug Eignes haben, daß sie als Persönlich¬
keiten erkennbar bestehn bleiben; das schönste Beispiel dieser Art ist Agnes
Miegel.
Diese Dichterin wirkte neben anderm auch dadurch so stark, daß sich in
ihr am deutlichsten unter allen neuern Dichtern Ostpreußens die herbe Gewalt
der eigenartigen Natur dieser Ostmark durch die Kunst ins Leben rang; ihre
Kunst ist große Kunst, die mit tausend Fäden an den Boden der Muttererde
geknüpft ist. Dem stärksten weiblichen Talent, das mir seitdem begegnet ist
— freilich besteht immer noch ein sehr großer Abstand zwischen ihr und Agnes
Miegel —, der Holsteinerin Elisabeth Paulsen würde man kaum ihre engere
Heimat anmerken. Aber ihr Gedichtband „Juugfrauenbeichte" (I. Bensheimer,
Mannheim) ist jedenfalls die Probe einer sehr starken dichterischen Begabung.
Elisabeth Paulsen fehlt schon hier, im ersten Buch fast alles Dilettantische,
sie ist auf jeder Seite ihrer in einem innern Zusammenhang gewordnen und
gegebnen Dichtungen durchaus Künstlerin. Sehr merkwürdig ist ihre Technik:
sie hat wenige und sehr einfache Reime, aber einen natürlichen, fein ins Ohr
fallenden Rhythmus. Stark beeinflußt erscheint sie von Dehmel, hier und da
auch von Nietzsche. Banalitäten fehlen fast völlig, und alle Bilder sind wirklich
geschaut und dann von leichtschasfender Hand hingestellt. Und obwohl hier
nichts mit Hebeln und mit Schrauben abgewonnen ist, öffnet sich der Eingang
zu dieser Kunst nicht so leicht. Etwas schmerzlich Fremdartiges liegt über
vielen dieser Verse, hinter denen eine eigne, die Freiheit suchende, weibliche
Persönlichkeit steht. Und obwohl, wie der für mein Gefühl trotz seiner Wahr¬
haftigkeit nicht schöne Titel es sagt, hier eine volle Beichte abgelegt wird,
fehlt dem Buche durchaus jenes sensationelle Element, an das eine bestimmte
weibliche Schule uus hat gewöhnen wollen; es ist die Beichte einer Seele,
die sich, mit ihrem Meister Dehmel zu sprechen, „in alle Tiefen prüfen"
will, aber aus diesen Tiefen als eine wirkliche Künstlerin und ein echtes
Weib nur Edelgut hervorzuholen weiß. Symbolisch wirkt deshalb der Aus¬
klang des reichen Buches, er trägt wiederum ein Dehmelsches Motto:
Wer die erzählenden Schöpfungen von Ricard« Huch liebt, ja einige von
ihnen für Meisterwerke neuerer deutscher Prosaepik hält, wird nicht ohne leise
Enttäuschung ihre Gedichte aus der Hand legen, die in diesem Jahre in
zweiter, vermehrter Auflage (bei 5). Haessel in Leipzig) zugleich mit einem
Bändchen „Neue Gedichte" (Inselverlag in Leipzig) erschienen sind. Der jungen
Lyrikerin mochten schiefe Bilder, selbst trivale Tropen hingehn, wie sie ins¬
besondre in den kleinen Liebcsreimen nur zu oft vorkommen; der reifen
Künstlerin gegenüber täten wir Unrecht, wenn wir nicht beharrlich auf solche
Mängel, die ihr Werk entstellen, hinwiesen. Wir haben dazu ein um so
größeres Recht, da wir auch in der Lyrik hier und da den echten Herzton
der Dichterin spüren, wie in dem bekannten Gedicht „Sehnsucht" oder in den
Prachtvollen Versen, worin der alte Salomo sein „Alles ist eitel" mit der
ganzen, etwas starren Plastik variiert, die der Verfasserin des „Ludolf Ursleu"
und der „Triumphgasse" eigen ist.
Ein befreundeter Lyriker schrieb mir einmal, es wäre der Fehler so vieler
Kritiker, daß sie beständig annähmen, der Dichter müsse sich in jedem Bande
mit Haut und Haaren geben, anstatt daß sie herausfühlten, wie ein solcher
Reigen von Gedichten nur in geschlossenen Akkorden die Weise eines Lebens¬
kreises ertönen lassen könne. Gerade auch von dieser Anschauung her ist mir der
schmale Band der Neuen Gedichte von Ricarda Huch lieber als der umfangreichere
alte, worin ohne jede künstlerische Gruppierung ein zu buntes Durcheinander
herrscht.
Der Becher klingt; mein Herz ist der Becher;
Trink Liebe, trinke dich satt!
Dieser Auftakt eröffnet das Buch und wird rein durchgehalten, so rein,
daß einige Verstiegenhciten, die auch hier nicht fehlen, den Eindruck des Ganzen
kaum beeinträchtigen können.
Es tut mir leid, aber ich kann mir das Wort Verstiegenheit auch nicht
ersparen gegenüber den „Neuen Gedichten" von Rainer Maria Rilke (Insel-
Verlag); es tut mir deshalb leid, weil ich Rilke für einen der begabtesten
jüngern Lyriker halte, die wir heute haben. Wer Verse gemacht hat, wie sie
zum Beispiel der Band „Mir zur Feier" (1900) enthält, hat so viel zu sagen,
daß er es nicht nötig hätte, Bilder zu brauchen wie dies:
Und legte seine Stirne voller Staub
Tief in das Staubigsein der heißen Hände.
Das ist nicht Reichtum, sondern aufgezierte Sucht nach unnötig aparten
Ausdruck. Wie wenig gerade Rilke so gesuchten Ausdruck nötig hat, auch
wenn er Ungewöhnliches schildern will, beweist ein so wundervoll in sich ge¬
sättigtes Gedicht wie „Die Erblindende".
Und auf gleicher Höhe steht neben manchem andern „Der Panther":
So Wird insbesondre der, der die ersten zweiundzwanzig Seiten geruhig
überschlägt, bei Rilke auf seine Rechnung kommen; nur daß man als Verehrer
dieser feinen Kunst ihrem Schöpfer ein größeres Maß von Selbstkritik wünschen
muß, die bei niemand besser zu erlernen ist als bei unsern Größten, mögen
sie nun Storm oder Groth oder Liliencron oder Dehmel heißen.
Mehr Selbstkritik würde auch die Wirkung der Versbändc von Karl Ernst
Knode erhöhen, von denen wieder einer unter dem Titel „Von Sehnsucht,
Schönheit, Wahrheit« (bei Fritz Eckardt in Leipzig) erschienen ist. Schon in
frühern Bänden dieses spät zur Form gelangten Poeten fiel auf, wie Reifes
und Unreifes durcheinander stand. In stärkeren Maße noch ist dies hier der
Fall. Ich möchte wünschen, daß Knode aus all seinen bisherigen Dichtungen
vielleicht von Freundeshand ein schmales Bändchen ausgewählter Verse zusammen¬
stellen ließe, in denen dann nicht manch natürlich strömendes schönes Gedicht
durch benachbarte Augenblickseinfülle beeinträchtigt würde.
Es ist ja überhaupt der Fluch allzu großer Produktivität, daß sie allmählich
den Maßstab verliert, und insbesondre, wenn sie einmal Erfolg gehabt hat,
selten noch Goldkörner unter der gehäuften Spreu herausbringt. So bin ich
denn mit einem gewissen Bangen an den, wenn ich richtig gezählt habe,
sechzehnten Gedichtband von Maurice Reinhold von Stern, „Donner und Lerche"
(Leipzig, Litcrarischcs Bulletin) herangegangen, fand mich aber angenehm ent¬
täuscht. Stern ist unbedingt ein geschmackvoller und auch temperamentvoller
Lyriker, er holt keine Kristalle heraus, aber er vertritt etwa mit Karl Henckell
eine pathetische Tradition, die im Grunde seit Herwegh niemals abgerissen ist,
und neben deren Trompetentönen hier und da mit leisen, feinen Klängen der
Widerhall eines stillen Abends an der Donau oder in der baltischen Heimat
des Dichters festgehalten wird.
Auch sonst darf man nicht übersehn, wie neben den modernen Einflüssen
und der immer weiter arbeitenden Entwicklung doch die alte Tradition, etwa
auch in der Linie von Geibel her festgehalten wird. Es sind natürlich keine
besonders starken Naturen, die unberührt vom Leben um sie her, aber doch mit
echter Empfindung und nicht etwa als bloße Nachtreter einen kleinen Kreis
umschreiben. Liebenswertes, wenn auch kaum Dauerndes steckt etwa in dem
Bande von Agnes Harder „Vom Rain des Lebens" (Goslar, F. A. Lattmann),
der nach schwachen Liebesgedichten eine Reihe gut geschauter Bilder aus der
preußischen Heimat und aus der Fremde bringt. Und über der liebenswürdigen
Natur, die sich in den „Neuen Gedichten" von Frieda Jung (Königsberg i. Pr,,
Grase und Unzer) offenbart, vergißt man, daß diese anspruchslosen Verse eben
nur Ansätze zur Kunst, aber noch keine Kunst siud.
Wenn ich auch das Buch „Meine Verse" von Franz Lichtenberger (Leipzig,
K. G. Th. Scheffer) nur als Ansätze zur Kunst bezeichnen kann, so hat das
freilich ganz andre Gründe. Lichtenberger will Kunst geben, er ist nicht an¬
spruchslos, aber ihm fehlt noch durchaus die Zucht zur Gestaltung. Wenn
auch beim Lyriker oft Empfängnis und Schöpfung zusammenfallen, so ist es
bei Lichtenberger — ich muß das Paradoxon schon wagen — im Grunde immer
bei der Konzeption geblieben. Einfälle sind noch keine Dichtungen, wenn auch
der Kreis der Zeitschrift Charon, zu dem Lichtenberger anscheinend gehört, uns
das glauben lassen möchte. Es ist nicht einmal ans diesem Buche zu erkennen,
ob Lichtenberger einmal weiter kommen wird; die wenigen versuchten Durch¬
kompositionen (etwa das Gedicht an Dehmel) lassen eher das Gegenteil vermuten.
Sehr viel fertiger und ohne sich nutzlos vom Wege zu verlieren, tritt ein
andrer Junger, Karl Friedrich Nowak, mit einem ersten Gedichtband „Romantische
Fahrt" (Berlin, Concordia Deutsche Verlagsanstalt) auf. Nowak hat hübsche
musikalische Verse, besonders wenn er das Rokoko, die Umwelt seines geliebten
Mozart, gestalten will. So klingt es mit dem sehnsüchtigen Ton eines fernen
Instruments:
Eine Wehmut, die kaum je spielerisch wird, ruht über den Versen Nowaks,
denen seltner Töne eines jugendlichen, jubelnden Glücks entgleiten. Eine Natur,
die ihre Grenzen kennt und innerhalb ihres Gebiets Bescheid weiß, spricht aus
diesen Gedichten, zu deren Vorzügen sich auch der gesellt, daß Nowak immer
aufzuhören weiß, wo sein Stoff es verlangt. Die Verse sind fein gefeilt, ohne
daß dem Rhythmus Gewalt getan wäre.
Der Zufall gesellt diesem Bande einen andern, von dessen Gedichten nur
zu oft das Entgegengesetzte gilt: sie sind zu lang; und sie sind immer noch
nicht zu Ende, wenn das Thema eigentlich längst erschöpft ist. Ich meine das
Buch „An das Leben" von Franz Langheinrich (Leipzig, E. A. Seemann).
Nirgends blickt uns aus diesen Versen ein scharfes Profil um, und ich empfinde
ein gewisses Mißverhältnis zwischen den Bildern, die Max Klinger und Otto
Greiner zu dem auch sonst trefflich ausgestatteten Baude beigetragen haben,
und seinem eigentlichen Inhalt. Wer sich mit Klinger unter einen Schild stellt,
der muß das Leben noch anders zu fassen wissen als nur an der Oberfläche.
Es sind gewiß manche hübsche Verse in dem Bande, aber kaum ein Gedicht,
das nicht schließlich enttäuschte. Und nur vielleicht die bekannten Verse zu
Arnold Böcklins siebzigsten Geburtstag drücken restlos das Gewollte aus:
Es ist bezeichnenderweise das kürzeste Gedicht des Bandes. Und nun
schweigt der ruhige Betrachter, der weder Enthusiast noch Pessimist sein will
und zu sein braucht. Und er läßt das letzte Wort für heute einem stillen, tiefen
Dichter, der also spricht: „Recht eigentlich können auch Künste nur der Seele
eine wahre Lebensflamme sein, deren eigne, heiße Flamme sie lodern machen."
(Carl Hauptmann, Einhard der Lächter I, 259.) Von seinem neuen Buch soll
im Beginn der nächsten Übersicht die Rede sein.
is ich nach Hause kam, fand ich ein Telegramm aus dem Pfarrhause.
Mein Vater war gefährlich krank. Ich ließ alles im Stiche und eilte,
ihn pflegen zu helfen. Mein Bild wurde deshalb nicht auf die Aus¬
stellung gesandt — ich konnte es nicht dahin cibgehn lassen, ohne einen
letzten prüfenden Blick darauf zu werfen und vielleicht hier und da
ein wenig nachzuhelfen. Als ich nach ein paar Monaten in die Stadt
zurückkehrte, war das erste, wozu der Anblick meines Bildes mich anregte, der
Gedanke, wie es wohl mit Qnarriar gehn möge. Ich verließ mein Atelier und
telephonierte an Sir Asser Aaronsberg in dem Londoner Bureau seines großen
Middletoner Geschäfts.
Der — ich vernahm den verächtlichen Ton deutlich dnrch das Sprachhorn — hat
längst umgeschmissen. Es ist gerade so gekommen, wie ich erwartet habe. Mir schien,
als vernähme ich, wie der Philanthrop von Profession triumphierend lachte. Ich war
sehr erregt darüber, und ehe ich meine Fassung wiedergefunden hatte, war der Anschluß
mit Herrn Asser unterbrochen. Am Abend erhielt ich ein Briefchen von ihm, worin
er mir mitteilte, daß Quarriar ein Schuft sei, der aus Rußland habe fliehen müssen,
weil er, ohne die Berechtigung zu haben, spirituösen verkauft hätte. Er hätte nur
zwei, höchstens drei ältliche Töchter; die drei jüngern Kinder seien ein Märchen.
Für den Augenblick war ich sehr betroffen, dann aber kehrte mein voller Glaube
an Israel zurück. Diese drei Kinder sollten eine Erfindung seiner Phantasie sein?
Unmöglich! Ich erinnerte mich zahlloser kleiner Anekdoten über diese Kinder, von
denen er offenbar mit großem väterlichen Stolze sprach. Er hatte mir sogar die drolligen
Bemerkungen wiederholt, die die Jüngste gemacht hatte, nachdem sie zum erstenmal in
einer englischen Schule gewesen war. Es war doch ganz unmöglich, solche Dinge zu
erfinden. Nein, ich konnte unmöglich an der Wahrheit der Erzählungen meines
Modells zweifeln, besonders da er in jenen Tagen, wo er bei mir verkehrte, keinen
Grund hatte, das Geringste von mir zu erwarten, und mich jedenfalls niemals um
irgend etwas gebeten hatte. Ich erinnerte mich deutlich jener tragischen Episode, wie
er beschrieb, daß sich diese drei Kleinen, nachdem sich eine mitleidige Seele ihrer
erbarmt hätte, als der eigne Vater sie besuchen kam, ängstlich versteckt hatten, weil
sie fürchteten, wenn er sie wieder mitnähme, würden sie Hunger und Kälte erdulden
müssen. Wenn Quarriar solche Dinge erfinden konnte, so war er ein Dichter, denn
in der ganzen das Elend hungernder Armut schildernden Literatur erinnerte ich mich
keiner so packenden Stelle.
Ich ging zu Sir Asser. Er sagte, Quarriar habe, als Conn von ihm gefordert
habe, daß er die Kinder vorführe, das verweigert. Ebenso habe er abgeschlagen,
darauf bezügliche Fragen zu beantworten. Ich fand, daß er da ganz im Rechte
sei. Man sollte den Mann nicht durch so lächerliche Beschuldigungen beleidigen,
sagte ich. Sir Asser lächelte fein und verbarrikadierte sich wie gewöhnlich hinter
einer undurchdringlichen Mauer von offiziellem Mißtrauen und Pessimismus.
Ich schrieb Quarriar, daß er sofort auf mein Atelier kommen möge. Er kam
auch gleich mit gesenktem Haupte zu mir. Seine Züge waren noch bleicher und
kummervoller geworden, man sah ihm an, daß er schwer gelitten hatte. Ja, es war die
Wahrheit, mit dem Sortieren war es vorbei. Die ersten Wochen war alles sehr gut
gegangen. Er hatte selbst die Lumpen aufgekauft und hatte dem ihm von Conn auf¬
gezwungnen Geschäftsteilnehmer verschiednemale Geld gegeben, damit er dasselbe tue.
Sie hatten zusammen gearbeitet und zu diesem Zweck einen Keller gemietet, zu dem
sein Associe" den Schlüssel hatte. Es war im Anfang alles so glatt und gut ge¬
gangen, daß er sogar den Reservefonds von sieben Pfund Sterling, den ich ihm
gegeben hatte, in das Geschäft gesteckt hatte. Er hatte nicht den kleinsten Verdacht
mehr gehegt, da man den Gewinn wöchentlich teilte — jeder bekam gewöhnlich
siebzehn Schilling —, der ganze Keller war voller Vorrat, den sie gemeinschaftlich
eingekauft hatten. Aber als er dann eines Morgens an die Arbeit gehn wollte, fand
er den Arbeitsraum abgeschlossen, und als er nach der Wohnung des Geschäftsteil¬
nehmers ging, um eine Erklärung dafür zu fordern, lachte ihn der Mann aus. Er
behauptete, daß der ganze Vorrat im Keller jetzt ihm gehöre, denn Quarriar habe
nicht nur das Anlagekapital für sich verbraucht, sondern außerdem auch den ihm
zukommenden Anteil des aus dem Verkaufe der Lumpen gezognen Profits.
Außerdem war dieses Geld nicht Ihr Geld, war das fernere Argument dieses
Schurken, und warum sollte ich nicht ebensogut wie Sie aus der christlichen Einfalt
Nutzen ziehn?
Conn glaubte unbedingt nur seinem Manne, denn man hatte die Bedingungen
nicht schriftlich vereinbart, sondern nur mündlich, und die Aussage Quarriars war in
direktem Widerspruche mit der von Conus Vertrauensmann. Dieser war es auch, der
die elende Beschuldigung aufgebracht hatte, daß die drei jüngern Kinder nicht existierten,
und der Conn diese Verleumdung in die Ohren gehängt hatte. Aber Gott sei Dank,
die lieben Kleinen waren wohlauf, er hatte sie, sobald es ihm besser ging, natürlich
nach Hause geholt. Nun aber, da er wieder aussichtslos in die Zukunft sah und
nichts zum Leben hatte, war er froh gewesen, sie wieder seinem gastfreien Landsmann
Nathan Beck anvertrauen zu können.
Sie könnten mir die Kleinen ganz entschieden vorführen? fragte ich.
Er sah mich traurig an, mein Mißtrauen kränkte ihn. Mein Glaube an seine
Rechtschaffenheit, sagte er, sei das Einzige in dieser Welt, worauf er Wert legte. Ich
entließ ihn mit einer Kleinigkeit, nur gerade genug, ihn für die nächste Woche über
Wasser zu halten; ich war fest entschlossen, daß der ehrliche Name dieses armen
Mannes gerettet werden solle. Der niederträchtige Geschäftsteilnehmer mußte entlarvt
und die Augen meines wohltätigen Freundes und Conus endgiltig geöffnet werden;
sie mußten davon überzeugt werden, daß man sie getäuscht, und sie sich daher einer
Ungerechtigkeit schuldig gemacht hatten. Wieder schrieb ich meinem Freunde. Wie
gewöhnlich antwortete Sir Asser freundlich und ohne das geringste Zeichen von
Ungeduld. Ob es mir nicht möglich sei, Quarriar zu veranlassen, so deutlich und
klar wie möglich schriftlich mitzuteilen, wie sich denn eigentlich die ganze Sache zu¬
getragen habe?
Ich forderte Quarriar also auf, einen solchen Bericht herzustellen, und er sandte
mir dann eine in verquicktem Englisch — wahrscheinlich das des Hauswirth — ge-
schriebne Erklärung.
Dieser Erklärung stellte mein philanthropischer Freund die Aussage des Geschäfts¬
teilnehmers gegenüber. Er wäre bereit, in Quarriars Gegenwart die Wahrheit seiner
Aussagen zu beweisen und Quarriar der Lüge und des groben Betrugs zu über¬
führen. Was die Angelegenheit mit den Kindern beträfe, so fordre er Quarriar
auf, diese vorzuführen.
Vergebens versuchte ich, Licht in diese verworrene Angelegenheit zu bringen.
Meine Gedanken schwirrten durcheinander. Mir schien, als ob kein Gerichtshof,
und wenn er noch so scharfsichtig sei, bis auf den Grund dieser Sache dringen
könne. Die Namen der aufgeführten Zeugen waren ein Beweis dafür, daß zwei
feindliche Parteien einander gegenüberstünden, und daß Quarriar ganz gewiß nichts
ohne seine Ratgeber unternahm.
Diese ganze Affäre sing an sehr unangenehm für mich zu werden, ich wurde
von einander widersprechenden Gefühlen bewegt und schwankte zwischen der Furcht,
betrogen zu werden, und der Überzeugung, daß ich Quarriar durchaus ver¬
trauen müsse.
Wie sollte man in einer so verwirrten Angelegenheit das Falsche von dem
Wahren erkennen? Doch war mein Interesse für Quarriar so groß, daß ich mich
nicht zufriedengeben konnte, bis ich zu erforschen gesucht hatte, ob er ein Apostel oder
ein Ananias sei. Ich war also nun selbst ein Lumpensortierer geworden, der in
schmutzigen Dingen wühlte! War hier ein schwarzer, dort ein weißer Lumpen,
oder waren beide Lumpen gleich unsauber? Was die Kinder betraf, so müßte es
doch eigentlich ganz leicht sein, festzustellen, ob ein Mann fünf oder zwei Töchter
hatte; aber je mehr ich über die Sache nachdachte, um so verwickelter erschien sie
mir. Selbst wenn er mir drei kleine Mädchen vorführte, würde es für mich doch
ganz unmöglich sein, darüber zu entscheiden, ob sie wirklich die Kinder meines
Modells wären. Das Urteil des Salomo, der das Kind in zwei Stücke wollte
hauen lassen, um zu sehen, wessen Herz dadurch gerührt wurde, konnte ich nicht
wohl in Anwendung bringen.
Sogar angenommen, daß Israels Geschichte in diesem Punkte nicht auf Wahr¬
heit beruhe, was sollte man von den andern Dingen denken? War denn Kazelias
auch bloß ein Mythos? Ist die zweite Tochter überhaupt nach Hamburg gereist?
War es nur ein schlauer Kniff seitens des Hauswirth, mich in seiner guten Stube
zu halten, um die nötige Zeit zu gewinnen, aus den Dachstuben alle Spuren
von Behäbigkeit wegzuräumen? Wo blieben denn die silbernen Leuchter? Diese
und ähnliche Fragen umwogten und quälten mich. Dann tauchte aber vor mir
die wundfüßige Gestalt auf dem Pflaster von Brighton auf. Mir kamen die
Monate in Erinnerung, die er fast ganz mit mir verlebte, wie auch unsre zahl¬
losen Unterhaltungen. Und als sich der Mann der Schmerzen von meiner eignen
grundierten Leinwand vorwurfsvoll vor meinen Blicken erhob, sein edles Haupt
niedersenkend, so kehrte mein unerschütterter Glaube an seine Würde und Redlich¬
keit zurück.
Ich besuchte Sir Asser — ich mußte nach dem Unterhause gehn, um ihn zu
treffen. Praktisch, wie er ist, wußte er sofort, was unter diesen Umständen ge¬
schehen müsse. Er bestimmte einen Termin, an dem sich alle Beteiligten in seinem
Bureau zu versammeln hätten; er selbst, ich, Conn, Quarriar und sein Partner
sowie alle Zeugen, die beide Parteien aufbringen wollten. Vor allem aber mußte
Quarriar die drei Kinder mitbringen.
Als ich in mein Atelier zurückkam, fand ich dort Quarriar, der auf mich ge¬
wartet hatte. Er war gekommen, um mir sein Herz auszuschütten und sich bitterlich
darüber zu beklagen, daß gegen ihn intrigiert wurde. Die Luft erschiene ihm so
erfüllt von Verräterei, daß er kaum zu atmen wage. Er fürchtete, daß sich sogar
seine Freunde, aus Furcht, Sir Asser und Conn zu beleidigen, gegen ihn wenden
würden. Selbst sein Hauswirt hatte gedroht, ihn hinauszuwerfen, weil er in den
letzten zwei Wochen außerstande gewesen wäre, die Miete zu bezahlen.
Ich sagte ihm, daß er einen Brief erwarten könne, in dein er auf Sir Ashers
Bureau bestellt würde, daß er mich da auch finden würde, und daß ihm da Ge¬
legenheit werden sollte, sich zu rechtfertigen und Auge in Auge mit seinem be¬
trügerischen Partner sein gutes Recht festzustellen. Er ging freudig auf diesen
Vorschlag ein, versprach zu kommen und die drei Kinder mitzubringen. Ich leerte
meine Börse in seine Hand, es waren drei bis vier Pfund darin, und er versprach
mir, daß er nun, wenn er ganz aus all diesen Unannehmlichkeiten heraus sei, frisch
aufangen wolle. Er verstünde ja jetzt das Geschäft und würde seinen Weg als
Lumpensortierer sicher machen. So schied diese königliche Gestalt von mir.
Das nächste Dokument, das ich in dieser og.usf oslvdro erhielt, war ein Brief
von Conn, der mir mitteilte, daß er alle Vorbereitungen zu der großen Zusammen¬
kunft getroffen habe.
Sir Ashers Privatzimmer wird Ihnen zu dieser Untersuchung zur Verfügung
stehn. Der Fragebogen, den Quarriar deutlich ausgefüllt hat, läßt kaum Zweifel
an seiner Schuld. Der Geschäftsteilnehmer wird dort sein, und ich werde Quarriars
Hauswirt auffordern, sich ebenfalls einzustellen, wenn Sie dies für notwendig
halten. Ich füge hinzu, daß ich Grund habe, ganz gewiß zu sein, daß Quarriar
gar nicht vorhat zu erscheinen. Er wird es versuchen, auf irgendeine Weise die
Verabredung nicht einzuhalten.
Ich schrieb sofort ein paar Worte an Quarriar und erinnerte ihn daran, daß
es absolut notwendig sei, mit den Kindern zu kommen, selbst wenn sie deshalb
die Schule versäumen müßten.
Ich gebe seine Antwort wörtlich wieder:
Bezugnehmend auf Ihren werten Brief, so danke ich Ihnen vielmals für die
Mühe, die Sie sich meinetwegen gegeben haben. Es tut mir leid, Ihnen sagen
zu müssen, daß ich mich weigere, vor dem Komitee zu erscheinen, das Sie zusammen¬
gerufen haben, da ich einen anonymen Brief erhalten habe, der mich davor warnt,
die Wahrheit zu sagen, und der mich mit Unglück und Leid bedroht, wenn ich es
dennoch wagen wollte. Es steht auch ganz fest, daß dieser Herr der Wahrheit
nicht bedarf. Er hilft mir, wem er helfen will. Deshalb werde ich nicht kommen
und wünsche, daß Sie, mein lieber Herr, sich auch nicht bemühen, hinzugehen.
Deshalb, wenn Sie mir zu helfen wünschen, ist es sehr gut und werde ich Ihnen
sehr dankbar sein, und wenn nicht, werde ich auch ohne Ihre Hilfe fertig werden
und nur auf des Allmächtige» Beistand vertrauen. Bitte also sich nicht weiter
meinetwegen zu bemühen, da ich nichts riskieren will. Ich bin Ihr gehorsamer
?. L. Am letzten Mittwoch war ein Mann bei meinem Hauswirt, der ihn
nach mir ausfragte und ihm zuletzt sagte, daß ich so aussage» müsse, wie man es
mir befehlen würde und nicht, wie ich es möchte. Ich füge den Brief bei, den
ich erhalten habe, er ist in jidischer Sprache geschrieben. Bitte, zeigen Sie ihn
keinem Menschen, sondern zerreißen Sie ihn, sobald Sie ihn gelesen haben, da ich
ihn keinem andern anvertrauen möchte. Ich möchte gern auf das Bureau kommen
und Ihren Rat befolgen. Aber mein Leben ist mir lieber. Deshalb sollten Sie
sich auch nicht bemühen hinzugehen. Ich fürchte, Ihnen für Ihre freundliche Hilfe
undankbar zu erscheinen; handeln Sie in Zukunft, wie Sie wünschen.
Dieser Brief erschien mir entscheidend. Ich bemühte Herrn Conn nicht, den
in Jidisch geschriebnen Brief für mich zu übersetzen. Ich war überzeugt, daß
Qnarriar selbst die düster-romantischen Phrasen diktiert hatte. So viel Intrigen,
Verwicklungen, Verrätereien und Kriegslisten in einer so einfachen Sache! Wie es
nur möglich war, daß Quarriar im Ernste dachte, ich würde seinen Worten glauben!
Mit meinem Verdruß über diese Affäre mischte sich ein gewisser Ärger darüber,
daß Quarriar mich für so dumm gehalten hatte.
Bei ruhigern Nachdenken sagte ich mir, daß er wie ein richtiger Russe ge¬
schrieben, der noch ganz mittelalterliche Begriffe hatte. In dem ersten Augenblicke
hatte ich nur die Empfindung, daß ich hintergangen und meine Güte mißbraucht
worden sei. Monate hindurch hatte dieser Mensch mir etwas vorgelogen. Tag
für Tag hatte er mich mit Unwahrheiten umsponnen. Ich hatte geglaubt, soviel
Menschenkenntnis zu besitze», daß ich gar nicht daran zweifelte, er würde mit seinen
drei jüngern Kindern erscheinen, jeden geforderten Beweis darbringen und voll¬
ständig rein und triumphierend aus dieser Affäre hervorgehn. Mein verletzter Stolz,
mein Zorn, so niederträchtig betrogen zu sein, regten mich derartig auf, daß ich
nahe daran war, das von meiner Leinwand hcrabblickende königliche Dulderantlitz
endgiltig zu zerstören. Aber es sah mich so traurig und mit solcher süßen Würde
an, daß ich die schon ausgehöhlte Hand zurückzog und beinahe geneigt war, trotz
alledem den Glauben an Quarriars Rechtschaffenheit nicht sinken zu lassen. Ich
fing an, Entschuldigungen für ihn zu suchen, stellte mir vor, wie seine Nachbarn,
die besser als er menschenfreundliche Herzen auszunützen verstanden, auf ihn ein-
gedrängt haben mochten. Man hatte ihm zweifellos gesagt, daß nur zwei Töchter
keinen Eindruck auf die kieselharter Herzen der Vertreter bureaukratischer Wohl¬
tätigkeit machen würden, daß, um sie zu erweichen, er die Zahl seiner Kinder ver¬
mehren müsse. So war er allmählich in ein Netz von Unwahrheiten verstrickt
worden, aus dem, obwohl seine bessere Natur davor zurückbebte, es doch kein Ent¬
weichen gab. Dann fiel mir ein, daß er auch in Rußland einen ungesetzlichen
Beruf verfolgt hatte, daß er ferner einem Freunde geholfen hatte, vom Militär
freizukommen. Mein Mißtrauen erwachte aufs neue. Aber es war, als sähe das
ernste Antlitz mich vorwurfsvoll an, es schien, als wolle es dem, der es geschlagen,
mich die andre Wange darreichen. Ungesetzlicher Beruf! Nein; es ist das Gesetz
selbst, das grausame, unmögliche Gesetz, das, indem es den Juden alle Erwerbs¬
quellen abschneidet, sie dazu zwingt, es zu übertreten! Es war das Land, wo es
illegal zuging — dieses grausame Land, dessen Grenzen man nur durch Beamten-
bcstechung und Betrug überschreiten konnte, das aus Quarriar eiuen Betrüger ge¬
macht, wie aus allen schwachen Menschen, wenn sie um das nackte Leben kämpfen
müssen. Allmählich lernte ich milder denken. Ich zweifelte nicht daran, daß das,
was er mir über seine traurigen Fahrten von Rußland nach Amsterdam und
London und dann von dort nach Brighton erzählte, im allgemeinen wahr war.
Aber selbst wenn er schuldlos wie eine Taube sein sollte, so erschien die Schlechtig¬
keit Kazelias, die seines Geschäftspartners, seiner Brüder in Israel und im Exil
darum nur um so dunkler und verwerflicher.
So geschah es, daß die Vision des „Mannes der Schmerzen", die mir beim
Schaffen meines Bildes vorschwebte, allmählich eine andre Gestalt annahm. Ich
ergriff meinen Pinsel, nahm hier und da eine kleine Änderung vor, bis plötzlich
das Antlitz des „Mannes der Schmerzen" eiuen verschlagnen und schuldbewußten
Ausdruck annahm. Als ich dann zurücktrat, um mein Werk anzusehen, war ich
überrascht von der fast photographischen Ähnlichkeit, die es jetzt mit meinem Modell
hatte. Denn dieser Ausdruck der Schuld war immer darin gewesen, obwohl ich
ihn nicht zu deuten gewußt und deshalb unbewußt ausgemerzt hatte. Nun, da ich
ihn vielleicht etwas übertrieben, hatte ich, wenn ich mich so ausdrücken darf, vielleicht
nach der entgegengesetzten Richtung idealisiert. Je länger ich aber grübelnd vor
diesem neuen Antlitze stand, um so mehr erkannte ich, daß diese Rückkehr zu größerer
Einfachheit und wahrem Realismus mir dazu verhalf, ein vollkommenes Kunstwerk
zu schaffen. Denn wahrlich, das ist das Hochtragische des Schicksals der Kinder
Israel, daß ein Volk, das in erhabner Weise allen Stürmen getrotzt, dabei zugleich
in den Kot gezerrt und tief verdorben wordeu ist. Es ist König und — Sklave
in einer Person! Zweitausend Jahre hat Israel den Verlust des Vaterlandes, den
Druck der Verfolgung erlitten, dabei sind seine Kleider zerrissen und seiner Seele
ist ein Brandmal aufgedrückt worden.
Volle zweitausend Jahre nur für eine Idee zu leiden, ist ein Privilegium,
das der Herr nur den Kindern Israel, dem Volke Gottes, verliehen hat. Das
wäre an sich keine Tragödie, sondern ein heroisches Epos, wie der Prophet Jesaias
es verkündete. Die wahre Tragödie, der schwerste Kummer liegt in dem Martyrium,
daß Israel seiner Leiden unwürdig geworden ist. Ein Sinnbild des Volkes
Israel — dieses Tragöden auf den Kothurn des Komödienspielers — ist es, das
ich in meinem „Manne der Schmerzen" darzustellen versucht habe.
Schon in der vorigen Woche hatten wir feststellen müssen, daß der Kampf
um die preußischen Lciudtagswahlen diesmal ein ganz besondres Gesicht hat. Vor
einigen Monaten konnte vielleicht der Eindruck bestehn, als werde sich ein leb¬
hafter und spannender Kampf um das Wahlrecht entwickeln. Aber um große
Fragen handelt es sich jetzt überhaupt nicht. Von zwei großen Schlachtlinien, die
gegeneinander anrücken, um ihren politischen Prinzipien zum Siege zu ver¬
helfen, ist nichts zu spüren. Die Schlacht ist in eine Reihe von Einzelgcfechten
aufgelöst. Mau muß sich, um eine Vorstellung von der wirklichen Lage zu er¬
halten, jeden Wahlkreis besonders betrachten. Da sucht jede Partei zu erHaschen,
was sie bekommen kann. So bekämpfen sich an einer Stelle Konservative und
Freikonservative, um anderswo Schulter an Schulter znsammenznstehn gegen einen
Nationalliberalen. Dann gibt es wieder Wahlkreise, in denen sich die Konservativen
freisinniger Hilfe erfreuen gegen einen Zentrumsmann, während nicht weit davon
ein konservativ-klerikales Bündnis einem Freisinnigen gegenübertritt. Es herrscht
also ein allgemeines Durcheinander der Parteien, worin als leitender Gedanke nur
das Bestreben hervortritt, die zufälligen Aussichten der Parteien in den einzelnen
örtlichen Verbänden nach Möglichkeit auszunutzen, um Mandate zu erlangen. Von
einer Wahlparole hört man überhaupt wenig. Das Zentrum hat sich allerdings
für die Übertragung des Reichstagswahlrechts auf Preußen ausgesprochen, läßt sich
aber dadurch nicht hindern, hier und da mit den Konservativen zusammenzugehn.
die eine solche Übertragung ganz entschieden ablehnen. Ebenso tritt in dem Ver¬
halten der Nationalliberalen dieser Punkt völlig in den Hintergrund. Die National¬
liberalen verlangen bekanntlich eine durchgreifende Reform des preußischen Wahl¬
rechts, haben sich aber uicht. wie die Freisinnigen, für die Übertragung des
Reichstagswahlrechts ausgesprochen. Die zwingende Not, Mandate zu erringen,
läßt diese vermittelnde Stellung jedoch in der Wahlrechtsfrage wenig zum Ausdruck
kommen. Sie haben sich eben hier mit den Konservativen, dort mit den Freisinnigen
verbünden müssen.
Wenn man über die Rolle, die die Wahlrechtsreform in diesem Wahlkampfe
spielt, etwas aussagen soll, so kann es nur das eine sein, daß diese Frage einen
hemmenden und lähmenden Einfluß ans die Bewegungsfreiheit der Parteien ausübt,
die sich darauf eingelassen haben. Daß die Frage auf dem liberalen Programm
steht, daß innerhalb der Agitationstätigkeit der Parteien auch dafür gewirkt wird,
läßt sich natürlich nicht anfechten. Aber die Angelegenheit so zu unrechter Zeit in
den Vordergrund zu schieben, war ein Fehler. Das haben wir schon früher oft
genug betont: der jetzige Verlauf des Wahlkampfes in Preußen zeigt, wie sehr wir
mit diesem Hinweis Recht hatten. Nach den großen und pomphaften Ankündigungen
über die Reformbedürftigst des preußischen Wahlrechts kann die Unmöglichkeit, mit
dieser Wahlparole praktisch etwas anzufangen, nur einen komischen Eindruck mache».
Der einzige praktische Erfolg des ganzen Reformgeschreis besteht nur darin, daß sich
die Konservativen trotz deu Erfolgen der Blockpolitik im Reiche von jeder Ver¬
pflichtung, bei den preußischen Landtagswahlen auf die Liberalen Rücksichten zu
nehmen, ganz und gar entbunden fühlen. Auf der andern Seite dient die selbst-
Keschnffne Verlegenheit der Liberalen den Sozialdemokrnten als bequemes Agitntions-
mittel. Die Sozialdemokratie wirft sich — so soll es aussehen - für das „entrechtete"
Volk in die Bresche, die die Liberalen nicht zu benutzen verstanden haben.
Dazu haben sich die Freisinnigen gegen die abtrünnigen Freunde zu wehren,
die „Sozialliberalen", die ihnen jetzt nnter Führung von Dr. Theodor Barth das
Leben sauer machen. Die Versuche dieser Richtung, mit den Sozialdemokraten zu¬
sammen für die Freiheit, die sie meinen, zu arbeiten, sind daran gescheitert, daß
die Sozialdemokraten selbst von diesen aufdringlichen Freunden nichts wissen wollen.
Die Sozialdemokratie will in dem Kampf gegen den Liberalismus überhaupt un¬
behindert sein; denn für sie fäugt die „Reaktion" bereits bei Theodor Barth an.
Wenn sie sich aber schon entschließen könnte, mit irgendeiner Gruppe der bürger¬
lichen Demokratie gemeinsame Sache zu machen, dann würde sie es am aller¬
wenigsten mit den Sozialliberalen tun, die bisher noch jede Sache, an der sie ge¬
arbeitet haben, bis in den Grund und Boden ruiniert haben. Da sich die Sozial¬
liberalen von den Genossen auf der äußerste» Linken zurückgewiesen sehen, so bleibt
ihnen nur das angenehme Geschäft, gegen ihre bisherigen Parteigenossen und be¬
sonders gegen die freisinnige Volkspartei zu Hetzen und ihnen mit abfälligen Kri¬
tiken und Sonderkandtdaturen in den Rücken zu fallen. Wir wollen zu ihrer Ehre
annehmen, daß sie es ungern tun, aber sie müssen es tun, weil sonst ihr ganzes
politisches Dasein keinen Sinn und Zweck hätte. Da die organisierten Freisinnigen
nach der Meinung dieser politischen Separatisten mit Leib und Seele der Reaktion
verfallen sind, und der Liberalismus allein im Lager Barths zu finden ist, wie
einst Österreich im Lager Radetzkhs, so stehn die Sozialliberalen nun hinter ihren
ehemaligen Freunden wie der böse Geist hinter Gretchen in der Kirche: Wie anders
wars auch, als ihr noch voll Unschuld zum Altar der Volksfreiheit tratet und aus
dem Parteikatechismus Phrasen taillee! Aber die Leute von der Freisinnigen Volks¬
partei sind verstockter als das arme Gretchen; es macht auf sie gar keinen Ein¬
druck, daß ihnen ihre Sünden vorgehalten werden, denn sie wissen, daß sie damit
ihrer Sache dienen, während die unzeitigen Mahner immer das Gegenteil erreichen.
Immerhin ist es eine große Erschwerung für eine Partei, beständig mit der Disziplin¬
losigkeit im eignen Lager kämpfen zu müssen.
Unterdessen nutzt das Zentrum auch bei dem Landtagswahlkampf nach Mög¬
lichkeit die Idee der Blockpolitik aus, obwohl diese eigentlich bei den Wahlen,
wie wir gesehen haben, gar keine Rolle spielt. Aber es ist beqnem für die Partei,
auch hier an der Idee festzuhalten, daß das Zentrum von den Konservativen und
den Liberalen gemeinsam angefeindet werde. Die Stimmung, die der Stellung des
Zentrums in der Reichspolitik entspricht, soll allgemein unter den Wählern fest¬
gehalten werden. Das Zentrum hat dazu das alte bewährte Rezept, daß es den
Gegnern kulturkämpferische Neigungen unterschiebt und die katholische Religion in
Gefahr erklärt. Indem die Begriffe Zentruni und Katholizismus einfach als gleich¬
bedeutend angenommen werden, wie das ja auch sonst bei jeder nur möglichen
Gelegenheit trotz der Versicherung, das Zentrum sei eine politische Partei, geschieht,
wird mit beispiellosem Zynismus das Interesse der Partei über das vaterländische
Interesse gestellt. Darum hat sich das Zentrum auch auf der ganzen Linie mit den
Polen verständigt. Die rücksichtslosen Vorstöße des polnischen Radikalismus gegen
die deutscheu Zentrumswähler, namentlich in Oberschlesien, hatten die Verständigung
zeitweilig in Frage gestellt. Aber übermäßige nationale Empfindlichkeit, wo sie nicht
durch besondre Parteizwecke gefordert wird, ist niemals die schwache Seite des
Zentrums gewesen. Was erwartet werden mußte, ist denn auch schnell genug ein¬
getreten. Den Polen wurde alles vergeben und vergessen. Hatte doch das Zentrum
schon durch seiue Haltung bei der Beratung des Enteignungsgesetzes und des
Vereinsgcsetzes den Boden für die Versöhnung bereitet. Unter dem Vorwande, daß
die Bekämpfung des Polentums nur die geplante Protestantisiernng der Ostmarken
verschleiern solle, unterstützt das Zentrum jetzt bei den Wahlen offen die Polen
gegen die deutschen Landsleute. Leider ist das freilich nichts neues, weil auch bei
frühern Wahlen die Lage die gleiche gewesen ist. Nur werden wohl die Parteiführer
die Erfahrung machen müssen, daß die deutsche katholische Bevölkerung der Ost¬
marken jetzt über das wahre Wesen und die Bestrebungen der Polen sehr viel besser
aufgeklärt ist als früher.
In der auswärtigen Politik beherrschen die Erörterungen über das künftige
Verhältnis Englands, Frankreichs und Rußlands immer noch das Feld. Während
die Vorbereitungen zu der Nevaler Zusammenkunft zwischen König Eduard und
Kaiser Nikolaus getroffen werden, hat Präsident Fnllieres zur Eröffnung der englisch¬
französischen Ausstellung in London seineu ersten offiziellen Besuch auf englischem
Boden abgestattet. Er ist von König Eduard und dem englischen Volke mit der
Wärme und Herzlichkeit aufgenommen worden, die der bestehenden I-'»w>,la oorciiais
zwischen beiden Mächten entspricht. Wir dürfen uns durchaus nicht verhehlen, daß
die Temperatur dieses Empfanges um mehrere Grade wärmer war, als es den
Gewohnheiten internationaler Gastfreundschaft, die man in England in vorbildlicher
Weise zu üben versteht, entspricht. Aber die darauf folgende» Kommentare der
öffentlichen Meinung haben einen etwas eigenartigen Verlauf genommen. In Frank¬
reich wurde die Frage aufgeworfen, ob sich die MtMts oorclials vielleicht zu einem
förmlichen Bündnis umgestalten lasse. Man kann es als ein Zeichen der Zeit be¬
trachten, daß bedeutende Organe der französischen Presse mit der größten Offenheit
und Unbefangenheit die Möglichkeit kriegerischer Verwicklungen mit Deutschland als
den selbstverständlichen Ausgangspunkt des ganzen Gedankenganges hinstellten. Aber
vielleicht ebenso bezeichnend ist, daß dieser Lieblingsgcdanke der Franzosen einen
großen Teil seines berauschenden Einflusses auf das gallische Blut eingebüßt hat.
Besondres Aufsehen haben die Betrachtungen des Temps erregt. Sie bewegen sich
ganz in der soeben angedeuteten Richtung. Der erste und Nächstliegende Gedanke,
an den, jede politische Frage gemessen wird, ist: Welchen Vorteil hat Frankreich
davon bei einem Kriege mit Deutschland? So geschieht es auch in diesem Falle.
Der Franzose denkt bei einem Bündnis mit England zunächst nicht an die Ver¬
hältnisse im Mittelmeer oder in Afrika, wo sich die weltpolitischen Einflußsphären
der beiden Mächte berühren, er denkt auch nicht an etwa zu erlangende handels¬
politische Vorteile oder ähnliches, sondern ihn beschäftigt nur die Frage, was ihm
die Sache in einem Kriege mit Deutschland nützen könnte. Aber er prüft auch diese
ihm besonders am Herzen liegende Frage nüchtern und geschäftlich und kommt zu dem
Schluß, daß das englische Landheer für die Erfüllung der französischen Wünsche nicht
ausreicht. Die Betrachtungen des Temps mündeten geradezu in die Aufforderung an
England aus, sein Heer zu reformieren, damit Frankreich ausreichende Unterstützung
gegen Deutschland erhalten könne. Die fast einhellige Antwort der englischen Presse
mif diese Aufforderung war, wie man erwarten mußte, eine entschiedn« Ablehnung.
Selbst die konservative und sogar die ausgesprochen deutschfeindliche Presse lehnt es
begreiflicherweise ab, sich in der auswärtigen Politik in solcher Art festlegen zu lassen
und offen auf eine bestimmte kriegerische Verwicklung hinzuarbeiten. Die englischen
Blätter erklärten sich für enge und freundschaftliche Beziehungen zu Frankreich, aber sie
wollen auch mit andern Mächten in Frieden und Freundschaft leben. Mau möchte
freilich bei der Naivität dieser Erörterungen glauben, daß sie nicht ernst zu nehmen
sind und einen Nebenzweck decken sollen. Es scheint beinahe, als ob die ungewöhnlich
plumpe Art, wie sich ein Blatt von dem Ansehen des Temps von englischer Seite eine
Zurückweisung holte, den Zweck verfolgte, kriegerischen Strömungen in Frankreich,
die der Regierung unbequem zu werden anfangen, zu einer gewissen Ernüchterung
M verhelfen. Für uns werden alle diese Äußerungen kaum dazu dienen, eine
Revision unsrer Auffassungen vorzunehmen. Wahrheit ist, daß das Bedürfnis der
gegenwärtigen englischen Politik sehr stark dahin geht, alle Gegensätze, die irgendwie
die englische Weltstellung in Mitleidenschaft ziehen könnten, nach Möglichkeit aus-
zugleichen. Überlegt man sich genau, was den Lebensnerv der heutigen englischen
Weltstellung am empfindlichsten treffen könnte, so wird man sich sagen müssen, daß
dies eine Differenz mit Frankreich wäre. Deshalb ist, seit Amerika zu einer selb¬
ständigen Weltpolitik übergegangen ist, und seit sich die Machtverhältnisse im Stillen
Ozean so ganz anders als früher gestaltet haben, der Grundzug der englischen
Politik auf die Verständigung mit Frankreich gerichtet. Aber England wäre töricht,
wenn es dieses für seine weltpolitischen Zwecke heute dringend notwendige Ein¬
verständnis so weit triebe, daß es sich zum Handlanger für die kontinentalen
Interessen Frankreichs machte. Aus diesem einfachen sachlichen Grunde halten wir
die Meinung für falsch, daß England die Freundschaft mit Frankreich pflegt, um
feindselige Hintergedanken gegen Deutschland ausführen zu können. Ähnlich sind
es Rücksichten der asiatischen Politik, die England veranlaßt haben, eine Verständigung
mit Rußland zu suchen. Und daß es, so wie die Dinge nun einmal liegen, die
Duke-mes ovi'auto mit Frankreich als Mittel benutzt, um diesen mühsam hergestellten
Beziehungen einige Festigkeit und Sicherheit zu geben, muß als beinahe selbstver¬
ständlich erscheinen. So braucht uns die englische Politik allerdings keine un¬
mittelbare Beunruhigung einzuflößen. Aber wir können uns auch nicht in falsche
Sicherheit wiegen lassen. Denn in Frankreich und Nußland bestehn feindselige
Strömungen gegen uns, und wenn durch diese auch nur die Einbildung genährt
wird, daß sie in einer dritten Macht, in England, einen festen Rückhalt gegen
Deutschland haben — wenn überdies scharfer wirtschaftlicher Wettbewerb gelegentlich
allerlei Verstimmungen zwischen Deutschland und England verschärft, so sind immerhin
Verwicklungen nicht ausgeschlossen, gegen die wir auf der Hut sein müssen. Gegen-
wärtig liegt jedoch zu bestimmte» Besorgnissen kein Grund vor.
Unter diesem Titel (die Form deutet der Untertitel „Streif-
züge eines Wahrheitssuchers" an; Berlin, Conrad Skopnik, 1906) erörtert Her¬
mann Klingebeil die brennenden Fragen der Zeit ungefähr in unserm Sinne.
Er empfiehlt ein vernünftiges Christentum, weist die gegen den Gottglauben und
das Christentum gerichteten Angriffe der Haeckelianer und andrer Gegner zurück,
erkennt zwar an, was die katholische Kirche in der Vergangenheit Verdienstliches
geleistet hat, erklärt aber ihre heutige ultramontane Gestalt für unverträglich mit
deutschem Wesen und mit dem Wohle unsers Volkes, preist die Reformation und
kritisiert die Sozialdemokratie (der er jedoch mit Schciffle zugesteht, daß sie not¬
wendig gewesen sei, die Sozialreform in Gang zu bringen) nebst dem Anarchismus.
Im Schlußkapitel schreibt er: „Und die Republiken! Sind die amerikanischen Zu¬
stände und Menschen idealer als die unsrigen? Sind die französischen beneidens¬
wert? Werden gewisse Leute und Parteien nie lernen, daß das rein Theoretische,
die von der Wirklichkeit losgelöste Jagd nach dem reinen Ideal am letzten Ende
stets ins Absurde ausmündet? Vor allem tüchtige, dem Ideal zustrebende, mit der
rauhen Wirklichkeit kämpfende Menschen! Dann aus diesen Kämpfen sich ergebenden
allmählichen Fortschritt, langsame Weiterentwicklung vom Mangelhaften zum Bessern!
Wers anders versucht, faßts am verkehrten Ende an. . . . Rückkehr zum Christen¬
tum nicht des Dogmas, sondern des Geistes, mit seinem auch den einfachsten
Menschen ergreifenden und tröstenden Gottesglauben, könnte die Grundlage des zu
erkämpfenden Neuen werden, in dem sich Katholik und Protestant über verblassendes
und verlebtes mittelalterliches Wesen hinweg die Hand reichen." Im ganzen ein
tüchtiges Buch. Der Verfasser ist sehr belesen, laßt es aber hie und da seinen
Gewährsmännern gegenüber an kritischer Vorsicht fehlen. So schreibt er S. 115:
„Auf den jährlichen Katholikentagen und bei andern Gelegenheiten wird genug
aus der Schule geplaudert, um merken zu können, was dort die Glocke geschlagen
hat; so noch kürzlich von dem Freiburger Professor Buß, der sich also vernehmen
ließ: »Die Kirche rastet nicht, und mit den Mauerbrechern der Kirche (Jesuiten)
werden wir diese Burg des Protestantismus (Preußen) langsam zerbröckeln müssen.
Wir werdeu in den vorgeschobnen Distrikten die Katholiken sammeln usw.«" Buß ist
vor dreißig Jahren gestorben. Die von Protestanten unzähligemal angeführte Äußerung,
die um 1850 gefallen sein soll (wo die Aussichten der katholischen Kirche glänzend
und die Preußens elend waren), ist von den Katholiken ebenso unzähligemal für
Als erster Band der unter Mitwirkung hervor¬
ragender Gelehrten von Johannes Penzler herausgegebnen „Geschichte des Fürsten
Bismarck in Einzeldarstellungen" ist soeben eine auf den umfassendsten Quellen¬
studien beruhende Arbeit des bekannten Genealogen Dr. Georg Schmidt nnter dem
Titel „Das Geschlecht von Bismarck" erschienen (Breslau, Eduard Trewendt.
geh. 3 Mark 75 Pfennige, geb. 5 Mark). Das Werk behandelt den Ursprung, den
Namen und das Wappen des Geschlechts und bietet dann in der ausführlichen
Genealogie die Lehmstaken von mehr als fünfhundert Familienmitgliedern von Her-
bordus de Bismarck, dem Magister der Gewandschneider- (Tuchhändler-) Gilde zu
Stendal (geb. um 1200, geht. um 1280), bis auf die allerjüngste Gegenwart. Als
Anhang hierzu folgen eine Genealogie der Ruppiner, Prenzlcmer und Lübecker Linien,
Namensverzeichnisse und Ahnentafeln; den Schluß bilden Nachrichten über den Güter¬
besitz des Geschlechts und eine Reihe sehr übersichtlicher Stammtafeln. Der Verfasser
beschränkt sich keineswegs auf die Wiedergabe trockner Notizen, sondern widmet
fnmiliengeschichtlichen Ereignissen von größerer Bedeutung, wichtigen Örtlichkeiten und
den biographischen Ausführungen über die interessantesten Sprossen des Geschlechts
einen breitern Raum. Ganz besonders wertvoll sind die eingestreuten Äußerungen
des Fürsten Bismarck über einzelne Mitglieder seiner Familie und über die nahe»,
aber nicht immer erfreulichen Beziehungen seiner Vorfahren zu den Hohenzollern.
Wir sehen die Bismarcks als Patrizier von Stendal und Prenzlau, als schlichte
Landedelleute, als Beamte und Diplomaten, endlich als Helden ans den Schlacht¬
feldern zahlreicher europäischer Kriege vom vierzehnten Jahrhundert bis in unsre
Zeit. Erwähnt sei, daß der Urgroßvater des Fürsten bei der Schlacht von Czaslcm
im ersten Schlesischen Kriege sein Leben ließ, und daß sämtliche Bismarcks, die die
Befreiungskriege mitgemacht haben, entweder gefallen oder rin dem Eisernen Krenz
geschmückt heimgekehrt sind.
Der Raum verbietet uus, auf Charakterköpfe wie Klaus deu Ersten, Ludolf
deu Vierten, Christoph, Ludolf deu Siebenten, Augustus den Ersten, August Friedrich
deu Ersten, Ludolf Angust und Karl Alexander näher einzugehn; bei ihnen wie bei
vielen andern finden wir Eigenschaften und Neigungen, die in potenziertem Maße
beim Fürsten wieder zutage treten. Auch das „Skelett im Hause" fehlt nicht- Heinrich
Friedrich Wilhelm Achaz von Bismarck, ein Abenteurer und Spieler, unter dessen
gewiß nicht uninteressante Selbstbiographie der Fürst in sittlicher Entrüstung die
Worte schrieb: „Ein ganz schamloser Lump!"
Der Name des Geschlechts, um auch das noch kurz zu streifen, ist von demi
nltmärkischen Städtchen Bismark entlehnt. Schmidt leitet das Wort nicht von Bis-
kvpesmark (^ Grenze eines bischöflichen Sprengels), sondern von dem in der Nähe
des Ortes vorbeifließenden Flüßchen Biese ab. Die Niederlassung, nach der das
Geschlecht sich nannte, würde also wohl „Biesemark" geheißen haben, woraus nach
Analogie andrer Ortsnamen „Bismarck" entstanden ist. Umgekehrt hat das Kirchdorf
Bismnrk im Kreise Nandow (Pommern) seinen Namen unzweifelhaft von dem alt-
"'ärkischen Geschlecht übernommen, von dem sich einzelne Sprossen an der Kolonisation
Erlebtes und Er¬
dichtetes von Wilhelm Münch. So ist ein Büchlein überschrieben, das in
C. F. Amelangs Verlag in Leipzig erschienen ist (1908, geh. 2 Mark), und das
alle Freunde Münchs — und die zahlen zu Tausenden — mit Freude aufnehmen
werden. Es ist erstaunlich, wie unerschöpflich das Füllhorn des Schönen und
Guten ist, das Münch seit Jahren ausschüttet über alle, die eine feine Art des
Denkens und Sinnens lieben. Münch ist nicht nur einer unsrer allerersten Päda¬
gogen; wer es noch nicht weiß, könnte es aus dem allerjüngsten Buche — der
Neuauflage der Zukunftspädagogik — schon allein ersehen, die gleichsam die
Summe aller seiner Erziehungsgrundsätze zieht; er ist auch ein feinsinniger Poet;
das bezeugten seine Anmerkungen zum Texte des Lebens, die merkwürdig
laugsam durchzudringen scheinen; 1904 erschien erst die dritte Auflage (Berlin,
Weidmann); sie verdienten, in jedem gebildeten Hanse einen Ehrenplatz einzunehmen;
so viel Geisteshelle und Herzenswärme schließen sie in sich. Den anspruchslosen,
aber drum nicht minder ansprechenden Bildern aus dem Leben, die Münch unter
dem Titel Gestalten am Wege 1905 herausgab, folgt jetzt das Bändchen Leute
von ehedem. Es sind nicht Novellen im modernen Sinne des Wortes; ich möchte
sie zu Erzählungen erweiterte Aphorismen nennen; oftmals schließen die einzelnen
Abschnitte mit einer feinen Pointe, einem klugen Weisheitssatz, und oft mischt sich in
die lose geschürzte Skizze eine wertvolle Betrachtung ein. Man spürt, diesem Manne
mit dem unbezwinglichen Schaffensdrauge ist es eine Freude, erworbne Lebenskenntnis
auszubreiten; dabei begegnet nichts Aufdringliches, sondern alles ist schlicht, echt,
wohlabgewogen, mit Lichtern jenes Humors überstreut, der Wohl milde und mitleidig
lächelt, aber niemals die sarkastische Schärfe des Überlegnen annimmt. Und wie tief
dringt der Blick in die Herzensfalten der Menschen hinein, ob diese im Dorf oder
in der Großstadt wandeln, ob sie Geheimer Regierungsrat oder Gymnasiallehrer
heißen, ob sie reich an Gold und arm an Innerlichkeit oder reich in ihrem in¬
wendigen Menschen und arm am Geldbeutel sind. Soll ich für die neuen Auflagen
einen Wunsch äußern, so ist es der: etliche Fremdwörter zu beseitigen und einige
innern Zie <je8sen wirtsclraktlicne UntwielclunA kördern uncl (jeutscne
UrTeuZ-nisse Kevor^uZ-en, wenn Lie Innen Z-röLere Vorteile Mieter als
6le an8läncliscnen. I^annum Lie Laien >XIeiIcum-LiAÄretten. Voll¬
wertiger Lrsatx tur 6le inkolxe der Ligarettensteuer erneolicl, ver-
teuerten ÄU8kam6i8euer LiAsretten. tveine Ausstattung, nur Oualitär!lVIsin ^lei'l'!8le Kreisen 8im 8e!»8t uncl irren
: Vatkrlancle einen gi-oKen 0im8t:
N--. 3 4 5 6 8 10
le schnellsten Dampfer, die den Personenverkehr zwischen Australien
und Europa vermitteln, brauchen immer noch 28 Tage, um die
Entfernung von 9280 englischen Meilen zwischen Brindisi und
Freemcmtle in Westaustralien zurückzulegen. Diese Zeitdauer könnte
wohl bedeutend gekürzt werden, wenn der Kohlenverbrauch das
zuließe, was natürlich eine Steigerung der Überfahrtspreise zur Folge haben
würde. Da zwischen Westaustralien und den Oststcmten bis jetzt noch keine Bahn¬
verbindung besteht, so ist der Reisende gezwungen, seine Reise wenigstens bis
Adelnide, der Hauptstadt Südaustraliens, zu Wasser fortzusetzen. Von hier aus
kann er dann die Bahn nach Melbourne, Sydney oder bis hinauf nach Brisbane,
der Hauptstadt Queenslands, benutzen. Diese Absonderung Australiens von den
übrigen Erdteilen hat einen bedeutenden Einfluß auf die Entwicklung dieses
Landes gehabt, wie sich im Verlaufe dieser Schilderung bald zeigen wird. Im
folgenden werde ich mich hauptsächlich mit den Verhältnissen des Festlandes
Australien beschäftigen, da sich die Staaten, in die es eingeteilt ist (Westaustralien,
Südaustralien, Viktoria, Queensland und die Insel Tasmanien), seit 1900
zu der sogenannten Loinmonvealtn ok ^ustralia, vereinigt haben. Neuseeland
ist dieser Union nicht beigetreten, und die australischen Inselgruppen kommen
hier nicht in Betracht. Angelegenheiten, die die vommonveMb betreffen, werden
durch die Beschlüsse des Federalparlaments bestimmt, das sich aus Abgeordneten
aller Staaten zusammensetzt und in Melbourne, der Hauptstadt Viktorias, wo
auch der Generalgouvemeur residiert, tagt. Da nun außerdem jeder Staat
sein eignes Parlament hat, aus Unter- und Oberhaus bestehend, so bietet
Australien das merkwürdige Beispiel, daß seine Geschicke, bei einer Einwohner¬
zahl von etwa 4 Millionen, von sieben Parlamenten und Gouverneuren ge¬
leitet werden. Wie schon bemerkt, sind die Fragen, die das Federalparlament
beschäftigen, interkolonialer Art, Gegenwärtig liegen folgende wichtige Vorlagen
zur Beratung vor: Küsten- und Landesverteidigung, Revision des neuen
Schutzzolltarifs, Übernahme des nördlichen Teils Südaustraliens durch die
lüoillinonvvkAM usw. Jedes Parlamentsmitglied bezieht einen bestimmten Gehalt,
der sich bei den Abgeordneten des Federalparlaments auf 240 Mark (12 -F)
für die Woche beläuft; der Gehalt der Mitglieder der einzelnen Staatsparlamente
schwankt, beträgt aber nicht weniger als 80 Mark (4 -F) für die Woche. Jeder
Staat hat außerdem einen Gouverneur zu unterhalten, der von der englischen
Regierung bestimmt wird, ferner steht über allen wieder der Generalgouvemeur.
Dieser bezieht einen Gehalt von 200000 Mark (10000-F) jährlich, während
der der Staatsgouverneure bedeutend geringer ist, keiner bezieht jedoch unter
80000 Mark (4000 -F). Diese Gouverneure haben keinen oder nur geringen
Einfluß auf die Geschicke der Staaten, sie sind jedoch für alles, was geschieht,
der englischen Regierung gegenüber verantwortlich. Wenn man uun bedenkt,
daß alle diese Gehalte aus deu Staatskasse!, gedeckt werden müssen, so wird
man begreifen, daß das ganze Land niemals aus den Schulden herauskommt.*)
Der Maugel an Bevölkerung ist denn auch die Ursache der langsamen Entwicklung
des Landes. Infolge der großen Wasserarmnt, die fast ganz Australien beherrscht,
konnten sich die Einwandrer nur an den Küsten oder in der Nähe der wenigen
Flüsse ansiedeln, und größere Niederlassungen konnten nur da entstehn, wo
Gelegenheit war, einen guten Seehafen anzulegen, wie Sydney und Melbourne,
die allerdings die schönsten und größten der Welt besitzen. Diese beiden Städte
haben sich denn auch zu Weltplätzeu ersten Ranges entwickelt mit einem mehr
amerikanischen als europäischen Gepräge. Die Bevölkerung dieser Städte ist
international, das englische Element herrscht vor; jede hat ihr Chinesenviertel.
Das Deutschtum ist sehr zahlreich durch ganz Australien vertreten, am stärksten
in Südaustralien, mit etwa 30000 unter einer Gesamtbevölkerung von etwa
400000. Deutsche Klubs finden sich in allen größern Städten, zwei deutsche
Zeitungen, eine in Südaustralien und eine in Queensland, sorgen für die
Erhaltung des nationalen Bewußtseins unter der deutschen Landbevölkerung.
Trotzdem ist das Deutschtum im Untergehn begriffen, woran, leider muß es
gesagt werden, der Deutsche selbst die Schuld trügt. Er assimiliert sich schneller
als die Angehörigen andrer Nationen mit dem englischen Element und sucht
einen Stolz darin, für einen Engländer gehalten zu werden, was ihm vielleicht
auch gelingt, solange er nicht englisch spricht, der deutsche Accent wird dann
zum Verräter. Ich habe Landsleute hier getroffen, die ihre Herkunft absichtlich
verleugneten, ja sogar zur Zeit des Burenkriegs erklärte ein solcher ehren¬
werter Landsmann öffentlich in der Zeitung, daß er stolz darauf sei, unter
den Engländern leben zu können, und daß er auch seine Kinder nicht deutsch
lernen lasse. Obgleich sich die Bevölkerung Australiens aus Angehörigen aller
Nationen zusammensetzt, so ist der hier geborne Australier kein Freund der
Ausländer. Er haßt den den-eiMsr, weil dieser meist geschickter als er selbst ist.
Um sich dieser Ausländer zu erwehren, hat die Sozialistenpartci, die hier überall
am Ruder ist, ein Aliengesetz gegen unässimvls eiuiZrants (unerwünschte Ein¬
wandrer) erlassen. Das hat denn zu den komischsten Situationen Veranlassung
gegeben. Vor einigen Jahren kam in Freemantle ein indischer Nabob an, der
Sultan von Jehore, der unter englischer Oberherrschaft steht. Man wollte
ihn, da er ein Farbiger war, durchaus nicht landen lassen. Da drehte er ent¬
rüstet dem zivilisierten Australien den Rücken. Ungefähr zu derselben Zeit wollte
ein englischer Großkaufmann, der zufällig blind war, in Melbourne landen;
anch hier wurden ihm die größten Schwierigkeiten gemacht, da die Regierung
befürchtete, er würde vielleicht dem Lande als Blinder schließlich zur Last fallen.
Dieser Fall ist auch von der englischen Presse in einer Australien durchaus
nicht schmeichelhaften Weise kommentiert worden. Diese Resultate einer weisen
Gesetzgebung können durchaus nicht wundernehmen, wenn man sich die Leute
betrachtet, die in den Parlamenten sitzen. Solange einer den nötigen Geldsack
hat, um die Wahlunkosten bezahlen zu können, und solange er es versteht,
durch phrasenhaftes Geschrei die Massen zu betäuben, so lange hat er die besten
Aussichten, gewählt zu werden, aber Bildung und Wissen kommen dabei nicht in
Betracht. Das beste Beispiel für diese Behauptung bietet der jetzige Premier¬
minister von Südaustralien, Tom Price, der stolz darauf ist, daß er einst als
Steinmetz beim Bau des Gebäudes half, in dein er jetzt die Geschicke des
Landes leitet. Er bietet ein Unikum von Unwissenheit und Arroganz. Über sein
Englisch machen sich sogar die hiesigen Zeitungen lustig; vor einiger Zeit ist
er von dem Prinzen von Wales in London empfangen worden, dem dieser
selbstgemachte Premierminister mit seinem unfreiwilligen Humor sicher eine
Stunde herzhaften Amüsements bereitet hat.
Seit einigen Jahren erregt der ungeheure Zufluß von Einwandrern in
Kanada die Eifersucht der australischen Staatsmänner, und mit den dein
Australier eignen Größenwahn erklären sie, daß sie nur zu winken brauchen,
und die europäischen Staaten werden ihnen gleich ihre besten Kräfte für Acker¬
bau usw. abtreten. Sie vergessen aber, daß das Reisegeld, das nötig ist, um
hierher zu kommen, für den einzelnen Arbeiter ein Vermögen bedeutet, von den
Unkosten für den Transport einer ganzen Familie gar nicht zu reden. Um
also diese Schwierigkeit zu überwinden, müßten sich schon die Staaten bequemen,
erstens das Reisegeld vorzuschießen, ferner gutes ertragfähiges Land den
Kolonisten fürs erste unentgeltlich zu überlassen und weitere notwendige Kon-
Zessionen zu machen. John Bull ist aber der gemütlichste Mensch, solange man
ihm nicht an den Geldsack greift. Also wird es wohl noch eine Zeit lang beim
alten bleiben, und das Geschrei nach mehr Bevölkerung wird nicht sobald ver¬
stummen. Merkwürdigerweise hat keine nennenswerte Zunahme der Bevölkerung
in dem letzten Jahrzehnt stattgefunden, auch die Einwandrnng weist sehr niedrige
Zahlen auf. England schickt nur die jungen Leute heraus, die ihm unbequem
werden. Hier angelangt, müssen sie dann irgendwelche Arbeit annehmen, die
sich ihnen gerade bietet, und wenn sie nicht arbeiten können oder wollen, gehn
sie auch nicht zugrunde, da es zu essen überall gibt, denn das Land produziert
an Lebensmitteln immer noch mehr, als verbraucht wird.
Ich habe schon vorher erwähnt, daß die größte Kalamität, woran Australien
leidet, der Mangel an Wasser oder an regelmäßigen niederschlugen ist. Da
Weizenkultur und Schafzucht neben dem Bergbau die Hauptfaktoren in Australiens
wirtschaftlichem Leben bedeuten, so ist der örauM (syr. „treue", nicht „träfe"),
das heißt das Ausbleiben des Regens zu einer bestimmten Zeit, das größte
Unglück, das den im Busche lebenden Ansiedler befallen kann.
Alles, was das menschliche Gehirn erdenken konnte, um diesem Übelstande
entgegenzuarbeiten, ist versucht worden. Findige Jankees sind unter großen
Kosten herübergeholt worden, um künstlichen Regen hervorzurufen, sogar Gebete
sind von den Bischöfen in den Kirchen angeordnet worden, den Segen des
Himmels anzurufen; artesische Brunnen und künstliche Wasserdämme sind an¬
gelegt worden. Aber was bedeutet das in einem so ungeheuer ausgedehnten
Lande wie Australien! Das Wichtigste jedoch, die Forstkultur, zu verbessern,
ist bis jetzt noch überall vernachlässigt worden. Neuerdings werden hier und
da Stimmen laut, die das Aufforsten des Landes befürworten, um regelmäßige
Niederschläge zu veranlassen. Unter den größern Städten Australiens, die
periodisch an Wassermangel leiden, steht Broken-Hill, das die größten Silber¬
und Bleibergwerke der Erde enthält, obenan. Es liegt mitten in einer Sand¬
wüste in Neusüdwales an der Grenze von Südaustralien, mit dem es durch
Eisenbahn verbunden ist. Die Negierung Südaustraliens versorgt in Zeiten
von Wassersnot die Stadt mit Wasser, indem sie spezielle Züge, die nur
Wassertanks führen, in regelmäßigen Zwischenräumen hinübergehn läßt. In
einzelnen abgelegnen Bergwerksniederlassungen Westaustraliens wird der Liter
Wasser sogar mit 2,50 Mark bezahlt. Da wird nicht Seife, sondern Wasser
zum Kulturmesser! Das in den Bergwerken hervorquellende Wasser ist nicht
zu gebrauchen, da es zu reich an Mineralsalzen ist, die es für den menschlichen
Gebrauch ungenießbar machen. Infolge des Mangels an regelmäßigen Nieder¬
schlägen ist das Klima mit Ausnahme des tropischen Nordens ziemlich trocken.
Der Sommer (vom Dezember bis zum April), wo die Temperatur mitunter auf
36 Grad Reaumur im Schatten steigt, ist gewöhnlich sehr heiß und trocken.
Der Witterungswechsel tritt sehr plötzlich und oft mit einem Sandsturm ein,
der selten von Regen begleitet ist, sodaß die Temperatur binnen weniger Stunden
um 15 bis 20 Grad füllt. Der Winter besteht aus einer monatelangen Regen¬
zeit, die oft das ersehnte Naß in reichlichen Mengen bringt, oft aber mich den
dürstenden Farmer enttäuscht, sodaß er mitunter seine Farm verlassen und seinen
Viehbestand meilenweit wegtreiben muß, nach Gegenden, wo der Regen saftiges
Grün hervorgezaubert hat. Die Unbeständigkeit und Launenhaftigkeit des Wetters
übt natürlich seinen Einfluß auf den Charakter der Bewohner aus. Wir wissen,
daß der australische Ureinwohner auf der niedrigsten Stufe aller Menschenrassen
steht. Es ist nun interessant, zu beobachten, wie die Nachkommen der hier
eingewanderten, intelligenten Europäer schnell entarten. Die Kinder entwickeln
sich sehr schnell und genießen vor dem Gesetze unbedingte Freiheit. Diese
persönliche Freiheit wird auch in den gut geleiteten staatlichen Volksschulen von
den Lehrern respektiert. Infolgedessen ist das Betragen der Kinder gegen
Erwachsne nach unsern Begriffen höchst ungebührlich und respektwidrig. Der
Vater wird als elle via man und die Mutter als tue M vornan bezeichnet. Von
einem Unterordnen des Willens der Kinder unter den der Eltern ist gar keine
Rede. Dieser ungezügelte Freiheitsdrang entwickelt sich bei dem jungen Manne
zu einem alle Autorität verachtenden Selbstgefühl. Begleitet ist dieses sehr
oft von einer gänzlichen Abwesenheit des Bewußtseins von Moral und Ehre.
Alles ist erlaubt, solange es sich mit den Gesetzen des Landes vereinbaren laßt.
Auf meiner Ausreise hierher traf ich in Colombo einen Engländer, der Australien
wiederholt bereist hatte. Im Verlaufe unsers Gesprächs bemerkte er: ^user^la
is ed.6 nearer^ vitliout og.lor, ed.6 treos Stoa tKÄr ort insteacl tlieir lesves,
rasn Ms, without Iwnour -uiä nomsn vitdout pensele^. (Australien ist das
Land ohne Wasser, die Bänme verlieren anstatt der Blätter ihre Rinde, die
Männer haben keine Ehre und die Frauen keine Keuschheit.) Die Tatsachen
bestätigten mir leider späterhin diese traurige Charakteristik eines Landes und
seines Volkes. Die Korruption in den öffentlichen Ämtern ist mindestens
eben so schlimm wie in Amerika. Der Fall Crick in Sydney (Staatsländereien-
schwindel) und der Fall Tucker (Zolluiiterschlaguugen bis zu 600000 Mark
durch einen Bürgermeister von Adelaide und Parlamentsmitglied) bestätigen dies.
Die Geriebenheit (8inarwe,8s) der australischen Jugend ist schon sprichwörtlich
geworden. Das Sydney-Bulletin, die gediegenste australische Zeitung politisch¬
satirischer Richtung, brachte vor einigen Jahren eine Karikatur betitelt ^usirMA«
r»rM. die einen Fußballspieler mit ungeheuern Händen und Füßen darstellte,
der Kopf war aber so klein gezeichnet, daß man erst nach genauem Hinsehn ein
Gesicht mit Mütze entdecken konnte. In der Tat konzentriert sich das öffentliche
Interesse um weiter nichts als Sport. Fußball, Pferderennen und Kricket sind
die Pole, um die sich das australische Leben bewegt. Ein Junge von acht
oder neun Jahren kann mir ganz genau sagen, welche Pferde die beste Aussicht
haben, in den nächsten Pferderennen zu gewinnen, er kennt sogar die Stamm¬
bäume der edeln Tiere auswendig. Ein?ootwI1ör oder vriaukter steht höher
in der öffentlichen Meinung als irgendein bedeutender Künstler oder Gelehrter.
Die Zeitungen bringen spaltenlange Berichte über die Wunderbaren Leistungen
dieser Fußkünstler. Ein junger Australier versicherte mir neulich ganz ernsthaft,
daß ein guter Fußballspieler ein ebenso großer Künstler sei als der Pianist
Paderewski. Deshalb stehn auch alle Künste auf einer niedrigen Entwicklungs¬
stufe. Es wimmelt von Charlatans und Jmpostoren. Da wir hier in dem
gelobten Lande der unbeschränkten Freiheit leben, so zieht sich alles nach diesem
Erdteile, das wo anders kein Fortkommen finden kann. Gediegne Fachmänner
irgendwelchen Berufs können nur ausnahmsweise eine ihren Fähigkeiten ent¬
sprechende Stellung finden, da sie mit einer übermächtigen und unberechtigten
Konkurrenz zu kämpfen haben. Die Aristokratie oder besser Plutokratie des
Landes setzt sich hauptsächlich aus Schafziichtern und Minenspeknlanten zusammen,
aus Leuten, von denen manche kaum ihren Namen schreiben können. Der reichste
Mann Australiens, Tyson, war ein Viehzüchter und hinterließ bei seinem Tode
mehr Grundbesitz, als mancher regierende Fürst in Deutschland sein eigen nennt.
Er repräsentierte einen Gesamtwert von etwa 100 Millionen Mark. Dieser
Nabob schlief in einem Zelt mit seinen Viehtreibern und prahlte damit, nie in
seinem Leben ein gestärktes, weißes Hemd auf dem Leibe gehabt zu haben.
Selbstverständlich gibt es auch Ausnahmen, und es ist erstaunlich, welchen
Luxus man mitunter auf einer nomöstoaä eines reichen Squatters, Hunderte
von Meilen entfernt von der nächsten Stadt, antreffen kann, aber Kunstsinn
darf man von diesen Leuten nicht erwarten. Australien wird auch kaum jemals
bedeutende Künstler hervorbringen, denn das Land selbst bietet keine Anregung.
Ob man fünf oder tausend Meilen hinein in das Land geht, immer zeigt sich
mit wenig Ausnahmen dem Auge dasselbe Bild: Gummibüume (ISuo^xtus),
Salzbusch und Sand. Wie schon bemerkt, zeigt die Jugend anch kein nachhaltiges
Interesse für Kunst oder Wissenschaft. Es bestehn zwar überall sogenannte
Universitäten, Kunstakademien, Konservatorien usw., aber sie alle produzieren
nnr oberflächliche Mittelmäßigkeiten. Die jungen Leute wollen in sechs Monaten
Künstler oder Gelehrte werden. Einzelne starke Talente verlassen ihre Hemme
und setzen ihre Studien in Europa fort, gehn aber nie wieder nach dem Lande
ihrer Geburt zurück. Noch ein andrer Faktor, der das ganze öffentliche Leben
beeinflußt, kommt hier in Betracht, das ist die allgemein herrschende religiöse
Heuchelei der Australier. Australien hat im Verhältnis zu seiner Bevölkerung
mehr Kirchen und Vierhänser (notsls oder xudlionousss) als irgendein andres
Land der Erde. Südaustralien allein hat bei einerBevölkeruug von 392431 Köpfen
1446 Kirchen und Kapellen. Der australische Sonntag übertrifft den berühmten
englischen an Öde und Langweiligkeit. Der Eisenbahn- und Straßenbahnverkchr
wird auf das notwendigste beschränkt, und alle öffentlichen Vergnügungslokale
werden geschlossen gehalten; nur Sydney macht darin eine Ausnahme von den
übrigen Städten des Kontinents.
Wenn man sich auf der Weltkarte den ungeheuern Landklumpen Australien
betrachtet und ihn mit den andern Erdteilen vergleicht, so muß die geringe
Küstenentwicklung dieses Kontinents auffallen, auch der Mangel an größern
Flüssen macht sich überall bemerkbar. Es sind also nicht die Bedingungen
vorhanden, die der Entwicklung eines Kulturvolkes günstig wären. Von ver¬
schiednen Seiten wird immer wieder darauf hingewiesen, wie gesund das
trockne Klima für den Europäer sei, und daß Krankheitscpidemien wie die
asiatische Cholera hier nicht aufkommen können. Diese Behauptung entspricht
allerdings den Tatsachen, da die Ausdünstung der Eukalyptuswälder auf
epidemische Kraukheitskeime zerstörend wirkt, aber die plötzlichen, manchmal
zwei- bis dreimal an einem Tage auftretenden Witterungswechsel verursachen
organische Beschwerden aller Art, namentlich Lungen- und Verdauuugskrank-
heiteu, und besonders sind es feiner organisierte Naturen, die darunter um
meisten leiden.
Während dieser Artikel geschrieben wurde, erschien folgender Brief, den
ich in der Übersetzung folgen lasse, in den australischen Zeitungen: „Professor
Herbert strong an der Liverpooler Universität hat in einem an den Präsi¬
denten der Immigration-League Dr. Arthur in Sydney gerichteten Briefe
folgende Warnung an Australien ergehn lassen: Das freundschaftliche Gefühl
der Engländer gegen Australien hat sich bedeutend abgekühlt. Die Kaufleute
verhalten sich Ihrem neuen Zolltarif gegenüber sehr ablehnend, und das aus-
wandrungslustige Volk gewinnt die Überzeugung, daß es besser ist, nach dem
die günstigsten Bedingungen gewährenden Kanada zu gehn als nach Australien.
Ich bin fest davon überzeugt, daß die Australier in kurzer Zeit für ihre
Existenz zu kämpfen haben werden, entweder gegen Japan oder Deutschland.
Ich bin mir der Verantwortlichkeit dieser Behauptung wohl bewußt; ich habe
in Deutschland gelebt, und daher weiß ich, daß die Deutschen beabsichtigen,
uns anzugreifen, um uns unsrer Kolonien zu berauben. Die Australier sind
die größten Narren, wenn sie nicht die größten Anstrengungen machen, die
Frage der »Gelben Gefahr« «MIov ?<zrü) dadurch zu lösen, indem sie ihr
Land mit Weißen bevölkern. Ein großer Teil des englischen Volkes war
einst imperialistisch gesinnt, als sie aber hörten, daß die Kolonien nicht ge¬
sonnen sind, ihren Teil zur Verteidigung Englands und seiner Besitzungen
beizutragen, so haben sie ihre Ansichten wesentlich geändert. Die meisten
Leute glauben hier, daß sich Australien bald von England losmachen wird,
vennruhigen sich aber weiter nicht darüber. Professor Pearsons Prophezeiungen
sind leider nur zu bald eingetroffen. Die Australier haben ihn gekreuzigt,
wie andre Propheten vor ihm, aber seine Stimme tönt aus dem Grabe herauf
zu denen, die Ohren haben zu hören. Es ist Ihre Pflicht und Schuldigkeit,
dem australischen Arbeiter klarzulegen, daß eine große militärische Monarchie
für den Egoismus einer kurzsichtigen Demokratie nur Verachtung hat."
Ergänzend möchte ich zu diesem Briefe bemerken, daß die Frage der
«Gelben Gefahr" für Australien eine weit größere Bedeutung hat als für
Europa. Die einsichtsvollen Politiker hier sind fest davou überzeugt, daß
Japan in absehbarer Zeit wenigstens den Norden Australiens besetzen wird.
Wer könnte es auch davon abhalten? England sicher nicht, denn ehe es daran
denken konnte, dieses zu verhindern, würde die Fahne der aufgehenden Sonne
schon über Australien lochen. Eine deutsche Invasion hingegen würde für
Deutschland selbst derartige Schwierigkeiten bieten, da es erst England ver-
nichten müßte, sodaß seine Staatsmänner diese Frage wohl noch nicht ernstlich
in den Kreis ihrer Betrachtungen gezogen haben werden. Darüber aber sind
sich alle Aufgeklärten einig, daß die australischen Staaten in nicht zu ferner
Zeit aufhören werden, als englische Kolonien zu bestehn.
l u den selbstverständlichen Forderungen des Jahres 1848 und den
ebenso selbstverständlichen Zugeständnissen gehörte die Einführung
des Geschwornengerichts, nachdem schon in den vorhergegangenen
Jahren, zum Beispiel auf der Germanistenversammlung in Lübeck
1847 eifrig dafür gesprochen und geworben worden war. In den
nächsten Jahrzehnten wurden denn auch in den deutschen Vundesstaaten Gesetze
mit den französisch-rheinischen Grundsätzen über Geschwornengerichte erlassen und
blieben in Geltung bis zum 1. Oktober 1879, wo sie durch die deutsche Straf¬
prozeßordnung außer Kraft gesetzt wurden. Diese regelte die Zuständigkeit der
Schwurgerichte für das ganze Reich und schuf obendrein noch die Schöffen¬
gerichte, sodaß damit der Anspruch des Volksrichtertums auf die Teilnahme
an der Rechtsprechung in Strafsachen als befriedigt eingesehn werden konnte.
In der Zivilgerichtsbarkeit beschränkte sich die Mitwirkung der Laien auf
die Kammern für Handelssachen, die je nach dem Bedürfnis für ganze Land¬
gerichtsbezirke oder abgegrenzte Teile des Bezirks auch außerhalb des Land-
gerichtssitzes errichtet werden können. Zu solchen Kammern gehören ein rechts¬
gelehrter Richter als Vorsitzender und zwei Handelsrichter als Beisitzer, die
ans Vorschlag der Handelskammern auf drei Jahre aus dem Kaufmannsstande
ernannt werden. Die Zahl der Kammern für Handelssachen ist fortwährend
im Steigen begriffen, und besonders in den großen Industriebezirken des Westens
macht sich das Bedürfnis nach immer weiterer Ausdehnung der Kammern geltend,
sodaß auch entsprechend mehr Handelsrichter zu den Sitzungen herangezogen
werden müssen.
Als dann durch die Botschaft Kaiser Wilhelms des Ersten vom 27. No¬
vember 1881 die soziale Gesetzgebung angeregt wurde und als Frucht dieser
Anregung die großen Vcrsicherungsgcsetze über die Kranken-, die Unfall- und
die Invalidenversicherung gegeben wurden, da wurden die Streitigkeiten besondern
Gerichten vorbehalten, die im Laufe der Jahre als Schiedsgerichte für Arbeiter¬
versicherung eingesetzt wurden. Es entsprach vollständig den Forderungen und
Strömungen der Zeit, daß diese Sondergerichtc aus den Kreisen der Beteiligten
auch ihre Richter haben wollten, und so besteht jedes Schiedsgericht ans einem
ständigen Beamten als Vorsitzenden und aus vier Beisitzern, von denen zwei
den Arbeitgebern, zwei den Versicherten angehören müssen. Ebensoviel Ver-
treter aus dem Volke haben bei den Sitzungen des Reichsversicherungsamtes
als der obersten Instanz mitzuwirken.
Aus dem vorigen Jahrhundert sind noch die Seeämter zu erwähne»,
kollegiale Behörden für die Untersuchung von Seeunfällen. Sie werden von
einem richterlichen Beamten geleitet, dem vier Beisitzer zur Seite stehn, von
denen mindestens zwei Berufsschiffer sein müssen. Das neue Jahrhundert ist
in den eingeschlagnen Bahnen der Sondergerichte weitergeschritten. Seit dem
Neichsgesetz vom 29. September 1901 gibt es Gewerbegerichte, die gewerbliche
Rechtsstreitigkeiten zwischen den Arbeitern und den Arbeitgebern entscheiden und
an die Stelle der ordentlichen Gerichte getreten sind. Sie sind mit einem
Vorsitzenden und mindestens zwei Beisitzern besetzt, von denen je einer dem
Arbeiter- und dem Arbeitgeberstande angehört. Nach gleichen Grundsätzen endlich
sind die seit 1904 bestehenden Kaufmannsgerichte zur Entscheidung von Streitig¬
keiten aus dem Dienst- und Lehrvcrhältnis zwischen den Kaufleuten, Hand¬
lungsgehilfen und Lehrlingen ins Leben gerufen worden; an den Sitzungen
nehmen mindestens vier Beisitzer teil, die zur Hälfte aus Kaufleuten, zur Hälfte
aus Handlungsgehilfen gewählt werden.
So hat in wenigen Jahrzehnten in Deutschland die Sondergerichtsbarkeit
und das Volksgerichtstum eine Ausdehnung erhalten, an die man früher nie
gedacht hat, und es ist keineswegs vorauszusehn, ob uns die Zukunft nicht
noch andre Sondergerichte bringen wird. Es ist zum Beispiel sehr wohl denkbar,
daß die so rührigen Landwirtschaftskammern Lohn- und Gesindestreitigkeiten oder
Klagen zwischen den Landwirten und den verschiedenartigsten Vieh- und Maschinen¬
lieferanten, den Feuer-, Hagel- und Unfallversicherungsanstalten für sich in
Anspruch nähmen und Schiedsgerichte bilden wollten, die mit Landwirten und
Gewerbetreibenden besetzt werden. In gleicher Weise könnten die Handwerks¬
kammern vorgehn und die Streitigkeiten ihrer Berufsgenossen den ordentlichen
Gerichten entziehn, sodaß diese schließlich mehr und mehr von ihrer Bedeutung
verlieren und überflüssig werden. Erst im Februar dieses Jahres war im
Reichstage bei dem Etat des Reichsjustizamts vou Sondergerichteu für Bureau¬
angestellte, Landarbeiter und Gesinde sowie von Jugendgerichten die Rede, und
zwar in derselben Sitzung, wo von sozialdemokratischer Seite wieder einmal
über Klassenjustiz geklagt und sogar von einem Redner der nationalliberalen
Partei diesen Beschwerden über den Klassencharakter mancher Richtersprüche
eine gewisse Berechtigung zugesprochen wurde. Die Bewegung zugunsten eines
ausgedehnten Volksrichtertums ist also noch nicht am Ende; man ist ja eben
bei der Arbeit, den ordentlichen Gerichten in Strafsachen noch mehr Schöffen
beizugeben und kleine, mittlere und große Schöffengerichte einzuführen, die in
allen Instanzen mit Berufs- und Volksrichtern besetzt werden sollen. Die
Einzelheiten sind noch nicht bekannt geworden, doch werden von juristischer
Seite die verschiedensten Vorschläge gemacht, die alle darauf hinauslaufen, das
Vertrauen des Volks zur Strafrechtspflege zu heben und zu stärken.
Es ist schwer zu sagen, ob die weitere Heranziehung des Laientums zur
Rechtsprechung dieser bei den verwickelten Rechtsverhältnissen unsrer Zeit tat¬
sächlich zum Vorteil gereicht; es ist dabei wohl zu erwägen, daß die voll-
stündig unvorbereitet in die Sitzung kommenden Schöffen durch die mündliche
Verhandlung allein nicht in jedem Falle in den Stoff einzudringen vermögen,
der vielleicht monatelang in den Akten vorbereitet worden ist. Eins steht aber
fest: je mehr das Volk an der Rechtsprechung teilnimmt, um so weniger kann
dann noch von Klassenjustiz gesprochen werden. Die Berufsrichter könnten damit
zufrieden sein; sie werden von der Verantwortung für Fehlsprüche, die in
den Zeitungen jetzt eine gewisse Rolle spielen, zum guten Teil entlastet und
könnten einfach darauf hinweisen, daß das Volk selbst gerichtet hat, daß dessen
Rechtsanschauung zum Ausdruck gekommen ist.
Doch die Ausdehnung des Volksrichtertums hat noch eine andre Seite,
die zu berücksichtigen ist. Anfangs betrachtete man die Beteiligung der Laien
an der Rechtsprechung als eins der Grundrechte, das man sich unter keinen
Umständen verkürzen lassen durfte: es fragt sich, ob eben dieses Recht unter
den heutigen Verhältnissen nicht zu eiuer Pflicht, zu einer drückenden Last zu
werden droht, die man nur ungern erfüllt und mit Widerstreben ans sich
nimmt, mit andern Worten, ob der einzelne herangezogne Mensch wirklich mit
dem stolzen Bewußtsein, ein wohlerworbnes Recht auszuüben, in die Sitzung
geht und gern die Opfer bringt, die damit verbunden sind, um nur dem
Vaterlande dienen zu können. Wenn man den Zcitungschreibern und manchen
Berufsrednern in den Parlamenten glaubt, so muß man annehmen, daß das Volk
förmlich danach lechzt, sich an der Rechtsprechung zu betätigen, und daß es mit
Freuden alle Unbequemlichkeiten auf sich nimmt. Wer aber genauer hinsieht
oder von Berufs wegen damit zu tun hat, wird die Beobachtung machen können,
daß eine große Zahl von Schöffen und Geschwornen ihre Einberufung zu den
Sitzungen als eine unbequeme Last, als eine unangenehme Unterbrechung ihrer
Berufspflichten ansieht. Die kleinern Landwirte und die Handwerker sowie
die Geschäftsleute verlieren nicht gern einen Arbeitstag, der obendrein noch
Kosten verursacht; sie sind froh, wenn ihre Sitzuugstage vorüber sind, und
nicht selten drängen sich die Geschwornen an den Staatsanwalt oder den Ver¬
teidiger in den Schwurgenchtssitzungen heran und bitten um Ablehnung oder
reichen beim Vorsitzenden Gesuche ein, um von der Sitzung befreit zu werden.
Die Berufsfreudigkeit der Volksrichter ist nicht so groß, wie man gemeinhin
glauben machen möchte, und es ist deshalb sehr die Frage, ob sie größer
wird, wenn erst noch mehr von ihnen in den mittlern und großen Schöffen¬
gerichten verlangt wird, wenn die Zahl der Sitzungstage erweitert und die
Zuständigkeit erhöht wird.
Nun hat man zwar, um die Zahl der Schöffen zu heben, auch schon
vorgeschlagen, ihnen Tagegelder zuzubilligen und ans diese Weise die Arbeiter¬
kreise zu beteiligen, aber ob dieses Mittel verfangen wird, ist sehr zweifelhaft:
denn im tiefsten Grunde wollen die meisten Menschen mit dem Gericht über-
Haupt nichts zu tun haben. Die gebotne Entschädigung für Arbeits- und
Zeitverlust wird nicht sehr locken, besonders wenn nach den Sitzungen, wie
es sich die Zeugen gefallen lassen müssen, in den Gerichtsschreibereien um
die Höhe der Entschädigung gefeilscht werden muß: gleiche Sätze, wie bei den
Abgeordneten, können doch wohl kaum angenommen werden, da für die
Schöffen vielfach Reisekosten dazu kommen, die für jeden einzelnen besonders
berechnet werden. Vielen würde mit einem dürftigen Entgelt trotzdem nicht
gedient sein; sie versäumen in ihrer Wirtschaft immer noch mehr, als ihnen
vom Staate geboten werden kann, und die Arbeiter vollends, mögen sie in
Fabriken oder in der Landwirtschaft beschäftigt sein, werden keine große Lust
haben, sich in ihren Sonntagsstaat zu werfen und in die Stadt zu laufen,
um an Schöffensitzungen teilzunehmen, die ihnen im Grunde genommen höchst
gleichgiltig sind. Die Führer der Sozialdemokraten sind in diesem Punkte
zwar andrer Meinung und erwarten alles Heil von der Beteiligung der Ge¬
nossen an der Rechtsprechung: wer jedoch die arbeitende Bevölkerung einiger¬
maßen kennt, wird sich sagen, daß sie sich nach der Ausübung eines solchen
Rechts herzlich wenig sehnt.
Um die Probe aufs Exempel zu machen, braucht man nur einmal die
Zustände in der Selbstverwaltung heranzuziehn.
Am 19. November 1909 sind in Preußen hundert Jahre verflossen,
seitdem Freiherr vom Stein die Städteordnung schuf und dadurch die Bürger¬
schaft zur tätigen Mitwirkung an der Gemeindeverwaltung veranlaßte. Durch
spätere Gesetze ist dann diese Verwaltungstätigkeit des Volkes erweitert und
ausgebaut worden, und in gleicher Weise hat die Kirche eine synodale Ver¬
fassung bekommen, wodurch die Vertretung der Laiengemeinde an der kirch¬
lichen Verwaltung gewährleistet worden ist. Man kann also mit Recht sagen,
daß die politischen Rechte des Volkes in jeder Weise anerkannt und ver¬
wirklicht worden sind, da grundsätzlich auch die unbemittelten Volksschichten
von der Ausübung dieser Rechte nicht ausgeschlossen werden.
Und doch hören die Klagen über schlechte Wahrung der wohlerworbnen
Volksrechte nicht auf, zumal auf dem Gebiete der kirchlichen Verwaltung. Es
finden sich zuweilen kaum so viel Männer zu den Kirchenwcihlen ein. daß die
nötige Zahl der zu wählenden Mitglieder für die Gemeindekirchenvertretung
herauskommt; wer zur Wahl erscheint, kann beinahe sicher sein, gewählt zu
werden. Aus dem Arbeiterstande erscheint überhaupt niemand, wenn er nicht
etwa von der Dienstherrschaft mit sanfter Gewalt zur Eintragung in die
Wählerliste und zur Wahl genötigt worden ist. Die Geistlichen wissen, wie
schwierig es unter Umständen ist, eine beschlußfähige Mehrheit für die Sitzung
zusammenzubringen und müssen dazu oft genug im letzten Augenblick die
säumigen Mitglieder herbeiholen lassen oder eine neue Sitzung anberaumen,
in der ohne Mehrheit beschlossen werden kann. Nun mag allerdings dieser
Übelstand bei den Kirchenwahlen auf die bedauernswerte Gleichgiltigkeit so vieler
Männer, namentlich auch in den höhern Kreisen, in kirchlichen Angelegenheiten
Überhaupt zurückzuführen sein: aber der Mangel an Gemeinsinn tritt fast
ebenso stark bei der Beteiligung an den kommunalen Angelegenheiten zutage,
trotzdem da in allererster Linie über den eignen Geldbeutel der Wähler ver¬
fügt wird. In neuerer Zeit erst, seitdem die Sozialdemokraten ihre Leute in
die städtischen Körperschaften hineinzubringen bestrebt sind, regt sich in der
Bürgerschaft selbst das Gewissen etwas mehr, und es ist dann meist auch
leicht genug, Stimmen für bürgerlich und national gesinnte Männer zu be¬
kommen. Daß es bei den Wahlen zum Reichstage nicht anders ist, hat ja
die letzte Aufmunterung in den Dezembertagen 1906 deutlich gezeigt.
Es fehlt bei uns — das sollte hier einmal kurz zum Ausdruck gebracht
werden — an der rechten Freudigkeit für die allgemeinen öffentlichen An¬
gelegenheiten des gesamten Volkes. An Männern selbst, die zur Betätigung
auf diesen Gebieten berufen sind, ist kein Mangel: nach einer von maßgebender
Seite veranlaßten Aufstellung enthielten zum Beispiel die berichtigten deutschen
Urlisten für Schöffen und Geschworne im Jahre 1904 zusammen mit Aus¬
nahme des Landgerichtsbezirks Bremen 5552514 Personen; die Zahl der er¬
wählten Hauptschöffen belief sich auf 48238, die der Hilfsschöffen auf 18271,
und in der Vorschlagsliste der Geschwornen waren 80566 Personen ver¬
zeichnet.*) Für beide Gerichte aber werden im Jahre zusammen etwa
45000 bis 50000 Laienrichter gebraucht; es ergibt sich also, daß das Volks-
richtertum sehr wohl noch einer Ausdehnung fähig ist, auch wenn man für
die angeführten Sondergcrichte ebensoviel Personen rechnen will. Von den
51/2 Millionen an sich zum Gerichtsdienst fähigen deutsche» Reichsangehörigen
werden dann immer erst höchstens 100000 in einem Jahre tätig sein, sei es
an ordentlichen oder Sondergerichten als Schöffen, Geschworne oder Beisitzer.
Die Belastung für den einzelnen ist mithin nicht unerträglich und muß in
Kauf genommen werden, wenn dadurch die Rechtsprechung gehoben wird.
> em ersten Bande seiner Blücherbiographie**) hat Generalleutnant
von Unger den zweiten (Schluß-)Band in kurzer Frist***) folgen
lassen. Er umfaßt den Zeitraum von: Jahre 1812 bis zum Tode
des Helden im Jahre 1819 und ist in gleicher Weise wie der erste
!Band reich und gediegen von der Verlagsbuchhandlung ausge¬
stattet worden. Vermochten wir an der Hand des ersten Bandes die stufen¬
weise Entwicklung Blüchers als Truppenführer zu verfolgen, so gilt der zweite
recht eigentlich dem Feldherrn Blücher. Wurde in der vorjährigen Besprechung
erwähnt, daß man gespannt sein dürfe, wie der Verfasser gerade diese Aufgabe
lösen würde, weil wir uns die Feldherrntätigkeit Blüchers kaum anders als
gemeinsam mit Gneisenau ausgeübt denken können, so mag hier vorweg bemerkt
werden, daß die Lösung dieser Aufgabe im vorliegenden Bande in glücklichster
Weise erfolgt ist, und das bedeutet nicht wenig, da das Urteil über Gneisenau
längst feststand.
Im allgemeinen läßt sich sagen, daß Blüchers Bedeutung wohl von den
Zeitgenossen richtig gewürdigt worden ist, weniger jedoch von den Nachlebenden.
Ihnen schien es, zumal seit Delbrttck uns das Bild Gneisenaus so anziehend
gezeichnet hat, als ob dem Generalstabschef der Schlesischen Armee doch das
Hauptverdienst an ihren Erfolgen gebühre. Nicht als ob Delbrück Blücher
auf Kosten Gneisenaus herabgesetzt hätte, aber es liegt in der Natur der Sache,
daß der Biograph, will er sein Ziel im Auge behalten, seinen Helden den
übrigen Zeitgenossen, sogar den bedeutendsten gegenüber bevorzugt. General
von Unger rückt die Person des Marschalls Vorwärts wieder in das rechte
Licht, und er tut es, ohne im geringsten die Verdienste Gneisenaus zu schmälern.
Es konnte nicht anders sein, denn kaum jemals hat ein Feldherr die Verdienste
seines Generalstabschefs so offen anerkannt wie Blücher die Gneisenaus. So
hat er einst ein allzu lautes Lob seiner Taten mit den Worten abgewehrt:
„Was ists, was ihr rühmt? Es war meine Verwegenheit, Gncisenaus Be¬
sonnenheit und des großen Gottes Barmherzigkeit." Die Art und Weise aber,
wie der Verfasser in das Verhältnis Blüchers zu Gneisenau Licht zu bringen
sucht, ist nicht nur anziehend, sondern für die Beziehung zwischen Truppen¬
führer und Generalstabschef auch für unsre Zeit belehrend. Hier spricht überall
aus dem Buche nicht nur der Historiker, soudern vor allem der erfahrne hohe
Offizier, der selbst auf eine langjährige Generalstabstätigkcit zurückblickt.
Bei der Schilderung der Persönlichkeiten des Hauptquartiers der Schle¬
sischen Armee heißt es: „Alles kam darauf an, wie sich das Verhältnis zwischen
dem Feldherrn und seinem Stabschef gestaltete. Gneisenau hatte schon das
52. Lebensjahr überschritten; aber seine von der Natur mit körperlichen und
geistigen Gaben reich ausgestattete Persönlichkeit hatte noch nichts von ihrem
Zauber verloren. Sein gewinnendes Äußere, seine unverwüstliche Frische, sein
liebenswürdiges, geistreiches Wesen, sein reiner Charakter, seine glänzende Be¬
redsamkeit, sein feuriger Optimismus, seine aufopferungsvolle Vaterlandsliebe
ließen sein Selbstbewußtsein und sein sicheres Auftreten berechtigt erscheinen.
Aus den kümmerlichen Verhältnissen seiner Jugend, der Ungebundenheit seiner
Studentenzeit, den Enttäuschungen seiner militärischen Wanderjahre, aus dem
Zusammenbruch von 1806 war sein glühender Ehrgeiz geläutert hervorgegangen.
- - . Bei der Arbeit zur Wiedergenesung des preußischen Heerwesens hatten sich
seine Arbeitskraft, seine vorurteilsfreie Einsicht, die Lauterkeit seines Charakters
hervorragend bewährt. .. . Blüchers gute Beziehungen zu Gneisenau aus dessen
Kolberger Zeit hatten sich in den Jahren der Fremdherrschaft immer freund¬
schaftlicher gestaltet und sich während des Frühjahrsfcldznges 1813 im gemein¬
samen Zusammenwirken bewährt; mit dem Wachsen ihrer Aufgaben wuchsen die
beiden Helden immer inniger zusammen."
Es wird nur in einzelnen Fallen gelingen, aus den Feldzugsakten nach¬
träglich mit Sicherheit festzustellen, inwieweit an den einzelnen Entschlüssen
der Feldherr oder seine Umgebung beteiligt gewesen ist. Zuweilen ist die An¬
regung von einem jüngern Offizier des eignen oder einem Nachrichtenoffizier
eines benachbarten oder unterstellten Stabes ans Grund einer von diesem
Offizier gemachten Wahrnehmung oder gewonnenen Auffassung ausgegangen.
Das Verdienst, dieser Anregung gefolgt zu sein, den Gedanken in den Ent¬
schluß umgesetzt und an dessen Durchführung, unbeirrt durch Nebenumstände,
festgehalten zu haben, gebührt gleichwohl dem verantwortlichen Führer. So
hat denn auch Gneisenau, wie Generalleutnant von Unger hervorhebt, die
Persönlichkeit seines Feldherrn immer in den Vordergrund treten lassen.
„Raumer bestätigt das Wort Arndts, daß Gneisenau seinem General mit voller
Anerkennung und Hingebung gedient habe. »Dies Dienen wird jeder bezeugen,
der Gelegenheit hatte, Gneisenau in seinem Verhältnis zu Blücher zu sehen;
es äußerte sich bei jeder Gelegenheit.«" Hierbei aber konnte es bei einer
Persönlichkeit wie Gneisenau uicht ausbleiben, daß sich sein Einfluß auf Blücher
mit der Zeit immer mehr steigerte. „Gneisenau hatte, wie Müffling, der Ober¬
quartiermeister der Armee, bezeugt, die besondre Neigung für alles, was ge¬
wagt oder auf Mut gegründet war, und mit daraus entspringenden Vorschlägen
konnte er bei Blücher immer auf Zustimmung rechnen." Ähnlich sagt Fried-
jung^) vom Feldzeugmeister von John, dem Generalstabschef des Erzherzogs
Albrecht von Österreich, auch bei ihm sei die Kühnheit der kriegerischen Ent¬
würfe das Ergebnis der Einsicht gewesen, daß im Kampfe der mutigste Mann
mich der klügste sei. Bei aller Übereinstimmung der Gesinnung zwischen
Führer und Generalstabschef des Schlesischen Heeres aber spricht sich General
von Unger dahin aus, daß von einem willenlosen Sichlenkenlassen bei Blücher
keine Rede sein könne. In den Briefen an seine Frau und an seine Freunde
haben wir das vollgiltige Zeugnis, daß er nicht allein die Aufgabe seiner
Armee mit voller Klarheit erfaßte, sondern auch deu Gang des Krieges im
großen mit Sicherheit überschaute. Mit Recht heißt es an andrer Stelle:
„Wenn man früher Gneiseuaus Unentbehrlichkeit damit schlagend nachzuweisen
gemeint hat, daß mau Blücher für vollständig unfähig erklärte, einen Feldzugs-
plan aufzustellen, so stehen wir hente doch etwas anders zu dieser Frage.
Allerdings, bei Feldzugsplüneu, wie sie Langenau und Knesebeck ausklügelten,
schüttelte er den Kopf: das sei ihm zu hoch. Daß es aber aufs Schlagen
des Feindes ankomme, wußte er besser als jene. Moltke hat Feldzugspläne,
die über den ersten Zusammenstoß mit dem Feinde hinausgehn, als unsinnig
verworfen, und Napoleon hat in ähnlichem Sinne gesagt, er habe überhaupt
niemals einen Feldzugsplan gehabt. Der Tadel von damals wird in dieser
Beleuchtung für Blücher zum Lob."
Seine ganze Bedeutung als Feldherr offenbarte sich im Feldzuge 1814
in den Tagen von Laon, als er durch Krankheit verhindert war, bei den
Truppen zu erscheinen und deu Befehl nur mittelbar durch Gneisenau fort¬
führte. Hier zeigte sich, daß der Chef des Generalstabs ihn wohl zu ergänzen,
aber nicht eigentlich zu ersetzen vermochte. Freilich haben bei dem gerade
damals übertrieben vorsichtigen Handeln der Schlesischen Armee auch noch andre
Umstände angesprochen: so das Bestreben, erneute Rückschläge, wie man sie
im Februar erlitten hatte, zu vermeiden, das Bedürfnis, die preußischen
Truppen vor weitern starken Einbußen zu bewahren, die Schwierigkeiten, die
Gneisenau als Chef des Generalstabs schon an sich, besonders aber bei einem
Bundesheer erwuchsen. Die Stellung eines Chefs des Generalstabes war zu
jener Zeit noch nicht so fest umgrenzt wie heute. Die damalige Fechtweise
ermöglichte ja forderte unter Umständen die Betätigung des Feldherrn in der
vordem Linie, während er jetzt sein Amt mit mehr Entsagung nnter weit
größerer Zurückhaltung ausübt und zur Übermittlung seiner Befehle technische
Hilfsmittel in Anspruch nimmt. Um die Schlesische Armee vorwärts zu bringen,
bedürfte es damals des Zaubers, deu die Erscheinung des alten Feldherrn
auf die Truppen übte. ^ ^ . < c>
Damit soll nicht gesagt sein, daß Grei man der eigentlichen Fe dherrn-
gaben ermangelt hätte. Das Gegenteil ist der Fall und er war sich dessen
voll bewußt So ist er dann namentlich in der Zeit nach dem ersten Pariser
Frieden nicht frei von Verstimmungen gewesen, wenn Blücher sich ..in seiner
unbefangnen Art gelegentlich Verdienste zichrach die Gneisenau ganz oder
doch teilweise für sich in Anspruch nahm". Dringend erbat s.es Gneisenau für
deu Feldzug 1815 ein höheres Truppenkommando, znma da er f.es „. den
eigentlichen Generalstabsgeschüften nicht gründlich durchgebilde fühlte BotM.
Grolman. Wüstling waren ihm darin überlegen; auch die durchdringende Klar¬
heit seines Freundes Clausewitz hatte er nicht Es ennzeichnet die Lauterkeit
seiner Gesinnung und seine große Bescheidenheit, daß er 1815 den Kriegs¬
minister Boyen bittet, ihm ..einen Generalquartiermeister, seine bessere Hälfte,
auszusuchen", und fortfährt: „Sie wissen s° M w.e ich daß mir einige wesent¬
liche Eigenschaften eines Chefs des Generalstab, abgehen; ich bin weder dem
Gemüt noch der wissenschaftlichen Bildung nach für die e Stelle hinlänglich
ausgerüstet. In meiner Zusammenstellung nut dem Fürsten Blücher wir e ich
nur hauptsächlich durch meinen Charakter auf ihn und ans die Bege euhei en
durch eine entschlossene Ansicht des Krieges, die dnrch einiges Studium der
Geschichte und durch aufmerksame Erwägung der Begebenheiten in nur und
entwickelt hat" Freimütig bekennt er: „Ich bin nicht aufgeblasen genug, um
zu glauben, daß ich der Hilfe genialer Männer entbehren könne; guter Rat ist
mir stets willkommen."
Männern der Tat, die in sich den Beruf zum Truppenführer fühlen und
doch immer hinter dem Feldherrn zurückzutreten haben, werden gelegentliche
Enttäuschungen und Mißstimmungen niemals erspart bleiben. Aus diesem
Gefühl heraus schrieb Scharnhorst 1813: „Mein Leben gäbe ich für das
Kommando eines Tages." Da kann es nicht wundernehmen, wenn der
tapfere Verteidiger von Kolberg ebenso dachte. Bei ihm kam damals allerdings
noch hinzu, daß König Friedrich Wilhelm der Dritte, wenn er auch äußerlich
seine Verdienste ehrte, doch innere Sympathie zu ihm niemals hegte, wie über¬
haupt geistig überragende Persönlichkeiten auf dem Könige lasteten. Auch für
Blüchers Wesen hat der König wirkliches Verständnis kaum gehabt. Gneisenau
kennzeichnet es, daß er sich mit Beginn des Krieges 1815 alsbald wieder in
seine Rolle neben dem alten Feldherrn hineinfand, und wie hoch er dessen
Verdienste schätzte, beweist eine spätere Äußerung von ihm. Als des Feld¬
marschalls Sturz bei Ligny und die Gefahr seiner Gefangennahme vor Gneisenau
besprochen und von jemand zu ihm gesagt wurde: „Na, dann hätten wir Sie
ja gehabt", sagte Gneisenau entschieden: „Glauben Sie denn, daß einer von
uns den Alten im Heere hätten ersetzen können? Sein Vorwärts! blitzt in
seinen Augen und ist in die Herzen unsrer Soldaten eingegraben."
Wenn Generalleutnant von Unger bei Erwähnung der fehlenden General¬
stabsschulung Gneisenaus sagt: „Im Betrieb des Generalstabshandwerks beim
Oberkommando treten häufig bedenkliche Nachlässigkeiten zutage", so geben ihm
die Tatsachen an sich unzweifelhaft recht. Namentlich bei Eröffnung des
Herbstfeldzuges 1813 trat das hervor. Immerhin ist zu bedenken, daß eine
eigentliche Generalstabsschulung in unserm Sinne damals überhaupt kaum be¬
stand. Was man so nannte, fiel mehr in das Gebiet phantastischer Kriegs¬
pläne und unfruchtbarer Abstraktionen, nicht in das praktischer Truppenführung
wie heute. Mit welchen veralteten Begriffen nach dieser Richtung noch Moltke
zu kämpfen hatte, erkennt man ganz besonders beim Durcharbeiten der von
ihm vor dem Jahre 1870 geleiteten, vor kurzem veröffentlichten Generalstabs¬
reisen, auf denen er den Grund für jene Schulung der höhern Truppenführer
und ältern Generalstabsoffiziere legte, der ein wesentlicher Anteil an unsern
kriegerischen Erfolgen gebührt. Sodann darf nicht übersehen werden, daß die
Art der Kriegführung, wie sie das Schlesische Hauptquartier anwandte, damals
noch etwas neues war. Blücher und Gneisenau begegneten Napoleon mit
seinen eignen Mitteln, sie übten schon damals die Kunst des Getrenntmar-
schierens, um vereint zu schlagen; daß hierbei Mißgriffe und Reibungen nicht
ausbleiben konnten, wo man noch 1806 in den starren Fesseln der Lineartaktik
gesteckt hatte, kann nicht wundernehmen. Auch beim Gegner fehlten solche
Reibungen nicht. Trotz zwanzigjähriger Kriegspraxis ist Napoleon nur selten
von seinen Generalen ganz verstanden worden. Seine Korrespondenz enthält
eine Fülle von Kriegslehren, und aus der Art, wie er sie entwickelt, erkennt man,
dasz er seinen Marschällen, auch den bedeutendern unter ihnen, doch für sie
bisher neues sagt. Es ist das unvergängliche Verdienst der leitenden Männer
des Schlesischen Hauptquartiers, daß sie die Grundzüge napoleonischer Krieg¬
führung klar erkannten und in die Wirklichkeit übertrugen. Damit fand der
gesunde, jeder Künstelei und strategischen Überfeinerung abgeneigte Naturalis¬
mus in der preußischen Armee Eingang. In den spätern langen Friedens¬
jahren ist nicht immer an ihm festgehalten worden, aber die Verarbeitung der
Erfahrungen der Napoleonischen Kriegszeit durch Clausewitz hat diese schließlich
zu einem Gemeingut unsrer Armee werden lassen. Moltke hat an Clausewitz
angeknüpft und dahin gewirkt, daß bei uns 1870 napoleonische Grundsätze in
der Heerführung zutage traten, während sie den Franzosen völlig entschwunden
waren.
Es konnte nicht ausbleiben, daß die rücksichtslose Kriegführung, wie sie
Blücher und Gneisenau übten, den Widerspruch der Korpsführer weckte. Be¬
kanntlich hat Yorck. dem. so sehr er es verstand, beim Angriff alle Kräfte an
den Sieg zu setzen, die Schonung seines Armeekorps am Herzen lag, der
Armeeführung heftig widerstrebt, und von den beiden russischen Korpsführern
hat Langeron der Armeeführung häufig wenigstens passiven Widerstand ent¬
gegengesetzt, wenn auch, wie Generalleutnant von Unger zutreffend betont,
ausgesprochner böser Wille, wie öfter behauptet worden ist. bei ihm nicht nach¬
zuweisen ist. Unter diesen Umständen waren Blüchers fortreißende Person-
. lichkeit und Gneisenaus frische Tatkraft von höchstem Wert und allein imstande,
die zahlreichen Reibungen, die sich innerhalb der Armee ergaben zu über¬
winden. Hielten beide Männer unbeirrt an ihren großen Zielen fest, kannten
sie keine Schonung der Truppe, wo ihnen der Kriegszweck solche nicht zuzu¬
lassen schien so waren sie doch immer bereit, ihrer persönlichen Empfindlichkeit
ein Opfer zu bringen, wo das Interesse des Vaterlandes es forderte. Blücher
kannte den hohen soldatischen Wert Yorcks und hat die Ausbrüche von dessen
galliger Natur immer wieder gelassen hingenommen. Als sich Yorck im
Mürz 1814 krank meldete und die Armee zu verlassen gedachte, waren es
einige herzliche Zeilen Blüchers, die ihn zur Rückkehr bewogen. Trotz heftiger
Augenschmerzen fügte der Feldmarschall einem begütigenden Dienstschreiben
eigenhändig die Worte hinzu: „Alter Waffengeführte, verlassen Sie die Armee
nicht, da wir am Ziel sind; ich bin sehr krank und gehe selbst, sobald der
Kampf beendet" Yorck antwortete hierauf: ..Euer Exzellenz eigenhändiges
Schreiben ist der Abdruck Ihres biederen Herzens, welches ich immer schätzte
und schätzen werde." . ^ ^ . ^- ,
Die Mißstimmung Yorcks war seit den Niederlagen, die Napoleon im
Februar 1814 den getrennten Korps der Schlesischen Armee zwischen Seine
und Marne bereitet hatte, nicht geringer als einst in den Tagen der Katzbach¬
schlacht. Dazwischen aber lagen Wartenburg und Möckern. die schönsten
^
Ruhmesblätter der Schlesischen Armee und des Korps Jorcks im besondern.
Am 26. September 1813 schrieb Gneisenau an Clausewitz: „Wir wollen die
Szene eröffnen und die Hauptrolle übernehmen, da die andern es nicht
wollen. - . - Bei der Großen Armee entwirft man stets neue Pläne und kommt
nie zur Ausführung; und nach zwei Siegen treibt sich der Kronprinz von
Schweden zwischen Nuthe und Elbe herum." Die Initiative, die die Schlesische
Armee mit dem Rechtsabmarsch nach Wartenburg an sich riß, hat sie fortan
behalten. Die Schwierigkeiten und Gefahren, die das Unternehmen in sich
barg, waren Blücher nicht verborgen, aber in seiner Geistesfrische ging er sofort
auf Gneisenaus Vorschlag ein. „Die Tat von Wartenburg zeigte alsdann
in besonders ausgesprochner Weise das Zusammenwirken der drei besten Männer
der Schlesischen Armee: der Gedanke gehört Gneisenau, der Entschluß Blücher,
die Tat aber hauptsächlich Aorck. Man weiß nicht, ob man die Kühnheit des
Entschlusses oder die Tatkraft bei der Ausführung mehr bewundern soll."
Auf Blücher und Gneisenau passen in gleichem Maße die Worte von
Clausewitz*): „Die Kühnheit ist vom Troßknecht und Tambour bis zum Feld¬
herrn hinauf die edelste Tugend, der rechte Stahl, welcher der Waffe ihre
Schärfe und ihren Glanz gibt." Daß sie vom rechten Stahl waren, haben
sie auch im Unglück bewährt, wie einst schon auf dem Zuge nach Lübeck und
bei Kolberg. Ihre Zuversicht teilte sich nach unten mit, und so haben sie das
Schwerste vollbracht, das im Kriege der Führung beschieden sein kann: die
Truppen nach Niederlagen zu neuen Siegen zu führen. So war es nach den
Februartagen von 1814, so in der entscheidenden Stunde von Belle-Alliance.
Der neueste Blücher-Biograph hat es in sehr geschickter Weise verstanden,
die Rolle seines Helden und alles auf ihn bezügliche in die großen welt¬
geschichtlichen Ereignisse einzupassen. Diese selbst werden klar und gut skizziert,
und es ist glücklich vermieden, Bekanntes zu wiederholen oder, wozu der Stoff
leicht verführen konnte, von dem eigentlichen Gegenstande abzuschweifen. Nicht
nur der Soldat findet in dem Buche, was ihm frommt, es ist vielmehr bei
der Frische und Lebendigkeit seiner Darstellung echt volkstümlich. Ju solchem
Sinne ist es ein nicht zu unterschätzendes Verdienst des Generallentnants
von Unger, diesen vaterländischen Helden dem heutigen Geschlecht wieder näher
gebracht zu haben. Wie packend wirkt nicht die Schilderung von Blüchers
Zusammentreffen mit Wellington am 16. Juni 1815 an der Windmühle von
Brye: „Wohl mochte man streiten, ob Blüchers Hünengestalt die achtung-
gebietende Hoheit seines britischen Mitfeldherrn erreiche; aber welches Herz
wäre nicht durch einen Blick aus dem offnen Antlitz des Deutschen ge¬
wonnen gewesen! Wohl wiesen die gealterten Züge um Augen und Mund¬
winkel Spuren von listiger Verschlagenheit, von leicht aufflammenden Ingrimm
und tiefer Verachtung für das Schlechte auf, aber alles überstrahlte der Aus-
druck herzlicher Freundlichkeit, selbstverständlicher Kühnheit, unwandelbarer
Treue; aus den Augen loderte noch das Feuer einer Begeisterung, die ihre
Kraft aus dem Himmel holt und sich das Höchste zum Ziel setzt. Unter der
Schirmmütze quillt noch das volle weiße Haar; der offne Überrock läßt auf
weißer Weste das breite Orangeband des Schwarzen Adlerordens sehen. Die
Rechte hält mundgerecht die kurze Tabakspfeife, die bestimmt scheint, die Seelen¬
kräfte des gewaltigen Mannes durch beruhigende Beschäftigung so lange im
Gleichgewicht zu halten, bis der Augenblick gekommen ist, wo die Faust den
Säbel zu blutiger Arbeit aus der Scheide reißt."
Und doch danken wir Blücher sehr viel mehr als nur diese „blutige
Arbeit". Im Schlußwort unsers Buches heißt es: „Es ist merkwürdig, mit
welcher zweifellosen Sicherheit sich Blücher berufen fühlte den »Tyrannen«
zu stürzen. Er sah nicht wie Goethe die Bürgschaft für Napoleons Unbezwing¬
barkeit in der Größe seines Geistes, er sah mit Stein in der Verderbtheit
seines Tuns die Notwendigkeit seines Untergangs. Von den Ahnen über¬
kommen, steckte ihm tief im Blut das Bewußtsein eines eingebornen Rechts ans
Freiheit. Fremdes Wesen in Deutschland herrschen zu sehen, empörte ihn
leidenschaftlich; der Gedanke, auch Fesseln tragen zu müssen, machte ihn rasend.
Ihm war der Befreiungskampf ein heiliger Kampf um die hehrsten Menschen-
rechte. Er schöpfte in der Religion die Zuversicht auf einen glücklichen Aus-
gang. .. . Blücher hatte aus dem Zuscnnmeubruch Preußens durch alle Prü¬
fungen und Enttäuschungen hindurch sich den leidenschaftlichen Willen bewahrt,
an dem Sturz der Fremdherrschaft mitzuwirken; und ihm war es nicht um
Preußen allein, ihm war es um Deutschland zu tun. Er sprach das herrliche
Wort, daß durch Preußen dem ganzen deutschen Vaterlande aufgeholfen werden
müsse, daß der König und Preußen ihre Existenz und Macht nur gemein¬
schaftlich mit dem deutschen Vaterlands aufrechterhalten könnten."
Möchte auch dieses schöne, einigende Wort des Helden in unsrer Zeit
des Parteihaders und erneut auflebender partikularistischer Strömungen nicht
ungehört in deutschen Landen verklingen!
in 33. vorjährigen Hefte ist die Art und Weise kritisiert worden,
wie Ernest Seilliere das Wort Imperialismus gebraucht oder
vielmehr mißbraucht. Er hat mir darauf geschrieben, er habe
deutlich machen wollen, was jetzt in Frankreich en vnilosoKis
unter diesem Worte verstanden werde; worauf zu erwidern ist.
daß das Wort in die Politik und in die Geschichte gehört und in der Philo¬
sophie überhaupt keinen Sinn haben kann. Seilliere beruft sich auf das Journal
des Debats, in dessen philosophischen Artikeln es sehr oft vorkomme, xour
<ZAi'Ä<ze6ri8er l'utilitMLirw, oouroimö et xorksotionns par til xröptu'gelon als ig,
xuissÄiKze. Wenn man diese Phrase übersetzen darf: auf politische Macht-
erwciterung gerichtete nationale Selbstsucht, so kommt sie dem richtigen Begriff
von Imperialismus wenigstens nahe, zu dem allerdings noch gehört, daß die
Machterweiterung nicht in der Einfügung neuer Gebiete in den Staatsverband,
sondern in der Unterjochung mehrerer Nationen durch eine herrschende Nation
bestehe. In den Betrachtungen SeiMres aber ist von Politik überhaupt keine
Rede mehr; er nennt höchst überflüssigerweise demokratischen, individualistischen,
romantischen Imperialismus, was wir gewöhnliche Menschen Demokratie, In¬
dividualismus und Romantik nennen und so zu nennen fortfahren werden.
Herr Seilliere schreibt, er hoffe, der vierte Band seiner „Philosophie des Im¬
perialismus" werde mir hoffentlich besser gefallen als der dritte. Gefallen hat
mir ja auch der dritte, denn Seilliere schreibt immer gefällig, und wenn mir
die letzten beiden weniger gefallen als die ersten beiden, die von Gobineau
und Nietzsche handelten, so liegt das an dem weniger interessanten Stoff.
Aber das Gefallen an der Darstellung darf den Rezensenten nicht abhalten,
dagegen zu protestieren, wenn mit einer falschen Terminologie Verwirrung
angerichtet und einem konstruierten Schema zuliebe den Tatsachen Gewalt an¬
getan wird.
Vom vierten Bande ist voriges Jahr die deutsche Übersetzung von
Fr. von Oppeln-Bronikowski bei H. Barsdorf in Berlin unter dem Titel er¬
schienen: Die romantische Krankheit. Fourier — Beyle-Stendhal. Das
Buch besteht im wesentlichen aus zwei Monographien über die beiden genannten
Männer; die zweite ist vorher in der Revue des Deux Mondes veröffentlicht
worden. Sie sollen als Typen die beiden „Imperialismen" — jetzt nennt er
sie Nomcmtismen — illustrieren, die er im dritten Bande behandelt hat: den
Nomcmtismus der Armen, der sich ans den „sozialen Mystizismus" — soll
heißen auf die Theorie von — der natürlichen Güte des Menschen stützt, wie
sie Rousseau gepredigt hat, und den Romantismus der Reichen. Dieser stütze
sich auf einen (soll heißen: bestehe in einem) ästhetischen Mystizismus (ich finde
schlechterdings nichts Mystisches darin), „auf den Dilettantismus in seinen ver-
schiednen Äußerungen, die geniale Ironie der deutschen Romantiker, das Dcmdy-
tum, das 1'art xour I'art-Prinzip, den Persönlichkeitskultus, das Nietzschische
Übermenschentum in seiner dionysischen Form." Daß Fourier von dem Glauben
an die natürliche Güte der Menschen ausgeht, ist richtig; ob er es jedoch ver¬
dient hat, uoch einmal ausführlich dargestellt zu werden, das ist eine andre
Frage. Amüsant ist ja die Darstellung; denn Fourier ist ein kompletter Narr,
und seine Narrheit hat nicht allein Methode, sondern auch einen solchen Mut
der Folgerichtigkeit, daß sie die tollste aller Utopien geschaffen hat, die ebenso¬
gut das Werk eines Dichters wie das eines Weltverbesserers sein könnte. Und
eben darum irrt Seilliere, wenn er diesen Narren den „gemeinsamen Vater des
heutigen Anarchismus und Sozialismus" nennt und mit ihm die Sozialdemo-
kratie abgetan zu haben glaubt. Diese ist nur eine der Formen der modernen
Arbeiterbewegung, die aus der ökonomischen und sozialen Umwälzung des neun¬
zehnten Jahrhunderts mit Notwendigkeit hervorgegangen ist und nicht anders
verlaufen sein würde, wenn Fourier niemals geschrieben, niemals gelebt hätte;
aus ihrer Geschichte kann dieser Phantast ausgeschaltet werden, ohne eine Lücke
zu lassen. Daß die moderne Arbeiterbewegung hie und da utopische Hoffnungen
erzeugt hat, und daß sich die Führer der Erregung solcher Hoffnungen als
eines zugkräftigen Agitationsmittels bedient haben, das hat sie mit allen sozialen
Bewegungen gemein. Weit mehr Berechtigung hat die Monographie über Henri
Beyle, denn dieser ist weniger bekannt; und er ist in neuerer Zeit Mode ge¬
worden. „Die Moderne" verehrt in ihm einen Vorläufer Nietzsches, womit
diesem eigentlich unrecht geschieht; denn Nietzsche hat seine Welt-, Menschen-
und Religionskritik furchtbar ernst genommen, jener französische Literat aber hat
nie etwas ernst genommen; man würde ihm sogar noch zu viel Ehre erweisen,
wenn man ihn einen kleinen Heine neunte. Aber eine interessante, wenn auch
nichts weniger als anziehende Erscheinung bleibt er. Selik.ere charakterisiert ihn
als einen Menschen von ererbter krankhafter Erregbarkeit, getrübter Urteilskraft,
unmüßiger Eitelkeit, schwachem Willen, großer Unbeständigkeit, abnormer Phantasie,
galliger Bosheit und ungezügelten ..Egotismus". Dieses Wort ist Beyles
Schöpfung. undSeilliere gebraucht es zur Bezeichnung der ungezügelten Eigen¬
liebe im Unterschiede vom berechtigten Egoismus Sein Leben war eme be¬
ständige Maskerade. ..Er gab selbst zu. daß er jedermann etwas vorlog Nie¬
mand wußte genau, mit welchen Menschen er verkehrte welche Bucher er
geschrieben. welche Reisen er gemacht hatte. Seine za llosen Pseudonymen waren
noch seine verzeihlichsten Fälschungen. August Busstere. der ihn persönlich ge¬
kannt hatte, schrieb am Tage nach seinem Tode in der Revue des Deux Mondes:
„Bald Kavallerieoffizier, bald Eisenhändler, bald eme Frau Marquis^de Stendhal.
Lisio Visconti. Salviati. Birbeck. Strombeet. Baron Bodmer. Sir William R..
Theodose Bernard. Cesar Alexander Boudet. Lagencvcns - so hat er sich selbst
sein Leben lang Komödie vorgespielt. Es macht Spaß, zuzusehen, wie er unter
seiner Vermummung innerlich lacht und die Lippen zusammenkneift. Dann er¬
greift ihn plötzlich ein panischer Schrecken vor diesem phantastischen Theater
unter seiner Nachtmütze, und er läuft. Stühle und Kulissen umwerfend, davon.
Der Augenblick, wo er entdeckt zu werden fürchtet, kehrt für ihn fast täglich
wieder, namentlich aber dann. wenn er ein neues Buch veröffentlicht hat ser
scheint sich der in seinen Büchern enthaltenen Offenbarungen seines Innern ge¬
schämt zu haben!. Dann ist er plötzlich verreist; vergebens sucht man ihn.
Er flieht vor seinen der Öffentlichkeit preisgegebnen Gedanken." Während er
alle andern Erlebnisse und Nichterlebnisse. die er erzählt, „episch auszuschmücken"
Pflegte hat er es nur gerade mit dem größten anders gehalten: dem russischen
Feldzuge den er als Jntendanturbeamter mitmachte. Dessen Bedeutung und
die Schrecken des Rückzuges war er herabzumindern beflissen, teils aus Liebe
zum Paradoxen, teils um seine Kaltblütigkeit glänzen zu lassen, die ihn „diese
titanische Episode wie ein Glas Limonade genießen ließ". Von den Qualen
der hungernden und frierenden Soldaten hat er freilich selbst nichts empfunden.
„Er reiste im Wagen, war freier Herr seiner Entschließungen, und an Lebens¬
mitteln kann es ihm nicht gefehlt haben, da es ja seine amtliche Obliegenheit
war, diese den andern zu verschaffen. Als er seine Energie nachlassen fühlte,
schützte er Unwohlsein vor, nahm die Post und fuhr in einem Zuge bis nach
Königsberg, wo er sich am Abend seiner Ankunft »die Milde des Titus«
anhörte."
Wie sind die beiden wunderlichen Käuze in eine „Philosophie des Im¬
perialismus" geraten? Mir den zweiten könnte man im Scherz geltend machen,
daß er Beamter eines Imperators gewesen ist. Und romantisch kann man sie
nur nennen, wenn man alles zur Romantik rechnet, was jenseits der Grenzen
spießbürgerlicher Ordnung liegt. Um den Titel seines Buches einigermaßen
gerechtfertigt erscheinen zu lassen, hat Seilliere den beiden Monographien eine
Einleitung vorausgeschickt, die eine Verbindung zwischen ihnen herstellen soll.
Die drei Kapitel dieser Einleitung sind überschrieben: Die dreifache Wurzel des
romantischen Seelenzustandes, Die fünf Generationen des Romantismus, Die
Heilung der romantischen Krankheit. Auf eine kritische Analyse dieser Ab¬
handlung muß ich verzichten, weil sie sich zu einem ganzen Buche auswachsen
würde. Ein paar Bemerkungen mögen zu einiger Klärung der darin ange¬
richteten Verwicklung von Tatsachen und Theorien einiges beitragen. Seilliere
wird von einer sehr achtungswerten Tendenz beseelt. Was er Romantismus
nennt, das ist der Inbegriff alles Krankhaften im heutigen Seelen- und Völker¬
leben: das Überwuchern der Vernunft durch Gefühle, Phantasien und sinnliche
Triebe, die Ertötung des Pflichtgefühls durch das Betonen des Rechts auf
Genuß, das Streben der gierigen ungebildeten Massen nach der Gewalt im
Staate, das Schwelgen der fein organisierten Geister im ästhetischen Genuß ohne
Rücksicht auf ihre Pflichten gegen das Gemeinwesen. Er steht diesem „Roman¬
tismus" gegenüber, etwa so wie bei uns die Männer des kategorischen Im¬
perativs einerseits den Sozialdemokraten, andrerseits den um die „Jugend" und
den „Simplicissimus" oder um das Berliner Theater sich scharenden literarischen
Feinschmeckern gegenüberstehn; man mag auch an die vernichtende Kritik denken,
die Schiller an Bürger geübt hat, und an die Entrüstung, die in frommen
Kreisen Schlegels Lucinde hervorrief. Natürlich sind wir darin mit ihm ein¬
verstanden. Besonders da er dabei augenscheinlich einen patriotischen Zweck im
Auge hat, den er freilich nicht offen auszusprechen wagt — wir werden ihn
sogleich andeuten. Aber wenn er alle diese von ihm bekämpften Krankheits¬
erscheinungen in die Kategorie „Romantik" zusammenpreßt, so gibt er einen
falschen Begriff von dem, was wir in Deutschland unter diesem Worte verstehn.
Außerdem verteilt er die geschichtlichen Tatsachen falsch in die beiden Kategorien
Rationalismus (oder Enzyklopädismus) und Romantik und verkennt er die Be¬
rechtigung einiger der von ihm verworfnen Bestrebungen. Daß eine Reaktion
gegen die vom Kalvinismus und vom Jansenismus verbreitete düstere Vor¬
stellung von der Verderbnis der Menschennatur notwendig gewesen ist, erkennt
er an; wenn er aber meint, die katholische Kirche halte mit ihrem Erbsünd-
dogma die richtige Mitte inne. so ist zwar einzuräumen, daß sich einzelne ihrer
Lehrer, wie der von Seilliere gelobte Franz von Sales. dieser Müßigung befleißigt
haben, zugleich aber daran zu erinnern, daß gerade das Papsttum es gewesen
ist. das durch die Dogmatisierung des Hexenabcrglaubens mehrmals drei Gene¬
rationen der europäischen Menschheit recht eigentlich dem Teufel überliefert hat,
und daß die Romantiker" im Bunde mit den Rationalisten die „Christen" aus
verrückten Fanatikern wieder zu Menschen gemacht und damit der wirklich vor¬
handen natürlichen Güte der Menschennatur zu erneuten. Dasein verholfen
haben. Und wenn es Seilliere als ..ästhetischen Mystizismus" verurteilt, daß
sich im modernen Deutschland viele Stimmen gegen die Dressur in der Kinder¬
erziehung (z. B. gegen die zierlichen Knickse der kleinen Madchen u.it d.e artigen
Verbeugungen der kleinen Jungen) wenden und wiederum wie Rousseau und
Basedow Rückkehr zur Natur fordern, so erinnert uns das daran, daß Rousseau,
mögen seine Charakterfehler und seine Irrtümer so groß sem. wie sie wollen
mit seinem Emil der Jugend und der ganzen MeMhett eme ungeheure Wohltat
erwiesen hat. Daß er die kleinen Mädchen von Schuurnueder und Reifrock die
kleinen Jungen vom Zopf, die Kinder beider Gesthlechter vom Pu er erlös hat,
ist schau an sich etwas Großes, und es ist och nur das Syr.do ^ Über¬
gangs zu den vernünftigen Erziehungs- und Unternchtsgriindsatzen um Methoden,
die seitdem allmählich zur Herrschaft gelangt s.ut Einen ganz falschen Zi.-
sammenhang zwischen den geistigen Bewegungen des achtzehnten ^ahrhundett^
konstruiert Seilliere wenn er von den „Orgien des praktischen Romantismus"
spricht, „die dem Revolutiouszeitalter den Stempel aufgedrückt" hätten. Nicht
Praktischer Romantismus. sondern praktischer Rat.oual.venus ist le Terreur ge¬
wesen- Wirkung der Einbildung, es lasse s.es em vollkommner Staat, eme voll-
kommne Gesellschaft im Kopfe konstruieren und - wenn man in.r den Mut
hab, alle Widerstrebenden zu köpfen - in der WMichkei herstellen. Dieselbe
rationalistische Einbildung liegt allem Utopismu. zugrm.de Wenn Rousseau
für diesen Gang der Dinge verantwortlich gemacht werden soll so muß mau
nicht seinen „Romantismus", seinen Glan en an d.e Gute de^ Meuschenua ur,
sondern seinen Rationalismus heranziehn, semen Begriff von Staat und Gesell¬
schaft als Willkürgebilden, die durch einen Ko.llrakt hergestellt^ wurden;
durch Satzung, nicht sagten die alten Soph.so. .in Gegensatz zu den
wahren Philosophen, die erkannten, daß Familie und Staat sah°Pf»ngm der
Natur oder Gottes seien. Hier wäre auch r.ehe.ger als es Se.it.ere we zu
zeigen, was die „Mystik des Unbewußten", w.e sie sich e. Har um... sinde.
mit diesen. Gegensatze zu schaffen hat und n.ehe zu schaffen hat. D.ches
„Unbewußte", worin er die Gesamtheit der biologisch erworbnen gesunden Instinkte
sieht, unter die Herrschaft der bewußten Vernunft bringen und von dieser be¬
nutzen lassen, darin sieht er das letzte der drei Heilmittel der romantischen
Krankheit. Das zweite ist ihm die kirchliche Erziehung, die den Menschen gut
zu disziplinieren vermöge (wobei er hervorhebt, daß die Kirche schwärmerische
Ausschreitungen im Meinen und im Gefühlsleben, wie die der Nonnen von
Port Royal, zu bekämpfen pflege). Als erstes aber nennt er „das enzyklopädische".
Dieses sei das vom Staate abgestempelte offizielle. Die enzyklopädische Lehre,
mit der offenbar die Lehre der Enzyklopädisten gemeint ist, werde jetzt den
Gesetzen und Verordnungen gemäß dazu angewandt, „die Demokratie aufzu¬
klären und den moralischen Fortschritt der künftigen Staatsbürger in den höhern
Schulen vorzubereiten. Man hat mit Recht gesagt, Diderots Schatten schwebe
über unserm jetzigen französischen Erziehungswesen. Leider aber droht dies
Heilmittel, sowie es die Praktiker anwenden, die das Monopol darauf besitzen,
die Jugendkrankheit, die es heilen soll, zur dauernden zu machen." Schade,
daß er sich nicht deutlicher ausdrückt; seine Klagen darüber, daß auch die Enzy¬
klopädisten, trotz ihrer entschiednen Feindschaft gegen Rousseau, von dessen Geist
angekränkelt gewesen seien, deuten immerhin an, was er zu meinen scheint.
Ohne Zweifel macht es ihn unglücklich, zu sehen, wie die französischen Volks¬
schullehrer, weit entfernt davon, den Sozialismus energisch zu bekämpfen, selbst
in hellen Haufen ins sozialdemokratische Lager überlaufen.
Bei uns in Deutschland hat man niemals einem so uferlosen Begriffe des
Wortes Romantik gehuldigt; vielmehr haben es Literarhistoriker wie Otto von
Leixuer schon bedenklich gefunden, daß eine bekannte Gruppe von Dichtern und
Denkern als romantische Schule bezeichnet wird, da es doch sehr verschiedne
Richtungen, Strömungen und Bestrebungen seien, die sich in ihren literarischen
Schöpfungen offenbaren. Zwei dieser Strömungen, die historische und die
naturphilosophische, haben in Wechselwirkung miteinander ein tüchtiges Stück
Weltgeschichte gemacht; zu ihren Früchten gehören: die Stärkung der durchaus
irrationalen dynastischen und Nationalgefühle und — der kräftige deutsche
Katholizismus unsrer Tage, wenn man es drastisch ausdrücken will: das Zen¬
trum. Die rationalistische Aufklärung war notwendig gewesen, den dogmatischen
Fanatismus und den Aberglauben in seiner scheußlichsten und verderblichsten
Form zu überwinden, und als Vorlnuserin des politischen und wirtschaftlichen
Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts hat sie die Staatsmänner der
absoluten Monarchie befähigt, veraltete Einrichtungen zu beseitigen und die Ver¬
waltung den sich immer rascher wandelnden Bedürfnissen besser anzupassen.
Aber der Nationalismus litt an Einseitigkeit. Die Geringschätzung der Herzens¬
bedürfnisse, der Volksarteu und Volksgcwohnheiten beleidigte die Massen. Und
man verstrickte sich in verhängnisvolle Irrtümer. Weil man vieles zu erklären
vermochte, glaubte man alles erklären zu können; weil der im Monarchen oder
im gebietenden Minister verkörperte vernünftige Wille mächtig waltete, hielt er
sich für allmächtig. Man huldigte der Sophistenansicht, daß alle gesellschaft¬
lichen Einrichtungen und Zustande willkürliche Schöpfungen entweder einmütiger
Bürgerschaften oder überlegner Einzelgeister oder Aristokratien seien, und hielt
insbesondre die Religionen, aus denen alles Übernatürliche hinweginterprctiert
wurde, für klug berechnete Erfindungen selbstsüchtiger Priesterschaften. Auch die
Philosophie kam dieser Richtung zu Hilfe: sie war selbst mathematisch gerichtet.
Die großen Denker des siebzehnten Jahrhunderts und der ersten Hälfte des
achtzehnten waren Mathematiker, Mechaniker. Astronomen. Sie hatten es mit
durchsichtigen Gebilden, mit streng berechenbaren Größen zu tun und förderten
durch die Schulung, die sie der vornehmen Jugend angedeihen ließen, die Neigung,
Staat und Gesellschaft als Maschinen aufzufassen, die sich künstlich konstruieren,
von einem Punkte aus bewegen und regulieren ließen. Die Keime einer or¬
ganischen Auffassung der Welt und der Menschheit, die in Leibnizens Schriften
lagen, blieben vorläufig unentwickelt. Es ist klar, daß diese Denkweise, je mehr
sie sich durchzusetzen versuchte, an der Natur der Dinge und der Menschen un¬
überwindliche Hindernisse finden mußte. Die Massen leisteten passiven Wider¬
stand, die Gemüter bäumten sich auf. in der Französischen Revolution führte
sich der Nationalismus selbst ^ avsuräum. Mittlerweile waren Denker und
Forscher längst in einer der rationalistischen Richtung entgegengesetzten tätig ge¬
wesen. Herder hatte erkannt, daß die Sitten und Einrichtungen der Völker
nicht ersonnen und gemacht werden, sondern gleich den Naturdingen werden und
wachsen unter geographischen und klimatische.: Einflüsse». Und er fand wenn
man sich die Sitten und die Schöpfungen der verschonen Völker und Zelten
genauer beschaue, so seien sie schön und liebenswert, während der rationalistische
Geist alles von seiner verstandesmäßig konstruierten Norm abweichende für
häßlich, fratzenhaft, barbarisch erklärte, namentlich im ganzen europäischen Mittel¬
alter, das er nach den noch vorhandnen Resten von Aberglauben beurteilte, nur
einen wertlosen Wust fratzenhaften Unsinns sah. In Herders und seiner Geistes¬
verwandten Einsicht lag ein doppelter Gewinn; der historische Sinn war erwacht
und erleuchtete die mit wachsendem Eifer tätige historische Forschung! das
klassische Altertum erschien nicht mehr als die allein berechtigte Mustergestalt
echten Menschendaseins! man überzeugte sich, daß auch im Mittelalter die
Menschen in Kunst und Gewerbe, in sozialen Ordnungen und im wissenschaft¬
lichen Denken Achtungswertes geleistet hätten, daß das Mittelalter eine Zeit
ganz normaler Entwicklung gewesen sei. Man fand die gotischen Bauten schön,
schön auch die alten Dichtungen, die Volkslieder und Volkssagen, ja sogar die
Legenden von den „lieben Heiligen". Der andre Fortschritt bestand in der
Wendung von der mechanischen zur organischen Auffassung der Natur und des
Menschenlebens. Die Naturforscher wandten sich der Chemie zu. die eine er¬
staunliche Verwandlnngsfühigkeit der Stoffe offenbarte und damit bewies (diesen
Beweis vervollständigt die heutige Raumforschung), daß die Alchimisten der
Wahrheit auf der Spur gewesen waren, und zugleich der Erforschung des
organischen Lebens, bei der man mit mechanistischen Erklärungsversuchen nicht
auskommt, wie die vergeblichen Anstrengungen unsrer heutigen Biologen zeigen.
In beiden Gebieten hatte man es mit geheimnisvollen Kräften zu tun, mit der
„heiligen Naturkraft innerm Wirken", wie Alexander von Humboldt es einmal
nennt. Von der heiligen Naturkraft aber hatte man nicht weit zu Gott, und
als der tierische Magnetismus entdeckt, die Aufmerksamkeit auf gewisse außer¬
gewöhnliche Erscheinungen des Nervenlebens gelenkt worden war, befand man
sich plötzlich wieder mitten drin im mystischen Dunkel, aus dem der Rationalis¬
mus die Menschheit für immer herausgeführt zu haben glaubte; Kant muß sich
mit einem Geisterseher auseinandersetzen, und einem Nicolai zum Trotz Spukes
in Tegel.
Es bedarf keiner langen Auseinandersetzung, um klar zu machen, wie diese
geistigen Strömungen dem religiösen Sinn Nahrung zuführen mußten. Auf
die mannigfaltigste Weise geschah es: durch historische Einsicht, durch eine poe¬
tische Stimmung, die von der geschichtlichen, der Mythen- und Sagenforschung
mit Stoffen reichlich befruchtet wurde, durch halb poetische, halb philosophische
naturwissenschaftliche Analogien. Die protestantische Frömmigkeit ist dabei nicht
leer ausgegangen, wie der religiöse Zug in den Freiheitskämpfen von 1813
beweist (wobei denn auch des starken historischen Sinns zu gedenken ist, der in
Staatsmännern von der Art eines Justus Möser, eines Freiherrn vom Stein
waltete), aber den Hauptvorteil zog doch der Katholizismus, der an der Jahr¬
hundertwende in den Kreisen des vortrefflichen Ministers Fürstenberg und der
Fürstin Gallitzin in Münster, des Professors, spätern Regensburger Bischofs
Salier, der Münchner, Tübinger, Mainzer, Straßburger Theologen eifrige, geist-
und gemütvolle Pfleger fand. Das im engern Sinne romantische Element ver¬
traten in diesen Kreisen Görres und Clemens Brentano, jener den protestantischen
Historikern und Altertumsforschern, dieser den Dichtern die Hand reichend,
während Salier mit den meisten bedeutenden Menschen des damaligen Deutsch¬
land in regem Gedankenaustausch gelebt hat.
Was die Philosophen von Fach betrifft, die der Romantik zugerechnet zu
werden Pflegen, so war es ursprünglich keineswegs ihre Absicht, den Kirchen¬
glauben zu fördern. Der eine, Fichte, wurde des Atheismus angeklagt, und
der andre, Schelling, bewies, daß der überlieferte Gottesglaube unmoralisch sei.
(Fr. Wilh. Schelling: schöpferisches Handeln. Herausgegeben und ein¬
geleitet von Emil Fuchs, mit Porträt. Jena und Leipzig, Eugen Diederichs, 1907.
In demselben Verlag ist das literarische Selbstbildnis eines dem schellingschen
verwandten Geistes erschienen, der freilich auf andern Gebieten tütig gewesen
ist: Wilhelm von Humboldt. Universalität. Ausgewählt und eingeleitet
von Johannes Schubert, mit Porträt.) Freilich ist Schelling zuletzt dem posi¬
tiven Glauben sehr nahe gekommen, wenn er sich auch nicht, gleich seinem
Freunde Friedrich Schlegel, entschließen konnte, in die katholische Kirche zurück¬
zukehren. Das Katholisieren dieser Geister mag schuld gewesen sein, daß die
Romantiker lange Zeit in den Literaturgeschichten schlecht weggekommen sind,
und daß man ihre literarischen und tatsächlichen Eheirrungen strenger beurteilt
hat als die andrer berühmter Leute. Ein besondres Buch hat Erwin Kircher
der Philosophie der Romantik gewidmet, ist aber durch Krankheit und Tod
an der Vollendung verhindert worden. Was vorhanden war, haben Margarete
sühnen und Dr. Heinrich Simon 1906 im Diederichsschcn Verlag herausge¬
geben. Es werden darin Hemstcrhuis. Friedrich Schlegel (dieser am ausführ¬
lichsten). Novalis (sehr kurz) und Schelling behandelt. Von Kirchers Ergeb¬
nissen sollen zwei wenigstens andeutungsweise erwähnt werden: das Verhältnis
der Romantiker zum Kritizismus und der Begriff der Romantik in der Poesie.
Der Kritizismus hatte den Menschen durch eine unüberschreitbare Kluft von
den Dingen getrennt, die ..Dinge an sich" für der Erkenntnis unzugänglich er¬
klärt und das Ich ebenso wie Gott zu einer ..regulativen Idee", einer bloßen
Hilfsvorstellung oder Hypothese verflüchtigt. Der spottende Schiller läßt den
Philosophen dozieren:
Vorstellung wenigstens ist! Ein Vorgestelltes ist also;
Ein Vorstellendes auch, macht mit der Vorstellung drei.
Und was der Dichter den Lehrling erwidern läßt:
Damit lock ich. ihr Herrn, noch keinen Hund aus dem Ofen.
Einen erklecklichen Satz will ich. und der auch was setzt,
das eben erwiderten die Romantiker. Sie waren Menschen von einem heißen, starken
Lebensdranqc. Sie wollten keine logischen Gespenster, sondern wirkliche Wesen.
Substanzen sein, sich als solche fühlen, genießen und handelnd beMgen.wollten
auch zu den Dingen gelangen, diese erkennen und gestalten. Mit Heißhunger
umschlangen sie das Universum, es zu verschlingen; ihre Naturphilosophie der
Eifer, mit dem sie die indische Literatur. Shakespeare. Calderon durch Über¬
setzungen dem deutschen Geistesleben einverleibten, dieses zur Universalität aus¬
zubreiten die Kulturen aller Völker und Zeiten hineinzuziehn strebten, bekundeten
diesen Lebensdrang und Wirklichkeitssinn. Man versteht, daß solchem Sinn zu¬
letzt auch Gott wieder aus einer Hypothese eine Realität werden mußte. Was
sodann das Wort romantisch betrifft, so hat Friedrich Schlegel anfangs weiter
nichts darunter verstanden als die Poesie in der Form des Romans. Diese
Form schätzte er sehr hoch, weil sie ihm als dem modernen Geiste und Leben
durchaus angemessen erschien. Das Wesen des modernen Daseins glaubte er
als Fortschritt und Entwicklung ins Unbegrenzte, Unendliche zu erkennen (auch
die Philosophie Schellings und Hegels ist wesentlich Entwicklungsphilosophie),
während die antike Welt als eine in sich abgeschlossene, fertige hinter uns liege.
Der Gegensatz von romantisch ist demnach nicht klassisch, sondern antik; beide
Ausdrücke bezeichnen geschichtsphilosophische Kategorien. Klassisch dagegen ist
eine ästhetische Kategorie und bezeichnet das künstlerisch Vollendete im Gegensatz
zum Formlosen oder Mißgestalteten, zum Barbarischen. Nach Klassizität soll
auch der moderne, also der romantische Künstler streben, obwohl sie unter den
verwickelten Lebensbedingungen und in der Unfertigkeit einer vorwärts schreitenden
Zeit schwieriger zu verwirklichen ist, als sie es in der antiken Welt war. Der
Roman aber schien ihm, wie schon bemerkt wurde, die dem modernen Dasein
entsprechende Form zu sein, weil dieses Dasein ein beständiges sich Entwickeln
und Wachsen ist, das Werk eines innern Bildungstriebes, und weil der
Roman das Walten dieses allgemeinen Triebes an einer einzelnen Persönlichkeit
zeigt. Darum verehrte er über alles Wilhelm Meister, der erzählt, „wie die
Bildung eines strebenden Geistes sich still entfaltet, und wie die werdende Welt
aus seinem Innern leise emporsteigt". Wie in den mittelalterlichen Mystikern,
so finden auch in den Romantikern viele der Seelen, die heute Gott, die Wahr¬
h
W
z M?. < <5>>aut Bourget, der die verschiedensten Gegenden der Alten und der
Neuen Welt bereist und beschrieben hat, gibt vor allen Ländern
Italien den Vorzug. Besonders liebt er Tosknna, und in diesem
anmutigen Lande ist es das „rote Siena", das ihn so entzückt, daß
er sagt, manchmal habe er den Gedanken gehabt, man möchte doch
! einst ans sein Grab schreiben: Seuche. Sein Herz schlägt höher bei
dem Zauberklang des Wortes: Siena. Es steigen ihm dabei Erinnerungen auf
an Tage des reinsten Glückes, wo alles sich zu vereinigen schien, seine Seele bis
zum höchsten Grade glücklichster Erregung emporzutragen.
Das ist ja nun nicht maßgebend für alle, denn die Glückseligkeit der Menschen
besteht je nach Charakter und Erziehung, nach Stand und Lebenslage in den ver¬
schiedensten Dingen. Für die pommerschen und ostpreußischen Rittergutsbesitzer ist
der Ort der Sehnsucht Berlin mit Theater, Wertheim und Kempinsky. Die meisten
von ihnen würden wohl Siena ein ledernes Nest schelten. Auch nicht alle
Reisenden, die im Frühling oder im Herbst über die Alpen fahren, würden Bourgets
Entzücken begreiflich finden, wenn sie es der Mühe wert erachteten, zwischen Florenz
und Rom die Stadt der heiligen Katharina zu besuchen. Denen aber, die Ver¬
ständnis für sie haben, bietet sie viel: der Maler, der Kunsthistoriker, der Geschichts¬
forscher, der Dnntefreund, alle finden in ihren Mauern ein reiches Feld. Und
jeder gewöhnliche Sterbliche kann dort unvergeßliche Stunden des reinsten Genusses
verleben, wenn er nur Augen hat, die empfänglich sind für alles Malerische in
Natur und mittelalterlicher Architektur und ein Herz, das nicht zu spröde ist, die
innigen Gefühle der alten senesischen Meister mitzufühlen, deren liebreizende Madonnen
und Heilige auf verblichnen Goldgrunde die Kirchen und Museen zieren.
Es war in den letzten Septembertagcn, als ich von Florenz über Empoli
nach Siena fuhr. Es kann kaum etwas Köstlicheres geben als eine Fahrt durch
das toskcmtsche Land, zumal abends bet Sonnenuntergang. Wer dus einmal er¬
lebt hat, wird nie eine Sehnsucht nach den entzückenden Farbentönen los werden,
die ihn damals berauschten, nach dem feurig glühenden Westen, dem weichen Blau
des übrigen Himmels, nach dem warmen Violett der sanft geschwungnen Höhen,
dem saftigen Grün der Viguen, die nach dem Scheiden der Sonne ganz besonders
grün erscheinen, und dem düstern der Pinien und Zypressen. Der malerische Reiz
der Landschaft wird dadurch erhöht, daß die Orschasten fast alle auf Hügeln er¬
baut sind. Teils sind sie aus etruskischen Ansiedlungen, teils aus mittelalterlichen
Burgen entstanden. Ganz besonders gefielen mir immer Montelupo und Cciprain,
die sich so trotzig am Arno gegenüber liegen. Schon die Namen deuten auf ihre
Feindschaft, und in der Tat wurde Montelupo von den Florentinern erbaut, um
dem pisanischen Capraia die Spitze zu bieten. Jedenfalls ist es aber dem Wolfe
nicht gelungen, die Ziege mit Haut und Haar zu verschlingen, denn sie liegt noch
immer ganz behaglich auf ihrer Höhe.
Nach Empoli zieht sich die Bahnlinie durch das Tal der Elsa, wo Castel-
fiorentino und Poggibonsi thronen, und führt uns schließlich nach unserm Ziel.
Siena erhebt sich auf drei Bergen. Sein Grundriß hat davon die Gestalt
eines Kleeblatts, und es ist ganz besonders reizvoll, vini einer dieser Höhen über
Olivengärten und Manen hin nach einem der andern Stadtteile hinüberzuschauen.
Immer sieht man den berühmten schwarzweiß ges rei ten Marmordom >me seinem
Campanile. der. ungefähr im Mittelpunkt der Stadt, ans einer der höchsten Er¬
hebungen ficht. nbondernenu
Eisenbahnen gab hatte jeder de es Gß, zu
Fuß oder zu Wagen durch eins der hübschen alten Tore in die Stadt zu ge¬
langen. Sehr malerisch sind die Porta Pi,pu« und die Port« Romana im Sude.,
beide zinnengekrönt und mit verblichnen Fresken geschmückt. Am stimmungsvollsten
wäre es aber, von Norden her zu kommen, denn dort begrüßen den Wandrer an
der Porta Camollia die liebreichen Worte: vor eiw Liona, x-man! Weit
öffnet Siena dir sein Herz! ^ , . .... , ^ , ^
Ich mußte leider mit der Eisenbahn e.n ahreu. denn ich den nicht in der
Lage. Verwandte oder Bekannte mit Autos zu haben; zu einer Fußreise fehlte mir
die Zeit, zu einer Wagenfahrt das Geld, die leidigen wen Aber einmal in
der Stadt, schüttelte ich die Erinnerung an meme prosaische Ankunft schnell von
mir. und ich lebte nur noch in der Vergangenheit Ich wurde nicht müde, durch
die engen loben Straßen zu wandern, die sich ° gar merkwürdig wenden oft
auch durch steinerne Rundbogen malerisch überbrückt sind. Ihr Schmuck sind die
Paläste der alten Adelsgeschlechter, der Toloniei P'ce°l°mal Saluubem Buon-^
signori. Saracini und wie sie alle heiße... Ich selbst wohnte in einem Palazzo
der Bandini. die. der Not gehorchend, einen Teil ihres alten Familienhauses ver¬
mieten müssen. .... „ . ^, r ^»i-.
Welcher überraschende Anblick bot sich mir als ich aus einer dieser düstern
schmalen Schlangenstraßen des dreizehnten und des vierzehnten Jahrhunderts
Plötzlich ans die weite, helle Piazza del Campo trat! In Form eines Fächers
senkt sie sich amphitheatralisch zu dem eigenartigen gotischen Palazzo Pubb 'co
hinab, dessen überaus hoher, schlanker Turm, der Manga. einen Teil der Stadt
beherrscht. Dieser Platz allein weckte mir eine F ut von Gebäu en und Er¬
innerungen! Die Säule mit der kapitolinischen Wölfin rief mir die Sage von
Sienas Entstehung ins Gedächtnis zurück d.e erzählt. Senus. ein Sohn des
Remus. habe die Stadt gegründet und ihr seineu Nan.en gegeben. Be.in Anblick
des großen Marmorbrunnens, der Förte Gala. die auf dem geräumigen Campo
allerdings recht verschwindet, gedachte ich des größten senesischen Bildhauers Jacopo
della Quercia. Das Original ist es freilich nicht mehr; dessen Trümmer sah ich
später im Palazzo Pubblico. An diesem Gebäude fiel mir oben in der Mitte der
Front ein großes, blaues, rundes Etwas mit goldnen, strcihlenumgebnen Zeichen
in die Angen. Ich hatte es schon auf religiösen Bildern in den Händen des
heiligen Bernardino gesehen, der in Siena große Verehrung genießt. Er trat im
fünfzehnten Jahrhundert in der Stadt als Bußprediger auf, wie etwas später
Savonarola in Firenze. Die goldnen Zeichen bedeuten ein Kreuz und die Buch¬
staben v (Christus), 7 (Jesus) und 8 (Salvcitor), das habe ich irgendwo gelesen;
ich selbst hätte es, offen gestanden, nicht herausgefunden. Die kunstreiche Kapelle
am Fuße des Mangia ist 1348 zum Danke gestiftet worden, nachdem der Schwarze
Tod glücklich weitergezogen war.
Und auch Dante kam mir in den Sinn, als ich dort stand. Er läßt den
stolzen Salvani kürzere Zeit im Fegefeuer büßen, weil er einst auf diesem Campo
wie ein Bettler gestanden hat, um das Lösegeld für einen Freund aufzubringen,
den Karl von Anjou in Fesseln hielt:
Ich sah im Geiste die würdigen Väter der stolzen Republik die kaiserliche
Majestät feierlich in den Stadtpalast geleiten, zu deren Begrüßung sie vors Tor
gezogen waren. Da Siena an der Straße nach Nom liegt, haben viele römische
Kaiser deutscher Nation hier geweilt, vor allen die Hohenstaufen, die von den vor¬
wiegend ghibellinisch gesinnten Seuchen meist gut aufgenommen wurden. Der
Glanzpunkt in Sienas Geschichte, der Sieg über die Florentiner bei Montaperti
im Arbiatale 1260, war ein Sieg der Ghibellinen über die Guelfen. Auch der
junge Conradino ist in der Stadt eingezogen.
Die Piuzza del Campo ist von alters her der Schauplatz des Palio, des
alljährlichen Pferderennens, bei dem siebzehn junge Leute in historischer Pagentracht
die Reiter sind. Die ganze Stadt ist seit uralter Zeit in siebzehn Contrade ein¬
geteilt, die sich nach ihrem Feldzeichen nennen, und jede hat ihren Pagen, einen
Bürgerssohn, der sie beim Palio vertritt. Die eine hat die berühmte Wölfin, die
luxs,, zum Wappentier; die andern heißen: Moreore, Drago, Pantera, Leocorno
(Einhorn), Aquila, Giraffa, Civetta, Torre, Selva. Orta. Tartuca (Schildkröte),
Jstrice, Oca, Bruno, Nicchio und Chiocciola (Schnecke). Ist der große Tag ge¬
kommen, dann werden die Pferde in der Kirche eingesegnet und nach dem Campo
geführt, der sich ganz mit Menschen gefüllt hat. Ringsum ist die Rennbahn frei¬
gelassen worden. Alle Fenster der ehrwürdigen Palazzi und Häuser sind mit
neugierige:!, aufgeregten Zuschauern besetzt, die in atemloser Spannung die phan¬
tastisch bunten Gestalten verfolgen, die auf den feurigen Tieren um den Platz
sausen. Böse Zungen behaupten zwar, man wüßte immer vorher, wer der Sieger
sein würde. L oni 1c> M?
Während meines Aufenthalts feierte die Contrada des Bruno (Raupe) ihren
Sieg und ihren sieghaften Pagen. Sie bewohnt den Stadtteil an der Porta Ovile,
und ich mußte hindurch, als ich an jenem Nachmittag von San Francesco nach
der Förte Ovile. einem malerischen alten Brunnen vor dem Tore, ging. Ich kam
kaum vorwärts in dem lärmenden, geschäftigen Gewühl. Aber es war ein äußerst
fesselndes Bild- die steilansteigenden mittelalterlichen Straßen waren wie für den
Einzug eines Fürsten geschmückt. Leuchtendrote Decken und bunte Teppiche hingen
aus den hohen schmalen Fenstern und bildeten einen eigentümlichen Kontrast zu
dem düstern Ton der Gebäude. Die Fahne mit der Raupe flatterte überall, aber
auch solche mit der Gans, dem Igel und andern: Getier waren viel vertreten;
man nahm das eben nicht so genau. Und gew.ß dachten die übrigen Contrade:
Helfen wir dir jetzt schmücken, so hilfst du uns ein andres Jahr wenn die Re.he
an uns kommt. Einige spannten Girlanden von natürlichen und künstlichen Blumen
über die Straßen Andre befestigten bunte Glaslämpchen, die w zu Zeder „Rotte
ti Benezia" gehören All diese dunkeln Gesichter trugen den unbezahlbaren Aus¬
druck von Stolz und kindlicher Freude, der mich bet den Italienern immer so
amüsiert hat. Am Abend speisten sie dann im Freien, und noch spat in der Nacht
zogen an „meinem Palazzo" singende Bursch^
obwohl sie schon ganz heiser waren. Der C null ließ ihnen wohl keine Rü e.
Jeder der längere M in Toskana war. kennt die Melodie dieser for^Ul, dieser
Wechselaeiänae die an die Schnadahüpfl erinnern, und wozu immer neue Texte
imvr vis r werd n Einer pflegt mit der Gitarre zu begleiten, oder was noch
orig^ Instrument mit der Stimme zu imitieren. Da singt zum
Beispiel einer betrübt:
Da findet der andre Trost für ihn in der glücklichern Zukunft und singt:
La i-sha Asti' swor uno
vom'd loilwvkU
Na An Aivriio mi vorm, s-ir-l
Views,!
Neben den vielen sentimentalen gibt es auch humoristisch-ironische:
Und der zweite steigert noch den Hohn:
, .. . ,k .>na^it,i Geld — soarvs rotes zerrissene Stiefel —
(va-is5o ^- eUel, albern - ^loin ^ ^e^ ^^^^.^^^
Die Melodie behauptet sich zum Glück neben allen zeitweilige.^
und ich habe ihren glänzenden Sieg über den länderuberflutenden Ma tchrche mit¬
erlebt. Eine Sommernacht in Toskana, und mag ste noch so schön sein, ist nicht
vollkommen ohne einen solchen Zwiegesang. ... ^. . - . u?^
-etwrack vorhin von der Förte Ovile. Für mich ist dieses kleine gotische
Gewölbe mit der einfachen anmutigen Säule weit romantischer gelegen als die be¬
rühmt außer andern Dichtern auch Dante im Inferno erwäh.re
Freilich kann die Förte Ovile sich nicht rühmen, daß die kleine Caterina Benincasa
an i r Wasser geschöpft habe. Diesen Ruhm muß ste der Fontebranda la,sen. und
zwar aus dem einfachen Grunde, daß niemand mit seinem Wasserkrüge eine Viertel¬
stunde weit läuft, wenn er einen andern Brunnen nahe beim Hause hat. Diese
Extravaganz traue ich nicht einmal der heiligen Caterina zu, wenn sie ja auch
vieles anders machte als die übrige Menschheit.
Die Fvntebranda liegt am Fuße des Berges, der San Domenico, die Kloster¬
kirche der Heiligen, trägt. Fast alle Kirchen Sienas sind dnnkelrötliche Backstein-
bauten. Einige zeigen innen die schwarzen und weißen Marmorquerstreifen wie
der Dom. San Domenico, San Francesco, San Agostino und Santa Maria dei
servi liegen an der Stadtmauer, hoch, weithin sichtbar, jede auf einem steilen
Bergvorsprung. Ich habe sie alle besucht und mich an den Fresken und Altar¬
bildern der alten sienesischen Meister erfreut, die so ganz anders sind als die
kräftigen florentinischen. Höchstens die Freude an stilvollen Schmuck haben sie mit
Botticelli und Ghirlandajo gemein. Die schwärmerische, beinahe zu süße Innigkeit
des Ausdrucks in den lieblichen, etwas schiefgeneigten Gesichtern läßt eher einen
Vergleich mit der umbrischen Schule zu, aber die Seuchen bewahren doch ihre
Eigenart. Es herrscht auf ihren Bildern ein hellblondlockiger Typus vor, während
die Umbrier im allgemeinen einem dunklern Schönheitsideal nachstreben. Man
erkennt die Maler von Siena leicht an ihren gedämpften, milden Farben, die schon
Duccio auf seinem bekannten Dombilde angewandt hat.
Ich wage nicht zu behaupten, daß ich alle die Meister mit den umständlichen
Namen gründlich kennen gelernt habe. Giovanni ti Paolo, Scav ti Pietro,
Taddeo und Domenico ti Bartolo, Francesco ti Giorgio, Balduccio, das sind so
die wichtigsten unter den Alten, die man in der ^.ooaÄsmia, clslls Kslls ^.rei be¬
wundern kann. Auch Matteo ti Giovanni gehört dazu, der eine merkwürdige
Vorliebe für den bcthlehemitischen Kindermord gehabt haben muß. Es ist ihm aber
nicht so recht gelungen, die Affekte der Wut und des Schmerzes darzustellen. Er
hätte ruhig bei seineu sanften Existenzheiligenbildern bleiben sollen. Die heilige
Barbara in San Domenico ist eine entzückende Schöpfung. Sehr sympathisch ist
mir auch Reroccio, der zugleich Bildhauer gewesen ist. Aber mein Liebling ist
doch Simone Martini, den ich schon in Florenz und besonders in Pisa kennen
gelernt hatte. Wenn auch sein umfangreichstes Werk in Siena, die große N-iäonna
in tronv im Rathsaal des Palazzo Pubblico, leider viel von seinem Glanz ein¬
gebüßt hat, so fand ich das Fresko doch noch immer sehr ansprechend und be¬
wunderungswert und trotz aller Regelmäßigkeit lebendiger als Duccios Dombild.
Als ich mich nun aber umkehrte, erblickte ich an der gegenüberliegenden Wand ein
andres Fresko des Simone, ganz weltlich und sehr originell: durch eine hüglige
Landschaft mit Burgen im Hintergrunde reitet stolz und gemächlich ein wohlbeleibter
Feldherr, den Kommandostab in der Rechten. Auf dem runden bartlosen Kopf
mit dicken Backen und seltsamem Profil sitzt ein ebenso seltsames Barett, und Reiter
und Schimmel sind in weißen Stoff mit großen blauen Rauten gehüllt. Der Held
hat etwas so Drolliges und dabei doch so Imposantes, daß ich ihn immer wieder
betrachten mußte. Es ist der Feldherr Gnidoriccio dei Fogliani, dessen Bild zum
Dank für seine der Stadt geleisteten Dienste von Simone Martinis Hand der
Nachwelt überliefert werden sollte. Vielleicht haben übrigens Paolo Uccello und
Andrea del Castagno an dieses Porträt gedacht, als sie ihre Reiterbilder in Santa
Maria del Fiore zu Florenz schufen?
Und im Saale nebenan lernte ich noch einen andern Frcskvmaler kennen:
Ambrogio Lorenzetti, der in dem großen Gemälde vom guten und vom schlechten
Regiment seiner Vaterstadt eine Lehre geben wollte. Freilich hat er tauben Ohren
gepredigt, und die anmutige Pax mit dem Ölkrauz im lichte» Haar, die so friedlich
auf ihre», Diwcin ruht, muß in jenen Zeiten der unaufhörlichen ParteMmpfe und
Scharunitzcl wie eine traurige Ironie erschienen sein
In San Francesco konnte ich einige Bruchstücke seines Bilderzyklus aus dein
Leben der Franziskanermönche studieren. Es ist leider herzlich wenig. Eine redselige
alte Frau die mir in dieser Kirche die Honneurs machte, fand das auch. Sie sprach
nur von'it mio ^mvrogio I^orsnMtti, den sie für den größten Maler Italiens
hielt, und der unheilbare Schmerz ihres Lebens war der Brand im Jahre 1K55.
der so viel von den Kunstwerken ihres Lieblings vernichtet hat. Mit Schauern
der Ehrfurcht zeigte sie mir nachher die Kapellen der noch lebenden Adelsfamilien.
deren Hühner und Gänse" sie mir auftischte. Zum Schluß führte sie mich an die
Grabplatte der armen Pia Tolomei. die der Dautele,er ans dem fünften Gesänge
des Purgatorio kennt. Sie ist unter der Schar der eines gewaltsamen, daher n^
bußfertigen Todes Gestorbnen, da ihr Gemahl Ne lo belin Pwtra sie in einem seiner
Schlösser in der Maremma heimlich hatte toten lassen; man we.ß acht genau ob
aus Eifersucht oder um eine andre heiraten zu können. Darum sagt sie zu Dante:
us dem Warmbach des Bärsgründels und dein Riesengrund-
bächlein strömt ein wenig oberhalb der Ladenmühle in tiefster
Waldeinsamkeit ein etwas größerer Bach, die Biela, zusammen.
Über rotgrünes Porphyrgestein, unter überhängenden Moospolstern
hindurch, aus denen die rote Heide blüht, murmelt sie munter
-»-«»-»-«^ dahin; einen Augenblick sich besinnend und sammelnd bildet sie an
der Grenze zwischen dem Wald- und dem Wiesengelände einen träumerischen,
dunkelgrünen Weiher, durcheilt die schmalen Wiesen des untern Hirschsprungcr
Tales und stürzt sich dann in jäherm Gefälle über die Granitblöcke eines hoch¬
stämmigen Buchenwaldes der größern Müglitz entgegen, die sie unterhalb der
altersgrauen Feste Bäreustein ereilt. Ungefähr in der Mitte ihres Laufs bespült
sie ein wundersames Erdenstück. Eine aus dem Bielcital links zur Falkeuhainer
Höhe emporkletternde Bergschlucht bildet um ihrem sich verbreiternden untern Ende
einen spitzwinkligen, sammetgrünen Wiesengrund, dessen sonnige Heiterkeit durch
^ '....... ^>us^ol^,»„^»„
yvuen Banane en, me recyrs uno imo» vu-^ ^^...»^ ^.»^ un^uuiucn, uno
sanften Lieblichkeit des grünen Flecks zwischen ehren macht diesen Erdenwinkel
so reizvoll, besonders für den, der zur Frühlingszeit von der Falkcnhainer
Höhe kommend wie in einem Zaubertrichter unten in der Tiefe einen grün¬
weißen dreieckigen Teppich für Elfen und Sylphen ausgebreitet sieht.
In diesen Winkel entsendet die Vielci einen wasserreichen Graben, der ein
Mühlrad zu treiben vermag — und wirklich, fast versteckt nnter ragenden
Wipfeln und von der rechts vorbeiführenden Straße kaum sichtbar steht dort
ein schlichtes Haus: die Angermcmnmühle, oder wie sie der Volksmund nach
dem letzten Besitzer nennt: die Burckhardtsmühle. Es ist aber keine Mühle
mehr. Die letzten Trümmer des Rades liegen seitwärts im Grase, die Radstube
ist ein luftiges Speisezimmer geworden, und in den Stuben und Kammern
haust im Sommer ein vornehmer Großstädter mit seinen Buben und Mädchen,
um sich von den Strapazen der Stadt, des Amts und der Gesellschaft zu
erholen. Noch vor einem Dutzend von Jahren war es anders hier. Da hörte
man noch in der stillen Sommernacht die Tropfen von den Speichen des
Mühlrads fallen, da sah man noch ans dem Rasen einen Haufen von Klötzern
liegen, und auch durch die klare Winterluft stieg der blaue Rauch des Holz¬
feuers zu den schneebefiederten Zweigen der alten Buchen empor. Aber ein
eigentliches Leben und Treiben, wie es sonst an einer Sägemühle vernommen
wird, das starke, schmerzweckende Rauschen der Eiseuzühne, die den ächzenden
Stamm durchziehn, das Stampfen der Pferde, die die Bretterladung erwarten,
mitsamt dem halb grimmigen, halb lustigen Fluch des Fuhrmanns, das dumpfe
Rollen der Klötzer, die der Müller für seine Säge heranholt — alles das
wurde hier nicht gehört. Mit spöttischem Lächeln wanderte der Waldarbeiter,
der zu seiner Arbeitsstätte ging, ein dem stillen Anwesen vorüber, auf dem
nicht einmal ein Hahn oder eine Henne gackerte, mit scheuem Seitenblick musterte
es der Bauersmann, der aus dem benachbarten Falkenhain nach Värenstein
fuhr; uur der städtische Wandrer, der durch die grünen Baumwipfel den un¬
sichern Schein eines Hausgiebels wahrgenommen hatte, bog neugierig die Zweige
auseinander und trat wohl auch über den verwachsnen Weg in den grünen
Bezirk der Waldwiese hinein, in deren Mitte die stille Mühle lag. Wen der
Forschungseifer oder das Verlangen nach Speise und Trank weiter ins Haus
trieb, der fand kahle Wände mit schlichtem altväterischen Mobiliar; die hohe
Staubkruste erweckte den Anschein des Unbewohnten. Aber in der eigentlichen
Mühlstube neben der stillstehenden Säge auf der hölzernen Pritsche, auf der
die Mühlburschen ihre Nachtwachen abzuhalten Pflegen, saß oder lag ein hoch-
gewachsner Sechziger von rüstigem, kräftigem Körperbau, das starkknochige,
ausdrucksvolle Gesicht glatt rasiert, und sonnte sich die mächtigen Glieder. Auf
freundlichen Anruf war er — obwohl sein Anwesen keine eigentliche Schenk¬
berechtigung besaß — bereit, ein Glas Bier und einen schlichten Imbiß auf¬
zutragen, und wer den staubigen Rand des Tellers übersah, dem konnte es
wohl schmecken in dieser Idylle unter den interessanten Erzählungen des einsamen
Wirts. Denn der alte Burckhardt war ein sehr unterrichteter, weitgereister
Mann. In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts als Sohn eines
Müllers im Gottleubatal geboren, war auch er zu der Zeit, wo man Schuberts
Müllerlieder sang, ein flotter Müllerbursch geworden. Abwechselnd hatte ihm
das weiße Mehl der Brotfrucht und das gelbe Mehl des Holzstaubes den
blonden Schnurrbart gepudert, bald hatte ihn eine der lauschigen Talmühlen
des Gebirges, bald einer der großen Mühlbetriebe der Elbgegenden beher¬
bergt — dann hatte ihn eine unbezähmbare Wanderlust gepackt. Sie führte
ihn aus der sächsischen Heimat unter die dunkeln Tannen des Schwarzwalds
und über die Vogesen hinüber nach Frankreich. Aber nicht immer war er ein
Mühlknappe geblieben. Er hatte als solcher auch mit dem „Zeug", das heißt
mit Maschinen und Werkzeug hantieren gelernt, und so fand er oft auch in
einer Maschinenfabrik oder bei einem Eisenbahnbau als Zeugarbeiter sein Brot.
Den sonnigen Süden der Provence hatte er allmählich durchwandert und sich
dabei auch eine gewisse Kenntnis der französischen Sprache erworben. Schlie߬
lich war er sogar über deu Gebirgswall der Pyrenäen hinüber nach..Spanien
gestiegen Er hatte den Ebro gesehn, den süßen Wein von Tarragona gekostet
und mit feurigen Andalusierinnen gescherzt. Dabei hatte er schlicht und sparsam
gelebt und als geschickter Handwerker ein schönes Stück Geld vor sich gebracht,
das er sorgsam hütete und mehrte. Endlich, etwa zwei Jahre vor dem Ausbruch
des deutschen Volkskrieges gegen Frankreich war er als gereifter Mann, von
der südlichen Sonne gebräunt heimgekehrt in die grünen Wiesentäler des
sächsischen Waldlandes, nach denen er «und "i der Fremde eine gewisse Sehn¬
sucht trug Zufällig war gerade die lauschige Angermannmuhle verkäuflich? er
brachte das kleine Anwesen mit dem in der Fremde ersparten Gelde an sich,
er nahm sich - etwa vierzig Jahre alt - eme Frau und begann unter
glücklichen Aussichten seinen Hausstand Bald wurde ihm em Sohn und im
folgenden Jahre ein zweiter geboren. Nun arbeitete er rüstig für Weck und
Knit. indem er um Lohn Bretter schnitt, einen kleinen Holzhandel betrieb; seine
Frau versorgte eiuen Viehstand von zwei Kühen i.ut zwei Schweinen. Aber
Säue We se war anders als die seiner Nachbarn Die Hirschsprimger und
^alkenbainer waren von ieber ein an prnchslo es. zähes, fleißiges Geschlecht.
A ^ Der Waldarbeiter steht hier w der guten Jahres¬
zeit des Morgens um vier Uhr auf und geht um fünf Uhr in den ..Busch".
Dort arbeitet er bis zur sinkenden Sonne, ohne zur Mittagsrast heunzuke ren;
ein K>i'ni in im w idem SoKfeuer gewärmter Kaffee und ein dickleibiges
Sol7r^ ^ȟgt ih'" als Mittagessen; schwer
bi ack n t Mge .ab An, eweÄmxel zusammengeraffte Aste auf dem
Recken kehrt e/am ^d ^^le me^^
Ma^ Bauern die Kistenmacher
mit Breter ü, er führen so ihr Tagewerk. Nicht ganz so der Burckhardt.
Anet ereinfach wie die Landesart. aber sein langer
Aufentlmtt Rheinländern, in der Provence und in
Spa^ Bedürfnis nach Ruhe iUid Beschaulichkeit
anerzogen als das, was nnter dieser emsigen Bevölkerung des sächsischen
Er^^oc- ^s^.t.'/ leim schien. Er liebte es. wie er es in Spanien als
ÄÄeT ii in e wße LTmotivenbanwerkstätte getan hatte, bis in den
T^a hin n "u schlafen u d wenn er dann auch einige Stunden Klötzer rückte
in!?in d Ga t? i spanne. so brauchte er dock) auch am Nachmittag eine
Stunde der Siesta und Beschaulichkeit Mi in Ennneruiigen an den geliebten
Süden zu schwe gen. Da aber auf diese Weise zu wenig Bretter fertig wurden
so sucht e durch Einstellung eines Millerburscheu der nun die grobe Arbeit
macheu sollte. v° wärts zu kommen. Er hatte «des für einen solchen bei der
Kleinhei des ganzen Betriebs nur deu knappsten Lohn und die knappste
Kost, und so eutlie ihm einer nach dem andern und die Brettschneiders ellung
in der Vnrckhardtsn üble kam so in Venn.f. daß sie niemand mehr haben wollte.
Geschäftlicher Mißerfolg kam hinzu, Bmckhardts Besitzstand zu schädigen: er
erlitt mehrmals im Tauschhandel mit Kühen Einbuße ebenso trafen ihn lie.ne
Verluste im Holzhandel/ Es war Orths'ete dergleichen durch vermehrte
Rührigkeit und gesteigerte Arbeitsleistungen auszugleichen. Aber Burckhardt
versteifte sich gegen solche Anforderungen, die die Frau an ihn stellte, immer
trotziger auf sein Herrenrecht und arbeitete von Jahr zu Jahr weniger. Das
ursprünglich schuldenfreie Anwesen mußte mit Hypotheken belastet werden, und
wenn zwar nicht die Frau Sorge, aber doch der grobe Mangel noch immer
an der Schwelle der Burckhardtsmühle vorüberging, so war das einzig und
allein das Verdienst der Frau, einer kreuzbraver Schlesierin, die die kleine
Feldwirtschaft und das Vieh mit ängstlicher Emsigkeit besorgte. Die Buben
wuchsen dabei munter empor, der eine lernte im nahen Städtchen Bären¬
stein die Bierbrauerei, der andre wurde Tischler, aber auch ihnen war der
Wandertrieb des Vaters eigen. Sie gingen nach Amerika, kamen in auskömm¬
liche Stellungen und bestürmten nun in ihren Briefen die Mutter, daß sie die
verfallende Wirtschaft des Vaters verlasse und zu ihnen übers Meer hinüber
komme. Sie schickten ihr sogar heimlich das Reisegeld. Eine Zeit lang kämpfte
die Frau mit dem Reste der Treue, den sie vom Traualtar her dem arbeits¬
scheuen Gatten bewahrte, gegen die lockende Stimme, die sie zu ihren Kindern
rief — aber eines Morgens war sie verschwunden. Nach Monaten erfuhr man,
daß sie glücklich drüben angelangt sei. Der Burckhardt war jetzt ein angehender
Sechziger, aber noch immer eine stattliche, aufrechte Gestalt vou großer Körper¬
kraft. Kein Mensch hat je vou ihm erfahren, was die Flucht der Frau für
einen Eindruck auf ihn gemacht hat. Niemand besaß sein Vertrauen, denn er
verachtete im Grunde dieses Geschlecht von Holzhackern und Kleinbauern, das
an der Scholle klebend nie den Fuß über die Grenzen der deutschen Zunge
hinaufgesetzt hatte, dem als Sonntagsvergnügen der abendliche „Schafkopf" in
der Ladenmühle genügte, und dem es der Gipfel der Herrlichkeit war, einmal
mit der neumodischen Kleinbahn oder mit einem Altenberger Heuwagen oder
Bretterfuhrwcrk die von der Sonne vergoldeten, vom Elbstrom gespiegelten
Türme und Kuppeln von Dresden zu sehn. Parbleu, was wußten sie in der
Enge ihrer heimatlichen Waldkater von der ewigen Pracht der Gletscher und
Firnen der Schweiz, was wußten sie von den Orangenhainen und Rebgeländen
der Provence, vom Schifssgewimmel zu Marseille, von den im Vollmond
gleißenden Palästen von Madrid und Granada und gar von dem sinnen¬
berückenden Taumel des spanischen Stiergefechts! Er, der in der Lokomvtiven-
fabrik der spanischen Hauptstadt Werkführer gewesen war, sollte sich mit diesen
Groschenkncchten um die Wette schinden und plagen? Nimmermehr, lieber
verhungern! Er reckte sich hoch auf bei solchen Gedanken, daß die starken
Knochen knackten, trat auf die Schwelle der Haustür, durch die schlichtem und
versuchsweise die ersten Grashälmchen ihre Spitzen zeigten, und blinzelte mit
verschränkten Armen in den warmen Sonnenschein. Da fuhr der Voglerbaner
aus Falkenhnin mit den muntern Braunen vor die Tür und begehrte die
Pfosten und Bretter, die aus den vor sechs Woche» angefahrnen Buchenstämmen
geschnitten werden sollten. Es war all die Zeit her reichlich Wasser zum
Brettschneider gewesen, aber das Gatter hatte still gestanden Tag und Nacht,
und unberührt lagen die wuchtigen Klötzer im Grünen. Auf Voglers erregte
Frage, was daraus werden solle, zuckte der Burckhardt verächtlich die Achsel»
und suchte ihn auf weitere sechs Wochen zu vertrösten. Ingrimmig lud der
Bauer seine Klötzer auf deu Wagen, um sie in die nahe Ladenmühle zu fahren,
die Braunen zogen an, und mit einem unzweideutigen Fluche verließ er den
grünen Plan. So wandten sich schließlich alle Bauern, die früher dem alten
Burckhardt durch Lohnschreiber immerhin noch etwas zu verdienen gegeben
hatten, von ihn,, und schließlich stellte er seine Tätigkeit in dem einsamen
Hause so gänzlich ein, daß die letzte», ihm selbst gehörenden Stämme aus
denen er noch etwas hätte lösen können, auf dem feuchten Rasengrund ver¬
faulten. Dafür fanden sich sonderbare Nachtgäste in der einsamen Mühle zu¬
sammen. Der alte Burckhardt hatte erst einmal aus Mitleid einem mit
Mausefallen wandernden Slowaken über Nacht Unterschlupf gewährt, weil er
mit ihm etwas vom Süden zu plaudern hoffte, dann einem Rastelbinder, und
schließlich fand sich das ganze dort im Gebirge hausierende Völklein der Draht¬
stricker und Topfeinbinder, der Scherenschleifer und Messerhändler in ihren
braunen Filzmänteln, schmierigen Hüten und Filzhoscn von zweifelhafter Weiße
nächtlicherweise in der billigen Herberge zusammen, und der Alte machte mit
süßsauerm Auslande den Herbergsvater, unbekümmert um die mangelhaften
Begriffe seiner Gäste von dein und mein, denn wo nichts ist, da hat auch
der Teufel sein Recht verloren.
Unterdessen fraßen die Hypotheken und Hhpothekenzinsen auch den letzten
Rest dessen, was ihm noch von der Mühle gehört hatte. Und als im Früh¬
ling 1896 der erste grüne Schimmer über die hellgrauen glatten Äste der
Buchen des Ottertellenwegs dahin lief, war der alte Burckhardt mit allem
fertig, was er besaß. Der Konkurs nahm seineu Gang: im Herbst wurde
die Burckhardtsmühle in der Auktion einem hohen Beamten aus der Residenz
zugeschlagen, und der alte Burckhardt siedelte mit den ihm verblichnen Hab¬
seligkeiten, dem Bette und dem Kleiderschrank, der buntgemalten Truhe und
seinem Handwerkszeug in eine freistehende Stube des Gemeindehauses von
Hirschsprung über.
Man kann nicht sagen, daß diese äußere Veränderung einen großen Eindruck
auf ihn gemacht hätte; wenigstens ließ er sich nichts davon merken. Dazu
war er viel zu stolz und selbstbewußt, und dann hielt ihn auch eine unbestimmte
Hoffnung aufrecht, daß es wieder besser mit ihm werden könne, daß er durch
Erbschaft oder eine andre günstige Fügung wieder in die Lage kommen könne,
sich ein eignes Anwesen zu erwerben, groß genug, um außer ihm selbst auch
den Knecht mit zu ernähren, der die grobe Arbeit tun sollte. Außerdem ist das
Hirschsprunger Gemeindehaus kein Haus des Schreckens, sondern ein massives,
weiß getünchtes Bauwerk, das so einmütig am Rande des großen Bergwalds
liegt, daß es schon einmal ein begeisterter Sommerfrischler für sich kaufen'wollte.
Die Bewohnerschaft war trotz ihrer geringen Kopfzahl verschieden genug. In
der Stube links vom Flur haust der Julius, ein glücklicher Unglücklicher. Ein
schwerer Holzwagen hatte dem Achtzehnjährigen das Rückgrat so zerfahren,
daß er zwar äußerlich wiederhergestellt wurde, aber die Bewegungsfähigkeit der
Beine dauernd verlor. So wurde er in jugendlichem Alter zum Invaliden,
aber zugleich auch ein Rentner, der täglich seine Mark zu verzehren hatte.
Diese Summe reicht in Hirschsprung nicht nur für das Notdürftige, sondern
gestattet auch ein wenig Behagen und Schmuck des Lebens. Und da Julius
nicht uur eine peinliche Sauberkeit und Ordnungsliebe hat. sondern auch eiuen
heitern, zufriedner Sinn, der die Verkrüppelung ohne Murren erträgt, so
gestaltete er sich sein Stübchen mitsamt dem kleinen Gärtchen vor den Fenstern
im Laufe der Zeit zu einem kleinen Paradiese aus, das von jedermann be¬
wundert wird und namentlich zum Sammelpunkt der Hirschsprunger Jugend
geworden ist. Hier flechten die Burschen und Mädchen in den langen Winter¬
nächten Stroh, wozu der Julius auf der Ziehharmonika spielt, hier tönt fast
allabendlich heiterer Gesang, zuweilen wird sogar getanzt, und wenn das junge
Volk einen Ausflug unternimmt, so wird der Julius als unentbehrliche Person
auf dem besonders konstruierten Fahrrade, das er sich angeschafft hat, mit-
genommen; auf ebner Straße bewegt er es selbst mit den Armen, die Berge
hinauf schieben es die Kameraden. Die andre Stube bewohnten Lohsens, ein
Waldarbeiterehepaar mit schwieligen Händen und runzligen Gesichtern, von
Alter, Arbeit und Schicksal gebeugt, aber von rührendem Fleiße. Die Frau
suchte trotz ihrer Kränklichkeit das kleine Hauswesen in Ordnung zu halten,
der Mann verdiente mit seinen zitternden Händen noch jeden Tag ein paar
Groschen durch Riudenschneiden. Die dritte Stube bezog der alte Burckhardt.
Er war vom ersten Tage an bemüht, jede Gemeinschaft mit den Hausgenossen,
die er als tief unter ihm stehend ansah, zu meiden, noch weniger ließ er sich
durch ihr Vorbild zu irgendwelcher Arbeit verführen. Er lebte demnach von
dem wöchentlichen Kostgelde von einer Mark sechzig Pfennigen, das ihm die
Gemeinde ausgesetzt hatte, und von gelegentlichen Spenden der Nachbarn und
der Sommerfrischler. Doch vermied er es ängstlich zu betteln: jede Gabe, die
ihm zuteil wurde, nahm er mit einer gewissen Gleichgiltigkeit, ja mit Würde
entgegen und suchte den Geber dadurch zu entschädigen, daß er ihm etwas von
seinen Wanderungen erzählte. Namentlich einige gespendete Apfelsinen weckten
seine Lust zum Erzählen; sie erinnerten ihn immer an die Zeiten, wo er die
goldfarbnen Früchte noch selbst vom Baume brach. Um diese Zeit lernte ich
ihn persönlich kennen. Meine Nachbarin wollte das Schindeldach des Stalles
erneuern, und zugleich sollte in meinem Waldhäuschen die Bodendiele aus¬
gebessert werden. Der Zimmermann des Dorfes, auch sonst mit Auftrügen
überhäuft, war in Verlegenheit um eine Hilfskraft, die ihm Schindeln und
Bretter zurichten und festnageln helfen sollte. Da wurde der alte Burckhardt,
an dessen Nichtstun die Hirschsprnnger schon längst Anstoß genommen hatten,
aus dem Gemeindehause herbeigeholt. Mit hochgezognen Achseln, die Hosen
in die Stiefel gesteckt, kam er in langgesetzten gravitätischen Schritten daher
wie ein Bauersmann, der am Sonntagnachmittag mit prüfenden Blicken den
Acker umwandelt, und verschwand mit feierlicher Miene im Hause der Nachbarin.
Als er mit dem Zimmermann gefrühstückt hatte, ging er mit einem vornehmen
Lächeln und der Versicherung, daß er es nur aus besondrer Gefälligkeit tue,
an die Arbeit. Er sollte zunächst die alten Schindeln vom Stallboden herunter¬
holen : er tat es, indem er immer zehn bis fünfzehn Schindeln auf die Achseln
lud, die er zuvor, damit sie nicht gedrückt oder beschmutzt würden, durch einen
dicken Korusack geschützt hatte. So trieb er es etwa zwei Stunden bis zu
Mittag. Auch das Mittagessen nahm er noch bei der Nachbarin ein, dann aber
zog er in großen feierlichen Schritten von der Arbeitsstätte nach Hause und
legte sich nieder, indem er erklärte, er habe keine Zeit mehr.
Es wurde noch der und jener Versuch gemacht, den Alten zu irgendwelcher
Arbeit zu bringen, da sein kräftiger Körperbau eine solche nicht nur zu leisten,
sondern fast zu fordern schien; alles war jedoch vergeblich. Dafür unternahm
er weite Ausflüge und Wanderungen, über deren Zweck er tiefes Stillschweigen
beobachtete. Wenn die Holzarbeiter im Bergwalde bei der Mittagsrast oder
der Kaffeepause am Feuer saßen, stand der Alte oft plötzlich, wie aus der
Erde hervorgewachsen, unter ihnen. Sie waren mitleidig genug, ihm Speise
und Trank zu spenden, und er nahm es ohne weitere Umstände an, als ob
er ein Recht darauf hätte. Und wenn dann unter dem Brausen des November¬
sturmes die eintönige Axt die dunkelgrünen Baumriesen erzittern machte, und
die Säge durch das harzige Fleisch der Stämme kreischte, dann erzählte der
alte Burckhardt vou der milden Wärme des Landes, aus dem das Proveneeröl
kommt, und von der Gluthitze der Straßen von Madrid. Sah man ihn dann
heimkommen, wie er im alten weiten grünen Tuchmantel, den hohen Bergstock
in der Hand, vom Abendwinde zerzaust die steile Straße niederstieg und ohne
sich um die Begegnenden zu kümmern leise Melodien vor sich hinrannte, so
glich er wohl dem Wandrer der altgermanischen Götterwelt, dem im Sturm
einherschreitenden Wuotan. Er hatte mit ihm noch etwas andres gemein: die
Einäugigkeit. Der Alte sammelte zwar aus dem nahen Walde dürre Äste für
den Winter, war aber zu bequem, auch Reisig aufzulesen oder Späne zu
schneiden; er pflegte das Feuer im Ofen mit Petroleum zu entzünden, und
dabei war es vorgekommen, daß die ans dem Ofen zurückschlagende Flamme
ihm das linke Auge verbrannt hatte. Oft litt er bittern Mangel, wenn das
geringe Wochengeld verzehrt war; dann riet ihm wohl einer der Nachbarn,
sein noch immer wertvolles Handwerkszeug, da er es doch einmal nicht ver¬
wende, zu.verkaufen; aber da lächelte der Alte überlegen und versicherte, er
werde die Äxte, die Meißel und Sägen wohl brauchen, wenn er ein neues,
größeres Besitztum erworben habe. Auch bei seinen Wanderungen fragte er
überall herum, wo etwa eine Schneidemühle oder etwas ähnliches zu verkaufen
sei. Dabei wurde er in der Besorgung seiner kleinen Hauswirtschaft immer
nachlässiger. Er benutzte weder die Betten, die ihm der Konkursverwalter
gelassen hatte, noch die neue Bettstelle, die ihm die Gemeinde geschenkt hatte,
sondern schlief eigensinnig, als ob er noch den Dienst des Brettmüllers versehe,
auf einer hölzernen Pritsche unter einer alten zerlöcherten Decke. An seinem
Körper war er sauber, aber nie wurde das Zimmer gefegt oder ein Fenster
geputzt; und so überzog den ganzen kleinen Haushalt allmählich eine Kruste
von Verkommenheit, die den an einen stattlichen Seifenverbrauch gewöhnter,
Hirschsprungern ein Greuel war. Es war dieser überaus saubern Bevölkerung
wie ein die ganze Gemeinde verunzierender Schandfleck, daß so etwas in ihrer
Gemarkung vorkomme. Es ergingen von den Nachbarn und dem Gemeinde¬
vorstande die dringendsten Mahnungen an den alten Burckhardt, aber er setzte
ihnen einen unerschütterlichen Trotz entgegen. Endlich beschloß der Gemeinderat,
die Hirschsprunger Männer aufzubieten — die Frauen erklärten es für unter
ihrer Würde, an ein so vernachlässigtes Hauswesen die bessernde Hand anzu¬
legen —, um den Schandfleck auszutilgen. Eines schönen Augustmorgens rückten
sie mit Besen und Bürsten, mit Seife, Soda und Scheuerhadern bewaffnet
an und räucherten den Dachs aus seiner Höhle. Als er sah, worauf es ab¬
gesehn war, trollte er sich mit seinem Wanderstabe in den Wald und ließ sie
gewähren. Am Abend schlief er in der frisch gescheuerten, mit reinlicher
Wäsche versehenen Stube, während der Mond verwundert durch die blanken
Scheiben guckte, mit nicht größerm Behagen als zuvor im Schmutze.
Aber durch die Opferwilligkeit der Leute war seine Begehrlichkeit geweckt
worden. Nicht viel später richtete er an den Gemeindevorstand das Ersuchen,
ihm ein Paar neue hohe Stiefel macheu zu lassen, da die alten nicht mehr
brauchbar seien, und er sich von seinem kargen Wochengelde keine ersparen könne.
Man beschloß, ihm ein Paar gute rindslederne Schaftstiefel von gewöhnlicher
Höhe machen zu lassen; hohe Stiefel, wie sie die Vrettmüller und Waldarbeiter
trügen, brauche er uicht, da er nicht arbeite. Aber der Alte blieb hartnäckig
auf seinem Verlangen und verhieß der Gemeinde, wenn er wieder bei Geld
sei, alles wieder zu erstatten. Es entbrannte ein erbitterter Kampf im Ge¬
meinderate, aber der alte Burckhardt siegte, und nach acht Tagen schauten
unter seinem grünen Tuchmantel die neuen hohen Wasserstiefel triumphierend
hervor.
Noch war der Neid manches fleißigen Familienvaters darüber nicht zur
Ruhe gekommen, da durchlief das Dorf die Kunde: der alte Burckhardt hat
geerbt/ Es war wirklich so. Eine Schwester von ihm war in Berlin gestorben
und hatte ihm die für seine Verhältnisse stattliche Summe von 539 Mark
hinterlassen. Mit Stolz und Genugtuung hörte er die Kunde, er hatte es ja
immer gesagt, daß er wieder in die Höhe kommen werde, und große Pläne von
Reisen und Ankäufen wurden in seiner Seele erwogen. Aber der Gemeinderat
dämpfte gar bald die stolze Freude des Alten, indem er ihm mit Hilfe des Amts¬
gerichts die freie Verfügung über das Geld entzog; nur der Betrag seines
Wochengeldes wurde auf zwei Mark erhöht. In dieser Zeit stieg der Alte öfters
aus seinem Wnldtal nach Altenberg hinauf, um sich bei einigen ihm von früher
her bekannten Bürgern Rats zu erholen, wie er in den vollen Besitz seines
Geldes gelangen könne. So auch an einen, kalten Februartage des Jahres 1905.
Als am andern Morgen die Hirschsprunger Kinder bei tiefem Neuschnee zur
Schule gingen, sahen sie etwas abseits vom Wege einen grünen Mantel aus
einem Schneehaufen hervorgucken. Erschreckt flüchteten sie, anstatt zu helfen.
Erst der Briefträger entdeckte, daß dort der alte Burckhardt halb erstarrt an
einem Steinhaufen lag. Beim nächtlichen niederstieg von Altenberg hatte ihn
eine Schwäche angewandelt. Mit Hilfe des Straßenwärters trug ihn der
Briefbote in die nahe Nauschermühle; dort erholte sich der Alte auffallend rasch
am großen Kachelofen, trank mit der Familie des Müllers Kaffee und tat
danach in der Hölle hinterm Ofen einen tiefen Schlaf. Am Nachmittag konnte er,
wenn auch uoch etwas schwach auf den Füßen, in seine Behausung gehn. Als ihn
der Gemeindevorstand teilnehmend besuchte, äußerte er selbstbewußt: „Das mög
mir emol eener von eich nachmachen, su me kalte Nacht in Freien zuzubringen."
Aber der Wurm des Todes saß doch in ihm. Nach wenigen Tagen fing er
infolge der Erkältung an zu fiebern; des Brettmüllers Frau aus der Laden¬
mühle pflegte ihn ab und zu und heizte ihm das Zimmer. So ging es etwa
drei Wochen. Als sie eines Morgens wieder ins Zimmer trat, lag er mit
friedlichem Antlitz tot auf seinem Lager. Am dritten Tage wurde er aufgebahrt,
und der Gemeindevorstand selbst half der Leichenfrau beim Waschen des starken
Körpers. Und obwohl er im Gemeindehaus gestorben war, ging doch fast die
ganze männliche Bewohnerschaft des Dorfes mit zu Grabe. Der alte Burck¬
hardt war auch der erste, der auf dem neuen Leichenwagen der Stadt Altenberg
zum Friedhof gefahren wurde. Sein Begräbnis war schlicht und würdig.
Vier Wochen später fand die Auktion seiner Sachen statt: das noch
brauchbare Werkzeug und das Hausgerät ergab etwa neunzig Mark. Dieses
Geld im Verein mit dem Reste seiner Erbschaft deckte nicht nur alle Kosten,
die die Gemeinde gehabt hatte, sondern lieferte auch noch einen Überschuß von
etwa zweihundert Mark, den die Gemeinde erbte. So hatte der Alte doch recht
behalten, wenn er sagte, daß er in guten Verhältnissen sterben werde. Als die
Versteigerung vorüber war, lag noch seine alte Hausbibel auf dem Tische. Es
war eine Wittenberger Bibel großen Formats vou 1768 in etwas wurmstichigem
schwarzem Lederbände mit messingnen Schließen. Niemand hatte auf das ehr¬
würdige Buch geboten, es war wohl eine gewisse Scheu vorhanden; auch dem
Wirt, der sonst viel in der Bibel liest, war diese unheimlich. Er ließ sie liegen
und schenkte sie später mir. Ob wohl der alte Burckhardt viel in seiner Bibel
gelesen hatte? Ich glaube es kaum, wenn er auch in der bekannten Stelle der
Bergpredigt: „Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten
nicht, sie sammeln nicht in die Scheuern, und euer himmlischer Vater nähret
sie doch" eine gewisse Rechtfertigung seiner Art hätte finden können. Er hielt
seine Bibel wohl mehr äußerlich in Ehren, weil die auf dem innern Einbande
mit groben Händen gekritzelten alten Besitzvermerke ihm seine gut bäuerliche
Abkunft — er stammte aus der Haselberger Mühle bei Gottleuba — ver¬
bürgten. Und Stolz und Selbstbewußtsein waren nun einmal die Grundlagen
seines Wesens und Lebens, das er, je älter er wurde, um so mehr zu einem
Protest gegen die erzgebirgische Rastlosigkeit und gegen die moderne, ihm ver¬
ächtlich und sterblich erscheinende Betriebsamkeit ausgestattete. Der romanische
Süden hatte ihm eine große Bedürfnislosigkeit, aber auch einen starken Trieb
zur Beschaulichkeit und Eriunerungsseligkeit verliehen. So war er mitten in
der Unrast unsrer Zeit ein Untätiger geworden, von dem noch lange nach seinem
Tode gesprochen werden wird, weil er anders war als alle die andern. Und
schon beginnt sich sein Bild in den Köpfen der Waldleute, die einst seine
Widersacher waren, zu verklären und in gewissem Sinne Schule zu machen. Im
wilden Rosenstrauch aber, der über seinem Grabe wächst, pfeift nicht nur die
Amsel des heimischen Bergwaldcs, nein, hier rastet auch der Zugvogel aus dem
fernen Süden und grüßt den stillgewordnen Wandrer da drunten, der den
Manzanares nicht vergessen konnte.
Die Urwähler zum preußischen Abgeordnetenhause sind vorüber. Ihr Er¬
gebnis entscheidet zwar noch nicht mit völliger Sicherheit über die Abstimmungen
bei den am 16. folgenden Abgeordnetenwahlen, aber da sich nun einmal der Brauch
eingebürgert hat, daß die Wahlmänner bei ihrer Aufstellung den UrWählern gegen¬
über, soweit irgend möglich, die ausdrückliche Verpflichtung übernehmen, für die
im voraus bestimmten Kandidaten zu stimmen, so läßt sich die künftige Zusammen¬
setzung des Abgeordnetenhauses schon jetzt ziemlich genau übersehen.
Das am meisten besprochene Ergebnis der Wahlen ist die Tatsache, daß min¬
destens sieben Sozialdemokraten ihren Einzug in den preußischen Landtag halten
werden, in dieselbe Körperschaft, die bisher keinen einzigen Vertreter der Sozial¬
demokratie in ihren Reihen zählte, und die deshalb von den Anhängern dieser
Partei immer als das Zerrbild einer Volksvertretung bezeichnet wurde. Jetzt stimmen
die „Genossen" ein Triumphlied nach dem andern an, daß es ihnen gelungen ist,
die erste Bresche in die feste Mauer zu legen, mit der das preußische Parlament
bisher gegen das Eindringen der Sozialdemokratie gesichert schien. Diese Sieges¬
freude ist verständlich; keine Partei würde es im gleichen Falle anders machen.
Wichtiger ist die Frage, ob die bürgerlichen Parteien Ursache haben, über diesen
Erfolg der Sozialdemokratie besonders niedergeschlagen und schmerzlich überrascht
zu fein, oder ob es ein leicht vorauszusehendes Ereignis war, mit dem man sich
doch über kurz oder lang abfinden mußte.
Die Wirkung, die von diesem ersten Einzug der Sozialdemokraten in die ihnen
bisher verschlossenen Räume der Preußischen Volksvertretung ausgeht, wird ja
zweifellos darin bestehn, daß die Meinung von einem neuen Aufschwung der bei
den letzten Neichstagswahlen gründlich niedergeworfnen Partei Boden findet. Die
bürgerlichen Parteien werden auf der Hut sein und energisch arbeiten müssen, um
bei der nächsten Gelegenheit den Beweis zu liefern, daß die Umstände, deren
Fügung für die Sozinldemokratie diesesmnl den Schein eines großen Erfolges
herbeiführte, keine Bürgschaft für weitere Fortschritte bieten. Irgendeinen Einfluß
auf die Abstimmungen des Abgeordnetenhauses wird das kleine Häuflein der sieben
Genossen natürlich nicht haben; sie müssen sich einstweilen mit dem moralischen
Eindruck ihrer Wahl begnügen. Aber mau wird in der Arbeit des Hauses und
im Ton der Debatten sehr bald ihren Einfluß spüren. Die Beratungen werden
länger und unbedeutender werden. Denn je weniger die sozinldemokratischen Mit¬
glieder des neuen Abgeordnetenhauses auf die Abstimmung einwirken können, desto
mehr werden sie das Bedürfnis haben, sich durch Reden bemerkbar zu macheu.
Die zum Fenster hinaus gehaltnen Dauerreden, die bis jetzt eigentlich nur im Reichs¬
tage heimisch waren, werden jetzt auch im Abgeordnetenhause gehört werden, und
das wird natürlich der Erledigung der gesetzgeberischen Arbeiten nicht zum Vorteil
dienen. Aber es hat auch wieder sein Gutes, daß eine Partei, die im Lande
doch nun einmal vorhanden ist, nicht länger von den parlamentarischen Beratungen
ganz ausgeschlossen erscheint. Das wird wohl allgemein erkannt, und deshalb hat
man sich in bürgerlichen Kreisen mit der vollendeten Tatsache sehr schnell ab¬
gefunden. Bisher hatten die Sozialdemokraten bei ihrer Agitation gegen das
Wahlrecht das sehr wirkungsvolle Argument für sich, daß das „elendeste aller
Wahlsysteme" — dieses einmal hingeworfne Wort Bismnrcks wurde bekanntlich
aus dem Zusammenhange gerissen und zu Tode gehetzt — die Ursache sei, weshalb
eine der stärksten Parteien im Lande keine Vertretung im Landtage habe. Das
Argument hat sich als falsch erwiesen; auch das Dreiklassenwahlrecht ist kein Hindernis
für die Wahl von Sozialdemokraten.
Wenn die roten Genossen bei den frühern Wahlen nicht in den Landtag
kommen konnten, jetzt aber dieses Ziel erreicht haben, so hängt das zunächst mit
der Neueinteilung verschiedner Wahlkreise zusammen, die diesmal zuerst Praktisch
erprobt worden ist. Die Hauptstadt Berlin ist in zwölf Wahlkreise geteilt
worden, die je einen Abgeordneten zu wählen haben. Die Verkleinerung der Wahl¬
kreise hat die natürliche Folge, daß der proletarische Bruchteil der Bevölkerung in
verschiednen dieser Kreise stärker zur Geltung kommt. Von den sieben Sozial-
demokraten, deren Wahl zu erwarten ist, sind sechs in Berlin aufgestellt. Aus dieser
Erfahrung wird wohl bei den Oppositionsparteien das verstärkte Bestreben hervor¬
geh», eine radikale Neueinteilung der Wahlkreise durchzusetzen, wobei die Zahl der
Abgeordneten noch mehr der Bevölkerungsziffer angepaßt wird. Das würde darauf
hinauslaufen, daß die Vertretung der großen Städte die der ländlichen Bezirke im
Abgeordnetenhause vollständig erdrücken würde, ein Verhältnis, das den Aufgaben
des Preußischen Landtags wenig entspräche.
Man hat es immer als besonders widersinnig bezeichnet, daß die Dreiteilung
in Wählerklassen innerhalb der einzelnen Wahlbezirke erfolgt. Vor fünf Jahren
wurde es als ein besondres Kuriosum in den Zeitungen behandelt, daß der Reichs¬
kanzler in der dritten Klasse' gewählt hatte, weil seine Dienstwohnung in einem
Bezirke lag, in dem einige besonders hohe Steuerbeträge gezahlt wurden. Man
kann ja nun die theoretische Berechtigung dieser Kritik an der Dreillasseneinteilung
vollkommen zugestehn — obwohl seinerzeit ein so bedeutender liberaler Rechtslehrer
wie Rudolf von Gneist andrer Meinung war und dies eingehend begründet hat —,
aber die Gegner des Wahlrechts sollten auch ihrerseits zugeben, daß in der ge¬
sonderten Bestimmung der Wählerklassen in den einzelnen Urwnhlbezirken ein sehr
bemerkenswertes Korrektiv gegen den plutokratischen Charakter des Wahlrechts liegt,
daß also gerade das gemildert wird, was diesem Wahlsystem als Hauptfehler vor¬
geworfen zu werden Pflegt. Das Übergewicht, das angeblich durch das preußische
Wahlrecht den Besitzenden allgemein gegeben werden soll, wird in Wahrheit nur
innerhalb sehr eng gezogner Grenzen zur Geltung gebracht. Wenn auch in jedem
dieser kleinen Bezirke der Besitz ein relatives Mehrgewicht verschafft, so kommt es
doch tatsächlich darauf hinaus, daß — um uns kurz auszudrücken — arme Bezirke
auch arme Wahlmänner stellen. Natürlich kommt dadurch, daß die Körperschaft
der Wahlmänner, die schließlich die wirkliche Abgeordnetenwahl vollziehen, in ihrer
Zusammensetzung wesentlich durch den Vermögensstand der Wählerverbände in den
einzelnen Bezirken bestimmt wird, ein plutokratisches Element in das ganze Wahl¬
system. Aber die Behauptung, daß dieses Wahlsystem den minder vermögenden
„entrechte", ist eine agitatorische Redensart, die durch die letzten Wahlen entschieden
widerlegt worden ist. Man muß nur bedenken, wie lange sich die Sozialdemokratie
aus doktrinärem Trotz gegen das von ihr theoretisch verworfne preußische Wahlrecht
freiwillig „entrechtet" hat, indem sie den Beschluß der Nichtbeteiligung an den
Landtagswahleu bis zu den Wahlen des Jahres 1903 aufrecht erhalten hat.
Und dann gehört weiter auch zur richtigen Handhabung des preußischen Wahl¬
rechts, daß sich nicht Leute freiwillig zu „Proletariern" machen, die es nicht sind.
Die preußische Gesetzgebung hat bekanntlich neuerdings die Mittel zu einer schärfern
Kontrolle der Einkommensverhältuisse der Lohnarbeiter gefunden, indem die Steuer¬
behörde von den Arbeitgebern Lohnlisten einfordert. Das ist schon im Interesse
der Gerechtigkeit gegenüber den Beamten notwendig, denen der Staat, wie man
scherzhaft zu sagen pflegt, bis in den Magen sehen kann, und deren Einkünfte auf
Heller und Pfennig nachzurechueu sind. Da hat sich nun herausgestellt, daß viele
vermeintliche „Besitzlose" ein recht hübsches Einkommen zu verzeichnen haben, und
so ist denn eine beträchtliche Anzahl von „Proletariern" bei diesen letzten Wahlen
in die zweite Wählerklasse eingerückt. Der daraus entstehende Nachteil einer größern
Zahl sozialdemokratischer Wahlmänner, wodurch eben in Berlin die Wahl von sechs
sozialdemokratischen Abgeordneten gesichert erscheint, muß dabei freilich als unver¬
meidlich nach Recht und Billigkeit in den Kauf genommen werden.
Wie erwartet werden konnte, haben die Sozialdemokraten auch daraus Nutzen
gezogen, daß die Liberalen dnrch den mißglückter, nach der ganzen politischen Lage
höchst unbesonnenen Versuch, die Wahlrechtsreform zur Wahlparole zu machen, ihnen
in die Hände arbeiteten. Die vernünftigen, politisch veranlagten Liberalen sahen
sich dnrch das Wahlreformgeschrei an allen Ecken und Enden behindert, ihren eignen
Wählern gegenüber diskreditiert, und die Sozialdemokraten, unterstützt von den
Sozialliberalen, hatten leichtes Spiel, sie nun als Feinde der Volksfreiheit, als
rückgratlose Verräter hinzustellen. Die Sozialliberalen haben wenigstens dabei ihren
redlich verdienten Lohn eingeheimst: ihr Fiasko konnte nicht vollständiger sein, und
nicht einmal zu einem Achtungserfolg haben sie es gebracht.
Das Bild der letzten Wahlen in Preußen und die Betrachtung der Ursachen
der sozialdemokratischen Erfolge würde jedoch nicht vollständig sein, wenn wir nicht
auch des beispiellosen Terrorismus gedächten, mit dem diese Partei gearbeitet hat.
Die kleinen Geschäftsleute, Handwerker, Gastwirte usw. wurden mit so brutalen
Boykottcmdrohungen verfolgt, daß sich eine auffallend große Zahl von ihnen, soweit
sie sich nicht dem Terrorismus fügten, der Wahlpflicht direkt entzog. Viele wagten
es nicht einmal, einfach der Wahlhandlung fernzubleiben; sie fingierten Reisen,
Krankheit oder dergleichen oder gingen auch wirklich weg. Noch niemals ist der
sozialdemokratische Terrorismus, der sich bisher in den Kreisen der Arbeiter hielt,
so brutal auch nach außen hin aufgetreten. Die offne Einschüchterung von Kreisen,
die bisher diesen Einflüssen gar nicht oder nur wenig unterworfen waren, die
direkte Bedrohung der politischen Meinungsfreiheit ist in solchem Umfange zum
erstenmale versucht worden.
Die andre bedeutungsvolle Erscheinung in diesen: Wahlkampf, das Bündnis
zwischen Zentrum und Polen, hat den Beteiligten nicht die Befriedigung gebracht,
auf die sie gerechnet hatten. Die deutschen Katholiken im Osten sind, soweit sich
die Lage bis jetzt übersehe» läßt, der Aufforderung der Zentrumspartei, die Ver¬
bindung mit ihren deutschen Landsleuten zu lösen und zu den Polen überzugehn,
im allgemeinen nicht gefolgt. Sie haben sich offenbar nicht überzeugen können,
daß ihr Glaube in Gefahr ist, aber sie keime» die Pole» und die Ziele ihrer Be¬
strebungen gut genug, um die Schmach zu empfinden, die ihnen von der Zentrums-
partei zugemutet wird. Den Polen ist durch die Einigkeit der Deutschen der Wahl¬
kreis Gnesen-Witkowo entrissen worden. Dieser Wahlkreis umfaßt die Bezirke, in
denen das Ansiedlungswerk in der Provinz Posen bisher um weitesten vorgeschritten
ist. Der erfreuliche Wahlerfolg dient also auch zugleich zur Beleuchtung der oft
aufgestellten Behauptung, daß die Ansiedlungspolitik keine Erfolge aufzuweisen habe,
sondern nnr den Widerstand der Polen zu größern Leistungen ansporne.
In der auswärtigen Politik dienen die Beziehungen zwischen England, Nußland
und Frankreich und die Stellung dieser drei Mächte zu Deutschland fortgesetzt als
Grundlage lebhafter Erörterungen in der Presse. König Eduard hat seine Reise
nach Reval angetreten, nicht ohne vorher eine scharfe Kritik dieses Unternehmens in
einer lebhaften Debatte des Unterhauses erfahren zu haben. Der Ansturm dieser
parlamentarischen Kritiker, deren Kern die Arbeiterpartei bildete, wurde, wie zu er¬
warten war, abgeschlagen. Man pflegt sich in England bei Fragen der auswärtigen
Politik nicht auf Unmögliches zu verbeißen und sich uicht in unhaltbaren Positionen
festzulegen. Sir Edward Grey hatte bei dieser Erörterung die volle Überlegenheit
auf seiner Seite und benutzte die Anregung dieser Frage hauptsächlich, um die Be¬
fürchtungen oder Hoffnungen zu widerlegen, die durch die Vorstellung eines neuen
europäischen Dreibunds erregt worden waren. Wir brauchen auf diesen Punkt nicht
noch einmal zurückzukommen, denn an den bestehenden Auffassungen werden die Aus¬
führungen des englischen Staatsmanns nicht viel ändern. Unser eigner Standpunkt
ist den Lesern bekannt. Wir gehören nicht zu denen, in deren politischer Vorstellung
König Eduard ungefähr dieselbe Rolle spielt, wie für die Franzosen lange Zeit die
ti-ouSs as Lslfort. Wir starren nicht wie hypnotisiert auf diese eine Stelle und wissen
bei aller Hochachtung vor der staatsmännischen Bedeutung des britischen Herrschers,
welche Grenzen ihm gesteckt sind. Nicht seine persönlichen Wünsche, sondern die vielfach
verschlungnen Interessen der Völker bestimmen den Gang der Politik. Es ist wahr,
daß die Richtung dieser Interessen nicht überall und immer so klar zutage liegt, daß
es einer überlegnen staatsmännischen Intelligenz nicht gelingen könnte, sie vorüber¬
gehend und in bestimmter Ausdehnung in ihrem Sinne zu leiten. Aber es
ist unschwer einzusehn, daß eine solche Möglichkeit um so eher vorliegt, je
mehr auf der Gegenseite der Vorstellung Raum gegeben wird, daß die Inter¬
essen der Völker wirklich die Richtung nehmen, wie es jener Staatsmann gern
glaube» machen möchte. Es gibt immer Gegenströmungen, die zu unserm Vorteil
laufen; unsre Staatsmäner müssen sie natürlich in jedem Falle kennen und
sehn, aber man erschwert ihnen die Arbeit, wenn die öffentliche Meinung
gewissermaßen angeleitet wird, die Dinge immer nur so zu sehen, wie sie die
Gegner unsrer Interessen gern gesehen habe» möchten. Das ist durchaus kein
sorgloser Optimismus. Wir wissen sehr genau, daß die durch die persönliche Tätigkeit
und die persönlichen Beziehungen des Königs jetzt so stark unterstützte Politik der
englischen Regierung — so muß mein korrekt nennen, was gewöhnlich die Politik
des Königs Eduard heißt — schwerlich in dem Maße erfolgreich gewesen wäre,
wenn sie nicht durch den Eindruck, als sei es vor allem auf Deutschland abgesehen,
in den deutschfeindlichen Kreisen verschiedner Länder gewisse Hoffnungen geweckt hätte.
Wir bestreiten nur, daß diese „Einkreisung", die jedenfalls nicht der leitende Ge¬
danke der englischen Politik ist, sondern nur ein nebenbei abfallender Erfolg, der
erst durch die Anerkennung unsrer öffentlichen Meinung ein solcher geworden ist,
mit Recht zum Ausgangspunkt genommen werden kann, um die Behauptung von
unsrer völligen Isolierung in alle Welt hinauszuschreien. In Wirklichkeit liegen
die Dinge nicht so einfach, daß der König von Großbritannien die Mächte Europas
nur mit einiger Liebenswürdigkeit und Schlauheit zu einem kriegerischen Kessel¬
treiben gegen Deutschland zusammenbringen könnte, so wie ein Gutsbesitzer die
Nachbarn zu einer Hasenjagd einladet. Die Zeiten sind denn doch vorüber. Kürzlich
brachte eine französische Zeitung eine angeblich aus England stammende Zuschrift,
wonach der Vorteil eines großen, rings um Deutschland gebildeten Mächtekonzerns
darin liegen sollte, daß Deutschland dann dem „friedlichen" (!) Druck dieser Mächte
nachgeben und sich dem Abrüstungsgedanken anbequeme» müßte. Woher dieser große
Gedanke wirklich stammt, lohnt sich nicht zu erörtern. Jedenfalls enthalt er eine
erstaunliche Fülle von reiner Torheit. Eine Aktion der Mächte gegen Deutschland
müßte doch die natürliche Folge haben, daß es seine Rüstung verstärkt. Daß deutsch¬
feindliche Politiker im Auslande darüber im unklaren sein können, erklärt sich mir
daraus, daß sie in einem große» Teil der deutscheu Presse nicht der selbstbewußten
Festigkeit begegnet sind, die der richtige Ausdruck unsrer öffentlichen Meinung hätte
sein müssen, sondern dein würdelosen Modegeschrei über die Anschläge des Königs
Eduard. Dadurch mußte» sie zu der Meinung kommen, Deutschland lasse sich in
der Tat durch jeden bloßen Schein einer Bedrohung nervös machen und einschüchtern.
Hoffentlich wird diese Stimmung bald — nicht durch den „rosenfarbne» Optimis¬
mus", von dem in manchen Kreisen oft tadelnd gesprochen wird —, wohl aber
durch eine kältere und sachlichere Beurteilung der Wirklichkeit ersetzt.
Ich muß bekennen, daß ich so unmodern bin. höchst
ungern Zeitungen zu lesen. Und wenn ich bei andern sehe, daß sie mehrere Stunden
des Tages mit dieser nervenangreifcnden Arbeit verbringen, dann empfinde ich ein
großes Vergnügen über meine Kraft- und Zeitersparnis. Wenn ich aber merke, wie
sehr der Gewohnheitszeitungsleser auch innerlich Schaden leidet, dann empöre ich
mich dagegen! Es ist gar nicht anders möglich, als daß das viele Zeitunglesen
schädigend auf den Geist einwirkt. Einmal untergräbt es die klare, selbständige
Urteilskraft; man kann häufig genug beobachten, daß bei auftauchenden Fragen erst
nach dem Studium der Zeitung ein Urteil abgegeben werden kann. Oder daß sich
das Urteil sofort ändert, je nach dem Leitartikel, der erst später erschien. Vor allem
andern aber: es stumpft ub. Wie ein Narkotikum reizen die täglichen Nachrichten
und Beschreibungen aller denkbaren Morde, Verbrechen und Unglücksfälle momentan
die Phantasie auf. Es sind keine schönen Vorstellungen, die sich unwillkürlich ans
diesen Anreiz einstellen! Und die tägliche Übung in solchen häßlichen, niedrigen
Bildern ist eine sehr ernste Sache im Nerven- und Seelenleben. Unbegreiflich, wie
man diesen Schaden am eignen Ich so gering anschlagen kann, heute, wo alle über
schlechte Nerven zu klagen haben! Die weitere unausweichliche Folge des geistigen
Nnrkotikums ist die Erschlaffung, die Abstumpfung. Wenn man jeden Tag mindestens
von einem halben Dutzend Mord- und Arkaden liest, dann stellt sich kein Grauen
mehr ein, sondern das gelangweilte Gefühl „schon wieder einer?", oder gar das
sensntionshungrige, das mit einer gewissen Spannung die gräßlichsten Dinge sucht.
Nicht bloß in den untern Schichten besteht dieses unästhetischste aller Gefühle: das
Vergnügen am sensationellen, am Grauenhaften. Man kann sich ja schließlich auch
unmöglich Tag für Tag auf Mitleid, auf wirkliches Entsetzen über tägliche Ab¬
scheulichkeiten einstellen, worauf übrigens die lebendige Wirklichkeit genügend Anspruch
macht. Aber es geht einem doch durch und durch, wenn gebildete Menschen auf
die Notiz von Mord und Selbstmord eines gequälten Familienvaters nur noch rin
einem — Witz reagieren. Wo bleibt da das Gefühl für den Mitmenschen, das Ver¬
ständnis der Zeit? Wo bleibt endlich unsre eigne seelische und ästhetische Vertiefung?
Natürlich soll keineswegs gesagt sein, daß man überhaupt keine Zeitungen lesen
sollte! Das ist nicht zu umgehn. Aber man sollte nur das wirklich notwendige lesen,
das für den Politiker selbstverständlich sehr anders aussieht als etwa für die Frauen.
Und die vielen Greueltaten und Sensationsprozesse kann man in der Regel unbeschadet
völlig überschlagen, sie nützen keinem und schaden allen. Von allen meinen Be¬
kannten lese ich am wenigsten Zeitungen; merkwürdigerweise aber halte ich die
allermeisten Zeitschriften. Nämlich die Zeit und Frische, die man durch mäßiges
Zeitunglesen erspart, ermöglicht die genußreichere Lektüre von guten, nicht im
setzenden Feuilletonstil geschriebnen Aufsätzen über Zeit- und andre Themata. Ich
habe eine reine Freude empfunden, als ich kürzlich in einem Briefe Goethes die
weisen Worte fand: „Hierbey werd ich veranlaßt, dir etwas Wunderliches — zu
vertrauen, daß ich nämlich, nach einer strengen schnellen Resolution alles Zeitungs¬
lesen abgeschafft habe und mich mit dem begnüge, was mir das gesellige Leben
überliefern will. Dieses ist von der größten Wichtigkeit: denn genau besehen ist es,
von Privatleuten, noch nur Philisterey wenn wir demjenigen zuviel Antheil schenken,
was uns nichts angeht. Seit den 6 Wochen daß ich die sämmtlichen Zeitungen liegen
lasse, ist es unsäglich, was ich für Zeit gewann und was ich alles wegschaffte!"
Gustav Theodor Fechners Weltanschauung hat
Friedrich Ratzel ein paar Jahre vor seinem Tode in den Grenzboten dargelegt.
Seitdem sind Fechners Werke durch Neuausgaben verbreitet worden, und zuletzt
ist eine kleine Schrift des Forschers, die seine Weltanschauung kurz zusammenfaßt,
auf Paniscus Veranlassung von Eduard Spranger neu herausgegeben und von
Paulsen mit einem Geleitwort versehen worden: „Über die Seelenfrage; ein
Gang durch die sichtbare Welt, um die unsichtbare zu finden." (Hamburg und
Leipzig, Leopold Voß, 1907.) Paulsen meint, von dem Doppelgestirn Lotze-Fechner
habe lange Zeit hindurch Lotze den Hellem Schein gehabt, in der Zukunft aber
werde ihn Fechner überstrahlen. Ich für meinen Teil werde jedoch immer Lotze
als den verständlichern und brauchbarem vorziehn; Fechners Pflanzen- und Ge¬
stirnseeleu erscheinen mir in mehr als einer Hinsicht bedenklich. Aber seine Schriften
sind voll schöner, anregender und erhebender Gedanken; als wirksamer Vorkämpfer
gegen den Materialismus wird er immer seine Bedeutung behaupten. Seine poetische
Begabung läßt ihn namentlich viel fruchtbare Analogien finden, so in dieser Schrift
die zwischen Weib und Pflanze, Manu und Tier. Seinen Glauben bekennt er mit
den Worten: „Es lebt ein Gott, und was besteht, besteht durch Gott; es besteht
ein jenseitiges Leben, des diesseitigen Lebens Strafe, Lohn und höhere Stufe; es
besteht eine heilige Weltordnung, im Sinne eines endlichen Sieges des Guten über
das Böse." Auch dem Christentum verleihe seine Seelenlehre Stützen; statt zu
sagen, Christus sei nicht der Weg des Heils und Lebens, „erfaßt sie seine Hand,
den Weg zu gehen. Rechnet man freilich zum Christentum als wesentlich den
Glanben an den Apfelbiß im Paradiese mit seinen mystische» Folgen, an die
nnwiderbringliche Verdammnis der nicht Auserwählten, an die Wunder gegen die
Gesetze der Natur, an das Abgerissensein Gottes von seiner Welt, an all das
Unerbauliche, womit die Theologen gemeinhin das Christentum ausbauen, so ist die
Lehre, die hier vorgetragen wird, nicht christlich, Ich aber rechne alles das, wovon
in Christi eigner Lehre nichts zu finden ist, was die Menschheit nicht besser, nicht
glücklicher, nicht weiser macht, was sich selbst, der Natur der Dinge und des Menschen
widerspricht, was den Geist verdüstert, die Wissenschaft verstört, ein trübes Wesen
in das Leben mischt, zu dem, was fallen muß, damit die Lehre Christi stehe," —
Von Merciers Psychologie (siehe das 20. Heft) ist (bei Jos. Kösel in Kempten
nud München, 1907) die Übersetzung des zweiten Bandes: das Verstandes- und
Vernunftleben, erschienen. Man überzeugt sich bei der Lektüre mit Interesse davon,
daß die Lehren der Scholastiker gar nicht so weit abliegen von denen unsrer
modernen Philosophen, und daß z. B. der Satz: nilnl sse in inwUvotu, cinoä non
xriiis knsrlt in sfuhr, schon von Thomas von Aquin begründet, wenn anch nicht
mit denselben Worten ausgesprochen wird; der Darstellung jedoch gereicht die Ver¬
wendung der scholastischen Kategorien und Kunstausdrücke nicht zum Vorteil, obwohl
die Ergebnisse stellenweise, z. B. bei der Behandlung des Problems der Willens¬
freiheit, recht befriedigend ausfallen. Studierenden das Buch als Leitfaden zu
empfehlen, verbieten die letzten Kapitel. Da wird vom Ursprung der Seele und
des Menschengeschlechts gehandelt, was nicht in die Psychologie, sondern in die
Anthropologie gehört. Die Unsterblichkeitsfrage darf zwar in der Psychologie er¬
örtert, aber nicht, wie es von Mercier geschieht, mit scholastisch-theologischen „Be¬
weisen" entschieden werden. Und zuletzt wird gar die Ewigkeit der Höllenstrafen
„philosophisch" begründet, indem sie Mercier als eine psychologische Notwendigkeit
darstellt. — Heinrich Gomperz behandelt Das Problem der Willensfreiheit
(Jena, Eugen Diederichs, 1907) und schlagt dabei neue Wege ein. Die heutige
Naturwissenschaft verfechte den Determinismus gegen die Kirche, aber vor ein paar
hundert Jahren sei das ganz anders gewesen: „Eine Frömmigkeit, die sich nicht
vermaß, mit unsern Begriffen von Gut und Schlecht die Welt zu richten, schöpfte
gerade aus der Überzeugung, daß, wie alles Geschehen, so auch das menschliche
Wollen von Gott bestimmt sei, die Zuversicht, daß wir uns in einer guten, demütig
zu bejahenden Welt befinden. Und ihr gegenüber verfocht ein Freisinn, den die
Abhängigkeit von Gott entwürdigend dünkte, unsre schrankenlose Herrschaft über
unser Tun und Lassen: die Freiheit des Willens." Daraus folge zunächst, „daß
Determinismus und Indeterminismus nicht eine eindeutige Beziehung zu Aufklärung
und Aberglauben haben können". Der Verfasser unterwirft die Auffassung und
Lösung des Problems in den verschiednen Philosophenschulen und bei den einzelnen
Denkern einer kritischen Beleuchtung und prüft besonders gründlich Kants Freiheits¬
lehre. Dann zeigt er, daß beide entgegengesetzten Theorien unbefriedigend sind,
und zwar die deterministische in höherm Grade; denn durch Motive gezwungen
werden sei ein Leiden, Leiden aber das Gegenteil der gewallten und darum freien
Tätigkeit, die uns unser Bewußtsein bezeuge: der Indeterminismus erkläre wenigstens
die Freiheit durch sich selbst, der Determinismus aber erkläre sie durch ihr Gegenteil,
den Zwang. Sehr schön wird der Widerspruch hervorgehoben, in den sich die
Naturforscher verwickeln, indem sie den Kausalttätszwcmg für die menschlichen Hand¬
lungen behaupten in dem gegenwärtigen Augenblicke, wo thuen die Kausalität selbst
in dem hergebrachten Sinne zweifelhaft geworden ist, und wird das mythologische
Wesen abgetan, das die Naturforscher aus dem Gesetz und der Gesetzmäßigkeit
gemacht haben. Dcis Dilemma, das aus der Verflechtung des menschlichen Handelns
mit dem Naturgescheheu entspringt, so wird am Schluß das Ergebnis der Unter¬
suchung zusammengefaßt, „glaubten wir zu überwinden durch die Einsicht, daß außer
den passiven Bewegungen der Organismen überhaupt kein Vorgang in der Welt
notwendig, d, h. erzwungen ist, und wurden so in den Stand gesetzt, den mensch¬
lichen Willensakten den Notwendigkeits- und Zwangscharakter abzusprechen, ohne sie
doch von allen andern Vorgängen grundsätzlich zu trennen". In einem Anhange
wird untersucht, wie weit sich die Psychologie mathematisch behandeln lasse. Diese
Untersuchung hat Ernst Mach zur Begutachtung vorgelegen, dem das Buch ge¬
widmet ist. — Hugo Marcus zeigt in seiner Philosophie des MonoPlu¬
ralismus, daß die Vielheit der Weltelemente eine Tatsache ist, der Drang aber,
die Vielheit auf eine Einheit zurückzuführen, aus der Enge unsers Bewußtseins
entspringt, die in jedem Moment immer nur eine Vorstellung zuläßt. Der Gegensatz
zwischen Einheit und Vielheit ist die Urantinomie, aus der auf allen Gebieten des
Lebens unzählige einzelne Antinomien hervorgehe»; eine Anzahl dieser werden recht
hübsch dargestellt, z. B. die zwischen Nationalismus und Kosmopolitismus. Jener
treibt zur Konkurrenz auf dem Weltmarkte, amerikanisiert, egalisiert dadurch die
Völker; dieser wendet seine Liebe gleichmäßig allen Völkern zu und führt dadurch,
wie Herder und die Romantiker beweisen, zum Verständnis und zur Pflege der
Eigenart der Völker. Wenn der Verfasser den Monismus als Philosophisch falsch
bekämpft, will er sich damit nicht etwa als Gegner „der Bestrebungen des freien
Denkens für eine undogmatische, natürliche Weltanschauung und Entwicklungslehre"
bekennen. — Ein Nietzsche zweiter oder dritter Güte, Wilhelm Doms, ver¬
öffentlicht (bei Piper u. Co. in München und Leipzig, 1907) Tagebuchblätter unter
dem Titel Die Odyssee der Seele. Er bekennt, daß er sehr wenig gelesen
habe, nicht einmal die Dichter, die er doch so hoch schätze, und meint, man werde
es ihm verübeln, daß er über die Philosophie urteile, ohne die philosophische
Literatur zu kennen; aber man möge nur sein Opus bis zu Ende lesen, so werde
man andrer Ansicht werden. Den Namen eines Philosophen mache ich ihm nicht
streitig; denn er ist ein selbständiger Denker. Eben der Drang zum selbständigen
Denken macht ihm das Lesen zu einem Greuel: er vermag uicht längere Zeit hindurch
den Gedankengängen andrer zu folgen. Die Charakteristik als eines kleinen Nietzsche
wird er entrüstet ablehnen, denn seine Sympathie gehört nicht Nietzsche sondern
Goethe; aber er gesteht selbst, daß er mehrere seiner Gedanken bei Nietzsche wieder¬
gefunden hat, und seine aphoristische Darstellungsweise, seine ungelösten Wider¬
sprüche, sein Haß gegen das Christentum sind durchaus nietzschisch. Obwohl er sich
leidenschaftlicher Liebe zur Schönheit rühmt, hat er sein Buch mit überaus häßlichen
Tierfratzeu „geschmückt". Vielleicht erklärt sich das aus seiner Definition von Genie
nud Talent. Genie ist uach ihm die produktive Kraft, Talent die Anlage zum
Technischen. Jedes von beiden kann gesondert vorkommen; besitzt aber das Genie
kein Talent, so ist es unglücklich, denn es kann sich dann nicht in Schöpfungen
offenbaren. Doms scheint sich nun für ein Malergenie ohne Talent zu halten, das
die es erfüllende Welt von Schönheit nicht in Kunstwerken offenbaren kann und
sich aufs Stümpern, auf Fratzen beschränken muß. Aber wenn man die Schönheit
wirklich liebt, sündigt man nicht gegen sie durch Fratzen. Die Definition von
Genie wird wohl falsch, ein Genie ohne Talent nicht ein unglückliches, sondern
bloß ein eingebildetes Genie sein, das wirkliche Genie das zu seiner Offenbarung
und fünfzig bekanntere moderne chinesische Zeitungen sind es, die
im Reiche der Mitte die Organe der Presse ausmachen. Ihre
Zahl war früher bedeutend größer, sie soll sogar mehr als 250
betragen haben. Es war zu Anfang der achtziger Jahre, als
das erste, den abendländischen Grundsätzen entsprechende Blatt im
südlichen China erschien, die Anzahl der Zeitungen wuchs dann schnell zu der
oben genannten Zahl an, aber ebenso schnell sank sie wieder dank dem
energischen Vorgehen der Regierung, die die ihr entgegenarbeitenden Blätter
mit „Feuer und Schwert" verfolgte. Das ist nicht zuviel gesagt, fand doch
im Jahre 1903 zu Peking noch die grausame Hinrichtung eines fortschrittlichen
unbequemen Redakteurs statt, der buchstäblich zu Tode gepeitscht wurde. Der
Arme erlag seinen Qualen, nachdem sich die Henkersknechte mehr als zwei
Stunden mit Lederpeitschen abgemüht hatten, ihm das Lebenslicht aufzublasen.
Er ging, wie so viele Propheten, in den Märtyrertod und starb für seine
Überzeugung, aber mit ihm lebten und nach ihm kamen viele, die — so wie
er — den Geist des Fortschritts vertreten, und vor denen sogar eine so
konservative Negierung wie die chinesische allmählich mehr und mehr kapitulieren
muß. Beim Einblick in die chinesischen Zeitungen vergegenwärtige man sich,
daß sie nur von einem engern Kreise gelesen werden, da das „große Publikum"
im Sonnenreiche überhaupt keine Zeitungen lesen kann. Denn diese sind in
der Gelehrtensprache geschrieben, und es wird uns deshalb weiter nicht wunder¬
nehmen, daß es unter Millionen nur einige Tausend sind, die sich mit Politik
und Tagesneuigkeiten beschäftigen.
Selbstverständlich geht die Tendenz der einzelnen Blätter mit der Richtung
der „Partei", zu der ihre Leser gehören, zusammen. Nur die Partei, aus
der die Oberhäupter der Boxer 1900 hervorgegangen sind — die sogenannte
„alte Partei" —, also die fremdenfeindliche, kann sich, dank der allmählich
immer fremdenfrcnndlicher werdenden allmächtigen Regierung, keines bestimmten
Organs erfreuen. Anders die „neue Partei". Sie strebt vorwärts, natürlich
unter der Devise „China für die Chinesen", und schwimmt im Fahrwasser der
Zeitung Schuntien-fehl-pau (das bedeutet etwa „Blatt für einen bestimmten
Teil Pekings") am Schlepptau des klugen Japans. Diese Zeitung, die in
Peking erscheint und von Japanern begründet worden ist, bemüht sich, der
Reform von Osten her bei der chinesischen Geschäftswelt Eingang zu verschaffen.
Natürlich lassen es die Japaner nicht fehlen, sich selbst auf Kosten des Abend¬
landes zu verherrlichen, und machen in dieser — chinesischen — Zeitung den
Chinesen ihre eignen, japanischen Absichten und Erfolg möglichst mundgerecht.
Eine ähnliche Tendenz verfolgt ein in Tientsin erscheinendes „Das Neueste
bringende" Organ, das, allerdings ebenfalls von Japanern redigiert, die Inter¬
essen der chinesischen Börse vertritt. Das Hauptblatt aber für die chinesische
Hochfinanz ist die Hsin-wen-pau, die in Schanghai herauskommt.
Von der oben genannten „neuen Partei" haben sich zwei Linien abge¬
zweigt. Die eine, die „westliche", legt Wert darauf, sich geradeswegs durch
Europa direkt zu modernisieren, während die „östliche" wiederum zu Japan
hinneigt, aber zunächst von dem Gedanken des allgemeinen Herrschens der
ganzen gelben Nasse durchdrungen ist. Dieser Partei mag namentlich eine in
Schanghai vom Kaiser von Japan begründete Zeitung, die Tung-wen-du-pau,
als Richtschnur dienen. Das Blatt basiert auf der gemeinsamen Schriftsprache
der Chinesen und Japaner, beruft sich demnach auf die gelbe Stammverwandt¬
schaft beider Länder, bringt kühne fortschrittliche Artikel und ist der genannten
Partei höchst willkommen. Die „westliche" Partei dagegen liest die Sehern-pau,
die auch in Schanghai erscheint, und deren Richtung europafreundlich ist, ihre
Gründer waren Engländer, ferner eine von französischen Missionaren und
chinesischen Christen gegründete unparteiische in Tientin erscheinende Zeitung,
die mit Maß, besonders in religiöser Beziehung, aufklärend wirkt.
Weiterhin erschien in Tientsin die Chi-pau, die ein wenig klatsch- und
sensationslüstern war, aber guten Nachrichtendienst brachte. Als sie aber eine
Soldaten- und Offizierskandalgeschichte über Tschilis beste Truppen veröffent¬
lichte, ließ sie der Generalgouvemeur von Tschiki. Altar-fehl-kai, von der
Bildfläche verschwinden. An ihre Stelle ist jetzt eine Handelszeitung getreten,
die die guten Beziehungen zwischen den europäischen und den chinesischen Inter¬
essen pflegen soll. Das in Schanghai erscheinende Blatt für In- und Aus¬
land, die Tschung-wei-ji-pau, ist, wie die zu vorletzt genannte jetzt verschwundne
Chi-pau, ein sehr gutes Nachrichtenblatt, als das sie sich besonders während
der Wirren 1900 hervortat, trotz der großen Entfernung von Petschili, dem
Schauplatze der Unruhen, bis Schanghai.
Erklärlich ist es, daß sich eine weitere Partei, die sich offen „Partei der
Veränderung" nennt, und die die jetzige, regierende Dynastie der Mandschus
stürzen möchte, keines öffentlichen Organs bedienen darf. Den Redakteuren
eines solchen Blattes würde es ergehn wie dem zu Anfang erwähnten unglück¬
lichen Schriftgelehrten.
Die von dieser Partei, denen der Boden in China zu heiß geworden ist,
sind nach Japan übergesiedelt und agitieren von dort gegen den Despotismus
und die Trägheit ihres Vaterlandes. Durch eine in Japan erscheinende Volks¬
zeitung, die Hin-ming-tung-pau (tung heißt „Osten", d. i. Japan), verbreiten sie
ihre Ideen, mit denen sie hauptsächlich für moderne Einrichtungen wie Volks¬
erziehung, Reorganisation der Strafgesetze, Wehrpflicht u. a. in. eintreten, ja
sogar eine hervorragende zur Redaktion gehörende Chinesin beginnt den Samen
der Frauenbewegung zu säen. Vergegenwärtigt man sich die schreckliche dienende
Stellung des chinesischen Weibes, so kann man sich dieser Frauenrechtlerin
nur freuen.
In China selbst finden wir außer den erwähnten Parteien eine An¬
zahl von Vereinen, darunter zunächst den „Verein der Soliden", die sich des
Opiums, Tabaks und Weins enthalten. Ferner ist erwähnenswert der Verein
der Leute, die sich für fähig halten, durch Weihrauch und allen möglichen
Hokuspokus die Leidenden gesund oder unverwundbar zu machen. Dieser
Verein hatte 1900 in den Boxern die größten Anhänger. Die Boxer, von
deren verschiednen bekannten Geheimbünden hier nicht die Rede sein soll, glaubten
sich tatsächlich unverwundbar, wie gehörnte Siegfriede. Viele behaupteten
auch, daß sie, wenn sie getötet würden, nach drei Tagen wieder aufleben
würden. Der kluge Unan-fehl-kai stellte sie einst auf die Probe und ließ eine
Anzahl hinrichten mit dem Bemerken, wenn ihr Glaube der richtige wäre,
würden sie ja wieder lebendig werden, es käme also nicht darauf an. Die
Köpfe, an einem Pfahl aufgehängt, belehrten dann die überlebenden Fanatiker,
daß das Recht doch nicht auf ihrer Seite wäre.
Das Organ des großen Unan-fehl-kai ist ein in Tientsin erscheinendes
amtliches Blatt, Pei-yang-koan-pau. Es klärt die Beamten auf und nimmt
sie in Schutz, verurteilt die fortschrittlichen Attacken, ist aber leider „anti¬
christlich" und hält sich in strenger Reserve gegen das Überhandnehmen der
europäischen Wünsche. Bei alledem vertritt es einen gesunden Fortschritt, der
mit Maß geht, es erkennt zum Beispiel immer die Notwendigkeit der An¬
schaffung von Kanonen, Schiffen usw. an. Mit ihr arbeitet parallel die
Tsinanfn-Zeitung in Schenkung, also in Deutschlands Interessensphäre.
Ein andres amtliches Blatt ist der „Pekinger Reichsanzeiger", King-pau.
In ihm finden wir Edikte, Bestimmungen von Allerhöchster Stelle, Thron¬
berichte usw.
Leider hat eine andre Pekinger, nicht amtliche Zeitung, die in hervor¬
ragender und patriotischer Weise das gewöhnliche Volk aufklärte und von
jedem gewöhnlichen Manne verstanden wurde, seit etwa vier Jahren ihr Er¬
scheinen einstellen müssen.
Als besonders interessantes Pekinger Organ ist noch eine illustrierte chinesische
Zeitung für „Wissenschaft und alte und neue Geschichte" hervorzuheben. Sie
ist hauptsächlich ein Fortbildungsblatt für die reifere gebildete Jugend. Ähnlich
arbeitet ein sogar in der Provinz Szetschuen herauskommendes Jugendblatt,
das viel über die abendländische Kultur bringt.
Der bei Chinesen bedeutend mehr als bei andern Völkern ausgesprochnc
Heimatsinn erklärt die in größern Städten bestehenden Vereinshäuser, in denen
sich die Leute, die aus derselben Provinz sind, zusammenfinden, um miteinander
im heimischen Dialekte zu reden, heimische Gebräuche zu üben, wohl auch Ge¬
schäfte abzuschließen. Die in China fast alles beherrschende Ahnenverehrung
sorgt auch zum Teil für den Zusammenhalt solcher Vereine, denn von der
Gesellschaft wird die Überführung der Verstorbnen in die Heimatproviuz sowie
die Beerdigung für Dahingegcmgne geregelt. Die Mitglieder dieser Vereine
finden bei ihren Zusammenkünften natürlich ihr Heimatsblatt, das im „Klub"
gehalten wird.
Neben den genannten hauptsächlichen und maßgebenden Zeitungen besteht
im Reich der Mitte, namentlich in Schanghai, der Zeitungsmetrvpole, eine
ganze Reihe besserer und schlechterer moralischer und unmoralischer Blätter und
Vlättchen. Es gibt Monatsschriften, landwirtschaftliche Blätter, ferner sogar
ein Blatt, das sich offiziell fremdenfreundlich nennt, dann eine diesem in die
Hand arbeitende chinesische christliche Jugendschrift, endlich Witz- und Theater¬
blätter und last not least ein recht gepfeffertes Blüttlein für die elegante
Herrenlebewelt, das wohl kaum ein „gesitteter Chinese seiner Schwiegermutter"
zeigen wird. Es hat in der Übersetzung den schönen Namen „Frühlingsstrom-
Blumen-Mondscheinblatt" und redet von „Lust und Liebe"!
c?LS^! le deutschen Anglophilen, seien es Männer der Wissenschaft oder
praktischer Berufe, haben bisher an der Behauptung festgehalten,
daß nur der Kontinent und vor allem das vom Bureaukratismus
durchseuchte und zu theoretisch-politischen Extravaganzen immer
! geneigte Deutschland der einzige Nährboden für sozialdemokratische
Ideen sei. Nun auf einmal, im Spätsommer vorigen Jahres zeigte es sich, daß
auch in dem nüchternen, vom freien Volkswillen allein regierten England eine
mächtige Bewegung entstanden ist, die ebenso nach unerreichbaren Zielen strebt
und die seit Jahrhunderten entwickelte und erstarkte Staats- und Wirtschafts¬
form umzustürzen droht. Das war eine gewaltige Überraschung für den reich¬
begüterten und an gesicherten lukrativen Erwerb gewohnten Teil der Be¬
völkerung. Wer sich in England der Mühe unterzog, die sozialistischen Gärungen
auf dem Kontinent zu verfolge», hatte bisher wegen der weiten Entfernung
und im Vertrauen auf den isolierenden Schutz des Kanals mit einem gewissen
schadenfrohen Behagen das Umsichgreifen „der verrannten Theorien" betrachtet
und schrieb dies der eingebornen Neigung der festländischen Nationen für
ideale, unpraktische Schwärmereien zu. Da plötzlich vernimmt man in Eng¬
land selbst die wildesten Brandreden: sie ertönen in den sozialdemokratischen
Klubs und von den improvisierten Rednerbnhnen an den Straßenecken von
London. Massenhaft strömt hier das Publikum zusammen, Leute aus allen
Ständen. Zu Gewalttaten wird harcmgiert, die Armee und namentlich die
Offiziere werden verspottet, die Kapitalisten verdammt; auf die Philanthropen
wird geschimpft; die gingen nur darauf aus, mit religiösen Sprüchen die
Armen und Elenden zu chloroformieren und mit ihren Wohltätigkeitsanstalten
die Arbeiter zu Sklaven zu degradieren. Ein Jrländer im Hydepark ruft
aus: „Wo immer die englische Flagge weht, da herrscht Armut. Elend und
Sklaverei. Die Aristokraten sind der Fluch des Landes — an den Galgen
mit ihnen!" Die überall anwesenden Konstabler stören nicht im geringsten;
sie dürfen nicht einschreiten, solange das Volk nicht dem Ruf zur offnen Revolte
folgt. Das Volk aber geht, nachdem es seine Neugier befriedigt hat, ohne viel
Lärm wieder seiner Wege. Je nach der Zuhörerschaft schlagen die Agitatoren
auch einen andern Ton an; sie Hetzen nicht, sie wollen aber mit bessern, Wissen
überzeugen. Das sind sehr gewandte und intelligente Redner; sie prunken mit
statistischen Tabellen, beantworten mit Geschick und Witz dazwischen geworfne
Fragen. Sie verstehn es, namentlich die Jugend der gebildeten Mittelklasse
für die sozialdemokratischen Umstnrzpläne zu begeistern.
Wie kommt es, so muß man sich fragen, daß solche revolutionäre
Tendenzen gerade jetzt in England zum stürmischen Ausbruch gelangen? Kein
außerordentliches Ereignis ist daran schuld, sondern allein der Umstand, daß
das seit Jahrzehnten anschwellende Elend der Arbeiterbevölkerung schließlich
das Maß des Erträglichen überschritten hat: die Löhne sind niedrig, sogar
bei gefährlicher oder gesundheitschädlicher Arbeit, die Wohnungsnot ist ent¬
setzlich, und zeitweise herrscht ein solcher Mangel an Verdienst, daß zehn
Millionen Menschen an der Grenze des Verhungerns sind. Aus der offiziellen,
Mitte Oktober erschienenen Schrift ^bsrrant ok I^tour LtMstiv c>k Urs
Unitsä Liligclom ist zu ersehen, daß seit 1900 die Löhne gesunken, die
Wohnungsmieten dagegen gestiegen sind, und daß sich die Auswandrung ver¬
doppelt hat.
Dazu kommt als schreiendster Kontrast: der goldstrotzende Reichtum und
das üppigste Wohlleben der obern Zehntausend! Kein Wunder ist es da. daß
die Deklamationen der Demagogen willige Gläubige finden, »ut daß sich
die Zahl der Sozialdemokraten täglich vermehrt. Was diese wollen, mit
welchen Mitteln sie die Lage des Volkes umzugestalten hoffen und versprechen,
das steht nicht in klaren Umrissen fest. Sie bilden keine einheitliche Korporation
mit einem einheitlichen Programm. Sie spalten sich in drei Gruppen von
Verschiedenartiger Schattierung: in die Loeiitl-tsinoorÄtiv I^äerAtion, die In-
clövsniZsnt Il^tour ?art^ und die ?Mg.n Looist^. Am radikalsten verfährt
die Federation, deren Führer Blatchford, Bernard shap, Ramsay Macdonald,
Phil. Snowden und Wells und deren Organ die Blätter Lila-iov, ^ustive
und Ilkldour sind: sie verwirft persönliches Eigentum und individuellen
Erwerb; sie will alle Staatsangehörigen zu gemeinsamer Arbeit verpflichten
und zu gleichen Teilen am Gewinn teilnehmen lassen. Das Programm der
I,g,d0ur I>kU't^ lautet ähnlich, fordert aber noch außerdem: Alterspensionen vom
funfzigsten Lebensjahre an, Versorgung von Witwen und Waisen, freien Unter¬
richt mit freiem Lebensunterhalt für alle Schüler, mit Einschluß der Universitäts¬
studien, Abschaffung der indirekten Steuern und des Erbrechts. Gemäßigter
in ihren Forderungen sind die Fabianer. Sie wollen zwar auch den
Kollektivismus, aber nicht einen unbeschränkten und zwangsweisen; sie ver¬
langen, daß der von den Stadtgemeinden ausgeübte Monopolismus in bezug
auf Gasfabrikation, Wasserleitung usw. auf alle industriellen Unternehmungen,
die dem Gemeinwohl förderlich sind, ausgedehnt werde. Dieser munizipale
Sozialismus soll die individualistische merkantile Konkurrenz — ein Dorn im
Auge aller Sozialdemokraten — aus der Welt schaffen.
Es gibt also jetzt in dem Lande der praktischen Vernunft eine Menge
Leute, die ebenso windige Luftschlösser aufbauen, ebenso die Festigkeit der
tatsächlichen Verhältnisse und die unvertilgbaren egoistischen Triebe der Menschen¬
natur verkennen wie die deutschen Sozialdemokraten vor etwa dreißig Jahren.
Demnach befindet sich der englische Sozialismus noch in den von den kon¬
tinentalen Genossen längst ausgetretnen Kinderschuhen. Im übrigen gleicht
er ihnen aufs Haar: er strebt ebenfalls mit allen möglichen Mitteln nach
bestimmenden Einfluß in der Volksvertretung, er sucht ebenfalls die mili¬
tärische Disziplin zu untergraben und verzichtet sogar in noch höherm Grade
als der deutsche auf nationales Ansehen. Bemerkte doch Lord Milner in
einer öffentlichen Rede ausdrücklich, die englischen Sozialdemokraten bekunden
ihre kosmopolitische Gesinnung, die sie als Unparteilichkeit ausgeben, dadurch,
daß sie bei internationalen Streitigkeiten jederzeit auf die Seite der Feinde
von England treten.
Dagegen ist das Verhalten der englischen Regierung und der staats¬
erhaltenden Parteien weit verschieden von dem Benehmen beider in Deutsch¬
land. Die Regierung greift gegenwärtig in keiner Weise ein, sodaß Lord
Aldwyn so weit ging, die Minister zu beschuldigen, sie leisteten durch ihre
Passivität absichtlich der revolutionären Bewegung Vorschub. Tatsächlich
überläßt die Regierung der bürgerlichen Gesellschaft allein den Kampf. Diese,
im vollen Bewußtsein ihrer Verantwortlichkeit, hat sich sofort aufgerafft in
den Hauptparteien des Landes, in den Whigs und Tories, und den Feldzug
begonnen. Beide sind einig in dem offnen Zugeständnis der Notlage der
Arbeiter und in dem Willen, sie möglichst zu lindern, aber zugleich auch in
dem festen Entschluß, dem Umsichgreifen der sozialistischen Irrlehren energisch
entgegenzuwirken. Sie sammelten ein Freikorps jugendlicher schlagfertiger
Redner und schickten diese in die Klubs und zu den Volksversammlungen auf
der Straße. Beide Parteien werden einer Gesetzesvorlage zustimmen, die
Alterspensionen gewährt, den kleinbäuerlichen Grundbesitz noch weiter ver¬
mehrt, den Ackerbau fördert, die Säuberung und die Verbesserung der Arbeiter¬
quartiere bezweckt, gegen die Hungerlöhne einschreitet, Schutzmaßregeln bei
gesundheitschüdlichen Betneben einführt und den höhern Schulunterricht für
Minderbemittelte erleichtert. Aber wenn auch ihr Marsch auf einen gemein¬
samen Feind gerichtet ist, ihre Taktik ist verschieden.
Die Liberalen möchten sich — wie aus einer Rede Asquiths vom
20. Oktober hervorgeht — gern den Anschein geben, als ob sie besonders von
der Berechtigung der sozialistischen Forderungen überzeugt wären; sie rühmen
es als ein gutes Zeichen der Zeit, daß „das soziale Gewissen erwacht sei".
Sie verkünden, das einzige Heil liege in der Befreiung des wirtschaftlichen
Lebens von allen lähmenden Eingriffen des Staates und der privilegierten
Gesellschaftsklassen, und sie allein hätten die Befähigung, dieses Prinzip zu
verwirklichen, da sie weder durch Sonderinteressen noch durch engherzigen
Kastengeist bestimmt würden. Sie schmeicheln der Arbeiterpartei, in der
Hoffung. sie auf ihre Seite herüberzuziehen, und wollen nicht merken, daß sie
allmählich zu deren Werkzeug werden.
Dem entgegen stellte Lord Milner auf einer Unionistenversammlung am
29. Oktober das Programm der Tones auf. Sie seien nicht nachsichtige,
sondern entschiedne Feinde der Sozialisten. Aber sie beanspruchten ebenfalls,
als Freunde einer gründlichen Sozialreform angesehen zu werden, die jedoch
nicht so leicht und ohne weiteres durchzuführen sei. Man habe vor allem die
Kosten zu bedenken und ferner, wer diese zu tragen habe. Belaste man mit
diesen die Reichen allein, so werde das zu allen Neuerungen und industriellen
Unternehmungen absolut notwendige Kapital aus dem Lande vertrieben werden.
Auf das ganze Volk müßten die vermehrten Staatslasten übertragen werden,
wie es sich bei einer demokratischen Verfassung, wie der englischen, gehört,
also auf möglichst viele Schultern, wodurch sie am wenigsten drückend würden,
und das geschähe am besten und sichersten durch eine Tarifreform, d. h. durch
Einführung des Schutzzolls, was außerdem den Vorteil habe, die einheimische
Fabriktätigkeit zu steigern, den Preis der Waren und dadurch den der Arbeit
zu erhöhen und jedenfalls die Arbeitslosigkeit zu vermindern. Schutzzoll ist
demnach das Endziel der Tones im Kampfe gegen die Sozialdemokratie,
während die Liberalen unter dem Banner des Freihandels zu Felde ziehen.
An die beiden großen Parteien reihen sich als Antisozialisten an: die
hauptsächlich für die Arbeiterinteressen populär tätige LonstitutionÄl Speakers
I^as'us, ferner die religiös gesinnte und verfassungs- und reichstreue ?nmros6
I^kAus und endlich die?res I-ichcmr ^ssovia-lion mit 680000 Arbeitern, die
jede Beschränkung der persönlichen Freiheit, auch die durch die Iraäs Union
bekämpft.
Alle Parteien, auch die sozialdemokratische, die zunächst nur mit gesetzlich
erlaubten Mitteln zur Herrschaft gelangen will, richten gegenwärtig ihr Streben
auf die Erhaltung oder die Gewinnung der Majorität im Parlament und in
dem Gemeinderat der Städte. Die Wahlen zu dem Gemeinderat fanden am
1. November in 326 Städten und 7 Vorstädten von London statt. Das
Resultat war ein entscheidender Sieg der Konservativen, nicht nur über die
Sozialisten, sondern auch über die Liberalen. Als ein Zeichen des Um¬
schwungs muß es betrachtet werden, daß gerade in jenen Städten, die im
Parlament durch Liberale und Sozicildemokrateu vertreten find, diesesmal Tories
in den Gemeinderat gewählt wurden. Im ganzen gewannen diese 144 Sitze,
die demokratischen Gruppen 31 und die Liberalen, die durch ihre unentschiedene
Haltung fast allerseits das Vertrauen verloren zu haben scheinen, sogar nur 23.
Übrigens darf man diesen Sieg bei den Stadtratwahlen nicht mit vor¬
eiliger Sicherheit als den Ausdruck der allgemeinen Volksstimmung ansehen,
da hier die Wahlberechtigung zum größten Teil auf die wohlhabende Mittel¬
klasse beschränkt ist. Erst wenn es zu neuen Parlamentswahlen kommen
sollte und denn genügende Zeit zu energischer Bearbeitung der Massen ge¬
geben sein wird, wird es sich zeigen, ob die sozialdemokratische Bewegung alle
noch schwankenden Volksschichten in bedenklicher Weise ergriffen hat.
ein Geschoß hat eine so reiche, wechselvolle Geschichte wie die
Rakete. Zur Vernichtung und zur Rettung hat sie gedient, Fluch
und Segen hat sie geerntet.
Mit dem Schwärmer der feuerwerkskundigen Asiaten zerstörten
die Engländer im Jahre 1807 einen großen Teil Kopenhagens.
In ihren Kämpfen gegen Tipu Sahib hatten sie das Zerstörungsmittel im
Jahre 1799 kennen gelernt, wieder kennen gelernt, denn wenn man auch an¬
nimmt, daß die uralte europäische Spreng- und Zündkunst der Prometheus¬
enkel, der Griechen, nur in ihrem wirksamsten Erzeugnisse, dem -^L^> ^«>>.del7<7to^
den Abendländern des Mittelalters bekannt geworden war, so ist es doch sehr
wahrscheinlich, daß der Arabersturm und der Mvngolensturm die asiatische
Feuerkunst schon früh weit in den Westen Europas getragen haben. Im vier¬
zehnten Jahrhundert wurden „steigende Feuer" in Kriegen europäischer Völker
verwandt. Bis zum Jahre 1630 bemühte man sich, diese Feuerwerkskörper zu
Kriegsgeschossen auszubilden, dann wichen sie den Kugeln der Geschütze und
gerieten als Geschoß in Vergessenheit. Nun brachten sie die Engländer am
Ende des achtzehnten Jahrhunderts als technische Beute aus einem Kolonial¬
kriege wieder nach Europa. Der englische Artilleriegeneral Congreve verbesserte
das orientalische Geschoß durch die Errungenschaften der europäischen Waffen¬
technik. Seinen Namen trugen die Projektile, unter denen dreihundert Häuser
Kopenhagens in Asche sanken. Auch Napoleon eignete sich die alte Waffe an
und verwandte sie im Jahre 1811 bei der Belagerung von Cadiz. In dem¬
selben Jahre wurden in Preußen Versuche mit Kriegsraketen gemacht. Zwei
Jahre später nahmen englische Raketenbatterien an den Belagerungen von
Danzig und Wittenberg teil. In Dänemark wurde um das Jahr 1820 ein
eignes Artilleriekorps zur Anwendung von Raketen errichtet. Die Congreveschen
Raketen der Engländer trugen im Jahre 1816 wieder Verderben in eine Stadt,
diesmal in eine afrikanische — Algier. Die Russen und die Polen bedienten
sich der Rakete in den Kämpfen des Jahres 1831. Als Erzeugnis der euro¬
päischen Waffentechnik verwandte sie der Pascha von Ägypten gegen Saint
Jean d'Acre und gegen die türkische Kavallerie. Mit Gewehrraketen schössen
die Rastadter Insurgenten im Jahre 1849 das Dorf Niederbühl in Brand.
Endlich verwandten die Franzosen im Jahre 1855 eine neue Kriegsrakete mit
Erfolg gegen Sebastopol. Das dürften die Hauptdaten der Kriegsgeschichte
dieses Geschosses sein.
Ein preußischer Militärschriftsteller, Hauptmann Bröcker, hat im Jahr¬
gang 1857 des Archivs für die preußischen Artillerie- und Ingenieur-Offiziere
die Rakete ein unglückliches Geschoß genannt, „weil einmal ihre Brauchbarkeit
für den Ernstgebranch, namentlich durch ihre sogenannten Erfinder über die
Maßen herausgestrichen worden ist, so daß gerechtes Mißtrauen erweckt wurde,
dann, weil dieses Mißtrauen, welches durch eklatante Beispiele aus der Kriegs¬
geschichte nicht gründlich gehoben werden konnte, Beurteilungen nach sich zog,
die der weitern Fortbildung der Kriegsrakete hemmend in den Weg traten".
Unglücklich ist das Geschoß nicht, eher glücklich. Es ist zwar schwach, und
andre Erzeugnisse der Waffentechnik haben es an Zerstörungskraft weit über¬
holt, aber gerade seine Schwäche, sein weicher, launiger Jnsektenflug wurde von
dem Menschengeiste so nutzbar gemacht, daß es, anstatt neue Wunden zu schlagen,
durch die Rettung von Menschenleben die Wunden heilt, die es als Kriegs¬
geschoß der Menschheit geschlagen hat, wie die Lanze Aedilis das Orakel
6 la<7c?«t erfüllte und die Wunde des Telephos heilte.
Schon früh, gleich nachdem die Rakete wieder im Abendlande bekannt ge¬
worden war, ging man in England daran, den Schwärmer zu zähmen, womit
die spielende Technik der Chinesen schon vor siebenhundert Jahren die Choes
der Tatarenhorden gebrochen haben soll, indem sie ihn an Pfeile band und
mit dem nun wehrhaften und lenkbarem Insekt die Pferde der Angreifer schreckte.
Nun sollte seine feine, weiche Zugkraft die Dienste leisten, die die rohe der
Mörsergranate so oft nur unvollkommen tat oder versagte.
Kapitän Trengrouse zu Helston in Cornwall konstruierte im Jahre 1807,
als Manby seinen Mvrserapparat zusammenstellte, und als sich die Rakete bei
der Beschießung von Kopenhagen als Zündgeschoß so furchtbar bewährte, den
ersten Raketenapparat zur Rettung Schiffbrüchiger. Er brachte an einem Ge¬
wehr einen Halbzylinder an, wie ein Bajonett, in diesen legte er die Rakete,
an deren Stock die Rettungsleine befestigt war. Das Geschoß wurde durch
den Gewehrschuß gezündet. Trengrouses Konstruktion erinnert in ihrer Einfach¬
heit an den Vorschlag des Kolberger Erfinders, die Leine von Gewehr- und
Pistolenbolzen über das gestrandete Schiff tragen zu lassen. Es gelang ihm,
eine Leine mit einer achtlötigen Rakete 160 Meter, mit einer zweipfündigen
400 Meter weit zu werfen. Eine einpsündige Rakete, die von einem hölzernen
Gestell mit fünfzig Grad Elevation abgeschossen wurde, flog 190 Meter weit,
eine vierlötige, aus der freien Hand geworfen, 100 Meter.
Diese Flugweiten wären groß genug gewesen, den 67 Schiffbrüchigen, die
Manby am 18. Februar 1807 mit der Kutterbrigg Snipe nur 200 Fuß vom
Lande entfernt untergehn sah, Hilfe zu bringen, und hätten es Trengrouse er¬
möglicht, mit dem glücklichern Erfinder des Mörserrettungsverfahrens zu kon¬
kurrieren. Ob ihm allerdings derselbe Erfolg beschieden gewesen wäre, ist bei
der Unsicherheit der launigen Raketenflugbahn zweifelhaft. Die Rakete zieht weich
an, das ist die Eigenschaft, wodurch sie allen, die Rettungsgeschosse konstruierten,
als Leinenträger besonders geeignet erschien, aber sie kann nur leichte und dünne
Leinen schleppen. Diesen Mangel verminderte John Dennett, Ingenieur in
New Village auf Wight, indem er im Rettungsdienste Congrevesche Kriegs¬
raketen verwandte, die durch ihre größere Flugkraft als Schleppraketen geeigneter
erschienen als die schwachen Signalraketen Trengrouses. Die Kriegsraketen
vermochten stärkere Leinen zu tragen, die nicht so leicht rissen wie die des
Trengrouseschen Apparats. Dennett arbeitete an dem Problem der Rettungs¬
rakete weiter. Er konstruierte im Jahre 1838 eine Doppelrakete, die durch ihre
Flugkraft eine leichte Leine nach einem ungewöhnlich weit entfernten Wrack
bringen oder schwere an Bord eines in normaler Entfernung gestrandeten
Schiffes befördern sollte. Die Gefahr des Zerreißens der Leine schränkte ein
dritter englischer Ingenieur, Carte, noch mehr ein, indem er einen Haspel er¬
fand, von dem die Leine sogar bei starkem Sturm, ohne Schlingen zu bilden,
dem Geschoß folgen konnte.
In einem Artikel des Röpsrtor^ ok ?At6ut-Invsiiti0Q8, der in dem Poly¬
technischen Journal von Dingler wiedergegeben ist, berichtet Dennett über seine
„Verbesserungen an den für den Kriegsdienst bestimmten Raketen, an den
Apparaten zur Communication mit gestrandeten Schiffen mittelst Raketen und
an den Vorrichtungen zum Richten der Mörser und anderer Wurfgeschütze".
Er beschreibt hier drei Perknssionszünder für Sprengraketen und einen eisernen
Raketenstab mit einem zylinderförmigen, mit Sprengstoffen und Kugeln ge-
ladner Gegengewicht. Von dieser Konstruktion verspricht er sich viel: „Der¬
gleichen Raketen müssen, wenn sie unter Menschenhaufen oder Pferde geworfen
werden, offenbar großes Unheil und große Unordnung hervorbringen; denn
nachdem die Rakete geplatzt ist, wird auch noch aus dem anderen Ende der¬
selben ein ganzer Schwarm von Kugeln ausgetrieben werden." So bemühten
sich die englischen Geschoßkonstrukteure in Erinnerung an Kopenhagen, die Zer¬
störungskraft der Rakete zu steigern und aus dem launigen Geschoß eine ver¬
lässige Waffe für ihre Flotte und ihr Heer zu machen. Sie fanden keine Ge¬
legenheit, ihre Konstruktionen im Ernstfalle zu erproben, und schließlich wurden
diese von den Sprenggeschossen der Geschütze weit überholt. Dagegen gelang
es ihnen, der Strandungswehr ihrer Insel in Gestalt gezähmter Kriegsraketen
ein wirksames Rettungsmittel zu geben. Die von Carte verbesserten Dennettscheu
Nettungsraketen erreichten schließlich eine Schußweite von 950 Fuß. So weit
war man in England um die Mitte der fünfziger Jahre des vorigen Jahr¬
hunderts gekommen.
Fast ebenso rasch wie Manbys Idee wurde die Trengrouses an der
Preußischen Küste aufgenommen.
In Preußen ließen sich Angehörige des Heeres die Verbesserung der
Rettungsmittel angelegen sein, nicht Waffenkonstrukteure, die sich ihre Er¬
findungen durch Patente sicherten. Die preußischen Offiziere und Unteroffiziere,
die sich bemühten, den Mörser und die Rakete für den Rettungsdienst zu
zähmen, hatten nicht wie die Engländer die Hoffnung, durch eine Erfindung,
die an der belebten Küste eines Jnselreichs überall willkommen geheißen und
verwandt werden mußte, Gewinn und Ruhm zu ernten. Dazu waren die
Küsten des Binnenmeers, an dem ihre Heimat lag, zu wenig belebt und die
Seeinteressen ihres Volkes zu gering. Die Teilnahme der ganzen Nation,
das Bewußtsein, für die Seegeltung ihres Volkes zu arbeiten, an der Heer¬
straße des Meeres die Würde des ersten Seevolks aufrecht zu erhalten, diese
Quellen der Ermutigung und Begeisterung, aus denen die englischen Ingenieure
immer neue Energie zu ihren Konstruktionsversuchen gewannen, fehlte den
preußischen Artilleristen an ihrer abgelegnen, verkehrsarmen und doch wrack¬
reichen Küste gänzlich. Sie schöpften nur aus der Freude an ihrer Waffe und
an ihrem Dienst und aus einer keuschen, nur in ihren Bemühungen, nie in
ihren Worten sich äußernden Nächstenliebe vier Jahrzehnte lang die Begeisterung
zu dem unermüdlichen Streben, aus Waffen Werkzeuge zur Rettung Schiff¬
brüchiger zu machen. Weil dieses Streben ein besonders schöner Zug im Bilde des
Preußischen Heeres ist und weil in einem tief in die Zeit reichenden Frieden eine
Flut von Zerrbildern das wahre Bild dieses Heeres fast in Vergessenheit bringt,
verweile ich gern dabei und zeichne diesen Zug in allen Einzelheiten nach.
Auch in Preußen versuchte man, die Rakete schon im ersten Drittel des
neunzehnten Jahrhunderts im Rettungsdienste zu verwenden, nicht als Schlepp¬
geschoß, sondern als Leuchtgeschoß,
Im November des Jahres 1827 beschloß die Hafenpolizeikommission in
Memel, in deren Verwaltung sich seit kurzem ein Manbyscher Mörser befand,
bei Rettungsversuchen zur Rekognoszierung des Ziels Leuchtgeschosse zu ver¬
wenden. Der Kommandeur der 1. Artilleriebrigade in Königsberg, Major
Stieler, nahm den Gedanken mit großer Teilnahme auf. Die Bitte der Be¬
hörde, ihr einige Leuchtkugeln und Raketen zu überlassen und sie über die An¬
wendung dieser Geschosse zu belehren, erwiderte er mit der Versicherung, daß
er „sehr gern bereit sei, alles was in seinen Kräften stehe, zur Erreichung des
menschenfreundlichen Zwecks beizutragen". Er schlug, wie ich schon oben er¬
zählt habe, an Stelle der Leuchtkugeln, die zur Rekognoszierung eines Ziels
in See ungeeignet seien, Raketen vor, deren Leuchtsatz sich bei der Kulmination
entzünde und langsam fallend die Gegend auf mehrere hundert Schritt in der
Runde so hell und so lange erleuchte, daß man den schußfertigen Mörser genau
richten könne. Aus den Aptierungsversuchen „würden gar keine oder nur sehr
geringe Kosten entspringen, da er gerne von den Materialien, die er besitze,
besonders Pulver und Papier, das erforderliche hergeben werde, indem ihn die
Sache selbst zu sehr interessiere, und er wünschte sie zu einer Vollkommenheit
bringen zu können, die nichts zu wünschen übrig ließe".
Wie die beiden Unteroffiziere, denen der menschenfreundliche Offizier
wegen der Last seiner Dienstgeschäfte diese Versuche überlassen mußte, ihre
Aufgabe lösten, habe ich ebenfalls schon oben erzählt. Die Feststellung, daß
die Leuchtkraft und die Leuchtdauer der von ihnen angefertigten Raketen aus¬
reichte, auch bei sehr dunkelm Wetter ein gestrandetes Schiff aufzusuchen und
die Schußrichtung durch Fenermarken festzulegen, war ein Nebenergebnis ihrer
Tätigkeit am Strande, die hauptsächlich die Instandsetzung und Erprobung
des Mcmbyschen Apparats und die Instruktion der Bedienungsmannschaft zum
Zwecke hatte.
Im Jahre 1826 waren einige Punkte der Insel Wight mit Dennettschen
Raketenapparaten ausgerüstet worden. Bei Bembridge gelang es im Jahre 1832
zum erstenmal, mit einem solchen Apparat Menschenleben zu retten. Dieser
Erfolg mag das Vorsteheramt der Memeler Kaufmannschaft veranlaßt haben,
die Regierung um die Anordnung von Versuchen mit Schleppraketen zu bitten.
Damals veranstaltete diese Behörde in Neutief und in Memel Leinen¬
werfversuche mit preußischen Siebenpfündern und Zehnpfundern, um festzustellen,
welches von den beiden Geschützen im Rettungsdienste verwendbarer sei. Mit
diesen Versuchen war in Memel der Vallastiuspektor Müller, ein ehemaliger
Oberfeuerwerker, beauftragt. Er berichtete darüber mit der grübelnden Gründlich¬
keit, die mir bei allen schriftlichen Äußerungen von Artillerieoffizieren und
-Unteroffizieren jener Zeit aufgefallen ist.
Die Versuche in Memel hatten hauptsächlich den Zweck, festzustellen, ob
die Raketen nicht die Leine über ein gestrandetes Schiff tragen könnten, das
für die Bombe nicht erreichbar war. Daneben sollten, wie im Jahre 1828,
die Raketen als Leuchtkörper erprobt werden. Auffällig ist, daß man sich weder
die Erfindungen und Erfahrungen, die in England seit dem Jahre 1807 durch
Trengrouse und Denuett gemacht worden waren, noch die Ergebnisse der Versuche
des Oberfeuerwerkers Kohler zunutze machte, fondern die Idee, als sei sie neugeboren,
den Weg über die ersten entmutigenden Schwierigkeiten nochmals antreten ließ.
Müller verwandte zuerst eine hölzerne 15 Zoll lange Rakete — sie war
zu kurz und zu schwer. Eine zweite, aus mehreren Stücken verzinnten Eisen¬
blechs zusammengesetzte hielt das Einschlagen des Vrennsatzes nicht aus. Eine
dritte aus Messingblech erlag der Brennkraft des Satzes, sie erreichte mit der
Leine nur eine Flugweite von 292 Schritt und verbrannte. Die vierte aus
rohem Eisenblech trug die Leine nur 30 Schritt weit, da der Draht, der die
Leine mit der Rakete verband, verbrannte. Auch der Boden der Rakete wider¬
stand nicht der Brennkraft des Satzes, die eiserne Balancierstange wurde kreis¬
förmig verzogen und zersprang beim Aufschlagen des Geschosses. Die fünfte,
nach diesen Erfahrungen verstärkte Rakete flog bei gutem Wetter 695 Schritt
weit und hatte nur neun Fuß Seitenabweichung, aber sie zerriß die Leine. Erst
die sechste, die ganz so wie die fünfte konstruiert war, trug die Leine gegen
starken Sturm 425 Schritt weit ans Ziel. Dieses Naketenmodell wurde noch
mit einem stärkern Brennsatze gefüllt und mit einem schwerern Stab versehen
und dann wieder probiert. Dabei zerriß die erste Rakete eine fünf Linien dicke
Leine in mehrere Stücke und flog in guter Richtung 641 Schritt weit, die
zweite zerriß die fast sieben Linien starke Leine, flog nur 40 Schritt weit und
Platzte. Die dritte erreichte eine Flugweite von 346 Schritt und traf das Ziel,
die Leine blieb an einer Zielstange Hunger. Die vierte zerriß die Leine, zer¬
brach den Stab, schlug 63 Schritt vor dem Schießstand auf die Erde und
krepierte. Die fünfte zersprang beim Abfeuern. Die sechste verlor Leine und
Spitzkappe und flog 673 Schritt weit.
Müller bemerkt zu diesen Versuchen, daß nach den Ergebnissen die Raketen
ihrem Zweck nicht entfernt entsprächen, daß aber das verfolgte Ziel durch Geld,
unermüdlichen Fleiß und große Aufmerksamkeit erreicht werden könne, und bot
seine Dienste und damit das geistige Betriebskapital der Regierung an. Den
bisherigen Gewinn an technischen Erfahrungen und die sich daraus ergebenden
Aufgaben faßte er in folgenden Sätzen zusammen: Die Eisenblechhülsen dürften
brauchbar sein, doch erfordre dieses Material die sorgfältigste Bearbeitung, da
die daraus gefertigten Geschosse sonst für die Bedienungsmannschaft gefährlich
werden könnten. Die Sorgfalt müsse sich auch auf die Auswahl des Roh¬
materials erstrecken, da offenbar infolge der Sprödigkeit des verwandten Eisens
neue Hülsen beim Abfeuern zersprungen seien, während eine schon zweimal ge¬
brauchte zum drittenmal habe verwandt werden können. Die Form und der
Leuchtsatz der Spitzkappe, überhaupt das Raketenmodell, die Befestigungsart
der Leine, die Balancierung, endlich die Werkzeuge zur Herstellung der Raketen
bedürften noch der Verbesserung. Mit verbesserten Raketenmodellen, die mittels
verbesserter Werkzeuge hergestellt seien, werde die Stärke des Satzes zu er¬
mitteln sein, die hinreiche, eine 30 Pfund schwere Leine gegen Sturm bis an
die äußere Grenze der Strandungszone zu tragen.
Müller gibt uns auch mit außerordentlicher Klarheit und Gründlichkeit
Aufschluß über die Erfahrungen, die man in Preußen bei der Anwendung des
Manbyschen Apparats gemacht hatte, und über die Wünsche und Verbesserungs¬
vorschläge, die dabei laut geworden waren. Die Verwendbarkeit der Schlepp¬
raketen hat er kaum gefördert. Er hat wohl nur längst Gefundnes mit der
Gründlichkeit eines preußischen Artillerieuntervffiziers neuerdings gesucht und
gefunden. Aber der ehemalige Oberfeuerwerker erscheint nach seinen Aus¬
führungen als ein Geschütz- und Geschvßtechniker, der berufen war, im Verein
mit andern Artilleristen und Seeleuten das artilleristische Rettungsverfahren so
zu vervollkommnen, daß es mit sicherer Aussicht auf Erfolg an der ganzen
preußischen Küste hätte organisiert werden können. Allein seine Tätigkeit blieb
auf den Königsberger Bezirk beschränkt. Am 29. Juni 1832 fand unter seiner
Leitung in Anwesenheit des Regierungschefpräsidenten Grafen Dohna-Wundlacken
ein Probeschießen mit den beiden Mörsern statt. Mit welchem Erfolg, ist
nicht erwähnt. Am 3. August gab Müller in Gegenwart des Oberpräsidenten
von Schön je zwei Schüsse mit dem Sieben- und mit dem Zehnpfünder ab.
Alle vier Schüsse waren Treffer.
Ob der große Staatsmann und sein Freund Eichendorff, der vom Jahre 1821
bis zum Jahre 1823 Regierungsrat in Danzig und vom Jahre 1824 bis zum
Jahre 1831 Oberprüsidialrat in Königsberg war, diesen Bestrebungen, in Gottes
Dienst „den Schiffer zu wahren, der bei Nacht vorüber zieht", tiefere Teil¬
nahme entgegengebracht haben, konnte ich leider nicht erfahren. Ich Hütte
so gern eine Beziehung zwischen dem Dichter und dem Strandgottesdienst des
Rettungswesens gefunden. Aber der Spruch des Danziger Turners ist fast
der einzige Anklang an die Strandnot, der in Eichendorffs Dichtungen fest¬
zustellen ist. Nur in dem Gedicht vom braven Schiffer, worin er die Verdienste
seines Freundes Schön feiert, verrät er noch seine Stranderfahrungen und
kleidet den Freund ins Ölzeug eines Schiffers:
Es enttäuscht mich, daß der Dichter mit seinem hellen Gesicht nicht sah,
was dem Verwaltungsbeamten fremd blieb. Es hat überhaupt etwas Ent¬
täuschendes, daß sich von all den Bestrebungen der Küstenartillerie und der
Behörden, die Strandungsgefahr an unsern Küsten einzuschränken, keine Spur
in den Werken der am Meere gebornen und groß gewordnen Dichter, Gelehrten
und Staatsmänner jener Zeit findet. Die Waffe der Nothelferin Barbara, am
Meere im Dienste der Nächstenliebe geführt — dieses Bild hätte wenigstens
Dichteraugen fesseln müssen. Liegt doch schon in der rein militärischen Tätigkeit
der Küstenartillerie viel Poesie. Ich wundre mich, daß dieses Gold erst in der
jüngsten Zeit von dem Lauenburger Ernst Johann Groth entdeckt und in
seinem Buche: „Die drei Kanoniere und andre Geschichten" dichterisch verwertet
worden ist.
Ballastinspektor Müller konnte die Aufgabe nicht lösen, die er sich gestellt
hatte, obwohl ihn seine zähe, grübelnde und doch nicht unfrei an Einzelheiten
haftende Tüchtigkeit dazu außerordentlich befähigte. Auch im Bezirk Königs¬
berg legte sich um diese Zeit ein tiefer Schlummer auf das Rettungswesen.
Aber nicht Teilnahmlosigkeit, nicht „träge Ruh" hemmte das Gedeihen der
Blume der Menschlichkeit, die dort am Strande Wurzel gefaßt hatte, sondern
die Sorge um etwas Wichtigeres, die Schärfung der Wehr zur Erfüllung
künftiger großer Aufgaben. Der Mörser am Strande von Memel versank wie
der Manbysche Apparat im Artilleriedepot zu Stralsund in tiefen Schlaf, als
von den Gewappneten im Kyffhäuser der Schlummer allmählich wich.
Zehn Jahre gingen ins Land, bis die Rakete wieder in ihrem Werte für
das Rettungswesen gewürdigt wurde. Wieder sah man in ihr zunächst ein
Mittel zum Aufsuchen des Wracks und zur Erleichterung und Verbesserung des
Zielens. Auch hier brach Trost, der Artillerieoffizier vom Strand, den Bann
des Schlummers und der Vergessenheit, der die Idee des artilleristischen Nettungs-
verfahrens gefesselt hielt. In der Instruktion für den Gebrauch des Manbyschen
Rettungsapparats bei Strandungen, die er im Jahre 1842 als Premierlentnant
und Adjutant der 1. Artillerie-Inspektion ausarbeitete, brachte er die Rakete
wieder zu Ehren, indem er schrieb: „Da Strandungen am häufigsten bei finsterer
Nacht geschehen und man daher nicht im Stande sein wird, das Wrack zu sehen
und dem Mörser die Richtung dorthin zu geben, so sind zur Erleuchtung des
Horizonts 1 pfundige Signal-Raketen mit Fallschirm angewendet. Dieselben
haben einen solchen Erleuchtungskreis, daß man über 300 Schritt weit in See
große Gegenstände ziemlich deutlich sehen konnte. Das Aufsteigen einer
^Pfündigen Rakete gleich nach der Ankunft an dem Orte, wo man den Rettungs¬
versuch machen will, wird bei finsterer Nacht und heulender See den edeln
Zweck erfüllen, der in großen Nöten schwebenden Schiffsbesatzung ein Zeichen
zu geben, daß man ihre Not wahrgenommen und ihre Rettung versuchen wird.
Diese Hoffnung wird die Unglücklichen mit neuem Lebensmut erfüllen und sie
selbst werden zu ihrer Rettung um so mehr in Vereitschaft sein .. . wenn sie
durch die steigende Rakete von der Nähe ihrer Retter benachrichtigt sind." So
beschrieb dem Romantiker in Uniform seine Phantasie beredt die Lage und die
Gefühle der Schiffbrüchigen, und sein Geist sann auf Mittel zu helfen und sah
nach Hilfsmitteln aus. Dennetts Raketenapparat war ihm nicht unbekannt
geblieben. Eine Beschreibung dieses Apparats, die er im Jahre 1843 verfaßte,
befindet sich bei den Akten der Regierung zu Kostin. Ob er sich von der Er¬
findung des Engländers Erfolg versprach, ist aus der Beschreibung nicht er¬
sichtlich. Er gibt sie ohne jeden Zusatz, sodaß man den Eindruck gewinnt, daß
er der launigen Rakete die Fähigkeit, mit dem Mörser zu konkurrieren, nicht
zuerkannte. Im Jahre 1847 wurde er zum Artillerieoffizier des Platzes in
Stralsund ernannt. Während der Tätigkeit, die er in den folgenden Jahren
am Strande von Vorpommern und Rügen entfaltete, erwähnte er die Rakete
nicht mehr.
Nicht lange nachdem der Artillerieoffizier vom Strand die Stationen in
Vorpommern und auf Rügen unter Dach gebracht hatte, hemmte wieder ein
drohender Krieg die Entwicklung des Rettungswesens. Seit dem Jahre 1857
war die Ausrüstung der Stationen Hiddensee, Zingst und Darßerort mit
Rettungsbooten nach dem Muster des Peakeschen Boots projektiert. Die Boote
waren schon bei einem Schifsbaumeister in Swinemünde in Bau gegeben. Im
Frühling des Jahres 1859, einige Wochen vor den Schlachten bei Magenta
und bei Solferino suspendierte die Negierung „alle Bauausführungen und
Verwendung der zur Disposition gestellten extraordinären Banfonds" . . .,
„um diese Fonds zu Bedürfnissen des Heeres verwenden zu können". Der
Bau der Rettungsboote, der dazu gehörenden Wagen und des Schuppens zu
Zingst mußte eingestellt werden. In den folgenden Jahren verschärfte sich die
Schleswig-holsteinische Frage. Trotzdem nahm man die friedliche Armierung
des Strandes mit Rettnngsgeräten wieder auf. Im Spätherbst des Jahres 1860
brachte das Dampfkcmoneuboot Sperber ein Frcmcisboot, das in Swinemünde
aufgestellt war, nach Stralsund. Dieses Wellblechboot erschien durch seine
Leichtigkeit und seine breite Kielsohle für die flache und sandige Küste Preußens
von vornherein besonders geeignet. Durch eingehende Versuche sollte aber der
Frcmcistyp noch sorgfältig dem vorpommerschen und rügischen Strande ange¬
paßt werden. Der Hafenbauiuspektor Khün nahm diese Versuche mit Mann¬
schaften der Seeartillerie vor. Marineoffiziere waren als Sachverständige bei¬
gezogen. Man entschied sich für die Beibehaltung der Swinemünder Form, und
ini Jahre 1861 wurden die Stationen Hiddensee, Zingst und Darßerort mit
solchen Booten ausgerüstet.
Die Fürsorge für die Schiffbrüchigen, das Dornröschen, das immer wieder
in tiefen Schlummer versenkt worden war, brauchte die Spindel der bösen Fee
Finanz nicht mehr zu fürchten. Die große Zeit, die nun anbrach, nahm den
Schlummer ganz von ihm und ließ das wache Dornröschen auch nicht zum
Aschenbrödel werden.
Gustav Freytag weist im vierten Bande seiner Bilder aus der deutschen
Vergangenheit auf die Gründungen der Nachfolger Speners, die ersten Waisen¬
häuser, und auf die Anfänge einer geordneten städtischen Armenpflege, die wir
ebenfalls den Pietisten verdanken, mit großer Wärme hin: „— für alle Zeit
soll unser Volk mit besonderem Interesse auf diese Stiftungen unserer frommen
Vorfahren sehen. Denn sie sind die ersten gemeinnützigen Unternehmungen,
welche durch freie Privatbeiträge Einzelner aus ganz Deutschland
gegründet werden. Zum ersten Mal wurde durch sie dem Volke in das Bewußt¬
sein gebracht, wie Großes durch das Zusammenwirken vieler Kleinen geschaffen
werden könne. Daß diese Erfcchrnng dem Volke damals wie ein Märchen er¬
schien, ist nicht auffallend, wenn man erwägt, daß durch die Stillen in den
Jahrzehnten vor und nach 1700 aus den Ländern deutscher Zunge weit mehr
als eine Million Thaler für Waisenhäuser und ähnliche wohlthätige Institute
zusammengebracht worden sein muß, — allerdings nicht nur aus Privat¬
kassen; — aber in dem armen noch dünn bevölkerten Lande haben solche Summen
eine Bedeutung." An diese Schilderung des Wirkens der ersten Wohltätigkeits¬
vereine mußte ich denken, als ich in den Akten der Regierung zu Stralsund
die Entstehung des Neuvorpommersch-Rügenschen Vereins zur Rettung Schiff¬
brüchiger verfolgte.
Im Jahre 1862 riet der Handelsminister Graf Jtzenplitz dem Ober-
Prüsidenten der Provinz Pommern, „die Sorge für die Bedienung der Rettungs¬
boote und für angemessene Belohnung der Bedienungsmannschaften zur Auf¬
gabe für den Gemeinsinn von Privatvereinen und Privatpersonen zu machen".
Vermutlich stützte sich die Rechnung des Ministers auf die Entwicklung der
Vereine zur Rettung Schiffbrüchiger in England und an der deutschen Nord¬
seeküste. Das Vorbild der englischen Roz^l National I,its Load Institution,
die seit dem Jahre 1851 unter der Leitung des Herzogs von Northumberland
mächtig aufblühte, der Untergang der Besatzung eines hannoverschen Schiffs
bei Vorkum und die Rettung einer Schiffsmannschaft bei Wangerooge — Tod
und Leben — hatten in dem kleinen Weserhafen Vegesack zwei Apostel des
neuen Glaubens an die Möglichkeit und die Pflicht, den Schiffbrüchigen zu
helfen, geweckt. Navigationslehrer Bermpohl und Advokat or. Kuhlmay brachen
durch einen „Aufruf zu Beiträgen für die Errichtung von Rettungsstationen
auf den deutschen Inseln der Nordsee" den Bann des Fatalismus, der an der
deutschen Nordseeküste das Bestreben, den Schiffbrüchigen zu helfen, lähmte:
am 2. März 1861 wurde zu Emden der erste deutsche Verein zur Rettung
Schiffbrüchiger gegründet.
Diese Entwicklung der Rettungsbestrebungen gab dem preußischen Handels¬
minister den Gedanken ein, das Küstenrettungswesen aus einer Nebenaufgabe
der Hafenbaubeamten und Lotsen zur Hauptaufgabe eines Vereins zu machen.
Aber den Behörden, die er mit der Verwirklichung seines Gedankens beauftragte,
erschien ein Verein zur Gründung und Unterhaltung von Rettungsstationen so
unerreichbar wie dem armen deutschen Volke nach dem Dreißigjährigen Kriege
die Gründung von Waisenhäusern. Der Minister hatte den äußern Behörden
vorgeschlagen, die Teilnahme der Seeversicherungsgesellschaften für die Sache zu
wecken. Der Versuch schlug fehl. Diese Versicherungsgesellschaften mußten
Wünschen, daß die Mannschaft eines gestrandeten Schiffs bis zum letzten Augen¬
blick auf dem Wrack ausharre. Einem Verein, der seinen Bootsmannschaften
voraussichtlich nach dem Beispiel des englischen Vereins die einzige Aufgabe
stellte, Menschenleben zu retten, und die Weisung gab, das Gepäck der Schiff¬
brüchigen, wenn es irgendwie die Rettung erschwerte, über Bord zu werfen,
konnten die Vertreter der Versicherungsgesellschaften nur als Menschen, nicht
als Geschäftsleute Teilnahme entgegenbringen.
Die Regierung hielt den Gedanken des Ministers nicht für ausführbar.
Sie unterschätzte die sittliche und die politische Kultur der preußischen Küsten-
bevölkernng, indem sie urteilte: „Das Publikum hat sich bei uns nur zu sehr
gewöhnt, die Hülfe und die Anordnungen des Staats zu gewärtigen. Auch
dürfte bei uns das in England so durchgängig geweckte, wahrhaft nationale
Interesse für alles, was mit der Schiffahrt zusammenhängt, fehlen, wie denn
auch der Reichthum und werktätiges Christenthum in England selbstredend die er¬
forderlichen Mittel viel leichter flüssig machen, als dies bei uns gelingen
würde." Der Hafenbauinspektor hielt eine militärische Organisation des Rettungs¬
dienstes für geboten: „Wenn die Rettungsboote ihrem Zweck entsprechen sollen,
dann ist es allerdings erforderlich, daß dieselben mit einer Mannschaft ver¬
sehen werden, welche nicht allein mit der Bewegung des Bootes völlig ver¬
traut ist, sondern auch jederzeit bereit steht, den Dienst auf diesem Boot zu
übernehmen und in bezug auf die Ausführung des Rettungsdienstes lediglich
dem Kommando des Führers gehorcht, der unerschrocken keine Gefahr scheut,
wenn er nicht sichern Untergang vor Augen sieht. Von diesem Gesichtspunkt
aus, muß die Organisation militairisch, also es muß eine Mannschaft sein, welche
keinen freien Willen mehr besitzt, sondern nur eine übernommene Pflicht auf
Kommando des Vorgesetzten ausübt. Kein andrer freier Mann wird eine solche
Pflicht übernehmen, und so lang man auf die freiwillige Gestellung der Mann¬
schaft angewiesen ist, bleibt der Rettungsdienst immer von allerlei Zufälligkeiten
abhängig. Will der Staat eine bestimmte Besatzungsmannschaft des Rettungs¬
boots nicht lohnen und weist auf Privatvereine hin, so muß ich nach meinen
Erfahrungen . . . erklären, daß ich keine Hoffnung habe eine solche Anbahnung
verwirklicht zu sehen. Ich kann die Ansicht wohl theilen, daß es eigentümlich
ist, grade im schiffahrttreibenden Publikum so wenig Sinn für derartige segens¬
reiche Institutionen zu finden, aber es ist einmal so, und ob der Sinn geweckt
werden kann, bleibt sehr zu bezweifeln, da der Schlußpunkt aller dieser Vereine
immer Geldausgaben bleiben, bei denen mit wenigem nicht viel getan. Dazu
kommt, daß die jetzt bestehenden Rettungsanstalten im Publikum kein Vertrauen
genießen, man fühlt, daß in denselben dasjenige fehlt, was ihnen erst Leben
giebt, eine jederzeit bereite, mit dem Ganzen völlig vertraute Mannschaft. ..."
Die Negierung in Stralsund beantragte im Einvernehmen mit einem Vertreter
der Strcilsunder Kaufmannschaft zur Förderung des Rettungswesens die Ein¬
führung einer Abgabe von den Seeschiffen. Sie erwartete von dieser Abgabe
im Strcilsunder Bezirk einen jährlichen Ertrag von 180 Talern. Damit sollten
Lokalkomitees die Bedienungsmannschaft der Nettnngsgerüte bezahlen. „Auf
eine Aufbringung der nöthigen Geldmittel durch Privatbcitrüge könne nicht ge¬
rechnet werden." Der Minister wies diesen Vorschlag ab und suchte bei den
äußern Behörden die Überschätzung der Schwierigkeiten der geplanten Or¬
ganisation dadurch zu mäßigen, daß er Lokalkomitees nur an Orten, wo keine
Lotsen stationiert seien, als notwendig bezeichnete und ihre Aufgabe auf die
Bestreitung des Jahreslohns für den Bootsführer und des Tagelohus für die
Ruderer einschränkte. Den Vereinen die Instandhaltung der Stationen zuzu¬
muten, daran dachte der Minister nicht. Dennoch mußte sein Optimismus drei
Jahre lang mit dem Pessimismus der äußern Behörden kämpfen, bis ihm die
Gründung des Neupommersch-Rügenschen Vereins zur Rettung Schiffbrüchiger
recht gab. Dieser Verein wurde am 24. Januar 1866 gegründet. Damit war
die Grundlage für eine kräftige Entwicklung der preußischen Rettungseinrichtungen
^schaffen.
Schluß folgt)
as künstlerische Problem unsrer Zeit liegt nicht im Kunsthand¬
werk, es liegt in der Industrie. Die kunsthandwerkliche Disziplin
steht fest, wenn es sich darum handelt, ein vollendetes Stück
Treibarbeit, ein köstliches Geschmeide, eine ausgezeichnete Töpfer¬
arbeit, einen erlesenen Bucheinband mit Handvergolduug, edle
Spitzen oder Stickereien, feine Möbel mit Schnitz- oder Einlegearbeit zu
liefern. Es sind Arbeiten, die von Liebhabern verlangt und bezahlt werden,
und die wieder reichlicher auftreten werden, wenn die Kultur fortschreitet.
Es ist Handarbeit im künstlerischen Sinn und verkörpert die viel begehrte
und so selten gebotne Qualität. Die moderne Bewegung hat diesen kunst¬
handwerklichen Leistungen den gebührenden Rang neben den sogenannten
hohen Künsten zurückerobert und ihnen namentlich unter der Einwirkung der
englischen Bewegung eine Seele eingehaucht, die sie den hohen Leistungen des
alten Kunsthandwerks ebenbürtig macht. Aber das sind kunsthandwerkliche
Arbeiten, die persönlich bestimmt sind und wieder nur dem Kunstbedürfnis der
Persönlichkeit dienen. Sie sind nicht für die Masse da.
Für die Masse sorgt die Industrie. Sie ist aus der Masse hervor¬
gegangen und nur durch sie gerechtfertigt. Einer unbegreiflichen Lebenslüge
zufolge möchte die Masse auch Kunst haben. Also das, was sie niemals
verstanden hat und niemals versteh» wird. Die Folge ist, daß sie ein wert¬
loses Surrogat hinnimmt, und daß die Industrie diese Art von Kunst für die
Masse hervorbringt. Kunstindustrie. In Wahrheit aber kann die Industrie
niemals Kunst hervorbringen. Kunstindustrie ist ein Unding. Der hohe
menschliche Begriff der bildenden und handwerklichen Künste ist lediglich be¬
stimmt von der persönlich geadelten Handarbeit, durch die sich die seelische
Inspiration stofflich ausdrückt. In der Reproduktion eines Meisterwerkes
der Malerei oder in der Galvanoplastik, und wiederholte sie auch ein Werk
Michelangelos, haben wir nicht das Kunstwerk, nicht einmal ein Bruchstück
davon, sondern nur eine schwache Andeutung einiger Linien und Flächen.
Ebensowenig haben wir in der industriellen Nachbildung der kunstgewerblichen
Handarbeit einen Ersatz für das, was wir an jener Handarbeit künstlerisch
schätzen und empfinden. Alle Geschmacklosigkeiten, ein großer Teil der
Qualitätsmängel und der Übel, die im Gefolge der modernen Zivilisation auf¬
getreten sind, kommen aus dem Glauben, daß die Industrie Kunst machen
und das wichtigste künstlerische Moment der Seelenfreude und der persönlich
differenzierten Handarbeit durch die Arbeitsteilung und durch die Maschine
ersetzen könne.
Das künstlerische Problem der Industrie kann nur gelöst werden, wenn
die Industrie entschlossen ist, nicht mehr einer falschen Kunst sondern dem
guten Geschmack zu dienen. Die Kunst ist eine persönliche Angelegenheit, zu
der man nicht verpflichtet werden kann; verpflichtet kann man nur zum guten
Geschmack werden. Diese Verbindlichkeit nötigt die Industrie nun erst recht,
sich der besten künstlerischen Kraft zu bedienen, die den Zusammenhang der
Erscheinungen beherrscht und imstande ist, den Jndustrieprodukten den Stempel
des guten Geschmacks zu geben, durch den sie sich dem Lebensbild harmonisch
einfügen. Ein Beispiel von großer Tragweite in dieser Beziehung bietet die
Berufung Behrens zum künstlerischen Beirat an die Berliner Allgemeine
Elektrizitäts-Gesellschaft. Nicht die elektrotechnischen Installationen zu Kunst¬
werken zu machen, die sie niemals sein können, sondern ihnen die logische
Form zu geben, ist die von diesem Künstler erkannte Aufgabe. Streng ge¬
nommen kann auch ein Maschinenmöbel niemals Kunst sein. Es ist so wenig
ein Kunstwerk wie ein anständiger Lederkoffer, ein Fahrrad, ein Automobil.
Ebensowenig sind die vorzüglich durchdachten modernen Landhäuser, die nach
den Entwürfen unsrer besten Architekten entstehen, Kunstwerke. Sie haben
gar nicht die Aufgabe, es zu sein, sie haben nur die Aufgabe, in menschlicher
Angemessenheit zweckvoll, sachlich und schön zu sein. Der Geist des Schönen
soll auch über der Alltagsproduktion und der Massenherstellung herrschen. Nur
der Künstler kann ihn bestimmen, der die Zusammenhänge überschaut, eine
ganze Welt, und Einheit an Stelle des Chaos stellt. Aber die Kunst beginnt
ganz wo anders.
Wer für die Masse arbeitet, muß billig sein. Die Industrie muß billig
sein. Ich begreife, daß van de Velde den Thüringer Töpfern gepreßte
Formen gibt, die industriell herzustellen sind, und die bei den niedrigen
Marktpreisen den Leuten wenigstens durch eine schnellere Produktionsart die
Existenz ermöglichen. Van de Velde war von einem ganz richtigen wirt¬
schaftlichen Instinkt geleitet. So sehr das Schwinden der alten Töpferkunst
zu bedauern ist (sie wird wieder erstehn!), so ist der Vorgang doch ganz
gerecht. Die Leute wollen leben und lassen von selber die Drehscheibe im
Stich. Sie sind nicht dabei zu erhalten. Ganz abgesehen davon, daß von
diesen Handwerkern für die Kunst nichts zu erwarten ist, weil sie nicht zu
heben sind. Das Kunsthandwerk wird von Persönlichkeiten ergriffen werden,
die die Bildung ihrer-Zeit mit der Sache verbinden. Dem gewöhnlichen
Handwerker ist nicht zu helfen, er drängt zur Industrie, wenn auch im kleinen
Umfang, um überhaupt zu existieren. Und die Industrie kann mit den an
die Handwerkstechniken gebundnen Kunstformen nichts anfangen. Wenn also
die Töpfer schon die Drehscheibe verlassen und gepreßte Formen machen,
dann sollen sie wenigstens von dem überlegnen Geschmack eines Künstlers be¬
stimmt werden, damit überhaupt etwas ordentliches daraus werden kann. Für
die Töpferindustrie kann zum Alltagsgebrauch nur die zweckmäßige, praktische
Form, die schöne farbige oder leuchtende Glasur oder die schöne Proportionen
betonende einfache Linie in Betracht kommen. Alle andern persönlichen Reize,
die Unwillkürlichkeiten und Vibrationen der gestaltenden Hand, die jedes
Einzelstück mit einem individuellen Leben begabt, sind dahin. Die Masse
braucht diese Feinheiten nicht und versteht sie auch gar nicht. Es ist alles
ganz in Ordnung. Was sich hier vollzieht, ist in der Holz- und Metall¬
bearbeitung längst Tatsache geworden. Das Tischlergewerbe ist vollkommen
industrialisiert, und für den Möbelbau sind ganz neue Grundsätze maßgebend.
Möbelstücke, die den Rang eines Kunstwerkes einnehmen und alle Vorzüge
der alten handwerklichen Herstellung haben, selbst bis auf die handgehobelten
Flächen, die deshalb eine unnachahmliche Weichheit und ein bestimmtes Leben
aufweisen, gehören zu den Ausnahmen. Gewöhnlich aber ist auch das prunk¬
hafte Stück von heute Jndustrieerzeugnis und kein Kunstwerk. Für den
guten Geschmack ist auch bei dem modernen Möbel nicht der Prunk ent¬
scheidend, sondern die schlichte Form und die gute Proportion. Intarsien und
gelegentliches Schnitzwerk geben hier noch einen kleinen Spielraum für die
Persönliche Arbeit. Nur die Qualität der Form hängt vom Künstler ab.
Die Arbeits- und Materialqualität wird von andern Dingen bestimmt, die
nicht in seiner Gewalt sind.
Die Goldschmiedekunst ist vollends in der Industrie untergegangen.
Es gibt rühmliche aber seltne Ausnahmen, wie die englischen ^re8 -ma
Vratts-Unternehmungen und die Wiener Werkstütte. Die Originalität des
Entwurfs muß uns über die maschinenmäßige Härte und uninteressante Aus¬
führung hinweghelfen. Die Qualität des Entwurfs, die ebenfalls nur von
einem hohen Kulturgeschmack bestimmt werden kann, ist das einzige, was die
Goldschmiedeindustrie zurzeit anzustreben vermag, wenn sie wirklich hoch hinaus
Will, was leider bei den Fabrikanten noch allzu selten der Fall ist. Ebenso
sind das Buchgewerbe und der Bucheinband vollkommen Industrie geworden,
was sich durch das Lese- und Bildungsbedürfnis der Masse vollkommen er¬
klärt. Die wenigsten wissen, wie ein persönliches Buch aussieht, was ein
guter, kunsthandwerklicher Einband oder eine echte Handvergoldung bedeutet.
Aber auf den neuen Grundlagen hat sich unter dem Einfluß Englands ein
guter industrieller Geschmack geltend gemacht, der von den Künstlern durch¬
gesetzt werden konnte. Hochstrebcnde Schriftgießereien wie jene von Klingspor,
Druckereien wie Poeschel und Trepte, neuerdings in Verbindung mit dem
Schriftkünstler Ticmann haben typographisch außerordentlich geschmackveredelnd
gewirkt. Aus den individuellen Künstlerschriften haben sich nach und nach
sehr geschmackvolle und gut leserliche Gebrauchsschriften für die Vuchindustrie
entwickelt. Endlich haben sich die Buchverleger wie Eugen Diederichs in Jena,
Schuster und Löffler in Berlin, Julius Zeidler in Leipzig u. a. um die deutsche
Buchausstattung große Verdienste erworben. Der klischeemäßige Ausdruck der
Buchdeckelverzierung gewährt der Graphik einen großem Spielraum, wenn
auch hier der gute Geschmack einer undisziplinierten Überkunst aus dem Wege
geht. Ju der Lederindustrie- und Kofferfabrikation sind keine andern Grund¬
sätze im Interesse der schönen Form maßgebend als anständiges Material,
sachliche und sinnreiche Formgebung, Forderungen, die im Interesse des guten
Geschmacks in der Wagen-, Automobil-, Waggon- und sonstigen Verkehrs¬
industrie durchaus selbstverständlich und überliefert sind.
In den industriell bestimmten Kunstgewerben, wie in der Holz-, Leder-,
Glas-, Metallbearbeitung, in der Textilbranche und der technischen Installation,
in allen diesen einst handwerklichen und heute industriellen Produktionsgebieten,
die im Umkreise der Architektur liegen und von ihr bestimmt sind, betrifft das
künstlerische Problem nicht die Schaffung von individuellen, interessanten und
in der Massenherstellung niemals auf die Dauer erträglichen Künstlervisionen,
sondern die Verbreitung der typischen Formen des guten Geschmacks, von
Typen, die nicht stören, die als sachlich und anständig empfunden werden können
und in dieser Kultivierung nur von einem überlegnen, baukünstlerisch diszi¬
plinierten Geist geleitet werden können. Der Künstler verbindet sich nicht mit
der Industrie, um Kunst hervorzubringen, sondern um die Kultur des guten
Geschmacks zu verbreiten. Nochmals sei es gesagt, daß die Kunst mit der
Industrie nichts zu tun hat.
Das sogenannte künstlerische Problem der Industrie ist zugleich das Problem
der Qualität. Dieses Wort hat gerade in diesen Tagen eine hypnotisierende
Gewalt erlangt. Es scheint das Programm der Zukunft zu enthalten. Aber
gerade hier liegt die Sache viel problematischer, als viele denken, die sich dieses
Worts als Reklametitel bedienen. Ohne Zweifel bedeutet der Qualitätsbegriff
einen Höhepunkt in der künstlerisch geleiteten modernen Bewegung, einen Ab¬
schluß und zugleich einen Anfang. Aber hier wirken soziale, wirtschaftliche und
sogar ethisch gerichtete Lebensmächte bestimmend mit, die der Künstler nicht in
der Hand hat. Wenn der Künstler nur Entwerfer ist, dann hat er bloß die
Zeichnung in seiner Gewalt und kann in der Industrie an leitender Stelle die
Prägung der Form bestimmen. Ist der Künstler aber Handwerker zugleich und
mithin Ausführender, dann hat er jene Qualität in der Hand, die das Er¬
gebnis der liebevollsten, von intimer Matenalkenntnis beherrschten hingebenden
Persönlichen Arbeit ist, eine Qualität, die von der Seelenfreude und dem Arbeits¬
geist des Schöpfers zeugt und zugleich ein wesentliches Merkmal des Kunst¬
werks ist. Die Qualität schwebt einem vor, wenn das Wort genannt wird.
Für die Industrie ist sie aus vielen Gründen nicht erreichbar. Zunächst weil
die Industrie das Persönliche der unmittelbaren, fertigmachenden menschlichen
Handleistung ausschaltet. Dann aber weil sie mit Arbeitskräften schaffen muß,
die bei der bestehenden sozialen Ordnung unmöglich die unerläßliche Voraus¬
setzung aller edeln Arbeit, die opferfreudige seelische Hingabe an das Werk
mitbringen können. Die ganze Jndustriecirbeit ist naturgemäß auf Geschäfts¬
mäßigkeit zugeschnitten. Zum Teil liegt es an den Lohnverhältnisscn. Die
Arbeitskraft hat aufgehört, einen unmittelbaren seelischen Anteil an dem Ge¬
schaffnen zu nehmen; das ganze Arbeitsverhältnis in der Industrie ist eine
bloße Lohnfrage geworden. Die Daseinsbedingungen der Industrie sind auf
Masse und Schnelligkeit gestellt. Je größer der Betrieb, desto weniger kann es
in allen Stücken mit den Grundsätzen der Qualität genau genommen werden.
Häufen sich die Bestellungen zum Beispiel in der Möbelbranche zu gewissen
Zeiten, dann legt die kapitalistische Verantwortung der Leitung die Pflicht auf,
die Quantität zu bewältigen. Der Akkordlohn ist ein Mittel, der menschlichen
Arbeitskraft eine quantitative Mehrleistung abzuringen. Die natürliche Folge
ist eine größere Flüchtigkeit auf Kosten der Qualität. Wenn es der Bedarf
verlangt, muß der Arbeiter lieber zehn Stück eines gewissen Erzeugnisses an
einem Tag machen, wenn sie auch etwas minderwertig sind, als an einem Tag
ein gutes Stück. Die Pflicht, schnell zu liefern, die vom Käufer und von der
Konkurrenz auferlegt wird, verhindert es zum Beispiel in der Möbelbranche, den
Erzeugnissen die nötige Herstellnngszeit einzuräumen, die von der Qualität
bedingt würde. Wer weiß, daß furnierte Möbel, feine Polituren monatelang
in Arbeit stehn müssen (jahrelang getrocknetes Holz vorausgesetzt), wenn sie
gediegen sein sollen, der wird bei der durchschnittlichen Lieferzeit von vier
bis sechs Wochen kein hohes Maß an Qualität erwarten dürfen. Den üblichen
Qualitütsversicherungen gegenüber ist einige Skepsis am Platz, wenn man bedenkt,
daß ein so umfangreiches Gebäude wie „Rheingold" in Berlin mit allen Innen¬
einrichtungen in einem Zeitraum von nicht mehr als zwölf Monaten fertiggestellt
wurde. Je größer der Betrieb, desto weniger hat er es in der Macht, Aufträge,
die sich den elementaren Qualitätsbedingungen widersetzen, abzuweisen. Das
kann der kleine Tischler tun oder der Kunsthandwerker, der seine Arbeit nur
nach hohen menschlichen Gesichtspunkten vollbringt und einen gleichgestimmten
Interessentenkreis hat. Das kann von den modernen Produktionsstätten größern
Stils nur die Wiener Werkstätte tun, die sich von vornherein auf den Grundsatz
gestellt hat, lieber soll der Arbeiter zehn Tage an einem Stück arbeiten, als
an einem Tag zehn Stücke auf Kosten der Qualität machen.
Ein weiterer Widersacher der Qualität ist die verlangte Billigkeit. Die
Forderung der Billigkeit ist durch die allgemeine wirtschaftliche Verfassung
bedingt und im Kapitalismus begründet. Für die Masse wenigstens. Es ist
aber ein Irrtum, anzunehmen, daß der kunstgewerbliche Großbetrieb unter allen
Umstünden billiger liefern könne als der möglicherweise höher qualifizierte klein¬
meisterliche Handwerksbetrieb. Der Großbetrieb kann mir rascher liefern und den
Markt versorgen. Das ist alles. Er hat zwar die Rohmaterialien billig in der
Hand, weil er als der größere Käufer auftritt, und er kann durch die Arbeits¬
teilung und Maschinen in derselben Zeit mehr liefern. Er hat aber andrerseits
mit enormen Reklame- und sonstigen Regiekosten zu rechnen, die ihn mit Rücksicht
auf die Konkurrenz zu weitern Qualitätsherabminderungen zwingen können.
Die Industrie hat es bewirkt, daß die zahlreichen Kunsthandwerke, die
früher das Lebensbild bestimmten und die hohe Qualität der überlieferten
kunsthandwerklichen Gegenstände erzeugten, nahezu gänzlich vom Schauplatz
verschwunden sind und bestenfalls im Winkel da und dort vegetieren. Aber die
Industrie hat es auch bewirkt, daß das Verlangen nach jener hohen Qualitäts¬
marke wieder lebendig geworden ist. und daß kunsthandwerkliche Betriebe nach
künstlerischen Grundsätzen auf Grund der alten Techniken wieder möglich sind.
Von den alten Handwerkern, die sich als Kleinmeister noch hinfristen, ist nichts
zu erwarten; es sind neue Menschen nötig, die das Erbe in die Hand nehmen
und pflegen werden. Aber der Hauptsache nach beruht die moderne Kultur¬
entwicklung doch auf der Industrie. Sie ist die Macht, die, was die Form
betrifft, den guten Geschmack mit entscheidenden Erfolg verbreiten und die
Physiognomie des Alltags mit einem Schlag verbessern kann, wenn sie bedeutende
und führende Künstler in die technische Leitung beruft. Die Masse künstlerisch
machen, ist ein aussichtsloses Geschüft. Von Mann zu Mann darüber zu
debattieren, was schön oder nicht schön ist, würde zu keinem Ende führen. Die
Masse kann nur erträglich gemacht werden, wenn ihr schlechte Produkte vor¬
enthalten und ausschließlich Gutes gereicht wird. Sie darf nicht befragt werden,
denn sie hat kein Urteil. Den Markt zu bestimmen und die Sachlage zugunsten
der Kultur zu ändern, diese Macht hat lediglich die große Industrie. In der
Qualität kann sie ein anständiges Durchschnittsniveau halten, was vielfach schon
erreicht ist. Wenn darüber Einigkeit herrscht, daß das Jndustrieprodukt niemals
mit dem Kunsthandwerk wetteifern kann, daß aber beide an ihrem Platze gut
sind, das eine der Nützlichkeit und das andre der Schönheit und des Kunst¬
bedürfnisses wegen, dann ist viel geschehn, um die Lage zu klären und den
rechten Weg zu finden.
on der protestantischen Bürger- und Kaufmannsstadt Leipzig in
die katholische Bauern- und Königsstadt München ist auf den
ersten Blick ein starker Sprung. Doch es ist schon dafür gesorgt,
daß es nicht an mildernden Übergängen fehlt. Wir sahen ja
schon, daß Leipzig manches vom Süden angenommen hat, und
suchten das an mehreren kleinen Zügen festzustellen, die wir in der bayrischen
Hauptstadt wiederfinden. Der Bayrische Bahnhof in Leipzig ist ja auch
schon ein Vorposten des deutschen Südens. Und doch, welch eine andre Welt
steigt vor einem auf, wenn statt des stolzen Leipziger Rathausturms das dick¬
köpfige, untersetzte Zwillingspaar der Frauentürme aus der Ferne herüber¬
grüßt! Jener ein Sinnbild trotzigen Bürgertums, diese ein Sinnbild für die
Vereinigung kirchlicher Macht und bäuerlich-urwüchsiger Kraft; denn nicht nur,
daß die Frauenkirche, wie jede katholische, im Zentrum der Stadt liegt, auch
die runden Kappen ihrer Türme erinnern an die zwiebelförmigen Turmdächer
der bayrischen Dorfkirchen. So sehen wir denn in der Frauenkirche den
Katholizismus als echte Bauernreligion verkörpert vor uns, und so sehen wir
auch in München und dem Münchner vor allem das in die Stadt verpflanzte,
verbürgerte Bauerntum, das dem Münchner Leben die Struktur gibt, das
soziale Kalkplateau bildet, auf dem sich erst die dünne Humusschicht der höhern
Stände abgelagert hat. Diese aber, die eigentlichen Trüger des geistigen
Lebens in München, verdanken ihr Dasein nicht so sehr der Triebkraft des
bäurischen Volkstums als der bewußten Kulturarbeit des bayrischen König¬
tums und dem durch dieses geschaffnen Kulturboden; München als Zentrale
der bayrischen Volkskultur ist etwas andres denn als Zentrale einer modernen
Geisteskultur; nur jene ist bodenständig, diese dagegen importiert oder besser
okuliert. Indem man das volkstümliche München und das künstlerisch-literarische
München oft nicht genügend voneinander geschieden hat, ist man ungerecht
gegen beide geworden. Die Münchner Kultur ist noch nicht so alt wie die
Leipziger — deshalb haben sich ihre verschiednen Schichten noch nicht so stark
durchdrungen; sie ist aber auch nicht so jung wie die Berliner — darum hat
die feinere Geisteskultur die derbere Volkskultur weder so stark paralysiert wie
in Berlin noch so stark assimiliert wie in Leipzig. Wer die Elite des
Münchner Lebens sucht, wird nicht ins Hofbrüuhaus gehn, und wer den Spie߬
bürger sucht, nicht ins Cafe Luitpold. Wer von München erwartet, daß es
ein großes Atelier oder ein großes Museum sei, in dem es von Farbentöpfen
noch mehr wimmelt als von Bierkrügen, wird sich ebenso enttäuscht fühlen,
als wenn er von ihm erwartet, ein Paradies von Bier und Weißwürsten zu
finden. Wer aber zwischen Kunst- und Biergenuß das rechte Maß zu halten
weiß, wer den Kunstphilister nicht einseitig und selbstgefällig herausbeißt und
auch für die hausbackne Herzenspoesie des echten Münchner Philistertums etwas
übrig hat, der wird nicht in den Fehler des Herrn Joseph Ruderer verfallen,*)
der trotz allen Rühmens mit seiner Münchner Abstammung doch nur wenig hat
von dem warmen Gemüt seines kernigen Volkstums. Es ist der moderne
Literat, der, aus dem Boden seiner Heimatstadt herausgewachsen, nur mit
dem irrlichtelierenden Scheinwerfer seines Geistes blendende Schlaglichter auf
das Treiben dieser Stadt wirft, die aber nur einzelne Bilder aus der höhern
Gesellschaft im scharfen Lichte der Satire, oft auch im verzerrenden Spiegel
der Karikatur zeigen, nicht mit der hellen Klarheit sachlicher Kritik die Seelen¬
winkel des Münchners durchleuchten. Es ist die Ausgeburt einer tollen Künstler¬
laune, nicht die Schöpfung eines ordnenden Künstlergeistes, was Ruderer hier
bietet. Seiner Vaterstadt aber soll man mit einer gewissen Ehrfurcht gegenüber¬
treten, wenn man vor Fremden ihr Bild festhalten will.
Demgegenüber erscheint es mir als eine Pflicht der Dankbarkeit für
glückliche, in der Jsarstadt verbrachte Jahre, einige Charakterzüge ihres Wesens
zu einem wenn auch noch so anspruchslosen Bilde zusammenzufügen.
Das bäuerliche, ja zuweilen bäurische Element im Wesen des Münchner
Bürgers kann sich nicht verleugnen, weder im geselligen noch im amtlichen
Verkehr. Wie der echte Bauer, so ist auch der echte Münchner stockkonservativ,
freilich nicht im preußischen politischen Sinne, sondern im sozialen. Wie der
Bauer hält er noch an seinem herzlichen „Grüß Gott" fest, wie der Bauer
trägt er noch sein Brodmesser hinten in der Hosentasche, in einer Scheide
steckend wie ein Hirschfänger; wie ein Bauer raucht er seine Pfeife im Hof¬
brüuhaus und unterhält sich mit seinem „Herrn Nachbar", ohne zu wissen,
mit wem er es zu tun hat. Etwas bäuerlich-patriarchalisches hat auch die
Art, wie der Bürger an schönen Sommerabenden in den zahlreichen Biergärten,
„Keller" genannt, sein Abendbrot verzehrt: er bringt sich seinen Schinken, sein
„Gselchtes" oder sein „Durcheinander" (gemischter Aufschnitt) in Papier ge¬
wickelt mit, breitet es mit seinem Papier offen vor sich aus und beginnt es
mit seinem Dolchmesser zu bearbeiten, nachdem er sich von der Kellnerin nur
ein „Hausbrot" und eine Maß Bier „gekauft" hat. Das Papier fliegt dann
unter den Tisch, und man kann an der Menge der umherliegenden Papier¬
stücke ziemlich genau berechnen, wieviel Personen an dem betreffenden Tische
„gespeist" haben.
Aber nicht nur wie er ißt, sondern auch was er ißt, kennzeichnet sofort
den bäuerlichen Ursprung des Münchners und seiner Küche. Wie der ober¬
bayrische Bauer ist auch der echte Münchner Bürger ein Anhänger derber,
kunstlos zubereiteter Fleischkost. Eine Kalbshaxe oder ein Schlegel ist ihm am
liebsten, aber auch die edlern Eingeweide findet man auf den Speisekarten in zahl¬
losen Variationen: Herz gedünstet, Milzwurst, saure Nieren und Tiroler Leber.
Von Gemüse und Mehlspeise mag er aber nicht viel wissen, wenn man etwa
absieht von dem unvermeidlichen Sauerkraut und den traditionellen Dampf¬
nudeln und dem wohl von Österreich herübergekommnen Kaiserschmarren. Und
Suppe ißt der Münchner wohl nur, wenn sein Nationalgericht, die Leberknödl,
darin schwimmen. So ist hier alles auf derben Bauerngeschmack zugeschnitten,
und der an feine Küche gewöhnte Österreicher hat nicht so unrecht, wenn er
von bayrischen „Gfroaß" spricht. Alle Süßigkeiten hat das Bier verdrängt,
weil es für den Münchner der Inbegriff alles Süßen ist. Deshalb hat er
nicht nur eine Abneigung gegen süße und schwere Kuchen — die wenigen
Konditoreien in München werden fast nur von Damen besucht —, sondern
auch gegen süßlich schmeckende Fleischspeisen wie Geflügelleber, besonders Gänse¬
leber, die man darum für einen unerhört billigen Preis kaufen kann. Andrer¬
seits ist aber der Münchner allzu pikanten Gewürzen abgeneigt, und so findet
man in volkstümlicher« Lokalen statt unsers scharfen Senff einen süß
schmeckenden, statt des Kümmels tut er Anis ans Brot, und die Butter ißt
er nur ungesalzen. Auch der Paprika hat sich von Österreich her nicht ein¬
bürgern können.
So verleugnet der Münchner auch in seiner Küche den echten Oberbayern
nicht, und kräftig, einfach, ohne Süße, aber auch ohne Schärfe ist seine Sprache.
Wie man dem Berliner beim Sprechen anmerkt, daß er gern scharfe Speisen,
dem Leipziger, daß er gern Süßigkeiten ißt, so klingt des echten Münchners
Rede angenehm und doch kernig, sie hat etwas von dem Brot- und Bier¬
geschmack seiner Heimat; die Laute tönen voll und energisch und doch behaglich
und behäbig, mit bäuerlich starkem Selbstbewußtsein hält er an seinem Dialekt
fest, und auch in der Ferne schleift er ihn ebensowenig ab wie im Salon.
Müncherisch ist eben ein Stück Oberbayrisch, nur in die Stadt verpflanzt, wie
der Lodenrock und der Jügerhut mit der Spielhahnfeder, und von einem
eigentlichen Münchner Dialekt kann man deshalb nicht reden; dazu hat
München eine zu geringe bürgerliche Kultur aus sich selbst heraus entwickelt,
dazu hat auch der Münchner zu wenig Schliff und Politur, zu wenig Fühlung
mit den Zentren deutscher Geistesbildung. Darum ist Münchnerisch ebenso¬
wenig ein veredeltes wie ein verblaßtes Oberbayrisch, es ist mehr ein ländlicher
als ein städtischer Dialekt, weil er im Bauern-, nicht im Bürgertum wurzelt.
Das kann man besonders beobachten, wenn man ihn mit dem abgeschliffnern
Wiener Dialekt vergleicht.
Eine gewisse schwerfällige Behaglichkeit wie in seiner Sprache zeigt der
Münchner auch in seiner Lebensbetätigung. Er geht langsam und würdevoll
einher, er übereilt sich nie und bewahrt immer seine Ruhe. Das Hetzen und
Jagen wie in andern Großstädten kennt man in München nicht. Darum ist
aber der Münchner kein Geschäftsmann, er rührt sich nicht leicht, auch wenn
es seinen Vorteil gilt, und läßt sich deshalb leicht von unternehmenden Fremden
aus dem Felde schlagen. Was München als moderne Großstadt ist, verdankt
es sicher nicht den Münchnern. Manche kleine Rückständigkeiten in öffent¬
lichen Einrichtungen zeigen noch, was München wäre, wenn es nur ein ober¬
bayrisches München wäre. Da gilt zum Beispiel noch die Bestimmung, daß
sich der Empfänger einer Geldsendung diese selbst von der Post abholen muß,
was für Publikum und Beamte sehr lästig ist, zumal weil die kleinern Postämter
wenig geräumig und oft stark überlastet sind. Etwas veraltet ist auch das
Prinzip, wonach bestimmte Züge an Sonntagen „nur bei gutem Wetter" ab¬
gelassen werden. Im letzten Sommer wurde auch über die unerträglichen
Zustände im Hauptbahnhof wiederholt (vgl. z. B. die Grenzboten 1907, Ur. 34)
öffentlich Klage erhoben, die dem gesteigerten Reiseverkehr offenbar nicht mehr
genügen.
Angenehmer für den einzelnen sind in diesem sorglosen Sichgehenlassen
die geringern Anforderungen, die an die physische Kraft der Beamten und an
den Geldbeutel des Steuerzahlers gestellt werden. Die Lehrer an den Münchner
Schulen haben zum Beispiel weniger Pflichtstunden als ihre Kollegen in Leipzig,
Berlin oder Hamburg, werden freilich auch schlechter besoldet, was jedoch durch
die langen Sommerferien (Mitte Juli bis Ende September) wieder ausgeglichen
wird. Auch die Steuerschraube wird bei weitem nicht so stark angezogen wie
in andern Großstädten, z. B. Berlin oder Leipzig.
Leben und leben lassen, sich und seinen Mitmenschen das Leben nicht
unnütz sauer machen — das ist die Losung des bayrischen Beamten und des
Münchner obenan. So auch in dem persönlichen Verkehr mit dem Publikum;
nicht als ob er nicht auch grob sein könnte, er kann sogar recht grob werden,
saugrob. Aber auch in dieser Grobheit liegt eine gewisse derbe Biederkeit,
die sich schon darin äußert, daß der Grobwerdende seinem Erguß fast immer
die Anrede: „Mei Liaba" hinzusetzt. Es ist etwas wie eine Grobheit unter
Brüdern, im grimmigen, aber doch wohlgeölten Bierbaßton voll und breit
herausquellend, nicht wie die dem schneidenden Nordwind gleichende, im schrillen
Diskant herabsausende, mit militärischem Unfehlbarkeitsdünkel gemischte Grob¬
heit des preußischen Beamten. Jene wirkt etwa so, als würde man etwas
derb massiert, diese dagegen, als würde man geohrfeigt. Beamtentum und
Menschentum vermag der Bayer überhaupt nicht scharf zu trennen. Will er
einmal den streng korrekten Beamten spielen, so fällt er leicht aus der Rolle.
Als ich einmal zwei Minuten zu spät bei der Bücherausleihstelle der Staats¬
bibliothek angekommen war, wies mich der Beamte darauf hin und erklärte,
es gäbe keine Bücher mehr. Auf einige Entschuldigungsworte von mir sagte
er plötzlich in ganz verändertem Tone: „Nu, ich wollt Ihnen ja nur einen
Schreck einjagen!" Ein preußischer Beamter würde das mit seiner Würde nicht
vereinbar finden. Aber an diese denkt der bayrische Beamte wohl gar nicht so
sehr als an seine menschliche Gemütlichkeit. Ein Bekannter von mir ließ sich in
München naturalisieren. Nachdem die üblichen Formalitäten erledigt waren,
überreichte ihm der Beamte den neuen Heimatschein mit den Worten: „Sooo,
nu seins Bayer - und zwanzig Pfenning loses!"
Dieselbe bequeme Behaglichkeit findet man auch im Geschäftsverkehr:
..Guten Tag, was wünscht der Herr?" „Das und das." „Das ist nun
grad nit da. Aber gehens nur da hinüber, dort drüben am Eck, dort be-
kommens ganz gewiß, was Sie wünschen." Solche Gespräche kann man oft
hören, zum Beweis, daß auch in Geschäftssachen die Gemütlichkeit beim
Münchner noch lange nicht aufhört. Manche deuten dieses Verfahren als
Gutmütigkeit dem Konkurrenten gegenüber, doch ist wohl eher Bequemlichkeit
im Spiele, vielleicht auch Höflichkeit gegen den Käufer. Aber kaufmännisch
ist es darum doch nicht. Das ist es auch nicht, wenn der kleinere Laden¬
besitzer an warmen Sommertagen um 12 Uhr mittags ein Schild an seine
Ladentür hängt mit der Aufschrift: „Von 12—2 Uhr geschlossen." Das
schmeckt schon etwas nach dem Süden, wo das e^rxe älen nicht mehr seine
volle Giltigkeit hat.
Ich möchte hier eine Frage zu beantworten suchen, die ich einmal in
einem Münchner Sommerlokal von einer norddeutschen Gesellschaft erörtern
hörte, die Frage nämlich, wie es denn komme, daß der Münchner weniger
rührig sei als andre Großstädter, da doch der „Kampf ums Dasein" überall
seine Rechte fordere. Die guten Leute übersahen aber dabei eins, daß nämlich
München die einzige deutsche Großstadt ist, die weder einen bedeutenden Handel
noch eine bedeutende Industrie entwickelt hat; denn soweit sie beides hat, liegt
es in den Händen von Nichtbayern. Der echte Münchner ist in die moderne
Industriekultur noch viel zu wenig hineingewachsen, und das bemerkt mau
auch gleich in seinem außergcschäftlichen Verhalten. Wer hätte je die Münchner
Trambahnwagen in den Morgenstunden in Lesekabinette oder Münchner Bier¬
gärten des Abends in Strickschulen verwandelt gesehen wie in unsern mittel-
und norddeutschen Großstädten? Dazu ist der Münchner und die Münchnerin
nicht nur viel zu gesellig, sondern auch viel zu beschaulich veranlagt, sie haben
viel zu viel Interesse für das, was um sie her vorgeht.
Die Kehrseite dieser geringen Geschäftigkeit ist freilich auch eine geringere
geistige Regsamkeit, ein Mangel an rein intellektuellen Interessen. München
hat schöne und gute Volksschule«, große und prächtige Volksbäder, aber keine
entsprechenden Volksbibliotheken und Lesehallen.*) Der Drang nach Wißbegierde
und geistigem Fortschritt ist eben noch nicht so groß in den Massen. Das
literarische Interesse geht bei diesen nicht weit hinaus über die Fliegenden
Blätter und das Bayrische Vaterland: lachen und kannegießern bilden ihre
Lieblingsbeschäftigung. Darum ist es bezeichnend, daß in München bis vor
kurzem keine ernste literarische Zeitschrift erschien, wenn man von der literarischen
Beilage der leider nun auch dahingegangnen Allgemeinen Zeitung absieht.
Erst in den letzten Jahren ist das besser geworden, wie die kurz hintereinander
entstandnen Süddeutschen Monatshefte, Das Hochland und Der März be¬
weisen. Für den Mittelstand sind auch diese nicht berechnet, und so fehlt es
für diesen auch jetzt noch an einem guten literarischen Familienorgan.**)
Aber selbst wenn er wollte, wann sollte der gute Münchner auch lesen?
Im Sommer füllt es ihm nicht ein; dazu ist er ein viel zu großer Naturfreund,
und den Liebeswerbungen der in der Ferne winkenden Gebirgssee kann er nicht
widerstehn. Der Herbst und Winter aber ist für ihn ein förmliches Karussell von
Lustbarkeiten. Mit dem Oktoberfeste beginnt es, erst langsam, dann von Weih¬
nachten an mit rasender Schnelle: erst die wilden Bacchanalien des Karnevals,
dann die Katerstimmung der Bockbierzeit, hierauf die Frühlingsfeier auf Münchens
heiligem Berge — dem wahrhaftigen monile Lalvatioll —, dem Nokherberg,
weiter im Mai die sogenannte Auer Dult (ein Trödelmarkt in der Vorstadt An),
bis das Oktoberfest die holde Kette schließt, eine Kette bunt durcheinander
wirbelnden Wechselspiels weltlicher und kirchlicher Feste, wie es ja im Wesen
der katholischen Bauernreligion liegt, beides unbefangen zu vereinigen.
Diese unerschöpfliche Genußfreudigkeit des Münchners ist es also, die auch
auf seine geistige Regsamkeit zweifellos nachteilig eingewirkt hat — es ist hier
natürlich immer nur von dem Münchner der mittlern Stände die Rede —
und in ihm jene behäbig-behagliche Stimmung erzeugt, die mehr den Klein¬
städter kennzeichnet als den Großstädter und offenbar wieder ein Residuum
ist von der patriarchalischen Bauernkultur Oberbayerns, die im städtischen
Rahmen weiterlebt und gerade in diesem Rahmen jenen entzückenden Reiz
ausübt, den zumal der norddeutsche Großstadtmensch so stark empfindet.
Was hier als trotziger Stammesindividualismus so wohltuend wirkt, das
wird freilich bedenklicher, wenn es sich in die Formen des Partikularismus hüllt.
Doch habe ich immer den Eindruck gehabt, daß es sich im Grunde weniger
um politischen als um Kulturpartikularismus handelt, hervorgegangen aus dem
Überwiegen des bäuerlich-stammestümlichen gegenüber dem bürgerlich-städtischen
Wesen. So ist es auch zu verstehn. wenn Riehl sagt. Bayern habe das acht¬
zehnte Jahrhundert verschlafen. Es fehlte ihm eben damals das starke und
freie Bürgertum, das die Verbindung mit dem übrigen Deutschland hätte
herstellen können. So ist es fast dahin gekommen, daß sich die Bayern als
eine eigne Nation fühlen, und der Mann aus dem Volke noch heute von
Deutschland mit seiner preußischen Spitze wenig wissen will. Manche be¬
zeichnenden Proben dieses Kulturpartikularismus kann man noch in der
bayrischen Hauptstadt finden. Sie sind durchaus nicht auf die Briefmarken
allein beschränkt. Da ist als vornehmster Ausdruck dieser Auffassung das
bayrische Nationalmuseum und das Königliche Hof- und Nationaltheater.
Man muß sich doch also wohl als eigne Nation fühlen und nicht als ein
deutscher Stamm neben andern, wenn man mit dem Worte national so um
sich wirft, wie man es selbst in der Reichshauptstadt nicht tut (dort gibt es
nur eine Nationalgalerie). Da ist ferner der eigentümliche Nationalfarben-
kultus. der mit dem bayrischen Blau getrieben wird: nicht nur tue Uniformen
der Militärs Post- und Bahnbeamten zeigen diese übrigens sehr wohltuende
Farbe, sondern auch die Wagen der elektrischen Straßenbahnen und die Fähren
in der Nähe der Stadt, die den Verkehr über die Jsar vermitteln, sind blau
und weiß gestrichen, sogar der Streusand in den Postämtern hat blaue Farbe.
Nicht zu vergessen ist hier das berühmte oder berüchtigte „Bayrische Vater¬
land", die echte Ausgeburt des oberbayrischen Bauern- und Münchner Klein¬
bürgertums, das freilich nach dem Tode seines Begründers Slgl viel von
seiner derben Originalität eingebüßt hat. Immerhin ist es und seiner gut
bayrischen Grobheit noch sympathischer als der Simplicissimus mit seiner ver¬
steckten hämischen Bosheit. Sigl blieb wenigstens immer im heimatlichen Blau,
während es im Simplicissimus stark mit krassen Rot wechselt, wenn nicht gar
mit giftigem Grün.
Auch in offiziellen Einrichtungen zeigt sich eine partckularistische Tendenz,
wie in gewissen eigenständigen Bezeichnungen des höhern Schulwesens (in
Bayern spricht man vielmehr von Mittelschulwesen) und seiner Organisation.
Was man sonst als Gymnasium bezeichnet, zerfällt in Bayern in Lateinschule
und Gymnasium; jene umfaßt die drei untersten, dieses die sechs obern Klassen,
die man bezeichnet als 1. bis 6. Gymnasialklasse. Die lateinischen Be¬
zeichnungen Sexta bis Prima kennt man also in Bayern nicht. Abweichend
ist auch die Rangstufenbezeichnung der Lehrer: dem preußischen Hilfslehrer
entspricht der Gymnasialassistent, dem (frühern) ordentlichen Lehrer der Studien¬
lehrer, dem Oberlehrer der Professor. Manches ist auch für den Nichtbayern
geradezu unverständlich. So erhielt ich einmal auf der Staatsbibliothek einen
Bestellzettel zurück mit der Bemerkung, das Buch sei beim — Staatskonkurs.
Als ich verwundert einen Bekannten fragte, was das zu bedeuten habe, und
ab Bayern bankerott sei, gab er mir die bezeichnende Erklärung, daß das Wort
soviel bedeute wie Staatsexamen!
Hand in Hand mit dem Partikularismus geht der Klerikalismus. Ist
auch München als Gemeinde ganz in liberalen Händen — das Wort ohne
den Übeln Beigeschmack, den es im Norden hat —, so merkt man doch bald,
daß man in einer katholischen Stadt ist. Mit der tyrannischen Macht der
Kirche im öffentlichen Leben ist es freilich für immer vorbei, und nur mit
Erstaunen vernimmt man, daß sich noch bis vor etwas mehr als hundert
Jahren kein Protestant in München niederlassen durfte, eine Folge des Zwanges,
den im achtzehnten Jahrhundert die Jesuiten ausübten. Leider hat aber noch
jetzt in einem so hoch entwickelten Schulwesen wie dem Münchner der Klerus
den ganzen Religionsunterricht in Händen; sowohl in den Volksschulen wie
in den Gymnasien wird er nur von Priestern erteilt. Dieses Privileg hat
man der Kirche bisher noch nicht entreißen können, ebensowenig wie es ge¬
lungen ist, die Einführung der Feuerbestattung durchzusetzen, obwohl der
Münchner Feuerbestattungsverein relativ der größte in Deutschland ist (3000 Mit¬
glieder). Hierin zieht Bayern mit dem sonst so verhaßten Preußen an einem
Strange.
ente habe ich alles wieder gesehen, alles, wonach ich mich lange
sehnte, und von dem ich träumte.
Die kleine Stadt, in der ich meine ersten Kinderjahre verbrachte,
!den schiefen Kirchturm, von dem die Glocken so besonders klingen,
und den kleinen Friedhof, auf dem die Menschen Platz finden, die
> sich nicht zur römisch-katholischen Kirche halten.
Harald hat sich sehr gewundert. Er hat die Ranken von den Grabsteinen
weggeschnitten und dann die Namen gelesen.
Annaluise Pankow, geborne von Falkenberg, und Harald Pankow.
Mutterlieb, das sind ja unsre Namen, rief er. Du heißest Annaluise, und ich
Harald, und du bist eine geborne Pankow.
Es sind meine Eltern, die hier ihre Ruhestätte haben, belehrte ich ihn. Sie
finde beide jung gestorben.
Meine Stimme klingt ruhig. Als ob das, was ich hier sage, mich nichts an¬
ginge. Und dennoch habe ich oft mein Herzblut verweint nach dem sanften, milden
Vater, der hier unter Ranken und Dornen schläft.
Die Amseln singen kurz und süß, von der Stadt her läuten die Glocken.
Mein Junge kletterte auf die Mauer, die den großen katholischen Kirchhof
von diesem armen Eckchen trennt. Er blickte auf den großen Cruciferus, der seine
Arme weit über die Welt streckt, auch zu uns her; er betrachtete die kleinen
Täubchen, die auf den Kindergräbern aus der Erde wuchsen, die häßlichen Perl¬
kränze, die der Wind leise hin und her bewegte; dann horchte er wieder auf den
Amselschlag und sah einem Falter nach, der von unsern Gräbern zu den andern
schwebte. Ich aber blickte auf die kleine Stadt, die da unten zwischen den Bergen
lag. Es ruht so oft wie ein Schleier auf ihr. Das sind vielleicht die Rauch¬
wolken, die aus den Essen steigen, und bei deren Feuer die Abendsuppen gekocht
werden. Ich aber hasse es, an solche Prosa zu denken. Für mich sind diese
grauen Schleier der Vorhang über allem Geheimnisvoller, Zarten, das in jedes
Menschen Brust ruht. Solch ein Städtchen hat sein Geheimnis wie jede Seele.
Viel hat es gesehen und erlebt, aber es Plaudert nichts aus. Schweigend liegt
es zwischen den runden Kuppeln der Eifelberge; und selbst wenn der Teufel einmal
wieder zu ihm käme, wie in alten Zeiten, es würde seinen Mund nicht auftun.
Ja, einstmals ist der Teufel über Virneburg dahlngefahren und hat den Kirchturm
ausreißen wollen. Es ist ihm aber nicht geglückt; nur schief ist das Türmchen ge¬
worden und also eine Art Sehenswürdigkeit. Nur der Teufel tat sich weh. Die
Hand verrenkte er sich, und in den Eifelwäldern hat es hinterher viel Stöhnen
und Geschrei gegeben. Bis der Teufel wieder gesund war und anderswo sein
Unheil versuchte.
Glaubst du die Geschichte, Mutterlieb? Harald und ich gingen vom Friedhof
zur Stadt hinunter, und ich erzählte ihm vom Teufel. Auch wie er sich doch
manchmal wieder nach Virneburg wagte.
Mein Junge macht dann so versonnene Augen und horcht mir zu, als wollte
er mir die Worte von den Lippen nehmen.
Es ist eine Sage, Harald. Du weißt, Sagen sind Geschichten, die man nicht
gerade zu glauben braucht, die —
Hier stockte ich. Wie ich immer zu tun pflege, wenn meine Rede einen schul¬
meisterlichen Anstrich erhält. Außerdem weiß ich nicht so recht weiter und freue
mich, daß Walter, mein Ehemann, sichtbar wird. Ist er nicht gerade ordentlicher
Professor geworden und muß alles wissen? Der Ordinarius hat lange genug
auf sich warten lassen. Da war ein alter Vorgänger, der nicht abgehn und auch
nicht sterben wollte. Nun hat er sich zu dem ersten entschlossen, und Walter Wein¬
berg ist an seine Stelle getreten.
Also ich überantwortete Harald meinem guten Manne, ließ die beiden zum
Gasthaus am Markt gehn und wanderte selbst eine schmale Gasse hinunter, die
ich seit mehr als zwanzig Jahren nicht gegangen war. Und ich entsann mich ihrer
doch noch so gut, als ich weinend und im elenden, schwarzen Kleide von der Frau
Bäckermeisterin in ihr Haus geführt wurde. Mein Vater war meiner Mutter im
Tode gefolgt, und ich sollte nicht allein in dem kahlen Zimmer bleiben, in dessen
Mitte ein Sarg stand.
Die Straße hat nicht viel Änderung erfahren. An dem einen Hause steht
noch die Mutter Gottes mit dem Jesukindlein aus Porzellan auf dem Arm. Das
Kindlein habe ich damals sehr bewundert und hätte so gern damit gespielt. Das
aber ging nicht an. Nur aus der Ferne durfte ich es anstaunen.
Und der Florian vor dem Wolladen war auch noch da, und die heilige Anna,
die den Mädchen zum Manne verhilft. Vor ihrem kleinen Schrein lagen heute
ganz frische Blumen. Sind sie ihr von einer dankbaren Seele gebracht worden,
oder von einer, die das Hoffen nicht lassen kann?
Am Ende der Straße liegt der Laden mit der goldnen Brezel davor, und
in ihm hantiert eine starke Frau. Sie hat Silberfäden im Haar und ein freundlich¬
ruhiges Gesicht.
Ich erkannte sie gleich. Sie ist alt geworden, aber ihre gütigen Augen sind
dieselben geblieben.
Es war niemand außer ihr im Laden, und ich trat ein.
Frau Bäckermeisterin, ich bin Anneli Pankow, und ich muß Ihnen die Hand
drücken. Sie sind damals so gut mit mir gewesen, so sehr gut —
Die Frau ließ mir die Hand; aber ihr freundliches Gesicht wurde verlegen.
Anneli Pankow? Ich weiß doch nit!
Dann fiel es ihr ein.
Ach, das klein Dingelchen, wo die Mutter sterben mußt, und der Vater auch!
Jesus Maria Josepp! so ein armes Kind. Wie gehts Ihnen denn?
Ich saß mit ihr in der kleinen Hinterstube des Ladens und erzählte von
mir. Wie ich verheiratet wäre, und es mir gut ginge. Aber ich hätte sie nicht
vergessen. Ihre Güte, ihren „Platz"*), ihre Trostworte. Ich sprach verworren;
aber sie hörte mir freundlich zu, sah mit ihren klaren Augen in mein Gesicht und
wiederholte immer wieder:
El, da freue ich mich!
Es war ein hübsches Wiedersehen. Die Frau so einfach würdig, ohne falsche
Bescheidenheit, innerlich frei von allen Äußerlichkeiten. Ohne sie wäre das arme
verwahrloste Kind vielleicht verkommen; davon aber sagte sie kein Wort. Sie
freute sich nur, daß ich an sie dachte. Sie hatte mich halb vergessen: nach mir
waren Wohl andre gekommen, denen sie helfen mußte, denn sie hatte eine offne
Hand, und jedermann wußte es. Aber daß ich kam und sie nicht vergessen hatte,
freute sie.
Als ich nachher von der Frau Bäckermeisterin wegging, mußte ich an dieses Vers¬
lein denken. Meine damalige Wohltäterin kennt den Spruch nicht; aber sie handelt
danach. Morgen will ich sie noch einmal besuchen und mich dann umsehen, was
ich ihr schenken konnte. Eine Freude muß ich ihr doch machen; schon deswegen,
damit sie Anneli Pankow nicht wieder vergißt. Walter und Harald hatten sich
unterdessen gezankt. Sie tun es oft, wenn sie allein sind, und es kommt vom
Lateinischen. Walter ist immer so ein Musterknabe gewesen: Primus in allen
Klassen, und die alten Sprachen sind ihm nicht schwer geworden. Daß sein Sohn
jetzt Mühe hat, die Sprache der alten Römer zu begreifen, ist ihm unfaßlich.
Harald ist eben mein Sohn. Er hat meine Augen, mein Haar, meine träumerische
Art, meine Anfälle von Faulheit. Walter ist entrüstet, wenn ich mich faul nenne;
er sagt, daß ich eine tätige, sparsame Hausfrau wäre, und daß es für mich über¬
flüssig sei, den ernsten Wissenschaften Gedanken zu widmen. Aber ich habe nie
gern lernen mögen. Schon damals nicht, als Onkel Willi mich zur Strafe fran¬
zösische Vokabeln und Gesangbuchverse lernen ließ, und ich lieber den kleinen Vögeln
lauschte oder meinen eignen versonnenen Gedanken nachhing. Männer sind ein
wunderliches Geschlecht. Walter haßt es, wenn ich meine Fehler bekenne. Nach
seiner Ansicht habe ich keine, weil ich seine Frau bin. Aber mein Junge, der auch
sein Kind ist, sitzt voll von denselben Fehlern, und der Vater sieht sie mit einer
gewissen Erbarmungslosigkeit.
Als ich also in den Gasthof kam, war Walter verstimmt, und Harald sollte
gerade zu Bett geschickt werden. Um sieben Uhr, an einem warmen Augustabend,
wo der Mond langsam über den Bergen aufging, und eine träumerisch-weiche Luft
die Stadt einhüllte.
Ich sagte einige begütigende Worte; da erlaubte Walter, daß der Junge noch
ein Weilchen neben uns vor der Tür sitzen durfte. Der arme Schelm hatte Tränen
in den Augen und eine belegte Stimme. Alles von wegen einer lateinischen Regel,
die er als Sextaner hätte wissen müssen und nicht wußte. Auf dem Marktplatz
plätscherte ein Brünnlein, und die Leute saßen auf seinem steinernen Rand, unter¬
hielten und neckten sich. Neben uns hatten ein paar Handlungsreisende Platz ge¬
nommen, die sich abgestandne Witze erzählten und dabei so herzlich lachten, daß man
mitlachen mußte. Und dann sang eine junge Stimme irgendein Volkslied.
Solche Stunden liebe ich. Wenn nichts von mir verlangt wird, wenn ich
still sitzen und auf das horchen darf, was um mich hergeht, wenn mein Junge
seine Hand in die meine schiebt, und wenn mein Mann durch seine stille Gegen¬
wart mir sagt, daß auch er nicht mehr unzufrieden ist mit der Welt.
Aber diese Stunden dauern niemals lange. Gerade als wir prosaisch wurden
und vom Abendbrot sprachen, stürzte Bernb Falkenberg auf mich zu und schüttelte
mir die Hand, als sollte sie abfliegen.
Bernb Falkenburg ist mein richtiger Vetter. Sein Vater und meine arme
Mutter, die hier auf dem Friedhof schläft, sind Geschwister gewesen. Meine Mutter
war ein eigenwilliges Kind. Sie lief mit einem armen Studenten, Harald Pankow,
davon, heiratete ihn und ist dann jung und im Elend gestorben. Wenige Monate
vor meinem Vater, der in dieser Stadt als Advokatenschreiber sein Leben fristete,
bis es aufhörte.
Für die Freiherren von Falkenberg war diese Verwandtschaft nicht gerade er¬
hebend, und zuerst haben sie sich auch wohl nur ungern um mich bekümmert.
Meines Vaters älterer Bruder, Willi Pankow. nahm mich vorläufig zu sich, war
gut zu mir in seiner stillen, verträumten Art und hatte zuerst gewiß die Absicht,
mich immer bei sich zu behalten. Aber daraus ist dann doch nichts geworden. Wie
es gekommen ist. weiß ich nicht mehr; aber Onkel Willi entdeckte plötzlich, daß er ein
Dichter und Schriftsteller war, und hat sich als solcher einen Namen gemacht.
Damals, als der innere Ruf an ihn erging, ist er aus dem alten Schloß
gezogen, worin man ihm eine Freiwohnung gewährte; mich aber nahmen die Falken¬
bergs auf ihr Gut Falkenhorst, und mit Bernb, dem einzigen Sohn und Erben,
habe ich auch immer wie mit meinem Bruder gestanden.
Bernb hat eine Pensionsfreundin von mir geheiratet: Doraline, Freifräulein
von Degen. Wir nannten sie Dolly Degen, und wir lachten oft über sie, weil sie
so hochmütig war und auch etwas dumm. Meine wirkliche Freundin, Bodild Rosen,
und ich hielten uns selbst für sehr viel klüger als Dolly. Aber vielleicht ist sie
doch nicht so dumm gewesen; denn jetzt macht sie einen recht verständigen Eindruck,
und die Unterhaltung über Stammbaum und Ahnen, die sie einst so liebte, wird
nicht mehr geführt. Walter sagt, Dolly mußte erzogen werden, und das Leben hat
diesen Auftrag besorgt.
Ach ja, sie tut mir bitterlich leid! Zwei Jungen hatte sie, und die sind ihr
beide an der Diphtherttis gestorben. Nun ist ihr nur ein kleines schwächliches,
weinerliches Mädchen verblieben, und die Aussichten auf einen andern Erben sollen
gering sein.
Vielleicht kommt es davon, daß Dolly jetzt immer verstimmt ist und keine
rechte Freude mehr am Leben hat. Aber sie vergißt dabei ihren Mann, der es
auch nötig hat, gut behandelt zu werden. So ein armer Kerl will doch auch noch
seine Freude haben nach all dem Leid.
Bernb hat sich in den Reichstag wählen lassen, um nicht immer auf Falken¬
horst zu sitzen; und wenn es ihm im Sommer zu langweilig wird mit Dolly oder
Lila, dann reist er umher, hält Reden in irgendeinem Verein und studiert Land
und Leute andrer Gegenden. So war er denn dieses Jahr mit Frau und Tochter
in die Eifel gekommen, und in der kleinen, hinter der großen gelegnen Gaststube
saßen wir zusammen, tranken Bernkastler Doktor, aßen Forellen und Kramtsvögel
dazu und plauderten von alten und von neuen Zeiten.
Walter war ehemals Bernds Lehrer; deshalb kennen sich die zwei so gut und
haben sich immer viel zu sagen. Jetzt steckten sie auch gleich die Köpfe zusammen
und tauschten ihre politischen Ansichten aus. Bernb ist konservativ; Walter etwas
nach links; das geht gut zusammen, und sie werden sich nicht langweilig. Dolly
nahm mich natürlich gleich in Beschlag, und Harald mußte Lila unterhalten. Er
tat es nicht gern; kleine Mädchen sind ihm oft sehr langweilig, und wenn ich ihm
rührend vorzustellen suche, daß seine Mutter ebenfalls ein kleines Mädchen war,
dann wird er nicht bewegt.
Dich hätte ich schon gern gehabt, Mutterlieb, erklärt er. Aber die andern
Mädchen sind mich!
Ich weiß gar nicht, was „mich" ist; aber wenn ich mir heute abend Lila
betrachtete, ein kleines blasses Ding mit roten Augen, dann konnte ich mir ungefähr
denken, was er meinte. Die zwei Kinder ließ ich aber doch miteinander fertig zu
werden versuchen und horchte auf Dolly Degen und ihre vielen Klagen. Es ist
wirklich schade, Dolly hat regelrecht Jagd auf meinen Vetter Bernb gemacht; jetzt,
wo sie ihn hat, ist sie nicht zufrieden.
Ach, Anneli, das Leben ist doch schwer! seufzte sie. Bist du eigentlich ganz
zufrieden?
Ganz zufrieden? Ich wiederholte das Wort und stutzte ein wenig. War ich
ganz zufrieden?
Dolly sprach schon weiter.
Ich habe mir den Ehestand ganz anders vorgestellt. Viel lustiger und mit
viel mehr Freuden. Aber Bernb spricht nur von meinen Pflichten. Auf dem
Lande ist auch immer soviel zu tun; und man hat beständig Verdruß mit den
Leuten. Und dann die Schlachtereien und die Weihnachtsschenkerei. Und dann
Litas Gouvernanten, die sich nicht mit dem Kinde stellen können. Und dann meine
eigne schlechte Gesundheit. Eigentlich müßte ich auf ein Jahr mal ganz heraus;
aber Bernb sagt, dazu habe er kein Geld; dabei geht er ein paarmal im Jahre
nach Berlin. Ach ja, der Ehestand ist nicht so, wie man sich ihn in der
Pension denkt!
Ich habe mir damals eigentlich gar nichts gedacht, erwiderte ich.
Nein, du machtest nicht viel Pläne; aber weißt du nicht, was Bodild Rosen
alles vom Ehestande verlangte? Eine Fürstenkrone zum wenigsten und einen schönen
dunkeln Mann dazu. Eine Fürstenkrone hat sie allerdings erhalten; aber der alte
Fürst Monreal, dessen Gemahlin sie geworden ist, ist alt und immer krank. Weshalb
sie den genommen hat, ist mir ein Rätsel. Aber vielleicht wollte sie von zu Haus
weg, wo sich ihr Bruder mit einer reichen Amerikanerin vermählt hatte. Die Stellung
als Hofdame verlor sie ja nach dem Tode der Großherzogin-Mutter. Aber ich möchte
Bodild gern einmal wiedersehn. Weißt du noch, damals in Luzern, wo wir als
Pensionskinder deinen Onkel Willi besuchten, wie sich Bodild in ihn verliebte?
Sie hätte ihn vom Fleck weg geheiratet, wenn er gewollt hätte. Aber er sah den
Unsinn ein und ließ sie abreisen. Er war eigentlich ein reizender Herr, und ich
denke noch oft an ihn. Schreibt er noch viel? Sein Name wird kaum mehr genannt.
Ich wollte antworten, daß Onkel Willi, soviel ich wußte, nur seiner stillen
Beschaulichkeit lebte, als Bernb meinen Namen rief.
Anneli, so höre doch auch gefälligst, wenn ich mit dir reden will! Ich soll
dir einen schönen Gruß von Fred Roland bestellen, du erinnerst dich doch noch
seiner? Er paukte mich zum Abiturium ein und besuchte mich damals in Luzern.
Damals, als sich Doktor Weinberg hoffnungslos in dich verliebte!
Walter lachte und sah mich freundlich an.
Aber Anneli Pankow verliebte sich nicht in den armen Doktor Weinberg.
Ich war zu jung zu solchen Dingen, entgegnete ich.
Von der Liebe wollte ich auch nicht reden, fuhr mein Vetter fort. Von Fred
Roland, der lange schon Doktor der Medizin und der Chirurgie ist. und der jetzt
nach Bärenburg ziehn wird, um eine kleine Privatklinik zu übernehmen. Sehr gut
scheint es ihm bis dahin nicht ergangen zu sein. Er hat schrecklich früh geheiratet,
hat drei Töchter und muß streben, um weiterzukommen. Er freut sich, euch zwei
Weinbergs in Bärenburg zu treffen.
Wo haben Sie ihn gesehn? fragte mein Mann.
Hier irgendwo in der Eifel. Er lief mit dem Rucksack umher und wollte sich
erholen. Hat irgendwo eine Hoheit zu Tode gepflegt und dabei eine Bekanntschaft
gemacht, die es ihm ermöglicht, die Klinik zu übernehmen. Man sieht ihm den
Tatendurst am Gesicht an, aber bis dahin scheint er nur zum unsteten Wandern,
zum ewigen Wohnortswechsel geführt zu haben.
Die kleine Privatklinik ist ehemals gut gewesen, erzählte mein Mann. Aber
dann übernahm sie ein Arzt, dessen Frau nichts von der Hauswirtschaft verstand.
Da ist denn das Ganze heruntergekommen. Hoffentlich ist die Doktorin Roland
eine gute Hausfrau?
Bernb zuckte die Achseln. Davon weiß ich natürlich nichts. Sie ist eine
Pastorentochter aus der Kleinstadt, in der auch Anneli einen Teil ihrer Kindheit
verlebte, und sie heißt Rosa. Weißt du noch, Anneli, daß unsre alte Teckelhündin
auf Falkenhorst ebenfalls Rosa hieß? Sie hatte, wenn ich nicht irre, vierundvierzig
Kinder, und eins davon hieß Cäsar. Und dieser Cäsar —
.
Morgen wollen wir weiter plaudern. Bernb. Ich bin sehr müde, und mein
Junge ist schon mehr bewußtlos.
So trennten wir uns also, trotz Bernds Sträuben. Aber mein Mann war es
auch zufrieden. Er ist denn auch sofort eingeschlafen, und Harald hatte ich im
Nebenzimmerchen kaum aufs Bett gelegt, als er schon friedlich atmete.
Nur ich habe noch lange das Wasser des alten Brunnens rauschen hören.
Fred Roland ist meine Jugendliebe gewesen. Damals, als ich auf dem Schloß
bei Onkel Willi wohnte, und Fred mein Freund, mein Ideal war. Er war ein
hübscher Junge mit herrischen Angen und Bewegungen, ganz anders als seine
Mutter, die demütig ihre Straße ging. Sie arbeitete Hauben und Hüte für die
Bewohnerinnen der kleinen Stadt, und wenn sie sich auch Frau nannte, so war
dieser Titel ihr weder durch Standesamt noch Kirche verbrieft und versiegelt.
Damals habe ich Frau Roland sehr lieb gehabt; und ich würde sie noch lieben.
Sie hatte Verständnis für das einsame Kind mit seinem Liebesbedürfnis, und man
mußte zu ihr Vertrauen haben.
Fred liebte seine Mutter über alle Maßen; ich merkte es. als ich in ihrem
Hause krank war. Denn einmal, an einem bösen Wintertage, brach ich ans dem Eis
ein und wäre ertrunken, wenn nicht Fred mich gerettet hätte. Damals brachte er
mich zu seiner Mutter; und in dem kleinen behaglichen Wohnzimmerchcn bin ich
wieder zurechtgepflegt worden.
War es von der Zeit her, daß ich mir einbildete, Fred Roland müßte eines
Tages kommen und mich zu seiner Frau machen? Ich weiß es nicht mehr. Nach
meinem Unfall kam ich bald zu den Falkenbergs, lernte mich beherrschen und be¬
nehmen, wurde aus einem Wildfang ein ganz gewöhnlicher Backfisch und bildete
mir bald ein, sehr vornehm heiraten zu müssen. Aber als ich dann Fred in Luzern
wiedersah, wo ich mit meinen Pensionsfreundinnen Onkel Willi besuchte, da hoffte,
da wünschte ich — Es war ein Irrtum. Fred, der eben erst Student war, hatte
sich schon gebunden. Er vertraute mir um, daß er sich mit Pfarrers Röschen
verlobt habe.
Von meiner Kindheit her kannte ich das Röschen. Sie war blond und sanft
und immer artig. Sie war zwei Jahre älter als Fred und hatte ihn sich sanft
auf einem Abiturientenball erobert.
Von diesem Bekenntnis starb ich natürlich nicht, weiß auch nicht, ob ich zum
Sterben unglücklich war. Aber ich weiß doch, daß die Welt, selbst die lachende
Schweiz, für mich nicht mehr so strahlend lächelte. Damals war es, daß Bodild
Rosen, meine Herzensfreundin, ebenfalls ihren ersten Schmerz erduldete, sie hatte
sich in meinen Onkel, den fast sechzigjährigen Mann verliebt und wollte ihn
heiraten, um ihn zu pflegen. Er aber war zu edel und verstündig, dieses Opfer
anzunehmen. So haben wir Jungen zu der Zeit alle unsre Schmerzen gehabt, denn
auch Bernb begann der Liebe Gluten zu empfinden und ließ sich von Onkels Haus¬
fräulein beinahe dingfest machen. Diese Sache ging bald vorüber; aber es war
immerhin ein Erlebnis, über das Bernb gelegentlich noch spricht. Die einzige, die
nichts erlebte, war Dolly Degen. Dafür hat sie dann jetzt den Majoratsherrn von
Falkenhorst geheiratet und seufzt über die Enttäuschungen des Ehestandes.
Und ich? Nun, ich habe meinen guten Walter und meinen heißgeliebten Jungen.
Walter hat mich immer sehr geliebt, vielleicht zu sehr; aber er kann nicht anders.
Seine Natur ist weich; er muß lieben. Nur beim Lateinischen wird er hart. Mein
armer Harald, was soll doch aus dir werden, wenn du keine Neigung verspürst,
Professor und ein gelehrtes Haus zu werden!
Wir werden noch zwei Tage in Virneburg bleiben. Walter hat entdeckt, daß
sich hier in der Nähe eine römische Niederlassung befindet, an der jetzt Ausgrabungen
gemacht werden. Ein Steuerbeamter, der sich für diese Sachen interessiert, hat sich
erboten, ihn zu begleiten, und beide Herren sind schon in der Frühe abmarschiert.
Harald sollte eigentlich mit; aber ich habe ihn frei gebeten. Er soll mit mir durch
die alten, engen Gassen zur Frau Bäckermeisterin gehn, und wir wollen zwei Kränze
aus Rosen auf meine Gräber legen, und dann will ich ihm von meinen Eltern
erzählen, die alten Geschichten, die er lange weiß, und die er immer wieder anhört.
Daß sie arm, krank und einsam waren, daß sie nun friedlich schlafen, und daß sie
weiter leben im Herzen ihrer Tochter.
Ja, Sie Habens besser als die armen Verstorbnen! sagte nachher die Frau
Bäckermeisterin zu mir. Da saßen wir zusammen in dem kleinen Hinterstübchen,
und sie hatte mir erzählt, wie alles gewesen war. Armut, Krankheit, Tod und zu
allem das Leid, das Unglück selbst verschuldet zu haben. Die junge Frau war so
eigenwillig gewesen; sie wollte nicht warten, bis der Mann Amt und Brot hatte,
sie heiratete ihn, den Eltern zum Trotz.
Ach, ich kannte die Geschichte. Sie war mir auf Falkenhorst noch deutlicher
berichtet worden als hier in der behutsamen Sprechart der Frau Bäckermeisterin.
Aber ich mochte sie doch nicht hören. Unsre Eltern dürfen keine Fehler haben; unser
Gefühl sträubt sich gegen diesen Gedanken. Die Bäckermeisterin sah mich an und
legte dann leicht ihre verarbeitete Hand auf die meine.
Der Herrgott und der Heiland nehmen alle Sünd weg! sagte sie tröstend.
Danach gingen Harald und ich auf den Kirchhof. Er trug die Kränze, und ich
schritt in Gedanken, bis mein Junge mich am Arme zupfte.
Mutterlieb, die Frau Bäckermeisterin hab ich gern! Wenn ich einmal in Not
sein werde, dann gehe ich zu der!
Hoffentlich wirst du niemals in Not kommen, Harald!
Man kanns nicht wissen, Mutter. Die Not kommt schnell; Lila sagts auch.
Sie sagt, kaum ist die eine Gouvernante aus dem Hause, dann kommt die andre
hinterdrein, und bei jeder gibts eine neue Rede von Tante Dolly.
Lila sollte sich recht Mühe mit dem Lernen geben, sagte ich. Als Kind habe
ich es gehaßt, wenn die Erwachsen solche weise Sätze zu mir sprachen; aber jetzt
greife auch ich zu diesem Mittel. Kinder verlangen eine kleine Dosis Moral, über
die sie nachdenken können.
Lila möchte auch wohl lernen; aber sie sagt, es ist mühsam. Und Mühe mag
sie sich nicht geben.
An uns vorüber zieht ein alter Gaul einen mit Steinen beladnen Karren bergan.
Der Treiber geht lässig nebenher, knallt mit der Peitsche und flucht.
Da legt mein Junge seine Kränze auf den Karren und schiebt hinterher, daß
er dem Pferd die Arbeit erleichtere. Es gelingt ihm nicht, die Ladung ist zu
schwer; aber der Treiber schämt sich plötzlich, ruft nicht mehr Hott und hüb. sondern
stemmt sich in die Räder. Und dabei lacht er und schlägt Harald ermunternd und
zufrieden auf den Rücken.
Wir standen nachher auf dem Kirchhof, legten die Kränze auf ihre Plätze und
sahen wieder in den Sonnenschein und auf die stillen Berge. Der alte müde Gaul
war seine Straße weitergezogen, und sein Treiber half ihm nach, aus der Ferne
konnten wir es sehn. Ich aber dachte, ob meine Eltern mich geliebt hätten, wie
ich meinen Knaben liebe. Wie entsetzlich schwer muß es ihnen geworden sein, ihr
Kind einsam zurückzulassen.
Ach, wir wissen nicht, wieviel Leid die Welt schon trug! Und wieviel sie
Wetter tragen muß!
(Fortsetzung folgt)
Zwischen König Eduard von England und Kaiser Nikolaus von Rußland sind
bei der Zusammenkunft in Reval Trinksprüche gewechselt worden, die in den Wein
der Kombinationspolitiker und Propheten des neuen Dreibunds viel Wasser geschüttet
haben. Zugleich hat auch die ernsthafte politische Presse der beiden nächstbeteiligten
Länder nach Möglichkeit das Ihrige getan, um zu versichern, daß die Zusammenkunft
von Reval der Erhaltung des Weltfriedens dienen solle und keine Spitze gegen
irgendeine dritte Macht kehre. In Rußland hat die Rossija besonders die Hetzereien
der russischen Presse gegen Deutschland scharf verurteilt, und in England hat sogar
die konservative Presse, die sonst uns gegenüber gern eine kühle und mißtrauische
Haltung bewahrt, mit bemerkenswerter Offenheit erklärt, es falle England gar nicht
ein, sich durch die allerdings wertvolle und hochgeschätzte Freundschaft mit Frankreich
in einen Krieg gegen Deutschland hineinsetzen zu lassen.
Nun wird natürlich ein großer Staat seine politischen Maßnahmen und seine
Auffassung der Weltlage niemals auf Trinksprüchen und Preßstimmen aufbauen können,
selbst wenn ihnen die Umstände ein besondres Gewicht verleihen. Nur kühle, sachliche
Prüfung aller realen Verhältnisse und Interessen, auch solcher, die nicht an der
Oberfläche sichtbar sind, kann eine zuverlässige Unterlage des Urteils geben. Aber
es ist doch unter den gegebnen Umständen nicht ohne Vedeutnng, daß die dreisten
Versuche deutschfeindlicher Strömungen, die gegenwärtige Lage offen in ihrem Sinne
auszunutzen, ebenso offen und klar zurückgewiesen werden. Wäre das nämlich nicht
ausdrücklich geschehen, so hätten zum mindesten in Frankreich die Treibereien des
revanchelustigen Chauvinismus sehr leicht eine Ausdehnung gewinnen können, die
alle Berechnungen besonnener Politiker über den Haufen geworfen hätte. Man muß
wissen, daß sich kaum jemals seit der Zeit des diuo' KWörs,! auch ernsthafte fran¬
zösische Blätter in der Bekundung ihrer Feindschaft gegen uns so sehr haben gehn
lassen wie jetzt. Eine kühle Dusche war darum sehr notwendig, und es war gut,
daß sie ohne Zutun Deutschlands von englischer und russischer Seite kam.
Die politische Bedeutung des Besuches von König Eduard in Reval ist
natürlich von niemand bezweifelt worden; die Trinksprüche haben es außerdem
öffentlich bestätigt, daß es sich um ganz bestimmte Besprechungen und Abmachungen
handelte. Auch das ist kein Geheimnis, daß diese Verständigung an das schon
bestehende englisch-russische Abkommen anknüpfte. Es sind also die Verhältnisse in
Mittelasien und im nahen Orient zur Sprache gekommen. Nahe genug lag die
Gefahr, daß die Lage in Persien trotz dem englisch-russischen Abkommen einen
Konflikt zwischen beiden Mächten herbeiführte. Die innern Wirren, denen das
persische Reich jetzt preisgegeben ist, und die durch das Experiment einer Verfassung
in diesem an den Folgen von Willkürherrschaft und Mißwirtschaft so tief darnieder¬
liegenden Lande eher ermutigt als beschwichtigt wordeu sind, spielen sich vornehmlich
in dem Gebiete ab, in dem England das Überwiegen des russischen Einflusses als
berechtigt anerkannt hat, aber doch immer unter der Voraussetzung, daß die Un¬
abhängigkeit des Schäds geachtet wird. Nun hat der böse Zwischenfall an der
russisch-persischen Grenze, der Überfall einer russischen Militärpatrouille auf russischem
Gebiete durch persische Räuber, wobei unter andern der führende russische Offizier
getötet wurde, vor einiger Zeit eine neue Verwicklung geschaffen, die das Ein¬
schreiten Rußlands und die Stellung eines Ultimatums an Persien veranlaßte. Ob
aber die neuen russisch-englischen Abmachungen den Erschütterungen standhalten
würden, die ein kriegerisches Vorgehn Rußlands gegen Persien vielleicht nach sich
ziehen würde, das konnte doch bei allen guten Absichten auf beiden Seiten zweifel¬
haft erscheinen, und so hat man mit Freuden die sich bietende gute Gelegenheit
ergriffen, um durch die Besprechungen in Reval diesen Konfliktstoff rechtzeitig aus
der Welt zu schaffen. Daß über den besondern Inhalt dieser Verständigung nichts
verlautet, ist selbstverständlich. Man wird vielleicht erst aus den Ereignissen selbst
gewisse Schlüsse ziehen können.
Noch weniger kann vorläufig über die Ergebnisse der Revaler Besprechungen,
soweit sie die mazedonische Frage betrafen, gesagt werden. Jedenfalls werden
England und Rußland über bestimmte Vorschläge einig geworden sein, mit denen
sie wohl sehr bald an die Öffentlichkeit treten werden. In welcher Form dieses
geschieht, muß abgewartet werden. Haben die Abmachungen den friedlichen und
loyalen Charakter, den man nach den Revaler Trinksprüchen und sonstigen ma߬
gebenden Veröffentlichungen zu erwarten berechtigt wäre, so werden sich England
und Rußland mit den andern Großmächten ins Einvernehmen setzen. Aber über
Form und Verlauf dieser Verhandlungen läßt sich offenbar nichts voraussagen, nicht
einmal von denen, die den Inhalt der in Reval gepflognen vertraulichen Gespräche
genau kennen.
Von dem Verlauf der Ereignisse in den bestimmten, gegenwärtig schwebenden
Fragen, die wir hier erwähnt haben, wird es abhängen, wie sich die politischen
Folgen der Revaler Zusammenkunft weiter gestalten. Wir haben oft genug fest¬
gestellt, daß die Richtung der englischen Politik, die ihre letzte Betätigung in Reval
gefunden hat, die natürliche Folgerung aus der politischen Lage Englands ist und
durchaus keine Spitze gegen Deutschland zu kehren braucht, daß es deshalb weder
zweckmäßig noch unser würdig ist, wenn die Sprachrohre unsrer öffentlichen Meinung
aus einem oberflächlichen Eindruck heraus alles, was von Angstmeierei, Nervosität
und Nörgelsucht bei uns vorhanden ist, zusammenrufen, und ohne auch nur einiger¬
maßen ausreichend orientiert zu sein, die Leitung unsrer auswärtigen Politik öffent¬
lich der Unfähigkeit zeihen. Wenn als Scheinbeweis für die Berechtigung solcher
Ausfassung triumphierend die Frage gestellt wird, warum denn Deutschland die
einzige Großmacht sei, mit der England neuerdings keine besondern politischen Ab¬
machungen — das Nordseeabkommen zählt hier wohl nicht mit — getroffen habe,
so kann man die Antwort darauf sehr kurz und prägnant fassen: „Weil Deutschland
weder Mittelmeermacht noch asiatische Macht ist." Deutschland ist gar nicht in der
Lage, mit England einen Vertrag abzuschließen, der direkt zur Sicherung der Stellung
Englands in Indien oder auf dem Wege nach Indien dienen könnte. Das ist
aber gerade das, was für die weltpolitischen Maßnahmen Englands entscheidend ist.
Andrerseits haben wir wiederholt betont, daß diese Politik Englands aller¬
dings, um zu ihrem Ziel zu kommen, in den verschiednen Ländern die Bundes¬
genossenschaft von Strömungen hat benutzen können, die von starker Feindseligkeit
gegen Deutschland erfüllt sind, und die, wenn auch zunächst nur aus Liebhaberei
und auf clare Verantwortung, den Traum weiterspinnen, man könne einen Ring
sämtlicher Mächte um Deutschland bilden und diese große Zentralmacht Europas
einschüchtern und niederhalten. Eine weitere Ermutigung und ein Scheinerfolg
dieser Richtungen könnte sehr wohl die Meinung unterstützen, daß die Demütigung
Deutschlands eine Frucht sei, die England bei der Verfolgung seiner Hauptziele
ganz bequem nebenbei einheimsen könne. Eine solche Ermutigung sehen wir nun
freilich darin, daß die öffentliche Meinung Deutschlands, so wie sie sich dem Aus¬
lande in der Mehrheit seiner Presse darstellt, bei jedem Schritt des Königs von
England die Rolle des Gekränkten, Geschädigten und Beiseitegeschobnen spielt und
in beständiger Verärgerung dem Auslande die Versicherung in die Ohren schreit,
unsre Diplomatie tauge gar nichts, und alles, was sie tue, sei eine Kette von Nieder¬
lagen der deutschen Politik. Es ist doch klar, daß ein Heer, das sich selbst be¬
ständig für geschlagen erklärt, zuletzt wirklich geschlagen wird. Dürfen wir uns
Wundern, wenn im Auslande die Meinung aufkommt, die verschiednen internationalen
Abmachungen der letzten Zeit könnten vielleicht doch die Einschüchterung Deutsch¬
lands gelingen lassen? Unsre Sicherheit und die Erfolge unsrer Politik beruhen
darauf, daß wir dem Auslande die Überzeugung beibringen, daß eine solche Ein¬
schüchterung schlechterdings unmöglich ist, weil wir an unsrer Rüstung ohne Unterlaß
Pflichttreu gearbeitet haben und uus darum mit einiger Ruhe auf unsre Kraft ver¬
lassen können. Um gegen eine solche gesammelte Kraft eine feindliche Koalition
zusammenzubringen und wirksam zu machen, dazu gehört eine ganz andre Einheit
der Interessen, als sie bei den an unsrer „Einkreisung" tätigen Mächten günstigsten¬
falls vorhanden sein kann. Das dem Auslande überall zum Bewußtsein zu bringen,
ist eine Aufgabe unsrer Diplomatie, die durch das törichte Geschrei unsrer eignen
Presse über angebliche Fehler in der auswärtigen Politik nur erschwert wird.
Wie schematisch und oberflächlich oft in Fragen der auswärtigen Politik sogar
von Leuten, denen man eine bessere Kenntnis zutrauen sollte, geurteilt wird, zeigt
unter anderen ein in der ganzen europäischen Presse viel beachteter Artikel der West-
minster Gazette, also eines der angesehensten Organe der jetzigen englischen Regierungs¬
partei. Der Artikel stammt von Bernard Pares, der als tüchtiger politischer Schrift¬
steller bekannt ist, und spricht die Meinung aus, die deutsche Diplomatie habe in
Rußland eine Schlacht verloren, weil dort der Übergang zum Verfassungsleben die
Liberalen an das Ruder gebracht habe, und diese sähen in Deutschland den Hort
der Reaktion. Deshalb sei das moderne Rußland, das Rußland der Zukunft, Deutsch¬
land abgeneigt und wende sich England zu, in dem es den Hort der politischen
Freiheit erkenne. Dieses Schema entspricht einem Gedankenkreise, der in der West-
minster Gazette früher schon oft in andrer Form und in anderm Zusammenhang
ausgedrückt worden ist, und der, wie jeder mit englischer Denkweise einigermaßen
vertraute zugeben wird, unter den englischen Liberalen viel Anklang findet. Es
scheint ja auch — objektiv betrachtet — sehr einleuchtend und hat, wie wir sehen
können, auch in der deutschen Presse hier und da Eindruck gemacht. Nur schade,
daß der Gedanke in dieser besondern Anwendung auf einer völligen Unkenntnis der
osteuropäische» Verhältnisse beruht. Wir Deutschen sind uns vollständig darüber klar,
daß, wenn sich jetzt Deutschland in eine demokratische Republik verwandelte, in der
auch der kritische Blick des radikalsten Engländers nicht mehr ein Stciubchen von
„Reaktion" entdecken könnte, das sogenannte liberale Rußland uns dennoch mit
derselben Abneigung beehren würde wie jetzt. Und wenn dieses neue Deutschland
mit Engländern kolonisiert würde, so würde sich die Abneigung der Russen auch auf
die Engländer übertragen, sobald sich die germanische Art der Engländer etwas
deutlicher fühlbar machte. Der Rasseninstinkt des Slawen fragt nicht nach den
politischen Freiheiten, wie sie der Germane versteht; er sträubt sich gegen die deutsche
Eigenart als solche, weil sie seinem innersten Wesen zuwider ist. Nun stehn
freilich diesen Regungen des Rassengeistes, die im einzelnen durch die weiche,
gutherzige, nicht gerade zu starker Tätigkeit hindrängende Art des russischen
Volkes gemildert werden, andre sehr stark wirkende Momente als Gegengewicht
gegenüber. Wirtschaftlicher Vorteil und Bildungsbedürfnis weisen den vorwärts¬
strebender Russen doch immer wieder auf das Deutschtum als Stützpunkt und
Bundesgenossen hin, sodaß sich das Ergebnis ungefähr dahin zusammenfassen läßt,
daß die volkstümliche Grundstimmung in Rußland immer deutschfeindlich sein wird,
daß sich aber die selbständig denkenden Elemente von einigem Verantwortungs¬
gefühl, wirklicher politischer Bildung und einiger Kenntnis in wirtschaftlichen Dingen
solange als möglich hüten werden, es zu einem wirklichen Bruch mit Deutsch¬
land kommen zu lassen. Daß diese Elemente seit dem Beginn des konstitutionellen
Lebens in Rußland etwas zurückgedrängt sind, die volkstümlichen Stimmungen mehr
Oberwasser haben, ist richtig; das hat bei uns keinen Kenner Rußlands überrascht.
Auch glauben wir gern, daß sich der russische Liberalismus gelegentlich in das Ge¬
wand einer theoretischen Schwärmerei für das ihm sonst wohl recht wesensfremde
Mutterland des Parlamentarismus kleidet. Aber wer uns glauben machen will,
daß das irgend etwas mit unsern innerpolitischen Zuständen und dem reaktionären
Charakter unsers Regiments zu tun habe, der muß uns gestatten, daß wir ihn —
auslachen. Die russischen Reaktionäre, die gegen die englandfreundliche Politik ihres
Vaterlands und die Verständigung rin England kürzlich öffentlich protestiert haben,
sind darum nicht um ein Atom freundlicher gegen uns gesinnt. Der englische
Publizist übersieht außerdem, daß gerade die Leute, denen König Eduard in Reval
die Hand gereicht hat, gar keine besonders eifrigen und begeisterten Anhänger einer
Richtung sind, die die Volksfreiheit nach englischem Muster auf russischen Boden
übertragen will. Es fällt ihnen gar nicht ein, auch nur so weit gehn zu wollen,
wie wir in Deutschland längst gegangen sind. Also die herrschende Richtung in
Rußland, auf deren Dauer und Festigkeit die englische Regierung doch Wohl ein
starkes Vertrauen setzt — denn sonst würde sie sich wohl nicht so viel Mühe ge¬
geben haben, die Einigung in eine feste Form zu bringen —, diese herrschende
Richtung gilt in ihrem eignen Lande als ziemlich reaktionär und ist es jedenfalls
in stärkeren Maße als die deutsche Regierung. Und nun kommt eine gewichtige
englische Preßstimme von der Regierungspartei und spricht öffentlich aus, daß das
Motiv der englischen Freundschaft wesentlich in der Hoffnung besteht, daß die
Freiheitsbestrebungen des russischen Liberalismus als des Trägers der Sympathien
für England weiter Boden gewinnen werden. Ob das an den leitenden Stellen
der russischen Politik sehr angenehm berühren wird? Man wird sich gewiß nicht
darüber aufregen, aber doch bei sich denken, daß eine auswärtige Macht, die mit
Rußland zusammen Politik machen will, ihre Wünsche nicht von der Gestaltung der
innern Angelegenheiten Rußlands abhängig machen, sondern lieber auf dem Boden
der gemeinsamen realen Interessen bleiben sollte. Von uns aber wird man nicht
verlangen dürfen, daß uns solche Betrachtungen imponieren.
Die große Politik nimmt jetzt, wie es nach dem Schluß der Parlamente und
uuter dem Zeichen der Monarchenbegegnungcn und der mancherlei schwebenden
Fragen natürlich ist, das Hauptinteresse in Anspruch. Auf dem Gebiete der innern
Politik aber sind wir jetzt wieder in eine Zeit der Kongresse und Tagungen ge¬
raten, die in gewissen Zeitabschnitten über den politischen Himmel ziehen wie die
Sternschnuppenfälle über den Himmel des Astronomen. Es würde unmöglich sein,
an dieser Stelle ans Einzelheiten einzugehn. Hervorgehoben werden müssen jedoch
die Tagungen zweier großer nationaler Organisationen, der Deutschen Kolonial-
gescllschaft und des Deutschen Flottenvereins.
Die Kolonialgesellschaft tagte in Bremen. Die Entwicklung unsrer Koloninl-
politik nötigte diesesmal zu einer entschiednern Stellungnahme in wichtigen Fragen,
als der bisherigen Gewöhnung entsprach. Und das war gut so. Denn es ist
die höchste Zeit, daß der Deutschen Kolonialgesellschaft ein etwas regeres Leben
eingehaucht wird. Das größte Interesse beanspruchte diesesmal die Eingebornen-
fragc, und das Ergebnis war ein Protest einer starken Mehrheit gegen den haupt¬
sächlich vom Konsul Vohsen vcrtretnen Standpunkt, der in überhumaner Weise die
Rechtsgleichheit zwischen Eingebornen und Weißen herstellen will. Demgegenüber
wollten alle erfahrnen Kolonialkenner die Herrenstellnng der Weißen durchgeführt
wissen; die Kolonien sind, auch wenn den Eingebornen ihr Recht werden soll, für
uns da. Diese Stellungnahme bedeutet einen gewissen Gegensatz gegen die im vorigen
Jahre vom Staatssekretär Dernburg verfochtnen Grundsätze, aber diese werden
vielleicht noch mancher Korrektur unterworfen werden. Wir glauben mit dem
Unterstaatssekretär von Lindequist, der Dernburg nach Möglichkeit verteidigte, daß
die Äußerungen des Staatssekretärs damals nicht die buchstäbliche und allgemeine
Bedeutung hatten, die ihnen beigelegt wurde.
Der Deutsche Flottenverein hat seine Hauptversammlung in Danzig abgehalten,
und hierbei ist es erfreulicherweise zu einer Einigung und einem Friedensschluß ge¬
kommen, der hoffentlich nun von Dauer sein wird. Das Hauptverdienst an diesem
Erfolge fällt zweifellos dem Vertreter der Staatsregierung zu, dem Oberpräsidenten
von Westpreußen, Herrn von Jagow. Die geschickte Art, in der er seinerseits den
Hauptstreitpunkten nicht etwa aus dem Wege ging, sondern sie im Gegenteil her-
vorhob und ihnen nur alles Gehässige und Unsachliche nahm, trug wesentlich dazu
bei, daß den beiden sich gegenüberstehenden Extremen jede Gelegenheit genommen
wurde, sich aneinander zu reiben. So wurde der Verein ausdrücklich als „national¬
politischer" bezeichnet; die Bedenken derer, die einen solchen Zusatz als gefährlich
empfanden, wurden durch den geschickt formulierten Hinweis beschwichtigt, daß dieser
Zusatz ja im Grunde gleichgiltig sei, da in Streitfällen ja doch die Behörden und
Gerichte allein nach dem Inhalte der Satzungen über den Charakter des Vereins
zu entscheiden hätten. Der Flottenverein soll sich in Zukunft von politischer Agi¬
tation fernhalten — womit den Bayern und ihren Freunden eine Beruhigung
gegeben wurde —, aber es wurde auch festgestellt, daß der Verein nicht ein
Appendix des Reichsmarineamts sein dürfe, sondern seine Unabhängigkeit bewahren
müsse. Es muß dem Verein, so hieß es, freistehn, seine eignen Ansichten über die
Frage der Beschleunigung des Flottenbaus und ähnliche zu vertreten. Auf dieser
Grundlage hat der Verein sein neues Präsidium gewählt, worin Vertreter ver-
schiedner Anschauungsweisen sitzen. Als Präsident wurde Fürst Salm wiedergewählt,
aber es ist leider sehr zu bezweifeln, daß er die Wahl annehmen wird. General
Keim hatte seinerseits auf die Wiederwahl ausdrücklich verzichtet, und der Verein
dankte ihm für diese vornehme und patriotische Entsagung durch die wärmste An¬
erkennung seiner geleisteten Dienste und den Vorschlag, ihn zum Ehrenmitglied zu
ernennen. Nur eine sehr merkwürdige Entschließung ist zu verzeichnen. Man muß,
wie erwähnt, leider damit rechnen, daß Fürst Salm die Wahl nicht annimmt, und
so entschloß man sich, für diesen Fall gleich den Mann zu bestimmen, der dann an
seine Stelle treten soll. Es ist der Großadmiral von Köster, der auf diese Weise
unter recht sonderbaren, für ihn und den Fürsten Salm peinlichen Umständen für
die bedeutungsvolle Würde nur designiert, nicht gewählt wurde und infolge dieser
manchen wohl bedenklich scheinenden Form eine geringere Mehrheit erhielt, als es
bei einer normalen Wahl wahrscheinlich der Fall gewesen wäre. Der harmonische
Abschluß der Tagung jedoch, die Erhaltung der Einheit des Flottenvereins in einer
für seine nationale Wirksamkeit ersprießlichen Form bleibt die Hauptsache, und daran
kann man seine Freude haben.
nichts neues von Wichtigkeit.
Dernburg ist mittlerweile in Britisch-Südafrika eingetroffen. Was er mit den
dortigen maßgebenden Persönlichkeiten verhandelt hat, ist noch nicht bekannt. Ob
es bei gegenwärtigen unverbindlicher Versicherungen guter Beziehungen zwischen
Deutsch- und Britisch-Südafrika bleibt, oder ob sich aus dem Besuch praktisch
brauchbare Maßnahmen ergeben, werden wir ohnehin wohl erst im Herbst im
Reichstag erfahren. Das Reiseprogramm des Staatssekretärs steht auch heute erst
in großen Zügen fest. Er will die Haupteingangshäfen von Südafrika, Kapstadt,
Port Elizabeth, East London, Durham, besuchen, dann die Minenindustrie in
Johannesburg und Kimberley kennen lernen. Begreiflich ist, daß ihn im besondern
Maße die Eisenbahnen von Britisch-Südafrika interessieren, und daß er namentlich
die Kap-Kairobahn, jenes gewaltige Projekt von Cecil Rhodes, das heute schon
bis über den Sambesi hinaus verwirklicht ist, mit eignen Augen sehen will. Seine
Fahrt wird deshalb bis zu den Viktoriafällen des Sambesi, die durch eine Riesen¬
brücke überspannt werden, führen. Dann geht es zurück nach Kimberley und von
dort westwärts über Prieska, Upington und bei Mamas hinein ins deutsche Land.
Man kann nicht sagen, daß das Programm einseitig gewählt wäre, wie dies bis
zu einem gewissen Grade bei der letztjährigen Ostafrikafahrt der Fall gewesen ist.
Im Gegensatz zur damaligen Reise kann Dernburg auf britischen Boden für
unsre Zwecke sehr viel lernen. Seine Fahrt führt ihn, nicht nur den dortigen
Bergbau und die in Südafrika möglichen Industrien vor Augen, sondern auch die
landwirtschaftliche Produktion in ihrer Vielgestalt: Kleinsiedlung und Farmbetrieb,
Garten-, Obst- und Weinban, Getreidebau, Tabakbau und das Rückgrat der süd¬
afrikanischen Wirtschaft, die Viehzucht im extensiven wie im intensiven Betriebe.
Britisch-Südafrika sieht schon auf eine hundertjährige Entwicklung zurück, und
wenn wir uns die dort gemachten Erfahrungen in verständiger Weise zunutze
machen, so können wir viel Lehrgeld sparen. Die politische und wirtschaftliche
Entwicklung dieser Kolonien zeigt uns, wie wir es machen, in mancher Beziehung
aber auch, wie wir es nicht machen sollen. Dieses Kapitel kann mit wenigen
Worten nicht abgetan werden, sondern muß einer besondern Abhandlung vor¬
behalten bleiben. Eins nur sei nochmals mit allem Nachdruck betont: in der Ein-
gebornenpolitik ist das englische Vorbild entschieden schädlich, und Dernburg
hat unrecht, wenn er in einer Rede in Kapstadt erklärte, wir könnten gerade in
der Eingebornenbehandlnng an der Erfahrung der Engländer profitieren. Wohin
man in den englischen Kolonien blickt, steht es mit den Eingebogen mehr oder
minder faul, namentlich in Südafrika und in Indien. Also die Finger von der
englischen Eingebornenpolitik!
In Verbindung mit dieser Erwähnung der Eingebornenfrage muß der soeben
in der ehrwürdigen Hansestadt Bremen abgehaltnen Hauptversammlung der
Deutschen Kolonialgesellschaft gedacht werden, bet deren Verhandlungen die
Eingebornenpolitik eine Hauptrolle spielte und von einer Reihe berufner und un¬
berufner Redner in zum Teil vortrefflichen Reden erörtert wurde. Besonders
treffend wurde die Frage von zwei Kolonialpraktikern und einem Volkswirt, nämlich
von Stabsarzt Arning. Direktor Hupfeld und Professor Paasche dargestellt. Die
Ausführungen dieser Redner gipfeln im großen und ganzen in denselben Forderungen,
die auch ich in Nummer 9 vom 27. Februar aufgestellt habe: unbedingte Hoch¬
haltung des Herrenstandpunkts, aber menschenwürdige Behandlung der Eingebornen
und Sicherung ihrer Rechte durch bestimmte amtliche Einrichtungen, auf der andern
Seite ihre planmäßige Heranziehung zur Arbeit, wo nötig unter Anwendung leisen
Zwangs. Die „kulturelle Hebung", das Schlagwort von heute, ergibt sich hieraus
von selbst. Denn was ist unsre Kultur denn anders als das Ergebnis unsrer in
Arbeit umgesetzten und infolgedessen weiterentwickelten geistigen Fähigkeiten? Ist
der Neger überhaupt bildungsfähig, so muß er sich unter solcher Politik glänzend
entwickeln. Wir Habens nicht so gut gehabt. Die frühern Jahrhunderte unsrer
Entwicklung waren alles, nur nicht sozialpolitisch angehaucht. Mit Gefühlsduselei
kommen wir nicht weiter, sondern nur mit einer Politik der festen Hand und einem
gesunden Egoismus, denn wir kolonisieren doch wohl für uns und nicht nur für
die Neger, was durchaus nicht ausschließt, daß wir mit der kulturellen Hebung
und menschenwürdigen Behandlung der Neger unsre eigne Sache fördern. Aber
alles zu seiner Zeit, und das „englische System" ist noch verfrüht, das haben bei
den Verhandlungen der Kolonialgesellschaft sogar zwei Vertreter der Mission be¬
tont. Auch sie haben den Herrenstandpunkt für notwendig und richtig erklärt.
Ziehen wir daraus die Hoffnung, daß die Mission durch die Irrungen und Wirrungen
der letzten Jahre zu der Erkenntnis von der Notwendigkeit der Solidarität aller
Weißen gegenüber den Schwarzen durchgedrungen ist und diese Erkenntnis in die
Tat umsetzen wird. Erst wenn dem Neger das Verständnis für unsre Kultur der
Arbeit aufgegangen ist, wird er fähig sein, die Lehren des Christentums wirklich
zu begreifen. Also planmäßige Erziehung des Negers zur Arbeit muß die Losung
sein auf der ganzen Linie. Die Mittel und Wege müssen aber mit unsern nationalen
Interessen im Einklang stehn. Und darum muß der koloniale Boden, soweit irgend
möglich, dem deutschen Auswandrer gehören. Doch davon ein andermal. Bei dieser
Gelegenheit soll auch auf die andern von der Kolonialgesellschaft erörterten Fragen:
Errichtung eines Bodenkreditinstituts und eines Landamts für Südwestafrika und
Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit, näher eingegangen werden.
Zum Schluß noch zwei erfreuliche Neuigkeiten aus den Kolonien, deren Be¬
deutung für die wirtschaftliche Entwicklung nicht unterschätzt werden darf.
Erstens: Gold in Deutsch-Ostafrika. Zum erstenmal ist es in wirklich abbau¬
würdiger Menge festgestellt. Die Fundstellen liegen in der Wemberesteppe zwischen
Tanga und Tabora. Die ersten Maschinen zur rationellen Ausbeutung sind bereits
unterwegs. Welchen Umfang der Goldreichtum in unsrer Kolonie hat, wird sich jetzt
erst allmählich feststellen lassen. In der illustrierten Zeitschrift Kolonie und Heimat
ist das jetzt in Bearbeitung genommne Goldvorkommen eingehend von fachmännischer
Seite unter Zuhilfenahme von guten Bildern und eines Plans interessant und an¬
schaulich geschildert. Der Verfasser des Aufsatzes hält es für sehr aussichtsvoll,
wenn unabhängige kleine Leute als Prospektoren draußen ihr Glück versuchen
würden in der Art, wie es in Australien und Nordamerika geschehn ist. Es ist
dies so ziemlich die einzige Möglichkeit zur gründlichen Durchforschung eines Landes
auf Edelmetalle. Wenn sich übrigens das Goldvorkommen in der Wemberesteppe
als ausgedehnt und reich erweist, so würde dies für den Eisenbahnbau ein starker
Antrieb sein und manche Ausgabe rechtfertigen, an die man bisher nur mit Zagen
herangegangen ist.
Zweitens: Gold in Deutsch-Neuguinea. An der Südostgrenze des
deutschen Gebiets sind von englischen Prospektoren ziemlich bedeutende Goldlager
gefunden worden. Es war ja zwar schon lange bekannt, daß es im Innern Neu¬
guineas Gold geben muß, denn fast alle Flüsse führen Gold. Die Engländer wollen
uns natürlich jetzt das fragliche Gebiet streitig machen, wir werden es aber hoffent¬
lich festzuhalten wissen. Der Forschuugsreisende W. C. Dammkoehler, der im letzten
Winter vou dem erwähnten Gebiet ausgehend das zwischen dem Huongolf und
der Astrolabebai gelegne Bergland und das Stromsystem des Markham- oder Wussi-
flusses und des Ramuflusses unter gewaltigen Schwierigkeiten als erster erforschte,
ist von dem Goldreichtum des Landes, den er an verschiednen Stellen feststellen
konnte, überzeugt. Auch er empfiehlt, daß unabhängige Prospektoren ins Land hin¬
eingehn, und ist der Ansicht, daß sich ihre Arbeit reichlich lohnen wird. Außerdem
hat Dammkoehler die erfreuliche Gewißheit geschaffen, daß das Junere von Neu¬
guinea auch für die landwirtschaftliche Produktion vorzügliche Aussichten bietet. Er
hat ausgedehnte Kokospalmenbestände und Pflanzungen der seiner Ansicht nach
anstelligen und brauchbaren Eingebornen gefunden und glaubt als alter Praktiker,
daß sich der Boden und das Klima ganz besonders für den Baumwollbau eignen
würden. Seine für die geographische Wissenschaft wie für die Kolonialwirtschaft
gleich bedeutsame Reise ist bis jetzt nur in der schon erwähnten Zeitschrift Kolonie
und Heimat geschildert. Die diesem Aufsatz beigegebuen Bilder und eine Karte
scheinen die Feststellungen Dcunmkoehlers voll zu bestätigen, und man kann ihm nur
beistimmen, wenn er zum Schluß sagt, daß sich hier für uns eine seltne Gelegen¬
heit bietet, durch den Bau einer Eisenbahn — eine einfache Feldbahn würde bei
der günstigen Art des Geländes vollauf genügen — ein neuerforschtes Gebiet sofort
nutzbar zu machen. Diese Bahn, durch das Markhmntal bis zur Wasserscheide nur
etwa 200 Kilometer lang, würde einen großen Teil unsrer zweifellos reichen Kolonie
erschließen und sich wahrscheinlich schon allein durch die rationelle Ausbeutung der
Kokospalmenbestände im Innern bezahlt machen. Diese Ratschläge eines alterfahrnen
Tropenpraktikers sollten hier Beachtung finden!
Alles in allem genommen: es geht vorwärts mit unsern Kolonien. Die Haupt¬
sache ist, daß die energische Arbeit und die Erfahrung unsrer alten Kolonialpioniere
auch genügend anerkannt und bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Erschließungs¬
Am 18. Juni dieses Jahres feiern
die in der äußersten Ecke von Hinterpommern liegenden Kreise Lauenburg und Bülow
die 250jährige Zugehörigkett zum brandenburgisch-preußischen Staate. Schon nach
dem schwedisch-polnischen Kriege hatte der Große Kurfürst durch den Vertrag zu
Bromberg im Jahre 1657 die Lande Lauenburg und Bülow als abgabenfreies
Lehen von Polen erhalten; aber erst im nächsten Jahre nach dem Abzug der
Schweden konnten die Bürgerschaft und der Adel dem neuen Herrn huldigen. Der
Große Kurfürst hatte schon damals erkannt, daß diese kleinen Lande für Branden¬
burg ein wertvoller Besitz sein würden, denn seit 1310 hatte hier der Deutsche
Ritterorden durch geschickte Kolonisation und durch Heranziehung tüchtiger Ansiedler
aus Sachsen und Westfalen ein gesichertes deutsches Kulturgebiet geschaffen, das
auch nach dem Untergange des Ritterordens und unter polnischer Oberhoheit seinen
durch und durch germanischen Charakter wacker behauptet hatte. Von dem vor¬
geschobnen festen Posten aus, den die Lauenburg bildete, war es für die branden¬
burgische Expansionspolitik, die schon damals auf die Marienburg gerichtet war, möglich,
die Herrschaft auf das für die Konsolidierung der Ostmark notwendige Weichselgebiet
auszudehnen. Die knapp gehaltne aber lehrreiche Festschrift von Gerlach gibt einen
vortrefflichen Überblick über die wirtschaftliche Entwicklung der Lande. Die Fort¬
schritte sind in den letzten Jahrzehnten in der Tat staunenswert; im Jahre 1867
betrugen zum Beispiel die Einlagen der Kreissparkasse 634987 Mark, im Jahre 1907
dagegen 8107395 Mark, der Wohlstand ist also in diesem als arm verschrienen
Hinterpommern während der letzten vier Jahrzehnte um das Zehnfache gestiegen.
»Wäre nicht die Leutenot, so könnte sich die Landwirtschaft bessere Zeiten kaum
wünschen." Die einst unter polnischer Herrschaft wirtschaftlich verwahrlosten Lande
verdanken ihren ganzen Aufschwung den Hohenzollern und sind jetzt tatsächlich im
blühenden Zustande. Wer mit der Bahn nach Zoppot durch das Lauenburger
Ländchen fährt, den fesselt nicht nur das wechselnde Landschaftsbild, sondern auch
das fruchtbare, vortrefflich bewirtschaftete Gelände, die üppigen Getreidefelder und
die saftigen Wiesen, die von den sich kulissenartig vorschiebenden Höhenzügen mit
prächtigen Laub- und Nadelwäldern begrenzt werden. Es ist, als wäre hier ein
Stück Thüringen an die Ostseeküste verpflanzt worden.
In der Bewohnerschaft herrscht Schlichtheit, aber auch Tatkraft und Intelligenz!
Deutschland verdankt diesem fernliegenden Ländchen an der Ostsee, von dem der
i» Lauenburg 1881 gestorbne pessimistische Philosoph Julius Bahnsen in nervöser
Übertreibung klagt, es sei ein geistiges Sibirien, eine große Zahl tüchtiger und
gediegner Männer. Lauenburg ist in akademischen Kreisen in den letzten Jahren
hauptsächlich durch Bahnsen bekannt geworden, aber der Groll, den dieser ausgezeichnete
originelle Denker gegen die Lauenburger hatte, und der wohl auch mit zu seinem
»Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt" gehört, wird gegenwärtig von seinen
Anhängern zuweilen ins maßlose gesteigert. Soeben bringt die Juninummer der
Ksvus A'sriruuüqns (Paris, 1908) eine Studie über den Lauenburger Philosophen
aus der Feder des Professors I. Talayrach, worin es heißt: Laiinson, os xMssur
xrokonci, o<ze iroirilno as ovatae, n'-ivait-it xas ses oonclaninH ^ xasssr gg, vio ni^us
rin iiorridls trou <is xrovinos, clans un nülisu iiostils A doues vsllöitH et'inclöxsnclanos
intsllsvtnslls. Oui, lZannksn, est esxrit et'ülits kut, xsuciant trsnts - ome^ ans,
s^stüniati^uoinsiit oudliv xar öff Kants oiists clans son „trou et'araiAnvs".
Bahnsens frühere Schüler, die dieses ungemein geistvollen und anregenden
Lehrers ja stets mit großer Dankbarkeit gedenken, und auch seine frühern Amts¬
genossen und Mitbürger werden die temperamentvollen Übertreibungen des fran¬
zösischen Schriftstellers auf das richtige Maß zurückzuführen wissen. Mit der alten
Wahrheit, daß der Prophet nichts in seinem Vaterlande gilt, muß auch der Philosoph
rechnen, besonders wenn er seine Spekulationen in einer so geheimnisvollen Sprache
vorträgt, daß sich nur der Eingeweihte ans dem Labyrinth der Gedankengänge
herauszufinden vermag. Da aber die ausländische Kritik den Lauenburger Philo¬
sophen neben Schopenhauer und Nietzsche, einige Kritiker ihn sogar über Nietzsche
stellen, so wird sich das pommersche Städtchen wohl darauf gefaßt machen müssen,
daß es bald zum Wallfahrtsort der Bahnsengemeinde wird; die Jünger werden
dann aber wohl mit Staunen erkennen, daß Lauenburg kein pauvi-s dourx ist, sondern
eine freundliche, schön gelegne Stadt mit einer intelligenten, arbeitsfreudigen und
lebensfroher Bewohnerschaft, daß die Stadt jahrhundertelang inmitten der polnischen
Bestrebungen eine nationale Kulturaufgabe ersten Ranges erfüllt hat, und daß man
auch jetzt uoch in vielen Zügen die Nachwirkungen verspürt von dem reichen Erb¬
teil der alten Ordensritter aus der Marienburg und von dem brandenburgischen
strammen Geiste, den der Große Kurfürst diesen pommerschen Landen eingeflößt hat.
Der zweite Band des in
Grunows Verlag erscheinenden Geschichtskalenders für das Jahr 1907 behandelt
einen sehr merkwürdigen Zeitabschnitt, dessen Ereignisse noch oft die Gemüter, die
Redner und die Federn beschäftigen und darum nötigen werden, zu diesem Nach¬
schlagebuche zu greifen. Wir sehn die Reichsregierung an der Arbeit, die zwei in
das Joch des Blocks gespannten ungleichen Pferde einzufahren, und finden bei
Wippermann das Urteil der Organe aller Parteien über dieses denkwürdige und
znkunftschwangere Experiment mit musterhafter Unparteilichkeit zusammengestellt. Und
wir sehn den römischen Ritter von der traurigen Gestalt zur Erheiterung, freilich
auch zum Ärger der Welt, ausziehn, den Drachen des Modernismus zu erlegen,
und vermissen keines der zur Beurteilung dieses Unternehmens und seiner bisherigen
Erfolge erforderlichen Aktenstücke. In der auswärtigen Politik sind besonders die
Vorkommnisse wichtig, die auf das Verhältnis Deutschlands zu England und den
Vereinigten Staaten, auf die Beziehungen der Vereinigten Staaten und Englands
zu den übrigen Großmächten Licht werfen, und auch darüber werden wir vollständig
unterrichtet. Von den unzähligen Kongressen und „Tagen", die getagt und genächtigt
haben, sind besonders beachtenswert der Sozialistenkongreß in Stuttgart als Etappe
auf dem Rückzug der Sozialdemokratie und die zweite Friedenskonferenz im Haag
als Etappe auf dem Vormarsch einer zwar vielfach noch verspotteten aber heute
nicht mehr ganz ohnmächtigen Idee. Unentbehrlich ist der Wippermann ja immer,
aber, wenn ihm das Halbjahr so interessanten Stoff geliefert hat, zugleich auch
erfreulich.
MM! ille Februar dieses Jahres wurde von den Engländern mit einer
Streitmacht von fast drei Brigaden ein Kriegszug gegen die
Zakka Khels, eiuen Afridistamm an der afghanischen Grenze,
unternommen und in wenigen Tagen mit der Einnahme und der
! Zerstörung ihrer drei größten Ortschaften zu Ende geführt. So
glänzend dieser schnelle Siegeszug auf den ersten Augenblick auch erscheinen
mag, so wenig kann er trotz aller Tapferkeit der Truppen als eine glänzende
Waffentat oder als Bürgschaft für einen dauernden Erfolg angesehn werden.
Dafür hat er aber, ebenso wie der kurz darauf folgende Feldzug gegen die
Mohmcmds und das Zurückwerfen afghanischer Stämme über die Grenze,
wieder einmal die Achillesferse des indischen Kaiserreichs, denn das ist die
Nordwestgrenze trotz des englisch-russischen Vertrags geblieben, offen zutage
gelegt und bietet schon aus diesem Grunde ein allgemeines Interesse; vermehrt
wird dieses noch durch den eigenartigen Kriegsschauplatz, die mittelalterlichen
Völkerschaften, gegen die der Zug gerichtet war, die gegenwärtigen besondern
Verhältnisse nach dem Vertrage und schließlich durch die Art der Behandlung
der ganzen Angelegenheit im Parlament, die bei der ältesten Kolonialmacht
schon an sich von Interesse ist.
Bekanntlich wird Indien im Nordwesten dnrch eine Kette von steilen
unwirtlichen Gebirgszügen als Grenzwall gegen Afghanistan abgeschlossen und
geschützt. Das Gebirge ist nur von einigen wenigen Pässen durchschnitten, und
von diesen bildet der größte, der Khaibarpaß, das natürliche Einfalltor nach
Indien, durch das seit uralten Zeiten immer neue Völkerwogen die indischen
Ebenen überschwemmt haben, um hier bald zu erschlaffen und allmählich von
den indischen Völkerschaften aufgesogen zu werden. Während nun im Innern
Indiens die Spuren der Eroberer trotz allen Kastenwesens mehr oder weniger
verwischt sind, hat sich im Nordwesten ans ihnen ein eignes Volk, mit dein
Kollektivnamen Parther bezeichnet, herausgebildet, das ein Gemisch ans
Afghanen, Tataren, Persern, Arabern und Jndiern darstellt. Splitter dieses
Volks sind die verschiednen Stämme, die das Grenzgebirge bewohnen. Ihre
Namen sind allen, die die indische Geschichte im letzten Jahrhundert verfolgt
haben, aus einer Reihe von Kämpfen mit den Engländern bekannt; es sind
die Afridis mit den Zakka Khels und Kombu Khels, die Mohmands, Waziris,
Swatis usw.
Der Volkscharakter dieser Völkerschaften läßt sich schon aus der Art ihrer
Niederlassungen erkennen. Die Wohnungen der einzelnen Familien, die mit
ihrem Anhang den alten schottischen Claus vergleichbar sind, sind kleine
Festungen mit hohem Wall, in dessen Mittelpunkt ein Turm als letzte Zu¬
flucht und Verteidigungsstätte dient. Krieg zwischen den einzelnen Stämmen,
zwischen den Familien nach dem Gesetz der Blutrache, die hier viel mehr
als je in Korsika oder in Albanien wie ein Bann auf dem Volke liegt, ist
die Regel.
Eine vorzügliche Charakteristik des Volks gab vor kurzem einer der besten
Kenner Indiens, Lord Curzon, in seiner Rede im Oberhaus über den Zakka-
Khel-Feldzug. Er sagte dort: „An der Nordwestgrenze haben wir es mit Volks¬
stämmen zu tun, die nach Rasse und persönlichen Charaktereigenschaften sehr
verschieden sind, ebenso in bezug auf den Grad der erreichten Zivilisation oder
vielmehr Nichtzivilisation; einige Charakterzüge haben sie aber alle gemein.
Jeder ist tief durchdrungen von gewissen Gebräuchen wie Blutrache, Raub,
Mord und Gesetzlosigkeit. Raubzüge sind gewöhnliche Unternehmen und sind
bei der unfruchtbaren Beschaffenheit ihres Bodens häufig eine ökonomische
Notwendigkeit. Kaum einer der Stämme ist fähig, einer entstehenden leiden¬
schaftlichen Aufwallung oder dem Einfluß des religiösen Fanatismus zu wider-
stehn, die für uns vorauszusehn oder zu kontrollieren völlig unmöglich sind. Sie
bewohnen nicht nur ein Land, das eigentümlich schwierig und beinahe unzu¬
gänglich ist, sondern sie sind anch in der eigenartigen Lage, sowohl innerhalb
wie außerhalb der Grenze des Reiches zu leben; außerhalb, weil sie frei und
unbehelligt durch unsre Verwaltung leben, innerhalb, weil sie noch innerhalb
unsrer politischen Grenzen wohnen."
Dieser letzte Satz illustriert das Verhältnis der indischen Regierung zu
den Bergbewohnern vorzüglich. Es ist dem nur noch hinzuzufügen, daß die
Regierung nicht nur davon absteht, sie mit den geringsten Regiernngsmaß-
nahmen, die nach Oberhoheit schmecken, zu belästige», sondern daß sie den
einzelnen Stämmen auch noch Subsidien zahlt, nach englischer Auffassung zum
Lebensunterhalt und zur Belohnung für gutes Verhalten, nach Auffassung der
Stämme wahrscheinlich als eine Art Tributzählung.
Berücksichtigt man, daß trotz der Subsidien die angrenzenden Gebiete keinen
Augenblick vor Räubereien sicher sind, und es schon ganz besonders frecher
Raubzüge bedarf, die eine Vergeltung unbedingt erheischen, bevor die Regierung
wie jetzt bei den Zatta Khels einschreitet, so müssen sicherlich sehr gewichtige
Gründe vorliegen, die sie zu einer solchen schwächlichen Politik veranlassen.
Der Hauptgrund ist in der unmittelbaren Nähe des unheimlichen Nachbarn
Afghanistan zu suchen, von dem bisher alle Invasionen Indiens, im ganzen 21
ausgegangen sind. Über die mögliche 22. Invasion aber erklärte Lord Roberts
vor einiger Zeit, daß sie ein viel weniger schwieriges Unternehmen sein würde
als irgendeine der frühern, wenn nicht entsprechende Vorsichtsmaßregeln getroffen
würden. An diesen Vorsichtsmaßregeln arbeitet aber England schon seit mehr
als einem halben Jahrhundert. Zu ihnen gehört zum Teil auch der englisch-
russische Vertrag sowie die eigenartige Politik gegen die Grenzstämme.
In dem Vertrage verpflichtet sich Rußland. Afghanistan als außerhalb
seines Einflusses liegend anzusehn. seine Beziehungen zu ihm nur durch die
englische Negierung gehn zu lassen sowie keine Agenten nach dort zu senden.
Trotzdem bleibt Afghanistan für England eine achtunggebietende Macht. Es
verfügt über eine gute Armee, und sein jetziger Emir hat sich bisher als ein
ebenso tüchtiger Herrscher wie geschickter Diplomat gezeigt.
Die Grenzstämme des englischen Gebiets fühlen sich seit alter Zeit durch
Religion. Sitten und staatliche Beziehungen mit Afghanistan verbunden. Die
Grenze, die sie von Afghanistan trennt, ist seinerzeit willkürlich gezogen und
geht durch ihre zerklüfteten Berge mitten hindurch; sie ist deshalb auch nur vou
geringer Bedeutung, denn während sich Afghanistan gegen England hermetisch
abschließt und kein Engländer das Land betreten darf, können die Angehörigen
der Grenzstämme sie jederzeit überschreiten und haben hiervon bei ihren
Kämpfen gegen die Engländer immer, so auch bei der ZMa-Khel-Expedition.
den ausgiebigsten Gebrauch gemacht. Es ist klar, daß bei derartigen Verhält¬
nissen jede Unternehmung gegen die Greuzstämme die guten Beziehungen zu
Afghanistan auf eine harte Probe stellen, in dessen Interesse es liegt, sich die
Anhänglichkeit der Grenzstämme als Schutz- und Trutzmittel gegen England
zu erhalten. Daß in dieser Beziehung geheime Abmachungen mit ihnen besteh»,
wird als sicher angenommen.
Der letzte große, unter dem Namen Tirah-Feldzug bekannte Aufstand fand
bor zehn Jahren statt. Er begann mit dem Überfall und der Vernichtung einer
kleinen britischen Truppe und verbreitete sich mit Niesengeschwindigkeit über alle
Grenzstümme. Der Khaibarpaß wurde von den Aufständischen okkupiert, und es
bedürfte des Aufgebots großer Truppenmassen, um ihn zurückzuerobern und
den Aufstand niederzuwerfen. Zu den letzten und hartnäckigsten Gegnern ge¬
hörten damals die Zakka Khels, die überhaupt als der kriegerischste und
räuberischste Stamm bekannt sind. Als der Feldzug schließlich beendet war, das
heißt als der Paß zurückerobert, ein Teil des Gebiets der Aufständischen
durchwandert, ihre Ortschaften niedergebrannt waren, und die Truppen unter
den steten Angriffen des geschlagner Gegners das feindliche Gebiet wieder
verlassen hatten, ging man daran, mit ebenso eigenartigen wie bis vor kurzem
erfolgreichen Mitteln der Wiederholung von Aufständen entgegenzuarbeiten.
Das ganze Grenzgebiet wurde zu einer besondern Provinz, der Nordwest¬
provinz, gemacht und einem erfahrnen Gouverneur unterstellt, die Truppen
wurden aus dem Gebiete der Grenzstämme, das sie an einzelnen wenigen
Stellen besetzt gehalten hatten, ganz zurückgezogen und die Stämme noch mehr
als zuvor sich selbst überlassen; dazu erhalten sie Subsidien, Die regulären
indischen Truppen, die bisher den Paß und die Grenze gegen die Stämme besetzt
hatten, wurden nach und nach durch eine Art Miliz, die aus den Stämmen
selbst entnommen wird, ersetzt, ein anscheinend sehr gefährliches Mittel; selbst
von Kennern der dortigen Völkerschaften wurde es für unmöglich gehalten, daß
sich junge Leute, die in der unbändigsten Freiheit mit den wildesten Instinkten
aufgewachsen sind, jemals in den Kasernenzwang würden hineinfinden können.
Die Probe hat das Gegenteil bewiesen.
Die Leute dienen zwar des Geldes wegen, sie fügen sich aber schnell in
die geordneten Verhältnisse ein. Ihr Subordinationsgefühl ist nur rein per¬
sönlicher Natur; sie gehorchen dem ihnen sympathischen Offizier bis in den
Tod, dem unbeliebten sind sie eine furchtbare Gefahr, und deshalb sind Er¬
mordungen von Offizieren durch ihre Untergebnen nicht selten. Da für eine
solche Truppe nur Offiziere mit vorzüglichen Charaktereigenschaften, starkem
Willen und großer Menschenkenntnis verwendbar sind, gilt es als eine große
Auszeichnung, zu deu betreffenden Regimentern, den Khaibar-Nifles, komman¬
diert zu werden. Lord Curzon sagte kürzlich im Parlament, daß nur die besten
jungen Offiziere dazu genommen würden, und daß auch deren Leben vor der
Kugel irgendeines Fanatikers nicht sicher wäre. Die Truppe zählt schon über
10000 Mann und ist auch in der Zakka-Khel-Expedition zur Verwendung
gelaugt. Ob sich die Hoffnung, daß die alten ausgedienter Soldaten auch in
ihrem spätern Leben englandfreundlich sein werden, erfüllen wird, wird vielfach
bezweifelt. Es heißt von den Leuten, daß sie mit dem Moment, wo sie ihre
Uniform ausgezogen und in ihrer altgewohnten Kleidung von dannen ziehn,
auch wieder Halbwilde seien und schou deshalb nicht an Frieden denken, weil
sie den Krieg einfach des Krieges wegen lieben.
Ein weiteres Mittel, die Grenzstämme im Zaum zu halten, hat man in
dem Ausbau guter Anmarschstraßen und dem Bereithalten von Kommunikations¬
mitteln gefunden. Bis Peshawar, das nur einige Meilen von dem Gebiete der
Stämme abliegt, geht die Eisenbahn, von da führt der 34 englische Meilen
lange Khaibarpaß durch das Gebiet gerade der gefährlichsten Stämme. Der
Paß ist, abgesehn von den großen Forts gegen Afghanistan, Jamrud am
Eingang, Ali Masjid in der Mitte und Lundi Kodak am Ausgang, an vielen
Stellen durch kleine Forts und Blockhäuser befestigt und gilt seit Jahren als
vollkommen sicher, sodaß von ihm überall in das Eingebornengebiet ein¬
gedrungen werden kann. Der Paß wird auch von den Eingebogen bei ihren
Fehden unter sich als sakrosankt angesehn. Wer sich auf die Straße geflüchtet
hat, ist unverletzlich. Die Polizei wird ausschließlich von den Khaibar-Rifles
ausgeübt.
Wir können jetzt nach Beleuchtung der allgemeinen politischen Verhältnisse
zu dem letzten Zakka-Khel-Feldzug übergehn. Der Staatssekretär für Indien
zählte im Parlament eine lange Reihe von Räubereien und Ausschreitungen
auf, die sich die Zakka Khels seit Jahren haben zuschulde» kommen lassen,
darunter Plünderungen ganzer Dörfer, Wegtreiben des Viehs, Angriffe auf
Polizeistationen usw. Alle Warnungen hatten nichts gefruchtet, ebenso nicht
die Entziehung der Subsidien. Noch Anfang Januar, kurz vor der Straf¬
expedition, überfielen sie ein Regierungsdepot östlich von Peshawar und
führten eine Anzahl Maulesel fort, die ihnen später allerdings wieder ab¬
gejagt worden sind. Die Strafexpedition war von langer Hand sorgfältig
vorbereitet und sollte bis zum letzten Augenblick geheim gehalten werden, da
ein Erfolg erfahrungsmäßig nnr von einem überraschenden Angriff erwartet
werden kann.
Am 13. Februar rückten zwei Brigaden unter General Willcocks von
Peshawar von Osten her in das Bazartal, den Winteraufenthalt der Zakka
Khels. Das Tal zieht sich, einige Meilen südlich vom Khaibarpaß, von
Westen nach Osten und berührt im Westen die Grenze von Afghanistan. Um
den Feind an einem Überschreiten der Grenze zu hindern, rückte zu derselben
Zeit von dem Fort Lundi Kodak eine Truppenabteilung von Norden her in
das Tal. Keine der beiden Kolonnen traf auf ernstlichen Widerstand, die
Zakka Khels hatten trotz aller Geheimhaltung vorher Wind bekommen, eine
Überraschung konnte nicht stattfinden, und damit war ein nachhaltiger Erfolg
ausgeschlossen.
Die Expedition nahm jetzt den Verlauf ihrer meisten Vorgängerinnen.
Der Feind hatte seine Weiber und Kinder und Habseligkeiten in Sicherheit
gebracht, teils in ein andres, südlicher gelegnes Tal, teils über die Grenze
zu den Shiuwaris, einem verwandten afghanischen Volksstamm. Nachdem sich
die beiden englischen Truppenabteilungen vereinigt und zwei Ortschaften.
Wcilai und Chora. zerstört hatten, rückten sie gegen den Hauptort Chinar vor,
Tag und Nacht beunruhigt von dem zu beiden Seiten sich anhängenden
Gegner, der vou Mitgliedern befreundeter Stämme jenseits der Grenze noch
verstärkt gewesen sein soll. Die Dispositionen für den Marsch, die Einrichtung
der rückwärtigen Verbindungen waren verhältnismäßig leicht, da die Gegend
den Engländern aus frühern Expeditionen, die jetzige war die vierte, genau
bekannt ist. Nachdem Chinar eingenommen und zerstört war, kam es am
21. Februar im westlichen Teile des Tals unweit der Grenze zu einem größern
Gefecht, das mit dem Zurückweichen des Feindes endete, den Engländern aber
eine Anzahl Toter und Verwundeter kostete, unter den Toten einen Bataillons¬
kommandeur, Major Forbes Sempill.
Mit der Eroberung des Tals war die Aufgabe der Expedition erledigt,
und schon wenige Tage darauf erfolgte der sogenannte Friedensschluß, über
den der Staatssekretär Morley am 2. März dem Parlament das Nähere be¬
richtete. Danach hatte am 27. Februar eine Versammlung der Häuptlinge
aller Afridistämme samt den Zakka Khels stattgefunden und hatte durch Ab¬
gesandte dem General Willcocks eine Petition überreichen lassen. In der
Petition erklärten die Häuptlinge, daß sie sich für das zukünftige gute Ver¬
halten der Zakka Khels verbürgten. Sie würden, wenn aufgefordert, einander
helfen, diese schlechten Charaktere zu strafen, und wenn sie es nicht täten,
möge die Regierung sie dafür mit Geld bestrafen oder vom britischen Terri¬
torium ausschließen. In bezug auf die Vergangenheit bäten sie, daß die
Negierung die Lage der Zakka Khels in Rücksicht ziehen möge, ihre Verluste
durch die Entziehung der Subsidien sowie durch den Krieg und sie nicht
wegen der Verbrechen eines Teiles von ihnen sämtlich ruinieren möge. Sie
würden im Verein mit den Ältesten der Zakka Khels dafür sorgen, daß die
Führer der Diebe, die in britisches Gebiet eingefallen wären, bestraft würden.
Zur Genugtuung der Regierung und als Pfand deponierten sie 53 Gewehre.
Die Häuptlinge der Zakka Khels fügten dann noch ihr Einverständnis hinzu
sowie ihre Hoffnung auf Gnade und Gunst der Negierung.
Diese eigenartige Erledigung des Feldzugs, insbesondre die Versprechungen
wurden im Parlament mit ironischem Gelächter aufgenommen, hingegen der
Abmarsch der Truppen mit Hochrufen begrüßt. Daß ein ähnliches Gefühl des
Mißtrauens gegen die Versprechungen der Häuptlinge auch an Ort und Stelle
vorhanden war, geht daraus hervor, daß trotz des sogenannten Friedens¬
schlusses die Truppen bei Nacht und Nebel abgezogen sind. Bisher hatten
nämlich alle noch so siegreichen Expeditionen damit geendet, daß die ab¬
marschierenden Truppen jedesmal von Schwärmen des besiegten Feindes be¬
sonders in der Nacht beunruhigt, nach Ansicht des Feindes verfolgt, worden
waren. Um sich dieser gefürchteten Situation zu entziehen, hatten die Eng¬
länder am Tage vor dem Abmarsch noch Verschanzungen aufzuwerfen be¬
gonnen, die den Feind glauben machen sollten, daß sie sich auf einen längern
Aufenthalt einzurichten beabsichtigten. Die List soll auch gelungen sein. Die
^rin^ iwä Mvx (Z^ödes bemerkte dazu sehr richtig, daß die Maßnahme
nicht den Eindruck mache, als ob die Expedition das gewünschte Ergebnis ge¬
habt Hütte.
Wir sehen aus alledem, wie bescheiden die Engländer sein können, sobald
sie sich in einer Zwangslage befinden. Wie bei den frühern lokalen Auf¬
ständen oder Strafexpeditionen hatte anch in diesem Falle die eminente Ge¬
fahr vorgelegen, daß sich eine allgemeine Erhebung aus der Expedition ent¬
wickeln würde, anstatt dessen ist eine Loyalitütserklürung der Stämme erfolgt.
Da dieses gegen früher immerhin einen Fortschritt bedeutet, so war die Freude
über den glücklichen Abschluß wohl erklärlich. Man schreibt ihn übrigens
hauptsächlich dem außerordentlich starken Truppenaufgebot und ihren schnellen
Operationen zu, die auch deshalb für notwendig erklärt wurden, weil man
Komplikationen mit Afghanistan vermeiden wollte. Wie zart man diesen
Nachbarn auch nach dem englisch-russischen Vertrag, vielleicht wegen seiner
noch nicht erfolgten Zustimmung dazu, behandelt, geht daraus hervor, daß
die indische Negierung vor der Expedition mit einer Bitte um Schließung der
Pässe an den Emir nicht herangetreten ist.
Wer die Geschichte der frühern Kriege in diesen Grenzgebieten liest und
in Betracht zieht, daß die beschriebnen Zustünde schon viele Jahrzehnte be¬
steh», muß sich unwillkürlich die Frage vorlegen, weshalb man nicht längst
den unerträglichen Verhältnissen dadurch ein Ende gemacht hat, daß man das
Gebiet der Grenzstämme militärisch besetzt oder es wenigstens durch einzelne
Forts teilweise zu beherrschen versucht.
Diese Frage ist in der Tat mehrfach, anscheinend auch jetzt wieder von
dem Oberstkommandierenden in Indien angeregt worden, wurde aber im
Parlament von der Regierung sowohl wie von der Opposition energisch
zurückgewiesen. Der Redner der Opposition, Lord Curzon, führte in seiner
Rede aus, daß mit einem derartigen Versuch die ganze Grenze auf viele
Jahre in Flammen gesetzt würde. Die Armee müßte bedeutend verstärkt
werden, und England würde sich dieselben Verhältnisse in den Grenzgebirgen
schaffen, wie sie Rußland im Kaukasus hätte, dessen Unterwerfung zwei Jahr¬
zehnte gedauert hätte. Dazu käme die Gefahr von Kollisionen mit Afghanistan
zu einer Zeit, in der auch im Innern Indiens aufrührerische Tendenzen zu¬
tage trete«. Der gegenwärtige Zustand müßte beibehalten werden. Eine
Okkupation käme vielleicht dereinst in Frage, wäre aber solange wie möglich
hinauszuschieben. Ähnlich sprach sich der Vertreter der Regierung aus, ohne
aber auf die Zukunft anzuspielen.
Diese Zustände machen ohne Zweifel einen einer Großmacht unwürdigen
Eindruck; trotzdem trägt England, dessen Herrschaft in Asien doch eigentlich
nur auf seinem Prestige beruht, kein Bedenken, sie weiter bestehn zu lassen.
Wir haben in unserm Südwestafrika im Norden die Ovambos sitzen, an denen
ebenfalls Ausschreitungen, wie der Überfall auf die Station Nmnatoni, zu
rächen sind. Wenn wir mit deren Unterwerfung warten, bis es uns opportun
erscheint und ohne große Opfer ausgeführt werden kann, so ist dies eben
Praktische Kolonialpolitik, wie sie von England nicht nur in Afrika, sondern,
wie wir gesehen haben, auch in Asien seit jeher betrieben wird; zudem haben
wir in unsrer Kolonie weder mit den Übeln Eindrücken auf benachbarte Völker¬
schaften noch mit religiösem Fanatismus zu rechnen.
Es gibt in Indien ein altes Sprichwort der Eingebornen: „Der Parther
ist in dem einen Augenblick ein Heiliger, in dem nächsten ein Teufel." An
dieses Sprichwort erinnert unwillkürlich die Tatsache, daß sich kurze Zeit nach
dem glänzenden Abschluß der Expedition gegen die Zakka Khels ein diesen
benachbarter und befreundeter Volksstamm, die Mohmands, erhoben hat, und
daß fast zugleich etwa 15000 Afghanen mitten im Frieden die Grenze über¬
schreiten und das Fort Lnndi Khotal angreifen konnten. Die Mohmands
sind erwiesnermaßen durch afghanische Mollahs aufgehetzt worden, die Beweg¬
gründe der Afghanen sind noch nicht ganz klar. Die afghanische Regierung
will nichts davon gewußt, vielmehr sofort Schritte getan haben, die Angreifer
zurückzurufen.
er fast drei Jahrzehnte mitteleuropäischer Geschichte umfassende
t Kampf zwischen Karl dem Fünften und Franz dem Ersten ist
schon durch den Gegensatz in den Persönlichkeiten der zwei be¬
deutendsten Fürsten ihrer Zeit merkwürdig. Ans der einen Seite
! der körperlich schwache und zeitlebens von Kränklichkeit geplagte
Habsburger, der doch schon als Knabe die stolze und gnädige Würde des gebornen
Herrschers zeigte, der schmächtige Carlos mit dem bleichen, melancholischen
Antlitz, sechzehnjährig der erste König des geeinten Spaniens, neunzehnjährig
Gebieter eines Riesenreichs, der seine weltumspannenden Pläne in „schweig¬
samer Seele" barg, im Kabinett wie im Felde bald allen Fürsten seiner Zeit
überlegen, stets bedächtig, umsichtig, unermüdlich tätig und von unergründlicher
Feinheit des Geistes, dem andern Geschlechte nichts weniger als abhold, aber
nie dessen Sklave — daneben und ihm gegenüber der schöne, kraftstrotzende
und tatendurstige Valois, der in ungebundner Wildheit aufgewachsen, ein
Meister war im Lanzenbrechen und Hürdenspringen, in Jagd und Ballspiel,
ein Meister auch in der Liebe, der Ro^-czdevÄlier, elegant, galant, brillant, ein
König, wie die Franzosen ihn träumten. Aber hinter seinem liebenswürdigen
Leichtsinn stak gewiß ebenso viel skrupellose Selbstsucht wie hinter Karls
gemessener Würde; und ganz im Gegensatz zu Karl war Franzens Politik und
seine Art, den Krieg zu führen, oft von Unbesonnenheit und ritterlicher Eitelkeit
regiert. Seinem Schwiegervater, Oheim und Vorgänger Ludwig (den die Ritter
geizig nannten, während ihn Bürger und Bauern als den Vater des Vaterlandes
anbeteten) war Franz, der Verschwender und Lebemann, recht unähnlich; er,
dessen Finanzwirtschaft so schlecht war, und der der eigentliche Vater französisch¬
königlicher Maitressenwirtschaft geworden ist. Nur in zwei Punkten glichen
sich Ludwig der Zwölfte und Franz der Erste: zunächst arbeiteten beide, wenn
auch in verschiednen Stile, am Bau des absoluten Königtums, den der elfte
Ludwig begonnen hatte, weiter; gemeinsam war beiden auch die von jedem
Bedenken des Rechts und des Gewissens freie italienische Eroberungspolitik,
an der Frankreichs Könige seit dem unglücklichen, tragikomischen Zuge Karls
des Achten nach Neapel festgehalten hatten.
Franz, um sechs Jahre älter als Karl, war schon ein gefeierter Kriegs¬
held, als der Erzherzog-Infant fast noch in den Kinderschuhen steckte. Kaum
zum Throne gelangt, war Franz durch den Sieg von Marignano Herr von
Mailand und Genua sowie eines großen Teils der Lombardei geworden. Als
dann am 12. Januar 1519 der alte Maximilian sein an Taten und Plänen,
an Enttäuschungen aber auch an Erfolgen reiches Leben schloß, hub ein Ringen
um die Kaiserkrone an, wie es Deutschland weder vor- noch nachher je gesehen
hatte. Die schmählichsten Ränke, ein Hin und Her schnöder Geldgeschäfte, die
Einmischung der fremden Mächte, die doppelzüngige Politik des Papstes Leos
des Zehnten, ein Markten und Feilschen in der Sache, die sich als die wichtigste
der Christenheit gab: alles das war wahrhaftig kein Ruhmesblatt deutscher
Geschichte. Der geachtetste Fürst des Reiches, Friedrich der Weise von Sachsen,
hatte das Diadem Karls des Großen standhaft abgelehnt. Franz von Frank¬
reich, der schon seit Jahren seine Netze ausgeworfen hatte, soll drei Millionen
Taler auf die Bestechung der Kurfürsten verwandt haben. Das Geld spielt
eine ähnliche Rolle wie bei manchen Papstwahlen des Mittelalters und der
Renaissancezeit. Gewiß kämpften auch Maxens Enkel Karl und sein Hof mit
denselben Mitteln, soweit die perennierende Geldnot des Hauses Habsburg es
gestattete, oder soweit die Fuggers und andre Kredit gaben. Merkwürdig
genug ist, daß die Eidgenossen, die sich tatsächlich schon vom Reiche losgerissen
hatten, eine Abordnung an die Kurfürsten schickten, mit der Bitte, „ein houpt
von der Tütschen vnd und von der Wälischen Nation zu wühlen". Aber der
in den Niederlanden geborne und aufgewachsne Karl, obwohl urdeutschen
Stamme entsprossen, galt damals kaum als ein Deutscher. Es war der König
von Spanien, der mit dem von Frankreich um die römische Kaiserkrone rang.
Und nicht etwa ein Erwachen des Nationalgefühls, sondern Karls geschicktere
Diplomatie und seine Unterwerfung unter die Wahlkapitulation haben ver¬
hindert, daß die Krone der Salier und der Staufen an Deutschlands Erbfeind
fiel. Als sich endlich nach monatelangem Verhandeln und Handeln am
28. Juni 1519 die Stimmen der Kurfürsten auf Karl vereinigten, und Franz
den berückendsten Traum seines Ehrgeizes zerronnen sah. da trat zum politischen
Antagonismus zwischen den zwei jungen Fürsten ein persönlicher, der nie mehr
zur Ruhe kam.
Karl machte alsbald das alte Recht des Reichs auf Oberitalien geltend,
und schon 1521 brach der offne Kampf aus. Wir sehen, wie Franz. bei
Vicocca durch das Feldherrntalent Frundsbergs und Pescaras geschlagen,
Mailand verliert, wie 1523 die Franzosen neuerlich in Italien eindringen und
neuerlich geschlagen werden, diesmal von einem Franzosen und königlichen
Prinzen. Der Abfall des Connetable von Bourbon, des ersten Reichsbeamten
und ersten Reichsvasallen der Krone Frankreichs, der von Franz vielfach gekränkt
und vermögensrechtlich bedroht, zum Kaiser überging, ist eine interessante
Geschichte für sich. Karl von Bourbon, ein gefeierter Kriegsmann, ein Herr
von imposanter Person, schlug seine Landsleute 1524 in Italien, drang in die
Provence vor, nahm Toulon, fand aber vor Marseille tapfersten Widerstand.
Die Nachricht, daß König Franz im Oktober 1524 mit einem auserlesnen,
glänzenden, reichlich versorgten Heere über die Alpen gegangen sei, nötigte den
Connetable, die Belagerung Marseilles aufzuheben und auch seine Truppen
schleunigst wieder in die Lombardei zurückzuführen.
Damit begann ein Feldzug, der nur kurz währte, aber zu den merkwürdigsten
des kriegereichen sechzehnten Jahrhunderts zählt. Ein jüngst erschienenes, auf
gründlichem Quellenstudium fußendes Buch*) gibt uns den Anlaß, die Kampagne
von 1524 auf 1525, die sich in der Belagerung und in der Schlacht von Pavia
erschöpft, in ihren Hauptumrissen zu betrachten, hierbei aber auch einige Punkte
zu betonen, die das erwähnte treffliche Buch nur kurz streift oder (von seinem
Standpunkte mit Recht) übergeht.
Ein kaiserliches Heer sei in den Alpen verloren gegangen, spottete im
Herbst 1524 der römische Straßenwitz, der redliche Finder wird gebeten,
es gegen gute Belohnung abzugeben. Während sich die Kaiserlichen, aus
Frankreich zurückgeeilt, um Lodi sammelten, hielt Franz das ganze Land bis
zum Tessin besetzt; er war schon am 24. Oktober in Mailand eingezogen, hatte
sich aber dann gegen das militärisch weit wichtigere Pavia gewandt. Dies
gegen den Rat seiner erfahrnen, alten Generale, die ihm empfohlen hatten,
das geschwächte kaiserliche Heer bei Lodi anzugreifen.
In Pavia, das am 25. November von den Franzosen völlig eingeschlossen
war, lag unter dem Oberbefehl des kriegstüchtigen Antonio de Leyva eine
Besatzung, nicht stark an der Zahl, aber entschlossen und kaisertreu: 200 schwere
und 200 leichte Reiter, 400 spanische Arkebusiere und 5000 deutsche Lands¬
knechte, jene Kerntruppe, deren Rolle in den italienischen Kriegen immer
wichtiger wurde. Die Landsknechte waren von Eitelfriedrich von Hohenzollern
und unter ihm von Eck Reischach (der sich nachmals in den ersten Wiener
Türkenbelagerung hervortat), vou Graf Lodron, dem dreiundzwanzigjührigen
Sohne Frundsbergs u. a. befehligt. Auch der typisch gewordne Laudskuechtführer
Sebastian Schärtleiu vou Burtenbach verdiente sich, wie er in seiner Selbst¬
biographie sagt, zu Pavia die Sporen.
Die viermonatige Belagerung der festen lombardischen Stadt, die zu hoher
kriegsgeschichtlicher Berühmtheit gelangt ist, ist in einem 1525 zu Pavia er¬
schienenen Buche des Franciscus Taegius mit der anschaulichen, schlichten Kraft
des echten Chronisten beschrieben worden. Leyva leitete die Verteidigung mit
umsichtiger Verschlagenheit; Besatzung und Bürgerschaft wetteiferten in Tapfer¬
keit und Ausdauer. Zumal die alte Ghibellinenfamilie der Beccaria und die
mutige Hippolita Malaspina, Marchesa von Scaldasole, werden namentlich
erwähnt. Schon wenige Tage nach der Einschließung begann man in Pavia
Pferde- und Eselfleisch zu verkaufen; aus Mangel an Brennholz wurden die
Hausbücher abgetragen; aus Mangel an Geldzirkulationsmitteln Notmünzen
geprägt, die Kirchenschätze in Anspruch genommen usw. Vergeblich unternahmen
die Franzosen Sturm auf Sturm; vergeblich war auch der ungeheure Kosten
verschlingende Versuch, den Tessin in das Bett seines Nebenflusses Gravellone
abzuleiten.
König Franz sah ein. daß er Pavia aushungern müsse. Die politische
Lage gestaltete sich übrigens eben damals günstig für ihn. Der Papst, Venedig
und andre italienische Fürsten schlössen Frieden mit ihm, ja gingen teilweise
vom Kaiser zu ihm über. „Desto besser", schrieb der Abt von Najera damals
an Karl den Fünften, dem er eine lange Liste abgefallner Bundesgenossen
mitteilte. Wenigstens sah man jetzt klar. „Bald sollten Truppen einlangen,
kriegstüchtiger als die, welche die kleinen Fürsten Italiens aufstellen konnten."
Mit systematischem Eifer war nämlich inzwischen an der Ergänzung und
Verstärkung , des aus Frankreich zurückgezognen und um Lodi gesammelten
kaiserlichen Heeres gearbeitet worden. Ein so einträchtiges Zusammenwirken,
wie es in Habsburgs Lager nicht immer die Regel gewesen, hatte Erfolg.
Bourbon war nach Deutschland gegangen, um neue Truppen zu holen. Georg
von Frundsberg und Marx Sittich von Embs warben für den Kaiser zwei
Landsknechtregimenter mit dem Musterplatze Meran. Zumal Frundsberg, der
alte „Landsknechtvater", der berühmte „Leutcfresser", trat mit allem Eifer wieder
für seinen kaiserlichen Herrn ein. Der biedre Schwabe, der kein Kondottiere im
vulgären Sinne, sondern ein theoretisch und praktisch hochgebildeter Kriegsmann,
neben Pescara wohl der beste Stratege seiner Zeit war, ließ von neuem den oft
bewährten Zauber seines Namens wirken. Und die „frommen Landsknechte"
eilten herbei; auch mancher deutsche Junker, dem es daheim zu enge und zu
armselig geworden, war darunter. Am 26. Dezember brachen Frundsberg und
Marx Sittich von Meran auf, Mitte Januar trafen sie um Lodi ein, 12000 Mann
stark, „ausgezeichnete Soldaten", wie der Abt von Najera tröstlich an den
Kaiser schreibt „entschlossen, lieber zu sterben, als zurückzukehren, ohne Pavia
entsetzt zu haben". Auch des Kaisers Bruder, Erzherzog Ferdinand (der seit
den Brüsseler Verträgen von 1522 in der kleinern österreichischen Hälfte des
Habsburgischen Erbes gebot), hatte auf seine Kosten 2000 Landsknechte und
200 Reisige ausgerüstet und nach der Lombardei gesandt. Ein bewährter Krieger
befehligte sie: Niklas Graf zu Salm aus der Linie Obersalm des berühmten
Hauses, damals schon fünfundsechzig Jahre alt, ein Mann von goldner Treue
und unermüdlicher Tatkraft, viel erfahren schon in den Kriegen Maximilians,
ausgezeichnet als Feldhauptmann wider die Türken, nachmals zu weltgeschicht¬
lichen Ruhme gelangt durch die Verteidigung Wiens, 1529. Auch aus Schwaben,
Burgund und den österreichischen Erbländer strömten Reisige zu. Und allmählich
sammelte sich so um Lodi eine kaiserliche Streitmacht, recht ansehnlich nach den
Begriffen jener Zeit. In Franz Ferdinand von Avalos, Marchese von Pescara,
hatte Karl den richtigen Führer eines so vorzüglichen Heeres. Pescara, der
am Siege von Bicocca hervorragenden Anteil genommen hatte, war, damals
erst fünfunddreißigjährig, wohl der bedeutendste General seiner Zeit, der „un¬
bestritten überlegne Kopf im Heere", wie Thom sagt, dabei „ein fein wägender
Geist, der wie kein andrer Feldherr Karls des Fünften der Welt und Zeit
eines Macchiavell anzugehören scheint".
König Franz hatte sein Hauptquartier von San Lcmfrcmco nach dem
Kloster San Paolo verlegt und konzentrierte seine Hauptmacht auf der Hügel¬
reihe östlich von Pavia bis an den Tessin hinab. Das kaiserliche Heer aber
brach am 24. Januar von Lodi auf und schien auf Mailand loszugehn, um
Franz zur Aufhebung der Belagerung zu veranlassen. Da dies vergebens
war, wandte sich Pescara plötzlich gegen Süden und nahm nach zwei Stürmen
das etwa zwanzig Kilometer östlich von Pavia liegende Kastell San Angelo
(wobei er sich persönlich durch Tapferkeit hervortat); am 3. Februar nahmen
die Kaiserlichen bei Prado und Lardirago, nur noch wenige Kilometer nord¬
östlich von Pavia Stellung, fast unmittelbar an den feindlichen Verschanzungen.
Schon damals machte sich im Heere Karls der Geldmangel auf das
empfindlichste geltend. Das war ja die Erbkrankheit des Hauses Habsburg.
Sie hatte dem langlebigen Kaiser Friedrich Demütigung auf Demütigung
gebracht; sie hatte so manchen kühnen Plan seines Sohnes Maximilian zerstört.
An den jungen Kaiser aber hatte der Vizekönig von Neapel, Karl von Munkenwall,
Marquis von Lcmoy, der auch beim Heere war, schon im Dezember 1524
geschrieben, man brauche mindestens hunderttausend Dukaten, um der Armee
den rückständigen und laufenden Sold zu bezahlen. Aber Geld kam keins,
und es kostete Pescara und Frundsberg Mühe genug, die Söldner wenigstens
noch auf kurze Zeit zu verpflichten.
In Franzens Kriegsrat drängten die alten, erfahrnen Generale, die zum
Teil noch unter Ludwig dem Elster ihre Sporen verdient hatten, der König
möge die Belagerung aufheben, ein festes Lager nördlich von der Stadt beziehn
und einer Schlacht ausweichen. Sie wiesen darauf hin, daß das kaiserliche Heer
dem französischen überlegen sei, sich aber, falls es nicht zum Schlagen käme,
dank der Geldknappheit bald selbst auflösen würde. Auch Papst Clemens soll
dem König einen ähnlichen Rat erteilt haben. Franz aber folgte zu seinem
Verderben, wie schon früher öfter, dem Rate des jungen Admirals Bonnivet,
der, ein glatter Hofmann, wie es scheint, seinem Herrn das empfahl, was dieser
in seinem ritterlichen Tatendurst selbst wollte. So beschloß Franz, den Feind
in seinem Lager vor Pavia zu erwarten. Beide Teile, in ihren Verschanzungen
einander nahe gegenüberliegend, lieferten sich einige kleine Gefechte ohne Be¬
deutung. Aber die Kaiserlichen konnten bald nicht länger zuwarten. In Pavia
war die Not der Belagerten aufs höchste gestiegen, und Leyva bat durch
geheime Botschaften immer dringlicher um Entsatz. Nur mit Anstrengung war
es gelungen, die spanischen Arkebusiere und die deutschen Landsknechte neuer¬
lich auf einige Tage zu verpflichten, wohl mit Hinweis auf das mit allem
versehene Lager der Franzosen, das die reichste Beute versprach. Bemerkt sei
noch, daß sich hier (wie es heißt) an Pescara französische Bestechungsversuche
heranwagten, die der Marchese mit den verächtlich-stolzen Worten abwies,
der König solle sein Geld behalten, er werde es bald zu seiner Freilösung
brauchen. Von Frundsberg aber wird erzählt, daß er schon im Lager von
Lodi einen päpstlichen Legaten, der zu unterhandeln kam, mit „blosem Schwerdt
abgefertiget und ja auß dem läger getrieben" habe.
So entschloß sich endlich Pescara. hauptsächlich durch die Geldnot ge¬
zwungen, den Tag des Apostels Matthias — 24. März — zum Losschlagen
zu bestimmen. Fünfundzwanzig Jahre vorher, genau auf den Tag, war die
Gattin des Erzherzogs Philipp, Johanna, zu Gent plötzlich von Geburtswehen
überfallen worden und hatte — auf dem geheimen Gemache — einem Knaben
das Leben geschenkt, der nun Kaiser Karl hieß und nach dem hyperbolischer
Worte des persischen Gesandten „die Sonne zum Hut" hatte.
Die Schlacht unter den Mauern Pavias, die weder zu den ganz großen
noch zu den Länder- und Völkergeschicke bestimmenden gehört, ist gleichwohl
eine der berühmtesten aller Zeiten geworden. Sie ist eben nach der militärischen,
nach der politischen und nach der menschlichen Seite hin interessant, reich an
ritterlichen Episoden und an die Einbildungskraft packenden Wendungen; merk¬
würdig auch durch die Zahl der Nationen (Deutsche, Franzosen, Spanier,
Italiener), die an ihr teilnahmen, und daß, wie leider so oft, auch hier Deutsche
gegen Deutsche fochten und den altbewährten Kriegsruhm ihres Volkes im
Bruderkampf gegeneinander maßen. Merkwürdig endlich ist auch die Mischung
zwischen ritterlicher und moderner Kampfesart und die Rolle, die der Feuerwaffe
nun beschieden war. Die Quellen über die Schlacht und ihre Literatur hat
Reinhard Thom in dem obenerwähnten Buche sorgfältig zusammengestellt. Wichtig
ist besonders der Schlachtbericht Frundsbergs, der in zahlreichen Flugschriften
verbreitet wurde und trotz seines ungelenken Stils den Eindruck der größten
Vertrauenswürdigkeit macht; ferner der Bericht Pescaras, der allerdings
speziell für den Kaiser geschrieben und auf diesen berechnet ist; die Briefe des
Abts von Najera, der Schatzmeister des kaiserlichen Heeres und dessen erster
Verwaltungsbeamter war, wie es scheint, ein ergebner Diener Karls und dessen
eifriger Korrespondent, sowie Berichte andrer Teilnehmer oder Zuseher am
Kampfe. Von spätern Darstellungen ist die Adam Reißners in seiner „Historia
Herrn Georgen und Herrn Kasparn von Frundsberg" (Frankfurt am Main, 1568)
bemerkenswert und reich an Einzelheiten, endlich von neuern Arbeiten die von
Konrad Häbler und Max Jähns; gegen diesen letzten polemisiert Thom in
mehreren Punkten. Die zeitgenössischen Darstellungen der Schlacht weichen,
wie dies ja in ähnlichen Fällen fast immer vorkommt, im einzelnen vielfach
voneinander ab. So schon in den Zahlenangaben über die Streitkräfte. Sieger
wie Besiegte hatten nach dem Kampfe ein Interesse, sich selbst numerisch
schwacher und den Gegner stärker zu machen: Zahlen wie 60000 oder gar
100000, die auch genannt werden, kommen (wie Thom bemerkt) für diese Zeit
überhaupt nicht in Betracht. So dürfte man, unter Erwägung aller Umstände,
das kaiserliche Heer zwischen 20 und 24000 Mann, das französische zwischen
26 und 30000 Mann stark annehmen. Unter Karls Fahnen dienten, wie eine
Quelle sagt, tutti, vstsraiü al KpaMg, s all <Ä«zrinAnia, erlesne Truppen unter
erlesncn Führern. Pescara hatte die Leitung des Ganzen, und Pavia wurde
der große Tag seines kurzen, aber glanzvollen Feldherrnlebcns; Frundsberg
und Marx Sittich führten ihre Landsknechtregimenter; die Reisigen des Erz¬
herzogs Ferdinand standen unter Salm, dem sich auch der Connetable von
Vourbon, ohne ein spezielles Kommando zu führen, anschloß.
Den Kern von Franzens Heer bildeten etwa 2000 Koininss ä'g,riQ68 oder
Gendarms, schwere, gepanzerte Reiter, die Blüte des französischen Adels, geführt
von den Trägern der glänzendsten Namen des Reiches, eine Neitertruppe
alten Stils, deren tragisches Geschick bei Pavia wie ein Symbol der unter¬
gehenden alten Feudalmacht erscheint. Dann 8000 schweizerische Söldlinge
unter Dießbach; endlich die tamas noirs, eine einzig merkwürdige Truppe,
6000 Deutsche unter französischen Fahnen! Im Jahre l512 kommt diese
Schar zuerst vor. Nun war ihr Führer Richard von Suffolk aus dem Hause
Aork, meist nur „der Herr von der weißen Rose" genannt. Unter ihm fochten
bei Pavia ein Herzog von Württemberg, ein Graf von Nassau, ein Franz von
Lothringen, der Bruder des regierenden Herzogs, und viele andre deutsche Edel¬
leute, jüngere Söhne, Vertriebne Prätendenten öder auch verzweifelte Abenteurer,
denen der heimatliche Boden zu arm, zu eng oder — zu heiß geworden war.
Da war aber auch ein Georg Langenmantel, Sohn des von Kaiser Max hoch¬
geehrten und von den Augsburgeru vierzehnmal zum Bürgermeister gewühlten
Herrn Johann Langenmantel, und mancher andre verunglückte Patrizierssohn;
endlich geradezu katilinarische Existenzen. Auf der größten Zahl der genannten
Fürsten und Edeln, überhaupt auf den adlichen Herren, die in der da,nao noirs
standen, ruhte des Reiches Acht. Nur auf ihren Spießen sahen sie Ehre und
Güter, hinter sich Tod und Schmach. König Franz der Erste hätte in der
weiten Welt nicht todesentschlossenere Männer gefunden. Unter ihren schwarzen
Fahnen, vom Kopf bis zum Fuß schwarz geharnischt oder schwarz gekleidet,
sahen die riesigen Gesellen mit Verachtung jedem Feinde entgegen. Sie waren
bis zum Tage von Pavia das gefürchtetste Kriegsvolk ihrer Zeit."°)
Franzens Heer war nicht nur an Zahl, sondern auch in der Qualität
seiner Reiterei und Artillerie dem kaiserlichen überlegen. Und doch lag auf
dieser Seite das moralische Mehrgewicht, schon ob der Siegeszuversicht und
Kampfeslust bei Karls Scharen. Auch waren hier die bessern Führer. „Stand
doch an der Spitze der Landsknechte Frundsberg selbst, der seine Landsknechte
taktisch so weit ausgebildet hatte, daß sie an die Stelle der bis dahin für
unüberwindlich geltenden Schweizer traten. Führte doch Pescara in eigner
Person die Spanier."
An der Nordseite der alten langobardischen Krönungsstadt lag das von
mächtigen Ecktürmen verstärkte Kastell, die einstige Residenz der Visconti. Und
nördlich davor der Tiergarten, auch aus der Zeit der Visconti stammend, ein
mächtiger, fünfzehn Kilometer im Umfang messender Wildpark, das Gelände
sanft wellenförmig mit weiten Grasflächen und einigen Wäldchen. Er war von
einer starken Backsteinmauer umschlossen. Etwa in der Mitte des Tiergartens
lag das Jagdschlößchen (oder der Meierhof) Mirabell. Durch den Park floß
von Norden nach Süden der schmale Vernacula- oder Vernavolabach. Östlich
von Pavia lagerten, wie schon erwähnt worden ist. die Franzosen, nordöstlich
Pescaras beutelustige und sichessichere Armee. Da ein direkter Angriff auf das
starke Lager des Königs aussichtslos schien, beschloß Pescara in der Nacht
vom 23. auf den 24. März die Tiergartenmauer zu durchbrechen, das kaiserliche
Heer in den Park eindringen zu lassen und den König entweder zum Ver¬
lassen seines festen Lagers oder zum Rückzug über den Tessin gegen Süden
zu zwingen. Zugleich wurde Leyva durch Boten verständigt, falls er in der
Morgenfrühe drei Kanonenschüsse hören würde, mit voller Macht aus Pavia
zu brechen und gegen Mirabell vorzudringen. Pescara gab die Losung luala
Ausrig. aus, will sagen, es solle kein Pardon gegeben werden, eine grausame,
von den Schweizern in Übung gebrachte Kriegssitte. So war von kaiserlicher
Seite alles wohl überlegt und vorbereitet, während die Franzosen, sorglos
gemacht durch die lange Untätigkeit des Feindes, von dem bevorstehenden Ent¬
scheidungskampfe nichts ahnten.
Die Nacht vom 23. auf den 24. war mondlos sternenhell. Spanier und
Landsknechte erhielten, um im Dunkel der Nacht Freund und Feind zu unter¬
scheiden, Befehl, Hemden über ihre Rüstungen zu ziehen. „Eine Forderung,
die manchen frommen Landsknecht in Verlegenheit setzte. Weißes Papier mußte
dann aushelfen." Frundsberg soll nach einer Quelle in der Schlacht eine
Mönchskutte getragen haben.
In der Nacht warfen also Schanzarbciter der Kaiserlichen die Tier¬
gartenmauer an drei Stellen ihrer Nordseite ein. Geschütze wagte man des
Lärmes wegen nicht zu verwenden. Es war fast Tag, als man damit fertig
wurde. Im Morgennebel rückten dann zunächst etwa 3000 Mann in den
Wildpark ein. Nun wurden auch die drei Kanonenschüsse gelöst, und von Pavia
her dröhnte die Antwort. Schloß Mirabell wurde zunächst besetzt. Dann
rückte das Haupttreffen des kaiserlichen Heeres durch die drei Breschen nach.
Daß dies so unbehindert möglich war, erklärt sich daraus, daß König Franz
der Stärke der Tiergartenmauer allzusehr vertraut hatte, daß wohl französische
Posten aufgestellt waren, deren Wachsamkeit aber im Laufe der langen Be¬
lagerung nachgelassen haben mag.
Die Franzosen, die anfangs meinten, es handle sich wieder nur um eines
der gewöhnlichen nächtlichen Scharmützel, mußten die Gefahr ihrer Situation
bald einsehen. Im Westen hatten sie Pavia, im Osten die eignen Schanzen,
die einen Rückzug hinderten, im Süden den Tessin, im Norden den Feind.
Als sich die Morgennebel hoben, konnte König Franz von seinem Standorte
San Paolo das ununterbrochne Eindringen der Kaiserlichen in den Tiergarten
beobachten. Er ließ nun zunächst durch dreißig Geschütze den linken Flügel des
Feindes beschießen. Karls Artillerie hat in der ganzen Schlacht überhaupt
keinen Schuß abgegeben. Dann rückte der König persönlich an der Spitze
seiner Iwininss ä'armos vor. „Dieser Angriff nötigte die französischen Geschütze
sofort zum Einstellen des Feuers. Der König hatte sich somit selbst um den
Einfluß jener Waffe gebracht, in welcher er den Kaiserlichen außerordentlich
überlegen war, ja diese ihm gar nichts entgegensetzen konnten."
Der Anprall von Franzens schwerer Reiterei scheint furchtbar gewesen zu
sein. „Es war ein schwerer angriff, schreibt Reißner, zu beyden seit waren alte
Kriegsleut, die nicht allein umb Ehr sondern umb das Italisch Imperium
kriegten." Salm hat, wie dieselbe Quelle meldet, mit seinen Reisigen „tapffer
nachgedruckt", wurde aber zurückgedrängt. Es war ein kritischer Augenblick.
Der König ließ ein wenig halten, um die Pferde verschnaufen zu lassen. Zu
dem neben ihm reitenden Herrn von Lesen soll er gesagt haben: „Herr, heute
will ich mich Gebieter von Mailand nennen."
Nun ließ der im Zentrum der Kaiserlichen stehende Pescara etwa
1500 spanische Arkebusiere wider die siegreich vordringende französische Reiterei
los. Gedecke durch das wellige Terrain, durch die Wäldchen und Büsche, teil¬
weise auch durch den Bach, eröffneten die Scharfschützen ein mörderisches Feuer
auf die Ritter, die in ihren schweren Rüstungen gegen eine so leichtbewegliche
Kampfart schutzlos waren. Bald bedeckten zahlreiche Glieder des vornehmsten
französischen Adels mit ihren prächtigen Streitrossen das Schlachtfeld.
Nun trafen auch die auf dem linken Flügel der Kaiserlichen stehenden
Landsknechtregimenter des Frundsberg und Marx Sittich mit der Kemäs noirs
zusammen, der sie an Zahl wohl um das Doppelte überlegen waren. Hier
fochten Deutsche gegen Deutsche; vielleicht war gerade dies der Grund, warum
hier der Kampf am erbittertsten und erbarmungslosesten wütete. Frundsberg
ließ keinen Pardon geben; der biedere Schwabe sah in den Schwarzen Ver¬
räter an der Sache seines deutschen Vaterlands. So fielen Franz von Lothringen,
der Graf von Nassau, mehr als fünfzig deutsche Grafen und Herren. Die
tamas moll-6, bis dahin so gefürchtet, wurde nach löwentapferer Gegenwehr
vernichtet, schier bis auf den letzten Mann aufgerieben. Nun fielen auch die
dreiundfünfzig französischen Geschütze in die Hände der Kaiserlichen.
Da der 400 dommss ä'armes als Nachhut befestigende Herzog von
Alencon, von Salms Reisigen angegriffen, in wilder Flucht das Schlachtfeld
verließ — eine schmähliche Episode inmitten so vieler Proben von Heldenmut —,
waren alle Teile des französischen Heeres bis auf die noch nicht ins Gefecht
gekommnen 8000 Schweizer kampfunfähig gemacht. Aber gerade diese berühmte
Truppe, auf die König Franz seine stärkste Hoffnung gesetzt hatte, versagte bei
Pavia vollständig. Von 12000 Landsknechten in der Front angegriffen (auch hier
wieder Deutsche gegen Deutsche!), von dem inzwischen aus Pavia ausgefallnen
und nach Besiegung der Italiener Medicis vordringenden Leyva im Rücken
angefallen, schienen sie ihren alten Ruf zu vergessen und flohen in Masse.
Ihr Anführer Johann von Dieszbach und andre Hauptleute fanden den Tod.
Viele Tausende von Eidgenossen ertranken im Tessin, viele wurden von den
Landsknechten gerettet.
So war jeder Widerstand des prächtigen französischen Heeres gebrochen.
Überall wilde Flucht oder vereinzeltes Morden. Um dem Gemetzel Einhalt zu
tun, ließ Pescara den „guten Krieg" verkünden. Es war aber schon zu spät.
Die interessanteste Episode der Schlacht von Pavia ist unstreitig die
Gefangennahme des Königs. R. Thom streift sie in seinem Buche, das haupt¬
sächlich einer Darstellung der militärischen Bewegungen gewidmet ist, nur kurz.
Die verläßlichste Quelle für diese echt ritterlich-romantische Szene dürfte Meißner
sein. Es kann nicht zweifelhaft erscheinen, daß sich der Valois noch mit
äußerstem persönlichem Mute wehrte, als schou sein Heer geflohen, die meisten
Edeln um ihn gefallen oder gefangen waren. Da stach Niklas Salm des
Königs Hengst nieder und verwundete Franz — der schon vorher einige un¬
bedeutende Verletzungen erlitten hatte — an der Hand. Der König aber stach
Salm durch den Schenkel und wehrte sich tapfer. Da kam Mokka Anarrius,
der Hofmeister des Herzogs von Bourbon, hinzu und forderte den König auf, sich
dem Herzog, der nicht weit sei, zu ergeben. Reißners Schilderung ist so kräftig,
daß wir am besten ihm selber das Wort geben. „Der König war ob diesem
Namen unwirß vnd sprach: Ich kenne keinen Hertzogen von Bourbon, denn
mich selbß vnd wil mich niemandt gefangen geben, denn dem Römischen
Keyser. ehe will ich sterben. Da ist ein Hispanier hinzugeruckt, hat jn beym
Helmlin erwüscht, vnd vom Pferd wollen reissen, den hat der König von jm
gestochen, daß dem Hispanier eins theils von des Königs Ermel vnd Feder
vom Haupthelm in der Hand blieben. Der König befahl, man solte den
Vice-Roi heißen kommen, Oarl as I.g, Der Vice-Noi kam bald, hat die
reysigen, die on den König stunden, abweichen heißen, vnd den König mit der
rechten Hand vom Pferd gezogen vnd auffgericht, dem hat der König an statt
des Römischen Keysers Gefängknuß gelobt und hat den rechten Harnisch-
händschuch zum zeichen der Gefängknuß geben." Nach andern Berichten
empfing Lcmoy kniend den Degen des Königs.
Es ist begreiflich, daß später mehrere Personen den Ruhm für sich in
Anspruch nahmen, den gefeierten König der Franzosen gefangen genommen zu
haben. Entscheidend dürfte aber doch sein, daß es der in Österreichs Geschichte
so glorreich bekannte Graf Salm war, der dem König das Pferd unter dem Leibe
niederstach und ihn so kampfunfähig machte. In der geschilderten Weise sieht
man auch den geschichtlichen Vorgang auf einem der Reliefs des herrlichen
Grabmonuments Salms in der Votivkirche zu Wien.
Spanier und Italiener haben in ihren Schlachtberichten und spätern Dar¬
stellungen den Ruhm des Tages von Pavia oft in einer Weise für sich reklamiert,
daß für die Deutschen nichts übrig blieb. Gewiß waren es die spanischen
Arkebusiere, die durch ihren Angriff auf die Komines ä'-irinss das Schicksal der
Schlacht wandten. Damit war diese aber noch nicht gewonnen. Man darf
nicht vergessen, daß zwei Drittel von Pescaras Heer und fünf Sechstel der
heldenmütigen Besatzung Pavias deutsch waren; daß deutsche zum großen
Teil in Österreich gewordne Landsknechte erst die Schwarze Bande vernichteten,
dann die Schweizer in die Flucht schlugen; daß endlich Salms Reisige, von
Erzherzog Ferdinand ausgerüstet, eine hervorragende Rolle gespielt haben.
Über die Verluste auf beiden Seiten gehen die Berichte weit anseinander.
Frundsberg bezifferte die der Franzosen auf 10000 Mann, andre Berichte auf
20000, Lcmoy gar auf 25000 Mann. Die Kaiserlichen scheinen kaum mehr
als etwa 500 Mann eingebüßt zu haben. Von ihren Anführern waren nur
wenige gefallen, Salm und Pescara verwundet. Der hochbegabte spanische
General starb übrigens noch im Dezember desselben Jahres an den Anstrengungen
des Feldzugs. Beide Teile hatten sich im großen und ganzen unstreitig mit
hohem Mute geschlagen. Freilich wenn man in einer neuern Darstellung liest:
„Gleichsam berauscht von heroischer Trunkenheit starb der Adel von Frankreich
mit Freuden und wetteifernd um seinen König", so ist das ein wenig Rhetorik.
Es zeigte, wie Thom sagt, die lange Liste der auf französischer Seite Gefallnen
und Gefangnen, daß diese bei weitem überwogen, besonders in der jüngern
Generation. Tot waren der fünfundsiebzigjührige Louis Seigneur de la Tremoille,
der vergeblich von der Schlacht abgeraten hatte, der Marschall von Chabannes,
Louis d'Ars, Bussy d'Amboise, Clermont-Tonnerre, Se. Pol, der Marschall
von Foix und manches andre Glied des vornehmsten französischen Adels.
Die Schlacht von Pavia hat nach dem Berichte Wintzerers und Politicmos
nicht länger als anderthalb Stunden gedauert. Der Sieg der Kaiserlichen
war vollständig. Militär- und weltgeschichtlich zählt der kurze Kampf aus
manchem Grunde zu den merkwürdigen. »Diese Schlacht, sagte Thom sehr
richtig, führte die deutschen Landsknechte ans die Höhe ihres Ruhmes. Es ist
die letzte glänzende Waffentat des alten Frundsberg. Die Schweizer haben
die führende Rolle ausgespielt. An ihre Stelle treten die Deutschen. Auch das
Ritterheer hat einen zu empfindlichen Stoß erhalten, als daß es sich wieder
zu erholen vermag."
Im übrigen hat die Schlacht aber weder das Schicksal Mailands, um das es
sich zunächst handelte, noch den Kampf um das „Jtalisch-Imperium", der dahinter
stand, dauernd entschieden. Um zunächst auf Franzens Person zurückzukommen,
sei erwähnt, daß sein unzähligem«! zitiertes und zu einem geflügelten ge-
wordnes Wort: „Alles ist verloren, nur die Ehre nicht", der geschichtlichen
Beglaubigung entbehrt. Der angebliche Brief des Königs an seine Mutter,
worin die illustre Phrase vorkommen soll, liegt in Urschrift nicht vor; auch
sonst sprechen Gründe dafür, daß das berühmte Not ebenso eine spätere
Erfindung sei wie Koscziuskos (von diesem selbst dementiertes) nich ^olomas!
und wie so mancher andre „Treppenwitz der Weltgeschichte".
Der gefangne König wurde erst nach San Paolo gebracht, wo eben die
versammelten Mönche (wie man liest) Psalm 119 Vers 71 sangen: „Es ist
mir gut. daß du mich erniedriget hast, damit ich deine Gerechtigkeit kennen
lerne", was den König tief ergriff. Dann wurde er nach Pizzighetone und
hierauf, sehr gegen den Willen Pescaras und Bourbons, nach Spanien gebracht.
Es war zu befürchten, heißt es. daß sich sonst die Söldner des Königs als
Pfand für ihren rückständigen Sold bemächtigt hätten. Fast ein Jahr wurde
Franz zu Madrid in enger, wenn auch standesgemäßer Haft gehalten. Vor
Verdruß und Langeweile wurde der heißblutige junge Mann krank und verstand
sich endlich am 14. Januar 1526 zu einem Frieden, worin er auf seine An¬
sprüche auf Mailand, Genua und Neapel verzichtete, die Oberherrschaft über
Flandern und Artois aufzugeben, das Herzogtum Burgund abzutreten und des
Kaisers Schwester Eleonore zu heiraten versprach. Zugleich mußte er seine zwei
Söhne als Geiseln für die Erfüllung des Vertrages stellen. Die Knaben wurden
in der Tat am Grenzflüßchen Bidassoa gegen den königlichen Vater ausgetauscht.
Aber Franz hatte ganz im Geiste Macchiavells am Tage vor Unterfertigung
des Friedens eine geheime Protestation verfaßt, worin er im vorhinein all seine
zu machenden Versprechungen für null erklärte. Und unmittelbar nach der
Unterfertigung des Friedens ließ er die Franzosen seines Gefolges auf sein
Zimmer kommen und protestierte vor ihnen gegen den erzwungnen Vertrag.
In der Tat verweigerte der König, kaum in Freiheit, die Erfüllung der
Friedensbedingungen. Der Kampf ging in Bälde wieder an und erneuerte sich
noch zweimal, sodaß die Rivalität zwischen Karl und Franz erst mit dem Tode
des Valois endete, Der Habsburger blieb zuletzt Sieger in diesem Ringen,
das die erste Periode der Kämpfe zwischen Österreich und Frankreich darstellt,
die durch drei Jahrhunderte ein Angelpunkt europäischer Geschichte waren und
>le anders die Zeit geworden war, zeigt der im April 1867 ver¬
öffentlichte erste Jahresbericht des Vereins. Die Einnahmen be¬
trugen 3595 Taler. Das Verzeichnis der Beiträge zeigte das
anmutige Bild, wie Freude und Schmerz und die Geselligkeit
> der Arbeit und der Erholung den Menschen die Hand zum Wohl¬
tun öffnen. 2170 Taler hatte der Verein ausgegeben, eine Bootsstation war
mit 1987 Talern zu Putgarten auf Wittow errichtet worden. Sein Vermögen
hätte ihm auch die Anschaffung eines Raketenapparats erlaubt, aber damit wollte
man warten, bis die Versuche, die damals in Spandau und in Swinemünde
mit Schießapparaten angestellt wurden, abgeschlossen waren.
Alles war anders geworden, die Menschen und ihre Mittel: es gingen nicht
mehr Jahre ins Land, bis eine Rettungsstation stückweise errichtet war und doch
Stückwerk blieb. Ein Jahr reichte zur Errichtung einer Station aus. Kriegsgefahr
und Kriegsnot hemmten nicht mehr die Entwicklung des Rettungswesens. Der
preußisch-österreichische Krieg verursachte zwar eine Störung im Bau des Bootes,
dafür ging der Bau des Bootswagens und des Bootsschuppens während dieser
Zeit vonstatten. Im Jahre 1832 übernahm ein Kolberger Schiffer am 30. August
in Danzig den für Stralsund bestimmten Manbyschen Apparat und lieferte
ihn am 4. Oktober in Stralsund ab, im Jahre 1860 wurde das Francisboot
von Swinemünde durch S. M. Dampfkauonenboot Sperber nach Stralsund
befördert, im Jahre 1866 transportierten die Eisenbahngesellschaften das
Rettungsboot des Vereins unentgeltlich von Hamburg nach Stettin. Ein
Nettungsverein arbeitete jetzt erfolgreich da, wo zwischen 1819 und 1860 nur
die Kader des Vereins in Gestalt von Artillerieoffizieren und Küstenbeamten
eine Danaidenarbeit geleistet hatten.
Eines war sich gleich geblieben: der Eifer, womit die Artillerie das Rettungs¬
wesen förderte.
Der Fortschritt im Nettungswesen, der mit den oben erwähnten Raketen-
schießversuchen in Spandau und in Swinemünde begann, war wieder von der
pommerschen und von der preußischen Küste ausgegangen. Diesmal hatte ein
Marineoffizier, der Korvettenkapitän Werner, Kommandant des Artillerieschul¬
schiffs Gefion, den Anstoß gegeben. Werner setzte damit die Bemühungen fort,
die der erste preußische Marineoffizier des neunzehnten Jahrhunderts, Major
Longe, im Jahre 1832 hoffnungsvoll, so hoffnungsvoll wie seinen Kampf für
die Gründung einer preußischen Marine, aufgenommen und, bald enttäuscht
und gelähmt, erst im Jahre 1861 aufgegeben hatte. Als Vorsitzender des
technischen Komitees im Danziger Verein zur Rettung Schiffbrüchiger hatte
Werner, angeregt durch die Leistungen der englischen Raketenapparate von
Dennett und Boxer, Versuche mit ein- und zweipfündigen Raketen angestellt,
die ungenügende Flugweiten und allzu unsichere Flugbahnen ergaben. Er bat nun
den Kriegsminister, dem Feuerwerkslaboratorium in Spandau zu gestatten, daß
es für den Danziger Verein Raketenapparate herstelle. Der Kriegsminister ge¬
nehmigte das Gesuch und wies Werner an die Direktion des Feuerwerks¬
laboratoriums. Dieser stellte nun den Konstrukteuren des Laboratoriums
folgende Aufgabe: Die Leine soll durch das Geschoß mindestens 600 Schritt
weit getragen werden, sie wiegt pro Rute in nassem Zustande 0,65 Pfund.
Fehlschüsse, überhaupt Zeitverlust, haben leicht Menschenverluste zur Folge. Die
Unsicherheit der Flughahn der Rakete muß deshalb auf ein Minimum beschränkt
werden. Es muß festgestellt werden, wie die Leine am zweckmäßigsten mit der
Rakete verbunden wird. Das Raketengestell muß möglichst leicht und beweglich
konstruiert werden, da der Apparat mit den Leinen an unbewohnten, pferde¬
armen Küstenstrecken oft meilenweit von wenigen Menschen durch tiefen Dünen¬
sand transportiert werden muß. Die Konstruktion des ganzen Apparats muß
einfach sein, da die Bedienung und Pflege der Rettungsgerüte in den meisten
Fällen gewöhnlichen Fischern anvertraut werden muß. Endlich muß die Brenn¬
satzsäule so zusammengesetzt sein, daß das Geschoß möglichst weich anzieht. —
Leinen und eine Egge zum Aufwickeln stellte der Verein dem Laboratorium zur
Verfügung.
Gegeben war wenig, der Zusammenhang mit den Raketenschießversuchen,
die man an der preußischen Küste in den dreißiger Jahren angestellt hatte, war
ganz verloren. Kapitän Werner hatte wieder von vorn angefangen, bevor er
sich an das Feuerwerkslaboratorium wandte. Daß ein preußischer Oberfeuer¬
werker schon dreißig Jahre früher mit Schleppraketen Flugweiten von 346 und
425 Schritt und Treffer auf diese Entfernungen erzielt hatte, wußte niemand
mehr. So konnte man sich seine Erfahrungen nicht zunutze machen, und das
Feuerwerkslaboratorium stand vor einer neuen Aufgabe. Aber es hat sie
glänzend gelöst.
Im Jahre 1865 lieferte es der Schiffahrtskommission in Swinemünde
zehn zweizöllige Festungseitenstabraketen. Nach einem Schreiben der Konnnission
an das Feuerwerkslaboratorium bewährten sich diese Festungraketen bei den
Versuchen so, „daß es keinem Zweifel unterlag, daß dieselben die Mörser¬
apparate zur Rettung Schiffbrüchiger mehr als vollständig ersetzen und die
Mängel dieser Apparate, darin bestehend, daß die Wurfleine leicht zerreißt, die
Wurfweiten zu klein und namentlich die Apparate zu unbehilflich sind, um
schnell nach entlegenen Orten transportiert zu werden, beseitigen".
Auf Wunsch des Handelsministers Grafen Jtzenplitz beauftragte Roon im
Januar des Jahres 1866 die Direktion des Laboratoriums, für weitere Werf¬
versuche der Schiffahrtskommission in Swinemünde noch zehn dreizöllige Kriegs¬
raketen anzufertigen. Im Februar schloß das Laboratorium die Versuche ab.
Am 2. März schrieb die Direktion an die Besteller, „es gereiche ihr zu großer
Freude, ihnen anzeigen zu können, daß die Versuche zur Herstellung von
Rettungsraketen, Raketengestellen und Abwickelungsapparaten zu einem recht
günstigen Abschluß gekommen seien". Am 3. März erstattete der Direktor seiner
vorgesetzten Behörde, der General-Inspektion der technischen Institute der Artillerie,
folgende Meldung:
„Der Königlichen General-Inspektion melde ich ganz gehorsamst, daß die
Versuche mit Raketen behufs Rettung Schiffbrüchiger am 28. v. Mes. zu
einem günstigen Abschluß gekommen sind. Die Rakete hat folgende Einrichtung:
Hülsen 3", Bohrung 0,8", Vorderbeschwerung massiv, ca. 15^/., Pfund; gerad-
armige, verstärkte Stabgabeln; 3' lange und 2,3" starke Stäbe, unten mit einer
eisernen Endkappe zur Befestigung der Leine.
Das Naketengcstell ist ein Bockgestell, dessen Rinne bis an das Ende des
Raketenstabes reicht, um die Kette zwischen Stab und Gestell sicher zu führen.
Die Leine, stark, wiegt bei einer Länge von 700 Schritt ca. 38 Pfund;
sie wird an eine 10 Fuß lange Kette gebunden, und die Kette wird mit dem
Stäbe durch ein Gelenkband verbunden (die Befestigung am Balancepunkte
macht die Rakete komplicirter und hat sich weniger bewährt). Der Ab¬
wickelungsapparat besteht aus 4 Nahmenstückcn, wovon die beiden horizontalen
mit einer Reihe fast komisch geformter Knaggen versehen sind. Er funktioniert
nnter 45 Grad am besten. Die Knaggen werden von oben nach unten in
ca. 15 Lagen mit der Leine bewickelt, diese geht dann direkt zum Raketen¬
gestell, welches ca. 6 Schritt hinter dem Apparat steht. Die größte Wurfweite
erreicht man ungefähr bei 35°, weil das Stabende durch die Leine nach unten
gezogen wird. Bei der Bohrung von 1 Zoll ist die Abgangsgeschwindigkeit
noch so groß, daß die Leine öfter reißt, die Bohrung von 0,8" giebt etwas größere
Wurfweiten. . . . Der Korvetten-Kapitän Werner hatte von der ursprünglichen
Aufgabe, 600 Schritt zu erreichen, Abstand genommen und 450 Schritt als
Minimum angegeben. 600 Schritt sind für die 3"gen Raketen unerreichbar,
weil eine leichtere Vordcrbeschwerung die Abgangsgeschwindigkeit vermehren und
hierdurch die Leine zerreißen würde. Die Bohrungsweite läßt sich nicht mehr
vermindern. Den Gesellschaften in Bremen und Danzig ist davon Kenntniß
gegeben worden, daß die Versuche abgeschlossen sind, und daß jetzt die Aus¬
führung der Bestellungen nach Kräften beschleunigt werden wird. gez. Bartsch,
Major und Direktor."
Einen Tag bevor diese Meldung erstattet wurde, hatten die Österreicher
ihre Rüstungen begonnen. Am 27. März beschloß der preußische Ministerrat
die Armierung der Festungen Kösel, Reiße, Glatz, Torgau und Wittenberg.
Das 6., das 1. und das Gardekorps sollten marschfertig gemacht, für diese
drei Korps und für die 9,, 6. und 7. Division die Artilleriebespannung be¬
schafft werden. Am 3. Mai befahl der König die Kriegsbereitschaft der Kavallerie
und der Artillerie und die Einziehung der Reserven bei den Fußtruppen.
Österreich hatte also in seinen Rüstungen einen Vorsprung von sechs Wochen.
Am 16. Juni begann der Einmarsch der preußischen Heere in Sachsen, Hannover
und Hessen. Am 22. Juni wurde der Einmarsch in Böhmen befohlen, am 24.
stieß die preußische Kavallerie mit der österreichischen zusammen. Am 25. Juni,
am 27. Juni war das Treffen von Langensalza, schrieb die Direktion des
Feuerwerkslaboratoriums an die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger,
die im November des Jahres 1365 nach dem Vorgange des Danziger Vereins
ebenfalls Raketenapparate bestellt hatte: „Die Direktion hat es sich angelegen
sein lassen, den uns vom Kriegsministerium, Allgemeinen Kriegs-Departement
gestellten Auftrag betreffend die Herstellung 3"ger Raketen zum Werfen von
Rettungsleinen nach gestrandeten Schiffen so schnell als möglich zu erledigen.
Da auf diese Raketen-Konstruktion und namentlich ans die Form der Leincn-
tragc lEgge) recht zahlreiche Elemente von Einfluß sind, so haben zeit¬
raubende und umfangreiche Versuche stattfinden müssen, ehe die Feststellung der
Construktion der einzelnen Theile des ganzen Apparates in befriedigender Weise
erfolgt ist.
Die Direktion hatte sich gerade der Leistung dieser Aufgabe mit besonderer
Vorliebe unterzogen, weshalb es uns äußerst peinlich war, wenn immer neue
Hindernisse zur Erfüllung bereits gegebener Zusagen eintraten, und es gereichte
uns deshalb zur besonderen Befriedigung, dem Königlichen Preußischen Corvetten-
Capitain Herrn Werner am 27. April anzeigen zu können, daß nunmehr sicher
die Erledigung des Auftrages in einigen Tagen erfolgen werde.
Es war nur noch nöthig, der vom damaligen Dirigenten des Raketen¬
betriebes bereits entworfenen Instruktion über die Einrichtung und den Ge¬
brauch des Raketenwurfcwparates eine andre Eintheilung und mehr populäre
Fassung zu geben und die zugehörigen Zeichnungen theils zu ergänzen, theils
zu ändern.
Diese Umarbeitung war in wenigen Tagen beendet, sodaß die Instruktion
schon am 5. Mai der Königlichen General-Inspektion der technischen Institute
der Artillerie vorgelegt worden ist. Letztere Behörde verfügte die in der In¬
struktion roth angegebenen Abänderungen vom 18. Mai, hier präsentirt am 21.
Schon am 25. erfolgte die erneuerte Einsendung, und gestern Abend ging gleich¬
zeitig mit Ihrem sehr geehrten Schreiben die Instruktion mit einer Anerkennung
vom Kriegsministerium, Allgemeinen Kriegs-Depcirtement für die sorgfältige Er¬
ledigung hier ein.
Eine frühere Absendung von Raketen ohne diese Instruktion wäre zwecklos
gewesen. Es gereicht der Direktion deshalb zur hohen Freude, den sehr ge¬
ehrten Herren im Vorstande der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiff¬
brüchiger in der Anlage endlich folgende Papiere ergebenst Anzufertigen: a) die
Instruktion über die Einrichtung und den Gebrauch eines Raketen-Wurfapparates
zur Rettung aus Seegefahr, d) Sechs Blatt Zeichnungen dazu. Wir bitten
ergebenst, die erforderlichen Abschriften — namentlich auch für den Danziger
Verein — fertigen zu lassen und die Originale dann gefl. zurückzusenden.
Außerdem wollen Sie gefälligst angeben, wohin die bereit liegenden Raketen
und Gestelle zu senden sind. Es waren in Summa bestellt von 12/7 resp.
9/11 xr. g.) vom Danziger Verein 5 Schieß geflekte und 125 Raketen, d) von
Bremen 5 Schießgestelle und 75 Raketen. Da die Bremer Deutsche Gesellschaft
den Hauptverein bildet, dem sich Danzig und Königsberg als Bezirksvereine
angeschlossen haben, so beabsichtigen wir zur Vereinfachung des Schreibwesens
nur mit Bremen zu korrespondieren, und wollen Sie die Güte haben, den
übrigen Vereinen die erforderliche Eröffnung zugehen zu lassen.
Obige Raketen mit Verbindungsketten und die Schießgestelle werden von
hier aus fertig geliefert. An Leinentragen und Leinenklammern sind 2 Muster¬
stücke exkl. Beschlag zur Versendung bereit. Die Rettungsleinen sind von
den Vereinen zu beschaffen, die Neste der hergesendeten werden Ihnen zugeschickt
werden.
Die Einrichtung der Stationskarre ist in den wesentlichsten Theilen in der
Instruktion beschrieben und durch die Zeichnung anschaulich gemacht. Es ist
selbstredend, daß hierdurch eine endgültige Konstruktion nicht festgestellt werden
sollte, sondern man wollte uur die bcachtungswerten Hauptmomente hervorheben.
An Zubehör zum Apparat erfolgen von hier aus der Raketenkasten, Zündlichte,
3 Lichtklemmen, 3 Zündschlösser, Nichtloth und Quadranten. Die übrigen
Stücke sind dort leicht zu beschaffen. Die Kostenberechnung wird später er¬
folgen, und wollen Sie nur noch gefälligst angeben, was mit einigen unbrauch¬
baren Abwickelungsapparaten geschehen soll, d. h. einer Trommel, einem Stünder,
einem Korns und einer Egge pp., alles in Holz in)/ einigem Eisenbeschlag.
Der Herr Corvetten-Capitän Werner hatte am 18. Mürz die Absicht aus¬
gesprochen, in der »Hansa« einen Bericht zu veröffentlichen und deshalb die
Zusendung einer Beschreibung und Zeichnung des Apparates gewünscht. Da
diese von hier aus nicht erfolgt ist, so ersuchen wir den geehrten Vorstand er¬
gebenst, das Erforderliche sehr gefälligst veranlassen zu wollen."
Die Direktion spricht in diesem Schreiben bescheiden und fast euphemistisch
von immer neuen „Hindernissen", die die Herstellung der Nettungsraketen ver¬
zögerten. Ich habe diese Hindernisse, die zwischen dem 2. März und dem
25. Juni des Kriegsjahres 1866 eintraten, oben angedeutet. Aber nicht nur
die Herstellung, sondern auch die Konstruktion der Nettnngsraketen fiel in die
Zeit der Vorbereitung auf einen schweren Kampf. Jähns hat recht: „Der
Krieg zwischen Preußen und Österreich, zunächst der diplomatische, begann eigent¬
lich bereits in demselben Augenblicke, da Dänemark den beiden deutschen Gro߬
mächten die Herzogtümer zu gemeinsamer Hand abtrat."
Und in dieser Zeit der Rüstungen, der Mobilmachung, des Aufmarsches,
der ersten Zusammenstöße fand eine technische Militärbehörde, deren Produkte
die Feuerwaffen des Heeres erst wirksam machen und in Massen verbraucht
werde», Zeit und Ruhe, ein Kriegsgeschoß zu einem Rettungsmittel umzuschaffen
und damit den deutschen Küstenbewohnem eine Wehr zum Schutze der Küsten¬
schiffer in die Hand zu geben. Daraus spricht eine große, sichere Ruhe, so
groß und so sicher wie die Moltkes. Am 14. Juni 1866 vereinbarte der
geniale Heerführer mit Bismarck die Beschleunigung des Einmarsches in Sachsen,
Hannover und Hessen. Als er sich verabschiedete, fragte er, wie Bismarck in
seinen Gedanken und Erinnerungen erzählt: „Wissen Sie, daß die Sachsen die
Dresdner Brücke gesprengt haben?" und demaskierte den Scherz mit dem Zu¬
sätze: „Aber mit Wasser, wegen Staub." Ich habe die Briefe, worin die
Direktion des Feuerwerkslaboratoriums am 3. März und am 25. Juni 1866,
mit ihrem Werk zufrieden wie Wieland am Feierabend, ihrer vorgesetzten Be¬
hörde und dem Bremer Verein die Vollendung der Rettungsraketen mitteilt,
fast ungekürzt wiedergegeben, weil sie in ihrer idyllischen Breite ein schönes
Gegenstück zu dem Scherze des Generalstabschefs sind.
Die Leistungen der Spandauer Rettungsraketen „wurden in allen, dem
Meere und Strande naheliegenden, mit ihren Anforderungen vertrauten Kreisen ...
mit großer Freude begrüßt".
Die Bedeutung der Flugweite dieser Geschosse, die durchschnittlich 1375
Preußische Fuß betrug, kann man an den offiziellen Aufstellungen des englischen
Handelsamts messen, wonach ein Manbyscher Apparat das Geschoß durch¬
schnittlich 370 preußische Fuß weit schleuderte, eine gewöhnliche Dennettsche
Rakete 800, eine Boxersche 990 und eine doppelte Dennettsche 1050.
Am 28. August veranstaltete Korvettenkapitän Werner in Bremerhaven
Versuche mit den Spandauer Raketen. Dabei ergab es sich, daß die Egge der
Verbesserung und der Karren einer Vergrößerung bedürfte.
Aber die Geschosse bewährten sich. Ihre Feuerprobe bestanden sie im
Jahre 1867. In diesem Jahre wurden durch die Raketenstationen Stolp-
münde 6, Koppalm im Bezirk Danzig 3, Neufahrwasser 22, Pillau 6 — zu¬
sammen 37 Menschenleben gerettet.
Trotzdem arbeitete das Feuerwerkslaboratorium unermüdlich an der Ver¬
besserung der Rettungsgeschosse weiter. Bis zum Oktober 1865 hatte unter der
Direktion des Kommandeurs der Feuerwerksabteilung, Majors Wille, Premier¬
leutnant Meute als stellvertretender Vorsteher des Betriebszweiges für Raketen¬
anfertigung die Versuche auf dem Tegeler Schießplatze bei Berlin geleitet. An
seiner Stelle setzte sie Premierleutnant Wenzel im Oktober und November
fort. Dann übernahm unter der Direktion des Majors Bartsch der Vorsteher
des Raketenbetriebs, Hauptmann Schmölle, diese Aufgabe und schloß sie im
Februar 1866 ab. Von Hauptmann Schmölle rühren wahrscheinlich auch die
Zeichnungen des Transportkarrens, der Egge, der dreizölligen Rettungsrakete
und des Zubehörs dieser Rakete sowie der erste Entwurf der Instruktion her,
da diese Zeichnungen und Schriftstücke von ihm unterschrieben sind.
Seit dem Jahre 1869 werden die Raketen zur Abhaltung der Feuchtig¬
keit, durch die ein Aufquellen der Ladung und eine Zerreißung der Raketen¬
hülsen verursacht werden kann, mit einer Schellacklösung überzogen. Im Ok¬
tober 1869 fanden unter dem stellvertretenden Direktor Hauptmann Bauch auf
dem Schießplatz Tegel Versuche mit einer Ankerrakete statt, bei der die Vorder¬
beschwerung durch ein vierarmiges Untergeschoß gebildet wird. Premierleutnant
steinharte leitete diese Versuche. Die Ankerraketen erschienen dem General¬
sekretär der Deutschen Rettungsgesellschaft Dr. Schuhmacher geeignet, die Mit¬
wirkung der Schiffbrüchigen bei der Rettung überflüssig zu machen. Er sah
in diesem Geschoß ein Mittel, das Boot durch die Brandung an das Wrack
zu bringen. Das Geschoß sollte in der Nähe des Wracks im Meeresgrunde
haften, und an dem damit verbundnen Tau sollte die Bootsmannschaft sich mit
dem Fahrzeug an das Wrack ziehen. Im Spätherbst leiteten der Direktor des
Laboratoriums und Premierleutnant Steinhärte in Bremen Versuche mit Anker¬
raketen. Die Geschosse bestanden die Probe, doch machten sie die andern
Raketen nicht überflüssig. Sie dienen dazu, den Rettungsbooten das Abkommen
vom Strande und die Überwindung der Brandung zu erleichtern. Man schießt
die Rakete über die Brandung hinaus, und dann ziehen einige Leute der Be¬
satzung das Boot an der Raletenleine durch die Brandung, während die andern
rudern.
Im Februar, März, April und Mai 1870 wurde durch Premierleutuant
Pietsch, Hauptmann Küster und Zeugfeuerwerksleutnant Kulbe eine kleinere
Rettnngsralete konstruiert, die der Rettungsgesellschaft für den Spider Strand
und für manche Ostseeküstenstrecken genügend und erwünscht erschien. Diese
zweizölligen Raketen trugen eine Leine von 0,30 Zoll Stärke durchschnittlich
300 Schritt weit. Im September 1870, wieder in einer großen Zeit, in der
man alle militärischen Kräfte auf ein Ziel konzentriert wühlte, wurden die ersten
fertig gestellt und abgeliefert — wieder eine Widerlegung des Vorwurfs der
Unproduktivitüt unsrer Heereseinrichtungen.
Im Jahre 1871 wurde die Ankerrakete dadurch verbessert, daß der
Schraubenschaft an dem Stäbe verlängert und so das Abschrauben des Stabes
beim Anholen des Bootes verhindert wurde. Im Jahre 1887 wurde die
Brennlänge der Sicherheitszünder, die man zum Abfeuern der Rettungsraketen
verwendet, von acht auf zehn Sekunden erhöht, damit die Bedienungsmannschaft
weiter zurücktreten konnte. Zur Vermeidung von Krepierern wurden seit dem
Jahre 1888 anstatt schmiedeeiserner genieteter und gelöteter Hülsen geschweißte
stählerne verwandt. Seit dem Jahre 1890 werden die Raketen in luftdichten
Kasten mit Wachsabdichtung auf Lagern verpackt, die mit Filz gefüttert sind.
Die Hülsen und die Ladung werden so gegen die Stöße beim Transport ge¬
sichert und lagcrbeständiger. Seit dem Jahre 1892 werden zur weitern Erhöhung
der Lagerbeständigkeit kupferne Hülsen anstatt der stählernen verwandt.
So arbeitet das Feuerwerkslaboratorium still aber stetig an der Verbesserung
der Nettungsgeschosse.
Die deutschen Rettungsraketen werden in ihren Leistungen von keinem
andern Rettungsgeschoß übertroffen. Bis zum 1. Januar 1907 sind 506 Per¬
sonen durch deutsche Raketenapparate aus Seenot gerettet worden. Das Rettungs¬
geschoß dürfte längst den Schaden wieder ausgeglichen haben, den es in seiner
wilden Zeit als Spreng- und Zündgeschoß der Menschheit gebracht hat. Mit
Genehmigung des Kriegsministeriums wurden im Laufe der Jahre Rettungs¬
raketen nach Rußland, Spanien. Portugal, Frankreich, Rumänien und nach den
Vereinigten Staaten von Amerika geliefert.
Der Lakonismus, womit ich die Entwicklung der Rettungsrakete seit dem
Jahre 1866 schildern mußte, verrät die lautere und bescheidne Quelle, aus der
ich schöpfte: die Mitteilungen der Direktion des militärischen Instituts, das sich
durch diese Arbeiten um die Menschheit verdient gemacht hat.
Der preußische Küstenstrich von der Heimat Arndts bis zur Heimat Kants
ist dem Süddeutschen fremd, auch jetzt noch fremd, obwohl zur Sommerzeit
Ströme von Süddeutschen auf dem Wege zum Meer und Ströme von Nord¬
deutschen auf dem Wege zu den Bergen aneinander vorüberrauschen. Schwere
Mühe macht es dem Lehrer in Quinta, seine Schüler mit dem Kartenbilde
jener Gegenden vertraut zu machen, das sie so kalt ansieht, Unbehagen erfaßt
den Leutnant, den das Kriegsspiel an jene einförmig erscheinende Küste führt,
und wenn dem singenden Wandrer bei den Worten: „Es gibt so manche Straße,
da ich noch nicht marschiert, es gibt so manchen Wein, den ich nimmer noch
probiert", überhaupt ein geographischer Begriff vorschwebt — preußische oder
Pommersche Straßen und Heidekrüge siud es sicher nicht, an die er dabei denkt.
Fremd klingen dem Süddeutschen die Ortsnamen jener Küste, wie aus düstern
Märchen weht es ihn an, wenn er von Arkona, von der Tromper oder der
Prorer Wiek, von Mönchgut, Jershöft, Leba und Hela hört, der Name Vineta
wird in ihm wach, das volle Tageslicht, das auf Namen wie Stettin und
Varzin ruht, verhindert nicht, daß sich, vom Klänge geweckt, in seiner Phantasie
graue Schatten erheben.
Dichter wuchsen dort dem deutschen Volke: Simon Dach sang an der
Bernsteinküste sein Unke von Tharan, bei Stralsund verlebte Arndt seine frohe
Jugend, Swinemünde ist die Jugeudhcimat Fontanes, Löwes Orgelspiel füllte
die Stiftskirche zu Stettin, Eichendorff brachte das Jahrzehnt, das die Jahre
1821 und 1831 begrenzen, in Danzig und in Königsberg zu. Viele seiner
süßesten Lieder, deren Heimat man im grünsten Wald, im heimlichsten Grund,
am hellsten, heitersten Mühlbach sucht, sind an jener ernsten Küste zuerst er¬
klungen. Das befremdet selbst den, dem jenes Land als die Heimat großer
Männer, als die Zuflucht einer vom Feinde verfolgten Königsfamilie und als
die Pforte, durch die die Freiheit ins geknechtete Vaterland kam, lieb und ver¬
traut ist.
Aber fremder noch und unerwarteter ist vielen Süddeutschen und Nord¬
deutschen die Tätigkeit, die die preußische Artillerie dort im Dienste der Nächsten¬
liebe entfaltet hat. Und so hell der Glanz ist, der von der Sonne manches
Dichterlebens auf jenem Strande liegt, Heller ist der Glanz und höher die
Weihe, die er im verfloßnen Jahrhundert als Schauplatz der zähen, nuper«
droßnen Arbeit an einer die Menschheit adelnden wunderschönen Einrichtung
erhalten hat.
„Menschenliebe läßt sich nicht befehlen", mit diesem Wort hat man bei
der Gründung der Privatvereine zur Rettung Schiffbrüchiger die geringen Er¬
folge der staatlichen Rettungsstationen erklären wollen. Das Wort war nicht
gerecht. Es urteilte zu rasch und zu hart über die Fürsorge der Regierung
für die Schiffbrüchigen. Die preußische Regierung hat auf alle Fälle das
Verdienst, zuerst von allen Regierungen des Festlandes ihre Küste mit Rettungs¬
einrichtungen versehen zu haben. Menschenliebe läßt sich nicht befehlen, nein,
aber ihre Übung kann man erleichtern, wenn man ausreichende Geldmittel zur
Verfügung hat.
Die Erleichterung der Nächstenliebe durch Sammlung eines Fonds, aus
dem nicht nur Rettungsstationen gegründet und mit den besten Rettnngswerk-
zeugen ausgestattet werden können, sondern auch das Leben der Rettungs¬
mannschaften versichert, ihre Sorge um ihre Familien gemildert, ihr Opfermut
erleichtert und gesteigert werden kann, — das war eine Aufgabe, die der
preußische Staat in jener schweren Zeit der unbewußten und bewußten Vor¬
bereitung für die Einigungskriege nicht erfüllen konnte. Aber das Verdienst
bleibt ihm, die ersten Rettungsstationen auf dem Festlande gegründet zu haben,
weit vor allen andern Festlandstaaten. Daß diese Einrichtungen dem Mili¬
tarismus zum Opfer gefallen seien, wird man nicht behaupten können, wenn man
sieht, wie sie gerade durch den Militarismus ins Leben gerufen und gefördert
worden sind. Hier versagt auch die Phrase von der UnProduktivität des Mili¬
tarismus. Menschenliebe wurde nicht befohlen, aber sie wurde auf diesem Ge¬
biete geübt, ohne Befehl, aus warmem Herzensdrang, in erster Linie von
preußischen Soldaten. Sie blieb arm an Erfolgen, weil sie arm an Mitteln
war, und weil sie keine auffallenden Erfolge hatte, wurde sie vergessen.
Ich habe als Kind eine tiefe Liebe zu Friedrich dem Großen gefaßt, als
ich las, daß er in seinem Staate zuerst die Tortur, den furchtbarsten Schrecken
meiner kindlichen Phantasie, abgeschafft hat. Seine Teilnahme für das ar¬
tilleristische Rettnngsverfahren, die leider durch das Mißlingen der Versuche
enttäuscht wurde, zeigte ihn mir auf dem Wege zu einer Kulturcrrungenschaft
unsrer Tage. Und einige Jahrzehnte später sah ich Tcllhcimenkel, preußische
Artillerieoffiziere und -Unteroffiziere, freudig dieses Weges gehn und das Ziel
erreichen. Das Barrengold ihrer Verdienste kann leider nicht in knappe Zahlen
geretteter Menschenleben geprägt werden. Dennoch kann man sich an seinem
edeln Glänze freuen. Wie eine kostbare Gegengabe für das Pflanzengold, das
das Meer in den Dünensand der preußischen Küste wirft, wurde das Gold dieser
Verdienste lange unbeachtet von dem Strande in das Meer geworfen.
Was ich davon bergen konnte, habe ich hier verzeichnet.
Ein Lied von den braven Männern zu fingen fehlt mir die Kraft, so habe
ich wenigstens auf diesen Blättern die Namen und die Arbeit der preußischen
Artilleristen aufbewahrt, die begeisterungsfähig wie Fouque und hilfreich wie
Tellheim und sein Wachtmeister ihre ritterliche Waffe im Dienste der Nächstenliebe
führten und adelten.
cum man das schöne Antlitz betrachtet, mit dessen Abbild Theobald
Ziegler sein Buch über den theologischen Revolutionär geschmückt
hat,*) so sagt man sich: das ist ein geistig bedeutender und zu¬
gleich ein liebenswerter Mensch; mit dem sich zu beschäftigen,
muß die Mühe lohnen. Am 27. Januar 1808 ward Strauß
geboren. Seine Säkularfeier mit einer Biographie zu begehn, fühlte sich Ziegler
berufen als Schwabe — nur als ein Gewächs des schwäbischen Bodens sei er
ganz zu verstehn —, als Sohn und Schwiegersohn zweier Studiengenossen des
z» Feiernden und als sein dankbarer Verehrer. Nicht allein habe er ihn selbst
noch gekannt und als junger Mann Briefe mit ihm gewechselt, sondern er müsse
ihn zu seinen Erziehern, Führern und Befreiern rechnen: an seinen Schriften,
bekennt er, „habe ich mich in die Theologie hinein und aus der Theologie
heraus zu Hegel und zur Philosophie, ins Weite und ins Freie durchgearbeitet".
Dazu kamen noch zwei besondre Beweggründe. Strauß sei bei Lebzeiten und
nach seinem Tode schlecht behandelt worden. „Die ersten, die ihm sein Leben
zerstört und es zu einem vielfach so unglücklichen und tragischen gemacht haben,
waren die Theologen. Sie haben ihm den großen Dienst, den er ihnen und
ihrer Wissenschaft mit seinem Leben Jesu geleistet hat, aufs übelste gelohnt.
Nicht bloß wurde er von ihrem Haß verfolgt, solange er lebte, auch nach
seinem Tode sind sie ihm in keiner Weise gerecht geworden. Die einen sehen
in ihm noch heute den Herostratus, der die Brandfackel in ihr sorgsam gehütetes
Heiligtum geworfen hat, und fluchen ihm deshalb wirklich mit haßerfüllter
Seele. Andre, die sachlich vielleicht gar nicht so weit von ihm abstehn, rücken
nur um so geflissentlicher zur Seite und danken Gott, daß sie nicht sind wie
dieser schlimmste aller Ungläubigen und Ketzer. Ja es hat Zeiten gegeben, wo
es in allen deutschen Staaten als die beste Empfehlung für den Staats- und
Kirchendienst galt, wenn sich einer recht ostentativ gegen die Straußischen An¬
sichten verwahrte und sich möglichst brüsk von Strauß lossagte; daraufhin
konnte er dann schon eher selbst ein freies Wörtlein wagen." Seine meisten
Biographen seien nun Theologen gewesen, und so sei denn sein Bild — von
Zelters kleiner Skizze abgesehen — „noch immer nicht objektiv und nicht hell
genug herausgekommen". Zudem haben die frühern Biographen mit Einschluß
Hausraths seine Briefe teils noch gar nicht, teils nicht vollständig gekannt; diese
aber „zeigen einen ganz andern Menschen, als seine Schriften allein bis dahin
hatten vermuten lassen".
Nach einer trotz manchen Nöten der Eltern im Vaterhause glücklich und
froh verlaufnen Kindheit kam Strauß nach Blaubeuren, in die eine der vier
württembergischen Klosterschulen. Die Nachteile und der Zwang dieser Anstalten,
über die Ziegler ausführlich handelt, hat Strauß bei seiner vorwiegenden
Neigung fürs Bücherstudium, für das dort vortrefflich gesorgt war, keineswegs
schmerzlich empfunden. Er lebte heiter und zu Scherzen aufgelegt unter seinen
Kameraden, mit deren mehreren ihn innige Freundschaft verband. Friedrich
Bischer hat seinem Freunde Strauß aus der Seele gesprochen, wenn er in
seinem Aufsatz „Dr. Strauß und die Württemberger" schreibt: „Ich möchte die
Erinnerung an dies Zusammenleben, ich möchte die geistige Verbindung mit
einer enggeschlossenen Zahl von Freunden, die eine gemeinschaftliche Überzeugung
zusammenhält, ich möchte diesen fürs Leben gewonnenen Schatz des Geistes um
keinen Preis hergeben. Einer größern Anzahl junger Leute, die sich in diesen
Anstalten zusammenfinden, fehlt es nie an originellen Individualitäten, die ent¬
weder selbst witzig oder Ursache sind, daß andre witzig werden; ein eigentüm¬
licher Lokalhumor, ein komischer Sagenkreis, ein Lexikon von Spitznamen, eine
Reibung erfinderischer Neckereien bildet sich, eine Jugendlust, die mancher hinter
den grauen Klostermauern nicht gesucht hätte. Hier wirkt die Friktion mit dem
bitter empfundnen Zwange als mächtiger Hebel mit; die List umgeht in heitern
Maskeraden das Gesetz und parodiert den bittern Ernst grämlicher Vorgesetzten
durch joviale Satire." Dafür, daß nicht Krethi und Plethi in den Kloster¬
schulen zusammenströmten, war durch strenge Vorschriften gesorgt; so eine
„Promotion" — so heißt dort ein Jahrgang — war durch drei Prüfungen
gesiebt, ehe sie in die Schule Aufnahme fand, und Straußens Jahrgang, zu
dem auch Bischer gehörte, war sogar als „Geniepromotion" berühmt.
Über die wissenschaftlichen Zustände in Blaubeuren und in dem für das
schwäbische Geistesleben so wichtigen Tübinger Stift empfangen wir in dem
Buche dankenswerte Aufschlüsse. Strauß geriet als Stiftler zunächst in den
Bannkreis der Romantik und Mystik. Mit gleichgestimmten Freunden pilgerte
er fleißig nach Weinsberg, in Kerners Hause den Orakelsprüchen der Seherin von
Prevorst zu lauschen. Eine Zeit lang huldigte er dem gröbsten Wunderglauben.
Als er kritischer zu werden anfing, erklärte er zunächst die Geistererscheinungen
aus der Einbildung, ließ aber die Kraftäußerungen noch als tatsächliche Er¬
fahrungen gelten. Manche dieser Kraftäußerungen, z. B. nächtliches Zusammen¬
schlagen der Kirchenglocken, hatte Kerners loses Söhnlein Theobald zum Ur¬
heber, wie dieser unserm Theobald Ziegler erzählt hat. Aus der Mystik und auch
aus Schleiermachers Gefühlsreligion führte ihn Hegel heraus, dessen Phänomeno-
logie er vier Semester hindurch mit vier Kameraden (Binder. Mürklin, Ganß
und Seeger) gemeinsam studierte; auf Binders Stube kamen sie zu diesem Zweck
jede Woche zweimal zusammen. Dabei schwand denn — ihnen selbst fast un¬
bemerkt — der orthodoxe Glaube allmählich. Strauß wurde es gelegentlich
einer Preisaufgabe gewahr. Er löste zwei solche Aufgaben: eine homiletische
der evangelischen theologischen Fakultät und eine über die Auferstehung der
Toten, die von der katholischen gestellt worden war. Zwei Arbeiten über die
zweite wurden des Preises würdig befunden; um diesen hatten die Verfasser
zu losen, und Strauß zog die Niete. Wichtiger als dieses Mißgeschick ist sein
späteres Bekenntnis, daß, als er die Arbeit vollendet hatte, ihr Inhalt seiner
damaligen Überzeugung nicht mehr entsprochen habe. Die Hegelsche Philosophie
leistete ihm den Dienst, ihn nicht allein aus der Orthodoxie heraufzuführen,
sondern dies auch zu tuu, ohne daß er es merkte, und ihm dann, als er es
merkte, über die daraus entspringende Pflichtenkollision hinwegzuhelfen. Von,
Hegelschen Standpunkt aus hat er als Vikar in dem Dorfe Klein-Jngersheim
die Gewissensbedenken seines Freundes Märklin zu beschwichtigen versucht. Der
Kern seiner Argumentation besteht in der Ansicht: Der philosophisch Gebildete
denkt in Begriffen, die Masse vermag nur in Vorstellungen zu denken. Wir
Philosophen meinen im Grunde genommen dasselbe wie das glaubende Kind
und das fromme Volk, nur unsre Auffassung ist eine andre. Wir müssen das
Volk zum begrifflichen Denken zu erheben suchen, dürfen darin aber nichts
übereilen. Wir müssen in der Predigt die Sprache des Volkes reden, jedoch
durch die Vorstellungen und Bilder, durch die historischen oder für historisch
gehaltnen Erzählungen die Idee durchscheinen lassen. Kommt einer aus der
Gemeinde mit Zweifeln zu uns, so müssen wir uns den Mann ansehen und
ihn je nach der Stufe seiner Erkenntnis behandeln. Übrigens, meint Strauß,
kämen solche Fälle nicht leicht vor, „wir plagen uns da nur mit Schatten-
bittern". Nachdem Strauß noch einige Monate in Maulbronn als Repetent
zugebracht und sich durch die Promotion den Doktortitel erworben hatte, ging
er im Herbst 1831 nach Berlin, um seinen großen Meister zu hören. Hegel
nahm den jungen Landsmann freundlich auf, starb aber nach wenigen Tagen
an der Cholera. Strauß blieb trotzdem ein halbes Jahr, lebhaft angeregt von
Schleiermachers Predigten und intimen Verkehr mit dem Hegelianer Vatke,
einem Bibelkritiker seiner Richtung, der ihm stundenlang Bach, Mozart und
Beethoven vorspielen mußte. Im Mai 1832 wurde er als Repetent ins
Tübinger Stift berufen.
Hier nun schrieb er von 1833 bis 1835 sein Leben Jesu. Der erste Band
von 732 Seiten erschien Anfang Juni, der zweite, 752 Seiten starke Ende 1835.
„Nicht bloß dem Umfange nach war die Leistung groß; noch viel staunens¬
werter war die Gelehrsamkeit des siebenundzwauzigjährigeu Mannes. Denn das
ist der erste Eindruck: es ist das Werk eines wissenschaftlich vollkommen auf
der Höhe stehenden, durch und durch gelehrten Theologen, der mit dem da¬
maligen Stande der neutestamentlichen Forschung bis ins einzelnste vertraut
und auch im Alten Testament wohlbewandert ist." Und das Buch „liest sich
gut; das Interesse wächst; die Spannung nimmt beständig zu". Ich habe das
Werk uicht gelesen. Nach all den Unmassen, die seitdem über den Gegenstand
geschrieben worden sind, darf man die darin enthaltnen Einzelforschungen wohl
für überholt ansehen, die Grundgedanken aber, die Epoche gemacht haben, lernt
man zur Genüge aus Analysen kennen; natürlich gibt auch Ziegler eine solche.
Diesem stimme ich darin bei, daß Strauß in der Tat der Theologie einen un¬
schätzbaren Dienst erwiesen hat. Von den beiden Standpunkten der Exegese,
die Strauß vorfand, war keiner haltbar. Daß ein moderner Mensch nicht
sämtliche Erzählungen der Evangelien für buchstäblich wahr im geschichtlichen
Sinne zu halten vermag, wie die Orthodoxen fordern, darüber ist heute kein
Wort weiter zu verlieren. Aber auch die rationalistische Wegdeutung des
Wunderbaren erscheint schon ihrer unwürdigen Abgeschmacktheit wegen un¬
annehmbar. Das heiligste der Bücher wird dem Spott preisgegeben und ins
Triviale herabgezogen, wenn so ein Exeget uns glauben machen will, Christus
habe nach Schluß seiner Predigt in der Graswüste ein Picknick veranstaltet, da
ja doch die meisten einen Eßkober auf den Ausflug mitgenommen haben würden,
und dieses Picknick Hütten die Wundersüchtigen in eine wunderbare Speisung
umgestaltet. Gegenüber dem Rationalismus hatte sich damals der historische
Sinn Bahn gebrochen; man wußte, wie sich große historische Veränderungen
vollziehen, und Hegel hatte dem Verständnis des historischen Prozesses ein
philosophisches Schema dargeboten. Man verstand nun, wie sich eine zeitgemäße
Idee in einer großen Persönlichkeit verkörpern kann, wie diese Idee von den
Jüngern ihres Verkündigers verschiedentlich verstanden und mißverstanden wird,
wie die Person des Verkündigers in den Phantasien der Gläubigen die mannig-
faltigsten Gestalten annimmt, wie die neue Idee den mancherlei Zeitmeinungen
verähnlicht und mit ihnen vermischt wird, wie sie aber auf den wunderlichsten
Irr- »ut Umwegen nach und nach zu immer reinerer Ausgestaltung, zu immer
wirksamerer Verkörperung gelaugt in zahlreichen Individuen und in großen ge¬
sellschaftlichen Bildungen. Die jüngere Tübinger Schule, deren Haupt Straußens
Lehrer Christian Baur war, verfolgte damals mit solchem historischen Ver¬
ständnis die in den Apostelbriefen und der Apostelgeschichte enthaltnen geschicht¬
lichen Spuren, um aus ihnen Schlüsse zu ziehen auf die Art und Weise, wie
in der apostolischen und der nachapostolischen Periode aus Zeitideen und Zeit¬
strömungen unter der Nachwirkung der von Jesus ausgegangnen Anregungen
die alte Kirche entstanden sein möge; Strauß wagte es, Jesu Persönlichkeit
selbst zum Gegenstande historischer Untersuchung zu machen: diese Persönlichkeit
selbst, nicht die Evangelien, die Quellen seiner Geschichte, deren literarische
Kritik er der Hauptsache nach andern überließ. In Beziehung auf Jesu Person
uun hat er das erlösende Wort gesprochen. Es soll und kann hier nicht unter¬
sucht werden, ob Wunder heute noch für möglich gehalten werden können. Aus¬
drücklich hebe ich hervor, daß mehrere der Wunder, die von Jesus erzählt werden,
eine symbolische Bedeutung haben, deren reicher Inhalt noch lange nicht voll¬
ständig ausgeschöpft ist; so das Speisungswunder, das in Verbindung mit der
Rede vom Lebensbrote erwogen werden will, als deren Anlaß es im sechsten
Kapitel des vierten Evangeliums erzählt wird. Es soll nur konstatiert werden,
daß in den Evangelien Erzählungen vorkommen, die für wahr zu halten schlechthin
unmöglich ist, z. B. von den Leichnamen, die nach Matthäus 27, 52 nach Jesu
Tode ihre Gräber verlassen haben und vielen erschienen sein sollen. Da ist
denn die von Strauß ausgestellte Mythenhypothese — heute werden wir sie
kaum noch eine Hypothese nennen dürfen — der einfachste und würdigste Aus¬
weg. Mythen sind absichtslose Dichtungen, mit denen das Volk die Gestalten
seiner Helden schmückt, sind diese Gestalten selbst, wie sie dem Volke erscheinen.
Damit wird weder der historische Kern der Evangelien vernichtet — Strauß
hat niemals, gleich manchen neuern, die Existenz Jesu geleugnet —, noch wird
die Person Jesu herabgewürdigt; auch auf die Ehrlichkeit der Berichterstatter,
die Kiuder ihres Volkes Ware» und in dessen Vorstellungen dachten, fällt kein
Schatten; besonders da etwa vierzig Jahre nach Ich, Tode vergangen sind,
ehe die ersten der uns erhaltnen Berichte niedergeschrieben wurden. Anders als
in deren der Auffassungsweise des Volkes angemessener Form, meint Strauß
ganz richtig, hätten die Ideen Jesu gar nicht erhalten bleiben, gar nicht ver¬
breitet und fortgepflanzt werden können.
Aber auch die zweite, echt hegelsche Grundidee des Straußischen Werkes
enthält Wahrheit und bedeutet einen gewaltigen Fortschritt der Erkenntnis.
Grundlehre des Christentums sei die Einheit der göttlichen und der Menschen¬
natur. Diese Einheit könne jedoch nicht in einem einzelnen Individuum, sondern
nur in der gesamten Menschheit verwirklicht werden. Der Christus der Kirchen¬
lehre sei unmöglich, weil er widersprechende Eigenschaften und Funktionen um¬
fasse. Der Widerspruch schwinde, wenn man einsieht, daß der Gottmensch die
Menschheit ist. „Die Menschheit ist die Vereinigung der beiden Naturen, der
menschgewordne Gott, der zur Endlichkeit entäußerte unendliche und der seiner
Unendlichkeit sich erinnernde endliche Geist; sie ist das Kind der sichtbaren
Mutter und des unsichtbaren Vaters, des Geistes und der Natur; sie ist der
Wundertäter: sofern im Verlauf der Menschengeschichte der Geist sich immer
vollständiger der Natur bemächtigt, diese ihm gegenüber zum machtlosen Material
seiner Tätigkeit heruntergesetzt wird; sie ist der Unsündliche: sofern der Gang
ihrer Entwicklung ein tadelloser ist, die Verunreinigung immer nur am Individuum
klebt, in der Gattung aber und ihrer Geschichte aufgehoben ist; sie ist der
Sterbende, Auferstehende und gen Himmel Fahrende: sofern ihr aus der Negation
ihrer Natürlichkeit immer höheres geistiges Leben, aus der Aufhebung ihrer
Endlichkeit als persönlichen, nationalen und weltlichen Geistes ihre Einheit mit
dem unendlichen Geiste des Himmels hervorgeht." Die Vergottung des
Menschen haben Paulus, Johannes und manche liturgische Gebete der alten
Kirche als die Frucht der Erlösung gepriesen, und alle Mystiker haben sie er¬
strebt. Auch wird von allen frommen Betrachtern das Leben und Leiden und
die Verherrlichung Christi als das Vorbild der Geschichte der Menschheit, das
Drama des Evangeliums als die Konzentration des Dramas der Weltgeschichte
angesehen. Trotzdem läßt sich die Straußische Auffassung nicht ohne weiteres
mit der kirchlichen identifizieren. Soll sie sich mit dieser, sie erweiternd und
aufhellend, vertragen, so bedarf sie zweier Ergänzungen. Zu der einen hat sich
Strauß selbst in einem seiner besten Augenblicke verstanden. In seinen Ver¬
teidigungsschriften gibt er einmal zu, es sei ein Individuum denkbar, das die
Einheit des Menschlichen mit dem Göttlichen in seinem Selbstbewußtsein voll¬
zogen habe. Mit diesem Zugeständnis ist das Wesentliche des christologischen
Dogmas und der Offenbarungscharakter des Christentums gerettet. Die andre
Ergänzung besteht in der Ablehnung des Hegelschen reinen Intellektualismus,
der allen echten Hegelianern, auch Strauß, den Glauben an einen persönlichen
Gott und an die Fortdauer der Menschenseele nach dem Tode unmöglich ge¬
macht hat. Hegel definiert das Absolute als die Idee, und diese Idee als ein
sich durch Gegensätze hindurch bewegendes und entfaltendes System von Be¬
griffen. In den menschlichen Individuen soll diese Idee ihrer selbst bewußt
werden. Ein Begriff ist aber keine Wesenheit, keine Substanz, sondern nur
eine Spiegelung von Dingen. Zur Substantialitüt, zur wirklichen Existenz ge¬
hört, daß das Existierende fühle und wolle. So verflüchtigt sich im hegelschen
System Gott zu einem bloßen Schatten — Schatten von was? — und die
Menschenseele zum Schatten dieses Schattens, zu einem vergänglichen Bewußt¬
seinsakte des schattenhaften Absoluten. Ziegler hat in einem andern Buche
(Jahrgang 1907 der Grenzboten, 2. Band S. 535) für das wichtigste Ergebnis
der Erkenntniskritik die Einsicht erklärt, daß die logischen Operationen nicht
Funktionen des Ich, sondern des „überichlichen" unbewußten Geistes seien.
Einem Philosophieprofessor, dessen Leben in logischen Operationen verläuft, mag
die Empfindung seiner eignen lebendigen und selbständigen Existenz abhanden
kommen können; der Kranke oder Gefolterte, der entsetzliche leibliche Qualen
erleidet, der Liebende, der ein Weib begehrt oder genießt, der Mann, der sich
mit Überwindung harter Widerstände durchs Leben hindurchkümpfen muß, der
Künstler, der den Marmor, der Staatsmann, der die Gesellschaft gestaltet, diese
alle empfinden ihr eignes seelisches Dasein auf das lebhafteste; sie sind sich be¬
wußt, Wesenheiten, Substanzen zu sein, und es erscheint ihnen ungereimt, daß
dieses ihr substantielles Sein beim Zerfall der irdischen Hülle ins Nichts ver¬
duften sollte. Und wie sie sich selbst als Substanzen empfinden, so erscheint
es ihnen auch selbstverständlich, daß es ein substantielles, fühlendes, wollendes,
also seiner selbst bewußtes Wesen, das allerwirklichste Wesen, nicht ein un¬
bewußter Schatten sein müsse, aus dem die Fülle geschöpflicher Wirklichkeiten
hervorgegangen ist. Sollte es nicht das Grauen vor der Schattenhaftigkeit des
hegelschen Universums gewesen sein, was Strauß zuletzt bestimmt hat, sich von
dieser Art Idealismus ab- und dem Materialismus zuzuwenden, da er zum
Platonismus und zum Christentum nicht mehr zurückzufinden vermochte? Sein
Liebesleben, seine Kämpfe, sein lebhaftes Interesse für die Künste verraten einen
starken Wirklichkeitssinn. Was Ziegler darüber denkt, werden wir ja aus dem
zweiten Bande erfahren.
Wie Strauß einige Jahre ganz verlassen und vereinsamt den Ansturm der
Feinde von rechts und links allein ausgehalten und abgewehrt hat, liest man
in diesem ersten Bande mit Teilnahme an dem Schicksale des Helden. Die
Züricher Episode ist nach Ziegler bisher falsch dargestellt worden. Der wirk¬
liche Verlauf sei folgender gewesen. Die liberale Regierung Zürichs hatte sich
durch eine Reform des jämmerlich bestellten Schulwesens drei einflußreiche
Stände zu Feinden gemacht: die abgesetzten unfähigen Schullehrer, die Fabri¬
kanten, die Schulkinder ausnützten, und die Kleinbauern, die ihre Kinder lieber
Geld verdienen als etwas lernen lassen wollten. Das neue Gesetz verfügte,
daß Kinder erst vom zwölften Jahre an und nicht bei Nacht beschäftigt werden
dürften; die Fabrikanten hatten Kinder bis zu neun Jahren hinunter eingestellt
und auch im Nachtbetrieb verwandt. Diese „konservativen" Elemente beschlossen,
die verhaßte liberale Negierung zu stürzen, und die Berufung Strcmßens gab
ihnen den willkommnen Vorwand, die Geistlichkeit und die Frommen gegen die
gottlose Regierung mobil zu machen. Die falsche Darstellung rühre von dem
mit Bunsen befreundeten Heinrich Gelzer her. Im Kreise dieser Männer habe
das Dogma gegolten, daß alle Revolution Sünde und Auflehnung gegen
Gottes Ordnung sei. „Nun hatten in Zürich die Konservativen und die
Frommen aus sehr irdischen Beweggründen Revolution gemacht. Das mußte
erklärt, gerechtfertigt und — verschleiert werden; und das war nur so möglich,
daß man diese Revolution für eine Art heiligen Krieg, für die Notwehr eines
frommen, in seinen heiligsten Gefühlen verletzten und bedrohten Volkes ausgab."
Zu den entschiedensten Gegnern des liberalen Stadtregiments und Bekämpfern
der Berufung Straußens hat auch der später so liberale Bluntschli gehört;
le in San Francesco fand ich in jeder Kirche etwas Schönes und
Interessantes. Von Rechts wegen hätte ich mit dem Dom beginnen
müssen, mit dem herrlichen, weltberühmten gestreiften Marmordom!
Daß er gestreift ist, beeinträchtigt seine Schönheit, aber ohne die Zebra¬
haut wäre er eben nicht der Dom von Siena. Wenn die schimmernd
weiße gotische Fassade auch nicht die erhabne Harmonie ihres Vor¬
bildes in Orvieto erreicht hat, so ist sie doch wunderschön und in den Einzel¬
heiten geradezu vollkommen. Das Innere fand ich trotz der Streifen überraschend
groß und feierlich. Ungehindert fiel rictu Blick zwischen den mächtigen Pfeilern
hindurch bis in den Chor. Sehr originell sind die langen Reihen von tönernen
Papstköpfen, die das Gesims über den Pfeilern beleben, und die großen Mosaik¬
bilder auf dem Fußboden. Auf dem Boden der Seitenschiffe sind es Sybillen, die
sich in abenteuerlicher Gewandung als weiße Gespenster vom schwarzen Grunde
abheben. Die übrigen Bodenmosaike stellen biblische und allegorische Szenen dar.
Dazwischen thront Kaiser Sigismund auf kunstvollem Renaissancesitz, von seinen
Treuen umgeben.
Außer der achteckigen weißen Marmorkanzel von Niccolo Pisano, die, wie die
in Pisa, auf zierlichen dunkeln Säulen und teilweise durch diese auf stehenden Löwen
ruht, waren es besonders die Fresken des Pinturicchio, die mich fesselten. Der kleine
taube Umbrier, der mit solcher Geschicklichkeit die größten Flächen zu überwinden
verstand, hatte mich schon lange interessiert. Und hier bekam ich eine seiner vor¬
nehmsten Leistungen zu Gesicht. Wie sein künstlerisches Wirken eng mit der Geschichte
der Päpste jener Zeit verknüpft war (er malte bekanntlich in der Sixtina und schmückte
für Alexander den Sechsten die Borgiazimmer aus), so hat er auch in der berühmten
Dombibliothek von Siena im Auftrage eines Papstes das Leben eines andern Papstes
in heitern, farbenfrohen Fresken verherrlicht. Es ist Pius der Zweite, Enea Silvio,
der größte Piccolomini, der dichtende und büchersammelnde Humanist, der als Held
in all den prächtigen Szenen wiederkehrt. Wir sehn ihn als jungen Mann zu
Pferde, in der Abreise zum Basler Konzil begriffen und als kaiserlichen Gesandten
am schottischen Königshofe. Wir wohnen seiner Dichterkrönung in Frankfurt bei und
seiner Weihe zum Erzbischof von Siena. Auf der Eingangswand ist dann dargestellt,
wie er bei der Begegnung Friedrichs des Dritten mit seiner Braut Eleonore von
Portugal zugegen ist. Dies ist für mich das sympathischste Bild, denn die Haupt¬
personen scheinen wirklich seelisch bewegt, und Siena mit der Porta Camollia, die
hohen seltsamen Palmen und pinienförmigen Laubbäume, die alte Wegsäule, die noch
jetzt an der Strada Fiorentina steht, geben einen reizvollen Hintergrund. Auf dem
Bilde daneben kniet Enea Silvio im roten Mantel vor Calixtus dem Dritten, der
ihm den Kardinalshut aufsetzt. Dann sehn wir ihn zum Papst gekrönt, dann in einem
Konzil, bei dem im Hintergrunde wieder so ein merkwürdiger Baum neben einer
Zypresse emporragt. Das folgende Bild ist vielleicht das steifste in der Komposition,
aber stofflich bedeutet es einen Glanzpunkt in Sieuas Geschichte: die Heiligsprechung
der Katharina, der Verlobten Christi, die als Friedensstifterin so günstigen Einfluß
auf die Kirchenpolitik ihrer Zeit gehabt hat. Sienas größte Tochter heilig gesprochen
durch Sienas größten Sohn! Ein erhebender Gedanke! (Enea Silvio ist nicht in
Siena selbst geboren, aber ganz in der Nähe in einem Flecken Corsignano, dem
nach ihm genannten heutigen Pienza, wo noch jetzt Piccolomini in ihrem alten Palaste
wohnen.) Und schließlich sehn wir den Heiligen Vater am Ziel seiner Wünsche und
am Ende seines Lebens angelangt. Er ist in Ancona. um den solange von ihm
geplanten Kreuzzug gegen die Türken zu beschleunigen. In, Hafen wartet schon die
Flotte. Auch der Wind ist bereit, denn wir sehn die Zweige einer hohen Zypresse
lebhaft bewegt, eine jener „langstieligen" Zypressen, die mich selbst in der poetischsten
Stimmung an Pinsel oder gar an Lampenputzer erinnern konnten. Und doch wie
fehlen sie mir schon, die schlanken, dunkeln Kinder jener glücklichern Gefilde! Wie
Julius der Zweite bei der Bestrafung des Heliodor wird Pius in einer Sänfte
getragen, von schönen Jünglingen, die würdig wären, aus der Phantasie des Perugino
entsprungen zu sein. Der weißbärtige Doge von Venedig im faltigen pelzverbrämten
Mantel kniet vor ihm wie der älteste der heiligen drei Könige auf so vielen ackora^ioni
asi maAi. Prächtige Orientalen im Turban erscheinen wie Gestalten aus Tausend
und einer Nacht.
Wenn die Sonne in den hochgewölbten Raum hineiuflutet, weckt sie rings
an den Wänden den strahlendsten Festesglanz. Das wimmelt von Rittern, Mönchen,
Bischöfen, Pagen und Edeldamen, die in die kostbarsten Stoffe gekleidet sind. Es
blitzt das Gold der Königskronen und der päpstlichen Tiaren. Es blitzen die Sporen
an den Schnabelschuhen und die Geschmeide an Menschen und Pferden. Es ist,
als habe man kurz vor dem gänzlichen Verfall des Rittertums einige seiner letzten
Vertreter hier eingeschlossen und durch einen Zauberspruch an die Wände versetzt.
Die Statisten in diesem Festspiel führen ihre Rolle nicht allzu geschickt durch.
Manche zeigen in ihrer Stellung eine fatale Ähnlichkeit mit dem Coeurbuben oder
der Trefledame in einem Kartenspiel. Mir fiel diese Verwandtschaft plötzlich bei
einer gewissen mehrmals wiederkehrenden Handhaltuug auf, die ich nie bei lebenden
Menschen, sondern nur auf Spielkarten gesehn habe. Es wird nämlich bei sonst
geschlossener Hand der Zeigefinger ausgestreckt, ohne daß man auf etwas zeigen
will, und die Hand ist zu tief gehalten, als daß man eine Geste des Lauschers
damit andeuten könne. Das glänzendste Beispiel hierfür bietet der Dominikaner im
Vordergrund auf der „Heiligsprechung Katharinens". Auch kümmern sich die Neben¬
personen herzlich wenig umeinander, und sie sehn aus, als vergäßen sie vollständig
das berühmte Volksgemurmel in Szene zu setzen. Doch sind prächtige Köpfe und
Gestalten darunter, und das Ganze fesselt durch seine träumerische Pracht.
Es ist sehr wohltuend, daß der Custode sich zurückzieht. So bleibt man in
dem kleinen Sanktuarium sich selbst überlassen, und wenn man, wie ich, der einzige
Fremde ist, kann man sich ungestört seinen Betrachtungen hingeben. Von der Decke,
die mit reizenden Grottesken belebt ist, und von den Wänden grüßen die goldnen
Halbmonde der Piccolomini auf blauem Kreuze, die hier mit dem Schlüssel Petri
vereinigt sind. In der Mitte steht eine hübsche antike, leider recht beschädigte Gruppe
der drei Grazien, ein Geschenk des Stifters der Bibliothek, des Francesco Todeschini,
des Neffen Pius des Zweiten, der als Pius der Dritte sehr kurz die Kirche regiert
hat. Seine Krönung hat Pinturicchio im Innern des Domes über dem Eingang
zur Libreria dargestellt.
Wenn ich aus dem Hauptportal heraustrat und den Platz vor mir sah, der
sich rechts bis zum bischöflichen Palaste ausdehnt, dann fiel mir immer die hübsche
Episode ein, die uns in den Korstti al Ls,n Uranossc-o berichtet wird, und der
zufolge der liebenswürdige Mystiker auch nach Siena gekommen ist. Selbst auf die
Gefahr hin, daß manche sie vielleicht schon kennen, möchte ich mir nicht versagen,
sie hier einzuflechten, weil sie gleich charakteristisch ist für den originellen umbrischen
Heiligen wie für die lebhaften streitsüchtigen Sienesen:
Als Se. Franziskus eines Tages mit Bruder Masseo zusammen wanderte und
Bruder Masseo ein Stück vorneweg ging, kamen sie an einen Kreuzweg, von wo
man nach drei Seiten gehn konnte, nach Florenz, nach Siena und nach Arezzo.
Da sprach Bruder Masseo: Vater, welche Straße sollen wir gehn? Se. Franziskus
antwortete: Welche Gott will. Da sagte Bruder Masseo: Wie sollen wir aber
Gottes Willen erfahren? Se. Franziskus erwiderte: Am Zeichen, das ich dir geben
werde: ich befehle dir nun bei dem heiligen Gehorsam, daß du an diesem Kreuzwege
auf diesem Fleck, da du eben stehest, dich immer rundum drehest, wie es die Kinder
zu tun pflegen, und nicht eher dich zu drehen aufhörest, als bis ich es dir sage.
Da fing Bruder Masseo sich zu drehen an und drehte sich so lange herum, daß
es ihm im Kopfe schwindlig ward, wie es zu kommen Pflegt, wenn man sich so
dreht, und daß er mehreremale umfiel; aber da ihn Se. Franziskus nicht aufhören
ließ, und er getreulich folgen wollte, stand er immer wieder auf. Endlich, als er
sich ganz unbändig drehte, sprach Se. Franziskus: Bleibe nun stehn und rühre dich
nicht. Und er blieb stehn, und Se. Franziskus fragte ihn: Wohinwärts steht dir
das Antlitz? Antwortete Bruder Masseo: Gen Siena. Da sagte Se. Franziskus:
Das ist der Weg, den Gott will, daß wir gehn sollen. Während sie nun auf dieser
Straße dahin zogen, fand das Bruder Masseo höchst sonderbar, was Se. Franziskus
ihn hatte tun lassen, ganz wie die Kinder, und vor Laien, die vorüberkamen.
Doch aus Ehrfurcht wagte er nicht, dem heiligen Vater etwas zu sagen. Als sie
sich nun Siena näherten, hörte das Volk von dem Kommen des Heiligen und zog
hinaus ihm entgegen; und aus Verehrung trugen sie ihn mit seinem Gefährten bis
zu dem Palaste des Bischofs, also daß ihre Füße die Erde nicht berührten. Um
dieselbe Stunde hatten einige Männer von Siena Streit miteinander angefangen,
und schon waren ihrer zwei gefallen. Doch da kam Se. Franziskus hinzu und
predigte vor ihnen so fromm und heilig, daß er sie alle untereinander zum Frieden
brachte und zu Einverständnis und großer Einigkeit. Als der Bischof von Siena
von dieser heiligen Tat hörte, die Se. Franziskus vollbracht hatte, lud er ihn zu
sich ein und nahm ihn mit hohen Ehren auf für jenen Tag und auch für die Nacht.
Se. Franziskus aber, der wahrhaftig demütig war und in seinen Werken nur nach
Gottes Ehre trachtete, stand an dem folgenden Morgen in aller Frühe auf und
ging mit seinem Gefährten ohne Wissen des Bischofs davon.
Er muß eine ungeheure Gewalt gehabt haben über die menschlichen Gemüter,
dieser schlichte, reine, gottbegeisterte heilige Franz! Die Sienesen jener Tage durch
Worte zum Frieden zu bringen erscheint fast ebenso unmöglich und wunderbar wie
die anmutige Legende von der Bekehrung des grimmigen Wolfes von Gubbio, der
nachher ein sanfter Frate Lupo wurde.
Sehr gern erinnere ich mich einer Wanderung vom Domplatz aus durch die
Stadt nach Norden hin. Da kam ich schließlich über einen von kräftigen Bäumen
beschatteten Rasenplatz nach San Domenico, wo in einer Sakristei das Porträt der
heiligen Katharina von Andrea Vanni hängt. Es ist rührend in seiner noch etwas
unbeholfnen befangnen Art, rührend in seiner Einfachheit und Anspruchslosigkeit.
Katharina ist als Dominikanerin dargestellt und trägt einen Lilienstengel, während
sie mit der freien Hand einer vor ihr knienden Frau Trost zu spenden scheint. So
steht sie vor uns als ein Bild der Unschuld und der Nächstenliebe, trotz ihrer krank¬
haften Ekstasen eine anziehende Erscheinung in wilder friedloser Zeit. Gerade jene
Verzückungen und Ohnmachten werden ja freilich von fanatischen Katholiken in den
Vordergrund gestellt, und sie sind es auch, die der kunstfertige Sodoma in einer
Kapelle derselben Kirche affrssoo gemalt hat.
Sodoma ist wohl der einzige unter Sienas Malern (Pinturicchio weilte ja
nur sehr vorübergehend in dieser Stadt), der in den weitesten Kreisen bekannt ge¬
worden ist. Ein Licht flackert noch einmal hell auf, ehe es verlischt. Ehe Siena
in der Geschichte der Kunst jede Bedeutung verlor, durfte es sich in der ersten Hälfte
des sechzehnten Jahrhunderts noch einmal eines großen Meisters rühmen. Und das
war der Lombarde Giovanni Bazzi, genannt Sodoma, dessen unglaubliche Schöpfungs¬
kraft als Maler ebensoviel von sich reden machte wie seine tollen Einfälle und die
Zügellosigkeit seiner Lebensführung. Ein ganz roher Mensch kann er im Grunde
nicht gewesen sein. Zeigen auch seine herrlichsten Leistungen: Christus an der Säule,
Eva im Lindus und die verschiednen Sebastiansgestalten auf den ersten Blick nur
Freude an der Schönheit der menschlichen Gestalt, so verrät doch der Ausdruck der
Gesichter, der Augen vor allem, eine tiefe Traurigkeit über die Unzulänglichkeit alles
Irdischen und ein Sehnen nach Frieden und Harmonie.
Von San Domenico führt der Weg.oben an der Stadtmauer entlang zur
Lizza, dem kleinen Stadtpark mit mächtigen Bäumen, üppigen Blumenbeeten und
einem stattlichen Garibaldireiterstcmdbild. Dahinter springt die Festung Santa Barbara
ins Land vor. Ihre Wälle werden der Aussicht wegen von Spaziergängern, namentlich
von Fremden, viel besucht. Zwischen der Lizza aber und der Porta Camollia liegt
das reizende Renaissancekirchlein Fontegiusta. Es beherbergt zwischen andern Schätzen
das ausgezeichnete Gemälde „Augustus und die Sybille" von Peruzzi, Sodomas
Zeitgenossen. Was mir diese Kirche besonders interessant machte, das war die Tat¬
sache, daß Cristoforo Colombo mit Vorliebe in ihr seine Andachten verrichtet hat.
Er studierte bekanntlich einst an der Universität von Siena. Als der große Geruche
schon eine oder mehrere Entdeckungsreisen gemacht hatte, schickte er für die Kirche
Fontegiusta allerlei Waffen und ein Walfischbein. Wenigstens sind diese Dinge im
Innern über dem Portal angebracht und werden jedem Besucher voll Stolz gezeigt.
Man hat Siena wegen seiner Altertümlichkeit häufig mit Nürnberg verglichen
und hat es sogar das italienische Nürnberg genannt. So sehr ich die bayrische
Feste liebe, und obgleich mir die deutsche Gotik mindestens ebenso sympathisch
ist wie die italienische, muß ich doch sagen, daß Siena harmonischer und darum
stimmungsvoller wirkt. Um Nürnbergs alte Mauern wächst nach allen Seiten hin
eine moderne Industriestadt. Steht man aber an Sienas Wällen, dann schaut man
hinunter in die liebliche, fruchtbare Campagnn, die noch genau so aussieht wie vor
Jahrhunderten: zwischen Wein- und Olivengärten schlängeln sich Wege zu wei߬
schimmernden Villen und Klöstern. Sie sind von Landleuten belebt. Die Frauen
tragen alle jene großen leichten Strohhüte, die man bei uns „Florentiner" nennt.
Helle schwerhinwandelnde Ochsen ziehn korbartige wroc-viri zur Weinernte. Blaue
Bergzüge begrenzen in der duftigen Ferne das sonnigwarme, lachende Bild.
etzt sind wir wieder in Bärenburg eingezogen. Es ist keine große
Residenz, sondern ein winkliges Universitätlein. Hier ein leeres Schloß
mit historischer Vergangenheit; dort einige holprige Gassen,- recht
ansehnliche Universitätsbauten und dazwischen der Student und der
Philister.
Wir gehören natürlich zu den Philistern. Unser Häuschen liegt
etwas vor der Stadt; wir haben ein nettes Gärtchen und einen Ausblick auf hübsche
Waldberge. Im Sommer sind diese Berge lebendig. Da singt und spielt der Student
tagtäglich in ihnen; aber jetzt liegen sie in tiefem Schweigen da. Denn wir haben
noch nicht den fünfzehnten Oktober; noch ist kein Student herbeigekommen, der Bären-
burger Philister seufzt über seine leeren Zimmer, und manches hübsches Kind über
ihr leeres Herz.
Wir siud zeitig heimgekommen. Erstens Haralds wegen, dessen Schule schon
lange begonnen hat, und dann hat Walter viel zu arbeiten. Er will populäre
Vorträge in mehreren süddeutschen Städten halten, die dann später als Buch er¬
scheinen sollen. Früher hat er immer über die Populäre Wissenschaft gelacht, gerade
wie Professor Müller, der gefürchtete Kritiker der Fachblätter; aber jetzt will Walter
Geld verdienen. Ein wenig nötig hätten wirs schon; als Außerordentlicher war
Walter nicht gerade glänzend gestellt, und mein Kapital, das mir von meinem Onkel,
Bodo Falkenberg, vermacht wurde, ist allmählich darauf gegangen. Mir macht es nichts
aus; aber Walter will anfangen zu sparen für mich und für Harald. Er sagt,
wenn er aus der Welt ginge, dann hätten wir nichts. Aber warum sollte er gehn?
Er ist noch jung und hat eine gute Gesundheit. Weshalb also die populäre Wissen¬
schaft anrufen, damit unsre Sparkassenbücher inhaltsvoller werden? Walter lächelt
zerstreut, wenn ich so mit ihm spreche; und er sitzt hinter seinen dicken Büchern und
destilliert einen feinen Tee für höhere Töchter und ernstdenkende Frauen.
Mir ists natürlich recht, wieder daheim zu sein. In meinem Häuschen und im
Garten, der voll von Herbstblumen steht. In meinem Wohnzimmerchen, das den Namen
Salon nicht ertragen würde, und wo ich hinter Mullvorhängen gerade so glücklich
bin wie manche Geheimrätin hinter ihren Spitzenstores. Wir sind sehr einfach ein¬
gerichtet; aber jedermann findet es behaglich, sogar die neue Magnifika, die aus
einem reichen Fnbrikcmtenhaus ist und sich kaum vorstellen kann, daß man ohne
Smyrnateppiche glücklich sein kann. Ich freue mich immer, wenn die Menschen gern
zu uns kommen; aber Gesellschaften geben wir nicht. Wir haben nicht die Mittel
dazu und verkehren darum nur freundschaftlich in einigen gleichgesinnten Familien.
Niemals entbehre ich Mittagsgesellschaften und Abendessen; aber es tut mir leid,
daß unsre hiesige Geselligkeit eigentlich nur aus beiden besteht — man ist doch
halbwegs ausgeschlossen, wenn man diese Feste nicht mitmacht. Die deutsche Wissen¬
schaft scheint sich gern gut nähren zu wollen.
Heute saß ich in der Laube hinterm Hanse, hatte mein letztes Pflaumenmus ein¬
gekocht und wollte den Duft der letzten matten Rosen auf mich einströmen lassen, während
ich dazu ein Stückchen Shakespeare las. Da erschien Frau Doktor Roland und
machte mir ihren Antrittsbesuch. Sie hätte mit ihrem Manne kommen wollen, aber
er war heute verhindert! und es drängte sie, mir zu sagen, daß sie mich nicht
vergessen hätte. Ich wäre ein so komisches Kind gewesen.
Daß des Pfarrers Röschen mich ein komisches Kind nannte, verdroß mich;
aber ich ließ mir nichts merken.
Von Ihnen weiß ich allerdings nichts mehr, Frau Roland, sagte ich freundlich. Nur
daß Sie sehr blond waren und sehr artig. Sie waren auch immer viel älter als ich!
Frau Roland errötete. Sie war nicht mehr hübsch und sehr kleinstädtisch ge¬
kleidet; die leise Anspielung auf ihr Alter mißfiel ihr. Es war auch häßlich von
mir, und ich beschloß, sehr nett zu werden. Aber unsre guten Vorsätze fliegen
schnell davon, wenn die andern Menschen eklig werden. Ich habe Sie wenig
gekannt, Frau Professor, fuhr Pfarrers Röschen fort. Gesprochen ist manchmal von
Ihnen in unsrer Stadt, damals, als mein Mann Ihnen das Leben rettete —
Waren Sie schon damals mit Fred Roland verheiratet? erkundigte ich mich
lachend, und die kleine Frau sah mich unsicher an.
Gewiß nicht, aber ich sage doch immer mein Mann, wenn ich an Fred Roland
denke. Er ist doch jetzt schon lange mein Mann. Und wir wohnen hier in Bären-
burg, in der Klinik am Schwanenweg, und ich bin fremd hier und möchte gern
etwas Rat haben. Sieben Jahre lang sind wir schon herumgezogen, bald hier,
bald dort; nirgends ist es uns recht geglückt. Fred ist zu tüchtig: er kann nicht
recht in die Höhe kommen!
Frau Rosa Roland war in ihrem Element; sie konnte unbehindert von dem
sprechen, was sie am meisten beschäftigte, und ich unterbrach sie nicht mehr.
Fred hat leider oft Streit, fuhr sie klagend fort. Er sagt seine Meinung
offen und ärgert damit die andern, die sich mehr als er dünken. Aber wenn er
doch Recht hat —
Sie sah mich fragend mit ihren matten Augen an, und ich nickte zustimmend.
Da erzählte sie mir noch mehr. Von dem vornehmen Chirurgen, der bei einer
Operation einen großen Fehler gemacht hatte und von Fred darauf aufmerksam
gemacht worden war. Der Mann war sein Feind geworden und würde ihn ver¬
nichtet haben, wenn nicht plötzlich ein freundlicher Zufall eingegriffen hätte.
Fred war in Thüringen, um einen kranken Arzt zu vertreten. Da wurde er
aufs Schloß zum Fürsten Monreal gerufen, der sich das Knie verletzt hatte. Fred
hat ihn zuerst massiert und einem alten Baron Birkstein, der dort zum Besuch
war, ebenfalls geholfen. Und dieser alte Herr — er steht allein in der Welt —
hat Fred in den Stand gesetzt, die Klinik hier zu übernehmen. Glauben Sie, daß
sie gehn wird, Frau Weinberg?
Wenn Sie gute Dienerschaft haben, antwortete ich halb mechanisch.
Die werde ich schon finden. Eine Frau Päpke bringe ich mit. Eine sehr nette,
tüchtige Person, die ich durch Zufall in Friedrichroda entdeckte. Sie scheint sparsam
und tüchtig. Wir fangen mit sechs Betten an, und dann will Fred eine tägliche Sprech¬
stunde abhalten. Ein Landschullehrer, dem er half, hat ihm dazu geraten.
Frau Roland war noch nicht fertig. Sie saß in meiner Laube, riß die
Blätter von den Nosensiräuchen, verrieb sie zwischen den Fingern und berichtete
weiter. Ich weiß nicht mehr, was sie sagte: sie war so sehr strebsam und wollte
so sehr viel Geld verdienen.
Sie haben wohl keine Kinder? erkundigte ich mich in einer Gesprächspanse,
O gewiß, drei Mädchen. Die Antwort klang kühl.
Da freut sich Ihre Frau Schwiegermutter sicher über die Mädelcheus.
Meine Schwiegermutter — Pfarrers Röschen stand auf und kniff die Lippen
zusammen, als unterdrückte sie den Nachsatz. Ich muß jetzt gehn, Frau Professor.
Nehmen Sie herzlichen Dank für Ihre gütigen Ratschläge. Vielleicht darf ich einmal
wiederkommen!
Ich brachte sie durch den Garten, und sie ging steif und gemessen wie eine
Dahlie am Stengel. Kleinstadtwürde, mit einer gewissen Furcht vermischt, die ich
uicht verstand.
Nachher hatte ich meine Laube dann wieder für mich. Aber es lagen so
viel abgerissene Blätter umher, die mich störten, und dann kam Harald, der in
der Schule eine schlechte Zensur erhalten, hatte. Da war mir die Stimmung
Das Semester hat begonnen, der Student ist reichlich eingetroffen, singt nachts
auf der Straße und schwärzt tags das Kolleg. Aber die Professoren breiten ihre
ganze Wissenschaft vor ihm aus, und abends tanzt er mit den Prvfessorentöchtern
oder spielt Komödie oder macht sonst etwas Lustiges.
Meine Mngnifika hat mich wieder besucht. Ich soll Theater spielen. Sie
machte mir einige Komplimente über mein Aussehen, und Walter lächelt dazu sein
gutes Lächeln. Er ist immer so stolz auf mich, daß ich mich für ihn fürchte, wenn
ich mich blamieren sollte.
Die Magnifika setzt natürlich ihren Willen durch. Ich muß ihr versprechen,
in irgendeinem Stücklein eine junge Frau zu spielen, die mehrere Liebhaber hat.
Von hoher Moral ist das Lustspiel also nicht, aber es wird moralisch enden, und
das ist die Hauptsache.
Gestern war schon die erste Leseprobe, und ich fand es ganz behaglich in dem
kleinen, mit Teppichen belegten Salon der Frau Rektor, umgeben von fröhlichen
Menschen, zu sitzen und zu plaudern. Ich bin wenig in diese Welt gekommen,
nun macht sie mir Freude. Aber es ist hier wie überall. Zuerst spricht mau von
hohen Dingen, dann kommen die kleinen an die Reihe.
Nach demi Durchlesen der Rollen sprach ein kleiner hübscher Privatdozent
über Michelangelo, über den er eine Arbeit verfaßt hat; dann kam die Unter¬
haltung auf ein Liebespaar, das sich hier nicht ganz passend beträgt; und
dann wurde gefragt: Wer ist eigentlich Doktor Roland, und was bedeutet seine
neue Klinik?
Niemand antwortete, nur die Magnifika wußte Bescheid. Ihr Mann ist der
erste Chirurg hier; ein vornehmer Herr, der viel anf die Jagd geht, seine Assistenten
arbeiten läßt und sich uicht allzusehr überarbeitet. Doktor Roland soll recht ge¬
schickt sein, und die kleine Privatklinik hat immer neben den öffentlichen Anstalten
bestanden. Es gibt ja immer Leute, die die großen Krankenhäuser scheuem Außerdem
sind sie oft überfüllt.
Die Magnifika sprach gleichgiltig und etwas vou oben herab. Jedermann sollte
es merken, daß sie keine Konkurrenz fürchtete. Wie sollte sie auch?
Der Privatdozent, der sich mit Michelangelo beschäftigt, mischte sich jetzt in
die Unterhaltung.
Doktor Roland hat am ersten Tage seines Hierseins eine so brillante Heilung
ausgeführt. Irgendein armes Schulmeisterlein vom Lande, das anscheinend
hoffnungslos dahinsiechte, ist durch ihn wieder gesund gemacht worden. Die Einzel¬
heiten weiß ich nicht, aber da ich am Schwcmenweg wohne, sehe ich täglich Hilfe¬
suchende in das kleine häßliche, gelbe Haus gehn, in dem Doktor Roland wohnt.
Die Sache mit der Heilung wird wohl anders zusammenhängen, entgegnete
die Frau Rektor gelassen. Aber ich würde mich freuen, wenn Doktor Roland zu
tun bekäme. Mein Mann ist sehr überbürdet. Aber wollen wir nicht einen kleinen
Jnibiß einnehmen?
Der kleine Imbiß bestand aus seinen Butterbroten, Salat und so dick Cham¬
pagner, daß ich fast wie ein Student gesungen hätte, als mich der kleine Privatdozent
nachher heimgeleitete. Aber ich nahm mich zusammen, versuchte über Michelangelo
zu sprechen und horchte andächtig auf seine weisen Gegenreden. Er ist sehr jung
und deshalb über alle Maßen klug.
Walter saß natürlich noch am Schreibtisch und arbeitete an seinen populären
Vorträgen. Für jeden erhalt er in jeder Stadt dreihundert Mark. Fünf Städte
wollen drei haben, also gibt es einen hübschen Batzen Geld. Dann können wir
auch einmal Champagner geben und die Leute für uns Theater spielen lassen.
Soweit sind wir noch nicht. Vorderhand muß ich meine Rolle spielen und mir
natürlich viel Mühe geben. Rektors sind sehr freundlich gegen mich, auch die
andern Herrschaften. Sie freuen sich, wie sie sagen, daß wir etwas aus unsrer
Zurückgezogenheit herauskommen. Aber gestern und heute ist Harald wieder mit
einer schlechten Zensur nach Hause gekommen. Er kann es nicht vertragen, wenn
ich nicht mit ihm arbeite, und ich mußte meine Rolle lernen und mir einiges für
mein Kostüm besorgen. Ich habe nur ein Dienstmädchen und ein ganzes Haus
zu versorgen; wenn das Geld für die Vorträge einkommt, will ich mir lieber etwas
Hilfe nehmen, als andre Menschen bei mir Champagner trinken lassen.
Die Gesellschaft beim Rektor ist gewesen und verlief zur Zufriedenheit. Walter
sagte mir nachher, daß ich alles am besten gemacht hätte, das Theaterspiel und
was sonst mit dem Fest zusammenhing. Er ist immer zufrieden mit mir, ich kenne
es schon nicht anders, aber daß sogar der Herr Rektor geruhte, mir einige aner¬
kennende Worte zu sagen, wurde als große Auszeichnung für mich betrachtet; früher
war ich nur Luft für den Geheimen Medizinalrat, und ich verdiente es nicht anders.
Mein Mann war nur Außerordentlicher, hatte keine Verbindungen und suchte sich
keine. Nun. wo er in die Reihe der Ordentlichen eingetreten ist, ist er natürlich
mehr Mensch geworden, und ich, als seine Frau, darf mich huldvoller Ansprache
rühmen.
Der Geheimrat war in der Tat sehr liebenswürdig.
Man hat Sie immer so wenig gesehen, Gnädigste! Sind Sie wirklich ganz
Hausfrau und Mutter?
Ob ich beides ganz bin, Herr Geheimrat, weiß ich nicht. Ich möchte es schon.
Er lächelte freundlich. Wie die Männer es an sich haben, wenn sie ans ihr
Lieblingsthema kommen.
Der schönste Beruf einer Frau! begann er. — Da fiel sein Blick auf seinen
ersten Assistenten, der mit einem fremden Herrn auf ihn zukam. Doktor Roland,
stellte er vor und zog sich dann zurück, während sich mein alter Jugendgenosse
vor dem Magnifikus verbeugte.
Ich muß um Entschuldigung bitten, zu spät gekommen zu sein. Aber eine
eilige Sache —
Der Geheimrat unterbrach ihn lächelnd:
Ich weiß schon, mein Lieber. Als Anfänger muß man immer zu spät er¬
scheinen, um sich den nötigen Nimbus zu geben. Also, meine liebe gnädige Frau—^
Da aber war der Assistent schon wieder neben dem Gastgeber.
Ihre Durchlauchten, Fürst und Fürstin Monreal betreten gerade den Saal.
Mein Geheimrat machte mir eine eilige Verbeugung und ging dann seinen
hohen Gästen entgegen. Ich aber mußte mir Fred Roland betrachte», den ich
noch nie in Frack und weißer Halsbinde gesehen hatte, und dem beides sehr gut
stand. Er hatte das Gesicht seiner Jugendjahre behalten und sich nur einen
dunkeln, spitzen Bart zugelegt. Aber er war doch auch älter und sein Ausdruck viel
unruhiger geworden. Von einem Fuß trat er auf den andern und sah sich in der
Gesellschaft um, zwischen deu fremden Gesichtern, die ihm nichts sagten, und deren
Besitzer sich dorthin wandten, wo die Durchlauchten zu erwarten waren.
Guten Tag, Doktor Roland! sagte ich, ihm die Hand hinhaltend, und der also An¬
geredete richtete seine dunkeln Augen erstaunt auf mich. Und dann leuchteten sie auf.
Anneli Pankow! Wahrhaftig! Wie nett, Sie begrüßen zu können.
Heiter schüttelte er mir die Hand und sprach dann, als hätte er mich gestern
zum letztenmal gesehen, während doch fünfzehn Jahre vergangen sind.
Ich wollte Sie schon immer besuchen, Frau Anneli. Vielen Dank, daß Sie meine
Frau so freundlich aufnahmen, sie hat Ihnen wohl viel vorgeklagt? Ach ja, aller
Anfang ist schwer, und Röschen muß die Augen hier über allem offen halten. Aber
ich glaube, daß alles gut gehn wird. Meine sechs Betten sind so sehr besetzt, daß
ich mir noch drei dazu kaufen werde. Und jeden Tag drei oder vier Operationen!
Seine Augen strahlten mich zufrieden an. Wie in alten Zeiten, wenn er mir
von seinen Zukunftsplänen oder davon erzählte, wie gut er für seine Mutter sorgen
wollte; deshalb dachte ich jetzt an sie.
Kommt Ihre Mutter nicht einmal her? Ich würde mich über alle Maßen
freuen, sie wiederzusehen!
Doktor Rolands Gesicht wurde dunkel. Dann schüttelte er den Kopf und schien
etwas sagen zu wollen; aber der schreckliche erste Assistent stand jetzt an meiner Seite.
Gnädige Frau, Ihre Durchlaucht, die Fürstin Monreal sucht schon lange
nach Ihnen!
Ach, ich hatte wirklich vergessen, daß meine gute Freundin Bodild Rosen jetzt
die Fürstin Monreal ist. Aber da kam sie auf mich zu> vor aller Welt schüttelten
wir uns nicht allein die Hände, sondern sie küßte mich herzlich.
Anneli, ich freue mich unbändig, dich zu sehen. Lieber Manfred, dies ist
Frau Professor Weinberg, die beste Freundin meiner Jugend!
Manfred verbeugte sich und sagte einige artige Worte. Er ist ein alter Mann
mit einem Raubvogelgesicht und eingesunknen Schläfen. Seine Brust flimmerte
von Orden, und er trug eine kleine Perücke.
Bodild war sehr heiter. Viel heitrer, als ich sie in Erinnerung hatte. Sie
plauderte mit mir von alten guten Zeiten, ließ ihre Hand nicht aus meinem Arm
und ging auf diese Weise mit mir durch die Gesellschaft. Jedermann erhielt von
ihr ein freundliches Wort, vor allem auch mein Mann, der sich natürlich bescheiden
im hintersten Hintergrund hielt. Aber ich mußte ihn suchen, und Bodild lud uns
beide ein, sie auf ihrem Schloß zu besuchen. Es liegt in der Nähe von Bären¬
burg, und ihr Mann hat es vor kurzem von irgendeinem Vetter geerbt. Es ist
nichts Wertvolles; ein alter Kasten aus irgendeinem entlegnen Jahrhundert. Aber
natürlich schrecklich historisch und für einen Professor sehr interessant. Walters
Augen begannen zu leuchten, als er von der alten Burg Weiden hörte, und der
Fürst sah ihn wohlwollend an.
Natürlich müssen Sie kommen, lieber Professor. Ich habe alte Bilder und
Waffen, die zu studieren Ihnen vielleicht Freude machen wird!
Es war ein hübsches Fest. Als ich mitten in der Nacht mit Walter nach
Hause ging, waren wir beide recht befriedigt. Es war alles sehr schön gewesen;
aber es tat mir doch leid, nichts mehr von Doktor Roland gesehen zu haben.
Die Magnifika erkundigte sich schon heute morgen in höchsteigner Person nach
meinen! Befinden.
Es ist Ihnen doch gut bekommen? Sie haben reizend gespielt! Und wie
eigenartig, daß Sie eine Freundin der Fürstin Monreal sind.
Sie setzte sich mir gegenüber und sah mich so fragend an, daß ich natürlich
antworten mußte.
Solche Sachen sind nicht so wunderbar, wie sie wohl zuerst scheinen. Die
Komtesse Rosen und ich trafen uns in einem Pensionat am Genfer See. Sie hat
dann mit mir zusammen meinen Onkel Wilhelm Pankow besucht, der in Luzern
wohnt, und später ist sie auf dem Gut meiner Verwandten gewesen. Seit ihrer
Heirat habe ich allerdings nichts von ihr gesehen.
Der Fürst ist schon zweimal verheiratet gewesen, erzählte setzt mein Besuch.
Mein Mann kennt ihn recht gut von einer Orientreise her und ist dann öfters
von ihm zur Jagd eingeladen worden. Da wir wußten, daß sie augenblicklich in
der Nähe von Bärenburg leben, mußten wir sie einladen. Im übrigen bin ich
nicht für so vornehmen Verkehr. Die Leute sehen doch auf uns herab.
Auf diese Bemerkung erwiderte ich nichts. Ich habe Bodild früher sehr lieb
gehabt und werde sie weiter lieben. Einerlei, ob sie Fürstin ist oder Gräfin. Ich
liebe den treuen, wahrhaftigen, edeln Menschen in ihr. Und aufdrängen werde ich
mich ihr nicht.
Haben Sie länger mit Doktor Roland gesprochen? fragte mich die Magnifika weiter,
und ich hatte auf der Zunge, mich zu erkundigen, ob sie so zu jedem ihrer Gäste ginge,
um sie einer scharfen Prüfung zu unterwerfen. Doch meine artige Natur siegte.
Ich sprach nur kurz mit dem Doktor, wir kennen uns auch von früher her.
Und wie ist seine Frau?
Sie kenne ich fast gar nicht, kann also nichts sagen.
Sie ist vielleicht nicht ganz prcisentabel. Wir hatten sie natürlich beide eingeladen,
aber er kam allein und entschuldigte sie kaum. Seine Klinik soll übrigens schon gefüllt
sein. Und haben Sie gehört, daß Fürst Monreal gestern bei ihm vorgefahren ist?
Ich wußte es natürlich nicht, obgleich ich mich entsann, von Röschen Roland
etwas vom Fürsten Monreal gehört zu habe». Aber ich sagte es nicht. Der
Geheime Medizinalrat klagt zwar über Überbürdung, aber einen Fürsten läßt er
sich als Patienten gewiß ungern entgehn. Die Magnifika rauschte davon. Sie
war reizend mit mir, sagte etwas über meine Augen, und daß wir uns lieb haben
wollten, und winkte mir nach, als sie schon auf der Straße war. Ich aber ging
zu meinem Jungen und fand ihn in Tränen. Sein Extemporale war wieder schlecht,
und der Lehrer droht ihm mit Nachhilfestunden.
Morgen will ich diesen Lehrer einmal besuchen.
(Fortsetzung folgt)
Den Urwähler für das preußische Abgeordnetenhaus siud am 16. Juni die
Abgeordnetenwahlen gefolgt, sodaß die Zusammensetzung des neuen Hauses um
endgiltig feststeht. Da das Ergebnis der Wahlmännerwahlen schon eine annähernd
richtige Schätzung gestattet, so hat der entscheidende Tag in der letzten Woche keine
eigentlichen Überraschungen gebracht. Das Ganze ist nur etwas leichter zu über¬
sehe», und Behauptungen, die neulich uoch eine hypothetische Färbung hatten, können
jetzt in bestimmter Form aufgestellt werden.
Wir haben das Ergebnis der Wahlen schon so weit besprochen, daß nur
wenig noch nachgetragen zu werden braucht. Wir kommen deshalb auch nicht noch
einmal auf die Frage zurück, was der Aufgang des sozialdemokratischen Sieben¬
gestirns am parlamentarischen Himmel des Königreichs Preußen bedeutet. Aber
gewonnen hat außerdem auch das Zentrum, und so kann man sich denken, wie
dieser Erfolg der „Antiblockleute" glossiert wird. Solche Glossen machen natürlich
auch den gewünschten Eindruck, obwohl nüchternes Nachdenken sogleich zeigen müßte,
daß geuau dieselbe Erscheinung eingetreten sein würde, wenn in der Reichspolitik
niemals von einem Block die Rede gewesen wäre. Schon aus diesem Grunde hätte
richtige Taktik die Blockparteien veranlassen müssen, den Gedanken der Blockpolitik nicht
ohne weiteres auf die preußische Politik zu übertragen. Es spricht sich darin der¬
selbe Grundfehler aus, der auch in der Wahlrechtsfrage eine so seltsame Rolle ge¬
spielt hat. Die Einrichtungen und die Politischen Grundsätze in den Einzelstaaten
sollen nach dieser Auffassung nur das verkleinerte Abbild der Verhältnisse im Reiche
sein, und die kommunalen Verbände sollen wieder das verkleinerte Bild des Staates
geben. So wird mechanisch alles nach einem Schema aufgebaut; welcher Zweck
damit verbunden wird, danach scheint niemand zu fragen. So erregte sich der
Liberalismus seinerzeit darüber, daß in Hamburg ein „reaktionäres" Wahlrecht
eingeführt wurde, und verlangte, daß der Bundesstaat Hamburg sich möglichst den
Verhältnissen im Reiche anpasse, am besten womöglich das Neichstagswahlrecht auf
seinen Staatsverband übertrage. Man wollte nicht sehen, daß Hamburg nach
seiner staatsrechtlichen Stellung im Reiche zwar ein Bundesstaat, aber in bezug
auf die Zwecke seiner innern Verwaltung doch vor allem eine städtische Gemeinde
ist. Nur um einer innerlich ganz und gar unbegründeten Doktrin willen sollte
sich Hamburg eine ganz widersinnige Verfassung geben; der ersten Seehaudelsstadt
des Reichs wurde zugemutet, über die wichtigsten Angelegenheiten ihrer kommunalen
Verwaltung die Masse der Abhängigen und Vermögenslosen entscheiden zu lassen,
die Träger der eigentlichen Lebensinteressen des großen Handelsplatzes aber möglichst
auszuschalten. Wir erinnern an das Beispiel von Hamburg, weil es am deutlichsten
zeigt, wie das ganz willkürlich verkündete, vollkommen unhaltbare Prinzip von der
Notwendigkeit der Übereinstimmung zwischen Netchseinrichtungen und einzelstaat¬
lichen Verhältnissen in seinen Konsequenzen zum handgreiflichen Unsinn wird. Die
Frage, warum denn die Volksvertretung des Königreichs Preußen nach denselben
Grundsätzen zusammengesetzt sein muß wie der deutsche Reichstag, ist bisher noch
nie wirklich befriedigend beantwortet worden, und sie kann auch überhaupt niemals
überzeugend beantwortet werden, denn diesem Grundsatz fehlt ebenso die innere
Begründung, wie etwa der Behauptung: weil in einem Ort ein Haus ein rotes
Ziegeldach hat, müssen auch alle andern Häuser mit roten Ziegeln gedeckt sein, auch
wenn ein Schieferdach in der Gegend billiger und bequemer zu haben ist.
Der einzelstaatlichen Gesetzgebung sind Aufgaben vorbehalten, bei deren Lösung
die verschiednen Parteianschauungen mit viel mehr Recht als in der Reichsgesetzgebung
in die Wagschale fallen. Die Blockpolitik im Reiche will ja auch durchaus nicht die
Parteiunterschiede verwischen, die Parteigrundsatze durchbrechen, sie will die Parteien
vielmehr nnr für bestimmte nationale Fragen vereinigen. Die Fragen, die dabei
in Betracht kommen, gehören durchweg zu denen, die der Reichsgesetzgebung unter¬
liegen. Für die preußische Landesgesetzgebung kommt es also gar nicht so sehr
darauf an, daß Konservative und Liberale durchaus zusammengehn.
Nun hat allerdings auch Preußen eine Frage von besondrer nationaler Be¬
deutung zu losen, die Polenfrage. Sie erfordert einen Kampf, in dem sich der
Staat die Waffen nicht leichtfertig aus der Hand winden lassen darf. Wenn das
Zentrum in nationalen Fragen der Reichspolitik der Regierung früher eine zwar
eigennützige, immerhin aber doch tatsächliche Unterstützung gewährt hat und nun
zuletzt dem verblendeten Übermut des Parteigeistes die Zügel schießen ließ, so hat
es sich einer nationalen deutschen Politik in der Polenfrage stets entschieden ver¬
sagt und sich offen auf die Seite der Feinde des Deutschtums gestellt. Das ist
um so bedenklicher, als in der Polenfrage auch ein großer Bruchteil der Liberalen
unzuverlässig ist und unter vollständiger Verkennung der Natur des Polentums
und der polnischen Ziele doktrinäre Schrullen über realpolitische Notwendigkeiten
stellt. Unter solchen Umständen muß der preußische Staat Bedenken tragen, den
Schwerpunkt seiner gesetzgebenden Körperschaft ohne zwingende Not verrücken zu
lassen und durch Demokratisierung des Wahlsystems das Gewicht der Elemente zu
verstärken, die ihn in einer wichtigen Lebens- und Kulturfrage im Stich zu lassen
fähig sind. Erst müssen wenigstens die Grundlagen einer wirksamen und stetigen
Polenpolitik für längere Zeit gesetzlich gesichert seien, ehe ein solches Experiment
gemacht werden kann.
Interessant ist die Frage, auf Kosten welcher Partei Zentrum und Sozial-
demokraten hauptsächlich ihre Wahlerfolge errungen haben. Es sind die National¬
liberalen, die verhältnismäßig am schlechtesten abgeschnitten haben. Sie haben in
diesem Feldzuge unglücklich operiert. Im Grunde mochte wohl die Mehrzahl der
einsichtigen Nationalliberalen erkennen, daß der Augenblick, für die Wahlreform in
Preußen zu wirken, schlecht gewählt war, weil in den Volkskreisen, auf die mau
sich stützen mußte, für ein lebhaftes Drängen in dieser Richtung gar keine Stimmung
war. Außerdem mußte ihnen die Rücksicht auf die nationalen Aufgaben, die ihnen
nach Überzeugung und Parteitraditivn am Herzen liegen mußten, vor allem die
Rücksicht auf die Polenfrage, sagen, daß die Erhaltung einer aus Deutsch¬
konservativen, Freikonservativen und Nationalliberalen nötigenfalls zu bildenden
Mehrheit im Preußischen Abgeordnetenhause eine dringende Notwendigkeit sei. Eine
Partei, die einen festen Boden im Lande hatte und ihrer selbst sicher war, mußte
in solchem Falle den Mut haben, ihren Wählern klar zu machen, daß sie sich im
Prinzip für die Reform des Wahlrechts erkläre, aber entschlossen sei, sich aus
nationalen Gründen gegenwärtig an dieser Reformbewegung nicht zu beteiligen.
Aber es scheint, daß wir für eine solche Art von Politik, die z. B. den Parteien
in England und Amerika ganz geläufig ist, in Deutschland noch nicht reif sind.
Ein Versuch, die Wähler dazu zu erziehen, daß sie sich für die Mittel interessieren,
die wirklich zu dem Parteiziel führen, wird niemals unternommen. Voller Re¬
signation nehmen die Parteileitungen als selbstverständlich an, daß sich der Wähler
nur von dem der Parteidoktrin entnommnen Schlagwort leiten läßt, auch wenn es
auf der Hand liegt, daß dadurch das Gegenteil von dem erreicht wird, was man
erreichen will. So hat auch in der uatioualliberalen Partei, deren führende Kreise
schon seit lauger Zeit in den eignen Reihen mit sträflicher Indolenz auf der einen
und vollkommner Rat- und Hilflosigkeit auf der andern Seite zu kämpfen haben,
der angstvolle Wunsch, nur ja vor der von Schlagworten geleiteten Menge das
nötige Maß von Liberalismus zur Schau zu tragen, die politische Vernunft einmal
wieder totgeschlagen. Man proklamierte gerade so viel Wahlreformgedanken, wie
nötig waren, um die rechtsstehenden Parteien nutzlos zu verärgern und mit Mi߬
trauen zu erfüllen, und doch auch wieder so wenig, daß man der sozialliberalen
und sozialdemokratischen Agitation, die man ja ohnehin gegen sich hatte, ein paar
weitere Handhaben zum Vorwurf der Halbheit und Zweideutigkeit an die Hand
gab. Trotz dieser mangelhaften Rüstung bildete man sich ein, den freisinnigen
Parteien, die nicht nur von den Sozialdemokraten wütend bekämpft, sondern auch
von den Sozialliberalen und querköpfigen „Freunden" aus den eignen Reihen im
Rücken angefallen wurden, einen wertvollen Sukkurs zum Vorteil der liberalen
Sache bieten zu können. Der Mißerfolg war wenigstens ehrlich verdient.
In die Beurteilung unsrer auswärtigen Lage scheint jetzt etwas mehr Klarheit
und Ruhe zu kommen. Es war eine etwas seltsame Veranlassung, die diese Selbst¬
besinnung herbeiführte. Nachdem schon vorher allerlei gemunkelt worden war, daß
der Kaiser bei der Frühjahrsparade auf dem Tempelhofer Feld eine bedeutungs¬
volle Ansprache gehalten habe, erschien vor einer Woche in einem Provinzblatt eine
Berliner Korrespondenz aus bekannter Quelle, wonach der Kaiser nach einer Be¬
sichtigung in Döberitz eine politische Rede gehalten haben sollte, und zwar in Gegen¬
wart „der fremden Militärattache's", wie es in der Mitteilung hieß. Es wurde
auch ein Stück daraus im Wortlaut mitgeteilt; der Kaiser sollte auf die „Ein¬
kreisung" Deutschlands Bezug genommen und davon gesprochen haben, daß man
anscheinend „uns stellen" und „herausfordern" wolle, aber sie sollten nur kommen,
die Deutschen hätten sich nie besser geschlagen, als wenn sie von allen Seiten an¬
gegriffen worden wären.
Die Meldung war in der verbreiteten Form falsch und beruhte auf ungenauen
Erzählungen indiskreter Ohrenzeugen, die allerdings wohl nicht ahnen mochten, was
für Mißbrauch mit den aus ihren unbedachten Worten zurechtgezimmerten Sensations¬
nachrichten getrieben werden würde. Ein englischer Berichterstatter, dem sich andre
Kollegen anschlössen, meldete die Sache nach London, noch dazu in einer Form,
die — abgesehen von der Verschiebung des Datums — den Eindruck erwecken
mußte, als habe der Kaiser ausdrücklich die fremden Attaches eingeladen, um vor
ihnen gewissermaßen mit dem Säbel zu rasseln, und als sei diese Mitteilung den
Berichterstattern selbst von beteiligten Attache's gemacht worden.
Das alles war unrichtig. Was wirklich geschehn war, war ein harmloser, rein
militärischer Vorgang, der vor allem die Öffentlichkeit überhaupt nichts anging. Es
ist deshalb auch mit Recht absichtlich und grundsätzlich vermieden worden, etwa eine
amtliche Darstellung des Geschehenen und eine amtliche Mitteilung des Wortlauts
der kaiserlichen Ansprache zu geben. Der Kaiser hatte die Ansprache an die Offiziere
nach einer Übung gehalten, die er alljährlich am 29. Mai mit den Truppenteilen
abhält, die er einst als Kronprinz vor zwanzig Jahren an diesem Tage seinem
todkranken Vater vorführte — zu seiner letzten Heerschau. Fremde Militärattaches
waren zu dieser militärischen Gedenkfeier, die stets intimen Charakter trägt, nicht
eingeladen worden; nur befand sich, wie immer bei solchen besondern Gelegenheiten,
im Gefolge des Kaisers der russische Militärbevollmächtigte, der nach alter Tradition,
die nur unter der Regierung Alexanders des Dritten eine Zeit lang unterbrochen
war, nicht zum diplomatischen Korps gehört, sondern der Person des Deutschen
Kaisers zugeteilt ist. Der Kaiser hatte vor seinen Offizieren nicht anders gesprochen,
wie jeder Kriegsherr der deutschen Heere jederzeit sprechen kann und wird. Er
hatte der Zuversicht Ausdruck gegeben, daß die Armee auch den ernstesten Proben
gewachsen sein werde. Darin liegt nichts von Drohung und Ruhmredigkeit, nichts
von Angriffslust; ini Gegenteil liegt in dem Hinweis, daß die gewissenhafte Wahrung
des Friedens von unsrer Seite zusammentrifft mit der ernsten Entschlossenheit,
gegen jede Friedensstörung von andrer Seite gerüstet zu sein — in dem
Bewußtsein, auch vor einem Angriff von allen Seiten nicht zurückweichen zu
müssen —, eine große Beruhigung aller erregten Gemüter und eine Stärkung
des Bewußtseins, daß es wirklichen Gefahren gegenüber bei uns Deutschen keine
Meinungsverschiedenheiten geben kann. Es gehörte ein schlechtes Gewissen, eine
wirkliche Absicht der Friedensstörung dazu, den Worten des Kaisers die Absicht
der Drohung unterzuschieben. Als Warnung konnten sie gelten, wo es vielleicht
nötig schien, zu warnen. Denn auch ohne den Wortlaut der Ansprache zu kennen,
darf man sich klar machen, daß der Kaiser zu seinen Offizieren, zu gebildeten
Männern, die Zeitungen lesen, sprach. Er mußte annehmen, daß die Offiziere, auch
wenn sie keine tätige Parteipolitik treiben, sich doch ihre bestimmten Ansichten und
Eindrücke von den Weltereignissen bilden und von den Vorstellungen, die in so
vielen Blättern öffentlich erörtert wurden, nicht unberührt bleiben konnten. Und
wenn der Kaiser den Ausdruck seiner Zuversicht und seine Mahnung zur ent¬
schlossenen Pflichterfüllung an die ihm bekannten Vorstellungen seiner Zuhörer von
der jetzigen Lage als etwas immerhin im Bereich der Möglichkeit liegendes an¬
knüpfte, so ist weder vom politischen noch vom militärischen Standpunkt etwas
dagegen einzuwenden. Es ist zu bedauern, daß die Sache an die Öffentlichkeit kam,
vor allem des Prinzips wegen — militärische Ansprachen im Kreise deutscher
Offiziere sollten unter allen Umständen vor Veröffentlichung geschützt sein —; weiter
aber, weil die unkorrekte Form dieser Meldung falsche Vorstellungen erwecken mußte.
Aber die Angelegenheit hat dadurch eine erfreuliche Wendung genommen, daß die
überwältigende Mehrheit der deutschen Blätter — die einen sofort, die andern
allmählich folgend — sich von allen nebensächlichen Betrachtungen losgemacht und
anerkannt hat, daß alles, was dem Kaiser in den Mund gelegt wurde, die Herzens¬
meinung jedes Deutschen sei. Einem guten Instinkt folgend hat dann auch die
Presse des Auslandes, namentlich die französische, die Mitteilung sehr ruhig auf¬
genommen und besprochen und die Berechtigung des Kaisers, so zu sprechen, sowie
die friedliche Absicht vollkommen richtig gewürdigt."
In den Zeitungen wird gegenwärtig der „Fall Bernhard viel besprochen.
Professor Ludwig Bernhard in Kiel, der bekannte Verfasser des verdienstvollen
Werks über „das polnische Gemeinwesen im preußischen Staat", ist kürzlich unter
eigenartigen Verhältnissen an die Universität Berlin berufen worden. Die Re¬
gierung legte Wert darauf, ihn in Berlin festzuhalten, um ihm Gelegenheit zu
geben, seine ganze Kraft auf die Fortsetzung seiner Studien zur Polensrage zu ver¬
wenden und durch diese wissenschaftlichen Forschungen auf einem bisher leider nur
zu sehr vernachlässigten Felde die Tätigkeit der Regierung in einer sehr wertvollen
und notwendigen Weise zu unterstützen. An diesem Entschluß ist natürlich nichts
auszusetzen, im Gegenteil kann man sich nur freuen, daß in dieser Richtung endlich
einmal ernste Schritte getan werden. Aber die Art, wie das Kultusministerium
die Sache ins Werk setzte, verriet nicht viel Geschicklichkeit. Professor Bernhard
sollte durchaus eine Dozentenstelle an der Berliner Universität erhalten, obwohl
eine Professur der Volkswirtschaft nicht frei war. Er war in Kiel schon Ordinarius
und stand im Begriff, einem ehrenvollen Ruf an eine andre mißerpreußische Universität
zu folgen. Um diesen Schwierigkeiten zu begegnen, wurde ihm Hals über Kopf eine
außerordentliche Professur eingerichtet, die ihm als einem „persönlichen Ordinarius"
übertragen wurde, was natürlich nach außen hin dieselbe Wirkung hatte, als ob
ein neues Ordinariat errichtet worden wäre. In diesem Zusammenhange machte
es überall einen verblüffenden Eindruck, daß die Fakultät bei dieser Berufung gar
nicht befragt worden war. Zwar nach dem formellen Recht war die Regierung
nicht direkt verpflichtet, die Fakultät vorher zu hören; außerdem glaubte sich das
Ministerium durch die Eile der Entscheidung entschuldigt, aber man hätte erkennen
müssen, daß in diesem Falle eine solche formalistische Behandlung einen sehr Übeln
Eindruck machen mußte. Denn der noch sehr junge Kieler Gelehrte wurde hier
zufällig als vierter neben drei Senioren und Koryphäen der nationalökonomischen
Wissenschaft, Adolf Wagner, Schmoller und Sehring, gestellt, sodaß die Nicht-
befragung der Fakultät gerade in diesem Falle einer Brüskierung der drei be¬
rühmten Gelehrten verzweifelt ähnlich sah. Man darf sich nicht wundern, daß
niemand recht glauben wollte, daß die Entscheidung wirklich so eilig gewesen sei.
Vor allem aber hatte ja das Kultusministerium eine ganze Anzahl andrer Mittel
zur Verfügung, um einen Gelehrten in Berlin zu fesseln und ihm eine Entschädigung
für andre, ihm entgcmgne akademische Ehrenstellen zu sichern. So hat die Ma߬
nahme des Kultusministeriums die Folge gehabt, daß dieses Verfahren als eine
grundsätzliche Beeinträchtigung der Selbständigkeit der Fakultäten aufgefaßt und der
alte Streit um die Rechte der Fakultäten wieder aufs neue entfacht wurde.
Unterdessen hat Professor Bernhard einen klugen Schritt getan. Er hat sich
persönlich einem nachträglichen Votum der Fakultät unterworfen und will, wenn
es gegen ihn fällt, seinen Abschied erbitten. Ihn persönlich trifft ja keine Schuld
an der unerquicklichen Entwicklung der Angelegenheit. Es wäre aber zu wünschen,
daß die Rechte der Fakultäten und des Staats allgemein in einer klaren, beide
Teile befriedigenden Weise geregelt würden, damit die Wiederholung dieser für
unsre Hochschulen nicht angenehmen Zwischenfälle möglichst vermieden wird.
Der amerikanische Historiker
Brooks Adams weist in seinem Buche: Das Gesetz der Zivilisation und
des Verfalls (Akademischer Verlag in Wien und Leipzig, 1907) nach, wie im
Laufe der weltgeschichtlichen Entwicklung immer und überall der ursprüngliche, der
emotionelle und ritterliche Menschentypus vom ökonomischen (militgr^ auel iuäustrial
^i?s> sagen Buckle und Spencer, die aber den zweiten lieben) zurückgedrängt und
zuletzt vernichtet wird, wie diesem dabei im Hartgelde, im Edelmetall, ein mächtiger
Bundesgenosse entsteht, und wie der Wucher- und Schachergeist heute daran ist,
alle höhere Kultur zu vernichten. Am interessantesten ist der Abschnitt über die
wenig bekannte byzantinische Geschichte. Die mittelalterlich deutsche und die
Reformationsgeschichte ist nicht nach guten deutschen sondern nach französischen
Quellen dargestellt und darum, wie wegen der oberflächlichen Betrachtungsweise
des Verfassers, teils karikiert, teils unwahr ausgefallen. In der Abneigung gegen
die Auswüchse des Kapitalismus und in der Schätzung der „emotionellen" Natur — wir
Deutschen sagen: des Gemüts — sympathisieren wir natürlich mit dem Verfasser,
aber unser ganzes heutiges Wirtschaftsleben als einen Sieg der Wucherer über die
Ritter darstellen, das kann man nicht einmal Karikatur mehr nennen, das ist reine
Phantasie. Könnte man doch eine Disputation zwischen Brooks Adams und Friedrich
Naumann veranstalten! Das wäre ein Schau- oder vielmehr Hörspiel für Götter.
Aber freilich, Grund genug zu seinen Übertreibungen findet der Amerikaner in
seinem Vaterlande. Als patriotischen Schmerzensschrei und als patriotische Warnung,
nicht als geschichtsphilosophische Studie, meint ein Rezensent, müsse man das Buch
auffassen. In diesem Sinne kann man es in der Tat gerechtfertigt finden, und
das hat denn auch den Präsidenten Roosevelt bewogen, eine lange Einleitung dazu zu
schreiben. Eben lese ich eine greuliche Schilderung des angeblich aus lauter Korruption,
Schwindel, Raub und Diebstahl, sinnlosem Luxus und verbrecherischen Genuß be¬
stehenden Newyorker Lebens in dem Buche ^luz Nstroxolis von Upton Sinclair.
Von Dr. usa. Otto Dornbluth, Nervenarzt
in Frankfurt a. M. Zweite, völlig umgearbeitete und bedeutend erweiterte Auflage.
(Deutscher Verlag für Volkswohlfahrt, Berlin, 1907. 258 Seiten, geb. 4 Mark.)
Durch seine medizinischen Werke, namentlich durch sein Kompendium der innern
Medizin, hat sich der Verfasser unter den Fachgenossen einen geachteten Namen
gemacht. Mit dem vorliegenden Buche wendet er sich an weitere Kreise, an die
gebildete Laienwelt, an alle Freunde der Volkswohlfahrt, vor allem an die Eltern
und an die Erzieher; und wir müssen gestehn, daß er es vortrefflich versteht, den
Leser in die Hygiene der geistigen Arbeit einzuführen, ihn mit den Bedingungen
für die gesunde Leistungsfähigkeit des Körpers und des Geistes bekannt zu machen
und ihn von den schweren Nachteilen gewisser gedankenlos übernommner Gewohn¬
heiten und Einrichtungen unsers Kulturlebens zu überzeugen. Er behandelt in kurzen,
anregend geschriebnen Kapiteln einzelne Elemente des geistigen Lebens: das Gedächtnis,
das Gefühls- und Gemütsleben und die Willenskraft, geht dann auf das Verhältnis
zwischen Arbeit und Ermüdung ein, zwischen Arbeit und Stimmung und zwischen
Arbeit und Erholung und hebt überall das nachteilige und das Vorteilhafte in
unsern Gewohnheiten hervor. Er wendet sich nachdrücklich gegen die noch bei vielen
Pädagogen ältern Schlages zu findende Ansicht, daß körperliche Arbeit eine Erholung
von geistiger Arbeit sei; durch diesen beklagenswerten Irrtum hätten sich schon viele
durch Geistesarbeit angegriffne in ihrer Gesundheit und Leistungsfähigkeit schwer
geschädigt.
Ausführlich spricht der Verfasser von den Bedingungen eines normalen gesunden
Schlafes, von der Ernährung des geistig Arbeitenden, von den Genußmitteln und
von der Erziehung zur geistigen Gesundheit im Kindesalter. Sich gehn zu lassen
hält er für die Quelle mancher Störungen. „Die Kinder, sagt er, müssen vielmehr
dazu angehalten werden, nicht jeder körperlichen Mißempfindung gleich starken
Ausdruck zu geben. Es gibt Kinder, die bei jedem Hustenreiz, bei dem einfachen
Verschlucken usw. gleich tun, als müßten sie vor Husten ersticken oder sich die
Seele aus dem Leibe husten." Wenn man ihnen aber sagt, daß das unnötig und
unschicklich sei. daß vielmehr ein vernünftiger Mensch den Husten möglichst unter¬
drücke, so gewöhnen sie sich daran und sehen schnell ein, daß es auch ohne soviel
Geräusch geht. Höchst auffallend ist der Einfluß einer solchen Erziehung zum Beispiel
bei einem später auftretenden Keuchhusten. Die Kinder, die gewohnt waren, sich zu
beherrschen, bekommen entschieden viel leichtere Anfälle, während unerzogne regel¬
mäßig bei den Hustenanfällen zum Erbrechen kommen. Allein schon das Vorbild der
Eltern macht sehr viel ans. Wo die Kinder täglich sehn, daß der Vater jeden Reiz
im Rachen mit endlosem, geräuschvollem Räuspern und Husten beantwortet, wo die
Schüler einen Lehrer aller Augenblicke zum Spucknapf laufen sehen, um mit großer
Umständlichkeit jeden Auswurf zu entleeren, gewöhnen sie sich leicht auch solche
Unschönheit an. Ich erinnere mich einer ganzen Schulklasse, die von einem Lehrer die
Gewohnheit angenommen hatte, fortwährend ganz leicht zu spucken, etwa so, als ob
man ein auf den Lippen sitzendes Teilchen wegblasen wollte."
Besonders ans Herz legen möchten wir den Lehrern das Kapitel: Hygiene des
Geistes im Schulalter, wo er über die Ziele der Schulbildung spricht, über die Über¬
bürdung, die Schulkrankheiten, die Stundenzahl, den Lehrplan, die Einheitsschule,
die Schulferien und die Schulprüfungen. „Es ist wohl nicht zu bezweifeln, sagt
der Verfasser, daß das übliche »Bummeln« in den ersten Semestern auf der Universität
vielfach die Reaktion auf die Überbürdung vor dem Examen darstellt. Der Zeit¬
verlust und die moralische Entgleisung, die in solchem Verhalten liegt, sind schon
schlimm genug, aber viele der so ins Bummeln geratnen erreichen nie mehr den
Anschluß an wirkliche Arbeit. Andre haben durch das gewaltsame Büffeln ihr
Gedächtnis so geschädigt, daß es nie wieder ordentlich leistungsfähig wird. Noch
andre verlieren die Willenskraft oder werden von dauernden nervösen und deprimierten
Zuständen heimgesucht, und sehr viele Studenten werden durch diese oder jene Ver¬
anlassung dem Alkoholismus in die Arme getrieben, der sie vollends zugrunde
richtet... Die Abschaffung des Abiturientenexamens ist vom gesundheitlichen Stand¬
punkt aus dringend zu fordern." Mit einem Kapitel über Unfähigkeit zu geistiger
Arbeit schließt der Verfasser seine Ausführungen; wir können das gediegne Buch
herausgegeben von Dr. Philalethes
Kühn, Stabsarzt beim Kommando der Schutztruppen, und Kurt Schwabe, Haupt¬
mann. (Verlag von Wilhelm Welcher, Leipzig. 351 Seiten, 3 Mark 50 Pf.)
Diesen ersten Versuch, der weißen Bevölkerung des Schutzgebiets einen praktischen
Taschenkalender zu liefern, können wir nur mit Freuden begrüßen. Die Heraus¬
geber haben mit Unterstützung zahlreicher erfahrner Männer hiermit den nach Süd¬
westafrika gehenden Offizieren, Beamten, Kaufleuten und Kolonisten ein Hilfsmittel
geschaffen, das wir unsern Lesern nicht warm genug empfehlen können; denn das
Buch ist eine solche Fundgrube von Belehrung und Anregung, daß jeder Freund
unsrer Kolonien, besonders auch die jungen Kaufleute und die Lehrer der Geo¬
graphie, das Buch mit dem größten Nutzen lesen werden. Der Inhalt ist überaus
reich und die Darstellung allgemein verständlich und anregend. Außer den stati¬
stischen Angaben sind besonders wertvoll die Artikel über Handel und Verkehr mit
eingehenden Berichten über die Schiffahrt, über die Eisenbahnen, über Post und
Telegraphie, über Geld-, Bank- und Kreditverhältnisse, über die im Schutzgebiet
tätigen Gesellschaften. Eine gründliche Kenntnis der geographischen Verhältnisse
zeigen die knappen aber inhaltreichen Aufsätze über das Bergwesen, die Bewässerung,
die Brunnenanlage, über Landwirtschaft und Viehzucht. In diesem Kapitel wird
über die Grundsätze und die Rentabilität des Gemüse- und Ackerbaus berichtet,
über Wein und Südfrüchte, über Bekämpfung der Heuschrecken, über die Ver¬
wertung des Staudammwassers zur Fischzucht. Hier finden wir auch vortreffliche
Belehrungen über Tierzucht und Tierkrankheiten, über Instrumente und Medikamente,
über Operationen und Epidemien.
Besonders interessant ist die Abhandlung über Jagd und Wild. „Die Jagd
in Südwestafrika, sagt der Verfasser PH. Kühn, hat einen großen Reiz, weil
jeder Zweig des edeln Weidwerks ausgeübt wird, weil trotz mannigfachen und
reichen Wildstandes doch stets Eifer, Geschick und Ausdauer dazu gehören, um mit
Erfolg zu jagen, und weil die Jagdbeute dem eignen Tische zugute kommt. Die
körperliche Anstrengung und die Anspannung der Sinne wirken belebend und
kräftigend auf Körper und Geist. Die Tafel bietet nicht Tag für Tag Rindfleisch
oder Konservenspeisen, sondern ist häufig bedeckt mit schmackhaftem Wildbret. Daher
ist die Ausübung der Jagd im Schutzgebiet ein hervorragendes Mittel zur Er-
Haltung der Gesundheit." Und nun gibt der Verfasser eine anregende Schilderung
der verschiednen Jagdarten, auf dem Anstünde, auf der Pirsche, der Hetzjagd, des
Fanges in Fallen, und er belehrt den Jäger, wie er seine Beute richtig zu verwerten
habe. Nicht nur für den Farmer, sondern auch für den Botaniker höchst wertvoll
ist der Artikel über die Pflanzenwelt Deutsch-Südwestafrikas. „Dringend notwendig,
sagt Professor Schinz, ist die Aufforstung. Die mehr oder minder wertlosen Akazien
sollten verschwinden und an deren Stelle Bauholz liefernde Laubhölzer eingeführt
werden. Zu diesem Behufe wäre es zweckmäßig, wenn auf Staatskosten von ge¬
schulten Forstmännern — und solcher bedarf es — Studienreisen in Nordafrika
ausgeführt würden, damit dann deren Erfahrungen in Südwestafrika unter ihrer
Leitung direkt verwertet werden könnten. All dies kostet Geld, aber was würde
man von einem Privatmanne sagen, der sein teuer erworbnes Grundstück brach liegen
lassen und nicht einen Versuch wagen würde, es nutzbringend zu gestalten?" Vor
allen Dingen verlangt der Verfasser, daß die Regierung möglichst bald Versuchs¬
institute begründe, in denen praktisch erprobt würde, welche Nutz- und Kulturpflanzen
für unsre Kolonie verwertbar seien.
Den Schluß des Buches macht eine Reihe von Angaben, in denen über die
Vergünstigungen für Ansiedler und Schutztruppenangehörige berichtet wird, ferner
über das Versorgungswesen der Militärpersonen, über Gesetze und Verordnungen,
die sich auf das Schutzgebiet und auf die Eingebornen beziehen. Es ist gar kein
Zweifel, daß dieses wertvolle und handliche Buch von allen Freunden unsers Kolonial¬
wesens mit großer Anerkennung aufgenommen werden wird. Jedenfalls verdient
es die weiteste Verbreitung.
Mitten zwischen Ackerland, Getreide-,
Kartoffel- und Rübenfeldern, die nur hier und da von einer Baumrethe an einem
kleinen Wasserlaufe oder einem in Grün versteckten Dorfe unterbrochen werden, in
einer flachwelligen, fruchtbaren Ebene,»deren Reize frühere Geschlechter besser würdigten
als wir, liegt etwa zwei Stunden von Merseburg im Westen der Saale das ehemals
weltbekannte, jetzt vergeßne Lauchstedt. Es ist heute wieder ein Ackerstädtchen, das
fast ganz von der Landwirtschaft lebt, wenige Gassen um einen ansehnlichen Markt
und eine alte romanische Kirche, kleine niedrige Häuser, große Höfe und grüne
Gärten, heute wie eingeschlafen und seitwärts von allen großen Verbindungen,
obwohl seit einigen Jahren durch eine Sekundärbahn mit Merseburg verknüpft. Aber
am 13. Juni dieses Jahres schien sich auf einige Stunden das alte bunte Leben
zu erneuern, das sich im achtzehnten Jahrhundert seit der Entdeckung der Stahl¬
quelle um 1710 hier allsommerlich entfaltet hatte. Galt es doch die Einweihung
des wiederhergestellten kleinen bescheidnen alten Theaters zu vollziehen, das an
Stelle des alten Bretterhauses von 1785, wo seit 1791 die Weimarischen Hofschau¬
spieler unter Goethes Leitung einige Wochen hindurch spielten, 1802 erbaut worden
war. Diese Aufführungen bildeten damals unter Schillers häufiger Teilnahme den
Mittelpunkt für die kleine aber auserlesene Badegesellschaft, die sich hier aus weiteren
Umkreise, aus Sachsen und Thüringen sammelte, nicht selten seit 1775 verstärkt
durch den kursächsischen Hof und regelmäßig durch die Hallischen Studenten. Ein
teilnehmendes, verständnisvolles, feinsinniges Publikum, wie es damals selten irgendwo
sonst in Deutschland zu finden war, sonnte sich damals hier in einem Abglanze des
Weimarischen Musenhofes, so ganz hingegeben der Verehrung für seine großen
Dichter und ihre Schöpfungen, daß es mit dem bescheidensten Komfort in den kleinen
Häusern des anspruchslosen Landstädtchens zufrieden war, während draußen die
Staatenwelt erbebte und aus den Fugen ging. Nur in einem so unpolitischen, so
ganz ästhetisch-literarischen Interessen hingegebnen Volke, wie es damals die Deutschen
waren, konnte eine solche Idylle gedeihen. Jetzt, in einer Zeit, die innerlich von
der damaligen so unendlich verschieden ist, hat ein hochherziger Gönner, der Geheime
Kommerzienrat Lehmann in Halle, die Mittel zur Wiederherstellung des alten,
verlaßnen und verfallnen Theatergebäudes, das schon vom Abbruch bedroht war,
hergegeben, nachdem das Bad Lnuchstedt 1965 in den Besitz der Provinz Sachsen
übergegangen war, und der Provinzialansschuß, um seiner Spitze der Landeshauptmann
Freiherr von Wilmowski, hatte für den 13. Juni an einige hundert Personen in
Halle, Merseburg und Leipzig Einladungen zu der Einweihungsaufführung erlassen.
Es war ein herrlicher warmer und doch nicht allzuheißer Sommertag, als ein
langer Extrazug von Halle aus diese geladner Gäste über Merseburg in etwa drei¬
viertel Stunden nach Lauchstedt brachte. Im bunten Gewimmel zogen sie, Damen
und Herren, durch das beflaggte Städtchen über den Markt nach dem Bade und
betraten, angenehm überrascht, den geweihten Bezirk, eine kleine reizvolle Oase in
der einförmigen Ackerlandschaft. Den dunkeln stillen Spiegel eines kleinen Teichs, dessen
Fläche nur einige Schwäne beleben, umgeben prächtige alte Linden und Kastanien;
in ihrem Schatten steht etwas rückwärts an der einen Langseite das stattliche Kurhaus,
das 1786 Kurfürst Friedrich August der Dritte errichten ließ, ein ansehnlicher Ban
mit hohem, gebrochnem Dache, davor, zwischen ihm und dem Rande des Teichs zwei
kleine Pavillons in demselben Stile, zwischen beiden die tieferliegende, von einer
Steinbalustrade eingefaßte Quelle, zu der Treppen hinabführen, links eine bescheidne
hölzerne Kolonnade mit kleinen Läden, die ehemals gewiß alle möglichen Waren
feilboten, heute nicht mehr benutzt werden und deshalb geschlossen sind bis ans einige
wenige, wo man Ansichtskarten u. tgi. erhalten konnte; daran schließt sich die
Konditorei. Unter den schattigen Bäumen waren heute für die Gäste die Kaffeetische
gedeckt, und heiter angeregt unter dem anmutenden Eindrucke dieser Umgebung, die
jene Zeit um 1806 so getreu und unverfälscht zum Ausdruck bringt, verplauderte
man behaglich ein Stündchen, während eine Regimentskapelle aus Halle klassische
Weisen von Haydn, Mozart u. a. spielte, ohne mit Blechgetöse die Unterhaltung zu
stören. Noch blieb Zeit zur Besichtigung des in der „Schillerstraße" nicht weit vom
Kurhanse gelegnen Schillerhauses, das jetzt einem Glasermeister gehört und durch eene
Marmortafel bezeichnet ist. Bereitwillig führt er uns die steile enge Holztreppe
hinauf, deren Pfeilerköpfe weiße Vasen tragen. Dort oben hat Schiller ein kleines,
einfenstriges Zimmer nach der Straße zu bewohnt. Die einfach gemalte, nicht sehr
hohe Decke, die holzvertäfelten, weißgemalten Wände, die durch schmale, geriefte
Pilaster mit Rosetten unter den zierlichen Kapitalen gegliedert werden, wirken fast
vornehm, entsprechen jedenfalls dem Geschmacke seiner Zeit. Das Gocthehaus, ebenfalls
durch eine Gedenktafel kenntlich, liegt ganz in der Nähe des Theaters, am Ende
einer schönen Lindenallee, ein einstöckiges, fast quadratisches Haus mit vier Fenstern
Front zwischen zwei Höfen; zwischen den Fenstern rankt sich ein Weinstock empor,
und anmutig genug muß von dort der Blick in das grüne Laubwerk des Kur¬
parks sein.
Nach alter Sitte war der Beginn der Festvorstellung auf 5 Uhr festgesetzt,
aber schon seit ^5 Uhr füllte das Publikum wie einst die kurze Allee mächtiger
alter Linden, die vom Kurplatze nach dem Theater führt. Rechts davon liegt das
„Schlößchen" der ehemaligen Bischöfe von Merseburg, wo der kursächsische Hof und
gelegentlich auch andre Fürstlichkeiten zu wohnen pflegten, ein bescheidner Renaissance¬
bau um einen Hof; an ihn hat man in demselben Stile als einen Flügel die neue
Bürgerschule angelehnt, die durch einen großen Spielplatz von der Allee nach dem
Theater getrennt ist. Malerisch liegt dieser unendlich schlichte Bau im Schatten der
Linden, höher das eigentliche Bühnengebäude, etwas niedriger der Zuschauerraum,
schon früher wegen der Baufälligkeit durch starke Strebepfeiler gestützt, daran anschließend
die Nebenräume, namentlich die altertümlich engen und schwach beleuchteten Garderoben.
Aber das Innere ist doch ein ansehnlicher, nach hinten zu etwas ansteigender Saal,
rechts und links die von einem schlichten Geländer aus gekreuzten Stäben eingefaßte
Galerie, gegenüber der Bühne in gleicher Höhe das Amphitheater, alles einfach in
weiß gehalten und von einer weißen Decke in Form eines flachen Tonnengewölbes
überspannt, dessen einzige Verzierung eine rote Mäanderkante am untern Rande
bildet. Von dessen Mitte hängt ein hölzerner, mit Kerzen besteckter Kronleuchter
herab, noch immer der alte; doch hatte man der modernen Zeit eine Konzession
gemacht, indem elektrische Beleuchtungskörper längs der Galerien den Raum erhellten;
auch hatten die rot gepolsterten Bänke Lehnen erhalten. Aber die altertümlich ge-
haltnen Theaterzettel teilten Theaterdiener in der alten Tracht aus.
Eine erwartungsvolle Menge erfüllte den Raum, vor dem neben der leichten
Ware der Lustspiele und Operetten („Singspiele") unter Goethes Leitung und oft
in Schillers Gegenwart alle die großen Dramen beider Klassiker über die Bühne
gegangen sind und 1805 die Totenfeier für Schiller mit der „Glocke" und Goethes
Epilog veranstaltet worden war. Weihevoll klang die Ouvertüre zu Glucks
„Iphigenie"; dann rauschte der rote, leicht mit Gold verzierte Vorhang auseinander,
und in einem sonnendurchleuchteten deutschen Buchenwalde erschien ein weißbärtiger
Sänger mit der Harfe. Sein Prolog (Ernst von Wildenbruchs) wies unter scharfer
Ablehnung des französischen, skandinavischen und russischen Vorbildes (das kein Wollen
und kein Hoffen und keine Persönlichkeit kenne) auf unsre Klassiker und ihre hohen
Ideale hin. Dann schloß sich der Vorhang wieder; als er nach einem melodischen
Glockensignal abermals auseinanderging. zeigte sich das Bild des „ewigen alten
dichtbelaubten Haines", im Vordergrunde der Altar Dianas, im Mittelgrunde rechts
der Tempel, ein wuchtiger Bau, nicht griechischen, souderu eher ägyptischen Charakters,
im Hintergrunde das dunkelblaue Meer bis zu einer fernen Küste, darüber der
Wolkenhimmel, im Anfange durchbrochen von der roten Glut der aufgehenden
Sonne. Und nun trat Iphigenie (Ananda Lindner) hervor, die Stufen herab¬
schreitend, jeder Zoll die hoheitsvolle Priesterin, und majestätisch flössen die klang¬
vollen Verse des einleitenden Monologs von ihren Lippen. Auch alle andern
Spieler waren ihrer Aufgabe völlig gewachsen und bildeten, obwohl von vier ver-
schiednen Theatern stammend, ein musterhaftes Ensemble. So spielte sich die
äußerlich so einfache, innerlich so reiche und bewegte Handlung ab mit erschütternder
Gewalt, bald in abgeklärter gehaltner Ruhe, bald im dritten Akt anschwellend zu
mächtiger Leidenschaft; sogar die schwere Aufgabe, erst den Wahnsinn, dann die
Erlösung Orests (Rudolf Christians) glaubhaft zu machen, gelang vorzüglich, und
trefflich war auch König Thoas (Wilhelm Diegelmcmn). dessen tiefe, mühsam ge-
zügelte Leidenschaft den Barbaren nicht verleugnete. Zugleich plastisch und symbolisch
wirkte es, als Iphigenie, am Altar stehend, den vor ihr zusammengesunknen Orest,
den Pylades (Hermann Böttcher) stützend umschlang, mit ihrem weißen Schleier
wie schützend deckte. Die ganze Wucht der antiken und doch so ganz deutsch
empfundnen Tragödie, der edelsten Frucht des Klassizismus, deren Menschen nicht
alte Griechen sind, sondern idealisierte Gestalten aus der Goethezeit, schritt hier
über die enge Bühne, in diesem kleinen intimen Hause, in dem jede Feinheit des
Dialogs und des Spiels unendlich besser zur Geltung kam als in einem großen
modernen Theater. Es entsprach dem allgemeinen Bedürfnis, daß nach dem dritten
Akt eine längere Pause eintrat. Goldnes Sonnenlicht flutete durch die Wipfel der
hohen Linden auf das bunte Gewimmel der sich in freier Luft ergehenden Zu-
Schauer: mit dem schwarzen Rock der Herren kontrastierten die hellen Toiletten der
Damen, einige Uniformen und die bunten Farben der Hallischen Verbindungs¬
studenten, die hier zu erscheinen gewissermaßen ein historisches Recht hatten. Noch
erfüllt von dem mächtigen Eindrucke der bisherigen Aufführung sah man dann dem
Abschlüsse der Handlung entgegen, die im fünften Akt, in der Szene zwischen
der schwer geängstigten, doch nie ihre Hoheit vergessenden Priesterin und dem
grollenden, sich mühsam beherrschenden Thors noch einmal einen Höhepunkt erstieg,
dann mit der ergreifend gespielten Abschiedsszene schloß. Rauschender Beifall er¬
füllte das Haus noch einmal, wie nach jedem Akte, die weihevolle Stimmung eher
störend als steigernd.
Ein einfaches gemeinsames Abendessen vereinigte nochmals die Zuschauer in
dem Kursaale, dessen Dekoration noch ganz den Geist des Klassizismus atmet.
Als wir wieder ins Freie traten, stieg der Vollmond über den dunkeln Lunb-
massen des Parks empor, und in langen Ketten umgaben matt leuchtende rote
Lampions den stillen Teich. Die wunderbare Einheit des historischen Lokaltons
unterstützte die Wirkung dieses merkwürdigen Theaterabends, dessen bestes Ergebnis
doch die Überzeugung war, daß die Kunst ihre tiefsten Wirkungen mit den ein¬
fachsten Mitteln erreicht. Hoffentlich befestigt sich diese Auffassung, deren Ideal
die „edle Einfalt und stille Größe" ist, auch in weiteren Kreise, wenn die Absicht,
während des Sommers regelmäßige Aufführungen klassischer Stücke zu veranstalten
................................................« .
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Kigsrettsn sinkt «Is I-öelstsins, je twiior noi- «irKIiobo
Vsi-t Ist, llssto besoiieiäonsr nuk illo Kufmaoiuing unä
Fassung sein. Lsvvis: 8alom AleiKum - Kigsrettkn.
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Inbsber: tengo ?ick?, vrsslisn. Übvi- ISVll Arbsitsi'.
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