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]]>Zeitschrift
für
Politik, Literatur und Kunst
67. Jahrgang
Drittes Vierteljahr
Leipzig
Verlag von Fr. tons. Grunow
kwa ein Jahr ist verflossen, seitdem Lord Cromer sein Amt als
Oonsul und Leiter as taoto des ägyptischen Staatswesens
niedergelegt hat. Was hier in den vierundzwanzig Jahren seiner
Amtsdauer unter den denkbar schwierigsten Verhältnissen geschaffen
worden ist, wird ihm einen dauernden Platz unter den großen
Staatsmännern aller Zeiten sichern. Das moderne Ägypten ist seine Schöpfung.
An die Stelle der zerrütteten Finanzen der achtziger Jahre und der sprich¬
wörtlichen Mißwirtschaft ist ein wohlgeordnetes, zahlungsfähiges Staatswesen
getreten, das sich sicher auf dem Wege des Fortschritts und des Wohlstandes
befindet, an dessen weitrer gesunden Entwicklung alle Nationen ein Interesse
haben, vornehmlich die mit großem Handel.
Nur eine Voraussetzung ist hierzu unerläßlich, nämlich die, daß England
für absehbare Zeit die (oberste) Leitung dieses Staates in Händen behält, und
daß die Haltung der Großmächte der Frage der englischen Herrschaft in Ägypten
gegenüber verständnisvoll bleibt. Ohne eine wohlwollende Haltung der Signatar¬
mächte sind die Aufgaben der Zukunft dort nicht zu lösen. In seinem letzten
Jahresbericht, der in vielen Punkten als sein politisches Testament anzusehn
ist, hatte nun Lord Cromer in erster Linie die Notwendigkeit einer zeitgemäßen
Abänderung der Kapitulationen nachgewiesen und Vorschläge in dieser Be¬
ziehung gemacht. Es ist bezeichnend, daß sein Nachfolger, Sir Edwin Gorst, in
seinem ersten Bericht ebenfalls die Forderung auf Abänderung der Kapitulationen
an die erste Stelle setzt.
In den Jahren, die der britischen Okkupation folgten, wurde die Reform¬
politik durch die Verhältnisse diktiert. Sie konnte in der Hauptsache nur darin
bestehn, die Bürde, die infolge der Mißwirtschaft auf der Bevölkerung lastete,
zu erleichtern und die bestehenden Hilfsquellen des Landes nach Möglichkeit
zu erschließen.
In diesem Stadium der Entwicklung, wo sich alles um die Regelung der
ägyptischen Finanzwirtschaft drehte, machten sich die nachteiligen Einflüsse des
Systems der Kapitulationen natürlich weniger fühlbar. Heute, wo die dringendsten
Aufgaben in finanzieller Beziehung gelöst sind, hat Ägypten neue Bedürfnisse,
ebenso bedeutend wie die finanziellen, aber auf anderm Gebiet liegend. Die
Kapitulationen, das heißt kurz die staatsrechtliche Ausnahmestellung, die die
stetig anwachsende Zahl der Fremden in Ägypten einnimmt, sind hier jetzt
ein Haupthindernis für die Einführung notwendiger Reformen. Die Fragen,
die heute im Vordergrunde stehn, und die gelöst werden müssen, wenn dasselbe
Tempo des Fortschritts innegehalten werden soll wie bisher, sind sozialer
Natur und beziehen sich auf die sozialen und moralischen Bedürfnisse der
ägyptischen Bevölkerung.
Auf Grund der Kapitulationen genießen die Fremden in Ägypten eine
Anzahl von Freiheiten und Gerechtsamen, die den Eingebornen vorenthalten
sind. Die Kapitulationen sind ihrer ursprünglichen Natur nach mehr Konzessionen
an die fremden Bewohner der türkischen Besitzungen als Vertragsrechte.*)
Die ersten Kapitulationen reichen zurück bis in das fünfzehnte und das
sechzehnte Jahrhundert und entsprangen der Anschauung der türkischen Herrscher
jener Zeit, daß die christlichen Herrscher nicht gleichberechtigt wären, daß man
folglich nicht mit ihnen auf gleicher Stufe verhandeln könne.
Es bestand bei ihnen auch gar nicht die Absicht, sich gleiche Privilegien
für ihre eignen Untertanen im Abendlande zu sichern. Der ursprüngliche Ge¬
danke bei den Kapitulationen war der, den Christen den Aufenthalt in türkischen
Landen möglich zu machen, sie vor schlechter Behandlung zu schützen, der sie
sonst als Fremdlinge und Andersgläubige ausgesetzt gewesen wären. Heute
beschränken die Kapitulationen in ganz eigenartiger Weise die souveräne Macht
des Sultans in seinen Besitzungen. In keinem türkischen Lande sind Kapitu¬
lationen in solchem Umfange gewährt worden wie in Ägypten. Lord Milner
sagt sehr bezeichnend: ?us omnipotent äesxots, poro Zrg.mock tbs er-se Oavitn-
Ig-lions, voulä ng.ok siniloä tuo tbouAnt, tust tue tavours mo^ vors
g-linost porte;inptv.0N8l^ oonterrinZ oorücl svsr devoue a ssrious souroe- ok
vvljg-Knsss or einbMiissinsnt to tusir suoosssors. (Die allmächtigen Despoten,
die die ersten Kapitulationen gewährten, würden über den Gedanken gelacht
haben, daß die in fast geringschätziger Weise gewährten Privilegien jemals
eine Quelle der Schwäche und der Verlegenheiten für ihre Nachfolger werden
könnten.)
Die Gerechtsame, die die Ausländer in Ägypten heute genießen, sind in
der Hauptsache die folgenden:
1. Alle zivil- und handelsrechtlichen Streitigkeiten zwischen Europäern und
Ägyptern oder zwischen Europäern verschiedner Nationalität, ferner alle Fälle,
die sich auf Lcmdfragcn beziehen, sei es zwischen Ägyptern und Ausländern
oder zwischen Ausländern derselben oder verschiedner Nationalität, werden vor
die gemischten Gerichtshöfe (inixsck courts) gebracht.
2. Alle Anklagen gegen Europäer wegen Verbrechen, ausgenommen eine
beschränkte Anzahl von Füllen, die ausdrücklich der Jurisdiktion der gemischten
Gerichtshöfe unterliegen, kommen vor die Konsulargerichtsbarkeit sovnsular
oourts), die die sich darauf beziehenden heimischen Strafgesetze zur Anwendung
bringt oder im Falle der Nichtzuständigkeit den Fall der heimischen Gerichts¬
barkeit überweist.
3. Keine Durchsuchung des Domizils eines Europäers, ausgenommen
wenn sie durch eiuen solchen Fall bedingt wird, der innerhalb der Kompetenz
der gemischten Gerichtshöfe liegt, darf ohne die vorhergehende Genehmigung
des Konsularvertreters vorgenommen werden.
4. Keine direkten Steuern können den Europäern ohne die Genehmigung
aller (sechzehn) Vertragsmächte auferlegt werden.*)
Vor allem ergibt sich auf legislativen Gebiet ein weiterer unhaltbarer
Zustand ans dem unveränderten Weiterbestehn der Kapitulationen. Die Gesetz¬
gebung nämlich, soweit sie sich auf die fremden Nationalitäten in Ägypten
bezieht, wird bis jetzt auf diplomatischem Wege zustande gebracht, das heißt
nicht weniger als fünfzehn einzelne Mächte besitzen das Recht des libsium
vsto bei jedem neuen Gesctzesvorschlag der Regierung. Damit sind die Re¬
formen in der Gesetzgebung für Fremde, wie sie das Land so dringend bedarf,
von vornherein so gut wie aussichtslos. Die Zustimmung aller ist in wichtigen
Dingen selten zu erlangen, und selbst in weniger wichtigen Angelegenheiten
ist der Geschäftsgang so langsam und schwierig, daß die ägyptische Regierung
ihren Antrag meist fallen lassen muß, weil keine Aussicht besteht, zu einem
Ergebnis zu gelangen.
Wenn man bedenkt, daß sich die fremde Bevölkerung Ägyptens zum aller¬
größten Teil ans Angehörigen der Völker zusammensetzt, die um das Mittel-
meer wohnen, wie Griechen, Armenier, Juden usw. — uach dem Zensus von
1897 bestand sie zu 33,94 Prozent aus Griechen und nur zu 1,14 Prozent
aus Deutschen —, so kann man sich vorstellen, welche fremden Bevölkeruugs-
elemente vor allem den Wunsch der Regierung nach zeitgemäßer Abänderung
der Kapitulationen hervorgerufen haben. Es ist klar, daß es nicht gerade die
verhältnismäßig geringe Zahl der Westeuropäer ist, deren Privilegien man den
modernen Verhältnissen anpassen will. In seinem letzten Bericht sagt Lord
Cromer, daß gerade die Zahl der fremden Elemente, für die man Gesetze
braucht, in sehr raschem Steigen begriffen ist. Der neuste Jahresbericht über
Ägypten bringt auch das Ergebnis der Zählung vom Jahre 1907, gibt aber
leider nur das Gesamtergebnis: 11272000 Seelen. Die Einzelheiten sollen
erst gegen Ende des Jahres folgen. Alle diese Rechte sind nicht nur auf
sämtliche wirklichen Angehörigen fremder Nationalität ausgedehnt, sondern auch
auf die, die dem Schutz der Fremden unterstellt oder naturalisiert sind. Die
Kapitulationen sind die Ug-Zna Lnarta, der Fremden in Ägypten, aber wenn
sie früher ihren Zweck erfüllt haben, solange eben die Verhältnisse in Ägypten
einen solchen weitgehenden Schutz der Europäer forderten, so können sie heute
nicht ohne bedenkliche Nachteile für das Land fortbestehn.
Schon einmal, im Jahre 1876, wurde die bessere Klasse der Fremden der
bestehenden Rechtsverhältnisse überdrüssig und ermöglichte es der Negierung
(unter Nubar Pascha) nach unendlichen Streitigkeiten, die internationalen oder
gemischten Gerichtshöfe ins Leben zu rufen.
Vor Schaffung dieser Einrichtung mußten alle Klagen gegen Fremde vor
die Konsulargerichtsbarkeit gebracht werden, diese Gerichte waren aber häufig
von einem nichts weniger als rechtlichen Geiste erfüllt. Die Einrichtung dieser
Tribunale war ein Versuch, und ihr Fortbestand muß aller fünf Jahre von
neuem durch die Signatarmächte genehmigt werden. Ohne Zweifel sind sie
von großem Nutzen in Zivilprozeßsachen, an denen Europäer beteiligt sind, da
sie aber nicht mit den von Nubar Pascha beabsichtigten Gerechtsamen aus¬
gerüstet wurden, indem nur Zivilklagen vor ihr Forum kamen, die Ab¬
urteilung in Strafsachen und Verbrechen aber weiter der Konsulargerichts¬
barkeit verblieb, so stellen sie nur eine sehr unvollkommne Lösung der
Frage dar.
Die fremden Nationalitäten in Ägypten haben nun als Hauptbedingung
für die Abänderung der Kapitulationen die hingestellt, daß zugleich die zu¬
künftigen Beziehungen der britischen Regierung zu Ägypten klarer definiert
werden, als es bisher der Fall ist. Dieses ist verständlich.
England wäre längst in der Lage gewesen, dein unhaltbaren Zustande, der
sich aus dem unveränderten Weiterbestehn der Kapitulationen ergibt, ein Ende
zu machen, wenn es bei einer Gelegenheit nach der Besetzung im Jahre 1882
das Protektorat über Ägypten erklärt hätte. Heute ist es dazu wohl nicht
mehr in der Lage, vornehmlich angesichts der nationalen Bewegung in Ägypten,
die ihrerseits wieder die Folge des unter englischer Leitung erreichten Auf-
schwungs des Landes ist. Auch stehn die internationalen Abmachungen jetzt
im Wege. England hatte das Land besetzt, um Ordnung herzustellen, es konnte
angesichts der Schwäche Ägyptens und der gewaltigen Bedeutung des Suez¬
kanals in handelspolitischer und strategischer Beziehung nicht zugeben, daß sich
hier eine andre Großmacht festsetzte und damit das wichtigste Tor nach Asien
beherrschte.
Nur unter dem Zwang der Verhältnisse ist es in Ägypten verblieben.
Die Absicht, Ägypten zu anglisieren, hat nie bestanden, die Ägypter sollen all¬
mählich zur Selbstregierung erzogen werden. Dieser Prozeß wird und muß
angesichts der sich nur sehr langsam ändernden Verhältnisse ein äußerst lang¬
wieriger sein, dessen Ende vorläufig nicht abzusehen ist, solange wird also auch
die englische Besetzung Ägyptens dauern, mit dieser Tatsache muß man rechnen.
Die Großmächte haben ihre Zustimmung zu der englischen Besetzung Ägyptens
erteilt, indem sie dem englisch-französischen Abkommen von 1904 beitraten,
dessen Artikel I besagt: „Die britische Regierung erklärt, daß sie nicht die
Absicht hat, die politische Stellung Ägyptens zu ändern. Ihrerseits erklärt
die Regierung der französischen Republik, daß sie die Tätigkeit Englands in
diesem Lande weder durch die Forderung, daß die Dauer der britischen Be¬
setzung des Landes festgesetzt werde, noch durch andre Maßnahmen hindern
werde." Mit der Unterzeichnung dieses Vertrages sind also die Befürchtungen
der Europäer, daß die englische Besetzung plötzlich aufhören könne, und daß
damit der Bestand der Dinge gefährdet sei, grundlos.
Es würde nnn zu weit führen, des nähern auf alle Verhältnisse ein-
zugehn, die sich aus den Kapitulationen ergeben, einzelne Beispiele müssen
genügen. Es können keine Angehörigen fremder Nationen ohne die Ein¬
willigung der Mächte zu Kommunalsteuern herangezogen werden. Die Re¬
gierung des Landes ist gezwungen, den Städten Mittel für ihre lokalen
Bedürfnisse aus Staatsgeldern vorzustrecken, weil diese außerstande sind, das
Notwendige durch städtische Steuern aufzubringen. Die einzige direkte Steuer,
die die Fremden entrichten, ist die Hcmssteuer. So bedürfte Kairo zum
Beispiel für seine Ausgaben im Jahre 1906 249680 Pfund Sterling, während
es selbst nur 110376 Pfund Sterling aufbrachte. In Anbetracht des wachsenden
Reichtums der Städte ist eine Änderung zur Entlastung des Staates dringend
geboten. Wenn das I^Zislativö Oounoil eine weitere Herabsetzung der Steuern
empfahl, so konnte Lord Cromer mit Recht erwidern, daß es nicht die Höhe
der Steuern sei, die auf dem Lande laste, sondern vielmehr die ungerechte
Verteilung. An diesem Umstände tragen die Kapitulationen die Schuld. In?
Juli 1907 trat die ägyptische Regierung an die fünfzehn Mächte, deren Ein¬
willigung nötig ist, mit dem Ersuchen heran, ihre Zustimmung zu einer Er¬
höhung der Hüusersteuer in Kairo von acht ans zehn Prozent der Jahresmiete
zu erteilen. Dieser Zuschlag war als Beitrag der direkt interessierten Steuer¬
zahler zu den Kosten der neuen Kanalisationsanlage gedacht. Bis jetzt hat
man mit der Ausführung der Anlage noch nicht beginnen können, da die
Einwilligung der französischen Regierung allein noch aussteht.
Sir Edwin Gorst führt weiter an, daß der Handel in alkoholischen Ge¬
tränken fast ausschließlich in den Händen der Fremden liegt. Gesetze, die
diesen Handel regeln, werden immer dringender nötig, aber die Einwilligung
der Mächte ist auch hier notwendig.
Weiter bedarf Ägypten dringend eines Fabrikgesetzes, das die Kinder¬
arbeit einschränkt usw. Die Berechtigung der Forderung nach Änderung der
Kapitulationen wird von vielen Kennern des Landes rückhaltlos anerkannt.
Im Jahre 1903 gab ein Mitglied des I^islÄtivs Louncil der allgemeinen
Stimmung Ausdruck, wenn er sagte: I,s rsAiius ass og-xitulg-lions lis ig. main
an Aouvsrnsuiöut se l'smnvoliv als xrovsäsr ^ clss r^loriuss inultixlss et
v^rivss (zus 1a situÄtiou ssonomi^us 6u vsunls se du rsolains ä'uus
1g.con iruvsrisuss . . > und weiter: 1s rsgime clss vetpitulations clonns usu
s. clss Irsciusuts abus, c^u'it ssrg.it trop lonA et'siiurnörsr!
Lord Cromers Neformvorschlüge gehn nicht von der britischen Regierung
aus, sie stellen seine Ansicht dar. Einer Befürchtung begegnet er von vorn¬
herein, indem er erklärt, daß die Grundlagen der Kapitulationen vollständig
unangetastet bleiben sollen.
Die wichtigsten Vorschläge sind die, die die Gesetzgebung für Europäer
regeln. Der Gesetzgebende Rat ^sssislgtivs (üounvil) und die ^sssiudl^ sollen
in alter Form bestehn bleiben, neben diesen beiden aber soll ein besondrer
Internationaler Rat — lutsrug-tiongl Loune.it — geschaffen werden, der ganz
ans Angehörigen der Mächte zusammengesetzt sein soll, die die Justizreform¬
akte von 1876 unterzeichnet haben.
Die Gesetze für die fremde Bevölkerung Ägyptens sollen von der ägyptischen
Regierung diesem Rat vorgelegt, und wenn sie hier durch Majoritätsbeschluß ge¬
nehmigt sind, durch die ägyptische Regierung mit Einwilligung der britischen
zur Ausführung gebracht werden, so, als wenn sie die Bestätigung der Signatar¬
mächte erhalten hätten.
Hiermit würden die bei der ägyptischen Regierung akkreditierten General¬
konsuln als Justizbeamte ausgeschaltet und zu reinen Vertretern der Handels¬
interessen ihres Landes gemacht werden. Dem Khedive wäre damit das Recht
und die Möglichkeit, mit den fremden Mächten durch ihre diplomatischen Ver¬
treter zu verkehren, genommen; er wäre in dieser Beziehung auf die Ver¬
mittlung des britischen Negierungsvertreters angewiesen.
Auch die „gemischten Gerichtshöfe" sollen umgestaltet werden, d. h. eine
Erweiterung ihrer Befugnisse und eine etwas andre Zusammensetzung erfahren.
Ihr Charakter soll durchaus international bleiben, indem Angehörige der
Signatarmächte als ständige Mitglieder gewählt werden.
Der Rechtsprechung sollen die europäischen Rechtsnormen, vornehmlich
die der lateinischen Nationen, deren Angehörige das Hauptkontingent der
Fremden in Ägypten stellen, zugrunde liegen. Die Konsulargerichtsbarkeit
würde wegfallen.
Diese Vorschläge sind als Programm anzusehen, das zur Diskussion ge¬
stellt wird, an dessen Einzelheiten aber nicht starr festgehalten werden soll,
wenn andre annehmbare Vorschläge gemacht werden.
Man kann sich der Einsicht nicht verschließen, daß Reformen im Sinne
Lord Cromers notwendig, und daß diese vielleicht schon zu lange hinaus¬
geschoben worden sind. Unter heutigen Verhältnissen ist die ägyptische Re¬
gierung zu völliger Untätigkeit auf gesetzlichem Gebiete verdammt.
Bisher hat England seine herrschende Stellung in Ägypten zu keinerlei
Sondervorteilen ausgenützt, dem Handel aller Nationen ist das aufblühende
Land zu den gleichen Bedingungen geöffnet,
Lord Cromer hüte aber noch aus einem andern Grunde die Zeit für eine
Änderung in der Stellung der fremden Nationalitüten in Ägypten für ge¬
kommen. Auch Ägypten ist von einer nationalen Bewegung ergriffen worden.
Angesichts der Fortschritte der Zivilisation und vor allem der europäischen
Bildung in Ägypten ist diese nationale Bewegung verständlich. Wenn man
aber bedenkt, daß europäische Ideen doch immerhin nur einen verhältnismäßig
kleinen Kreis Gebildeter ergriffen haben, ist es schwer zu sagen, inwieweit
die sogenannte Nationale Partei die wahren Wünsche der Masse verkörpert.
Die Wünsche der nationalen in politisch-administrativer Beziehung sind voll-
stündig unklar. Ihnen schwebt eine Art von Unterhaus vor, das die Kon¬
trolle über die Finanzen ausüben und dem das Ministerium verantwortlich
sein soll. Solche Forderungen sind einfach unannehmbar, ihre Gewährung
würde die ärgsten Übelstände des persönlichen Regiments, wie es unter
Ismael bestand, wieder herbeiführen, und der abermalige Bankrott wäre
sicher. Für lange Zeit wird Ägypten der Beratung durch europäische Beamte
bedürfen.
Nichts liegt nnn der englischen Regierung ferner, als die nationalen Be¬
strebungen zu ignorieren, andrerseits könnte nichts fehlerhafter sein, als ihnen
in dieser ersten Sturm- und Drangperiode freien Lauf zu lassen. Ägypten
befindet sich in der eigentümlichen Lage, daß es als orientalisches Land halb
den Weg zur westlichen Zivilisation gemacht hat. Der erste Abschnitt seiner
Entwicklung, wo es sich hauptsächlich um finanzielle und administrative Re¬
formen handelte, ist vorüber; mehr und mehr wird es die Aufgabe, wie Lord
Cromer sagt, nicht politische Institutionen auf einen Boden zu verpflanzen,
der ihrem Gedeihen ungünstig ist, sondern auf sozialem Wege die westlichen
modernen Anschauungen in bezug auf Moral und Sitten in das ägyptische
Volksleben eindringen zu lassen. Auch Lord Cromcrs Ziel war nicht die
Anglisierung, sondern am letzten Ende ein nationales, sich selbst regierendes
Ägypten, er aber und sein Nachfolger wollen der Bewegung eine Richtung
geben, die mehr Erfolg verspricht. Sie sind der Überzeugung, daß ein zu
schaffendes nationales Ägypten alle Bewohner des Landes, ohne Rücksicht auf
Rasse, Religion und Abkunft, umfassen muß.
Zur Durchführung dieser Pläne aber ist die Einwilligung und die Mit¬
wirkung der europäischen Mächte notwendig, die Unterzeichner der verschleimen
Konventionen über Ägypten sind. Solange aber die Kapitulationen in ihrer
jetzigen Form bestehn bleiben, werden nicht nur die eingebornen Ägypter und
die an Zahl immer mehr zunehmenden fremden Nationalitäten in zwei ge¬
trennte Lager geteilt sein, sondern es kann auch keine weitgehende Gemeinsam¬
keit der Interessen zwischen den verschiednen Europäerkolonien aufkommen.
Mehr als alles andre wird eine Änderung der Kapitulationen dazu bei¬
tragen, die Interessen der verschieden Gruppen auszugleichen, die heterogenen
Bevölkerungsklassen zu verschmelzen und den wahren Grundstein zu einem
nationalen Ägypten zu legen.
Mehr und mehr erkennen die großen Nationen, daß sie außerhalb
Europas gemeinsam als Trüger und Verbreiter der Kultur auftreten müssen.
In der gegenseitigen Unterstützung dienen sie auch den eignen Interessen am
meisten. Nur auf diese Weise kann Großes entstehn, können die entgegen¬
fassen soll>s ist dem Auslandsdeutschen häufig zum Vorwarf gemacht worden,
daß er seine Nationalität ohne Kampf und ohne Treue aufgebe,
und sicherlich ist diese Anklage oft genug mit vollem Recht er¬
hoben worden. Ein allgemeines Urteil allerdings würde — wie
»jedes Urteil, das Tausende und aber Tausende von Fällen um-
- ungerecht sein. Denn der Deutsche, der unter schwierigen
nationalen Verhältnissen im Auslande dennoch mit aller Kraft bestrebt ist,
sein Volkstum zu bewahren und es auch seinen Kindern zu erhalten, wird es
immer als schwere Mißachtung empfinden, wenn den Deutschen seines Landes
— beispielsweise der Vereinigten Staaten — allgemein der Vorwurf gemacht
wird, daß sie sich zu schnell amerikanisieren lassen. So rühmenswert das
Festhalten vieler Deutscher im Auslande an ihrem Volkstum aber auch ist,
so bleibt doch die Tatsache bestehn, daß in der Mehrzahl der Fülle schon in
der zweiten Generation die Abwendung von deutscher Sprache und Art die
Regel ist, und daß insofern das traurige Wort vom deutschen „Völkerdünger"
zu Recht besteht.
Die kulturgeschichtlichen Gründe dieser Erscheinung sind in den mannig-
fachsten Tatsachen gesucht worden. Vollkommen geklärt scheinen mir die tiefsten
Ursachen noch nicht zu sein, zumal da ja die Wissenschaft der Psychologie der
Massen und Völker erst in den Anfängen steht. Aber auch bevor diese Ur¬
sachen völlig bloßgelegt sind, haben wir doch die Pflicht und Schuldigkeit,
praktisch alles zu tun, was in unsern Kräften steht, um das Deutschtum im
Auslande vor der Gefahr zu bewahren, seine Sprache und Art und den
geistigen Zusammenhang mit dem Mutterlande allzuschnell zu verlieren. Alle
Bestrebungen, die auf solche Abwehrmaßregeln hinzielen, verdienen die eifrigste
Förderung. Festreden und Verbrüderungen allein tun es freilich nicht. Auch
die Machtstellung des Deutschen Reichs, die dem deutscheu Namen nach 1870
eine ganz andre Achtung verschafft hat, als ihm in den beiden ersten Dritteln
des neunzehnten Jahrhunderts zuteil wurde, reicht nicht aus, den Ent-
deutschungsprozeß unsrer deutschen Brüder in fremden Landen aufzuhalten.
Vielmehr ist dafür die positive Arbeit im kleinen und kleinsten Felde nötig,
eine Arbeit, deren Aufgabe es sein muß, Geist und Gemüt des Auslands¬
deutschen mit tausend innigen Banden an das Vaterland zu fesseln.
Diese Arbeit ist, soweit sie von Deutschland selbst ausging, bisher fast
ausschließlich vom „Allgemeinen Deutschen Schulverein zur Erhaltung des
Deutschtums im Auslande" geleistet worden, der mit Hilfe einer großen Mit¬
gliederzahl, eifriger Werbearbeit und vortrefflicher Organisation deutsche Schulen
im Auslande in wohlbedachter und klug durchgeführter Weise unterstützt. Die
Tätigkeit dieses Vereins ist unschätzbar, und es ist zu wünschen, daß es ihm
gelingen möge, seine Mittel zu verdoppeln und zu verdreifachen, um den
großen Bedürfnissen, denen er dient, in noch höherm Maße gerecht zu werden.
Aber auch die Unterstützung deutscher Schulen im Auslande genügt noch nicht.
Vielmehr scheint mir, als wenn ein überaus wichtiger Weg zur Erhaltung
des Deutschtums im Auslande bisher fast übersehen worden sei: ich meine
die Gründung und Unterstützung von deutschen Auslandsbibliotheken mit guten
deutschen Büchern.
Die Mehrzahl der deutschen Auswandrer und infolgedessen auch die
Mehrzahl der deutschen Auslandsdeutschen setzt sich aus Kreisen zusammen, die
eine höhere Schulbildung nicht genossen haben. Die Volksschule aber, die das
junge Menschenkind bis zum vierzehnten Jahre modeln und bilden kann, ist
natürlich nicht imstande, noch auf den Erwachsnen einen so starken Einfluß
zu üben, daß er im fremden Lande alles daran setzen wird, in Sprache und
Gesinnung gut deutsch zu bleiben. Erstreckt doch die Volksschule ihre Macht
nicht mehr auf die Jahre, in denen sich der geistige Mensch erst wirklich
heran- und herausbildet — die Zeit während und unmittelbar nach Erlangung
der körperlichen Reife. Das Fortbildungsschulwesen aber ist im Deutschen
Reiche noch keineswegs allgemein durchgeführt, und wo es besteht, noch nicht
überall zu voller Blüte gebracht. Lesehunger allerdings und (was man
natürlich noch viel höher einschätzen muß) Bildungstrieb sind allenthalben in
unserm Volke vorhanden, und wo diesem Verlangen Nahrung zugeführt wird,
da schlagen sie in hellen Flammen empor. Wenn aber jemand, der die
Volksschule besucht hat, auf dem Lande oder in einer kleinen Stadt jahrelang
ohne geistige Anregung geblieben ist, so begnügt er sich schließlich damit, die
Tageszeitung zu lesen und Kolportageromane oder Rick Carterhefte zu ver¬
schlingen, die ja ihren Weg durch Millionen von Kanälen überallhin finden.
Wandert er aber aus, so kommt er im Auslande in noch größere Gefahr,
geistig zu verflachen und zu veröden. Denn um wirtschaftlich im neuen Lande
vorwärts zu kommen, muß er sich ganz besonders anstrengen, und die wenigen
Stunden, die ihm zur Erholung bleiben, wendet er nun, fern von der Heimat,
in der Regel auch außerhalb des Bereichs irgendeiner deutschen Buchhandlung,
nur dazu an, soweit er nicht in seiner Familie bleibt, hinter dem Bierglase
zu sitzen und höchstens etwa eine Zeitung zu lesen (ein Glück noch, wenn
es eine deutsche ist!) oder einem deutschen Turm- oder Gesangverein anzu¬
gehören.
Deshalb der Vorwurf, der den Deutschen im Auslande oft genug ge¬
macht wird, daß sie nur Interesse für Biertrinken, Rauchen und Kegelschieben
hätten. Darum auch die betrübende Tatsache, daß viele dieser Männer ihr
Deutschtum nicht als köstliches Besitztum mit sorgsamen Händen festhalten,
sondern es achtlos wegwerfen, um so schnell wie nur irgend möglich in der
neuen Umgebung aufzugehn. Ist es doch eine allbekannte Erfahrung, daß
sich zum Beispiel der deutsche Arbeiter in den Vereinigten Staaten schämt,
wenn Amerikaner dabei sind, deutsch zu sprechen. Auch in der elektrischen
Bahn radebracht er lieber ein schreckliches Englisch, obwohl er allein schon
dessen Aussprache im Leben nicht mehr lernt, sondern z. B. statt tue fortgesetzt
Siz sagt. Daß ein solcher Mann nnn auch nichts dagegen hat, wenn seine
Kinder dem Deutschtum verloren gehn, ist selbstverständlich. Die Folge ist,
daß die zweite Generation von dem, was Deutschtum heißt und was es den
in Deutschland oder von deutschen Eltern gebornen bedeuten sollte, nicht die
leiseste Vorstellung hat. Die machtvolle Assimilierungsarbeit nun gar, die
zum Beispiel die nordamerikanische Volksschule leistet, läßt sich natürlich in
Familien, in denen sich die Eltern ihres Deutschtums schämen, ganz und gar
nicht bekämpfen.
Der Grund dieser beklagenswerten Haltung so vieler deutscher Aus¬
wandrer liegt meiner Ansicht nach darin, daß sie in keinem lebendigen geistigen
Zusammenhange mit dem Mutterlands stehn. Sie sind ausgewandert, weil
sie im Auslande besser vorwärts zu kommen hofften, und sie denken an das
Mutterland nur mit der unbestimmten Sehnsucht zurück, daß dort ihr Heimat¬
dorf liegt, dessen Kirchturm ihnen bei der Heimkehr vom Felde zuwinkte,
dessen Gassen und Plätze ihnen vertraut waren, und wo das Haus stand, in
dem sie selbst geboren sind, und in dem sie ihren Eltern die Augen zugedrückt
haben. Persönliche Beziehungen dieser und jener Art knüpfen sie noch an
die alte Scholle — aber ein geistiger Zusammenhang mit dem ganzen großen
Vaterlande ist für sie nicht vorhanden. Kein Gefühlsband fesselt sie an die
großen Schöpfungen der deutschen Literatur, von der sie meist nur noch die
Namen Schiller und Goethe kennen. Denn lesen tun sie diese Dichter nicht
mehr, schon weil sie meist nicht ein einziges Buch von ihnen besitzen. Von
unsrer ganzen neuern Literatur aber kennen sie erst recht nichts — außer
wenn einmal ein Roman unter dem Strich ihrer deutschen Zeitung abge¬
druckt war.
Wie ganz anders würde sich aber das Bild gestalten, wenn diesen
Männern und ihren Frauen und Kindern gute deutsche Bücher in die Hand
gegeben würden! Mit tausend Freuden würden sie nach ihnen greifen, um
durch ihre Lektüre die Sehnsucht nach dem Vaterlande zu stillen. Schon
innerhalb Deutschlands selbst ist der Lesetrieb ungeheuer groß: gibt es doch
keine einzige Vvlksbibliothek im Deutschen Reiche, die nicht von Lesern über¬
laufen würde — vorausgesetzt, daß sie eine einigermaßen vernünftige Organisation
hat. Im Auslande aber würden die Deutschen noch viel lieber lesen; nicht
nur weil ihnen das Lesen in der fremden Sprache viel mehr Mühe macht
als die Lektüre deutscher Bücher, sondern auch weil aus diesen alles das zu
ihnen spricht, wonach sie sich im innersten Herzen sehnen. Der deutsche
Wald, die deutsche Heide, das deutsche Dorf und die deutsche Kleinstadt, unsre
Großstädte mit ihrem von den Städten des Auslands doch so sehr verschiednen
Getriebe würden vor ihren Augen leibhaftig wieder erstehn. Sie würden sich
in die großen Zeiten der deutschen Geschichte zurückversetzen lassen, würden
mit Liliencrons „Kriegsnovellcn" den Krieg 1870/71 mitmachen, mit Gustav
Freytags „Ahnen" die Entwicklung einer deutscheu Familie durch die Jahr¬
hunderte hindurch verfolgen oder sich durch Theodor Fontanes „Grete
Minde", diese prächtige, nach einer altmürkischen Chronik geschriebn« Meister-
uovelle, das Herz rühren lassen. Und sie würden ihren Kindern, die vielleicht
schon im fremden Lande geboren und aufgewachsen sind, zeigen: Hier könnt
ihr lesen, wie es in Deutschland zugeht; in Deutschland, in dem die Bäche
anders murmeln, die Wälder anders rauschen als hierein Deutschland, wo
unsre Eltern und Großeltern und vor ihnen alle unsre Vorfahren gelebt haben;
in Deutschland, das wir, ach so gern, noch einmal sehen möchten!
Würde nicht die Möglichkeit, gute deutsche Bücher zu lesen, sie sich
wöchentlich, möglichst sogar täglich einmal aus einer deutschen Bibliothek zu
holen, unendlich viel Auslandsdeutsche samt ihren Familien vor dem schnellen
Untergang im fremden Volkstum bewahren? Wir haben dieses gewaltige
Mittel zur nationalen Rettung unsrer ausgewanderten Landsleute unbegreif¬
licherweise bis heute noch fast gar nicht angewandt, obwohl es eine unendlich
kraftvolle Wirkung ausüben müßte, weil es sich an die stärkste Macht wendet,
die wir im Menschenleben kennen: das Gemüt. Denn nur dort kann ja
ein inniger Zusammenhang zwischen Menschen und Menschengruppen bestehn
bleiben, wo sie nicht nur durch irgendein äußerliches Bindemittel, seien es
nun wirtschaftliche Vorteile oder politische Zusammengehörigkeit, aneinander
gekettet werden, sondern wo ihr Gefühl durch die gleichen Einflüsse erregt
wird, wo ihr Gemüt auf dieselben Erregungen antwortet, und wo ihr Herz in
demselben Gleichmaß schlägt.
Heute aber fehlt den Deutschen im Auslande dieses unentbehrliche Mittel,
ihr Deutschtum festzuhalten, mit seltnen Ausnahmen ganz und gar. Gewiß
gibt es hier und da im Auslande eine deutsche Bibliothek, die meist an eine
deutsche Schule angeschlossen ist, oft aber auch nur von einem gemeinnützigen
und treu deutsch denkenden Manne verwaltet wird. Aber die Mittel, die zur
Verfügung stehn, sind in der Regel zu klein, und die Bibliothekverwaltungen
haben zudem noch mit einer andern Schwierigkeit zu kämpfen, die nicht zu
unterschätzen ist: sie fühlen sich in der Auswahl der Bücher recht unsicher.
Wie sollte auch der deutsche Lehrer oder Pfarrer oder gar der deutsche Kauf¬
mann oder Farmer in den Ebenen Südrußlands oder in den Tälern des
Balkans, auf dem Kamme der Anden in Peru oder in einer Salpetermine
Chiles, auf einer kalifornischen Obstplantage oder auf einer Weizenfarm im
Westen Kanadas die Möglichkeit haben, die richtige Bücheranswahl für
die Ergänzung der deutschen Bibliothek mit einer beschränkten Summe zu
treffen?
Um diesem Bedürfnisse abzuhelfen, möchte es die Deutsche Dichter-
Gedächtnis-Stiftung in Hamburg-Großborstel unternehmen, ausländische
deutsche Bibliotheken mit guten Büchern zu unterstützen. Obwohl sie erst
wenig mehr als sechs Jahre besteht, sind ihr doch schon so viele Bewerbungen
ausländischer deutscher Bibliotheken zugegangen, daß sie einen tiefen Blick in
deren große Notlage und in die geistige Not des Deutschtums im Aus¬
lande überhaupt hat tun können.' Es sei ausdrücklich betont, daß es sich bei
diesen Bewerbungen selbstverständlich nicht etwa um deutsche Klubbibliotheken
handelt, sondern um das, was wir innerhalb Deutschlands „Volksbibliotheken"
nennen würden, und was auch von den Deutschen im Auslande häufig so
bezeichnet wird. Oft ziehen sie allerdings die allgemeine Bezeichnung „Deutsche
Bücherei" oder „Deutsche Bibliothek" vor. Häufig ist die Bibliothek an die
deutsche Schule oder an einen der deutschen Vereine angegliedert. Am besten
zeigen vielleicht einige Zeilen aus den eignen Bewerbungen der Bibliotheken,
wie notwendig ihre Unterstützung mit guten Büchern ist.
Aus der unendlichen Zahl von Bibliothekbewerbungen aus Österreich-
Ungarn und der Schweiz irgendwelche herauszugreifen, erscheint mir überflüssig,
da man ja allgemein in Deutschland weiß, wie sehr insbesondre in den national
bedrohten Kronländern Österreichs und nun gar unter den in Ungarn lebenden
Deutschen das Bedürfnis nach guten deutschen Büchern empfunden wird. Ich be¬
schränke mich deshalb lediglich auf die Aufführung von Bibliothekbewerbungen aus
dem weitern Auslande.
So schreibt zum Beispiel die Schulbücherei eines deutschen Vereins in den
russischen Ostseeprovinzen: „Der neugegründete Deutsche Verein in Livland
erlaubt sich an den löblichen Vorstand die ergebne Bitte zu richten, ihn bei seinem
Vorhaben, an der von ihm neugeschaffnem deutschen Schule eine Bücherei zu errichten
und eine Wanderbücherei für die kleinen livländischen Landstädte zu gründen, durch
gütige Überlassung von Büchern zu unterstützen. Inmitten der Stürme der Revolution
hat der das baltische Deutschtum zusammenfassende Bund sich ans Werk gemacht,
die zerstörte deutsche Schule wieder aus den Trümmern der Russifizierungszeit er-
stehn zu lassen und durch Büchereien einem schwer empfundnen Bedürfnis abzu¬
helfen. Mit eignen Mitteln kann er aber bet aller Opferwilligkeit seiner Mit-
glieder nicht viel erreichen. Er appelliert daher an die Sympathie des Mutterlandes
und hofft bei der Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung auf freundliche Berück¬
sichtigung seiner vorgebrachten Bitte."
Aus Südrußland schreibt eine von der Deutschen Dichter-Gedächtnis-
Stiftung unterstützte kleine deutsche Volksbibliothek: „Eine Gruppe von Lehrern
am hiesigen Platze hat unter dem Einflüsse der Lesehallenbewegung für die deutsche
kolonistische und reichsdeutsche Arbeiterbevölkerung eine Lesehalle eröffnet. Natürlich
stehn ihr nur sehr geringe (Privat-) Mittel zur Verfügung. Etwa 200 deutsche
Bände haben wir selbst geschenkt, aber das reicht bei der bedeutenden Nachfrage
nicht weit. Deshalb erlaube ich mir die Bitte, unsre Lesehalle durch Zusendung
der von Ihnen herausgegebnen Bändchen freundlichst unterstützen zu wollen."
Aus Belgien schreibt eine große deutsche Schule: „Die Zahl der hier
lebenden Deutschen, besonders der in abhängiger Stellung befindlichen, ist sehr be¬
deutend (15000 nach vorsichtiger Schätzung). Mittel, mit dem geistigen Leben
der Heimat Fühlung zu behalten, finden die meisten nicht. Eine solche in den
Abendstunden benutzbare kleine Volksbücherei würde mit großer Freude aufgenommen
werden und viel Segen stiften können. Es wäre schön, wenn Sie uns in diesen
Bestrebungen unterstützen könnten."
Aus der Bukowina ging der Stiftung folgende Bewerbung zu: „Das
Deutschtum hat hier einen schweren Kampf zu kämpfen. Rumänen, Ruthenen, Juden,
Polen sind hier in überwiegender Majorität und suchen alle eifrigst, ihr nationales
Bewußtsein zu stärken und in der Öffentlichkeit zur Geltung zu bringen. Seit
mehreren Jahren besteht hier ein deutscher Verein, der in dankenswerter Weise die
Interessen der Deutschen vertritt. Da jedoch die Deutschen zur Hälfte evangelisch,
zur Hälfte katholisch sind, hat es für den interkonfessionellen deutschen Verein seine
Schwierigkeiten, wirkliche Volksbibliotheken aufzustellen, die nach keiner Seite hin
das konfessionelle Bewußtsein verletzen. Unsre Gemeinde besteht zum größten Teil
aus Handwerkern und Grundwirten, die häufig schwer um ihre Existenz zu ringen
haben. Die Erhaltung einer vierklassigen deutschen Schule nimmt alle Kräfte in
Anspruch, sodaß für Anschaffung einer Gemeindebibliothek keine Mittel vorhanden
sind; und doch sind ja gute Bücher ein vorzügliches Mittel, daß unsre Gemeinde¬
glieder ihr Deutschtum bewahren. Ein kleiner Grundstock zu einer Volksbibliothek
ist vorhanden, aber eben zu klein, um damit eine Bibliothek eröffnen zu können."
Von den zahlreichen Bewerbungen deutscher Volksbibliotheken auf der Balkan¬
halbinsel sei folgende angeführt: „Es leben hier viele Deutsche, die schon seit
Jahrzehnten neben einer dürftigen Zeitungslektüre sich an Hintertreppen- und
Kriminalromanen ergötzen. Da hier im Orient fast alle geistigen Genüsse West¬
europas nicht zu finden sind, ist das Lesebedürfnis wohl vorhanden; aber der
Geschmack der Leute ist dnrch die genannte Lektüre sehr beeinflußt worden."
Die Zahl der Bewerbungen überseeischer Bibliotheken ist ganz be¬
sonders groß.
Aus dem brasilianischen Urwalde ging der Stiftung kürzlich folgender Brief
ZU: „Durch eine Berliner Zeitung auf die Stiftung aufmerksam gemacht, erlaube
ich mir, im Namen vieler deutschen Landsleute die Bitte an Sie zu richten, uns
hier im Urwald mit Lesestoff zu unterstützen. Wir habe» hier viele deutsche
Schulen, welche zahlreich besucht werden, aber es fehlt an der Nachbildung. Es
gibt viele junge Leute, welche nichts zu lesen haben und das in der Schule Ge¬
lernte bereits vergessen haben. Deshalb haben wir hier einen Leseverein, doch
richtiger gesagt einen Gesangverein, mit Bibliothek gegründet zur Förderung des
Deutschtums und Pflege der Muttersprache. Jedes deutsche Menschenkind hat
freien Zutritt, und jedes Mitglied verpflichtet sich, zur Anschaffung neuer Bücher
einen Beitrag zu leisten. Alle Mitglieder bekommen gratis Bücher auf acht bis
vierzehn Tage geborgt. Ich selbst bekam von meinen Verwandten einige Bücher
und Zeitschriften, welche schon ihrem Zweck übergeben sind. Bin nun neun Jahre
hier im Lande und habe zur Genüge beobachtet, welche Früchte die Vereine und
Bibliothek getragen haben. Früher sah man Neger und Mulatten mit den Schnaps¬
gläsern in der Hand im Geschäftshause stehn, ebenso die Deutschen in geringerer
Zahl. Aber heute sind die schwarzen und die gelben Menschen aus den Kolonien
verdrängt, ebenso die Schnapsgläser, und die Deutschen haben Handel, Gewerbe
und Landbau in ihren Händen. Sollte es möglich sein, uns in dieser Sache zu
unterstützen, so wird der Dank von Hunderten deutscher Herzen nicht fehlen."
Auch aus Peru gehen Bewerbungen in Menge ein. Ein Beispiel: „In weiter
Ferne, auf der südlichen Halbkugel, wo die Berge der Kordilleren den Himmel
berühren und aus den Gletschern des Äquators die Wasser nach dem Amazonenstrom
rasen, um sich ins Atlantische Meer zu ergießen und einst die Küste unsers deutschen
Heimatlandes zu bespülen, haben sich Landsleute gefunden und einen Leseverein
gegründet. Der Verein ist noch jung, die Mitglieder, meist noch nicht lange im
Lande, arm. Da hören wir von Ihrer großherzigen Stiftung und wenden uns an
Sie mit der herzlichen Bitte, uns doch etwas Lesestoff zu überlassen."
Nun endlich noch eine Probe aus den zahlreichen Bewerbungen, die aus
Nordamerika einlaufen. Ich lasse dabei die Vereinigten Staaten mit ihren
Hunderten deutscher Bibliotheken ganz aus dem Spiel. Nur einige Stellen aus
dem Briefe eines deutschen Lehrers in einem deutschen Walddorfe Kanadas: „Ge¬
legentlich meiner Durchreise durch Winnipeg nach meiner gegenwärtigen Stellung
als Lehrer in der deutschen Kolonie besuchte ich den mir längst bekannten Herrn
R. K. und war im höchsten Grade freudig überrascht, als ich von der gediegenen
Schenkung erfuhr, welche Sie dem Altdeutschen Verbände in Winnipeg gemacht
haben. Dieser Verein ist somit der einzige in dem sehr zahlreich von Deutsche»
bewohnten Winnipeg, welcher im Besitz einer deutschen Bücherei (denn so kann man
Ihr Geschenk nennen) ist. Wenn irgendwo in der Welt ein Bedürfnis in betreff
Hebung des Deutschtums vorliegt, so ist dies in Kanada der Fall, wo, wie sonst
nirgends in der Welt, die Gefahr besteht, daß das Deutschtum im Eng¬
land ertum untergeht. Das einzige Bollwerk gegen den Ansturm des eigenartig
werbenden Anglokeltentums ist hier die Kirche, und die kann nur das Anglisieren
der erwachsenen Deutschen verzögern, nicht aufhalten; sie kann aber das Aufgehen
des Nachwuchses nicht verhindern, sodaß die deutsche Kirche immer mit der größeren
oder geringeren deutschen Zuwanderung wachsen oder niedergehen wird. Die absolute
politische Gleichberechtigung jedes »Foreigners« mit dem Engländer Hierselbst hat
selbstverständlich zur Folge, daß auch die deutschen Eltern ihren Kindern eine möglichst
vollkommene englische Bildung zu verschaffen suchen, und dies geschieht um jeden
Preis, auch unter Drcmgabe der Muttersprache; denn »Viel verdienen und möglichst
wenig arbeiten wie der Engländer«, das ist auch die Losung der meisten Deutschen
Hierselbst. Das kann man aber nur erreichen, wenn man eben fertig Englisch spricht
und schreibt; denn das öffentliche Leben ist englisch. Daß man Englisch auch erlernen
und beherrschen kann, ohne seine deutsche Sprache aufzugeben, ist nur einzelnen der
hiesigen Deutschen klar, denn das hiesige Deutschtum kommt nur zum geringsten
Teile aus dem national starken und kulturell hochstehenden Deutschen Reiche, vielmehr
rekrutiert es sich größtenteils aus dem analphabetischen und oftmals bedenklich am
Niedrigen klebenden russischen, galizischen und rumänischen Deutschtum, welches von
Jdealgütern deutscher Kultur oder von der wirtschaftlichen Höhe Deutschlands glatt-
weg keine Ahnung hat. Keiner weiß dies so genau wie der deutsche Lehrer Hierselbst,
und solche gibts hier nicht viele; sie sind fast alle total unwissende Taglöhner, welche
die deutsche Schulstube und die Naivität der Bernfsberechtigten nur zeitweise dazu
benutzen, um in Ermangelung eines anderen Erwerbs einmal zu »tsaolisn«. Der
Regierung können diese schreienden Zustünde auf dem Gebiete der Schule nur recht
sein; denu sie weiß sehr gut, daß nach Verstümmelung und Verderbuug des Deutschen
das Englische um so schneller Platz greifen muß. Diese Zustände sind nahezu allgemein;
ich habe Manitoba und Saskatchewan kennen gelernt und bin nun seit 3 Wochen
in obiger Stellung in der dritten Provinz Ontario. Wenn es nämlich ein Fleckchen
Erde in Kanada gibt, welches imstande ist, sich des Fremdartigen zu erwehren, dann
scheint mir dies unser Walddorf zu sein. Darum — und das ist der laugen Rede
kurzer Sinn — wenn Sie sich berufen fühlen, würdigen Deutschen im Auslande
zur Erhaltung ihres Deutschtums beizuspringen, dann tun Sie es bitte in unserem
Falle. Hier wohnen die Leute, welche eine Ahnung von »deutsch« haben, und welche
fähig siud, den strahlenden Kern des urdeutschen Gemüts vom auglosnchsischen
Schachergeiste getrennt zu halten. Für unsere Zwecke sind irgendwelche deutschen
Bücher belehrenden, unterhaltenden usw. Charakters angebracht, und wenn Sie uns
auch einige Jugendschriften zukomme» lassen wollten, so wäre damit auch die Er¬
richtung einer kleinen Schülerbibliothek ermöglicht. Irgendwelche Verpflichtungen,
die damit verbunden wären, wollen wir gern eingehen, wenn sie die Kraft einer
jungen Kolonie nicht übersteigen. Vielleicht stehen Ihnen auch ältere Jahrgänge
von Zeitschriften, vielleicht der Gartenlaube, Buch für Alle, Über Land und
Meer oder tgi. zur Verfügung. Was Sie haben, ist angenehm, die literarische
Kost ist im kanadischen Walde etwas schmal geraten."
Diese Proben werden genügen, um auf das deutlichste zu zeigen, wie
ungemein tief das Bedürfnis nach guten deutschen Büchern von unsern Lands¬
leuten im Auslande empfunden wird, und wie sehr sie sich danach sehnen, ihre
gemeinschaftlichen Bibliotheken so ausgestalten zu können, daß sie zu einem
Mittel werden, das Deutschtum zu fördern und zu stützen. Nun hat die Deutsche
Dichter-Gedächtnis-Stiftung in Hamburg-Großborstel es schon bei ihrer Be¬
gründung im Jahre 1901 ausgesprochen, daß sie ihre Tätigkeit entwickeln
^ni, soweit die deutsche Zunge klingt. Aber in den Jahren ihrer bisherigen
Wirksamkeit hat sich ergeben, daß die Bedürfnisse, denen sie zu dienen bestimmt
lst, im Deutschen Reiche selbst und in Österreich-Ungarn und der Schweiz so
außerordentlich groß sind, daß sie mit den verfügbaren Mitteln, so tief
schmerzlich ihr dies auch ist, für das Deutschtum im weitern Auslande bisher
nur sehr wenig tun konnte.
lothar Bucher, auch „die rechte Hand Vismarcks" genannt, ge¬
hörte zu jenen Naturen, denen nahezutreten nichts weniger
als leicht war. Durch seinen hochinteressanter Beruf völlig ab¬
sorbiert und durch mancherlei üble Erfahrungen gewitzigt, zog
!er sich, besonders in seinen spätern Jahren, von den Menschen
fast ängstlich zurück, und es war nur ein kleiner Kreis Auserlesner, in dem
er sich heimisch fühlte. Dazu gehörte vor allem sein langjähriger Kollege,
der spätere Gesandte Heinrich von Kusserow, dessen Lebensgang — allerdings
leider nur bis zu dem Zeitpunkte, wo er für eine kräftigere überseeische Politik
zu wirken begann (1875) — im fünften Bande meines Bismarck-Portefeuilles
Seite 96 bis 161 eingehend geschildert ist.
Die Bekanntschaft Buchers mit Kusserow reicht bis in die Zeit zurück,
wo dieser, nach längerm Verweilen im auswärtigen politischen Dienst, in
Berlin dauernden Aufenthalt nahm und zuerst unter Delbrück im Reichs¬
kanzleramte, danach (1874) im Auswärtigen Amte beschäftigt wurde. Von
dieser Zeit umschlang beide Männer ein inniges Band, das durch eine fast
tägliche Berührung in der Wilhelmstraße gefördert wurde und sich noch
wärmer gestaltete, seitdem Bucher auch mit der ersten Gemahlin Kusserows,
einer gebornen Springer und Adoptivtochter von Abraham Oppenheim in
Köln, einer hochbegabten, liebenswürdigen und ein glänzendes Haus in Berlin
führenden Dame innig befreundet worden war.
Erst in der Mitte des Jahres 1885 gingen die Wege der Freunde aus¬
einander, da Kusserow die Stelle des preußischen Gesandten und bevoll¬
mächtigten Ministers bei den großherzoglich mecklenburgischen Höfen und den
Hansestädten mit der Residenz in Hamburg erhielt, und der alte „Achtund¬
vierziger" den Dienst im Auswärtigen Amte satt bekam und in den Ruhe¬
stand ging. An die Stelle der seltner werdenden persönlichen Berührung trat
nunmehr eine schriftliche Aussprache, die sich in fünf Briefen Buchers an
Kusserow, fünfzehn an seine erste und einem Brief an seine zweite Gemahlin,
der leider viel zu früh dahingegangnen Witwe des früher in Hamburg
wohnenden Kaufmanns Adolf Barting, einer ebenfalls hochbegabten Dame, ver¬
dichtete.
Wir lassen nunmehr Bucher selbst sprechen.
Berlin, Lützowstraße 39, den 27. Oktober 1885. Geheimrat Lothar
Bucher an Frau von Kusserow:
Am Sonnabend schlage ich ein großes Kreuz über Ur. 76*) und frage nun,
ob es Ihnen gelegen sein würde, wenn ich am Sonntag Nachmittag 2 Uhr 45 M.
auf zwei Tage bei Ihnen eintreffe, um Ihnen und den Ihrigen Adieu zu sagen,
bevor ich auf so lange Zeit aus dem Gesichtskreise verschwinde. Ich rechne aber
mit Bestimmtheit darauf, daß Sie es mir ehrlich sagen werden, wenn Ihnen
wegen Einrichtungssorgen oder aus irgend welchen andern Gründen mein Besuch
jetzt noch nicht bequem wäre. Auf alle Fälle mit herzlichen Grüßen der Ihrige
Clarens (Schweiz), Hotel Roy, den 15. Dezember 1885. Geheimrat
Lothar Bucher an Frau von Kusserow:
Jetzt werden Sie wohl die häuslichen Sorgen soweit überwältigt haben, daß
ich Ihnen zumuten kann, einmal einen Brief zu lesen, in dem wahrscheinlich nichts
stehen wird; denn was ich aus dem mir oktroyirten Exil zu berichten habe, eignet
sich weniger für einen Brief als für ein Feuilleton, und ich habe mich in der
That versucht gefühlt, zum Zeitvertreib mein altes Handwerk wieder aufzunehmen.
Ich ließ mich vorläufig hier nieder um in Ruhe zu überlegen, wohin weiter.
Aber je mehr ich über Italien lese, desto zweifelhafter werde ich wegen der klima¬
tischen Verhältnisse; so habe ich denn gedacht, das Bessere ist des Guten Feind,
bin geblieben und werde auch noch einige Zeit bleiben — wenn meine Holländer
nicht etwa ausziehen; und das ist ^eben das Feuilleton. Die Hausgenossenschaft
besteht 1., aus einer Familie H . . . ., Mama mit drei Töchtern, zwei abgewachsen,
eine ein Backfisch von 10 Jahren. Mama eine Wienerin, Papa angeblich ein
Italiener, Aufenthalt irgendwo in Frankreich. Meine Theorie ist, daß H____,
dem Namen nach, ein Türke ist, daß die Mama einmal Marketenderin oder etwas
der Art gewesen und wegen ihrer großen Schönheit gefeiert worden ist. Von
den Manieren dieser Gesellschaft werden Sie sich einen schwachen Begriff machen,
wenn ich erwähne, daß der Backfisch zuweilen bei Tisch von dem Stuhle ver¬
schwindet, unter der Tafel umherkriecht und wie eine Möve kreischt unter dem bei¬
fälligen Gelächter der Schwestern und der Mutter. Sie sprechen oder schreien
vielmehr alle vier zu gleicher Zeit, zuweilen im Wiener Dialekt, zuweilen in einem
garstigen, schnarrenden Französisch, und zwar mokieren sie sich mit Vorliebe über
die anderen Tischgenossen, besonders über die Gesichter und die Toiletten der Damen,
^-me französische Familie ist ihretwegen bereits ausgezogen; die Holländer sprechen
davon, dem Beispiel zu folgen, in ein anderes Hotel oder an einen anderen Ort
^ ziehen, und dann werde ich es auch so machen. Denn ein paar umgängliche
Menschen, die auch hin und wieder Whist spielen, sind mir sehr nötig, wenn ich
i5 ^ Hypochondrie verfallen soll. Abgesehen von einigen Leuten, die sich auf
Mer Zimmern servieren lassen, beherbergt das Haus nur noch zwei mittelalterliche
Engländerinnen, unxroweieä tewÄlss, die sich anfangs wie Eisklumpen verhielten,
e^rdwgsaber soweit aufgetane sind, daß sie einem zuweilen das Menu zureichen.
Was sollte ich zwischen ihnen und den beiden H-... anfangen, besonders wenn
das Tauwetter anhält und sie am Ende ganz zerschmelzen. Nach dem Zustande
der Atmosphäre ist dazu allerdings keine Aussicht, denn es liegt Schnee, der mir
übrigens sehr gut bekommt. Nun aber genug Feuilleton! Viele herzliche Grüße
an die Ihrigen und alle guten Wünsche zum kommenden Jahre von Ihrem treu
Clarens, Hotel Roh, den 26. Dezember 1885. Geheimrat Lothar Bucher
an Frau von Kusserow:
Wenn das Stück Heimat, was Sie mir geschickt haben, mir herzliche Freude
gemacht hat, so war ich wahrhaft gerührt davon, daß Sie beide in den vielbe¬
schäftigten Tagen Sich die Zeit genommen haben, mir auch noch zu schreiben. Sie
werden auch einmal, wenn Sie so nahe an die Siebzig sind wie ich, die Erfahrung
machen, daß die frühesten Jugenderinnerungen bei irgend einem Anklange unwider¬
stehlich lebendig werden. So bin ich denn gestern an einer langen Reihe von Weinachts¬
bäumen vorübergegangen, an einer Kiefer, unter der im Jahre 1822 ein Lämmchen
weidete, wie der Drechsler es heute noch auf dem Weinachtsmarkt feil hält, an dem
Weinachtsbaum in Versailles und den Tannenwaldungen in der Königgräzer und der
Thiergarten Straße. In dieser Stimmung wollte es mir nicht in den Sinn, den
Baum auf meinem einsamen Zimmer anzuzünden; ich fragte die Holländer, ob es ihnen
recht wäre, die Feier in ihrem Privatsalon abzuhalten und sie gingen gern darauf
ein, weil sie nie einen deutschen Weinachtsbaum gesehen hatten. — Die Holländer
kennen die Sitte nicht, machen überhaupt aus Weinachten nichts, sondern beschenken
sich am 5. Dezember. Wir haben die Wachslichter halb herunter brennen lassen und
dazu Whist gespielt. Ich muß Ihnen aber doch die Familie ordentlich vorstellen.
Also erstens Naäams is, vouariers van äsr Lranäslvr o6e> van kloAonäoi'v, Wittwe
des Bürgermeisters von Leyden. Zweitens ihre Tochter. Drittens ihr Schwieger¬
sohn Limonät, Verwandter der Limonät Lollection, Offizier, der wegen eines Hals¬
leidens hierher geschickt ist. . . . Alle drei haben eine sterbliche Freude an dem
Baum gehabt und mich gebeten no Xiuä krienäs — wir sprechen in der Regel
englisch — das wissen zu lassen. Die sehr gelungenen Photos dieser Xinä ti-ienäs
habe ich ihnen gezeigt. Heute Abend wird der Baum wieder angezündet und
zwar in Gegenwart der aufgethcmten Engländerin. Sie hat sich inzwischen der
Frau Simonät genähert und ihr gesagt, sie verhielte sich nur deshalb so ruhig,
weil sie mit einer andern Engländerin im Hause absolut keine Berührung haben
wolle. Von der Anderen kann ich nur sagen, daß sie nach ihrem Aussehn ein¬
mal sehr hübsch gewesen sein kann, daß sie nach ihren Gesprächen längere Zeit in
Rußland und Italien gelebt haben muß, und daß wir nicht wissen, ob sie Ais oder
Wss ist. Sie spricht mit Vorliebe französisch und sagt wog,. Die Aufgethaute
weiß offenbar mehr über sie, will aber nicht mit der Sprache heraus. Gefundener
Stoff für eine Novelle! Die Familie H---- ist noch immer vorhanden, obwol
uns der Wirth von Woche zu Woche auf ihre Abreise vertröstet. Auf meinen
Antrag ist durch zwei leere Stühle an jeder Seite des Tisches eine neutrale Zone
hergestellt worden.
Meinen herzlichsten Dank Ihnen beiden für die neuen Beweise Ihres Ge¬
denkens und Ihrer Freundschaft und viele Grüße an die Kinder Die Anlagen
Nachschrift. Ich kann die Anlagen, ein paar spaßige Negerbilder, leider nicht
finden.
Clarens, Hotel Roy, den 22. Februar 1886. Geheimrat Lothar Bücher
an Frau von Kusserow:
Nachdem ich Ihnen zum letztenmal geschrieben, traf noch ein reizendes Post¬
skript zu Ihrer enristmasdox ein, und ich schäme mich wenn ich bedenke, wie lange
ich mit der Antwort darauf gezögert habe. Wenn Sie über unser Klima so genau
unterrichtet wären, wie ich durch die Seewarte über das Wetter in Norddeutsch¬
land, so würden Sie meine Entschuldigung errathen. Wir haben hier einen sibirischen
Winter durchgemacht und sind ihn noch nicht los. Seit dem 20. Dezember tiefen
Schnee und bittere Kälte, selten durch ein oder zwei wärmere Tage unterbrochen,
welche nur die Wirkung hatten, die Oberfläche des Schnees in Eis zu verwandeln.
Noch in der vorigen Woche hat das Minimal-Thermometer während der Nacht
— 10" v. angezeigt. Die Sonne haben wir manchmal 14 Tage nicht gesehn,
so daß ich glaubte, sie sei durch eine himmlische Revolution, wie solche in dem
Sternnebel der Andromache kürzlich vorgekommen ist, gänzlich alle geworden. Mein
kleiner Kamin, mit feuchtem Holz gefüllt, war machtlos; wenn ich lesen wollte,
steckte ich die Kniee und die Hände hinein, das Buch wie ein Kio-soiooti haltend.
Der einzige warme Raum im Hause ist der gemeinschaftliche Salon, in welchem
sich die zwanzig bis vierunddreißig Pensionäre zusammendrängen und ein solches
Geschnatter in Englisch, Holländisch und Französisch — ich bin der einzige Deutsche —
vollführen, daß man weder Ruhe noch Platz zum Schreiben findet. Heute ist
endlich klarer Himmel und eine Temperatur von Ich habe den Tisch
zwischen den Sonnenschein und den Kamin geschoben und meine Finger tüchtig
massire und so hoffe ich endlich einen Brief zu Stande zu bringen. Ich nehme
mir vor heiter zu schreiben, bin aber in der That durch dieses Wetter und die
Unmöglichkeit einer vernünftigen Beschäftigung so verstimmt, daß ich mir oft großen
Zwang habe anthun müssen, um nicht Hypochonder zu werden.
Nachdem der Weinachtsbaum zum zweiten male gebrannt hatte und moderirt
verwüschtet d. h. geplündert war, habe ich ihn, da ich ihn doch nicht mitnehmen
kann, dem kleinen Jungen des Wirths geschenkt; er ist dann zum drittenmal an¬
gezündet worden und wird noch manches Jahr Freude machen. Die Marzipan-
Schweine wurden am Sylvesterabend geschlachtet und zerlegt. Zu viel Scherz
gaben die Aale Anlaß. Madame Simondt, die ich Ihnen Vorgestellt habe, hat
eine komische Manier, sonderbare Wünsche zu äußern. So hatte sie einmal gesagt,
sie möchte mal die Seeschlange sehen; ich stellte ihr daher die Aale als die Jungen
dieses Ungeheuers vor, und sie fand an den Thierchen solches Wohlgefallen, daß
sie an der Vertilgung derselben kräftig mitgewirkt hat.
Die Familie H____ist nach Verübung unglaublicher Unnützigkeiten im Januar
^gezogen. Dafür sind eine Masse Engländer eingezogen, darunter zwei Generale,
die nach langer Dienstzeit in Indien ihren Abschied genommen haben und mir
nunmehr schätzbare Information liefern, die in Zeitungen und Büchern nicht zu
finden ist.
Da in der ganzen Welt schlechtes Wetter ist, so werde ich wol hier bleiben,
Med ' """" ^ Frühling sich endlich einstellen sollte, etwas höher gehen, nach
Mion oder I,hö ^parts, um !t draoiuss air zu finden, die mich gegen die Hypochon¬
drie schützen würde.
^- K. Diese verkrüppelte Primel habe ich unter dem Schnee hervorgescharrt.
Berlin, Lützowstraße 39, den 2. Mai 1886. Geheimrat Lothar Bucher
an Frau von Kusserow:
Ihr Brief vom 24. ist mir hierher gefolgt, wo ich am 28. eingetroffen war.
Auf Anlaß des Todesfalles*) habe ich Ihnen nicht geschrieben; Sie wissen ja, welchen
herzlichen Antheil ich an Ihrem Schmerze nehme und wie sehr ich selbst Ihre
Schwiegermama betraure, von der ich alle die langen Jahre her soviel Freund¬
lichkeit und Güte erfahren und mit der ich in den letzten Wintern Leid und Freud
getheilt habe. Ich gehe jetzt selten die Treppe hinab, ohne daran zu denken, wie
oft ich mir an ihrer Geduld und Ergebung auf der Treppe in der Königgräzer-
straße im Stillen ein Beispiel genommen habe. Ihre Schwägerin**) habe ich gestern
gesehen und sehr angegriffen gefunden, wie das nicht anders zu erwarten war,
überdies war sie in Unruhe über Ferdinand, der, wie Sie wissen werden, durch
einen Gichtanfall in Rügen zurückgehalten war, gestern erwartet wurde, aber so
unklar telegraphiert hatte, daß man nicht wußte, mit welchem Zuge er reisen würde.
Spät am Abend lief endlich die Nachricht ein, daß er um 11 Uhr ankommen
würde. Woher hat der junge Mann die Gicht? Mit der meinigen geht es; die
kleine blaue Primel unter den anliegenden Blümchen habe ich von einem 4000 Fuß
hohen Berge geholt in Begleitung eines englischen Generals. Es gab deren zuletzt
vier in der Pension, von denen zwei nach langer Dienstzeit in Indien eben nach
Europa zurückgekehrt waren, lauter umgängliche Leute. Einer hatte zwei niedliche
Backfischchen, in Kandahar und in Lahore geboren und daher unter den Bezeichnungen
tbs litte ^tAds-n und elf Mg ?unMdss gehend. Beide haben mir ihre Photos
verehrt.
Den Fürsten habe ich noch nicht gesehen, aber von Rantzau erfahren, daß er
mir weiter keine Schwierigkeiten machen will. Die Geschäfte müssen diesen Winter
sehr unerquicklich gewesen sein, Balkan und Kirchenfrage. Wohl Ihrem Gatten,
den ich vorläufig herzlich grüße, daß er mit faßbareren Dingen zu thun hat. Bei
Räthen und Büreaubeamten habe ich eine gedrückte Stimmung wahrgenommen.
Auch 5i. dürfte nicht zufrieden sein und weniger übermüthig als zu Zeiten seines
Gönners Paul,***) er ist bei Vertheilung meines Nachlasses ganz leer ausgegangen.
Vorläufig habe ich nach so langer Abwesenheit allerlei im Hause zu kramen und
Correspondenzreste zu erledigen; nachher werde ich mir im Staatsarchiv Arbeit
suchen, auch das Botanisieren fortsetzen, was ich als Student 1836 angefangen hatte.
Der Grünewald ist ja jetzt so leicht zugänglich gemacht.
Schloß Groß-Peterwitz, den 15. Juli 1886. Geheimrat Lothar Bucher
an Frau von Kusserow in Bassenheim bei Koblenz:
Da Kürschner Ihnen nicht verrathen wird, wo Peterwitz liegt, so muß ich es
thun. Es liegt bei Carls, welches sich wieder in der Nähe von Breslau befindet
und gehört Stirnen.f) bei dem ich seit vielen Jahren wieder auf einige Tage zu
Besuch bin. — Nadelspitze Feder, mit der ich nicht schreiben kann. — Ich führe
das in Schlesien übliche Schlaraffenleben, bei dem man die Zeit vergißt, erinnere
mich aber doch, daß ich Ihnen heute meinen herzlichen Glückwunsch schicken muß,
wenn er rechtzeitig ankommen soll. Ich hoffe ihn nächstens mündlich wiederholen
zu können. Anfangs nächster Woche gehe ich auf einige Tage nach Berlin zurück
wegen einer kleinen Arbeit, die ich zum Druck gegeben habe und dann nach Laub¬
dach,*) um mich noch einmal mißhandeln zu lassen. Nachher denke ich in die
Schweiz zu gehen, um mein Herbarium zu vervollständigen. ...
Der vierspännige Blumenkorso in Breslau, über den Alles Kopf steht, wird
Sie nicht interessiren.
Laubdach, den 6. August 1886. Geheimrat Lothar Bucher an Frau
von Kusserow:
Es geht mit Laubdach wie mit Karlsbad, bei der Wiederkehr der Jahreszeit
fühlt man ein prickelndes Verlangen, die Kur zu wiederholen, auch wenn Einem
nichts Besonderes mehr fehlt, was ich jetzt von mir sagen kann. So habe ich
mich denn zum viertenmal, jedoch nur für einige Wochen, in dieser Straf- und
Besserungs-Anstalt eingefunden, obgleich eigentlich ein stärkerer Zug nach den Bergen
geht. In der ersten Hälfte des September denke ich ihm auch nachzugeben und
ins Rhonethal zu gehen, wo ich an einem schönen Punkte, 4000 Fuß über dem
Meere, einige meiner in <ÜIg,re,r>s gewonnenen englischen Freunde zu finden hoffe.
proxos, Sie haben mir gar nicht gesagt, wie Ihnen die beiden indischen Back¬
fische gefallen. Ich kann mir das freilich erklären; denn wie ich mit Bedauern
gehört habe, sind Sie wieder vom Fieber geplagt.
Den Gatten habe ich gestern in Berlin gesehen, wo er seine Vertretung so
nach Wunsch geordnet hat, daß er zur Hühnerjagd eintreffen kann. ...
Meine vorjährigen holländischen Bekannten sind zu Anfang der Woche alle
abgereist; ich werde mich erst wieder anzufreunden haben. Eine vorläufige In-
spection der Gesellschaft, die ich während des Mittags vorgenommen habe, eröffnet
keine günstige Aussicht — viele N^unsers, die aber nicht umgänglich aussehen, und
mehrere Damen in Rollstühlen.
Wenn ich Sie einmal Sonntags besuchen darf, so, bitte, schicken Sie mir nicht
das Fuhrwerk; ich weiß, daß man auf dem Lande die Herrn Pferde nicht gern so
anstrengt wie in der Stadt.
Die Affaire ^V. K. und L.**) ist durch Vermittlung von S^urna gütlich bei¬
gelegt. Der auf dem Großglockner verunglückte Pallavicini ist der Schwager von
Lsi'obsin.***)
Berlin, den 26. Oktober 1886. Geheimrat Lothar Bucher an Frau
von Kusserow:
Der Director der Ober-Rechenkammer in Potsdam, Messer, mein Kamerad in
ver Elementarschule, auf dem Gymnasium, auf der Universität und am Oberlandes-
gericht, hat mich zu seinem heutigen Geburtstage eingeladen. Ich habe zugesagt,
mit dem 3 Uhr Zuge zu kommen und mich unterwegs seiner alten, hier lebenden
Schwester anzunehmen.
Wenn Sie etwa Ihre Abreise verschieben und mich vielleicht auf heute Nach¬
mittag entbieten, so würde ich nicht erscheinen können; und um nicht contumacirt
zu werden, schreibe ich diesen Brief in Vorrath, sodaß ich ihn eventuell ohne
Verzug Ihrem Boten geben oder um 2 Uhr durch meinen Diener abschicken kann.
Eventuell also Adieu und herzliche Wünsche für die allseitige Gesundheit in diesem
Berlin, den 18. Dezember 1886. Geheimrat Lothar Bucher an Frau
von Kusferow:
Ihr gütiges Billet fand mich mit dem Coursbuch beschäftigt, in welchem ich
mir einen Weinachtsausflug aussuchen wollte, etwa Dresden oder Kassel. Ich
brauche Ihnen nicht zu sagen, wie gern und mit wie vielem Dank ich Ihre Ein¬
ladung annehme. Ich werde am 24. Nachmittags eintreffen und im ZZöwI ä'Luroxs,
welches meiner Erinnerung näher bei Ihnen ist, absteigen. Ich würde Ihnen
sehr dankbar sein, wenn Sie der Sicherheit wegen vorher ein Zimmer für mich
bestellen lassen.
Berlin, Lützowstraße 39, den 5. Januar 1887. Geheimrat Lothar Bücher
an Frau von Kusferow:
Das Kleideralbum muß aus Duderstadt verschrieben werden, woher sonst nur
wandernde Musikanten zu kommen pflegten. Ich benutze aber gleich die kleine
Sendung an Slina, um Ihnen mit meinem herzlichsten Danke für alle Ihre Güte
und Liebenswürdigkeit einige Beiträge zu Ihrer Schriftensammlung zu schicken.
Das Billet von Mcizzini (sehr selten) werden Sie nicht entziffern können; die Ab¬
schrift, die ich davon behalten habe, weist auch einige Lücken auf. Den Brief von
Lasalle hatte ich schon vor langer Zeit für Autographensammler bei Seite gelegt
und deshalb zwei Zeilen herausgeschnitten, welche eine freundschaftlich übertriebene
Anerkennung enthielten. Aus dem Briefe von Kinkel sollte ich eigentlich einen
ehrlichen Ausschnitt machen; es würde dann aber gar zu wenig übrig bleiben.
Der zerfetzte Brief ist von Löwe, dem Präsidenten des Stuttgarter Rumpf-Parla¬
ments, später bekannt als Löwe-Calbe, vor einigen Wochen verstorben. Die übrigen
Briefe erfordern keine Erläuterung. Ich freue mich jetzt ein Gebiet zu wissen,
auf welchem Sie noch nicht alles Mögliche und Unmögliche besitzen und werde
ferner auf Autographen fahnden. Wenn ich, was nicht wahrscheinlich ist, einmal
Veranlassung haben sollte, den einen oder andern Brief einzusehen, so weiß ich ja,
wo sie sind. . . .
an kann kaum über die Ballade sprechen oder schreiben, ohne
versucht oder sogar gezwungen zu sein, diese Dichtungsgattung
zu definieren. Da es aber schwierig und auch praktisch be¬
deutungslos ist, den Begriff der Ballade vom epischen Gedicht
überhaupt scharf abzugrenzen, so will ich einen einfachern Weg
wählen und nur von solchen Gedichten sprechen, die ihre Schöpfer selbst für
Balladen erklärt und die auch zu ihren Zeiten zweifellos als solche gegolten
haben. Der große Dichter wird im Zweifelsfalle selbst dem großen Kritiker
gegenüber im Rechte sein, wenn er sein Gedicht als Ballade bezeichnet, und
der Kritiker ihm beweisen will, daß es keine Ballade sei. Andrerseits ist die
Ballade zu allen Zeiten etwas andres, sie ist der Entwicklung unterworfen
gewesen wie jede Kunstform und kann nicht in ein dem Geschmack einer Zeit¬
welle entsprechendes Begriffsgewand gezwängt werden.
Die deutsche Ballade als Kunstform beginnt ihren Siegeszug erst mit
Bürger, der auch heute noch vielfach als Urbild des Balladendichters gilt.
Man hat nämlich oft als den integrierender Bestandteil der Ballade die
Handlung hingestellt. Und hierfür dient allerdings Bürger sogleich als Haupt¬
bestätigung. In seinen Balladen ist allerwärts Handlung, und die Handlung
lst alles. Kann es lebhaftere, bewegtere Handlung geben als in seiner Lenore,
die schon mit dem heftigen Auffahren eines von Sehnsucht und Hoffnung er¬
regten Menschenkindes aus quälendem Halbschlummer anhebt, wo der neue Tag,
wobei wir vielleicht schon das „Paukenschlag und Kling und Klang" aus
der zweiten Strophe ergänzend hinzunehmen dürfen, mit neuem Hoffnungs¬
strahl durchs Herz zuckt. Und nun rollt sich mit der Hast von Kinemato¬
graphenbildern die ganze Handlung ab, der Einzug, das ängstliche Fragen, die
Verzweiflung, das aufgeregte Wechselgespräch mit der Mutter, die unheimliche
Ankunft des Geliebten und endlich der Seele und Sinne erregende Todesritt.
Die Bürgersche Handlung ist aber zugleich anschaulich. Man denke an die
Strophe im Lied vom braven Mann:
Es gibt treffliche Bilder zu diesen Bürgerschen Balladen, die mit ihrem reichen
Situationswechsel geradezu eine Bilderreihe vor den Leser hinzaubern. Man
vergleiche mit dieser Schilderung etwa die verwandte Anfangssituation im
Taucher, und man wird zugeben müssen, daß die Schillersche Darstellung weit
weniger eine bestimmte Vorstellung in uns erweckt. Auch hat diese Situation
noch keinen Maler zum Nachschaffen begeistert.
Bewegte, anschauliche Handlung gibt also Bürger, und zwar wirkt er
durch äußere Mittel steigernd, besonders erregungsteigernd auf den Leser, so
durch kurze Sätze, Ausrufe, Verdoppelungen usw. Er setzt lieber eine Halb¬
zeile zweimal, als daß er sie zur Zeile erweiterte, er hat eine besonders starke
Vorliebe für Klangmalerei, aber auch ein feines Gefühl für den Assoziations-
wert der Worte. Endlich unterstützt ihn der Rhythmus. Er verwendet für
seine lebhafte Schilderung fast nur zwei Formen, den vierfüßigen amphi¬
brachischen Vers (Lenardo und Blandine), dann mit dreifüßiger gemischt (Des
Pfarrers Tochter von Taubenheim), sehr wirkungsvoll zu den refrainartig ge¬
stalteten beiden letzten Zeilen der Strophe verwandt im Lied vom braven
Mann. Die andre Form ist der kurzatmige vier- und dreifüßige Jambus in
sieben- oder achtzeiliger Strophe wie in Lenore, dem Wilden Jäger, der Ent¬
führung, Grafen Walter u. a. Daß er auch gern wieder verwandte Vorwürfe
für seine Schilderungskunst wühlt, wie den wilden Ritt anßer in der Lenore
im Wilden Jäger, in der Entführung, im Lied von der Treue, zeigt zugleich
die Stärke und die Grenze seiner Begabung.
Goethe hat sich in seinen Balladen mehrfach an Bürger angeschlossen.
Insbesondre hat er den amphibrachischen Vers aufgegriffen und im Toten¬
tanz, im Hochzeitslied, im Getreuen Eckart und in der Ballade vom Vertriebnen
Grafen verwandt. Der Jdeenkreis dieser Gedichte steht zudem dem Bürgerschen
nahe, Spuk und Gespenster spielen darin eine Rolle, aber auch die Sprache
ist der Bürgerschen verwandt. Wir finden dieselbe lebhaft geschilderte Hand¬
lung, besonders im Totentanz, im Hochzeitslied, dieselben haftenden Halbzeilen,
die Wiederholungen von Worten, sogar von solchen, die im Reim stehn (Bier,
Graus im Eckart, Kind, Geschlecht in der Ballade) dieselbe Tautologie des Aus¬
drucks: Ins Bett, ins Stroh, ins Gestelle — ein Vater, ein Lehrer, ein Alder-
mann. Als rhythmische Parallele zum Lenorentypus wieder wäre der Sänger
und besonders der Untreue Knabe zu nennen. Die meisten der angeführten
Gedichte zeigen uns aber zugleich deutlich, was die Goethische Ballade von
der Bürgerschen scheidet, was hinzukommt, zwar nicht überall, aber wo es
vorhanden ist, ganz wesentlich ist, während es bei Bürger nie zu finden ist.
Es ist kurz gesagt: der Mensch. Nicht ein irgendwie vom Dichter gesehener
und beschriebner Mensch, sondern der Dichtermensch selber; das Persönliche
tritt ans dem Dichter in seine Menschen hinein. In allen Gedichten ist nicht
das wichtigste die Erregung einer immerwährenden Spannung und Aufregung
im Hörer oder eine dürftig zwischen die Dichtungszeileu hineingewebte Moral,
sondern es geht das Wichtigste immer von den handelnden Personen selbst
aus. Es geht durch das Medium der Individualitäten. Es ist nicht mehr
die Handlung allein, die geschildert wird, sondern das Wesen, das in die
Handlung eingeht, sei es Mensch oder Meerweib, Kind oder Blume, Geist
oder Gerippe, wird bei seinem Denken belauscht. Der Dichter entäußert sich
der Zuschauerperson, um in seinem Gebilde um so lebendiger zu werden. Er
räsoniert nicht, er erlebt.
In Bürgers Lied vom braven Mann ist fast die ganze erste Hälfte der
Schilderung der Naturereignisse und der Wirkung dieser auf die bedrängte
Zöllnerfamilie gewidmet. Goethe verwendet in Johanna Schuh für die fort¬
schreitende Zerstörung nur den vorgesetzten refrainartigen Zweizeiler und er¬
reicht dadurch, daß er Momentbilder gibt, eine um so größere Wirkung.
Dafür schildert er aber die Wirkung auf die Betroffnen, gerade umgekehrt
wie Bürger, der hierzu den etwas stereotypen Refrain ohne eigentliche
Steigerung verwendet, in der vollen Breite des Gedichts, und es ist alles so
bis aufs Detail beschrieben, daß der Phantasie dabei kaum mehr ein Spiel¬
raum bleibt. Dieses Detail aber ist die Folge des innigen Miterlebens der
Handlung.
Und wie spielt sich speziell diese Handlung ab? Durch Reden, wie im
Drama. In den meisten Goethischen Balladen erfahren wir. was vorgeht,
aus dem Munde der Beteiligten, so im Erlkönig, im Zauberlehrling, im Eckart,
im Vertriebnen Grafen, im Sänger, viele sind reine Monologe (Schatzgräber,
Vor Gericht), andre Dialoge (die Mülleringedichte). Bürger läßt den braven
Mann stumm in sechs Zeilen sein Rettungswerk vollbringen, dann verabschiedet
er sich, mit vier Zeilen, die so trocken und erdacht sind, daß es der Dichter
für nötig gehalten hat, den Ton danebenzusetzen, worin sie gesprochen zu
denken sind. Bei Goethe redet erst Tuschen, abwechselnd mit den Stimmen
der Bedrohten und der Zuschauer; aber ihre Stimme dringt durch: Zum
Büste, da rettet euch! sie befiehlt, ordnet an. handelt redend. Dann redet
Goethe aus der Seele des Zuschauers. Ju Heller Begeisterung verkündet er.
was er erlebt, während sich Bürger zwischenhinein mit „seinem Sang" unter¬
hält und ihn wie ein Bauer sein Pferdchen antreibt.
Was nun aber außerdem die Goethische Ballade weit über die Bürgersche
erhebt, ist die Sprache. Nicht nur aufgesetzte Sprachkunstmittel zur Unter¬
stützung der Wirkung, nicht nur treffende, packende Bilder gibt er, sondern
die ganze Handlung offenbart sich geradezu durch die Kunst der Sprache.
Es ist alles mit Poesie buchstäblich durchtränkt. Bürger ist eigentlich voll-
kommner Naturalist in der Art, wie seine Leute sprechen. Bei Goethe sind
die Personen vor allem die Träger des poetischen Elements, sie reden
dichterisch. Bürgers Leute reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, sie
fühlen nicht die Blicke der Kunstrichter auf sich ruhen. In ihren Gesprächen
ist auch keine Entwicklung, man hört nur ein Auf- und Abwogen der Erregung.
Man Vergleiche besonders die Liebesgespräche in Lenardo und Blondine. Selbst
die gefeierte Lenore muß hier bedeutend hinter dem doch recht situationsver¬
wandten Erlkönig zurückstehn. Der Dialog zwischen dem Reiter und seiner
Begleiterin ist absichtlich stereotyp gehalten; aber es war das auch zugleich
das bequemste. Nun sehe man die meisterhafte Entwicklung des Dialogs in
den wenigen Versen des Erlkönigs. Die Länge der Perioden, in denen ge¬
sprochen wird, verschiebt sich. Erst entgegnet der Vater einzeilig, dann zweimal
zweizeilig. Zugleich steigert sich die Erregung in der Sprache, beim Kinde
schon vom ersten „Vater" zum spätern verdoppelten „mein Vater", beim
Vater steigt sie erst zur doppelten Beruhigung, um sich ihm nachher auch in
der Anrede „mein Sohn, mein Sohn" mitzuteilen und seiner Erwiderung die
schärfere Form: „ich seh es genau" zu geben. Endlich die Steigerung beim Erl¬
könig selbst von der ersten Aufforderung zur lockenden Frage und zum
räuberischen Begehren. Hier ist zugleich die Periode des Erlkönigs verkürzt
und mit dem letzten Ausrufe des Knaben zu einem dramatischen Aufeinander¬
platzen in eine Strophe geknüpft. Endlich das Ganze umrahmt von den
schildernden Versen am Anfang und am Schluß. Der Erlkönig ist gewisser¬
maßen eine Synthese aus der wilden Bürgerschen Ballade und dem Goethischen
strengen Schönheitssinn.
Aus den beiden Elementen, dem innigen seelischen Erleben und der Sprach¬
schönheit, erklärt sich auch, daß Goethes Balladen beim Hören so stark wirken,
ja daß sie durch die Musik zum Teil noch eine herrliche Ergänzung finden.
Aber dies hohe Mitschwingen der Seele läßt auch alles matt erscheinen, was
die anschauende Phantasie hier etwa dazutun möchte. Vom Erlkönig haben
wir eine ebenbürtige Komposition, aber nur sehr schwache Bilder. Man denke
an das Schwindsche.
Bürger schildert die Handlung, Goethe erlebt sie, Schiller verweilt vor
ihr in pathetischer Betrachtung. Lehrreich ist in dieser Beziehung schon ein
Vergleich des ersten Balladenstoffes, den Schiller verarbeitet hat, der Kindes¬
mörderin mit des Pfarrers Tochter von Taubenheim und dem Gretchen im
Faust. Goethe läßt uns den ganzen Jammer der verzweifelten Seele fühlen,
Bürger bringt die grauenvolle Tat selbst mit furchtbarer Deutlichkeit vor
unser inneres Auge, Schiller schildert sie als eine Reminiszenz und verweilt
in jedem Augenblicke, um bald pathetische Verwünschungen bald gedankliche
Konsequenzen einzuflechten. Er wählt die auch noch später für ihn charakteristische
Form des Monologs in Verbindung mit dem für die Jugendperiode charakte¬
ristischen Rhythmus des höchsten Pathos, den fünffüßigen Trochäen. Dies
Pathos der sittlichen Überzeugung, der Klage, des Schmerzes, das hier noch
rein herrscht, wird nun später bei Schillers Balladen durch die Philosophie
gemildert und verschönt. Wie es in der Lyrik über die Resignation zum
Ideal und dem Leben geht, so kommt das monologische Epos über die Klage
der Ceres zur Kassandra und der balladische Stoff über Pegasus im Joch
und die symbolische Erzählung zu den großen Balladen vom Taucher bis zum
Grafen von Habsburg. Es ist auch äußerlich betrachtet gar nicht möglich,
zwischen den Schillerschen Balladen und Monologen eine Grenze zu ziehen.
Man kann sie vielmehr mühelos in eine Reihe bringen nach dem steigenden
Anteil, den das gesprochn- Wort und die Betrachtung im Vergleich zur Hand¬
lung in der Dichtung einnimmt. Hero und Leander bildet das Schlußstück in
der Kette von epischen und monologischen Gedichten, Schiller nennt es noch
Ballade, und doch ist es fast ganz durch den Monolog der Hero ausgefüllt.
Auch in den Kranichen spielt das monologische Element eine kurze, aber
wichtige Rolle, es spielt auch noch in den Taucher hinein. Hier gewinnt
aber die Begebenheit die Oberhand. Andre Zwischenstufen zeigen der Kampf
mit dem Drachen und der Graf von Habsburg, bei denen der wichtigste Teil
der Begebenheit erst durch eine eingeführte Person erzählt wird, bis wir im
Handschuh, im Ring des Polykrates, im Gang nach dem Eisenhammer und
am gewaltigsten in der Bürgschaft die Handlung einen immer stärker werdenden
Anteil am Ganzen selbst nehmen sehen.
Wie verschieden aber auch dieser Anteil ausfällt, eines wieder ist es. was
Schillers Ballade wesentlich von der Bürgers und Goethes unterscheidet: das
Vorhandensein einer Idee. Allerdings ist ja eine Idee auch der Kern der
spätern Goethischen Balladen; dies ist aber erst auf den Austausch geistiger
Potenzen zwischen den beiden Dichtern zurückzuführen, wie ja Schiller durch
Goethe erst zur objektiven Dichtungsart angeregt wurde. Er. der vom subjektiv
betrachtenden Gedichte ausgeht, ist natürlich auch einer starken Versenkung in
seine Gestalten fähig, nur daß die Goethes handelnd reden, während die Schillers
redend denken. Der Taucher ist in bezug auf die Entwicklung der Schillerschen
Ballade trotz der einzig großartigen Sprache und der später nie wieder er¬
reichten Pracht der Strophe eine Übergangsform. Da wird lebhaft bewegte
Handlung geschildert, in die einzelne Personen redend eingreifen, dazwischen
macht sich das monologische Element breit, und da es als Erzählung noch
nicht genug Gelegenheit zur Betrachtung bietet, drängt sich noch der Dichter
reflektierend dazwischen. Hinter dem allen aber steht doch die Idee, der Haupt-
Person selbst in den Mund gelegt, die sie aller Vernunft zum Trotze zuletzt
durch den eignen Untergang bestätigt.
Schiller hätte aber nicht der Historiker sein dürfen, wie er auch geradezu
kulturgeschichtliche Dichtungen geschaffen hat, wenn er nicht auch in seinen
Balladen das historische, besonders das kulturhistorische Kolorit zu einem
wichtigen Bestandteil gemacht hätte. In dieser Hinsicht verdient besonders der
Graf von Habsburg Erwähnung, dessen Idee zugleich eine kulturgeschichtliche
Bedeutung hat und eine bedeutende historische Tatsache begleitet. Die höchste
Synthese des Schillerschen Geistes mit der vor ihm gebildeten Ballade sehen
wir in der Bürgschaft. Hier ist Bürgersches Tempo und Fülle der Handlung
mit Goethischer Beseelung der Gestalten vereint und in der Krönung des
Ganzen durch die Idee von dem Siege einer alle Hindernisse überwindenden
sittlichen Strebung der ganze Schiller.
Die Romantiker haben vielleicht quantitativ das meiste und qualitativ das
geringste zur Ballade hinzugefügt. Trotzdem gehört ein vollständiges Empfin¬
dungsmanko dazu, Uhland so gegen Bürger herabzusetzen, wie es Schopenhauer
getan hat. Bei Uhland, dem gemütsinnigsten aller Balladendichter, kommt als
wichtigster Bestandteil das Rührende in die Ballade; die Kindesliebe, das Ver¬
hältnis von hilflosen Alter zur Jugend, rührende Treue sind Empfindungs¬
nerven seiner balladischen Stoffe. Aber kein Gemüt ohne Humor; darum ist
Uhland zugleich der Schöpfer der humoristischen Ballade (Roland Schildträger,
Schwäbische Kunde). Gerade er hat die Töne, die Bürger fehlten, um seine
Lieder zu Volksliedern, seine Balladen zu wahren Volksballaden zu machen.
Nicht nur Uhlands Lieder sind wie für Musik geschaffen, auch seine Balladen
sind — die ersten in der großen Kunst — sangbar und damit den ursprüng¬
lichen Charakter der Volksballade wieder heraufholend (Die Rache, Siegfrieds
Schwert).
Es ist eigentümlich, daß die Balladen, in denen Uhland sein Bestes gibt,
in weiten Zeiträumen auseinanderliegen. Aber welche fortschreitenden Ent¬
wicklungsphasen zeigen auch die drei Gedichte Der blinde König, Des Sängers
Fluch und Das Glück von Edenhall. Im ersten das Rührende in den reinen,
fast kindlichen Formen eines Liedes von Vater- und Kindesliebe, Frevel und
Strafe, Kampf und Sieg. Zehn Jahre später eine gewaltige, fast übertriebne
Charakteristik, das Furchtbare im Wettstreit mit dem Rührender — Rührung ist
ja geradezu der Inhalt der Ballade —, doch ihre eigentlich rührende Wirkung
liegt in dem Bilde des seiner Stütze beraubten Greises, der mit der aufrecht
festgebnndnen Leiche das Schloß verläßt. Endlich die höchste Reife: Das Glück
von Edenhall; durch den durchgeführten Reim, der kein Hemmnis für die
Dichtung, sondern eher anregend für den poetischen Wortschatz Uhlands ge¬
worden ist, ist ihr ein für allemal der Charakter des Liedmäßigen gewahrt.
Daneben ist die Prägnanz und Poesie der Sprache ebenbürtig dem, was von
Goethe und Bürger schon erreicht war; die Idee hebt sich plastisch in den
Schlußworten heraus, auch die Erfüllung der Prophezeiung wirkt, wie in den
Kranichen des Ibykus, nicht befremdend, sondern wird von dem Gefühle des
Lesers durchaus bestätigt. Aber in der rührenden Gestalt des Greises, die das
Ganze doch beherrscht, bleibt der Dichter zugleich seinem innersten poetischen
Bedürfnis treu.
Einen ganz neuen eigenartigen Zufluß erhält die Ballade durch Annette
von Droste-Hülshoff: die Stimmung. Sie ist zugleich ein genügender Beweis,
daß Handlung nicht unbedingt zur Ballade gehört. Sie kann teilweise oder
ganz durch die Stimmung ersetzt werden. Besonders die Naturstimmung ist in
ihren Balladen zu Hause. Annette ist ja überhaupt die erste Naturdichterin,
und außer Lenau gibt es kaum einen Lyriker, in dessen Dichtung die Natur
einen so großen Platz einnähme. Aber während bei Lerain die Natur nur den
allgemeinen Hintergrund bildet, auf dem sich die Reaktion des Gemütes voll¬
zieht, während sein grüblerischer Geist überall siegt und sich häufig im schmerz¬
lichsten Gegensatz zur Natur sieht, ist bei Annette diese Reaktion viel spezieller,
viel objektiver, in die Natur eindringender und einfühlender und fast immer
von innerer Gesundheit und Lebensfreudigkeit erfüllt. So ist sie zur wahren
Schilderin der Naturstimmung geworden, und während Lenau in seinen Balladen,
wo seine besondre Reaktionsfähigkeit außer dem Spiele bleibt, die Natur vergißt,
schafft sie geradezu die Naturballade. Übrigens ist auch bei Lenaus Naturlyrik
der wesentliche Wert im musikalischen Zauber der Worte begründet, während
es bei Annette wirklich der künstlerisch gesehene Naturreichtum ist. was wirkt,
während ihre Sprache geradezu unmelodisch genannt werden muß.
Charakteristisch ist schon, daß sie fast stets mit der Naturschilderung an¬
hebt. In einigen Fällen (Geierpfiff. Vendetta). wo dies nicht der Fall ist. spielt
doch die Natur später um so gewaltiger in die Ballade herein. Als Stimmungs¬
balladen müssen bezeichnet werden der Tod des Erzbischofs Engelbert von
Köln, die Stiftung Kappenbergs, der Fundator. die Vorgeschichte, der Graue,
die Vendetta, das Fräulein von Nodenschild. der Geierpfiff, die Schwestern, der
Mutter Wiederkehr, Meister Gerhard von Köln, der Schloßelf. In der wichtigen
Vergeltung ist zwar keine Stimmungsballade in dem Sinne gegeben, daß eine
ausgemalte Stimmung der wesentliche Bestandteil der poetischen Schönheit
wäre, aber in einem andern, tiefern Sinn — wie übrigens auch im Geier-
Pfiff —: die Art und Weise, wie die beiden Teile durch die wiederholt gesehenen
Worte: „Batavia. Fünfhundertzehn" verbunden sind, kann nur als ein Stimmungs¬
mittel ersten Ranges bezeichnet werden. Der Geierpfiff wird in der Idee
vielleicht nicht jeden befriedigen; aber als Stimmungskuustwerk genossen ist er
unübertrefflich schön. Der zauberische, feuchte, glitzernde Hauch, der auf diesen
Blüten liegt, wird schon durch lautes Lesen wie mit dem Finger plump weg¬
gewischt, er offenbart sich nur dem innern Auge des Lesers.
Mit der Stimmungsballade ist eine Gattung geschaffen worden, die zwar
zunächst noch für sich allein besteht, deren Verschmelzung mit der frühern
Ballade aber durchaus nicht abzuweisen ist. Bis jetzt ist aber noch kein großer
Balladendichter erstanden, dem dies gelungen wäre. Dagegen haben wir noch
einen, der an die alte Ballade enger anknüpft als die Droste und sie zugleich
individuell bereichert: Friedrich Hebbel. Übrigens könnte man wohl in einzelnem
bei Hebbel Anklänge an die Stimmungs- und Naturballade sehen, die er ja
allerdings noch nicht vorfand. Die Natur spielt aber doch nur selten — wie beim
Dithmarsischen Bauer — hinein. Wo er sie verwendet, hat er sie meist eigentlich
andern dichterischen Zwecken dienstbar gemacht. Ich erinnere nur an die typische
Bedeutung der Raben in seiner Dichtung. Man kann sagen, daß Hebbel eine
zu starke dichterische Individualität war, die Natur unverfälscht in seine
Schöpfungen einzubeziehen. So, wenn er in der Heideballade hungrige Vögel
herabschießen läßt, um Würmer zu spießen, und so vorbereitend das Mordgierige
in die Tierwelt hineintrügt.
Hebbel geht von Uhland und Schiller aus, und es wäre gewiß erfolgreich,
die Synthese dieser beiden Dichter in seinen Balladen zu suchen; aber wichtiger
ist doch wieder, was er selbst zur Ballade hinzufügt. Es ist kurz gesagt der
Charakter. Schon das kurze Gedicht Der Maler, eines seiner frühesten, enthält
in ganz kurzen Strichen die Tragödie dreier Charaktere. Im Bettelmädchen
und in Schön Hedwig stehn in der Ballade nie vorher gesehene weibliche
Charaktere von höchstem Reiz vor uns. Von der Bürgschaft, von den Kranichen
her kennt man wohl den Räuber an sich, der plötzlich aus dem Walde bricht;
Annette bringt die Stimmung der auf ihr Opfer lauernden Bande, die vor¬
sichtig an den Messern schleifen; Hebbel bringt im Vaterunser, im Heideknaben,
in „Wohin so flink" Räuber- und Diebescharaktere von Fleisch und Blut auf
die Bühne der Ballade.
Es ist zuzugeben, daß für Hebbel hierin zugleich ein Mangel liegt. Be¬
sonders seine spätern Balladen sind merkwürdig skizzenhaft, als wenn er sich
nicht die Mühe zum Ausführen genommen hätte, skizzenhaft in der Art, wie
die Handlung durch Gespräche verkürzt ist, deren Inhalt zwar charakteristisch,
aber nicht gerade der Handlung angemessen erscheint. Die Handlung ist nur
skizziert; aber immer werden charakterisierende Lichter und Schatten auf die
Personen gesetzt.
Doch wenn Hebbel nichts als die Heilige Drei geschaffen hätte, in der er
die alte Ballade aufnimmt und weiterführt, müßte er schon mit den großen
Vorbildern in einer Reihe genannt werden. Es ist eine echte Ballade, wie sie
auch vor ihm hätte geschrieben sein können, aber im Mittelpunkte steht, was
nie vor ihm war, ein großer Charakter und ein frommer Mensch, gegen den der
Graf von Habsburg nur ein Schatten ist. Aber Hebbel hat auch einen
dithmarsischen Bauer gezeichnet. Im Korn auf dem Dache stehn sich fein
charakterisiert der Bauer und der Jude gegenüber, in „Wohin so flink" und
im Heideknaben die Charaktere des mutigen und des verzagten Kindes. Reizend
sind die beiden jungen Menschen in „Lustig tritt ein junger Knabe" durch
ihre Charaktere zum Mittelpunkt einer Handlung gemacht, und endlich der
Bramine, in dem doch erst der sie betätigende Charakter der heiligen Lehre
zum Siege verhilft.
Kehren wir noch einmal zur Heiligen Drei zurück. In dem romantischen
Stoff, in der schlichten Form zeigt sich Uhlands, in der symbolischen Sprache, in
der Einbeziehung einer kulturgeschichtlichen Entwicklung Schillers Einfluß, aber
das mystische Grauen des großen ersten Teils und die rein menschliche
Charakterentwicklung ist Hebbels eigenster Geist. Das Stück bringt eine doppelte
Entwicklung, die in der Quelle gegebne äußerliche, aus dem mittelalterlichen
Todeswahn zur Erkenntnis der wahren Absichten Gottes, und die innere, von
der die Worte zeugen: Doch sei mein Wahn erhoben, er weihte mich erst recht.
Aber das Beste hat der Dichter damit geleistet, daß er aus dem Bischof einen
deutschen Kaiser gemacht hat; so ist es zugleich das letzte große poetische
Dokument des sehnsüchtigen Patriotismus vor der Erneuerung des Reichs durch
die milde, erst nach schweren Proben zur höchsten Würde berufne Heldengestalt
Wilhelms des Ersten geworden. Daß das Gedicht so wenig bekannt ist, daran
ist wohl seine majestätische Einfachheit schuld, in der es auf jedes andre
Wirkungsmittel als den Geist seines Schöpfers verzichtet.
So können wir sagen, daß jeder große Balladendichter ihr auch eine neue
eigentümliche Färbung gegeben hat, und man könnte auch kurz die Wirkung
ihrer Art so charakterisieren: Bürger gibt bewegte Bilder, er wendet sich an
die Phantasie. Goethe ergreift den Menschen vor allem mit allen Sinnen und
mit der Empfindung, Schiller richtet sich kühler an die siegende Vernunft,
Uhland will auf das Gemüt wirken. Annette auf ein feines speziell modernes
Gefühl, darin dem Impressionismus verwandt. Hebbel aber richtet sich auch in
der Ballade an den Willen. Hebbel als Erzieher — das könnte vielleicht der
Titel eines der schönsten Bücher sein, das noch zu schreiben wäre.
me hohe soziale Bedeutung haben für München noch die Klöster;
sie nehmen sich besonders der Speisung der Armen an und unter¬
halten auch eigne Armenschulen für Waisen, in denen diese für
einen Beruf vorgebildet werden. Und wenn man sich erinnert,
daß München eigentlich bedeutet ..zu den Mönchen", so wird der
kulturhistorische Beobachter nicht verächtlich lächeln, wenn er neben sich in der
Trambahn plötzlich einen Mönch in der Kutte sitzen sieht, sondern wird auch dann
eine ehrwürdige historische Reminiszenz sehn, so anachronistisch sie auch Mrkt.
Manches erinnert in München an den italienischen Süden: die Übertragung
kirchlicher Gebräuche aus weltliche Organisationen bei feierlichen Veranlassungen,
wie beim Fronleichnamsfest, wo sich die Universität in col-xore an der großen
Prozession beteiligt, die sich durch die Ludwigsstraße nach der Theatinerkirche
bewegt, oder am Allerseelentage, wo an den prächtig, ja oft protzig geschmückten
Gräbern Lampen brennen und Betfrauen den ganzen Tag Gebete herleiern.
Südlich ist auch der Gebrauch, die Gestorbnen nicht vom Trauerhause, sondern
entweder von der Friedhofskapelle oder — bei bedeutenden Größen — von
einer Kirche aus zu bestatten. Auch das ist charakteristisch, daß die nach der
Parentationshalle gebrachten Leichen nicht, wie bei uns, im geschloßnen Sarge
eingesperrt, sondern im offnen zwischen Blumen und Kerzen aufgebahrt werden.
Aber nicht nur aus das kirchliche Gebiet erstrecken sich diese Einflüsse
des Landes ultra months, sondern auch auf die materielle und geschäftliche
Seite des Kulturlebens. Der Münchner spricht nicht von Bindfaden, sondern
von Spakat, nicht von Gemüsesuppe, Blumenkohl und Aal in Gelee, sondern
von Minestra, Karfiol und Angilotti. Auch im Kartenspiel ist der italienische
Einfluß wirksam: man spielt in München nicht Whist oder Skat, sondern Tarock.
Endlich kennt der Münchner keine Balkons und Schornsteine, sondern nur Altane
und Kamine.
Auch in der Aussprache und Betonung mancher Wörter hat das Italienische
eingewirkt. So spricht man Chemie, China u. a. wie Keule, Kina u. a., und
der echt deutsche Name Gisela wird zu einem pseudoitalienischen Gisclla, während
sonst der Oberbayer das germanische Stammbetonungsprinzip trotzig selbst auf
Fremdwörter überträgt und zum Beispiel sagt Müsi statt Musik, Therres, e
Mennu! statt: Therese, ein Menu!
Hier und da scheinen, besonders im Theaterleben, auch italienische Praktiken
eingedrungen zu sein. So findet man in den beiden Hoftheatern vor den großen
Spiegeln in der Garderobe Kämme und Bürsten zur allgemeinen Benutzung
liegen, und während der Pausen werden von Lakaien Erfrischungen an den
Plätzen herumgereicht, sodaß man sich nicht im Foyer zu drängen braucht.
Ob die dem Münchner, noch mehr der Münchnerin, bei aller geringen
Rührigkeit in der Arbeit eigne Genußfreudigkeit und Leichtlebigkeit auf der
Mischung germanischer mit romano-keltischen Elementen beruht, mögen die
Nassepsychologen entscheiden. Tatsache ist, daß der Münchner den bekannten
Geibelschen Spruch:
Bei der Arbeit recht Beginnen,
Beim Genießen rechter Schluß!
in dieser Form nicht anerkennen, sondern ihn so umändern würde:
Beim Genießen recht Beginnen,
Bei der Arbeit rechter Schluß!
Man hat den Eindruck, daß die Arbeit ihm weniger ein Bedürfnis zum Leben
als ein Mittel zum Genießen ist. Ich kannte einen schon ältern und etwas
lahmen Galeriediener, der viel schneller lief, wenn er seinen blauen Nock aus¬
gezogen hatte und ins Cafe zum Tarockspiel eilte, als wenn er Auskunft erteilen
sollte. Und ich sah ehrsame Bürger, die durch einen nächtlichen Brand aus den
Federn gescheucht, doch nicht so bald wieder den Weg dahin finden konnten,
sondern sich in allen Wirtshäusern des Viertels, die schnell geöffnet worden
waren, häuslich niederließen und das Löschen des Brandes noch einmal an sich
durchkosteten. Und ich sah es zwar nicht, hörte es aber mehr als einmal, daß,
wenn der Karneval und das Geld zu Ende geht, selbst treue Ehegatten ihre
Betten versetzten, was einen solchen Umfang annahm, daß die Leihhäuser derartige
Unterpfänder des Frohsinns schließlich nicht mehr annahmen. Seitdem kann
es auch nicht mehr vorkommen, was früher öfter vorgekommen sein soll, daß
der Ehemann heimlich das Oberbett versetzte, seine Frau schnöde verließ und
sich auf die Redoute begab, die Frau aber, ihres Mannes Beginnen arg¬
wöhnend, das Unterbett versetzte und ebenfalls zur Redoute eilte, dort ihren
Mann unter den Masken erkannte und nach dem Tanze auf seine Frage,
wer sie sei. nur erwiderte: „Ja, schau nur, das Oberbett tanzt mit dem
Unterbett!"
So sind die lieben Münchner leichtsinnig und dabei treuherzig, genu߬
freudig, aber ohne Raffinement, froh und dankbar den Augenblick ergreifend
und ihn zum Verweilen einladend, nie sich in sich selbst verschließend, sondern
stets in die Stimmung aufgehend und auch den stillem unbedenklich und un¬
barmherzig mit hineinreißend, sei es nun, daß man, bei der „Bockmusi" an den
langen Tischen des Löwenbrüukellers sitzend, plötzlich mit einem „Erlaubens,
Herr Nachbar!" sich unsanft untergefaßt und unter den Klängen des Schnnkel-
walzers hin und her gerissen fühlt, oder ob einen die lustigen „Matte" am
letzten Faschingssonntag im Cafe verleiten, mit ihnen auf dem Billard umher-
zutcmzen, oder ob nur die bedienende Hofbrüuhanskellnerin — ein wahres
Brauerpferd in Weibsgestalt — einem ihre Lebensgeschichte erzählt, dabei
herzhaft einen Zug aus dem Maßkrug tut, den sie eben gebracht hat, und sich
unter einem biedern „Gelts Gott!" den Mund wischt. Überall sprudelt die
ungebrochne, unverdorbne Welt- und Lebensfreude, die Lust am Fabulieren
hervor, die sich den grauen Alltag auf ihre Weise zu vergolden sucht in dem
Sonnenschein eines heitern Gemütshimmels. ..Nun, Habens sich gut unter,
halten?" fragt der Münchner da, wo wir etwas blasierter fragen würden:
.Haben Sie sich gut amüsiert?"
Mau kann an München nicht zurückdenken, ohne den poesievollen Zauber
zu empfinden, den das Ewig-Weibliche in blühenden Ranken um das Jünglings¬
herz gezogen hat. Man braucht nicht gleich an das häßliche Wort „Verhältnis"
zu denken, wenn man von einer anderwärts verachteten, aber in Süddeutsch¬
land und besonders in München gar nicht wegzudenkenden Menschenklasse
spricht, von den Kellnerinnen. Sie verdienen es, wenn man ihrer gedenkt,
die kleinen flinken Gestalten im schwarzen Rock mit weißer Schürze davor, die
mit den gefüllten Tellern oder der vernickelten Kaffee- und Nahmkanne wie
kleine, junge Hausmütter dahinfliegen und doch immer Zeit haben , ihren
Gästen nicht nur das Beste auf der Speisekarte zu empfehlen, sondern meist
auch für sie ein freundliches Wort haben, das dem einsamen Junggesellen
wohl tut, ohne daß es irgendwelche Intimität bedeutete. Kommt man müde
von der Arbeit oder verdrießlich in sein Lokal, und kommt dann die Resi oder
die Zenzi hercmgeschwenzelt und erzählt einem etwas Drolliges von ihrem
letzten „Ausgang" oder bringt einem einen Brief oder ein Billett von einem
Bekannten, erkundigt sich wohl auch nebenbei, warum man so „garschtig" aus¬
sehe, und eröffnet einem dann, daß es heute Spützel- oder Leberknödelsuppe
oder ein andres Lieblingsgericht gebe, so muß das auf jeden, der nicht ganz
Menschen- und Weiberfeind geworden ist, erfrischend und befreiend wirken.
Und sah man dann an ihrer Seite das wichtige Attribut der Geldtasche
baumeln, und ging der Monat zu Ende, so wußte man es besonders zu
schätzen, wenn man in ihrer Gunst war und auf ein Zupfen an dem Riemen
der Tasche nur ein verständnisvolles „Is scho recht" vernahm. Sie sind ja
auch so dankbar, die guten Geschöpfe, wenn man zu ihnen freundlich ist und
ihnen wohl mal ein paar „Blümerl" schenkt oder sie gar zum Spaziergang
einladet. Aber sie merken es wohl, wenn man sie nur dann kajouliert, wenn
man ihrer bedarf, wie es jener norddeutsche Student machte, der in den ersten
Tagen des Monats immer nur protzig „Zahlen!" rief, um die Mitte des
Monats schou höflicher: „Zenzi, zahlen!" und am Ende ganz kleinlaut nur
„Zenzi!"
Ja, und nicht nur bis zum Pumpen geht ihre Gutmütigkeit, sondern oft
noch viel weiter, viel tiefer, wenn das Herz ins Spiel kommt. Dann soll
es wirklich vorkommen, daß sie zu sorgenden Müttern und Schwestern werden,
die mit doppelt rührender Liebe alle ihre Ersparnisse dem Erwählten ihres
Herzens zuwenden, wenn er ein armer Student oder „Kunstmaler" ist, und
ihm treu zur Seite stehn, bis er soweit ist, daß er sie heimführt — oder sitzen
läßt. „Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn —!"
Doch da sind wir ans dem München der Bierphilister- und Kaffee¬
kellnerinnensphäre schon merklich hinübergeglitten in das neue der Unversitüts-
und Akademiesphäre.
München als Kunststadt! Auf dieses Kapitel hat gewiß schon mancher Leser
mit Ungeduld gewartet, weil es durch das, was Ruederer darüber sagt, beson¬
ders brennend geworden ist. Konnte ich nun auch die Tonart, in der er über
seine Vaterstadt spricht, nicht billigen, so bin ich doch in einem Punkte nicht
nur einig mit ihm, sondern bin ihm sogar darin längst zuvorgekommen, wenn
ich meine Meinung auch nur privatim geäußert hatte, nämlich darin, daß
München keine Kunststadt ist wie Rom oder Paris. Ich erinnere mich noch
deutlich der Enttäuschung, die ich erlebte, als ich vor dreizehn Jahren zuerst
nach München kam. Ich kannte damals nur Berlin und glaubte nun in ein
deutsches Florenz zu kommen. Kunststadt! Was sollte ich mir auch anders
darunter vorstellen, also eine Stadt, in der die Kunst in der äußern Erschei¬
nung und innern Anschauung ihrer Bürger gleichsam verkörpert vor einem
steht, denen sie so in Fleisch und Blut übergegangen ist, daß sie gar nicht
anders können als sich künstlerisch geben und künstlerisch empfinden. Und nun
fiel ich einem Hofbräuhüusler in die Hände, der mit mir so über Kunst sprach,
daß ich das Gefühl hatte, als sei ein Elefant in ein Atelier eingebrochen. Das
war die erste Enttäuschung. Und die zweite war die, daß mir die Stadt bei
dem ersten Rundgang einen recht nüchternen Eindruck machte und nichts weniger
als Kunst zu verkörpern schien. Am schwersten lagen mir die Ludwigstraße
und die Pinakotheken im Magen, ich meine mit ihrer äußern Form, ihrer
Stillosigkeit. Wenn ich von zwei Plätzen absah, dem Königsplatz und dem
Marienplatz, die mir wirklich ein künstlerisch organisches Bild darstellten, so
machte mir alles andre einen ganz zufällig zusammengewürfelten Eindruck, ein
Spiegelbild der organischen Entstehung der das Stadtbild ausmachenden
Monumentalbauten; die Ludwigstraße mit ihren florentinisch-romanischen Front¬
seiten und dem römischen Abschluß des Siegestores macht einen etwas frostigen,
mehr italienischen als deutschen Eindruck, der noch durch das völlige Fehlen
von Baumschmuck verstärkt wird. In dieser Hinsicht wirkt die Maximilian¬
straße, besonders in ihrem letzten platzartigen Teile mit dem zwar allzu kulissen¬
artigen, aber doch imposanten Monumentalbau des Maximilianeums und dem
dazwischen majestätisch dahinrauschenden Strome wohltuender und erfrischender,
auch wenn man nicht wüßte, daß sich an diese Straße das Hofbräuhaus an¬
schließt. Jedenfalls sind das die beiden Straßen, die das offizielle München
verkörpern, wie die Neuhauser-. Kaufinger- und Sendlingerstraße das alte
bürgerliche München. Der Glanzpunkt jenes ist der Königsplatz, der des bürger¬
lichen der Marienplatz. München zeigt eben wie jede Königs- und Residenzstadt
in ihrer Entwicklung einen dualistischen Charakter, die beiden sozialen Hemi¬
sphären ergänzen sich wohl, aber sie durchdringen sich nicht, weil sie zu verschieden
Ursprungs sind. Was München seiner kleinbürgerlichen Schicht verdankt, ist
seine herzliche, demokratische Gemütlichkeit, seine derbe Lebenslust, aber auch
seine etwas philiströse Beschränktheit. Was es seiner höfisch-offiziellen Schuhe
verdankt, ist seine Kunstpflege, sein geistiges Leben, sein aristokratisches Kosmo-
Politentum. Das gibt denn freilich zwei Welten, die sich manchmal feindlich
oder doch fremd gegenüberstelln müssen wie Gemüt und Geist. Ruederer gehört
dem geistigen München an, darum kann er dem gemütlichen München nicht
gerecht werden und macht es zur Karikatur. Ältere Beurteiler, wie W. A. Riehl,
lassen die Kunst in München aus dem Volksboden hervorwachsen, was
auch nicht richtig ist. Wäre es richtig, so hätten die Münchner die von Kömg
Max ins Land berufnen Dichter und Gelehrten nicht so scheel angesehen und
als „Nordlichter!" verspottet — noch jetzt sind die meisten Professoren der
Münchner Universität Nichtbayern! —, so hätten sie ferner nicht den kunst-
crzieherischen Ideen Richard Wagners und ihres königlichen Wortführers — von
den luxuriösen und nutzlosen Schloßbauten spreche ich hier nicht — solchen Wider¬
stand entgegensetzen können.'
^Nein. eine Kunststadt ^bürgerlichen'Sinne ist München nicht, eine solche
haben wir ja leider Gottes im modernen Deutschland überhaupt nicht, weil
die Quellen unsrer alten bürgerlichen Kultur verschüttet sind und damit auch
die einer wahrhaft künstlerischen Kultur. Oder man nenne mir den Münchner
Brauereibesitzer, der seiner Stadt ein Museum geschenkt hätte, wie es der Kopen-
hagner Brauer Jakobsen getan hat! Denn die Brauer, nicht die paar Künstler
und Dichter, sind das im Münchner Bürgertum tonangebende und kapital¬
kräftige Element, wie es in Leipzig die Buchhändler sind. Aber noch können
die Münchner Brauer von den Leipziger Buchhändlern viel lernen, was Gemein¬
sinn und Opferfreudigkeit bedeutet. Hier zeigt sich wieder die bäuerliche Grund¬
lage Münchens; denn der Bauer ist von Natur selbstsüchtig und mißtrauisch
gegen soziale Neuerungen, und der oberbayrische ganz besonders gegen alle
idealen Bestrebungen. Wie soll da in seinem dicken Schädel Platz sein für
das Gedeihen der zarten Pflanze Kunst! Man könnte einwenden: Aber siehst
du denn nicht den hohen künstlerischen Sinn in den Schnitzereien und Malereien
des oberbayrischen Bauernhauses? Siehst du nicht die Arbeiten der Holz¬
schnitzer, nicht die Freude an theatralischer Volkskunst wie in Oberammergau?
Darauf erwidre ich: Gewiß kenne und liebe ich sie, aber das alles hat nichts
zu tun mit der Münchner Kunst des neunzehnten Jahrhunderts, dort haben
wir die handwerksmäßigen Ausläufer einer alten Bürgerkunft vor uns, hier
einen Ansatz zur Züchtung einer importierten klassizistischen, heroisch-historischen,
impressionistisch-modernen Jndividualkunst. Oder haben etwa Rottmann, Heß,
Klenze, Neureuther, Piloty, Lindenschmit u. a. an vorhandne volkstümlich¬
heimatliche Keime des Kunstlebens angeknüpft oder gar einer Heimatkunst zu¬
gestrebt? Ist nicht gerade die sogenannte Münchner Dichterschule gerade durch
das charakterisiert, was man Atelierkunst nennt? Und standen nicht die wenigen
echten Heimatdichter wie Stieler und Kobell außerhalb dieses Kreises? Nein,
die offizielle Architektur, Malerei und Poesie Münchens hat bis tief in die
zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hinein mit dem oberbayrischen
Volkstum und mit dem Münchner Bürgertum schlechterdings nichts zu tun. Es
war eine rein höfisch-aristokratisch-kosmopolitische Kultur, die unter Ludwig
dem Ersten und Max dem Zweiten gepflegt wurde, unvermittelt hineingepflanzt
in die damalige oberbayrische Landstadt. Mag auch das Bild, das Ruederer
von dem München vor hundert Jahren entwirft, etwas gar zu naturalistisch
gefärbt sein, sicher ist, daß es stellenweise noch lange recht ländlich aussah.
So wurde mir versichert, daß noch bis in die Mitte der sechziger Jahre um
die beiden Pinakotheken herum die Schafe weideten — ein charakteristisches
Sinnbild für das friedliche Nebeneinander des bäuerlichen und des höfisch¬
künstlerischen München. Konnte man erwarten, daß sich das provinzielle
Münchner Bürgertum, das selber keine alte Vergangenheit hatte wie das
Nürnberger und das Augsburger und deshalb auch kein kunstsinniges und
kaufkräftiges Patriziertum, nun sogleich für diese ihm völlig fremde Kultur¬
welt erwärmen würde? Wo sollte denn auch das Publikum dazu herkommen?
Einen Fremdenverkehr gab es damals noch nicht, was von Fremden herein¬
kam, das kam nicht von Norden, sondern von Süden und bestand aus Getreide-
dauern. Viehhändlern und Flößern. Darum herrschte auch in dem „vormärz¬
lichen" München bei weitem nicht jenes angeregte geistig-gesellige Leben wie
in dem vormärzlichen Berlin. Was dieses schon in den dreißiger Jahren
hatte, kam nach München erst in den fünfziger Jahren durch jene von Konig
Max berufnen Gelehrten und Dichter, von denen heute allem noch Paul
Heyse übrig ist. Sie haben das Verdienst, München in engere Fühlung mit
dem übrigen Deutschland gebracht zu haben, wenn auch von ehren keiner
wirklich volkstümlich geworden ist, es auch nicht werden konnte bei dem werten
Abstand des beiderseitigen Kulturmilieus und bei der ausgesprochnen Abneigung
des Münchners gegen allen Personenkultus, soweit es sich besonders um
offiziell anerkannte Größen handelt. Hierin ist er der echte Demokrat und
steht in scharfem Gegensatz besonders zu dem Berliner, der sich an großen
Berühmtheiten geradezu berauscht. Treffend heißt es in einer Schilderung
der literarischen Geselligkeit im alten München: ..Von Zelebritätenkultus war
dabei nicht entfernt die Rede: derselbe gedeiht überhaupt nicht auf dem
Münchner Boden, und das ist. bis auf den heutigen Tag. eine der besten
Eigentümlichkeiten der alten Jsarstadt. Malen, Dichte,: und Wissenschaft
treiben kann hier jeder. »Wenns ihn freut«, aber auf Kultus hat er nicht zu
rechnen, und gesellschaftliche Stellung verleiht viel mehr die Persönlichkeit als
die Zelebrität."*) Man könnte hinzufügen: Besonders wenn es sich um ein¬
heimische Persönlichkeiten handelt. Jeder, der länger in München geweilt hat,
kennt den inzwischen verstorbnen „Papa Geis", jenen echt Münchner Humoristen,
der so populär bei Jung und Alt ist. daß, als ein Lehrer in der Schule den Satz
diktierte: „Die Stimme des Papageis ist heiser", mehrere Schüler schrieben: „Tue
Stimme des Papa Geis ist heiser." Und diese Popularität zeigte sich handgreif¬
lich bei einer festlichen Veranstaltung, der ich zufällig beiwohnte, und für die
„Papa Geis" seine Mitwirkung zugesagt hatte. Da konnte man sehen, welcher
Begeisterung der Münchner fähig ist, wenn es darauf ankommt, einen von
den Seinen zu feiern. Ein Jubel brach aus. als der wohlbeleibte, einem
katholischen Landpfarrer ähnliche alte Herr in den Saal trat. Alles erhob
sich von den Plätzen, und viele drängten sich heran, ihm die Hand entgegen¬
streckend und rufend: „Guten Abend, Papa Geis!" Der aber bahnte sich
schmunzelnd und händeschüttelnd einen Weg durch die Menge. Der Vorfall
ist äußerst charakteristisch dafür, was der Münchner hochschützt. Irgendeinem
noch so großen Dichter wäre eine solche Ovation schwerlich dargebracht worden.
Es muß jemand sein, der den Münchner da zu packen weiß, wo er in seiner
Tüchtigkeit zu finden ist, nämlich bei seinem herzbezwingendcn Humor. Auch
die Kunst muß dem Humor dienen, wenn sie dem Münchner ans Herz wachsen
soll; man denke an die früher so beliebten Münchner Bilderbogen, an die
Schnadahüpfln in der Poesie usw.
Aber nicht nur, weil ihm sein heimatliches Volkstum so teuer ist, liegt
dem Münchner die „hohe" Kunst fern, sondern auch, weil er ein Utilitarier
ist. Er fragt bei jeder Sache, was für einen Zweck sie hat. Und hierin
glaube ich auch den Grund zu sehen, warum sich gerade das Kunstgewerbe
in München so kräftig und frisch entwickelt hat: es entspricht offenbar nach
Ursprung und Zweck dem oberbayrischen Wesen mehr als die „voraussetzungs¬
lose" Kunst, und so erklärte es sich wohl, daß die „Kunst im Handwerk" in
München wirklich Wurzel gefaßt und den Geschmack auch der Menge geläutert
hat. Hier hat die Verbindung von Volkstum und künstlerischer Individualität
wirklich befruchtend gewirkt, und man braucht nur die Ausschmückung der
Innenräume in München und Berlin zu vergleichen, um zu verstehn, was
gemeint ist. Freilich mag hier auch das Vorbild Ludwigs des Zweiten mit
maßgebend gewesen sein.
Steht nun aber auch der Durchschnittsmünchner der eigentlichen künst¬
lerischen Phantasiewelt fern, so hat er doch Pietät genug, sie auf ihrer Höhe
stehn zu lassen. Und das unterscheidet ihn wieder vorteilhaft von dem Durch¬
schnittsberliner, der in einer Art satirischer Volksetymologie alle Kunstwerke
rücksichtslos in die Lauge seines platten Witzes taucht. Hier und da macht
sich ja auch der Münchner Volkswitz an den Denkmälern zu schaffen, aber
immer nur mit gutmütiger Harmlosigkeit, wie vor einigen Jahren an dem be¬
kannten „Brunnenbuberl" am Karlsplatz. Aber nie wird man bemerken, daß
man ein Kunstwerk zu einem Zerrbilde entstellt, um seinen Spott daran aus¬
zulassen. Mag das auch nicht auf wirklicher Verehrung der Kunst als solcher
beruhen, so doch sicherlich darauf, daß der Müncher als Katholik schon durch
seine Kirche eine festere Fühlung mit der Kunst hat, weil jene sie mit einer
gewissen Weihe umgibt. Auch ist er viel zu wenig Rationalist, als daß er an
bloßem Regieren und Nörgeln sein Genüge finden könnte. Er tritt mit einem
gesunden Gefühl an die Kunst heran, mag es auch noch so hausbacken sein,
und von hier aus ist es zu wahrer Kunsterziehung sicher ein weniger weiter
Weg, als durch das seichte Geplätscher des leichtfertigen Spöttelns und des
geistreichelnden Spielens.
In diesen Ton aber — und damit kommen wir zum Schluß — ist leider
Ruederer nur zu sehr verfallen. In seinem Buch steht so gar nichts von
dem, was des Münchners Stärke bildet, vom Erfassen einer Sache mit dem
vollen, unverbildeten Gefühl. Ruederer mag ein Münchner sein, aber dann
sicher ein sehr aus der Art geschlagner. Wer dem München gerecht werden
will, muß ihm zunächst ins Herz sehen können. Mit dem brennenden Eisen
der Satire aber kann man diesem feinen Organ nicht beikommen. Da zieht
es sich zuckend zusammen. Das ist das eine, was Ruederer verkannt hat, das
Psychologische. Und das andre ist, daß er den Münchner einseitig vom Standpunkt
des modernen Literaten und Ästheten betrachtet und das starke Herzenselement
in ihm völlig übersieht. Er gibt uns nur die eine Hälfte, und die andre
sieht er auch aus dem Gesichtswinkel jener. Wer aber ein plastisches Kunst¬
werk ganz und rein genießen will, muß um dasselbe rund herumgehn. Dieses
elementare ästhetische Gesetz hat Ruederer der Kunststadt München gegenüber
nicht befolgt, an seinem Buche hat weder die Phantasie (die Phantastik ist
keine solche) noch das Herz mitgearbeitet, sondern nur der kapriziöse Literaten-
verstand. Es weht in den Seiten seines Buches etwas wie Berliner Luft und
so gar nichts von der Luft, die uns aus den instinktiv erfaßten Versen eines
echten Münchners entgegenweht, wenn er von seiner Heimatstadt sagt:
Es ist was in ihr, das ganz eigen ist,
Wer sie verläßt, der muß an Heimweh sterben!
err Külpe wohnt am Schwanenweg in einer kleinen häßlichen Mansarde.
Die Häuser sind hier alle häßlich und alt; die Treppen wacklig, die
Luft schlecht. Aber ich finde mich nach oben, wo eine Visitenkarte
mir die richtige Tür zeigt, und eine barsche Stimme auf mein leises
Klopfen „Herein" schreit.
Durch Tabakswolken sehe ich ein Männchen im Schlafrock, das
vet meinem Anblick entsetzt vom Sofa in die Höhe springt.
Was wünschen Sie?
^es heiße Frau Weinberg und möchte Sie wegen meines Sohnes Harald
sprechen Ist ^ wirklich so unbegabt?
schlotternd steht das Männchen vor mir, und ich sehe zu meinem Entsetzen,
van er unter dem Schlafrock sehr, sehr leicht bekleidet ist. Nun wende ich mich zur
Unehe. Wie ich glücklich wieder vor der Tür bin, rufe ich durchs Schlüsselloch:
Können Sie mich nicht einmal besuchen?
Unten angelangt, sehe ich noch der Uhr. Es ist zwölf Uhr mittags. Braucht
s angezogen auf dem Sofa zu liegen und Herein zu rufen? Weil
l?« »s/ - °^ im Schwanenweg war, bin ich ihn ganz entlang gegangen.
i>n,^s^ r ^w"s holprige Straße, die sich am Berg entlang zieht. Ob hier
»an ^< 6^°"se haben, erscheint mir mehr als zweifelhaft. Es gingen aber
ein ^ ^ Menschen auf der Straße, und dann sah ich ein Haus vor mir. das
1?"°.''Privatklinik" trug und darunter den Namen F.Roland, Dr. usee.
s-i» A>« "es blieb ich stehn und sah in die verhängten Fenster. Wird er hier
Da faßte mich eine kleine Hand am Kleid.
AMst du jetzt zu Papa? Er hat eine Operation und ist nicht zu sprechen.
strusM, ' HMches. schlechtgekleidetes Mädchen stand vor mir. Sie hatte
M ""b Wasser und Seife schienen bet ihr zu fehlen.
bist du? erkundigte ich mich, obgleich ich mir die Antwort denken konnte,
litth?/-?. Minchen Roland, und ich wartete auf Linchen und Stinchen. Wir
^ er Zwei Groschen geschenkt bekommen und wollen uns was dafür kaufen!
Wer schenkt dir denn zwei Groschen? wollte ich fragen. Da aber kamen zwei
kleinere, ebenso haßliche und ebenso verwahrlost gekleidete Mädels über die Straße
gelaufen.
Nun wollen wir gehn! kommandierte Minchen. Linchen, du hältst meine linke,
und Sekunden kann meine rechte Hand halten.
Eilig wollte die kleine Gesellschaft davonziehen; aber ich ging mit ihnen.
Wohin wollt ihr denn?
Zum Krämer an der Ecke, der gibt am meisten.
Und dann, wohin gehst du dann?
Wir wissen »och nicht: zu Hause wird operiert. Mama hat uns doch die zwei
Groschen gegeben, damit wir aus der Luft sind. Sie kann nicht auf uns achten,
und Frau Päpke muß alles kochen. Für uns ist niemand da.
Das war wieder Minchen, die die Unterhaltung machte. Sie hat verständige
Augen und eine etwas altkluge Sprache.
Ich sah mir die drei kleinen Dinger an; und dann gedachte ich der Zeiten,
wo auch ich allein durch fremde Straßen wanderte. Da war es eine Frau Roland,
die mich gütig aufnahm, die Großmutter dieser Kinder. Also brachte ich mir diese
drei Mädelchens mit nach Hause.
Die Weihnachtszeit kommt sehr nahe, und die kleinen Rolands beginnen ihre
Weihnachtslieder zu singen. Es ist natürlich Minchen, die den Befehl des Singens
ausgegeben hat, und sie gehorchen ihr alle. Auch mein großer Junge, der sich
schon lange darein gefunden hat, daß drei kleine Mädchen jeden Tag mit seinen
Spielsachen hantieren und ihm auch schon manches verdorben haben, obgleich Minchen
sehr sorgsam ist, und wenn eine Operation notwendig sein sollte, sie ohne Zagen
und sachgemäß ausführt. Sie ist ein echtes Doktorkind. Alles möchte sie heilen und
flicken, und sie macht ihre Sache wirklich nicht schlecht. Die drei Rolands Verkehren
schon mehrere Wochen in unserm Hause, wie unsre eignen Kinder, sie kommen zu
allen Mahlzeiten, wenn es ihnen einfällt, sie bringen mir ihre zerrißnen Kleider
und verlangen meinen Rat in den delikatesten Fragen; und noch niemals ist es
ihrer Mutter eingefallen, mir ein Wort darüber zu sagen. Ich habe ihr einen
Gegenbesuch gemacht, bin aber nicht angenommen worden, und auch Fred ist noch
mit keinem Schritt in unserm Hause gewesen. Ihn entschuldige ich; er hat sehr
viel zu tun, von allen Seiten laufen ihm die Kranken zu; er soll eine unfehlbar
sichre Diagnose haben und mit geringen Mitteln viel ausrichten. Dazu hat er mit
mancherlei Anfechtungen zu kämpfen. Zuerst haben ihn die hiesigen Mediziner
ganz freundlich aufgenommen; aber wie sie nun merken, daß nicht allein die ein¬
fachen Leute vom Lande zu ihm kommen, sondern auch vornehme Herrschaften (der
Fürst Monreal ist nur seinetwegen auf sein kleines Rnubschloß in unsre Nähe ge¬
zogen), seit der Zeit werden unsre vornehmen Professoren sehr kühl gegen Roland.
Sie nennen ihn den Doktor Eisenbart und lachen bald lant, bald leise über ihn.
Walter hats mir erzählt. Auf den Wandelgängen der ^.una. ing-ehr wird
gelegentlich auch über andre Dinge geredet als über die hehre Wissenschaft, und
Walter könnte mir sicherlich noch viel mehr berichten, wenn er nur besser aufmerken
wollte; aber er denkt nur noch an seine Vorträge. Einen hat er schon in den fünf
süddeutschen Städten gehalten und sehr viel Anerkennung gefunden. Er kam be¬
geistert zurück, aber auch recht müde. Er lacht zwar, wenn ich es sage, aber ich
kenne ihn doch besser als er sich selbst. Deshalb habe ich auch eine weitere Auf¬
führung bei Rektors, wo ich wieder spielen sollte, dankend abgelehnt. Ich weiß,
daß Walter mir diese kleinen Freuden von Herzen gönnt; mir gefällt aber im ganzen
doch besser, wenn ich bei mir zu Hause bleiben kann bei meinem Jungen und bei
meinem Manne, der für mich nur liebevolle Worte hat.
Harald hat sich etwas im Arbeiten gebessert. Herr Külpe ist wahrhaftig ba d
nach meinem Besuche bei mir erschienen: ein noch sehr junger Mer,es mit sehr
verlegner Manieren. Harald denkt an zu viel andres, sagt er, an Vögel und Hunde
und an andre Spielereien statt an Latein.
Ist es unrecht, an Vögel und Hunde zu denken? fragte ich. Ich habe immer
viel lieber an derartige Dinge gedacht als ans Lernen!
Herr Külpe lächelte und wurde rot.
Vielleicht haben Sie dann auch schlecht gelernt, gnädige Frau! stotterte er.
Ich mußte seufzen. Ja. mein Lernen war niemals berühmt. Als ich Nein war.
quälte mich der Gedanke. Gouvernante werden zu sollen. Es war Bernb Falkenberg
der mir als freundlicher Vetter diese Laufbahn in Aussicht stellte. Es ist me sowei
gekommen, und ich muß alle Kiuder glücklich preisen, die nicht von mir unterrichtet
sind. Dennoch mag ich Herrn Külpes Autwort nicht besonders gern hören. Aber
er sieht mich dabei so treuherzig und so grenzenlos verlege» an, daß ich ihm nicht
böse sein will. '
^„
Gelegentlich ist Harald nicht mehrso sehr zerstreut. Er arbeitet vernünftig,
und seine Zensuren werden besser. Kommt es daher, daß Minchen Roland neben
ihm beim Lernen sitzt und sich seine Aufgaben vorsprechen läßt? Sie kann noch
nicht ordentlich lesen, aber sie behält alles, was man ihr vorspricht, und es macht
Harald Spaß, sie das, was er ihr sagt, wie einen Papagei abschnurren zu hören.
Es sind wunderliche Kinder, diese kleinen Rolands. Meist kommen sie gegen
vier Uhr nachmittags zu uns. Zur Kaffeestunde, wenn Harald seinen Becher Milch
trinkt, mit einem Schuß Braunes darin; dann werden noch weitere drei Becher mit
demselben Inhalt ausgeteilt, einige Brote mit Honig bestrichen, und dann wird unser
kleines Eßzimmer sehr behaglich. Der grüne Kachelofen strahlt eine nutte Warme
aus. die Lampe brennt, und die Kinder erzählen sich Geschichten. Machen weiß
natürlich die besten. Sie ist den ganzen Tag in der Klinik, hat die Augen weit
offen und sieht mehr als andre Sterbliche.
.5erGestern ist einer bei uns totgeblieben, berichtet sie mit ihrer sehr schrillen
Stimme. Er kam viel zu spät; dann kann auch mein Papa nicht mehr helfen.
War es ein Mann oder eine Frau? erkundigte sich Harald.
Eine Frau. Nachher kamen zwei Jungen und weinten ganz schrecklich, ^e
sagten, ihre Mutter sollte wieder lebendig werden. Aber das geht nicht. Was tot
ist. das ist tot.
,^Mich überlief ein kleiner Schauder bei diesen kalten Worten; aber Harald
nickte verständnisvoll.
Was tot ist. das ist tot.
^^..Beide Kinder sprachen dann von andern Dingen, und Linchen und Stunden.
die Trabanten ihrer ältern Schwester, tranken behaglich ihre Milch. Sie dürfen
eigentlich niemals etwas sagen, und sie verlangen es auch nicht. Sie sind zufrieden
mit dem zuhörenden Teil, mit ihrer Milch, ihrem Honigbrot. Wer doch auch so
sein könnte. Es ist mir so, als wäre ich niemals mit Milch und Homgbrot zu¬
frieden gewesen.
^^Nun also steht Weihnachten vor der Tür, und die Kinder singen ihre Lieder.
Harald hat hundert Wünsche, und auch Minchen weiß genau, was sie haben mochte.
Aber ich werde es niemals kriegen, sagte sie in einem Ton der Ergebung, der für
em so junges Kind etwas Rührendes hat. Auf meine Frage: Was ist es denn--
lautete die Antwort: Ein kleines Operationsbesteck.
Ich bin sehr erstaunt, Harald lacht, und Minchen verteidigt sich. So ein kleines
Ding ist gar nicht so furchtbar teuer, und dann könnte ich doch Papa helfen. Er
sagt so oft: Wieder kein Mensch, der mir helfen kann! Ach über die vielen Frauen¬
zimmer! Hätte ich doch einen einzigen Jungen! Frau Päpke sagt, daß ich niemals
mehr ein Junge werden kann, aber ich möchte ihm doch helfen.
Und die Kleine sieht mit ihren etwas hervortretenden Augen sehnsüchtig in das
Lampenlicht. Zum Glück hat sie nicht lange diese Anwandlung: bald läßt sie sich
von Harald aufziehn, oder bittet mich um ein Märchen, aber um ein wahres, und
unser Beisammensein verläuft harmonisch wie immer. Aber Harald ist doch zu groß,
als daß er nicht seine eignen Gedanken hätte, und er spricht sie mir in der stillen
Stunde aus, wo ich vor seinem Bette sitze und auf sein Abendgebet warte. Minchen
und die andern Gören sind ja ganz nett, Mutterlieb, aber findest du es nicht
komisch, wie ihre Mutter mit ihnen ist? Sie bringt sie nie zu Bett oder betet mit
ihnen, und sie läßt sie immer laufen, wenn sie wollen. Sie ist schon immer etwas
merkwürdig gewesen, aber hier ist es viel schlimmer geworden.
Frau Roland wird hier wohl recht viel zu tun haben, erwidere ich, und mein
Junge nickt. Na natürlich, der Doktor hat ja sehr viel zu tun, und seine Frau muß
alles anschreiben; aber etwas Zeit dürfte sie doch auch für ihre Kinder haben. Sie
können doch nichts dafür, daß sie alle drei Mädchen sind. Du solltest nur einmal
mit Frau Doktor sprechen. Du verstehst so etwas so gut.
Diese Anerkennung meines Sohnes quittiere ich mit einem Kuß, aber erkläre,
daß ich mich auf nichts einlassen kann.
Walter tun die kleinen Mädchen auch leid. Er sagt ihnen immer ein freund-
liches Wort, wenn er ihnen begegnet; im übrigen ist er ganz wie ich gesonnen: wir
wollen die Kleinen wohl bei uns aufnehmen und gut gegen sie sein, aber um ihre
innern Angelegenheiten dürfen wir uns nicht bekümmern. Doktor Roland macht sonst
gerade um diese Zeit viel von sich reden. Auf der Universitätsklinik haben sie kürzlich
eiuen armen Kranken als gänzlich unden- und unoperierbar weggeschickt. Seine Frau
brachte ihn zu Doktor Roland, und dieser hat ihn in kurzer Zeit ohne Operation
geheilt. Die Sache hat viel Aussehn erregt. Die Zeitungen haben sich ihrer be¬
mächtigt, und man sagt, daß hier auf dem Bahnhof täglich Kranke ankommen, die
nach Doktor Roland fragen. Jedenfalls hat er ein Nebelthaus gemietet, das hart
an das seine stößt, und soll dort auch schon Kranke aufnehmen. Kürzlich besuchte
mich der kleine Privatdozent, mit dem ich Theater spielen mußte, und dieser berichtete
mir, daß der Geheime Medizinalrat, unser Rektor, recht böse wäre. Zwei Amerikaner
sollen auch bereits zur Kur bei dem neuen Eisenbart eingetroffen sein.
Der Geheimrat ist doch so überlastet, meinte ich, da wird ihm eine kleine Ab¬
lenkung von seiner Klinik sehr angenehm sein.
Aber mein Besucher schüttelte den Kopf.
Doktor Roland wird nicht wieder eingeladen, sagte er mit einer so gewichtigen
Miene, daß ich Mühe hatte, ernst zu bleiben.
Mir ist sonst nicht so sehr nach Lachen zumute. Erstens macht Walter mir
Sorge, der trübe aus den Augen sieht und gelegentlich reizbar wird, und dann
wills mit Harald nicht vorwärts mit dem Latein. Alles andre ginge schon, aber beim
Latein kann Minchen ihm nicht helfen. Es wird also Weihnacht ein mangelhaftes
Zeugnis geben, und wenn dies mir auch nicht so wichtig ist, so wird es dem armen
Walter die Freude verderben.
Nun, ich muß die Sorgen zu vergessen suchen und daran denken, was ich
meiner Frau Bäckermeisterin schenken will. Harald und ich haben uns den Kopf
zerbrochen, bis ich in einer Kunsthandlung einen schönen Buntdruck von der
sixtinischen Madonna gefunden habe. Der ist denn jetzt nach Virneburg zu der
gütigen Frau gewandert, an die ich mit soviel Liebe denke, und ich hoffe, sie wird
sich freuen.
Ich wenigstens würde es tun, sagte Harald. Besonders da das Geschenk von
dir kommt, du bist doch eine so reizende Frau.
Wir gingen zusammen auf der Straße, und ich blieb stehn, um meinen Jungen
betroffen anzublicken.
Woher hast du solchen Unsinn?
Es ist kein Unsinn, erwiderte Harald trotzig. Die Jungen in der Klasse
sagen alle, daß du reizend bist, und der Lohndiener, der damals bei Rektors auf¬
wartete, als du dort Theater spieltest, hat es auch gemeint.
Ich lachte ein wenig, aber nicht sehr viel, und ich halte meinem Sohne eine
Vorlesung darüber, daß es nicht notwendig ist, von seiner Mutter in der Schule
und mit Lohndienern zu sprechen. Aber der Sohn des Lohndieners besucht mit
Harald dieselbe Klasse, und deshalb erfahre ich dies günstige Urteil.
Der Junge spricht auch bald von der Bäckermeisterin. Wie sie das Bild auf¬
nehmen, und wohin sie es hängen will. Und wann wir selbst wieder nach Virne¬
burg fahren werden.
Dort hats mir gefallen! sagt er mit einem Seufzer. Weißt du, Mutterlieb,
wenns mir ganz schlecht ergeht, dann will ich mich in Virneburg zur Ruhe setzen.
Ich muß über sein ernstes Gesicht lächeln, und dann sprechen wir von
Weihnachten
Nun ist das Fest schon wieder vorübergerauscht, und ich freue mich darüber,
wie ich mich jedesmal so sehr, wenn es kommen soll, freue. Aber die Vorfreuden
im Leben sind wohl immer die besten, und wenn man mitten in der Freude stehn
sollte, dann kommt allemal ein bittrer Nachgeschmack. Diesesmal ist er eigentlich
ausgeblieben, obgleich es mir hart war, daß der Junge kein gutes Zeugnis hatte,
und daß mein armer Walter so traurige Augen machte. Aber mein Mann wollte
mir nicht die Festfreude verderben, und ich tat, als wäre sie mir nicht verdorben.
Und gerade als unser Baum mit seinen vielen Lichtern brannte, da öffnete sich
die Tür, und die drei Rolands traten ein. Ohne Feiertagsgewand, und ohne alle
Umstände. Bei ihnen sollte erst morgen gefeiert werden, da konnten sie also heute
zu uns kommen. Sie wanderten um den Lichterbaum, betrachteten ihn mit kritischen
Blicken und falteten ihre Heerde, als Harald sein Weihnachtslied deklamierte. Und
dann sagte Minchen etwas ganz ähnliches her; wer es sie gelehrt hatte, wußte sie
nicht mehr, aber sie konnte es. Und dann kam die Reihe an mich, und ich mußte,
auf allgemeines Verlangen, etwas aus meinem Leben erzählen. Kein Märchen,
sondern etwas Wahres, wie mir geboten wurde, und mein Sohn Harald schlug
vor, daß ich berichten solle, wie ich ins Wasser gefallen, aber wieder heraus¬
gezogen worden wäre.
Da erzählte ich also, während sich die kleine Schar schweigend um mich
herum setzte.
Ja, liebe Kinder, ich bin auch einmal ein Kind gewesen, obgleich ihr euch
dieses gewiß nicht denken könnt; aber es ist doch wahr. Und als ich ein Kind
war, da wünschte ich mir zum Weihnachtsfest glühend ein paar Schlittschuhe, denn
unsre kleine Stadt lag hart an einem großen See, und wenn der Winter kam,
dann war der ganze See eine glitzernde Eisfläche, und alle Knaben und Mädchen
glitten darauf umher, daß es eine Lust war, anzusehen. Aber als das Weihnachts¬
fest kam, erhielt ich keine Schlittschuhe. Das betrübte mich tief, denn ich hatte mir
das Eisläufer von einem Jungen zeigen lassen und konnte es schon ganz gut.
Meine Kunst half mir aber nichts, denn die Schlittschuhe blieben aus. Ich war
sehr niedergeschlagen, wie ihr denken könnt, und ich hatte auch keinen Menschen,
den ich fragen konnte, was ich nun anfangen sollte. Da verfiel ich auf den un¬
glücklichen Gedanken, mir ein paar Schlittschuhe auf Borg zu nehmen. So etwas
darf ein gutes Kind nun niemals tun, und ich wurde auch sehr bestraft für meine
Sünde. Denn, eines Tags, als es schon zu tauen begann, ich aber auf meinen
unrecht erworbnen Schuhen weithin über die Eisfläche glitt, da geriet ich in das
Gebiet der grauen Schwäne. Die wohnten ganz hinten am See, dort wo es
nur Schilf und auch wohl warme Quellen gab, die das Wasser am Gefrieren
hinderten. Hier auf dem morschen Eis brach ich ein und wäre ganz sicher er¬
trunken, wenn —
Wenn unser Papa dich nicht rausgezogen hätte! setzte Minchens schrille kleine
Stimme hinzu. Ja, die Geschichte kenne ich, denn Mama hat sie uns auch er¬
zählt. Und sie sagt, daß du gern tüchtig auf uns acht geben kannst, weil du
doch nicht mehr leben würdest, wenn mein Papa nicht gewesen wäre. Aber es
ist sehr schön, daß du noch lebst, Tante Arrete! Und die Kleine streichelte meine
Hände und sah mich so treuherzig an, daß sich mein Staunen in Lachen auflöste.
Die Moral von meiner Geschichte ist ja nicht so ausgefallen, wie ich mir das ge¬
dacht habe. Ich wollte den Kindern einbleuen, daß man keine Schulden machen
soll; aber Minchen zeigte mir, daß ich noch ganz andre Schulden gemacht hatte.
Zugleich mußte ich lernen, daß es Frau Doktor Roland nur natürlich findet, wenn
ich ihr die Sorge für ihre Kinder abnehme. Eigentlich möchte ich einmal mit Fred
Roland über diese Angelegenheit sprechen, aber er ist noch immer nicht bei mir
gewesen
Das war die Episode des Weihnachtsabends, dem einige ruhige Tage folgten,
und gleich nach Neujahr hielt ein kleiner flinker Schlitten vor unserm Hause und
brachte mich aufs Land. Bodild führte selbst die Zügel, und hinter uns saß ein
alter Kutscher mit langem Bart und einem Gesicht, als wäre er taub.
Endlich sehen wir uns doch einmal allein! sagte Bodild, als wir durch die
Stadt gefahren waren, und es langsam bergauf ging. Ich habe dich schon lange
besuchen wollen, aber mein Mann verlangt meine unausgesetzte Gesellschaft und
Pflege. Da gibt es für mich nicht viel freie Stunden.
Sie schwieg, und ich sah mich in der Landschaft um. Es war hier draußen
mehr Schnee gefallen als in der Stadt, alles war weiß und rein und geheimnis¬
voll. Am Wege standen einige Tannen, die sich unter dem Schnee beugten, und
wie wir jetzt in einen kleinen Wald bogen, lag auch hier der Weiße Friede.
Bodild begann von neuem zu sprechen.
Du erwiderst mir nichts, Anneli, und ich weiß wohl warum. Du wunderst
dich, daß ich mein junges Leben an einen alten Mann gehängt habe, und manchmal
wundre ich mich selbst darüber. Aber Manfred ist sehr gut zu mir, und er weiß,
daß ich ihn nicht über alle Maßen lieben kann. Das verlangt er auch nicht, er
hat ein langes, ereignisreiches Leben hinter sich, er will seine Ruhe und Pflege
haben.
Du bist ja auch Fürstin geworden, sagte ich unwillkürlich und erschrak gleich
über diese taktlose Bemerkung. Bodild nahm sie ruhig auf.
Ja, ich habe mir einen vornehmen Namen erheiratet, und ich kann nicht
leugnen, daß ich Wert darauf lege. Ich bin nun einmal aus vornehmem Hause,
und es reizte mich nicht, ewig bei Hofe knicksen zu müssen und in dem nichtigen
Kleinkram aufzugehn, der mich in dem kleinen Witwenhause unsrer Familie er¬
wartete. Mein Vater ist ja lange tot, mein Bruder hat reich, aber nicht nach
unserm Geschmack geheiratet, und meine Mutter lebt viel bei meiner altern, ver¬
heirateten Schwester. Mir stand ein sehr einsames Leben bevor, und als Manfred
Monreal um meine Hand anhielt, habe ich sie ihm gegeben. Ich habe es nicht
bereut. Wie gesagt, ich habe meinen Mann zu Pflegen und ihm Gesellschaft zu
leisten, ich muß mich für seine Angelegenheiten interessieren und sie mit ihm besprechen,
ich habe Pflichten und Tätigkeit, mehr kann man nicht vom Leben verlangen.
Die Fürstin sprach sehr ruhig, und ich betrachtete sie von der Seite. Sie war
viel hübscher geworden, als ich mich ihrer erinnerte, und ihre einst so lustigen Augen
blickten kühl und ruhig. Sie sah sich plötzlich nach mir um.
Weshalb seufzest du so schwer?
Seufzte ich? Ich wußte es nicht, und meine Freundin betrachtete mich mit
dem gutmütigen Lächeln, das ich so genau an ihr kannte.
Ich fürchte, Anneli, daß du soeben über mich geseufzt hast, aber du hast es
wirklich nicht nötig. Ich bin mit meinem Lose zufrieden, gerade so wie du.
Allerdings, hätte ich einen Jungen wie du, würde ich wohl glücklicher sein. Man
darf aber nicht unbescheiden sein. Überhaupt — sie knotete an ihrem Zügel — keiner
von uns erhält das Glück, von dem er in seiner Jugend geträumt hat. Du
hattest doch auch nicht so brennende Lust, den Professor Weinberg zu heiraten.
Mir ist immer gewesen, als hättest du in dieser Beziehung einen andern Traum
gehabt, der dann ebenfalls nicht in Erfüllung gegangen ist. Du warst ja nie so
impulsiv wie ich, die ich mit meiner großen Liebe vor die ganze Welt hintrat
und sie an die große Glocke hängte. Weißt du uoch, wie ich deinen Onkel mit
meiner Liebe elendete? Es war gut, daß er mich von sich stieß, diese Sache
wäre niemals gut gegangen. Aber ich gehöre nun einmal zu den Asra, die nicht
gerade sterben, wenn sie lieben, aber die dann die Liebe als schlechtes Geschäft
fallen lassen.
Bodild sprach jetzt von andern Dingen, und ich freute mich an ihrer ruhigen
Nüchternheit, die für mich Wohl von jeher so viel Anziehendes hatte, weil sie mir
fremd ist. Und endlich kamen wir auf das kleine Schloß, das Monreals in diesem
Winter bewohnen. Es ist eine recht öde Spelunke, und ich freute mich, daß ich
dort nicht zu schlafen brauchte. Mich würden die Geister der alten, bärbeißigen
Ritter sicher nicht in Ruhe gelassen haben. Aber die Wohnräume waren behaglich
eingerichtet, und der Fürst legte Wert darauf, mir allerhand Waffen und Bilder
zu zeigen, die Walter sicherlich Freude machen würden, wenn er sie einmal besehen
darf. Der Fürst war übrigens sehr nett. Er ist ja alt und hat zittrige Hände,
aber er versteht es sehr gut zu unterhalten, und als er mich an die Tafel führte
— ich war allein zum frühen Mittagessen eingeladen —, da verging die Zeit sehr
schnell. Unter andern, erzählte mir Fürst Monreal, weshalb er seinen Winter¬
aufenthalt hier genommen hätte.
Einzig und allein des Doktor Rolands wegen. Er ist der einzige Arzt, der
mir bis dahin geholfen und der meinen Zustand richtig erkannt hat. Einmal in
der Woche fahre ich immer zu ihm, und einmal kommt er heraus. Sonst wären
wir natürlich in Thüringen geblieben, wo ich ein viel angenehmeres Besitztum habe
als diese kleine Burg. Aber die Gesundheit geht vor.
Der Fürst berichtete dann weiter, wie er Doktor Roland durch einen Zufall
kennen gelernt, und wie er ihm gleich einen so guten Eindruck gemacht, habe.
Er hat andre Methoden als5. die meisten Ärzte, fuhr er fort, und das ist
das Angenehme bei ihm. Mein alter Freund Baron Birkstein war dann so yn-
getan von ihm, daß er ihm die Mittel vorstreckte, aus den engen, kleinen Ver¬
hältnissen herauszukommen und etwas Selbständiges anzufangen. In Mrenbnrg
scheint es ihm mächtig zu glücken. Neulich hatten wir den Geheimen Medizinalrat
mit seiner Frau bei uns zu Tisch, da schalten sie sehr auf Roland. Das ist ein
gutes Zeichen.
Erinnerst du dich noch des Baron Birkstein? fragte Bodild. Damals als
wir in der Pension waren, verlor er doch gerade seinen einzigen Sohn. Jetzt ist
auch seine Schwiegertochter gestorben, und sie hat ihm den größten Teil ihres Ver¬
mögens vererbt, sodaß der alte Herr plötzlich ganz vermögend geworden ist. Aber
er hat niemand, dem er sein Geld vermachen kaun; nur einige entfernte Verwandte,
mit denen er sich niemals stand.
Ich denke mir, daß er Roland etwas vermachen wird, schob ihr Gemahl ein.
Er hatte einen großen Narren an ihm gefressen, und ich gönne dem Doktor ein
wenig Behagen. Seine Ehe scheint wenig erquicklich zu sein. Die Frau ist kränklich,
unordentlich und dazu entsetzlich eifersüchtig. Bei schönen Patientinnen wird sie
ihm sicher die Kur nicht erleichtern.
Bodild sah ihren Mann erstaunt an. Woher weißt du alle diese Einzelheiten?
Er lachte. Liebes Kind, ich fahre nicht ohne Nutzen einmal wöchentlich in
die Stadt und unterhalte mich mit dem Wärter, der mich massieren muß.
Nachmittags ließen mich Monreals wieder in die Stadt fahren, und ich kam
gerade rechtzeitig, um meinen Jungen zu Bett zu bringen, und um ihm zu be¬
richten, daß er auch mit seinem Vater auf die kleine Burg eingeladen ist, und
daß es dort dicke Türme und Mauern, einen Burggraben und noch viele andre
Herrlichkeiten gibt, von denen man sonst nur in Geschichtsbücher» liest. Harald
hörte sehr aufmerksam zu. Aber er war doch ein wenig müde. Er hatte heute den
Geburtstag eines Freundes gefeiert, und die genossenen Herrlichkeiten schienen ihm
nicht besonders gut bekommen zu sein. Aber einiges wollte er mir doch erzählen.
Herr Külpe wohnt jetzt bei Drehers. Da braucht er nicht soviel Miete zu
zahlen wie am Schwanenweg, und Frau Dreher will auch sür ihn waschen. Er
soll nur ein wenig dafür nach Anton sehen.
Wer sind Drehers eigentlich? fragte ich zerstreut, und mein Sohn war
erstaunt.
Mutter, Anton Dreher ist doch der Sohn vom Lohndiener, der dich auf der
Gesellschaft so hübsch gefunden hat. Er soll studieren, wenn es nicht zu teuer
wird. Aber Herrn Külpes Mutter ist auch nur Wäscherin und nun schon lange
krank. Deshalb hat Herr Külpe nur einen Anzug, den er auszieht, wenn er zu
Hause ist, wo er dann im Schlafrock sitzt, und deshalb muß er so billig wohnen.
Harald schlief schon halb und erwartete von mir keine Antwort. Ich hätte
ihm auch keine geben können. Aber als ich kürzlich Herrn Külpe auf der Straße
begegnete, redete ich ihn an und fragte ihn, ob er nicht Sonntags einmal bei
uns essen wolle. Er wurde sehr rot, nahm aber die Einladung an, und am letzten
Sonntag hat er unsern Sonntagsbraten mit uns gegessen, und er schien ihm gut
zu schmecken. Er ist ein netter kleiner Mensch, und auch Walter unterhielt sich gern
mit ihm, obgleich er wieder an seinen Vorträgen zu tun hat und nächstens auf
Reisen muß, um sie zu halten.
(Fortsetzung folgt)
Der neugewählte preußische Landtag ist am 26. Juni zum erstenmal zusammen¬
getreten, nicht um ein großes Programm zu erledigen, sondern an der verfassungs-
mäßigen Form zu genügen. Es liegt im Staatsinteresse, daß sich das neue
Abgeordnetenhaus möglichst bald konstituiert, und deshalb hat man die Frist, die
die Verfassung für die erste Einberufung eines neugewählten Hanfes vorschreibt,
gar nicht erst vollständig verstreichen lassen. Jetzt, wo der Landtag einmal ver¬
sammelt gewesen ist, besteht volle Freiheit, ihn nach Bedarf zu schließen oder zu
vertagen. Erst im November wird er voraussichtlich wieder zusammentreten.
In der innern Politik ist es jetzt völlig still geworden, und nur wenige
Fragen sind es noch, die die öffentliche Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen.
Desto mehr beschäftigt uns die auswärtige Politik und die Lage, in die sich Deutsch¬
land durch die neusten Ereignisse in der Weltpolitik versetzt sieht. Das Bekannt¬
werden der Gedanken, denen der Kaiser bei seiner Ansprache an die Offiziere in
Döberitz Ausdruck gegeben hatte, ist von überraschend günstiger Wirkung gewesen,
obwohl der Wortlaut nirgends authentisch festgestellt worden ist. Man hatte sich
dnrch die in einem Teil der deutschen Presse gepflegte Angstmeierei und Nörgelei
wirklich in den Gedanken hineintreiben lassen, daß der Kaiser und die in seinem
Namen betriebne deutsche Politik den Ereignissen auf dem Schauplatz der Welt¬
politik teils mit sorglosen Optimismus, teils in vollendeter Resignation und Hilf¬
losigkeit gegenüberstünden. In diese Stimmung siel das Wort: „Sie sollen uns
nur kommen!" — mag es nun so oder anders gelautet haben — wie eine Er¬
lösung. Die Vorstellung, daß das Reich allen möglichen Verwicklungen und feind¬
seligen Machenschaften das ruhige Bewußtsein seiner Kraft entgegensetzt, brauchte
zwar eigentlich den ruhig urteilenden und unbefangen beobachtenden Deutschen nichts
Neues zu sein, aber das politische Urteil war nun einmal in weiten Kreisen ver¬
wirrt worden, sowie ja auch über Persönlichkeit und Denkweise des Kaisers noch
immer falsche Anschauungen genährt werden. Aber auch wer überzeugt war, daß
im Grunde jeder ehrliche Deutsche fo dachte, wie es der Kaiser ausgesprochen hatte,
konnte nur sehr damit einverstanden sein, daß es einmal aller Welt gerade von
dieser Stelle aus gesagt wurde. Denn nachgerade mußte die Art, wie in unsrer
Presse die Lage Deutschlands und die deutsche Politik dargestellt wurde, die Hoff-
nungen aller uns feindlichen Elemente auf die Isolierung, Einschüchterung und
Ausschaltung Deutschlands so sehr verstärken, daß die Sache für uns gefährlich zu
werden anfing.
Das kräftige Wort, das in Döberitz gesprochen worden ist, hat dnrch die Fest¬
stellung der vollständigen Übereinstimmung zwischen der ersten Stelle im Deutschen
Reich und dem allgemeinen Empfinden des deutschen Volks, sozusagen, das Gleich¬
gewicht wiederhergestellt. Es war ein bezeichnender Zug, daß sich die Menge, die den
Kaiser bei seinem Erscheinen zur Regatta in Hamburg — wie schon so manches
mal — begrüßte, plötzlich über die Äußerung banaler Schaulust und festlicher
Hurrastimmung hinausgehoben fühlte. Es ist etwas eignes um dieses plötzliche
Bewußtwerden eiues gemeinsamen Empfindens, das in Tausenden in einem Augen¬
blick einen Gedanken weckt nud nach Bettttignng drängt. Ans der Volksmenge
heraus erscholl — niemals sonst war es geschehen — das Lied: „Deutschland,
Deutschland über alles", und daun sang man, dem mächtigen Impulse weiter folgend,
die „Wacht am Rhein".
Die Huldigung fand ihre Antwort in der Rede, die der Kaiser am Abend
desselben Tages bet demi Fest des Norddeutschen Regattavereins an Bord der
Oceana in Brunsbüttelkoog hielt. „Ich habe Sie verstanden, sagte der Kaiser,
es war der Druck der Freundeshand einem Manne, der entschlossen seinen Weg
geht." Wenn diese Worte zunächst an die Hamburger gerichtet waren, so weiß
doch jeder, daß sie ihre Bedeutung für das ganze deutsche Volk haben.
Es war überhaupt eine besonders bedeutsame Rede, die, an den verhältnis¬
mäßig kleinen Kreis der Teilnehmer an einem Wassersportfest gerichtet, der ganzen
Welt einen verständlichen Wink geben sollte. Wer nur an die unmittelbar gegebne
festliche Gelegenheit dachte, mochte wohl zuerst erstaunt sein, daß der Kaiser von
dem nächsten Zweck der Veranstaltung einen Übergang fand zu der Frage der
Reichsfinauzreform. Wie kam dieses gewichtige Thema der innern Reichspolitik zu
der Erwähnung in einer Tischrede, die bei den Teilnehmern des Festes ganz andre
Gedankenreihen voraussetzen durfte? Das Bild der Regatta weckte in dem kaiser¬
lichen Redner den Gedanken an den Wettstreit der Völker. Wie das Barometer
abwechselnd steigt und fällt, wie für den Beobachter aber, der darauf seine Entschlüsse
bauen will, nicht diese Einzelbewegnngen, sondern die Gesamttendenz der Bewegung
maßgebend ist, so dürfen auch in den Schicksalen der Völker die Täter, die dabei
zu durchschreiten sind, nicht entmutigen. „Sie sind das unvermeidliche Korrelat für
den Aufschwung." Der Kaiser entrollte den Sportsleuten vertraute Bilder, wie die
Fahrzeuge durch neue Berechnungen und Vermessungen zum Warten veranlaßt
werden und dann doch mit frischer Kraft auf Grund des Studiums neuer Gesetze
am Ziel erscheinen. Die Nutzanwendung war verständlich, nicht nur für die bangen
Gemüter, die bei jeder Schwierigkeit, der unsre Politik begegnet, um das sinkende
Ansehen des Reichs jammern, sondern auch für das Ausland, wo man uns mit
den Schein- und Teilerfolgen einer mißgünstigen Staatskunst dauernd zurückdrängen
zu können glaubt. In dieser Verbindung erscheint die Erwähnung der Reichs¬
finanzreform besonders bedeutungsvoll. Denn es ist bekannt, daß im Auslande der
Glaube verbreitet ist, Deutschland sei den großen Aufgaben, die es unternommen,
und der Rüstung, die es zu tragen habe, finanziell nicht gewachsen und müsse
über kurz oder lang an seiner Finanznot zusammenbrechen. Es ist freilich merk¬
würdig, wie eine so völlig unzutreffende Ansicht bei ernsthaften Leuten Glauben
finden konnte. Aber zur Entschuldigung und Erklärung muß man sich sagen, daß
wenig Ausländer in das komplizierte Wesen unsrer Reichsverfassung einzudringen
vermögen. Wem aber das eigentümliche Verhältnis von Reich und Einzelstaaten
in Deutschland ein Buch mit sieben Siegeln ist — und das ist es für die über¬
wältigende Mehrheit der ausländischen Beurteiler —, der wird natürlich auch den
wahren Grund unsrer scheinbaren „Finanznot" niemals begreifen. Dazu kommt
noch, daß die deutschen Zeitungen, die im Auslande am meisten gelesen werden,
freisinnige Blätter sind. Aus ihnen schöpft das Ausland eigentlich seine Kennt¬
nis deutscher Zustände. Unser radikaler Liberalismus hat aber jahrzehntelang
seine Volkstümlichkeit im wesentlichen dadurch zu begründen gesucht, daß er bei
jeder, auch der gerechtesten Forderung des Staats an die Stenerkraft der Bürger
ein Zetergeschrei erhob und den allgemeinen Ruin prophezeite. Da auch der
radikalste Franzose oder Engländer für solche Taktik gar kein Verständnis hat,
so mußte man im Ausland allmählich wirklich glauben, daß das deutsche Volk von
Steuern erdrückt sei, und daß der finanzielle Zusammenbruch über kurz oder lang
kommen müsse. Die Kaiserrede aber bedeutete: Rechnet nicht darauf! Das Deutsche
Reich wird seine Finanzen auf eine gesunde Grundlage stellen; wir sind jeder
Situation gewachsen, und deshalb brauchen wir auch nichts zu fürchten!
Auch das ist jedenfalls nicht ohne besondre Absicht geschehen, daß der Kaiser
in nachdrücklicher Weise dem Fürsten Bülow sein Vertrauen bekundete. Das
törichte Geschwätz über die mangelnde Einheit in der Leitung der deutschen Politik,
über die Unzufriedenheit des Kaisers mit der Führung der Geschäfte, über die
Mißerfolge der deutschen Diplomatie, für die doch der Kanzler verantwortlich sein
würde — das wird jetzt einmal gründlich zum Schweigen gebracht.
Besonders rücksichtslose Quertreibereien gegen den Fürsten Bülow und die
Reichspolitik gehen jetzt wieder vom Zentrum aus. Das Berliner Zentrumsorg an,
die Germania, brachte dieser Tage einen flammenden Artikel gegen die auswärtige
Politik der Regierung. In den heftigsten Worten wurde den „deutschen Diplo¬
maten" vorgeworfen, daß sie eine Politik des Vertuschens und Verheimlichens
trieben. Eine Probe dieser Tonart mag folgende Stelle geben:
„Das ist die Manier des Komödianten, der noch scherzt und lacht, wenn das
Haus in Flammen steht; das ist der Erfolg der Bülowschen Politik, die noch
schone Worte hat, wenn die Tatsachen so bitter ernst sind. Unsre heutige Lage ist
zum Verzweifeln ähnlich der Situation Preußens vor dem siebenjährigen Kriege.
Dahin hat uns des Fürsten Bülow Politik gebracht: keinen Freund — mir Neider
und Hasser. Die reiche Bismarcksche Erbschaft ist verschleudert; wir sind das Aschen¬
brödel geworden, trotz der verstärkten Wehr zu Land und zu Wasser. Fürst Bülow
wollte in seiner inneren Politik das Zentrum ausschalten; er selbst aber ist jetzt
in der Auslandspolitik der Kaltgestellte."
Mit diesem letzten Satz ist das gesagt, was dem Zentrumsblatt offenbar die
Hauptsache ist; hier kommt der eigentliche Grund des Zorns und der Entrüstung
zutage. Hätte der Reichskanzler nicht in die Fraktionsinteressen des Zentrums mit
rauher Hand eingegriffen, so wäre dieser ganze Erguß nicht über ihn gekommen.
Ein anständiger Politiker, nicht nur in Deutschland, sondern überall in der Welt,
wird freilich einen solchen unverhüllten Versuch, die Beurteilung der auswärtigen
Politik von den Fraktionsinteressen abhängig zu machen, als schamlos empfinden.
Die wilde Rachsucht des Zentrums kennt solche Scham nicht. Es ist immer nur
die Partei und wieder die Partei, die ihr ganzes Denken und Empfinden regiert.
Derselbe Geist, der die Partei zu Fall gebracht hat, treibt sie jetzt zu weiteren
gemeinschädlichem Wirken: das Zentrum will nichts lernen und nichts vergessen.
Das deutsche Volk wird sich das hoffentlich merken.
Wann ist denn diese verdammenswerte Politik, die nach der Meinung der
Germania uns in eine so schlimme Lage gebracht hat, angefangen worden? Etwa
erst im vorigen Jahre? Sie ist doch mindestens zurückzudatieren bis zu den An¬
fängen des engltsch-französischen Einverständnisses. Warum hat das Zentrum damals
nicht protestiert? Warum desavouierte es nicht den Freiherrn von Hertltng und
den Abgeordneten spähn, als sie sich im Reichstage zu verständnisvollen Interpreten
der Politik des Fürsten Bülow machten? Das Zentrum ist also Mitschuldiger an
der nach seiner Meinung verderblichen Politik, und das jetzige Urteil der Germania
trifft rin furchtbarer Wucht das Haupt der eignen Partei. Denn was kann es
Gewissenloseres geben als eine Partei, die eine von ihr selbst als falsch und ver¬
derblich bezeichnete Politik ruhig duldet und unterstützt, der Welt ihre Zufrieden¬
heit vorlügt, um erst dann mit der wahren Meinung hervorzutreten, als sie sich
ihre ausschlaggebende Machtstellung verscherzt hat? Oder hat der 13. Dezember
1906 auch die innerste Herzensmeinung, die wirkliche Überzeugung der Partei in
das Gegenteil verkehrt? Wenn das etwa die Ausrede sein sollte, daß den Zentrums¬
männern erst an jenem verhängnisvollen Tage die Erkenntnis aufgedämmert sein
sollte, so stellen sie ihrer eignen politischen Urteilskraft und Voraussicht das denkbar
schlechteste Zeugnis aus. Dann sollten solche Politiker überhaupt schweigen. Den» man
wird keine allzu hohen Begriffe von der Einsicht von Leuten haben, deren Gehirn
erst zur Kritik fähig wird, wenn sie nicht mehr gefüttert und gestreichelt werden.
Der Patriotismus dieser trefflichen Leute bringt es also jetzt fertig, die
Stellung Deutschlands zur mazedonischen Frage zuni Anlaß giftiger Angriffe gegen
die Reichspolitik zu machen. Es geschieht das in demselben Augenblick, wo alle
Welt durch eine halbamtliche Kundgebung unterrichtet worden ist, daß diese Frage
in der Tat die Möglichkeit von Schwierigkeiten und Verwicklungen bringt. Aber
es kommt ja den Herren gar nicht darauf an, ob diese Schwierigkeiten für die
deutsche Politik aus dem Wege geräumt werden, wenn nur kräftig gegen den
Kanzler gehetzt werden kann, der sich erlaubt hat, das Zentrum „auszuschalten".
Was die Germania über die Politik Deutschlands in der mazedonischen Frage sagt,
ist teils überflüssig, teils eine Fälschung offenkundiger Tatsachen. Überflüssig ist die
Mahnung, daß Deutschland im Verein mit Österreich mehr Initiative entwickeln
müsse, da sich unser Verbündeter auf dem Balkan zurückgesetzt fühle. „König
Eduard wird ihm zwar — so schreibt die Germania — im Sommer auch ein
Reisegeschenk bringen. Aber wir müssen sofort einsetzen, um Hand in Hand mit dem
Verbündeten Österreich dessen Interessen, die den unsrigen nahe stehen, zu wahren."
Diese Mahnung rennt offne Türen ein. Von einer Fälschung der Tatsachen aber
kann man insofern reden, als die bisherige Haltung Deutschlands in der mazedonischen
Frage völlig unrichtig dargestellt wird, obwohl sich der Reichskanzler im Reichstage
offen darüber ausgesprochen hat. Es ist niemals davon die Rede gewesen, daß
sich Deutschland um die Angelegenheit nicht zu kümmern brauche, wie die Germania
behauptet. Man kann vielmehr überzeugt sein, daß Deutschland für seine eignen
Interessen und der seiner Verbündeten und Freunde sehr entschieden eintreten wird.
Wenn Theodor Roosevelt
am 4. März 1909 seinen zweiten Präsidentschaftsterm beendet, so kann er zurück¬
blickend sagen, daß die acht Jahre seiner „Herrschaft" voller Mühe und Arbeit
gewesen sind. Was hat Roosevelt in diesen acht Jahren nicht alles an Reformen
im amerikanischen Wirtschaftsleben, in der amerikanischen auswärtigen Politik, in
den sozialen Verhältnissen unternommen und durchzusetzen versucht! Noch auf Jahre
oder Jahrzehnte hinaus werden die Amerikaner genug damit zu tun haben, die von
Roosevelt begonnenen Reformen und Reformansätze in die Wirklichkeit umzuleiten.
Zu den schwierigsten Aufgaben, die sich Roosevelt gestellt hatte, gehört ins¬
besondre die Bekämpfung der politischen Korruption. In dieser Beziehung beginnt
seine Tätigkeit nicht erst als Präsident; er hat vielmehr bekanntlich schon früher,
vornehmlich als Governor von Newyork, eine intensive Tätigkeit entfaltet.
In der Tat stellt sich der Kampf gegen die politische Korruption in Amerika
als eine der wichtigsten, wenn auch schwierigsten Ausgaben für die politische
Weiterentwicklung der großen Demokratie dar. Es müßte einen eignen Reiz ge¬
währen, wenn jemand, der sich jahrzehntelang selbst auf diesem Gebiete praktisch
betätigt hat, einmal dazu käme, seine Memoiren als „Lobbyist" zu schreiben und
herauszugeben; denn die Formen, unter denen die politische Korruption auftritt,
find äußerst mannigfaltig und entziehn sich in weitem Maße der allgemeinen Be¬
obachtung. Von der ganz kommuncn Feld-, Wald- und Wiesenbestechung über die
Inaussichtstellung von Ämtern, Eisenbahnanschlußgeleisen. Freikarten hinweg zu den
feinsten Mitteln des gesellschaftlichen Verkehrs lassen sich die Formen der Beein¬
flussung des Parlaments durch die starken Kapitalkräfte verfolgen. Lobbyist ist ja
ein ganz spezieller Beruf: Lobbyisten sind alle die zahlreichen Leute, die in den Vor¬
zimmern des Washingtoner Kapitals herumsitzen und die verschiednen Abgeordneten
im Interesse irgendeiner Maßregel bearbeiten. Es kann eigentlich nur wunder¬
nehmen, daß diese Lobbyisten noch keine Union gegründet haben.
Die Gefahren einer solchen Lobby für ein Parlament sind ganz außerordent¬
lich groß. Ihre Gefährlichkeit liegt darin, daß sie heimlich und der Öffentlichkeit
unsichtbar ihre dunkeln Wege geht, und daß die öffentliche Meinung, die die beste
Kontrollinstanz für jedes Parlament ist, nicht weiß, wo sie einzusetzen hat. Die
Gefahren werden denn auch allmählich in der Union erkannt. Während sich früher
immer nur einzelne Männer, wie Karl Schurz, gegen das System gewandt haben,
beginnt neuerdings — unabhängig von der Parteistellung — eine scharfe Be¬
wegung gegen den Lobbyismus. Bei den letzten Wahlen im Staate Missouri
wurden zwar durchweg Republikaner gewählt, daneben aber der Demokrat Fvlk
zum Governor, nur deshalb, weil er als Staatsanwalt nnnnchsichtlich das in
Missouri allerdings besonders entwickelte Lobbytum bekämpft hat. Es ist kein
Zweifel, daß es Roosevelt gelungen ist, auch in dieser Beziehung das Gewissen
seiner Landsleute zu schärfen, wenngleich seine Forderung, „alle in die Parteikassen
gezählten Gelder müssen veröffentlicht werden", noch keine Aufnahme in die Platt¬
form der republikanischen Partei bet der letzten Nationalkonvention gefunden hat.
Von allen diesen Dingen hören wir in Deutschland und freuen uns, daß es
bei uns anders ist. Ist dem wirklich so? Soll es bei uns keine Lobby geben?
Sind wir in dieser Beziehung völlig frei von politischer Korruption? Wer die
Zeitungen der letzten Wochen aufmerksam verfolgt hat. wird sich leider gestehn
müssen, daß einer solchen optimistischen Auffassung unsrer politischen Verhältnisse
Gefahr droht. Nicht so gut organisiert ist die Sache bei uns allerdings, aber
versucht wird sie auch. Wer gut aufpaßt, wird vielleicht schon bei den jetzigen
Erörterungen über die Neichfinanzrefvrm Anfänge deutschen Lobbyismus finden
können. Das erste, was bisher dcivou in die Öffentlichkeit gedrungen ist, sind die
Vorgänge auf der Versammlung eines Vereins von Detaillisten. Da wurde mit¬
geteilt, „bereits zweihundert Abgeordnete hätten sich gegen jede steuerliche Belastung des
Tabaks verpflichtet". Wäre das wahr, so wäre die „Lobby" ja schon in voller
Blüte. Es ist aber selbstverständlich eine irrige Behauptung, die den durchsichtigen
Zweck haben soll, andre Abgeordnete von dem unpopulären Eintreten für eine doch
Verlorne Maßregel abzuschrecken.
Da wird ferner behauptet, „der Abgeordnete Meiner hätte für die freisinnige
Fraktionsgemeinschaft die Zusage gegeben, daß diese nicht sür eine Tabakbanderolen¬
steuer zu haben sei", zweifellos ebenso irrig; denn das hat Wiener doch von seinem
großen Lehrer Eugen Richter gelernt, daß man Steuerfragen nach volkswirtschaft¬
lichen Grundsätzen und nicht nach denen einzelner Interessenten behandelt. Aber
weiter; derselbe Verein scheut sich nicht vor dem Versuch, offen eine direkte Lobby
zu organisieren. Er hat fünf Delegierte gewählt mit dem ausgesprochnen Auf¬
trage, in den nächsten Monaten die einzelnen Parlamentarier gegen jede Tabak¬
besteuerung zu bearbeiten. Jeder dieser fünf Delegierten erhält eine bestimmte
Gruppe von Abgeordneten zugewiesen!
Daneben blüht eifrig die Stimmungsmache. Schon liest man in der Deutschen
Destillateur-Zeitung, daß unter den Angestellten der Spirituszentrale umfangreiche
Kündigungen stattgefunden hätten; nicht weniger als ungefähr hundert Angestellte
hätten den „blauen Brief" erhalten, und zwar nicht nur jüngere, sondern auch
ältere Herren, die seit der Gründung der Zentrale in dieser tätig gewesen seien,
natürlich nur wegen des angeblich kommenden Spiritusmonopols. Nun wird es
gar nicht mehr lange dauern, dann lesen wir wieder: „ein Tabakhändler hat wegen
der bevorstehenden Steuervorlage seinen Konkurs anmelden müssen", und wenn
die Kampagne lebhafter wird, vielleicht auch noch von dem Selbstmorde eines
monopolbedrohten Destillateurs.
Es ist vielleicht ganz gut, schon jetzt darauf hinzuweisen, mit was für Schwierig¬
keiten die bevorstehende Reichsfinanzreform zu kämpfen haben wird. Dagegen wird
natürlich kein vernünftiger und moderner Mensch etwas sagen, daß die Industrien,
durch deren Vermittlung die neuen Steuerbeträge eingebracht werden müssen, ihre
Interessen wahrnehmen und zum öffentlichen Ausdruck bringen. Was aber nicht
geschehen darf, und wovor rechtzeitig gewarnt werden muß, das sind die heimlichen,
privaten Becinflussungsversuche und die generelle Stimmungsmache, um gegenüber
Plänen, die man noch gnr nicht kennt, auf alle Fälle die eigne Industrie zu retten.
Darüber, ob eine Steuer aufzuerlegen ist, dürfen nur volkswirtschaftliche Grundsätze
entscheiden, und nicht die Sonderagitation heimlich eindringender Privatinteressen.
Wir hoffen stark, daß bei diesen Amerikanisierungsversuchen unsrer Politik
gegenüber jene fünf Delegierten im Parlcunentsgebäude bald erfahren werden, wo
Wallot das Loch gelassen hat. Wir können von den Freunden jenseits des Wassers
besseres lernen und einführen.
In dem Bericht über das Buch von
Desdevises im 11. Heft wird auf S. 516 der Quietismus der Fran de la Motte
Guyon erwähnt und dabei die Wendung gebraucht: „Der Molinismus oder Quie¬
tismus". Herr Dr. Strehler, der Herausgeber der Friedensblätter, erinnert mich
nun daran, daß die Bezeichnung Molinismus nicht von dem durch Molinos be¬
gründeten Quietismus gebraucht zu werden Pflegt, sondern von der Lehre des
Jesuiten Molina, der ein Jahrhundert vor jenem gelebt hat. Molina glaubte
durch die Annahme einer dreifachen Erkenntnis Gottes (sviontiii »!mi>1(zx, unmittel¬
bare Anschauung; soiWtia iidvra,, Erkenntnis des von ihm unbedingt gewollten Zu¬
künftigen; Millzntm mscliÄ, Erkenntnis des bedingt Zukünftigen: dessen, wofür sich
ein freier Wille unter gegebnen Bedingungen entscheiden wird) die göttliche Vor¬
sehung mit der menschlichen Willensfreiheit versöhnen zu können. Für uns Heutigen
haben solche Spekulationen höchstens noch insofern Interesse, als ihr Mißerfolg
unsre Einsicht bestätigt, daß es vergebliche Mühe ist. das Geheimnis des göttliche»
Wesens und seiner Beziehungen zum Weltübel ergründen zu wolle». Alle solche
Theolognmena werden auch dadurch, daß eine kirchliche Behörde sie für Dogmen erklärt,
noch nicht aus Hirngespinsten in befriedigende Aufschlüsse verwandelt. Der Molinismus
lZiga^stler sind wie Läslstsins, je nönei' as? wifklivtie
Vei't ist, «ivsto bssonsillsns»' mulZ als Hufmsenung uiul
Fassung sein, IZeweis: Löthen /UkiKum - Ligsi'kttsn.
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el einer Prüfung der Schuldenlast und Schuldenpolitik von Reich
und Staat in Deutschland wird man den gegenwärtigen Zustand
und die vorhandnen Entwicklungstendenzen unterscheiden müssen.
Von einer Überschuldung des Deutschen Reichs und seiner Einzelstaaten
in dem Sinne, daß durch die gegenwärtige Höhe der Reichs- und Staats¬
schulden von etwa 19 Milliarden Mark eine Gefahr für die Erfüllung der
hieraus folgenden Schuldverpflichtungen gegenüber den Gläubigern oder eine
unerträgliche Belastung der Steuerzahler hervorgerufen werde, kann nicht die
Rede sein. Auch die bei der jetzigen Finanzgebarung in den nächsten Jahren mit
Sicherheit bevorstehende Vermehrung unsrer Verschuldung um 1 bis 3 Milliarden
Mark kann zu Bedenken in dieser Richtung keinen Anlaß geben.
1. Zunächst stehn diesen Passiver des Reichs und der Einzelstaaten
als Aktiva Eigentumswerte an produktiven Reichs- und Staatsanlagen gegen¬
über, die einen nicht unwesentlich höhern Wert als jene Schuldsumme re¬
präsentieren.
Nach dem Statistischen Jahrbuch des Deutschen Reichs stellte sich allein
das Anlagekapital der Reichs- und Staatseisenbahnen 1904 auf 14,6 Milliarden
Mark. Der wirkliche (Verkaufs-) Wert dürfte, schon infolge der gestiegnen
Bodenpreise usw., bedeutend höher zu veranschlagen sein. Finanzminister
Freiherr von Nheinbaben hat gelegentlich den wirklichen Wert der preußisch¬
hessischen Bahnen allein auf etwa 19 Milliarden, also in Höhe der gegen¬
wärtigen Reichs- und Staatsschuld zusammen angesprochen. Zu dem Werte des
Eisenbahnbesitzes kommt der gesamte Domänenbesitz von 723326 Hektar mit
32,2 Millionen Mark Reinertrag, der Forstbesitz von 4964981 Hektar mit
113 Millionen Mark Reinertrag (im Jahre 1906), der Bergwerksbesitz mit
21,6 Millionen Mark Reinertrag hinzu. Kapitalisiert man die Reinertrage
aus Domänen- und Forstbesitz mit 3 Prozent, aus Bergwerksbesitz mit 4 Prozent,
so ergibt sich hieraus ein weiterer Vermögenswert von 1,07-s-3,76*) -j-0,54
5,37 Milliarden Mark. Dabei ist das Anlagekapital der Post-, Telegraphen-
und Telephonverwaltung mit 97,7 Millionen Mark Reinertrag und sonstiger
Erwerbsbetriebe (als da sind Reichs- und Staatsdruckereien, Reichs- und
Staatsanzeiger, Anteil an Reichs- und Staatsbankengewinn, Bernsteinwerke,
Porzellanmanufakturen, Münze, Mineralbrunnen, Bäder und Lotterien) mit
einem Gesamtreinertrage von 55,5 Millionen Mark (wovon für Staatsdampf¬
schiffahrtsbetriebe etwa 0,2 Millionen Mark Zuschuß abgehn) noch gar nicht
mitgerechnet worden. Jedenfalls ist hiernach die gegenwärtige Reichs- und
Staatsschuld durch alle diese Aktiva mehr als gedeckt.
Noch etwas günstiger wird das Bild, wenn man den gesamten Rein¬
ertrag der genannten Erwerbsanstalten dem gesamten Jahresschuldendienst
gegenüberstellt.
Dieser belief sich nach der Reichsfinanzstatistik für das Jahr 1906 für
Reich uni> Einzelstaaten zusammen bei einer fundierten Gesamtschuld von
15,8 Milliarden auf rund
Seitdem, kamen hinzu im Jahre 1907: 29 Millionen badische, 60 Millionen
hamburgische Anleihe, 18 Millionen vierprozentige bayrische und 22 Millionen
vierprozentige bayrische Eisenbahnanleihe, 20 Millionen hessische vierprozentige,
im Jahre 1908: 131 Millionen preußische, sodann 200 Millionen Reichsanleihe
und 650 Millionen preußische, endlich 30 Millionen vierprozentige württem¬
bergische Anleihe, 35 Millionen vierprozentige badische, 22 Millionen bayrische,
38 Millionen vierprozentige bayrische Eisenbahnanleihe, 65 Millionen Hamburger
Anleihe, zusammen 1,4 Milliarden weiterer fundierter Schulden. Rechnet man
hierfür die Verzinsung mit 4 Prozent, Tilgung mit 0,6 Prozent, Verwaltungs¬
kosten mit 0,025 Prozent, so vermehrt sich der Jahresschuldendienst für die
fundierte Schuld von 616713 Millionen Mark um weitere 65000000 Mark,
also auf 681713000 Mark.
Die schwebende Schuld beläuft sich zurzeit auf etwa 900 Millionen
vierprozentige Schatzanweisungen und etwa 700 Millionen unverzinslicher
Schatzanweisungen, für die man gegenwärtig 5 Prozent Diskont ansetzen
kann. Der Jahresschuldendienst würde sich also insgesamt auf etwa 753 Millionen
Mark stellen.
Demgegenüber beliefert sich schon nach den Etats für 1906, d. i. den
neusten vorliegenden Zahlen (Neichsfinanzstcitistik), die Reineinnahmen der Reichs-
und staatlichen Erwerbsunternehmungen auf zusammen 1015139000 Mark,*)
sodaß der jetzige Jahresschuldendienst von 753000000 Mark schon damals
mit rund 262000000 Mark überdeckt gewesen wäre.
Jedenfalls kann danach von einer Überlastung der deutschen Steuerzahler
durch die Verzinsung unsrer Reichs- und Staatsschulden zurzeit nicht die
Rede sein.
2. Um die Bedeutung der Höhe der Staatsschuld zu würdigen, wird
man aber nicht nur die gegenüberstehenden Aktiven, sondern auch die Auf¬
nahmefähigkeit des einheimischen Geldmarkts, die Höhe der einheimischen
Sparkapitalien, des Volksvermögens und seines Jahreszuwachses ins
Auge zu fassen haben. Auch in dieser Hinsicht kann von einer Gefahr, daß
im Inlande nicht genügend Sparkapitalien vorhanden wären, um unsre Neichs-
und Staatsschuld aufzunehmen, und daß ein Appell an auswärtige Märkte
nötig werden würde, nicht geredet werden. Deutschland ist, als volkswirt¬
schaftliches Ganze betrachtet, sehr wohl in der Lage, eine Gesamtschuld von
rund 19 Milliarden bis 20 und einige Milliarden, im Notfalle noch weit
mehr, zu tragen.
Über die Höhe unsers Nationalvermögens lassen sich natürlich nur
schätzungsweise Zahlen geben. Die bekanntesten Schätzungen sind in folgendem
zusammengestellt:
Der französische Statistiker von Foville geht hauptsächlich von den Er¬
gebnissen der Erbschaftsbesteuerung (in Frankreich) aus. Da bei uns eine
Erbschaftssteuer auf Deszendenten nicht besteht, wird hier am besten von den
Ergebnissen der Ergänzungsbesteuerung und zwar in Preußen ausgegangen.
Nach der neusten Veranlagung wird das ergänzungssteuerpslichtige Ver¬
mögen in Preußen auf rund 90 Milliarden Mark zu veranschlagen sein.
Nimmt man an, daß sich etwa 10 Prozent, da ein Deklarationszwang, der
sich hauptsächlich bei der Veranlagung des gewerblichen Anlage- und Betriebs-
kapitals nachteilig bemerklich macht, nicht besteht, der Besteuerung entziehen,
so würde sich das ergänzungssteuerpslichtige Vermögen in Preußen auf rund
100 Milliarden Mark erhöhen.
Nun ist zu beachten, daß Vermögen zwischen 6000 und 20000 Mark
dann nicht zur Steuer herangezogen werden, wenn der Besitzer weniger als
900 Mark Jahreseinkommen hat. Bei der vorletzten Veranlagung 1905/07
kamen 306357 solcher Zensiten in Betracht. Rechnet man diesen ein Durch¬
schnittsvermögen von 10000 Mark zu, so sind das weitere 3 Milliarden Mark.
Ferner sind ergänzungssteuerfrei alle Vermögen unter 6000 Mark. Wie
läßt sich die Zahl der hier in Betracht kommenden Personen schätzungsweise
ermitteln? Nach der Ergänzungssteuerstatistik zeigt sich, daß die niedern
Vermögensgruppen immer eine bedeutend höhere Zahl von Zensiten umfassen
als die höhern. So sind zum Beispiel in der Gruppe >
besteuert. Daraus läßt sich mit Sicherheit schließen, daß die Zahl der Be¬
sitzer von Vermögen bis 6000 Mark noch weit größer ist als die solcher
von 6000 bis 20000 Mark. Durch das Verfahren der graphischen Dar¬
stellung würde man deshalb auf annähernd 2 Millionen Besitzer von Ver¬
mögen bis 6000 Mark gelangen. Etwas größer würde die Zahl werden,
wenn man von der ländlichen Verschuldungsstatistik in Preußen von 1395
ausgeht. Nach dieser gab es 628876 Grundeigentümer mit Haupterwerb
aus Land- und Forstwirtschaft mit 60 und mehr Mark Grundsteuerreinertrag.
Von diesen hatten nur 16598 weniger als 6000 Mark Vermögen, während
45500 unverschuldete Besitzer mit 60 bis 90 Mark Grundsteuerreinertrag,
also der untersten Stufe angehörend, 12226 Mark durchschnittliches Vermögen
und 64519 verschuldete Besitzer immer noch 6884 Mark durchschnittliches
Vermögen hatten. Danach kann man annehmen, daß auch von der — natürlich
zahlreichern — Klasse von Besitzern mit weniger als 60 Mark Grundsteuer¬
reinertrag einige hunderttausend (zumal da die kleinern Besitzer im allgemeinen
meist unverschuldet oder doch seltner verschuldet sind als die höhern Klassen)
den zur Ergänzungssteuer herangezognen Zensiten wegen eines Vermögens
von mehr als 6000 Mark beigezählt werden können, sodaß man die Zahl der
6000 und mehr Vermögen habenden ländlichen Besitzer in Preußen auf etwa
900000 bis eine Million veranschlagen kann.
Da die Gesamtzahl der ländlichen selbständigen Erwerbtreibenden für
Preußen 3,3 Millionen ausmacht, so würden etwa 2,3 bis 2,4 Millionen mit
weniger als 6000 Mark Vermögen oder mit gar keinem Vermögen verbleiben.
In den Städten wird die Zahl der kleinern Vermögen geringer sein als auf
dem Lande. In Berücksichtigung alles dessen kommt man bei dieser schätzungs¬
weise etwa auf 2^ bis 3 Millionen von der Ergänzungssteuer nicht betroffnen
Vermögensbesitzer unter 6000 Mar5 Je nachdem Man die eine oder andre
der beiden vorgedachten Schätzungen zugrunde legt, würde man — bei einem
durchschnittlichen Vermögen von Zgg0 Mark — auf eine weitere Summe
von 6, oder 9 Milliarden Mark kommen. All diese Summen betreffen
nur das Privatvermögen in Preußen (aber mit Ausschluß von Möbeln und
Hausrat, die nicht ergänzungssteuerpflichtig sind).
Um das Nationalvermögen Preußens zu ermitteln, muß man aber den
Überschuß der Aktiven von Staat und Kommunen über deren Passiver hinzu¬
rechnen, wofür wir 10 Milliarden Mark setzen wollen, ferner die nicht als
Dividenden verteilten Reservefonds der Erwerbsgesellschaften — die ja eben¬
falls nicht der Ergänzungssteuer unterliegen—bei 10 Prozent gerechnet
annähernd 900 Millionen Mark, das Vermögen der Kranken-, Jnvaliditäts-
und Unfallversicherungsanstalten und Genossenschaften in Preußen mit etwa
einer Milliarde Mark. Dazu kommt schließlich noch das gesamte Vermögen
der toten Hand, der Stiftungen, Kirchen usw., ferner das der Konsumvereine usw.,
das ebenfalls nicht ergänzungssteuerpflichtig ist.
Alles in allem wird eine Schätzung des Vermögens in Preußen von
rund 130 Milliarden Mark nicht zu hoch gegriffen sein. Rechnet man diesen
Betrag nach dem Bevölkerungsverhültnis (drei Fünftel) auf das Reich um
eine sehr vorsichtige Schätzung —, so würde man auf ein Nationalvermögen
von rund 216 Milliarden Mark kommen.
Jedenfalls wird man sich, wenn man unser Volksvermögen gegenwärtig
auf etwa 200 Milliarden Mark anspricht, der Übertreibung nicht schuldig
machen. Dafür spricht auch, daß man neuerdings allein das im Auslande
investierte einheimische Kapital auf etwa 16 Milliarden Effekten und 10 Mil¬
liarden Mark Anlagekapital in Unternehmungen (Sartorius von Waltershausen
und Denkschriften des Neichsmarineamts von 1898 und 1905) schätzt. Neu¬
haus in der Deutschen Wirtschaftszeitung 1906, Ur, 1 schätzt dieses Kapital
sogar insgesamt auf 40 Milliarden Mark. Aber auch schon ein Betrag von
26 Milliarden, im Auslande angelegt, läßt darauf schließen, daß das National¬
kapital nicht unter 200 Milliarden Mark sein kann.
Bei 19 bis 20 Milliarden Reichs- und Staatsschulden machen diese demnach
nur 10 Prozent des Nationalvermögens aus.
Werfen wir demgegenüber einen kurzen Blick auf Frankreich und England.
In Frankreich schätzte 1896 Mulhall das Nationalvermögen auf 193 Mil¬
liarden, d'Avenel neuerdings in der Revue ac-s cieux Annales auf 190 Milliarden
Mark (235 Milliarden Franken). *)
Demgegenüber steht eine Schuld des Staats von rund 24 Milliarden
Mark, was ungefähr 12,7 Prozent bedeuten würde. An Staatsaktiven stehn
den 24 Milliarden Mark nach Leroy-Beaulieu etwa 3,4 Milliarden Mark
gegenüber (1905). Allerdings kommt für Frankreich der Mitte des zwanzigsten
Jahrhunderts stattfindende Heimfall der großen Privatbahnen an den Staat
in Betracht, der freilich gegenwärtig noch Zukunftsmusik ist.
Englands Nationalvermögen schätzte Mulhall schon 1896 auf 235 Milliarden
Mark ein. Im Jahre 1885 schätzte es Foville auf 200, 1893 Brömel auf
212 Milliarden. 1896 dieser auf 236 Milliarden Mark. Nach dieser Entwick¬
lungsreihe könnte man es gegenwärtig auf etwa 260 Milliarden Mark schätzen,
was aber offenbar zu niedrig ist. Betrüge doch nach neuern Schätzungen allein
das im Auslande investierte Kapital Englands etwa 60 Milliarden Mark.
Bei auch nur 260 Milliarden Volksvermögen würde die englische Schuld von
15 Milliarden nur 5,8 Prozent des Vermögens betragen. Die der Staats¬
schuld gegenüberstehenden Aktiven des Staats betragen nach Leroy-Beaulieu
dagegen nur etwa 708 Millionen Mark.
Auch wenn man nicht das Nationalvermögen dem Schuldenbetrag, sondern
dem alljährlichen Zuwachs an Nationalvermögen der jährlichen Schulden¬
vermehrung gegenüberstellt, wird sich feststellen lassen, daß die alljährlich an
den Markt kommenden Staats- und Reichsanleihen wohl von unsern jährlichen
Ersparnissen aufgenommen werden können, wenngleich hierbei allerdings gegen¬
wärtig alljährlich ein höherer Prozentsatz als 10 Prozent, nämlich durch¬
schnittlich etwa 12,5 Prozent des Zuwachses an Vermögen durch Reichs- und
Staatsschulden in Anspruch genommen wird.
Die Schuld des Reichs und der Einzelstaaten betrug nach IKs KtÄtesiliAn's
?SAr LooK*) im Jahre 1895: 12,3 Milliarden Mark. 1908 betrügt sie genau
etwa 18,6 bis 18,8 Milliarden Mark, das bedeutet einen Zuwachs von 6.3
bis 6,5 Milliarden Mark oder für das Jahr von rund ^ Milliarde Mark.
Wie vermehrt sich demgegenüber unser Nationalwohlstand durchschnittlich
von Jahr zu Jahr? Auch hier liegen mehrfache Schätzungen vor. Becker
schätzte die Zunahme 1886 auf jährlich 2,5 Milliarden Mark. Schmoller
schätzte die Jahreszunahme an Volksvermögen nach Berechnungen für 1898
bis 1900 im Durchschnitt auf 3^/z bis 4 Milliarden Mark, nämlich 2 Prozent
des Volksvermögens, d. i. eben etwa 4 Milliarden in guten, etwas weniger in
schlechtem Wirtschaftsjahren (vgl. Nationalzeitung vom 31. Mai 1903), der
Internationale Volkswirt in Ur. 14 vom 6. Januar 1907 auf 4 Milliarden
Mark, Heiligenstadt neuerdings auf 3»/^ Milliarden, andre gar auf 5 Mil¬
liarden Mark.
Geht man auch hier vom Zuwachs an ergänzungssteuerpslichtigem Ver¬
mögen in Preußen aus, so ergibt sich aus den Veranlagungen von
daß der Zuwachs für das Jahr in Preußen auf etwa 1,8 Milliarden Mark
zu veranschlagen ist. Da der erhöhte Betrag zum Teil auf eine bessere
Steuerveranlagung zurückzuführen ist, so wird man gut tun, nur etwa 1,7 Mil¬
liarde in Ansatz zu bringen. Geht man ferner mit Heiligenstadt davon aus,
daß die Einlagen in die Genossenschaftsbanken meist von Vermögen unter
6000 Mark herrühren, und nimmt hier einen Zuwachs von 150 Millionen
Mark für das Jahr an, so würde man auf einen Zuwachs von 1,850 Milliarde
Mark kommen, der, zu drei Fünfteln aufs Reich ungerechnet, 3,080 Milliarden
ergeben würde. Aber auch die Sparkasseneinlagen dürften zum größten Teil
der Ergänzungssteuer nicht unterliegen. Diese stiegen von 1900 bis 1904 im
Reiche von 8,8 auf 11,9 Milliarden Mark, d. i. im Jahre um 775 Millionen
Mark. Rechnet man nur 620 Millionen Mark, so würde sich der Jahres¬
zuwachs an Vermögen in Deutschland auf 3,7 Milliarden erhöhen. Dabei ist
aber, der Zuwachs an den nicht ergänzungssteuerpflichtigen Vermögensteilen
(s. S. 56) unberücksichtigt geblieben. Rechnet man diesen hinzu, so wird man
auf etwa annähernd 4 Milliarden Mark jährlichen Vermögenszuwachs
im Deutschen Reiche gelangen. Die 500 Millionen durchschnittlich neu auf-
genommnen Reichs- und Staatsanleihen stellen 12,5 Prozent dieser Summe
dar, die im Anfang des Jahres 1908 neu aufgenommnen 1,2 Milliarden
Reichs- und Staatsschulden machen allerdings nicht weniger als 30 Prozent
des Vermögenszuwachses für das Jahr aus.
Daß der Jahreszuwachs an Volksvermögen nicht viel niedriger sein kann,
ergibt sich in der Tat schon, wenn man die jährlichen Neuemissionen an
Börsenwerten ins Auge faßt.
Auch hierbei kann man aus verschiednen Quellen schöpfen. Nach den
amtlichen statistischen Erhebungen wurden in Deutschland an den Börsen zu¬
gelassen in den Jahren 1897/1906 an deutschen Staats-, Industrie- usw.
Werten 26857 Millionen Mark und abzüglich 3375 Millionen konvertierten
Papieren 23482 Millionen Mark, das sind im Jahre 2,7 Milliarden. Außerdem
wurden in derselben Zeit an ausländischen Werten zugelassen 21,9 Milliarden,
davon ab 8,2 Milliarden Mark Konvertierungen, also Neuemissionen 13,7 Mil¬
liarden. Von dieser Summe wird man aber gut zwei Drittel streichen müssen,
da nur ein Teil der Werte in Deutschland placiert ist. Die Summe würde
sich also auf 4,5 Milliarden vermindern, d. i. für das Jahr 450 Millionen
Mark. Nach dieser Statistik würden also im Jahre 3,15 Milliarden Mark
lediglich an Börsenwerten neu vom Lande aufgenommen worden sein. Rechnet
man noch etwa 500 Millionen Mark jährliche Neueinlagen in Sparkassen,
150 Millionen Mark in Genossenschaftsbanken hinzu, so erkennt man die
Aufnahmefähigkeit unsers Marktes, der sich allerdings in den letzten Jahren
wohl auch etwas übernommen und das angelegte Kapital vielfach nicht aus
Spar-, sondern aus Betriebskapitalien entnommen hat, was mit zu der Geld¬
knappheit führte.
Legt man übrigens bei den jährlichen Emissionen nicht die offiziellen
Zahlen, sondern die des Deutschen Ökonomisten zugrunde, der sich bemüht, die
wirklich in Deutschland aufgenommnen Werte festzustellen, so ergeben sich etwas
geringere Ziffern. Nach dem Ökonomisten wurden cuilliere von 1897 bis 1907
an Nominalwerten (deutschen und ausländischen) 22401 Millionen Mark, an
Kurswerten 24050 Millionen Mark, was für das Jahr 2,036 Milliarden oder
2,186 Milliarden Mark ergeben würde. Die Emissionen nach Kurswerten be¬
trugen in deutschen Werten nach dem Ökonomisten 19677 Millionen Mark,
d. i. im Jahre 1,788 Milliarden, an ausländischen 4373 Millionen Mark,
d. i. im Jahre 397 Millionen Mark. (Bei den ausländischen Werten ist die
Abweichung von dem reichsstatistischen Material hiernach aus dem schon an¬
gedeuteten Grunde die größte.)
Evert macht in der „Woche" vom 23. August 1906 mit Recht darauf auf¬
merksam, daß in Deutschland noch mehr als in England und Frankreich, das
„geistige Meliorationskapital" (wissenschaftliche, technische, gewerbliche Vor¬
bildung) zunehme und damit die Produktivität der verfügbaren Kapitalien ge¬
hoben werde. In der Tat zeigt sich in den letzten Jahrzehnten auf den
verschiedensten Wirtschaftsgebieten eine weitaus größere Zunahme unsrer Pro¬
duktivität, die wohl in der erwähnten Erscheinung zum Teil ihre Begründung
finden dürfte.
So weisen zum Beispiel die Einfuhr- und Ausfuhrentwicklung, der See¬
verkehr, Eisenbahnverkehr, die Roheisen- und Kohlengewinnung folgende Stei¬
gerungen in den Ländern England, Frankreich und Deutschland auf:
Deutschland marschiert hiernach, was. die Steigerung nach Verhältnis¬
zahlen betrifft, fast überall voran. Unsern alljährlichen Sparkapitalien wohnt
hiernach, auch an innerer Produktivkraft, eine große Bedeutung inne.
Gibt sonach der gegenwärtige Zustand unsrer staatlichen Verschuldung zu
Besorgnissen und Bedenken keinen Anlaß, so gestaltet sich die Färbung des
Bildes weniger freundlich, wenn wir ihre vorhandnen Entwicklungstendenzen,
namentlich im Vergleich mit England und Frankreich und im Hinblick auf die
Möglichkeit kriegerischer Verwicklungen, betrachten.
Die englische Schuld zeigt zunächst folgende Veränderungen in Milliarden
Mark (1 Pfund Sterling ^ 20 Mark gerechnet):
England tilgt sehr stark. Seit vielen Jahrzehnten ist dies das Prinzip
aller Finanzchefs. Die Tilgung erfolgt auf dreifachem Wege, erstens durch
gesetzliche Verwendung aller Überschüsse — und diese sind meist vorhanden —,
sogenannter via sinlcinA durck, zweitens durch Verwendung der alljährlich in
bestimmtem Betrage für den Schuldendienst ausgeworfnen Summe, soweit sie
für Verzinsung usw. nicht Verwendung findet, sogenannter uso siilKWZ turnt,
drittens durch Annuitäten. Die Erfolge dieser Schuldenpolitik gehen aus der
vorstehenden Zahlenreihe dentlich hervor. Vor dem Transvaalkriege tilgte
England (von 1878 bis 1890) jährlich Summen, die zwischen 100 und
140 Millionen Mark schwankten, von da bis zur Gegenwart zwischen 120
und 160 Millionen Mark (nur in den Jahren 1886, 1901 und 1902 waren
die Beträge niedriger). In den letzten Jahren waren die Summen zum
Teil noch höher (im Jahre 1907 etwa 360 Millionen Mark, für 1908/09
wird der voraussichtliche Tilgungsbetrag auf 300 Millionen Mark veran¬
schlagt). Seit dem Kriege sind schon etwa bis 800 bis 900 Millionen Mark
wieder getilgt.
Die Tilgungen würden noch höher gewesen sein, wenn man nicht seit
Anfang der neunziger Jahre durch besondre ^elf (?no1i<z vuiläinA acts, ng.og,1,
militari vorks acts usw.) alljährlich 20, 40, 60, 80 bis 120 Millionen Mark
Anleihen zu besonders bewilligten Zwecken, namentlich für große Hafenanlagen,
militärische Bauten usw. — in Durchbrechung des allgemeinen Prinzips, alle
Ausgaben aus laufenden Mitteln zu decken —, aufgenommen hätte. Diese
Anleihen sind jedoch nicht durch Emission von Konsols, sondern bei Spar¬
kassen usw. aufgenommen worden, im ganzen in Höhe von etwas über einer
Milliarde Mark; sie werden in dreißig Jahren (durch Annuitäten) abgetragen,
auch erscheint der Jahresdienst nicht auf dem allgemeinen Schuldenetat, sondern
auf dem betreffenden Nessortetat, dessen Ausgaben dadurch erhöht werden. In
der Zukunft wird dies Verfahren ganz aufgegeben und alles auf laufende
Fonds übernommen. (Erklärung des Schatzsekretärs, jetzt Premiers Asquith
bei Vorlegung des vorjährigen Budgets.)
! Die französische Schuld weist seit 1879/80 folgende Veränderungen
auf (1 Fr. 0.81 Mary: .
Eine Tilgungsfrist besteht nur bei der dreiprozentigcn amortisablen Rente
(kapitalisiert 2.9 Milliarden Mark) und bei einer Anzahl von Annuitäten
(kapitalisiert 2.7 Milliarden Mark). Im ganzen wurden im letzten Jahrzehnt
jährlich etwa 60 bis 70 Millionen Mark auf diese Weise getilgt. Von 1908
ab erhöht sich der Betrag auf etwa 80 Millionen Mark (infolge der vertraglich
vorgesehenen Verstärkung der Tilgung der dreiprozentigcn amortisablen Rente).
Während hiernach in England für die Zukunft von Jahr zu Jahr mit
einer bedeutenden Schuldvermindcrung zu rechnen ist. und sich in Frankreich
die Schuldsumme voraussichtlich in der Folgezeit wenigstens ans derselben Höhe
halten dürfte, falls nicht Marokko zuviel verschlingen sollte, liegen die Ver¬
hältnisse, wie bekannt, in Deutschland weit ungünstiger.
Die bisherige Entwicklung in diesem Lande zeigt folgende Zahlenreihe:
Die Tilgung erfolgt in Preußen seit 1897, im Reiche seit 1908 (für
dieses Jahr aber suspendiert) kraft Gesetzes mit 0,6 Prozent (drei Fünftel Prozent)
der Reichs- und Staatsschuld, außerdem aus den Rechnungsüberschüssen. In
Preußen ist die zuletzt genannte Tilgung jedoch infolge des Eisenbahnausgleichs¬
fonds-Gesetzes von 1903 illusorisch gemacht, wonach die Rechnungsüberschüsse
zunächst in diesen Fonds fließen, bis er 200 Millionen besitzt (tatsächlich ist
er fast ganz verbraucht). Im Reiche sind vorläufig Überschüsse nicht zu er¬
warten. Sind die Tilgungssummen in Preußen und im Reiche also sehr
gering, so ist andrerseits eine weitere starke Schuldvermehrung nach der
gegenwärtigen Lage der Finanzen und Schuldenpolitik mit Sicherheit voraus¬
zusehen.
Im Jahre 1908 ist bisher rund eine Milliarde Mark Schulden neu auf¬
genommen worden. Dabei hat aber Preußen noch etwa eine Milliarde Mark,
Sachsen noch 100 Millionen Mark unbegebne Kredite, auch das Reich
hat noch solche in Höhe von 200 bis 300 Millionen Mark. Nach der Er¬
klärung des Reichsschatzsekretärs ist in den nächsten Jahren ferner mit Sicher¬
heit im außerordentlichen Etat etwa eine Milliarde Schuldenzunahme zu er¬
warten. In Preußen werden die Ausgestaltung des Sekundärbahnnetzes,
vielleicht auch die Verstärkung der Betriebsmittel der Eisenbahnen alljährlich
mehrere Hunderte von Millionen Mark notwendig machen, von einer Um¬
wandlung einzelner Bahnstrecken in elektrischen Betrieb ganz zu schweigen.
Wir, werden hiernach bald die zwanzigste Milliarde Mark Schulden überschritten
haben, uns immer mehr Frankreich nähern und uns immer weiter von Eng¬
land entfernen. ? ^ ^
Das Bedenkliche einer solchen Entwicklung tritt namentlich hervor, wenn
man die Möglichkeit kriegerischer Verwicklungen in Betracht zieht. Auch die
auswärtige Politik wird in ihrer Bewegungsfreiheit dadurch beeinträchtigt.
Im Kriege wird erfahrungsgemäß der Emissionszins der Anleihen um
einige Prozent erhöht. Da wir in Deutschland infolge unsrer Schuldlage ge¬
nötigt gewesen sind, schon für sehr bedeutende Betrüge zum vierprozentigen
Typ überzugehn, während England nur zweieinhalb Prozent, Frankreich nur
drei Prozent zahlt, so kann man daraus entnehmen, welchen Nachteil diese
Unterschiede für eine bedeutendere Kapitalbeschaffung im Kriege für uus haben
können. Als besonders ungünstig muß unter diesem Gesichtspunkt auch die
Zusammensetzung unsrer Schuld angesehen werden.
England hatte vor dem Transvaalkrieg eine schwebende Schuld von
nur etwa 162 Millionen Mark. Infolge des Krieges — der ja meist zu¬
nächst zu einer Vermehrung der schwebenden Schuld führt, weil diese es er¬
möglicht, die hohen Zinssätze bald, wieder abzustoßen — stieg die schwebende
Schuld 1900 auf 322 Millionen Mark, 1901 auf 1,6 Milliarden Mark. Seit¬
dem ist sie (bis 1907) auf eine Milliarde Mark gesunken, gegenwärtig dürfte
sie nur 800 bis 900 Millionen Mark ausmachen und wird in den nächsten
Jahren eine weitere Verminderung erfahren.
In Frankreich schwankt die schwebende Schuld schon seit Jahrzehnten
zwischen 900 Millionen bis eine Milliarde Mark — es sind sowohl die
MiMtions Z, mure tsrme, die etwa unsern verzinslichen Schatzanweisungen
entsprechen, als die l>on8 an trssor, die mehr unsern unverzinslichen Schatz-
cmwcisungen im Hinblick auf ihre Bestimmung ähneln, zur schwebenden Schuld
gerechnet —, sie hat aber die Eigentümlichkeit, daß sie zum großen Teil ans
Forderungen der Sparkassen und Gemeinden an den Staat besteht, deren
Rückforderuugsrecht in Zeiten der Notlage zum Teil tatsächlich, zum Teil
— bei den Sparkassen — gesetzlich eingeschränkt ist.
Weit ungünstiger liegen die Sachen gegenwärtig in Deutschland. Wir
haben zunächst dreieinhalbprozentige Schatzanweisnngen, mit Dauer von einigen
Jahren, die zum Teil bald ablaufen, in Höhe von 160 Millionen Mark im
Reiche und von 145 Millionen Mark in Preußen; dazu kommen je 200 Millionen
vierprozcntige Schatzanweisungen mit fünfjähriger Dauer von 1907 für Preußen
und das Reich, endlich noch 200 Millionen vierprozcntige Schatzanweisungen
(ebenfalls mit fünfjähriger Dauer) für Preußen in diesem Jahre, zusammen
905 Millionen Mark. Dazu kommen nach der Reichsfinanzstatistik vom vorigen
Jahre noch 42,5 Millionen Mark für andre Buudesstciaten; das ergibt zu¬
sammen rund 948 Millionen Mark. Dazu kommen dann noch die unver¬
zinslichen Schatzanweisnngen, die zur vorübergehenden Beschaffung von Be¬
triebsfonds dienen und in diesem Jahre allein für das Reich im Maximum, das
aber wohl oft erreicht werden dürfte, auf 475 Millionen normiert, in Preußen
auf 100 Millionen Mark, wie in den Vorjahren, festgesetzt sind. In Württem¬
berg beträgt die Höchstgrenze 12 Millionen, in Hessen 10 Millionen Mark.
Man wird also diesen Teil der schwebenden Schuld auf etwa 600 bis 650 Mil¬
lionen Mark rechnen können, was den enorm hohen Betrag von 1,6 Milliarden
Mark schwebender Gesamtschuld ergibt, just die Höhe, auf die die schwebende
Schuld Englands im Beginn des Transvaalkriegs stieg. Die hohe schwebende
Schuld hat für den Kriegsfall den Nachteil, daß neu aufzunehmende Anleihen
zuerst zu ihrer Deckung verwandt werden müssen, statt für Kriegszwecke ver¬
wandt werden zu können. Sie wirkt aber auch schou in Friedenszeiten auf
den allgemeinen Geldmarkt ungünstig, da sie die Reichs-, Staats- und großen
Privatbanken mit schwimmendem, nicht klassiertem Material belastet.
Die Hoffnung, unsre 900 Millionen verzinslichen Schatzanweisungen nach
Ablauf aus laufenden Quellen, Rechnnngsüberschüssen usw. decken zu können,
besteht bei der jetzigen Finanzgebarung nicht, da etwaige preußische Über¬
schüsse vom Eisenbahnausgleichs- und Eiseubahndispositiousfouds absorbiert
werden, und da im Reiche Überschüsse nicht zu erwarten sind. Es sind also
im Grunde nichts als hinausgeschobue fundierte Schulden, deren Aus¬
nahme und Höhe aber sowohl im Hinblick ans finanzielle Kriegsbereitschaft
als auf Belastung des offnen Geldmarkts Bedenken hervorrufen.
in^7- ^>eorge Cleinow, der den Grenzbotenlesern wohlbekannte, treff¬
liche Kenner der russischen und polnischen Zustände, hat sich
mit seinem Buch: Die Zukunft Polens, dessen erster Band
kürzlich im Verlage von Fr. Wilh. Grunow erschienen und in
Iden Grenzboten schon kurz angezeigt worden ist, ein großes Ver¬
dienst erworben. Ich beabsichtige nicht, an dieser Stelle in eine ausführliche
Besprechung des Buches einzutreten; ich möchte nur nachweisen, warum ich
in seinem Erscheinen eine wertvolle und notwendige Ergänzung der Literatur
über die Polenfragc sehe.
Trotz aller Aufklärungsarbeit ist für die Mehrzahl unsrer Landsleute die
polnische Bevölkerung des preußischen Staats weiter nichts als eben eine
fremdsprachige Minderheit. Wie man sich zu einer solchen Minderheit stellen
soll, das ist eine Frage, die von Charakter, Temperament, politischer Partei¬
stellung und vielen andern Eigenheiten und Erfahrungen des Beurteilers ab¬
hängt. Auch die Geographie — fast möchte man sagen: die Geometrie spielt
dahinein; denn oft genug wird das Urteil nur dadurch bestimmt, daß zwischeu
dem Schauplatz der Frage und dem Beurteiler eine große Entfernung liegt.
Nur so erklärt es sich, daß die theoretischen Meinungen über die Pflichten des
Staats und der nationalen Mehrheit gegenüber einer fremdsprachigen Minder¬
heit immer noch das bestimmende Moment in der Stellungnahme zur Polen¬
frage sind. Daß die Polen früher ein eignes Reich gebildet haben, hat für
viele, selbst gebildete Leute nur die Bedeutung eines „Schulwissens". Gewiß,
sie nehmen mit Interesse davon Kenntnis und verwenden dieses Schulwissen
auch gelegentlich, um den Polen die Sünden ihrer Vergangenheit vorzuwerfen
und ihnen recht deutlich zu sagen, daß sie ihr Schicksal reichlich verdient
haben. Aber im Grunde berührt sie die geschichtliche Kunde von den Teilungen
Polens nicht mehr als etwa die Geschichte von der Besiegung des Vereingetorix
durch Cäsar. Eine interessante geschichtliche Tatsache, aber was geht es die
Gegenwart an? Wenn die Polen selbst daraus die Hoffnung auf Wieder¬
herstellung ihres alten Reichs entnehmen, so sind nur zu viele unter unsern
Landsleuten bereit, recht herzlich über diese „närrischen Ideen" und „phan¬
tastischen Träume" zu lachen, die ja doch ein festgefügtes Staatswesen wie
das Königreich Preußen gar nicht berühren können. Andre meinen, die
Polen würden sich ihre Sehnsucht nach dem unabhängigen Polen wohl mit
der Zeit aus dem Sinn schlagen, wenn nur dafür gesorgt werde, daß sie sich
als preußische Staatsbürger recht wohl fühlten. Was für eine starke Ver-
kennung der Volkspsychologie im allgemeinen und der slawischen Eigenart im
besondern! Aber es ist ein Glaubender außerordentlich schwer zu erschüttern
ist, weil er durch die Vorstellung von dem starken preußischen Staat, der
neben einer ungeheuern Mehrheit von deutschen Staatsbürgern eine kleine
Minderheit von polnisch sprechenden besitzt, kräftig unterstützt wird. Da
müssen natürlich die „Hakatisten", denen nachgesagt wird, daß sie diese un¬
glückliche Minderheit — angeblich aus reinem Vergnügen und fanatischem
Chauvinismus — ihrer Muttersprache „berauben" wollen, als besonders bös¬
artig veranlagte Menschen erscheinen.
Auf dieser falschen Grundvorstellung von dem Wesen der ganzen Frage
beruht es meiner Ansicht nach hauptsächlich, daß die Verständigung über ver-
schiedne wichtige Programmpunkte der Polenpolitik so schwer ist, und daß die
Debatte immer wieder in Erörterungen über die Zweckmäßigkeit einzelner
Maßregeln, die man möglichst aus ihrem Zusammenhang gelöst betrachtet,
auseinanderflattert. Als ich vor einigen Jahren mein Buch: „Die Polennot
im deutschen Osten" (1907 in zweiter Auflage bei Alexander Duncker in Berlin
erschienen) schrieb, legte ich aus den geschilderten Gründen besondern Wert
auf die richtige Fundamentierung des Gebäudes, das die preußische Polen¬
politik darstellt. Nur so ist es möglich, die einzelnen Maßregeln und Vor¬
schlüge in einen Zusammenhang zu bringen, indem man ihre Beziehung
zu jenem festen Fundament prüft und daraus ihre Notwendigkeit und Zweck¬
mäßigkeit für den Bestand des ganzen Gebäudes nachweist.
Worin besteht nun das Fundament, von dem wir hier sprechen? Es be¬
steht in der Erkenntnis, daß die Polen noch heute wie ehemals ein wirk¬
liches Volk sind, genau in demselben Sinne wie die Deutschen, Franzosen,
Engländer, Russen, und wen wir sonst noch nennen wollen. Mit voller Ab¬
sicht und Überlegung nenne ich die Polen in einer Reihe mit diesen großen
Völkern und nicht mit den fremdsprachigen Völkersplittern, die sich sonst auf
dem Boden größerer Staatsgebilde finden, und mit denen Unkenntnis oder
Mangel an Überlegung sie oft zusammenstellt. Man verstehe dies nicht falsch.
Wir als Deutsche verlangen natürlich und streben dahin, daß die Polen, die
im preußischen Staatsgebiet leben, das wirklich werden, was sie nach dem
Buchstaben des Staatsrechts und nach unsrer deutschen Anschauung schon heute
sein sollten, aber nach ihrem eignen Empfinden nicht sind, nämlich polnisch
sprechende gute Preußen und demzufolge treue Angehörige des Deutschen
Reichs. Aber diese unsre Anschauung, die wir im nationalen Interesse noch
durchzusetzen haben, schließt die objektive Anerkennung nicht aus, daß es ebenso
ein polnisches Volk gibt wie ein französisches oder ein italienisches.
Es ist also falsch, von der polnische» Minderheit in Preußen in derselben
Weise zu sprechen, wie man von den litauisch und wendisch redenden Be¬
völkerungselementen in Preußen spricht. Der Unterschied ist leicht klar zu
macheu, wenn man sich vergegenwärtigt, was eine Gemeinschaft von Menschen
erst zu einem Volke macht. Die Sprache spielt dabei freilich die erste Rolle;
sie hält die durch ursprünglich gemeinsame Abstammung oder durch Zusammen-
wohnen und Interessengemeinschaft aufeinander cmgewiesneu Gruppen, denen
sie als Mittel des Verkehrs und des Gedankenanstauschs dient, zusammen,
hilft sie aber anch von den andern absondern, denen die Sprache unverständlich
ist. Die Sprache als Trägerin aller Überlieferung ist zugleich die mächtigste
Bewcchreriu der sich in Sitten und Stammescharakter ausprägenden Volks -
eigenart. Aber das ist doch nur der Anfang und Umriß eines wirklichen
Volkstums. Es kommt darauf an, wie weit sich eine Völkerschaft selbständig
in den verschiedensten Beziehungen ausgestaltet und andern Völkern gegenüber
durchgesetzt hat, vor allem, ob sie einen umfassenden sozialen Organismus aus
sich erzeugt hat, der sich in einer eignen geschichtlichen Entwicklung betätigen
konnte. Auch die Litauer bildeten einst ein eignes Reich, das eine nicht unbe¬
deutende geschichtliche Rolle gespielt hat, aber die führenden sozialen Schichten
des litauischen Volks sind polonisiert worden, als Litauen sein Schicksal politisch
mit dem Polens verknüpft hatte. So ist das litauische Volkstum nur als
Unterschicht in einem fremden Staatswesen erhalten geblieben. Was von
geistigen Erzeugnissen in titanischer Sprache niedergelegt ist, verdankt — außer
der alten Volkspoesie — seine Existenz den Liebhabereien gelehrter Sonder¬
linge, nicht dein Bedürfnis des Volksgeistes; eine litauische Nationalliteratur
gibt es nicht. Es fehlt also der heutigen Gemeinschaft der litauisch sprechenden
eine alle Volksschichten umfassende soziale Organisation eigenwüchsigen Cha¬
rakters, eine ununterbrochne, spontane Entwicklung der nationalen Geschichte und
Literatur, der natürliche Drang, der nationalen Gemeinschaft eine politische
Gestalt zu geben.
Das ist alles bei den Polen ganz anders. Das Polentum umfaßt alle
nur denkbaren sozialen Schichten; sein Geistesleben spiegelt sich in einer reichen
und vielseitigen, stetig entwickelten Literatur und Kunst wieder; die hundert
Jahre, die seit dem Aufhören der politischen Selbständigkeit Polens verflossen
sind, haben die Erinnerung an die vorangegangnen achthundert Jahre, in
denen das polnische Volk neben den selbständigen Völkern der europäischen
Kulturwelt gleichberechtigt stand, nicht auslöschen können, sie haben vielmehr
in der leichtsinnigen und unbeständigen Nation das nationale Pflichtgefühl,
die Treue und Opferwilligkeit erst recht geweckt. „Der polnische Staat, sagt
Cleinow (Seite 9), konnte von den Physisch stärkern Nachbarn staatsrechtlich
zertrümmert werden, nicht aber der nur scheinbar erloschne Staatsgedanke, der
auf einer Geschichte von acht Jahrhunderten beruhte. Im Gegenteil, das
Flämmchen der national-polnischen Staatsidee, das im alten Privilegienstaat
kein Licht zu spenden vermochte, hat sich erst auf den Trümmern dieses ver¬
pesteten Organismus zu dem lodernden Flammenmeer entwickeln können, das
nun die ehemals polnischen Lande durchbraust. Die Teilung Polens hat den
Zusammenschluß aller Polen um die nationale Staatsidee zur Folge gehabt,
und der Möglichkeit eines solchen Zusammenschlusses nicht genügend Rechnung
getragen zu haben, das ist der Fehler der Teilungsmächte."
Ich glaube, daß alle Betrachtungen über die Polenfrage, wenn sie einigen
Wert haben sollen, von diesen grundlegenden Wahrheiten ausgehn oder sie
voraussetzen müssen. Ich habe mein Buch ebenfalls auf derselben Anschauung
aufgebaut, ich konnte sie jedoch nur so weit ausführen, als es zum Verständnis
der Probleme der preußischen Poleupolitik notwendig war. Aber jeder, der
sich mit dieser Frage beschäftigt, wird die Notwendigkeit fühlen, die nationalen
Bestrebungen der Polen als ein Ganzes aufzufassen. Nur so wird man der
Aufgabe, ihr Wesen und ihre Ziele zu erfassen, ganz gerecht werden.
Die preußischen Polen haben in geistiger und wirtschaftlicher Kultur den
höchsten Stand erreicht, die österreichischen Polen in politischer Betätigung
und in der Entwicklung ihrer nationalen Eigenart die größte Freiheit genossen.
Aber der nationale Schwerpunkt des polnischen Volks liegt doch da, wo seine
Hauptmasse ansässig ist, in dem Gebiet, an dem der geographische Name
„Polen" vorzugsweise haftet, das auch nach den Teilungen Polens noch den
Namen eines Königreichs geführt hat, und das noch heute in der letzten Re¬
sidenz der polnischen Könige seinen Mittelpunkt sieht. Dieses Gebiet ist das
russische Polen. Wenn die Polen lange Zeit geglaubt haben, ihre politische
Wiedergeburt am besten von Galizien aus organisieren zu können, so hat sich
dies neuerdings geändert. Wer jetzt die nationalen Bestrebungen der Polen
wirklich kennen lernen will, der muß die Polenfrage in Nußland studieren.
Aber es ist eine schwere Aufgabe, in dieses bisher noch so dunkle Gebiet
hineinzuleuchten. Es gehört dazu ein Mann, der nicht nur die Polen wirklich
kennt, sondern auch in Rußland Bescheid weiß, der über die vielseitigen Kennt¬
nisse und Beziehungen verfügt, um ein umfangreiches, den westlichen Politikern
bisher unbekanntes und meist auch unzugängliches Material zu sammeln, und
der den Fleiß und die kritische Fähigkeit, vor allem die Selbständigkeit des
Urteils und der Erfahrung hat, dieses Material, unbeirrt durch die bei der
Eigenheit der Frage so häufigen, absichtlichen und unabsichtlicher Täuschungen,
gründlich zu verarbeiten. Cleinow hat das Zeug dazu, diese schwere Aufgabe
zu lösen, und so müssen wir ihm dankbar sein, daß er uns in seinem Buche
diese wichtige je länger je mehr unentbehrliche Ergänzung der bisherigen
Literatur über die Polenfrage gegeben hat.
„Die Zukunft Polens" — der Titel könnte vielleicht hier und da falsche
Vorstellungen erwecken, nachdem uns hier und da Zukunftsbetrachtungen poli¬
tischer Natur beschert worden sind, die wohl geeignet waren, uns mißtrauisch
zu machen. In diesem Falle finde ich den Titel gleichwohl richtig gewählt.
Er kündigt keine Prophezeiungen an, sondern stellt eine Tatsache fest, ans die
hinzuweisen sehr notwendig ist, nämlich daß die sogenannte Polenfrage nach der
Meinung der Polen selbst nicht ihre gegenwärtige Lage in den drei Gebieten
der Teilungsmächte ins Auge faßt, sondern schlechthin ein einziges bedeutet,
was durchaus wirklich und buchstäblich zu verstehn ist: die Zukunft Polens.
Das will das Buch Cleinows überzeugend dartun. Möge diese tüchtige und ver¬
dienstvolle Aufklärungsarbeit überall in unsern politisch denkenden Kreisen einen
guten Boden finden!
le Deutsche Dichter-Gedächtnis-Stiftung ist bekanntlich
eine rein gemeinnützige Einrichtung unter Ausschluß aller pri-
! vaden Erwerbsinteressen und unter Fernhaltung aller politischen,
religiösen oder literarischen Sonderbestrebungen. Sie bezweckt,
hervorragenden Dichtern durch Verbreitung ihrer Werke ein
Denkmal im Herzen des deutscheu Volkes zu setzen und die schlechte Literatur
durch Verbreitung guter Bücher zu bekämpfen. Diese Aufgabe ist allein
schon für den deutschen Kulturkreis Mitteleuropas eine so gewaltige, daß
ihr Hunderttausende, ja Millionen von Mark alljährlich zur Verfügung stehn
müßten, wollte sie ihr ganz genügen. Aber es gibt ja keinen deutschen Carnegie.
Da ihr also so reiche Mittel nicht beschert sind, sie vielmehr nur über ein
eisernes Kapital von 12532,27 Mark verfügt, dessen Zinsen nur etwa 400 Mark
jährlich ergeben (beide Zahlen kein Druckfehler), hat es für die Stiftung der
größten Anstrengungen bedurft, ihren Jahreshaushalt so zu erweitern und zu
vermehren, daß sie es im Jahre 1907 immerhin schon auf die stattliche Höhe
von je 143544,88 Mark an Einnahmen und Ausgaben gebracht hat. In die
Einnahmen sind jedoch die Summen, die die Stiftung für den Verkauf ihrer
eignen Bücher erhalten hat, mit eingerechnet, während die Jahresbeiträge von
Privatpersonen und Körperschaften zusammen nur etwa 37000 Mark betragen.
Und von der Ausgabeusumme von 143 544,88 Mark hat sie uicht nur deutsche
Volksbibliotheken im Deutschen Reiche, in Österreich-Ungarn und der Schweiz
zu unterstützen und gute Literatur auch im übrigen zu verbreiten gesucht,
sondern sie hat einen bedeutenden Teil dieser Summe dafür verwenden müssen,
neue Auflagen ihrer schon früher gedruckten Bücher herzustellen und weitere
billige und gute Bücher zu drucken.
So stattlich also eine Einnahmen- und Ausgabeusumme von fast
150000 Mark für eine gemeinnützige Einrichtung auf deu ersten Blick erscheinen
mag, so werden doch schon diese Ausführungen genügen, zu zeigen, daß sie für
die ausgebreitete Tätigkeit, die die Deutsche Dichter-Gedächtnis-Stiftung ent¬
wickeln müßte und möchte, nicht ausreichen. Nur ein einziger Vergleich: der
Durchschnittsumsatz eines Kolportageromans, von denen doch in Deutschland
jährlich Dutzende erscheinen, betrügt etwa 250000 Mark; die Deutsche Dichter-
Gedächtnis-Stiftung dagegen hat für ihre sämtlichen Abteilungen und alle
Zweige ihrer Tätigkeit zusammen einstweilen nur eine Summe von jährlich noch
nicht 150000 Mark zur Verfügung.
Es ist der Deutschen Dichter-Gedüchtuis-Stiftung darum bisher leider nur
möglich gewesen, 1569 Bücher an ausländische deutsche Bibliotheken abzugeben.
Das ist aber, wie sie selbst sehr wohl weiß, weiter nichts als ein Tropfen
auf einen heißen Stein. Und so sehr sie sich über jede Bewerbung einer deutschen
Bibliothek im Auslande freut, weil sie daraus die Regsamkeit unsrer deutschen
Brüder im Auslande und ihren dringenden Wunsch, geistig mit dem Mutter-
lande in Verbindung zu bleiben, erkennt, so schmerzlich ist es ihr doch, wenn
sie die meisten dieser Bewerbungen abschlügig beantworten muß.
Die Stiftung will deshalb versuchen, von wohlhabenden Persönlichkeiten
größere Summen zu erhalten, die in einer besondern Kasse gesammelt werden
sollen, um daraus nur deutsche Büchereien im Auslande mit guten Büchern zu
unterstützen. Außerdem beabsichtigt sie, an das Auswärtige Amt die Bitte zu
richten, ihr für die Unterstützung deutscher Bibliotheken im Auslande eine
Geldbeihilfe zu bewilligen-
Ncchtsanwalt Dr. S. Heckscher, M. d. N., hat ja schon die Liebenswürdig¬
keit gehabt, im Novemberheft 1907 der Preußischen Jahrbücher einen Aufsatz
„Kampf gegen die literarische Volksvergiftung" zu veröffentlichen, in dem
gezeigt wird, wie notwendig die von der Stiftung entwickelte Tätigkeit ist, und
worin Dr. Heckscher den Vorschlag macht, das Deutsche Reich möge der
Stiftung eine Unterstützungssumme bewilligen.
Tatsächlich würde sich die Gewährung einer solchen Summe für das
Deutsche Reich auch aus andern Gründen sehr empfehlen. Denn natürlich
laufen auch beim Auswärtigen Amte viele Bewerbungen deutscher ausländischer
Bibliotheken um Unterstützung ein. Wenn aber diesen Bewerbungen vom Aus¬
wärtigen Amte direkt stattgegeben und den betreffenden Bibliotheken eine
bestimmte Summe zur Verfügung gestellt wird, so tritt nun die schon oben
angedeutete Schwierigkeit ein: daß die Verwalter der kleinen deutschen Aus¬
landbibliotheken, die so fern von den geistigen Mittelpunkten des deutschen
Lebens liegen, in Unsicherheit darüber sind, welche Bücher sie vor allen Dingen
anschaffen sollten. Ist es doch schon für den Lehrer oder den Pfarrer im
deutschen Dorfe schwierig, die Entscheidung darüber zu treffen, welche Bücher
er zweckmäßig für seine Volksbibliothek ankauft. Ja es ist bei der Überfülle,
zu der sich unser Schrifttum entwickelt hat, selbst für die Verwaltungen der
großstädtischen Volksbibliotheken eine ungemein schwierige Aufgabe geworden,
für das vorhandne Geld stets die rechten Bücher zu kaufen. Es ist daher der
cmsgesprochne Wunsch vieler Volksbibliotheksverwalter in Deutschen Reiche und
noch mehr im Auslande, sich für ihre Bücherankäufe von sachkundiger Seite
beraten zu lassen. Die Deutsche Dichter-Gedächtnis-Stiftung aber glaubt, auf
Grund ihrer Organisation und ihrer mannigfachen Erfahrungen imstande zu
sein, diese Beratung am besten übernehmen zu können. Denn sie prüft jedes
einzelne Buch, das von ihr an Volksbibliotheken verteilt werden soll, sorgfältig,
und sie kann dies tun, weil sie ein Buch in der Regel nicht nur in einem oder
in wenigen Exemplaren verbreitet, sondern jedes von ihr für wertvoll gehaltne
Buch gern in 800, ja in 1000 Exemplaren und in Zukunft hoffentlich in noch
größerer Anzahl ankauft, um es recht vielen Volksbibliotheken zugüngig machen
zu können. Ist doch auch erst auf diese Weise die Möglichkeit gegeben, Bücher,
die sich sowohl nach ihrem literarischen Werte als nach dem von ihnen be¬
handelten Stoffe für Volksbibliotheken ganz besonders eignen, deren Verfasser
aber nicht bekannt genug geworden sind, an die richtige Stelle zu bringen.
Und die Volksbibliotheken empfinden es ihrerseits als besondre Annehm¬
lichkeit, daß sie sich in der Bücherauswahl vou einer gemeinnützigen Einrichtung
beraten lassen können, für die geschäftliche Beweggründe nicht in Betracht
kommen. Setzt doch die Stiftung bei jeder Büchersammlung, die sie einer Volks¬
bibliothek überweist, ganz bedeutend zu, obwohl sie in der Regel (schon aus
sozusagen pädagogischen Gründen) ein kleines Entgelt für die Bücher verlangt,
damit die Volksbibliotheken nicht denken sollen, daß die Bücher aus der un¬
erschöpflich tiefen Kasse einer unsäglich reichen gemeinnützigen Gesellschaft an¬
geschafft seien. Trotz dieser kleinen Entgeltsumme setzt die Stiftung, wie gesagt,
bei jeder von ihr vergebnen Vüchersammlung bedeutend zu. und sie will das
tun, weil gerade dies einer ihrer Hauptzwecke ist, denn unsre kleinen Volks¬
bibliotheken, namentlich in den Dörfern, leiden nicht nur literarisch, sondern auch
finanziell die größte Not. Bestehn doch allein im Deutschen Reiche an solchen
kleinen Volksbibliotheken etwa 5000 bis 6000, von denen die Stiftung im
Jahre 1907 902 mit Büchern hat unterstützen können. Insgesamt hat sie bisher
deutschen Volksbibliotheken 119552 Bücher zugewandt.
Bewilligt das Auswärtige Amt die Bitte der Deutschen Dichter-Gedächtnis-
Stiftuug, so würden die deutschen Auslandbibliotheken, die daraufhin Bücher
von der Stiftung erhalten könnten, literarisch der Mühe der Auswahl enthoben
sein, obwohl die Stiftung bestimmte Wünsche natürlich nach Möglichkeit gern
berücksichtigt. Außerdem aber würde sich darüber hinaus noch ein andrer, nicht
zu unterschätzender Vorteil ergeben. Die Stiftung will nämlich selbstverständlich
keinen Gewinn aus dieser ihrer Tätigkeit ziehn, aber sie würde, da es sich
um den Ankauf bestimmter Bücher in größern Mengen handelt, die Bücher
zu billigeren Preise erhalten, als wenn jede Bibliothek sie einzeln für sich
ankaufte. Die betreffende Summe würde also einen sehr viel größern Nutzen
ergeben, als wenn sie in kleinen Teilsümmchen ausgegeben würde. Der Buch¬
handel aber würde nicht geschädigt, sondern gefördert werden, weil es sich
größtenteils um Gelder handelt, die ihm bisher überhaupt nicht zugute ge¬
kommen sind.
Die Deutsche Dichter-Gedächtnis-Stiftung hofft, daß die Summe so hoch
bemessen wird, daß ihr die Unterstützung von etwa tausend deutschen Bibliotheken
im Auslande (zunächst vielleicht mit einer Büchersammlung im Werte von
50 bis 75 Mark) ermöglicht wird. Nach ihrer Schätzung bestehn mindestens
tausend deutsche Bibliotheken im Auslande. Eine Statistik darüber gibt es ja
nicht, zumal da sich die Verhältnisse einzelner Orte schnell verschieben. Sollten
jedoch tausend deutsche Bibliotheken im Auslande tatsächlich nicht bestehn,
so kann daraus, meine ich, nur die einzige Schlußfolgerung gezogen werden,
daß es die höchste Zeit ist, sie zu begründen.
Aber es ist sehr zu befürchten, daß das Auswärtige Amt die Bitte der
Deutschen Dichter- Gedächtnis-Stiftung um Gewährung einer Untcrstützungssummc
von zunächst etwa 50000 Mark nicht erfüllen kann — weil ihm nämlich selbst
die notwendigen Mittel dazu fehlen. In Kapitel 6 Titel 14 seines Etats für
1908 sind zwar 850000 Mark zur Unterstützung deutscher Schulen, Bibliotheken
und sonstiger Bildungsbestrebungen im Auslande angesetzt. Gerade diese Zu-
sammenfassung aber wird wohl notwendig zur Folge haben, daß die ganze
Summe (bis vielleicht auf einen kaum mehr nennenswerten Rest) nur für deutsche
Auslandschulen ausgegeben wird, während die Bibliotheken und sonstigen
Bildungsbestrebungen notgedrungen leer ausgehn. Die Zusammenfassung dieser
drei Dinge war bisher völlig natürlich, weil der Etattitel zunächst eben nur
für die Unterstützung deutscher Schulen im Auslande bestimmt war, und sich die
genannten weitern Zwecke erst allmählich und zunächst in kleinerm Umfange
als notwendig erwiesen. Anfangs war also die Schaffung eines besondern
Etattitels nicht notwendig, vielmehr konnten sie am einfachsten und besten unter
dem für die deutschen Auslandschulen untergebracht werden. Mit der wachsenden
Bedeutung der über die Schule hinausgehenden Bildungsbestrebungen aber
scheint mir diese Verschmelzung auf die Dauer nicht vereinbar. Solche Fonds
reichen für die Zwecke, denen sie zu dienen haben, erfahrungsgemäß nie aus.
So und so viele Bewerbungen müssen zurückgestellt oder ganz abgewiesen werden,
damit wenigstens den wichtigsten stattgegeben werden kann. Bei der großen
Bedeutung der deutschen Auslandschulen scheint es mir auch in der Tat, daß
von der dem Auswärtigen Amte zur Verfügung stehenden Summe von
850000 Mark — wenn diese auch um 200000 Mark höher ist als bis zum
vorigen Jahre — ein irgend nennenswerter Betrag für deutsche Bibliotheken
und Bildungsbestrebungen außerhalb der Schulen nicht abgezweigt werden kann.
Im Gegenteil: diese Etatsposition sollte auf mindestens 1 Million Mark erhöht
werden — trotz der schlimmen Finanzlage des Deutschen Reichs. Es würde
sich im ganzen Reichstage wohl nicht eine einzige Stimme gegen eine solche
Erhöhung erheben.
Damit also weder die deutschen Schule» noch die deutscheu Bibliotheken
im Auslande zu kurz kommen, scheint es mir zweckmäßig zu sein, daß man den
nunmehr 350000 Mark betragenden Titel 14 unter Kapitel 6 in Zukunft nur
für deutsche Schulen im Auslande bestimmt, daß dagegen für die Unterstützung
deutscher Bibliotheken im Auslande ein besondrer Etatposten geschaffen wird.
Man könnte diesen versuchsweise zuerst nur mit 50000 oder mit 100000 Mark
ausstatten — eine Summe, die gewiß sehr bescheiden ist — und könnte die
Summe spater, sobald Erfahrungen über den Nutzen vorliegen, den sie stiften
soll, entsprechend erhöhen; diese Erfahrungen werden sich in kürzester Frist
ergeben.
Ich möchte es um so mehr als eine Ehrenpflicht des Deutschen Reichs
betrachten, für die Unterstützung deutscher Auslandsbibliothekeu besondre
Mittel zur Verfügung zu stellen, als vom Auslande in derselben Richtung
manches geschieht. So will ich nur kurz darauf aufmerksam machen, daß die
^llianos VisuiyMss jährlich eine sehr bedeutende Summe für die Unterstützung
französischer Schulen und Bibliotheken im Auslande ausgibt. Ihr 24. Jahres¬
bericht zum Beispiel gibt an, daß diese Summe im Jahre 1905 die stattliche
Höhe von 550000 Franken betragen hat. Meist handelt es sich, soviel sich
aus den Drucksachen ersehn läßt, nicht so sehr um die Unterstützung von Schulen
als um die französischer Schulbibliotheken im Auslande. In Italien nimmt sich
die Looistg, vanw ^liMsri der gleichen Aufgabe an. Sie gibt jährlich mehrere
hunderttausend Lire für ihre Zwecke aus (im Jahre 1906/07 zum Beispiel ins¬
gesamt 223 567,33 Lire), von denen ein großer Teil zur Unterstützung italienischer
Bibliotheken im Auslande verwandt wurde.
Auch wir Deutschen sollten also keine Zeit mehr verlieren, sondern auch
unsrerseits dieses bisher fast vergessene Mittel zur Erhaltung unsers Volks-
tums im Auslande anwenden: deutsche Bibliotheken mit guten Büchern zu
unterstützen. Wer hilft mit? Und welcher deutsche Mann will sich das
Verdienst erwerben, durch Zuwendung eines größern Kapitals an die Deutsche
Dichter-Gedächtnis-Stiftung die sichere Grundlage dafür zu schaffen? Er würde
seinen Namen mit unzerstörbaren Buchstaben in das Gedenkbuch des deutschen
Kultur- und Geisteslebens eintragen.
eher einen der früher von mir in der großen Weimarer Goethe-
Ansgabe herausgegebnen Bände von Goethes Briefen habe ich
im vorigen Jahre an dieser Stelle (Grenzboten 1907, Heft 1
und 3) ausführlich berichtet, über den 37. Band der ganzen
Reihe. Es war das eine sehr anziehende Aufgabe, dn die Briefe
jenes 37. Bandes eine ganz besonders wichtige Epoche in Goethes Leben
enthalten, den letzte» Aufenthalt des Dichters in Böhmen im Jahre 1823,
dem wir eines seiner schönsten und tiefsten Gedichte verdanken, die Marien¬
bader Elegie. Vorklang, Höhepunkt und Abklingen dieser Ulrikenepoche gaben
jenem Briefbande einen ganz eignen, einheitlichen, schönen Zusammenhang.
Wenn ein solcher auch dem gegenwärtig zu besprechenden 41. Briefbande fehlt,
so bietet er doch eine große Fülle des Interessanten und Neuen. Neues
freilich nicht in dem Sinne, daß die in dem Bande enthaltnen bisher un¬
gedruckten Briefe absolut neue Züge in das Bild Goethes brächten, wie dieses
der Menschheit nun seit einem Jahrhundert vor Angen steht; das ist auch
von keinem der uoch ausstehenden Briefbünde zu erwarten. Neues aber doch
in dem Sinne, daß hier und da Schatten vertieft, Lichter erhöht und so die
großartige Plastik und Anschaulichkeit dieser einzigartigen Menschengestalt immer
mehr gesteigert wird.
Jeder einzelne Briefband, das darf man wohl sagen, spiegelt den ganzen
Goethe ab, jeder neue Band zeigt, wie ein Mikrokosmos, das, was wir an
Goethe immer nen bewundern: den ungeheuern Umkreis seiner Interessen,
seine Gründlichkeit, seine liebevolle Aufmerksamkeit auf das Kleinste wie auf
das Größte, seine bis ins höchste Alter bewahrte Arbeitskraft und -lust, seinen
Fleiß, vor allem auch seine unvergleichliche Liebenswürdigkeit und reine
Herzensgüte.
Alles dieses tritt auch in dem hier zu besprechenden Bande zutage; wir
hören Goethe sich äußern über die höchsten geistigen Gebilde, wie die Helena
im „Faust"; wir sehen ihn aber auch Sorge tragen für Riemers Kochofen
und für Gänseleberpasteten aus Frankfurt am Main.
Der 41. Briefband zeigt uns Goethe im siebenundsiebzigsten Jahre seines
Alters; er umfaßt die neun Monate April bis Dezember 1826 und enthält
insgesamt 249 Briefe, von denen 146, also mehr als die Hälfte, bisher un¬
gedruckt waren. Von den insgesamt 108 Empfängern stehn der Briefzahl
nach an der Spitze: der Großherzog Karl August mit 19 Briefen, Sulpiz
Boisseree mit 17, Frommann mit 16, Zelter mit 13, der Kanzler Müller
mit 12, Heinrich Meyer mit 11 und der Verleger Cotta mit 8 Briefen.
Neben mancherlei „Hauskreuz" — einem langwierigen Hals- und Drüsen¬
leiden, das Goethen bis in den Sommer hinein zu schaffen machte, dem Sturz
seiner Schwiegertochter vom Pferde, wodurch sich Goethe beinahe in die Rolle
des Herzogs in seiner „Natürlichen Tochter" versetzt sah, und einer Er¬
krankung Meyers, die diesen treuen und unentbehrlichen Arbeitsgenossen nötigte,
nach Karlsbad zu reisen und so einige Wochen von Goethe fern zu sein —
neben diesem „Hauskreuz" brachten die neun Monate, die unser Band umfaßt,
eine Fülle der wertvollsten Anregung von außen, vor allem aber eine Fülle
wichtiger Arbeiten. Als „Hauptgeschäft" die Sorge für die „Ausgabe letzter
Hand", vor allem die Beschaffung von „des durchlauchtigsten deutschen Bundes
schützenden Privilegien". Mit welcher peinlichen Sorgfalt und umständlichen
Feierlichkeit der greise Dichter diese ganze Angelegenheit, das literarische Ver¬
mächtnis an sein Vaterland, behandelte, haben die vorhergehenden Briefbände
zur Genüge gezeigt; in dem vorliegenden Bande gelangt diese Angelegenheit
zum glücklichen Abschluß; die Anzeigen der neuen Ausgabe, vom Verleger
Cotta zu Goethes nicht geringer Beunruhigung lange verzögert, treffen endlich
ein und werden nach allen Richtungen hin verschickt; der Druck der ersten
Lieferung, d. h. Band 1 bis 5, der Ausgabe letzter Hand, schreitet vor, Goethe
bekennt von ihnen in einem Briefe an Nikolaus Meyer: „Ich darf wohl sagen,
daß gerade die erste Lieferung von fünf Bänden, die ich zum Druck abschicke,
eben als das Wirksamste betrachtet werden darf, was seit langer Zeit in
unsere deutsche Litteratur eingegriffen hat; es sind vier Bände kleiner Ge¬
dichte, zwei fast wie sie bekannt sind, zwei theils neu, theils frisch gesammelt,
und sodann der »Divan«, dem Gehalt nach stark vermehrt." Geflissentlich
verschweigt Goethe hier noch das Wichtigste des Inhalts, das, worauf er
selbst den allergrößten Wert legte, die dem vierten Bändchen eingefügte
„klassisch-romantische Phcmtasmagorie, Helena, Zwischenspiel zu Faust". Goethe
vollendet diese Dichtung in unserm Zeitraum und sendet die Handschrift ab¬
schnittweise an Boisseree. Diesem klugen und freundlichen Vermittler zwischen
dem Dichter und dessen Verleger Cotta schreibt Goethe über die erste Lieferung:
„Lassen Sie mich die Sache etwas höher angreifen und aussprechen: der
Autor lebt, und da ihm der Ewige noch Kräfte verleiht, will er sich auch
noch lebendig erweisen. Diese fünf Bände sollen nicht bloß eine gemeine
Lieferung sein (ich will endigen, wie ich angefangen habe), den Werth der
fünf Bünde, insofern sie schon dort fd. h. in Stuttgarts sind, kann man be¬
urtheilen; aber die angekündigte »Helena« soll zu dem fünften Bande noch
etwas bringen, was sich niemand erwartete." Bon dichterischen Werken
werden, nach glücklicher Vollendung der „Helena", vor allem „Wilhelm
Meisters Wanderjahre" gefördert, ferner die „Zahmen Xenien" bereichert und
geordnet, endlich auch ein alter epischer Lieblingsplan aus der glücklichen Zeit
des Zusammenwirkens mit Schiller wieder hervorgesucht, das „Jagdgedicht",
das nunmehr in Prosa mit zartestem lyrischem Ausklang unter dem allgemeinen
Titel „Novelle" zum Abschluß gelangt.
Neben diesen poetischen Arbeiten geht eine reiche ästhetisch-kritische und
wissenschaftliche Tätigkeit her; die naturwissenschaftliche zwar tritt in dieser
Zeit etwas in den Hintergrund, dafür nimmt die Beschäftigung mit der Welt¬
literatur einen bedeutenden Raum ein und wird durch Veröffentlichung jener
gehaltreichen Aufsätze über „Shakespeare als Theaterdichter", über „Plato
als Mitgenossen einer christlichen Offenbarung" und andres im dritten Heft
des fünften Bandes von „Kunst und Altertum" gefördert sowie durch das
erneute Studium der neugriechischen, besonders aber der serbischen Volkspoesie
erweitert.
Besondre Erwähnung verdienen auch die in diese Zeit fallenden Vor-
arbeituugen und Verhandlungen wegen der Veröffentlichung von Goethes
Briefwechseln mit Schiller und mit Zelter. So ist der Siebenundsiebzigjährige
bemüht, nach allen Seiten hin zum Abschluß zu kommeu und die reichen
Zeugnisse seines geistigen Lebens wohlgeordnet und in reiner Form der Nach¬
welt zu überliefern.
Ungewöhnlich reich war in diesen Monaten die Anregung, die Goethe
durch auswärtige Besuche erfuhr, und die dem Greis, der nun schon seit drei
Jahren sein stilles Klostergartenleben nicht mehr, wie in früherer Zeit, durch
Reisen erfrischen mochte, eine Fülle neuer Eindrücke brachte.
Zumal über das wissenschaftliche und künstlerische Leben Frankreichs, über
Paris erfuhr er viel Neues durch Boisseree, der sich zu Goethes größter Freude
im Mai 1826 zwei Wochen in Weimar aufhielt, sodann durch den eben von
Paris zurückkehrenden Bildhauer Rauch, durch die Stadtgenossen Coudray
und Weyland, die beide in diesem Jahre Paris besuchten und durch ihre
frischen Schilderungen des soeben Erlebten und Gesehenen den „Zustand" der
französischen Hauptstadt Goethen auf das lebendigste zur Anschauung bringen
konnten. Talma, der bedeutendste tragische Schauspieler Frankreichs, den
Goethe vor zwanzig Jahren, 1808, in Weimar persönlich kennen gelernt hatte,
starb am 19. Oktober 1826; Coudray, damals gerade noch in Paris, schrieb
an Goethe: „In dem Augenblick vernehme ich Talaas Tod, dessen Krank¬
heit schon seit Wochen hier große Theilnahme erregt hat. Der Schmerz
der Franzosen über das Hinscheiden dieses ihres Lieblings wird durch die
mißlungenen Versuche des Erzbischoffes, den Freidenker in den Schooß der
gegenwärtig hier am Hofe dominirenden Kirche zurückzuführen, um etwas ge¬
mildert und die Menge frohlockt, daß Talma standhaft geblieben."
In einem bisher ungedruckten Briefe an den Großherzog Karl August
vom 30. Oktober kommt Goethe darauf zu sprechen, wie folgt: „Was uns
die französischen Blätter von seinem Leben und künstlerischen Bestrebungen
mittheilen, wird im höchsten Grade zu bewundern und zu billigen sein. Die
Bemühungen der Geistlichkeit bei seinem Abscheiden deuten auf alle Fälle darauf
hin, daß man Skandale zu vermeiden keineswegs besorgt ist." Goethe fügt
die wichtige Bemerkung hinzu: Das Abscheiden Talaas sei sehr zu bedauern,
„besonders da in einer gewissen Folge von Zeit die Bemerkung sich machen
läßt: daß wohl Talente immerfort geboren werden, daß es ihnen aber mehr
und mehr an gründlicher und ruhiger Ausbildung zu ermangeln scheint."
„Mangel an gründlicher und ruhiger Ausbildung"! — in wie viel höherm
Grade gilt das noch von unsrer heutigen Zeit, die unbarmherzig jedes Talent
an das grelle Licht der Öffentlichkeit zerrt und so nur allzu häusig das
ruhige Ausreifen verhindert, das einzig in der Stille, im schützenden Dunkel
der Verborgenheit und des Nichtbekanntseins möglich ist.
Immer wieder wird Goethe auf Paris hingewiesen; eifrig studiert er die
Pariser Zeitschrift 1^6 (Uods, die gerade jetzt doppeltes Interesse für den
Dichter erhielt, dadurch daß Stapfers französische Übersetzung seiner drama¬
tischen Dichtungen, die seit kurzem in vier Bünden vollendet vorlag, im Olods
eine feinsinnige und umfangreiche Würdigung durch Ampere erfuhr. Mehrere
Wochen lang beschäftigt sich Goethe eingehend mit dieser Besprechung Amperes
und veröffentlicht einen Auszug daraus in „Kunst und Altertum". Auch das
naturwissenschaftliche Interesse wird von Paris aus gefördert, und zwar durch
eine reichhaltige Sammlung französischer Fossilien, die Baron Cuvier sendet;
Cuviers neuste, in Paris gehaltne Vorträge brachte Coudray von dorther
mit; und so fand sich Goethe von den verschiedensten Seiten angeregt, von
dem kleinen Weimar seine Blicke nach dem Leben der Weltstadt zu richten,
deren räumliches Wachstum er an der Hand des neusten Stadtplans und sehr
schöner topographischer Kupfer verfolgte.
Von Paris aus kam auch die Berliner „Nachtigall", wie Goethe sich
ausdrückt, nach Weimar geflogen, Henriette Sontag. Unter dem 4. September
lesen wir in Goethes Tagebuch den Vermerk: „Demoiselle Sontag sang un¬
vergleichlich", und an Zelter berichtet Goethe zwei Tage später: „Daß
Demoiselle Sontag nun auch klang- und tonspcndend bei uns vorüber gegangen,
macht auf jeden Fall Epoche. Jedermann sagt freilich, dergleichen müsse mau
oft hören: und der größte Theil säße heut schon wieder im Königstädter
Theater. Und ich auch. Denn eigentlich sollte man sie doch erst als Indi¬
viduum fassen und begreifen, sie im Elemente der Zeit erkennen, sich ihr
assimiliren, sich an sie gewöhnen, dann müßt' es ein lieblicher Genuß bleiben.
So aus dem Stegreife hat mich das Talent mehr verwirrt als ergetzt. Das
Gute, das ohne Wiederkehr vorübergeht, hinterläßt einen Eindruck, der sich
der Leere vergleicht, sich wie ein Mangel empfindet."
Auch Freund Zelter erfreute Goethen in dem Zeitraum unsers Briefbandes
durch seinen Besuch. Vom 7. bis 19. Juli war er mit seiner Tochter Doris
in Weimar. Goethe teilt dem Großherzog Karl August in einem bisher un-
gedruckten Briefe vom 12. Juli mit: „Nun hat sich Zelter bei mir eingefunden,
da denn das Particuläre der Musik und die daran sich knüpfenden Universalia
zur Sprache kommen. Gestern hat er die Orgel sin der Stadtkirche) gesehen
und belobte die Veränderungen. Morgen werden wir die Bürgerschule besuchen,
zur allgemeinen Schulstunde." Dieser Besuch der Bürgerschule — der jetzigen
Karl-August-Schule in der Bürgerschulstraße, einer Stiftung des Großherzogs
bei Gelegenheit seines funfzigjährigen Negierungsjubiläums im Jahre 1825 —
fand statt am 13. Juli, unter dem wir in Goethes Tagebuch lesen: „Fuhr
mit Professor Zelter und Oberbaudirector Coudray in die Bürgerschule. Wir
fanden den Director dort und die sämmtlichen Lehrer im Unterricht beschäftigt.
Bemerkten die verschiedenen Methoden; auch trafen wir Taubstumme." Inter¬
essanter als dieser Vermerk ist das, was Goethe über den Besuch der Bürger¬
schule an den Großherzog schreibt, es ist so bezeichnend für Goethes Art zu
schauen und zu denken, daß es hier nicht fehlen darf, überdies gehört die
Stelle einem bisher unbekannten Briefe an; sie lautet: „Um nun aber aus
der Unvernunft pvas unter dieser »Unvernunft« gemeint ist, darüber später)
in das Vernünftige überzugehen, vermeide schuldigst, daß wir die neue Bürger¬
schule besucht haben. Das Gebäude bewirkt schon selbst Cultur, wenn man
es von außen ansieht und hineintritt. Die rohsten Kinder, die solche Treppen
auf- und abgehen, durch solche Vorrüume durchlaufen, in solchen heiteren
Sälen Unterricht empfangen, sind schon auf der Stelle aller düstern Dumm¬
heit entrückt, und sie können einer heitern Thätigkeit ungehindert entgegen
gehen. Die Lehrart selbst war mir zu fremd und neu, als daß ich mir davon
einen deutlichen Begriff hätte machen können; indessen mußte man gut davon
denken, da die Kinder mit Schnelligkeit und Heiterkeit Fragen beantworteten
und Aufgaben lösten."
In derselben Zeit wie Zelter hielt sich ein andrer Norddeutscher in Weimar
auf, der Braunschweiger Maler Ludwig Sebbers. Er malte damals das be¬
kannte, ungemein fein und sorgfältig ausgeführte Miniaturbildnis Goethes auf
der Tasse. „Ich darf nicht verschweigen — schreibt Goethe an Meyer, als dieser
im Auftrage der Großfürstin Maria Paulowna bei Goethe anfragte, ob Sebbers
wohl auch imstande sein würde, die beiden Prinzessinnen Maria und Augusta
in Miniatur zu malen —, daß ich ihm wohl zwanzigmal, zu Stunden und halben
Stunden gesessen, sowohl zu der ersten Anlage, welche schon fertig genug erschien,
als nach zweimaligem Brennen zum Retouchiren. Er hat sich aber hiebei keinen
Strich, keinen Punct aus dem Gedächtniß, willkürlich oder zufällig erlaubt; daher
denn freilich ein sehr ähnliches und lobenswürdiges Bild entstanden ist."
Sebbers wünschte über diese seine Leistung ein schriftliches empfehlendes
Zeugnis von Goethe und Meyer, und ich habe dieses bisher unbekannte, in
mehr als Einem Sinne interessante Zeugnis im Anhang mitgeteilt; Meyer
schreibt an Goethe:
„Sie wünschen, hochverehrter Herr und Freund, von mir zu vernehmen,
wie ich Ihr Bildniß von Herrn Carl ^vielmehr: Ludwigs Sebbers auf eine
porzellanene Bechertasse nach der Natur gemalt befunden, und welche Verdienste
demselben müßten zugestanden werden.
Die sorgfältigste Pflege hat der Künstler dem Bildniß zugewendet, und
so ist ihm dasselbe uach meiner Ansicht vorzüglich gelungen. Ruhige Haltung
im Ganzen, bestimmte Umrisse ohne Härte, Rundung, übereinstimmende Züge,
belebter Ausdruck, kräftiger warmer Ton der Fleischtinten, löbliche geschmack¬
volle Behandlung der Haare so wie des Gewandes sind als preiswürdige
Eigenschaften bloß anzudeuten, weil sie dem kunstkundigen Beschauer des Werks
von selbst sich offenbaren.
Doch ein Umstand und zwar in gewisser Hinsicht der wichtigste, der diese
Malerei besonders bei Auswärtigen empfehlen und ihren Werth erhöhen
dürfte, muß ausdrücklicher bezeugt werden, nämlich die überaus wohlgetrosfene
Ähnlichkeit. Es ist mir kein Bildniß von Ihnen bekannt, welches Ihre Züge,
Ihre Gestalt und sichtliches Wesen wahrhaftiger aufgefaßt darstellte; ich finde
mich sogar nicht abgeneigt, der Arbeit des Herrn Sebbers in Betreff dieser
Eigenschaft einen entschiedenen Vorzug einzuräumen."
Goethe fügt hinzu:
„Im Allgemeinen hat mich die Arbeit angenehm überrascht, eben so kann
ich auch der Kunstbeschaffenheit der Theile nur Beifall geben: die Grau in
Grau gemalten Ornamente, aus Figuren, Blätterwerk u. a. bestehend, sind
geistreich erfunden, wohl gezeichnet, von gutem Geschmack und zierlicher Aus¬
führung. Mit verständigem Bedacht hat indessen der Künstler noch sorg¬
fältigere Pflege dem Bildniß zugewendet, und so ist ihm dasselbe auch, nach
meiner Ansicht, vorzüglich gelungen."
Goethes Sohn fährt fort:
„Die von Herrn Ludwig Sebbers bei seinem Hiersein genialte Porzellan-
Bechertasse hat wegen des zierlich und geschmackvoll angebrachten Reich¬
thums der Zierathen allgemeine Bewunderung erregt, besonders aber, was
die Ähnlichkeit des darauf hervortretenden Bildnisses betrifft, jede Forderung
vollkommen befriedigt, wie Unterzeichneter auch von seiner Seite, als mit dem
Original nahe verwandt, gern bezeugen mag."
Endlich schließt Goethe selbst das Zeugnis väterlich wohlwollend ab,
wie folgt:
„Daß ich der Überzeugung des Herrn Hofrath und Director Meyer
vollkommen beipflichte, versichere und füge hinzu, wie ich mit Vergnügen an
Herrn Sebbers einen jungen Mann gefunden, der entschiedene Naturgaben
mit musterhaften Fleiß practisch ausbildet, indem er einen Weg verfolgt,
worauf man jeden jungen Künstler zu erblicken wünscht. Allem Guten auf
einem gleichmäßig fortgesetzten Lebensgnnge, zur Freude seiner Gönner und
Beschützer, wie zu seinem eignen Glück mit Vertrauen entgegen sehend."
Das nüchterne besonnene Urteil Meyers über die große Ähnlichkeit des
Gocthebildnisses von Sebbers ist ein wichtiger Beitrag zu einer von nur vor¬
bereiteten Sammlung von Äußerungen Goethischer Zeitgenossen, das heißt
solcher, die Goethe persönlich gekannt haben, über die Bildnisse und Büsten
Goethes. Besäßen wir doch nur eine einzige Photographie oder Daguerrvtypie
von Goethe, vielleicht würden wir für sie gern alle Goethebildnisse in Kauf
geben. Da dieses leider nicht der Fall ist, müssen uns die Urteile derer, die
Goethe persönlich gekannt haben, über die Ähnlichkeit oder Unühnlichkeit seiner
Bildnisse von besondern: Werte sein; eine solche Sammlung ist aber noch nicht
vorhanden. (Schluß folgt)
ährend die christlichen Eltern ihr Kind als eine Gabe Gottes
ansehen, betrachteten es die Römer nur als ihr eignes Geschöpf
und wurden sich ihrer Verantwortlichkeit nicht bewußt. Daher
entstand die grausame Sitte, daß kein mißgestaltetes Kind am
Leben bleiben durfte, mochte sich die unglückliche Mutter dagegen
auflehnen oder nicht. Und das Zwölftafelgesetz machte diese Sitte zum Gebot.
Aber auch gesunde und wohlgestaltete Kinder, namentlich weibliche Wesen,
wurden von armen und reichen Leuten getötet, oder was noch schlimmer war,
ausgesetzt — von jenen, weil sie die Armut für das größte Unglück betrachteten,
von diesen, weil sie nicht das Erbgut unter zu viele teilen wollten. Welchem
traurigen Lose gingen solche armen ausgesetzten Wesen entgegen! Sklaven¬
arbeit und Prostitution waren die regelmäßigen Folgen. Eingeschränkt wurde
diese Unsitte von staatlicher Seite erst durch Augustus, während es auch zur
republikanischen Zeit schon Geschlechter wie die sssus Mdia gab, die überhaupt
keine Aussetzungen gestatteten. Als ein Verbrechen wurde die Aussetzung erst
im vierten Jahrhundert n. Chr. bestraft, aber auch dann noch nicht völlig
unterlassen. Bekannt ist, wie groß die väterliche Gewalt bei den Römern war:
es war ein vollständiges Eigentumsrecht. Der Vater konnte jederzeit sein
Kind verkaufen oder töten, und dieses Recht blieb bis ins zweite Jahr¬
hundert u. Chr. hinein.
Die Geburt eines Kindes, das als lebensfähig anerkannt und behalten
wurde, erregte in der engern wie weitern Familie ganz besondre Freude. In
alterer Zeit sagte man das Ereignis durch Boten an, später, wie wir aus
Juvenal wissen, auch durch die Zeitung, also schon in ähnlicher Form wie
heute. Verwandte und besonders die Sklaven, die sich die Gunst ihres Herrn
zu erhalten wünschten, hielten es für ihre Pflicht, dem kleinen Sprößling Ge¬
schenke zu bringen und die Gaben an den folgenden Geburtstagen zu wieder¬
holen, für die armen Sklaven freilich eine empfindliche Steuerlast.
Für Mutter und Kind sowie für alle, die bei der Geburt behilflich ge¬
wesen waren, war ein festlicher Reinigungstag angesetzt, der in Rom mit dem
Namenstage zusammenfiel — für die Knaben der neunte, für die Mädchen der
achte Tag nach der Geburt, für die Mädchen wohl deshalb früher, weil
man dadurch von vornherein die frühzeitigere weibliche Entwicklung zum Aus¬
druck bringen wollte. Der Festtag wurde ähnlich dem heutigen Tauftage je
nach den Verhältnissen der Familie mit größerm oder geringerm Aufwande
gefeiert. In der Namengebung ist zunächst zu bemerken, daß die Bildung von
Patronymiken fehlte, wie sie bekanntlich bei den Griechen sehr beliebt war.
Fast jeder Römer führte drei Namen: Vor-, Familien- und Zunamen. Vor¬
namen gab es vielleicht dreißig, sodaß natürlich die einzelnen außerordentlich
häufig vorkamen. Interessant ist, daß einzelne Geschlechter den einen oder
andern Vornamen gänzlich mieden. So wissen wir aus Livius, daß nach
384 v. Chr., nach der Verurteilung des M. Martius Capitolinus, die ^of
Nlmlia. den Vornamen Marcus nicht mehr angewandt hat. Der Familienname
erbte von Geschlecht zu Geschlecht und war für alle gemeinschaftlich, die dem¬
selben Stamme angehörten. Die weiblichen Mitglieder der Familien wurden
meist ohne Vornamen nur mit dem Namen der Zsns benannt, wie Tullia,
Cücilia u. a. in. Wenn zwei Töchter vorhanden waren, so bezeichnete man sie
mit maior und minor, wenn mehrere mit xrims,, Lgouncla usw. Die aus¬
giebigste Freiheit gestattete man sich in dieser Beziehung seit dem Schluß der
Republik, wo Doppelnamen in Gebrauch kamen und bald nach dem Geschlecht
des Vaters, bald nach dem der Mutter abgeleitet wurden.
Der Zuname unterschied die einzelnen Geschlechter voneinander, nachdem
sie mit der Zeit zahlreicher geworden und die einzelnen Zweige selbständiger
hervorgetreten waren. Bei der Adoption nahm der Adoptierte den Namen des
Adoptivvaters an mit einem Zunamen, der an die frühere Familie er¬
innerte — so P. Cornelius Scipio Ämilianus, der Sohn des Anilins Paulus,
des Siegers von Pydna. In der Kaiserzeit setzte man oft noch den Namen
der Familie der Mutter hinzu, besonders wenn es sich um berühmte Namen
handelte, sodaß ein und derselbe in seiner Eitelkeit oft acht und mehr Namen
führte. Auffallend ist es, daß in Rom in früherer Zeit keine Geburtslisten ge¬
führt wurden, und auch die Verordnung des Mark Aurel in dieser Beziehung
hatte nur den Zweck, festzustellen, wer frei oder als Sklave geboren war.
Bei dem Aberglauben der alten Zeit war es allgemein Sitte, daß nach
der Geburt eines Kindes Wahrsagerinnen und Wahrsager ins Haus kamen,
UM der Mutter das Schicksal ihres Kindes zu deuten. Solche Wahrsagereien
geschahen in der mannigfachsten Art: aus dem Flug oder Geschrei der Vögel,
aus den Eingeweiden der Tiere, aus Lösen u. a. in., später insbesondre aus
den Sternen, sodaß es in den letzten Jahrzehnten v. Chr. in Rom wimmelte
von Astrologen, meist Betrügern, die auf die Harmlosigkeit des Volkes speku¬
lierten. Besonders achtete man darauf, welches Sternbild des Tierkreises in
dem Augenblicke der Geburt aufging, um daraus auf eine glückliche oder un¬
glückliche Zukunft des Kindes Schlüsse zu ziehen. Andrerseits suchte man auch
böse Geister, die etwa störend ins Leben des Kindes eingreifen könnten, durch
Zaubermittel aller Art zu bannen; besonders geschah dies seitens der Ammen
durch alle möglichen Mittel, auch durch Bänder, die um den Hals oder die
Brust gelegt wurden, oder durch Amulette aus edelm Metall. Bekannt ist die
bulla imrea, eine linsenförmige Kapsel, an einem Halsband vorn auf der Brust
hängend, die vom Vater selbst geschenkt das ganze Kindesalter hindurch ge¬
tragen wurde. In diese bulla. steckte man häufig obscöne Amulette hinein,
weil man glaubte, daß durch die widerlichsten Dinge am leichtesten das Unglück
ferngehalten werden könne.
Fast in derselben Weise wie heute spielten die Kinder mit Figuren aller
Art, die kleinen Mädchen besonders mit Puppen, die zum Teil aus Wachs,
häufiger aus gebranntem Ton hergestellt waren — die ältern mit Wagen und
dem Reif, der durch einen Stock vorwärts getrieben wurde. Das Spiel mit
dem Kreisel, von dem uns Virgil und Tibull eine anmutige Beschreibung
geben, war ebenso beliebt wie das Ballspiel, dieses auch später noch bei Er-
wachsnen. Wippbrett, Schaukel, Stelzen dienten ebenso zur Belustigung wie
das Spielen von Blindekuh, Bockspringen, Reiten auf dem Rucke» eines
andern u. a. in. Ferner beschäftigten sich die Kinder auch damals gern mit den
Tieren, besonders mit dem Hunde, wie viele Vasenzeichnungen beweisen.
Die Hauptforderung für die Erziehung vom jüngsten Kindesalter an war
die zur Bescheidenheit. Man verlangte von den Knaben, daß sie möglichst
wenig hervortraten und bescheiden die Hand in der Toga hielten. Die römische
Mutter leitete die ganze Anfangserziehung des Kindes in der sorgsamsten Weise,
und berühmt ist die aufopfernde Liebe und strenge Zucht der Cornelia gegen
ihre Söhne, den Tiberius und C. Sempronius Gracchus. Der Unterricht war in
Rom nicht gesetzlich geregelt. Sitte und Herkommen nötigten die Eltern, ihre
Kinder ihrer Herkunft entsprechend unterrichten zu lassen. Mit dem siebenten
Jahre den Unterricht zu beginnen war Regel, obwohl zu verschiednen Zeiten,
so auch von Quinctilian ein. früherer Beginn angestrebt wurde. Nach einer
Mitteilung des Plautus benutzte man die Morgenstunde zur Gymnastik, den
Vormittag zum Lesen und weitern Unterricht, jedoch ohne daß jemand an diese
Ordnung gebunden war. Ja zur Kaiserzeit begann man mit dem Lesen, und
zwar schon sehr früh, sodaß Martial darüber klagt, widmete sich dann der
Gymnastik und nach dem Frühstück dem weitern Unterricht, aber so, daß auch
der freien Bewegung, dem Spazierengehn die nötige Zeit gewährt wurde. Der
Unterricht in der Gymnastik diente der Gesundheit und suchte Kraft und
Gewandtheit zu erzielen. Über das Tanzen hatten die Römer weit strengere
Ansichten als die Griechen. Nach ihrer Meinung war es überhaupt für einen
Mann unschicklich zu tanzen, und selbst bei der Jugend nahmen sie leicht
Anstoß daran, insbesondre wenn der Tanz irgendwelche Ausgelassenheit zeigte.
Sie beschränkten die Gymnastik vorzugsweise auf Waffenübungen, Schwimmen,
Reiten und dergleichen mehr, was für die Ausübung des Körpers allein in
Frage kam.
Wann die erste Schule in Rom eröffnet wurde, ist ungewiß. Bestimmte
Schullokale gab es jedenfalls in älterer Zeit nicht, besser ausgestattete Räume
für Elementarschulen auch später nicht. Der Elementarlehrer hieß anfänglich
litterator, später zur Blütezeit der Literatur xramragtistg. oder luäi Meister;
eine angesehene Person war er nicht, seine Bezahlung gering, sodaß freiwillige
Gaben oder Festgeschenke dem armseligen Leben zu Hilfe kommen mußten. Die
Schulgeldzahluug geschah in Rom an den Idus, aber nur während der acht
Monate, in denen Schule gehalten wurde. Vier Monate hatte der römische
Knabe Ferien etwa wie der heutige Student. Außerdem fiel an den öffent¬
lichen Festen der Unterricht aus. Über die Höhe des Schulgeldes in älterer
Zeit wissen wir nichts; erst um 300 n. Chr. setzte der Kaiser Diokletian be¬
stimmte Sätze fest, nach denen ein Elementarlehrer nicht über 50 Denare
(1 Kupferdenar — etwa 4 Pfennige) im Monat für den einzelnen Knaben
fordern durfte. Besser gestellt waren die Sprachlehrer (MamuiMei latini),
obwohl man auch von diesen oft Klagen über die dürftige Lage hörte. Nur
wenigen wie Verrius Flaccus zur Zeit des Augustus war es vergönnt, sich
ein bedeutendes Honorar zu verdienen.
Der Unterricht wurde mit der größten Strenge betrieben, Schläge nicht
gespart, worüber an vielen Stellen der alten Literatur, besonders von Martial
geklagt wird. Bekannt ist der MZosus Orbilius, der angesehene Lehrer des
Horaz. Ein großer Unterschied gegen heute bestand darin, daß die Kinder an¬
gesehener Römer von einem Pädagogen zur Schule begleitet wurden, der ihnen
ihre Schulsachen trug; nur die Kinder ärmerer Leute trugen sie selbst auf dem
Arm. Der erste Unterricht umfaßte wie heute das Lesen, Schreiben und
Rechnen. Über die Methode berichtet ausführlicher Quinctilian; er warnt vor
zu schnellem Lesen und fordert, besondres Gewicht auf eine deutliche Aussprache
zu legen. Verse legte man den Leseübungen zugrunde — in älterer Zeit
den Livius Andronikus, später Virgil, Horaz, Ovid und andre. Beim Schreiben
verlangt er eine gut leserliche und schnelle Handschrift. Stolz auf diese Fertig¬
keit war der Kaiser Theodosius, dem man deshalb den Namen „Schönschreiber"
beilegte. Im Rechenunterricht Pflegte man besonders das Kopfrechnen. Inter¬
essant ist es schon von Quinctilian zu hören, es sei besser, die Kinder in der
Schule mit andern zusammen als zu Hause durch Privatlehrer unterrichten zu
lassen, ein Urteil, das gewiß auch heute von der Mehrzahl aller Lehrenden
geteilt wird.
Das grammatische Studium im Sinne des Altertums bestand aus dem
Studium der Sprache und der Literatur, besonders der Dichter. Aber Ouinctilian
verlangte, daß nicht einseitig die Dichter, sondern alle Schriftsteller zu berück¬
sichtigen seien; er gibt im einzelnen genaue Anweisung über diesen Unterricht.
Der Musikunterricht, der in Griechenland eine so große Rolle spielte, trat in
Rom völlig zurück. Cornelius Nepos meint sogar, es sei für einen vornehmen
Mann nicht schicklich gewesen, Musik zu treiben, eine Ansicht, die sogar noch
im dritten Jahrhundert n. Chr. ihre Giltigkeit nicht verloren zu haben schien.
Wenigstens erzählt man vom Kaiser Alexander Severus, der ein besondrer
Freund der Musik war, er habe es nicht geduldet, daß Fremde gegenwartig
waren, wenn er sang und spielte. Auch für deu Zeichenunterricht sowie die
damit zusammenhängende Malkunst und für die mathematischen Wissenschaften
bewies der nüchterne Sinn des Römers, der immer das Nützliche vor Augen
hatte, kein genügendes Verständnis.
Während der Knabenzeit trug der junge Römer die pnrpurverbrämte Toga
si'o^ki, praetoxt»), aber vor Vollendung des siebzehnten Lebensjahres, mit dem
er wehrhaft wurde, mußte er sie mit der Weißen Togn slogÄ virilis) vertauschen.
In der Regel war damit eine Feierlichkeit verbunden. Vou Verwandte» und
Freunden begleitet ging der Jüngling über das Formen zum Kapital, opferte
dort und wurde in die Tribuslisten als römischer Bürger eingeschrieben. In
wohlhabenden Familien nahm die Feier große Formen an, besonders in den
Städten der Provinzen, wo meist alles eingeladen wurde, was Stand und
Rang hatte. Es war gute Sitte, daß der junge Römer wenigstens im ersten
Jahre nach dieser Feier nicht öffentlich auf dem Forum auftrat, überhaupt als
tiro zu seiner weitern Ausbildung eine mehr beobachtende Rolle spielte. Er
belustigte sich während dieser Zeit mit seinen Genossen am liebsten auf dem
Marsfelde mit Fahren und Reiten, Laufen und Springen und sonstigen Turn-
und Turnspielübungen.
Noch besonders bemerkenswert für die römische Jugend sind die Rhetoren-
schulen, die im Anfange des ersten Jahrhunderts v. Chr. in Rom Eingang
fanden. Anfangs nur für Erwachsne bestimmt, die sich durch Übnngsrcdcn
unter Anleitung tüchtiger Rhetoren auf eine öffentliche rednerische Tätigkeit
vorbereiteten, wurden sie allmählich, je wissenschaftlicher sich das ganze Leben
gestaltete, für alle gebildeten Kreise ein Bedürfnis, und so gliederte sich mit
der Zeit an die Schule der Grammatiker eine solche der Rhetoren, die dann
von römischen Jünglingen in vorgerückteren Alter besucht wurden. Die Rede
wurde eine Kunst, die nur wenige auszuüben verstanden. Als Themata für
die Redeübungen wählte man vorzugsweise Stoffe aus dem wirklichen Leben,
um die Jünglinge zum Dienste auf dem Formen vorzubereiten.
Bis in die Kaiserzeit hinein war aller Unterricht in Rom Privatsache.
Wir hören wohl von dem Diktator Julius Cüscir, daß er Lehrer der Wissen¬
schaft nach Rom zog und sie durch das römische Bürgerrecht ehrte, ebenso vom
Kaiser Augustus, daß er sie reichlich beschenkte — aber von einer Staatsunter¬
stützung erfahren wir erst etwas unter Vespasian und besonders unter Hcidricm,
der ihnen Ehre und Reichtum und ein eignes Heim gab, das später wahr¬
scheinlich die berühmte Hochschule Roms wurde. In ähnlicher Weise behandelte
sie Antoninus Pius — aber erst unter Mark Aurel hören wir von festem
Gehalt, das für diesen oder jenen höhern Lehrer bestimmt wurde. Allseitig
sorgte erst Alexander Severus, der auch der ärmern Bevölkerung den Besuch
der höhern Schulen ermöglichte. Je mehr sich das Reich der Schulen annahm,
um so strenger wurde die Aufsicht. Nach einer Verordnung unter Valentimcm
dem Ersten durften nur fleißige und sittsame Jünglinge in Rom studieren.
Auswärtige, die sich unwürdig benahmen, wurden ausgewiesen, nachdem sie
aufs härteste bestraft worden waren. Alle Studierenden mußten dem Kaiser
in einer jährlich einzureichenden Liste namhaft gemacht werden — die fleißigen
und zuverlässigen besonders bezeichnet, damit er sich seine spätern Beamten
daraus ausersehen konnte. Das Ganze diente immer mehr den Zwecken des
Kaiserreichs als der geistigen Entwicklung des einzelnen Bürgers. In ähnlicher
Form wurden auch die Lehrenden kontrolliert und durch Verordnungen be¬
schränkt. Die Freiheit der Wissenschaft ging allmählich verloren, und so kam es,
daß sich die ins Mittelalter überkommne allgemeine Bildung auf einer ziemlich
tiefen Stufe befand.
> er Winter geht still dahin. In Bärenburg ist eine Masernepidemie
! ausgebrochen, und die meisten Familien mit Kindern müssen sich vom
Verkehr zurückziehen. Harald hat schon die Masern gehabt, wir sind
also nicht betroffen; aber in seiner Klasse sind zwei Knaben an der
Krankheit gestorben, und er hat mit auf den Friedhof gemußt und
!sie zu Grabe singen. Das macht ihm ein halb schauerliches Ver¬
gnügen, und er berichtet eingehend davon an seine drei Rolands.
Die drei kleinen Mädchen kommen noch immer mit großer Regelmäßigkeit,
und da ich jetzt weiß, daß ich in Frau Rolands Augen nur meine Pflicht tue,
wenn ich sie aufnehme, so locke ich auch nicht gegen den Stachel. Es wäre
dumm, wenn ichs täte, denn es sind drei gute Spielgefährten für Harald, der
sich nur zu gern mit ihnen unterhält. Minchen müßte ja nun in die Schule, und
ich frage sie jeden Tag, ob sie noch immer nicht lernen soll, aber ich erhalte immer
die Antwort: Papa sagt, es ist noch nicht nötig. Ich werde schon klug genug.
Es ist wahr, Minchen lernt alles, was sie wissen soll, von Harald und von
seinen Arbeiten. Eigentlich geht mich die Sache auch nichts an; aber ich sehe
schon den Augenblick kommen, wo Frau Roland mir vorwirft, die Pflicht der
Dankbarkeit verletzt zu haben, weil ich mich nicht um Minchens Schulpflicht be¬
kümmerte.
Von Bodild habe ich nichts mehr gehört. Mit ihrem Manne steht es wieder
nicht gut, und die geplante Fahrt meines Mannes nach Schloß Mieder muß unter¬
bleiben. Es tut mir fast leid. Ich gönnte meinem Walter eine kleine Zerstreuung.
Er arbeitet zu stark und kann es doch nicht vertragen. Neulich ist er ganz schachmatt
von seinen Vortragen heimgekehrt, und daß er mir fünfzehnhundert Mark mitbrachte,
kann mich nicht für sein schlechtes Aussehn entschädigen. Aber er war selbst so froh,
daß ich nichts zu sagen wagte. Vom letzten Jahre haben wir noch allerhand Rück¬
stände zu bezahlen. Zehn Jahre außerordentlicher Professor zu sein, ist gerade keine
Finanzspekulation. Dies abscheuliche Geld! Nun schreibe ich auch noch davon in
meinem Tagebuch, und hier wollte ich eigentlich nicht immer von der Prosa des
Lebens berichten.
Heute hat Harald zum erstenmal im Extemporale eine gute Zensur mitgebracht.
Walters Freude war ganz rührend, und ich ärgerte mich über Harald, der ganz
mürrisch bei der Sache war. Aber Kinder sind ja unberechenbar.
Wir sind jetzt in der Mitte vom Februar, und ich habe einen halb erstarrten
Starmatz im Garten gefunden, den ich in ein Bauer gesetzt und zurechtgepflegt
habe. Er hat sich eingebildet, den Frühling hier zu treffen, und nun muß er seinen
Wagemut mit Gefangenschaft büßen. Aber wenn er wieder gesund ist, dann werde
ich ihm die Freiheit wiedergeben.
Die drei Rolands haben viel Freude an dem Vogel, und Minchen hat mir gestern
schon gute Ratschläge gegeben. Sie wollte ihm Umschläge verschreiben und etwas
Medizin zum Schwitzen. Sie ist der geborne Arzt, und ich möchte wohl wissen,
was aus ihr werden wird. Jetzt hat sie sich auch plötzlich entschlossen, in die Schule
zu gehn, und sich bei einer Dame, die einen kleinen Kursus führt, selbständig an¬
gemeldet.
Mit der Schule ist es nun doch besser, Tante Anneli, sagte sie. Viel lernen
werde ich wohl nicht, aber ich mag nicht immer von den Leuten in der Klinik gefragt
werden, ob ich so wild aufwachsen will. Linchen und Stinchen können ja auch gut
bei dir sein, Taute Anneli, denn sonst würde ich nicht solange von ihnen weg¬
gehn. Sie sollen nicht immer so allein in der Klinik sein.
Mir ist Minchen immer so lächerlich, daß ich sie reden und gewähren lasse.
Aber Walter, dem ich diese Unterhaltung mitteilte, bestand darauf, daß ich zu Frau
Roland ging, um mit ihr über ihre Kinder zu sprechen.
Es mag ganz gut sein, sagte er, daß du dich der Kinder annimmst, obgleich
du nach meiner Ansicht nicht dazu verpflichtet bist, weil dich ihr Vater einmal vor
Olims Zeiten aus dem Wasser gezogen hat. Geh, bitte, zu Frau Roland und sage
ihr, daß du nicht immer auf Linchen und Stinchen acht geben kannst, wenn Minchen
sich entschließt, in die Schule zu gehn.
So also bin ich wieder einmal den Schwcmenweg gewandert. Es war an dem
Tage, wo mein Starmatz seinen Käfig verlassen hatte und mit den Flügeln gegen die
Fensterscheibe getaumelt war, sodaß ich die Scheibe schnell öffnete und den fremden
Gast entweichen ließ. Er warf sein Köpfchen in die Höhe und stieß einen kleinen
Triumphschrei aus, der mir gut gefiel. Denn es klcing darin der Sieg des Frühlings
über den Winter.
Für den Schwcmenweg schien auch der Lenz gekommen; in den Lüften klang
es wie Vogelfang, und in den kleinen alten und schiefen Häusern standen die Türen
weit offen, sodnß die warme Luft einziehn konnte. In der Privatklinik roch es nach
Jodoform und Krankheit; und als ich nach der Frau Doktor fragte, wurde ich in
ein kahles Empfangszimmer geleitet, in das sehr bald eine dunkle, recht üppige
Frau eintrat.
Iran Doktor hat Kopfschmerzen, sagte sie mit einer Stimme, die mir bekannt
erschien. Kann ich die Bestellung ausrichten?
Zweifelnd sah ich in ein paar neugierige, dunkle Augen; ehe ich aber ant¬
worten konnte, lächelte mich das Wesen vertraulich an.
Ach, Sie werden mich doch kennen, Frau Professor! Ich bin ja Lona Hellmnnd.
Wissen Sie uicht, wie ich damals bei Ihrem Onkel, dem Schriftsteller, in Luzern
war, und wie wir damals lustig zusammen gewesen sind? Ja, die Zeit vergeht; ich
bin nnn schon zum zweitenmal Witwe, und Sie sind wohl sehr glücklich verheiratet;
aber ich habe Sie gleich erkannt. Ach, die kleine Anneli! Ihr Onkel Willi hielt so
viel von Ihnen, und es war schade, daß Sie damals die stolze Gräfin mitbrachten,
die so viel Unruhe ius Haus brachte. Sie warf sich dem Doktor doch ziemlich dreist
an den Kopf. Und der junge Baron von Falkenberg, Ihr Vetter, hat sich mir
gegenüber auch nicht gut benommen. Denn das ist ganz gewiß, daß er mir die
Ehe versprach, und daß er sein Versprechen nicht hielt. Aber so sind die vornehmen
Herren! Sie machen die Mädchen unglücklich und fragen nicht danach. Hier schöpfte
Lona Hellmund Atem, feste sich mir gegenüber und sah mich an, als sollte ich ihr
in die Arme fliegen. Aber ich saß unbeweglich.
Ich freue mich, daß es Ihnen gut geht, Frau — Frau —
Frau Päpke, schob sie ein.
Also Frau Päpke. Nun aber wünsche ich doch Frau Roland zu sprechen, fuhr
ich fort. Es ist wegen ihrer kleinen Mädchen, und es wäre mir lieb, meine Frage
selbst stellen zu können.
Fran Päpke bekam einen roten Kopf.
Ich sagte schon, daß Frau Doktor nicht sichtbar ist. Ich besorge alles für sie.
Herr Doktor überläßt mir mich alles, und ich kann Ihnen sagen, daß wir viel zu
tun haben. Die Klinik geht sehr gut, und Herr Doktor hat so viele Konsultationen
von weit her, daß er sich schon einen Assistenten zugelegt hat.
Ich stand auf. Wenn ich Frau Roland nicht sprechen kann, dann werde ich
ihr oder demi Herrn Doktor schreiben.
Lona Hellmund sah mich mit einem bösen Blick an; aber sie verließ doch das
Zimmer, und nach einigen Augenblicken trat das blonde Röschen ein. Das arme
blonde Röschen, mit einem zerzausten Kopf und ebenso Muschelig gekleidet wie ihre
kleinen Mädchen.
Sie müssen mich entschuldigen, sagte sie weinerlich. Aber es geht mir nicht
gut, und ich kann eigentlich keinen Besuch annehmen.
Ich erklärte ^ihrknrz den Grund meines Kommens, und sie hörte teilnahm¬
los zu.
Ja, Minchen muß wohl in die Schule, und wenn sie es will, dann wird sie
es auch einrichten. Und wenn dann die Kleinen noch etwas früher zu Ihnen kommen
können, dann soll es mir recht sein.
Frau Roland, ich würde mich gern der kleinen Mädchen annehmen, aber mein
Mann findet es richtiger, daß wir uus einmal über den Fall aussprechen. Ich kann
nicht den ganzen Tag ihre Beaufsichtigung übernehmen, da ich doch auch andre
Pflichten habe. Wenn sie Ihnen hier im Wege sind, wäre es dann nicht richtiger,
Sie schickten sie in eine kleine Spielschulc, wo sie gut untergebracht sind? Nach¬
mittags können sie immer wieder zu' mir kommen, nur nicht den ganzen Tag. Die
Verantwortung möchte ich denn doch nicht übernehmen.
Ich sprach freundlich überredend. Die Frau mit dem verblühten Gesicht, mit
den müden Augen tat mir leid; aber sie sah mich nicht sehr freundlich an.
So ist es, sagte sie weinerlich. Sie können sich von meinem Manne das Leben
retten lassen; aber wenn Sie etwas für seine Kinder tun sollen, so ist es Ihnen
gleich zu viel.
Was redest du da? fragte eine scharfe Stimnie hinter ihr, und Fred Roland
stand in der leise geöffneten Tür. Jetzt trat er vor und schüttelte mir die Hand.
Schon lange drängte es mich, Ihnen, gnädige Frau, zu sagen, wie ich mich
Ihnen verpflichtet fühle, daß Sie meine Kinder so gütig aufgenommen habe. Nun freue
ich mich, einmal zu hören, wie meine liebe Frau über den Fall denkt!
Seine Stimme klang messerscharf, und die arme Rosa sank in sich zusammen.
Aber sie hatte den Eigensinn der Dummheit und machte von ihm Gebrauch.
Es ist doch wahr, daß du Frau Professor das Leben gerettet hast, und weshalb
sollte sie sich uicht ein wenig um deine Kinder bekümmern? Sie hat doch die Zeit
dazu, und Frau Piipke sagte auch, es ist keine Arbeit.
Fred wollte antworten, aber ich legte mich ins Mittel.
Von Arbeit ist keine Rede, nur von Verantwortung. Ich erlaubte mir eben
den Vorschlag einer Spielschule für die Kleinen, jetzt wo Minchen sich zur Schule
entschlossen hat.
Und ich erzählte hastig von einer kleinen behaglichen Spielschule, in der unser
Harald auch das Stillsitzen gelernt hatte. Der Doktor hörte mir aufmerksam zu;
aber seine Frau saß völlig anteillos dabei, und als ich mich verabschiedete, sagte
sie nur: Ich dachte, das mit den Kindern würden Sie gern tun.
Fred Roland begleitete mich aus dem Hause und den Schwanenweg hinunter.
Beim hellen Tagesschein schien sein Gesicht viel schärfer geworden, als es mir im
Anfang des Winters vorgekommen war, und sobald wir allein waren, seufzte er
ungeduldig auf.
Rechnen Sie mir die Taktlosigkeit meiner Frau nicht an: sie ist nervös und
den ganzen Winter nicht gesund gewesen. Die Wirtschaft mit der Klinik steigt ihr über
den Kopf, und doch brauchte sie sich um nichts zu kümmern: seitdem die Päpke hier
ist, geht alles am Schnürchen. Aber es gibt Menschen, die sich das Leben schwer
machen müssen, und zu ihnen gehört meine Fron. Dabei sollte sie sich freuen. Denn
wenn meine Praxis so zunimmt, wie sie es in diesen Wintermonaten getan hat, dann
können wir auch noch einmal in unsrer eignen Equipage den Schwanenweg hinunter¬
fahren.
Und Fred Roland lächelte, wie in alten guten Jugendzeiten, als er mir sagte,
wie gut er es seiner Mutter geben wollte.
Könnte Ihre Mutter nicht zu Ihnen ziehn und Ihrer Frau etwas helfen?
fragte ich im Anschluß an diesen Gedanken.
Fred blieb stehn. Niemals! sagte er in einem Ton, der keine Antwort zuließ,
und da ging ich denn schweigend neben ihm her.
Nach einem Augenblick begann er ruhiger zu sprechen.
Wundern Sie sich nicht über mich, Frau Anneli. Ein wenig anders, als Sie
es wohl dachten, bin ich doch geworden. Das kommt davon, wenn man seine Schüler¬
liebe heiratet und dann die Not des Lebens in jeder Form kennen lernt. In jeder
Form, Frciu Anneli, und daß man nichts zu beißen und zu brechen hat, ist nicht
so schlimm, als wenn man merkt, daß die Frau nichts von der Mutter des Mannes
wissen will. Nachdem sie vorher mit heiligen Eiden geschworen hat, sie lieb und
wert zu halten!
Es war kühl; aber Roland wischte sich die Stirn.
Nun seien Sie nicht böse, Frau Anneli, wenn Ihnen die kleinen Mädchen noch
eine Zeit lang beschwerlich fallen. Mit der Zeit werde ich hoffentlich durchsetzen, daß
ihnen ein Fräulein gehalten wird. Aber vorderhand kann ich es nicht einrichten.
Als ich Walter von meinem Besuch und von seiner gänzlichen Erfolglosigkeit
erzählte, schüttelte er den Kopf. Aber er sagte nicht viel, und ich freue mich ein
wenig im stillen, daß Linchen und Stinchen noch wie bisher zu mir kommen werden.
Für Harald ist es außerdem gut, daß er ein Publikum hat, dem er seine Aufgaben
vorsprechen kann; sein Arbeiten ist sehr ungleich; manchmal gibt es ein gutes Zeugnis,
und dann wieder weiß er die einfachsten lateinischen Vokabeln nicht, sodaß ich
manchmal nicht genau weiß, ob ich einen klugen oder einen dummen Sohn habe.
Es kommt schon immer mehr Frühling in die Welt. Ostern ist spät dieses
Jahr, aber einigen Studenten ist schon der Wechsel ausgegangen, und sie haben ihr
Bündel geschnürt. Walter wird nun bald seinen dritten und letzten Vortrag halten,
und ich freue mich, wenn die Geschichte zu Ende ist. Er gehört eben nicht zu den
Naturen, die viel Arbeit vertragen. Professor Müller sagte heute dasselbe. Er wollte
Walter besuchen, traf ihn nicht und ließ sich bei mir melden.
Professor Müller ist der große Kritiker, der in vielen gelehrten Zeitungen
über die Arbeiten seiner Kollegen schreibt und sie oft so zerzaust, daß kein gutes
Haar an ihnen bleibt. Es gibt Leute, die da behaupten, der Professor könnte selbst
kein eignes Werk zustande bringen und sei deshalb so bitter auf die, die das Schreiben
verstehn. Ich weiß es nicht; ich weiß nur, daß ich vor Professor Müller eine rechte
Angst habe. Er ist Junggeselle und ist gewohnt, von vielen Professorenfrauen ver¬
zogen und angebetet zu werden. Er hat ein kleines scharfes Fuchsgesicht und beständig
blinzelnde Augen, die für meinen Geschmack einen falschen Blick haben. Heute war
er sehr liebenswürdig, sagte mir etwas Schönes über mein Aussehn und fragte,
weshalb wir uns so wenig sehn ließen. Ich erwiderte der Wahrheit gemäß, daß
wir uns einschränken müßten, und daß mein Mann das Ausgehn auch nicht ver¬
tragen könnte.
Dann sollte der gestrenge Herr Sie allein gehn lassen, scherzte der Professor,
worauf ich erwiderte, daß mein Mann das Gegenteil eines gestrengen Herrn wäre.
Er läßt mir mehr Freiheit, als ich nötig habe! setzte ich hinzu, worauf mein Besucher
etwas spöttisch lachte und meinte, daß eine hübsche Frau die Freiheit gut ver¬
wenden könnte.
Der Satz gefiel mir nicht, aber ich ließ ihn über mich ergeb». Ich hatte ja
etwas Angst vor ihm. Er kam denn jetzt auch mit dem Wunsch heraus, der ihn
wohl herbeigeführt hatte.
Sind Sie uicht sehr befreundet mit der Fürstin Monreal, gnädige Fran? Und
könnten Sie mir vielleicht eine Einführung nach Schloß Mieder geben? Es sollen
dort in dem Archiv einige alte Handschriften sein, in die ich wohl einen Blick tun
möchte. Man sagt, daß der Fürst sehr eigen mit seinen Schätzen ist, sonst würde
ich mich direkt an ihn wenden. Aber durch die Hand schöner Frauen geht solche
Sache am besten.
Der Satz ärgerte mich von neuem.
Die Fürstin Monreal ist allerdings eine Pensionsgenossin von mir, und sie
hat sich unsrer frühern Freundschaft sehr freundlich erinnert, aber ich kenne den Fürsten
fast gar nicht, während unser Geheimer Medizinalrat und Rektor ihn oft gesehn
hat. Wäre es da nicht besser, Sie wendeten sich an diesen?
Professor Müller schüttelte den Kopf.
Man merkt, schöne Fran, daß Sie nichts von unsern Zeitströmungen wissen.
Seitdem Fürst Monreal ein Patient von Doktor Roland geworden ist, hat sich die
Freundschaft mit unserm gestrengen Rektor gelockert. Der Fürst hat ja sogar noch
verschiedne hohe Herren an den neuen Eisenbart empfohlen, und die Goldne Gaus,
unser erstes Hotel, ist voll von Patienten, die den Roland konsultieren und auf ihn
schwören. Wenn mein Gliederreißen nicht bald von selbst aufhört, daun werde ich
auch einmal zu ihm gehn. Aber ich möchte den Geheimrat nicht an den Fürsten
Monreal, diesen wunden Punkt, erinnern.
Ich will der Fürstin schreiben, sagte ich etwas widerwillig, und das Fuchs¬
gesicht des Professors rötete sich.
Sie durs nicht besonders gern, gnädige Frau?
Aufrichtig gestanden: nein! Aber ich will es versuchen.
Seine Augen blinzelten stark. Wenn Sie es nicht gern tun, will ich es natürlich
nicht von Ihnen verlangen. Wie sollte ich? Es fällt mir niemals ein, andern
Menschen ein Opfer aufzuerlegen. Ich habe Freunde genug, die zu glücklich sind,
mir einen wenn auch nur geringfügigen Dienst zu erweisen.
Lassen Sie es mich nun einmal versuchen, begann ich mit dem unbehaglichen Gefühl,
den Professor beleidigt zu haben. Aber er machte eine abweisende Handbewegung.
Wir wollen nicht mehr darüber reden, Frau Professor! Ihrem Manne gehts
doch gut? Mir schien neulich, daß er augegriffen aussah. Ist es eigentlich wahr,
daß er in Süddeutschland Vorträge hält? Er sollte sich nur nicht überanstrengen,
denn seine Gesundheit scheint mir nicht die stärkste zu sein!
Sein Ton war gutmütig geworden, und ich fand es nett von ihm, daß er
sich um meinen Mann sorgte. Ich sagte denn auch, daß diese Vorträge nicht nach
meinem Geschmack wären, daß Walter aber das ihm dafür gebotne Geld nicht von
der Hand weisen wollte. Unser Avancement war ja nicht schnell gewesen, und man
brauchte Geld zum Leben. Ich sprach offner, als ich es sonst Wohl tue. Aber ich
wollte liebenswürdig gegen den Professor sein, und dann haben wir auch nichts
zu verbergen. Weshalb soll ich nicht sagen, daß wir arm sind? Die andern
Menschen prunken doch so gern mit ihrem Reichtum, mit ihren Reisen, mit allem,
das sie sich erlauben können, dann kann ich doch berichten, daß unsre Glücksgüter
nicht im Mammon bestehn, danach die Diebe graben und stehlen.
Professor Müller war sehr teilnehmend. Er schalt über die Regierung, die
uns solange auf ausreichendes Gehalt hatte warten lassen, und er sprach seine
Freude aus, daß Walter ein hübsches Sümmchen in diesem Winter verdiente. Dann
fragte er nach dem Inhalt der Vorträge, und ob sie wohl einmal als Buch er¬
scheinen sollten. Ich erwiderte, daß Walter allerdings die Absicht habe, die Vor¬
träge herauszugeben, sobald sich ein guter Verleger fände, und als der Professor
uoch einmal nach dem Inhalt der Vorträge fragte, gab ich ihm den ersten, den
nur Walter hatte abschreiben lassen. Er handelte von dem Kunstverständnis im
alten Griechenland. Der Professor bat, das Manuskript mit nach Hause nehmen
zu dürfen, sprach dann über eine bevorstehende Verlobung, und daß es noch immer
Masern gäbe, und wir trennten uns in großer Artigkeit.
Als Walter nach Hause kam, hatte ich aber ein schlechtes Gewissen und er¬
zählte ihm von meinem Besuch. Mein Mann stutzte etwas, daß ich dem Professor
die Einführung in Schloß Mieder abgeschlagen hatte, fand es aber von meinem
Standpunkt ganz richtig.
Der Professor kann sich selbst darum bemühen, meinte er. Er wird es dir
allerdings übelnehmen, aber du mußt seinen Zorn tragen.
Ich mußte ihm deinen Vortrag geben, bekannte ich weiter, worüber mein Mann
die Achseln zuckte.
Den wird er schwerlich lesen, liebes Kind. Er wird ihm zu ungelehrt, zu
populär sein. Ich bin übrigens gebeten worden, auch im nächsten Winter in den¬
selben Städten zu sprechen. Diesesmal werde ich die Römer aufs Korn nehmen.
So also will ich den Besuch des Herrn Professors schnell vergessen und mich
nicht um seine etwaige Ungnade bekümmern.
Am letzten Sonntag aß Herr Külpe wieder bei uns. Er sah besser aus
als im Vorwinter, und auch sein Rock scheint mir neu zu sein. Er sagte mir, daß
er gern bei dem Lohndiener Dreher wohnte, und daß die Leute gut für ihn
sorgten. Er wird Ostern Ordinarius für Quinta, und da ich ans Haralds Ver¬
setzung hoffe, so wird sein Lehrer ihn begleiten. Herr Külpe findet auch, daß
Harald unregelmäßig arbeitet. Manchmal ist das Extemporale gut, dann wieder
unter aller Kanone. Aber er rät davon ab, ihm Nachhilfestunden geben zulassen.
Er soll sich ruhig allein helfen.
Walter ist Gott sei Dank so in Anspruch genommen, daß er nicht allzuviel
an den Jungen denkt. Mir ist es eine Erleichterung, denn er würde sich nur
unnütz aufregen, und das kann er nicht vertragen. Ich für meine Person halte
es für kein Unglück, wenn Harald nicht so übermäßig viel lernt. Aber ich darf
diesen Gedanken nicht laut werden lassen.
Der Junge selbst ist mir nicht mehr so verständlich wie früher. Er ist
manchmal schlecht gelaunt und sagt dann nicht, was er hat. Walter sagt, daß
man ihn gewähren lassen soll, mir aber tut das Herz weh, wenn ich denke, daß
mein Junge sich schon jetzt innerlich von mir entfernt. Das ganze Leben ist doch
ein langer Abschied.
Es ist ein Glück, daß die zwei kleinen Rolands nach wie vor jeden Nach¬
mittag kommen und mit Harald spielen oder unsern Garten als den ihrigen be¬
trachten und eifrig in ihm umhertoben. Allmählich wird es ja ein wenig warm,
und überall regt es sich. Da zählen Linchen und Stinchen fast alle Knospen,
deren es täglich mehr gibt, und in fast jedes Nest, das im Garten ist, haben sie
einen Blick geworfen. Ich könnte mir den Garten ohne sie nicht mehr denken,
und als eines Tags Minchen ganz früh kommt und erzählt, daß sie das Laufen
zur Schule satt habe und lieber wieder mit ihren Schwestern spielen wolle, da
hütete ich mich wohl, einen Widerspruch dagegen zu erheben. Nach meinen Er¬
fahrungen im Hause Rolands lasse ich alles über mich ergehn. Nur Harald ist
neidisch, daß Minchen wieder die Freiheit genießen darf.
Du wirst eingekocht, wenn du Schulen läufst, verkündet er ihr, worauf Minchen
in ein triumphierendes Lachen ausbricht.
Ich hab ja ein Doktorattest, daß ich noch viel zu schwach zum Lernen bin!
Papa hat es mir aufgeschrieben!
Und sie reckt ihre kleine gedrungne Gestalt und wiegt sich in den stämmigen
Hüften.
Jungen müssen lernen! setzt sie hinzu und schreit in demselben Augenblick
hell auf, denn Harald hat ihr einen derben Schlag gegeben. Leider ist mein
Junge noch nicht sehr galant. Zum Glück kann sich Minchen ihrer Haut wehren,
und es folgt eine Balgerei mit Friedensschluß. Mir ist Minchens Rückkehr sehr
recht. Sie achtet auf ihre kleinen Schwestern, und wenn sie kann, fängt sie schon
an, mir zu helfen. Das Häusliche geht ihr gut von der Hand, und sie spricht
nicht mehr soviel von Operationen und andern Schrecknissen. Doktor Roland
hat sich eine Baracke im Garten bauen lassen, wo die Operationen gemacht werden.
Da merken die Kinder nicht mehr soviel davon. Außerdem hat er noch ein zweites
Haus für seine Patienten gemietet, und alles soll voll besetzt sein.
Was ich höre, erfahre ich von Minchen, die mir berichtet, was ich wissen
will; aber im ganzen geht mich die Sache ja nichts an, ich freue mich nur, wenn
es Fred Roland gut geht. Er hat es nötig.
Osterferien. Harald kam mit der Quintanermütze heim, und sein Vater war
glücklich. Glücklicher als ich, die ich lieber wollte, daß mein Junge mich mit seinen
strahlenden Augen fröhlicher anblickte, als er es tut. Das angestrengte Lernen ist
doch nichts für alle Kinder, und ich beneide das dicke Minchen um ihr Attest von
ihrem Vater, das ihr das Lernen vorläufig erläßt.
Heute gab es eine Überraschung. Als ich in meinem Garten pflanzte, stand
Dolly Degen, vermählte Falkenberg, vor nur. Sie hat Zimmer in der Goldner
Gans, und sie und Lila sind in Doktor Rolands Behandlung.
Er ist der einzige, der meinen Zustand richtig erkannt hat, behauptete Dolly.
Seit drei Wochen behandelt er mich schon brieflich, aber nun will er mich sehen.
Und für Lila hat er mir eine ausgezeichnete Medizin verschrieben, die sie viel frischer
gemacht hat. Wir wollen uns nun für einige Wochen unter seine Aufsicht begeben.
Wie hast du von Doktor Roland erfahren? erkundigte ich mich, und Dolly sah
mich erstaunt an.
Weißt du denn nicht, daß er viele Patienten gerade unter den vornehmsten
Familien hat? Monreals sind ja schon lange in seiner Behandlung, und die
Gräfin Leonberg ist bei ihm wieder gesund geworden.
Und Dolly schnurrte eine Reihe klangvoller Namen herunter, deren Träger
sich alle unter Rolands ärztliche Obhut gegeben hatten.
Etliche Amerikaner und Engländer sind auch dabei, setzte sie hinzu, und ich
habe nur gehört, daß der Doktor großartig verdienen soll. Mein Bruder Max
hat neulich den alten Baron Birkstein getroffen, der dem Roland Geld für dieses
Unternehmen vorgestreckt hat. Der ist ganz selig gewesen und so stolz, daß Max
meinte, dieses Interesse hätte einen tiefern Hintergrund. Von dem verstorbnen
Sohn des Barons sagt man ja allerhand Sachen.
Ich freute mich über Dollys Erscheinen. Sie hat ja ihre Schwächen, und
sie legt sehr viel Wert auf Vornehmheit und darauf, was ihre Standesgenossen
sagen und tun; aber mit mir ist sie immer verwandtschaftlich gewesen, und wenn
ich mich auch damals gewundert habe, mit wie großer Sicherheit sie meinen Vetter
Bernb eingefangen hat, so hätte dieser in noch ganz andre Hände fallen könne».
Dabei denke ich an das Hausfräulein Onkel Willis, an Lona Hellmund, die jetzt
Frau Päpke heißt, und die die Stütze von Doktor Roland ist. Es hätte doch nur
wenig gefehlt, daß Bernb damals in Luzern an ihr hängen geblieben wäre.
(Fortsetzung folgt)
Wir nähern uns der Zeit, in der von innerpolitischen Ereignissen kaum noch
zu berichten ist. Die Ministerien und hohen Reichsämter stehen verwaist, der Reichs¬
kanzler ist nach Norderney abgereist — wo freilich von wirklichem Ausruhen für
ihn nicht die Rede ist, da ihm die Arbeit überall hin folgt —, und der Kaiser
steht im Begriff, seine Nordlandsreise anzutreten. Aber gerade diese stillen Zeiten
sind die Zeiten der Sammlung und Vorbereitung für neue Arbeit, und deshalb
ruht der Streit um die großen politischen Fragen niemals ganz. Die im vorigen
Monat vorgenommnen Neuwahlen zum preußischen Abgeordnetenhause sollten eigent¬
lich zu einer gewaltigen Agitation für die preußische Wahlrechtsreform werden,
aber es zeigte sich, daß diese Wahlparole nicht die gewünschte Wirkung hatte. Die
Reformfreunde haben sich jedoch dadurch nicht abschrecken lassen, sondern nach den
Wahlen die Propaganda für ihre Wünsche mit großem Eifer fortgesetzt. Besonders
wird der schamlose Terrorismus, den die Sozialdemokratie in dem letzten Wahl¬
kampfe ausgeübt hat, als Argument verwertet, um wenigstens die Einführung des
geheimen Wahlrechts an Stelle des öffentlichen zu erreichen. Indessen so durch¬
schlagend, wie dieser Beweisgrund auf den ersten Augenblick scheint, ist er in
Wahrheit doch nicht. Wir wissen von den Reichstagswahlen her, daß der Terrorismus
der Sozialdemokratie auch bei dem geheimen Wahlrecht Mittel und Wege findet,
eine Kontrolle auszuüben. Die Abhängigkeitsverhältnisse jeder Art machen sich
bei den Wahlen doch auf irgendeine Weise geltend, und daran wird schwer etwas
zu ändern sein, weil es unmöglich ist, einen juristisch einwandfreien Nachweis zu
führen, ob die Abgabe einer Wahlstimine, so wie es geschehen, aus persönlicher Über¬
zeugung oder unter einem Druck von außen erfolgt ist. Selbst wenn es gelingt,
bei der bevorstehenden Neubearbeitung des Strafgesetzbuchs für die Paragraphen 107
bis 199 eine schärfere Fassung zu finden, die die Ausübung der staatsbürger¬
lichen Rechte besser schützt als bisher, wird man damit immer noch keine voll¬
ständige Gewähr für die Unabhängigkeit der Wähler haben. Daraus läßt sich
nur die eine Folgerung ziehen, daß sich ein Wahlsystem, das im Interesse des
Staats möglichst den unabhängigen Volkswillen zur Geltung bringen will, nicht
daraus einlassen kann, nur die theoretische Gleichberechtigung der Staatsbürger
in mechanischer Weise zu verwirklichen. Denn diese absolute Gleichberechtigung hat
die wirkliche Unabhängigkeit der Staatsbürger zur Voraussetzung, und diese ist
eben nicht vorhanden. Der Staat, bet dem sich die Mitwirkung des Volks
an der Bestimmung seiner Geschicke früher als irgendwo anders und ganz
allmählich aus den gegebnen gesellschaftlichen Verhältnissen entwickelt hat — nämlich
England —, ist bisher trotz fortschreitender Demokratisierung seiner Staatsein-
richtungen noch nicht dahin gelangt, allen seinen Bürgern unterschiedlos das all¬
gemeine, gleiche Wahlrecht zu geben. Man muß das, beiläufig bemerkt, unsern
guten deutschen Landsleuten immer wieder vor Augen halten, denn sie machen in
der Regel, wenn ihnen in den liberalen Zeitungen von jenseits des Kanals vor¬
gepredigt wird, was wir Deutschen in Sachen der politischen Freiheit doch für
rückständige Gesellen sind, ein ganz gläubiges Gesicht dazu und sind wirklich geneigt,
sich zu schämen, daß wir es noch nicht so weit gebracht haben wie das freie Eng¬
land. Wenn aber das allgemeine, gleiche Wahlrecht den Maßstab politischer
Freiheit abgibt, dann müßte England sehr viel unfreier als Deutschland sein, und
das werden wohl die Engländer selbst sehr energisch abstreiten. Sie wissen,
daß dieses hohe und herrliche Gut nicht davon abhängt, daß der maßgebende
Einfluß auf die Gesetzgebung des Staats in die Hand von Mehrheiten gelegt
wird, die lediglich durch das Urteil der Abhängigen und Unselbständigen zustande
kommen.
Man kann ja freilich auch den Individualismus so weit treiben, daß man aus
theoretischen Gründen für jeden Menschen gewisse gleiche Rechte fordert — die man
etwa betrachtet wie die Luft zum Atmen —, gleichviel was dabei für die All¬
gemeinheit herauskommt. Man sieht dann freilich nicht ein, warum nicht eine
Mehrheit von Narren und Idioten den Staat nach ihrer Weise einrichten oder
eine Mehrheit von Verbrechern Raub und Mord legalisieren sollte. Denn die
Idee des Staats und der Gesellschaft ist damit überhaupt verneint. Aber man
soll bei einem solchen Individualismus wenigstens konsequent sein und seine Grund¬
idee, die volle Gleichberechtigung und das Selbstbestimmungsrecht jedes einzelnen,
wirklich gelten lassen. Nun machen wir die Erfahrung, daß gerade die Leute, die
für das „Unrecht", das in dem preußischen Wahlsystem liegen soll, ihre Ausdrücke
gar nicht stark genng wählen können, weil sie in ihm die Rechtsgleichheit und die
volle Berücksichtigung des Volkswillens vermissen, daß eben diese Leute den Willen
der Wähler mit demselben Zwang und denselben Druckmitteln zu vergewaltigen
suchen, die sie ihren Gegnern und der herrschenden Staatsordnung vorwerfen.
Nicht das Unrecht dieses Terrorismus, sonder» seine Inkonsequenz und das in
ihm liegende Eingeständnis der eignen UnWahrhaftigkeit sollte man recht gründlich
ausnutzen, einmal durch Aufklärung über Wesen und Wirken der Sozialdemokratie,
sodann durch entschiednes und rücksichtsloses Festhalten daran, daß der Schwer¬
punkt des Mitbestimmungsrechts an der Gesetzgebung des Staats bei den unab¬
hängigen Bürgern, nicht bei den von Terrorismus und Verhetzung beeinflußten
Massen zu liegen hat.
Es ist erst wenige Tage her, seit im österreichischen Reichsrat über die Wir¬
kungen des allgemeinen Wahlrechts ein charakteristisches Wort fiel. Ein polnischer
Abgeordneter bemerkte, das Deutschtum in Österreich habe seit der Wahlreform
wesentlich abgenommen. Es ist gar keine Frage, daß der Einfluß des Deutschtums
dadurch weiter zurückgedrängt worden ist. Die fremden Nationalitäten werden nun
freilich der Meinung sein, daß das einen Gewinn bedeute, da sie nur an ihre eigne
Macht denken. Aber es ist zweifellos, daß die Schwächung und Schädigung des
Deutschtums für die politische Macht und das Kulturniveau des Gesamtstaats keinen
Vorteil bedeutet. Und hat denn in den süddeutschen Staaten die Reform des
Wahlrechts nach dem Muster des Reichstagswahlrechts gute Früchte getragen? Die
Einzellandtage sind mehr als früher einer schwarz-roten Mehrheit ausgeliefert.
Mau wird es dem führenden deutschen Staat nicht verübeln können, wenn er sich
durch solche Beispiele wenig ermutigt fühlt.
In der politisch stillen Zeit wirken andre Sensationen desto mehr. Die letzte
Woche hat uns die Eröffnung des Meineidsprozesses gegen den Fürsten Eulenburg
gebracht. Dadurch ist zwar die Aufmerksamkeit wieder auf den traurigen Fall ge¬
lenkt worden, aber es ist doch wenigstens dafür gesorgt, daß die häßlichen Eindrücke
dieser Verhandlung nicht durch die Art, wie sie mit allen Einzelheiten an die Öffent¬
lichkeit getragen worden sind, noch über das Geschehene und Unvermeidliche hinaus
Unheil stiften. Die Ausschließung der Öffentlichkeit, die gleich nach dem Eintritt
in die Verhandlungen im weitesten Umfange beschlossen wurde, ist in den Be¬
sprechungen der Presse viel angefochten worden. Man möchte im Gegenteil sagen,
daß es die höchste Zeit war. sich auf den wahren Sinn der Öffentlichkeit der
Gerichtsverhandlungen zu besinnen. Die Öffentlichkeit ist mit Recht grundsätzlich
eingeführt worden, um eine allgemeine Kontrolle der Rechtspflege zu ermöglichen,
nicht aber um Dinge, über die im Interesse der bürgerlichen Gesellschaft und der
guten Sitten ein Schleier gebreitet werden soll, zum Gegenstand unkontrollierbarer
Betrachtung zu macheu. Sie soll verhüten, daß Dinge verborgen werden, die im
allgemeinen Interesse bekannt werden sollen, aber sie soll nicht dein allgemeinen
Interesse entgegenwirken, wenn dieses die Verborgenheit gewisser Dinge fordert.
Es gab einen Zeitpunkt, wo allerdings ein öffentliches Interesse vorlag, zu wissen,
wie weit die häßlichen Beschuldigungen, die öffentlich gegen angesehene und hoch¬
gestellte Personen erhoben worden waren, begründet waren. Diesem öffentlichen
Interesse ist Genüge geschehen; was jetzt noch übrig bleibt, ist zwar im Interesse
der Rechtspflege notwendig, aber für weitere Kreise bedeutungslos, soweit es in
der Feststellung der Einzelheiten nur ein Wühlen im Schmutz bedeutet, das nur
der niedrigsten Neugier und Sensationslust dient.
Der auswärtigen Lage gegenüber verharrt die Politische Welt noch immer in
einer gewissen Spannung, obwohl glücklicherweise von der Nervosität, die um die
Zeit der Revaler Monarchenbcgegnung herrschte, nicht mehr die Rede ist. Man
erwartet noch immer die ersten offiziellen Schritte, mit denen England und Rußland
ihre neuen Vorschläge zur Regelung der mazedonischen Frage den andern Mächten
kundtun wollen. Die Angelegenheit wird nicht mit besondrer Eile betrieben, denn
die Botschafter am Goldner Horn sind zum Teil beurlaubt, und die ganze Sache
will vorsichtig und bedächtig angefaßt sein. Auch forderten die Redaktion der Vor¬
schläge und die Verständigung über den einzuschlagenden Weg viel Zeit und Über¬
legung. Denn man muß sich vergegenwärtigen, daß das englisch-russische Einver¬
nehmen nicht auf einer natürlichen Interessengemeinschaft beruht, sodaß die Diplo¬
maten eine leichte Aufgabe vorgefunden hätten, nachdem der Entschluß, Hand in
Hand zu gehn, einmal gefaßt war. Dieses Einvernehmen ist vielmehr ein recht
künstlicher Bau, der eine rauhe Behandlung nicht verträgt. Eine rasche Ent¬
wicklung der Frage ist also nicht zu erwarten. Das vermindert aber keineswegs
die Schwierigkeiten, die sie auch für die andern Mächte, namentlich für uns birgt.
Denn nachdem England einmal Rußland die Hand gereicht hat, um in Asien größere
Sicherheiten zu erlangen, ist auch die traditionelle Politik Englands im nahen Orient
vollständig fallen gelassen, und unter solchen Uniständen wäre es wunderbar, wenn
England, das doch hierbei nicht unbedeutende Opfer bringt und Schwierigkeiten
in den Kauf nimmt, nicht die Lage nach allen Richtungen hin nusnutzen und sich
Vorteile verschaffen wollte. Und da steht natürlich die Zurückdrängung der wirt¬
schaftlichen Einflüsse, die im nahen Orient von Deutschland ausgehn, und des
damit verbundnen politischen Prestiges in erster Reihe. Das ist scheinbar um so
leichter zu erreichen, als wir keine politische Stellung im Orient haben, die wir
direkt verteidigen, und auf die wir uns stützen könnten. England wird also vor
allem versuchen, Österreich-Ungarns Interessen von den unsrigen loszulösen. Es ist
vorderhand nnr notwendig, auf diese Schwierigkeit, die unsrer Politik droht, hinzu¬
weisen; was wir zu tun haben, um ihr zu begegnen und sie zu überwinden, ent¬
zieht sich vorerst der öffentlichen Erörterung.
Nur eins freilich darf nicht unerwähnt bleibe». Die landläufige Ansicht, daß
England in der europäischen Politik alle Trümpfe in der Hand habe und sie nach
Belieben ausspielen könne, während es für uns keinen Ausweg gebe, ist falsch. Für
alle beteiligten Mächte gibt es noch sehr gefährliche Klippen zu umsegeln. Wir
wissen nicht, ob die persischen Wirren nicht eines Tages eine zu starke Belastungs¬
probe für die englisch-russische Verständigung werden. Einstweilen drücken sich ja
beide Mächte angesichts der Unruhen ostentativ die Hand und werden sich hüten,
einen Dritten irgendein Zeichen gegenseitigen Mißtrauens bemerken zu lassen, aber
sie werden sich trotzdem sagen müssen, daß sie vor der Welt schlecht abgeschnitten
haben. Denn es muß doch einen wunderbaren Eindruck machen, wenn die erste
Frucht des Friedens zwischen Bär und Walfisch nicht die erwartete Eröffnung des
von beiden Seiten eifersüchtig bewachten Gebiets für die Kultur und die Interessen
der zivilisierten Welt, sondern ein blutiger Bürgerkrieg mit unmenschlichen Metzeleien
ist. Diese Greuel, gegen die Vor drei Jahrzehnten die Luissariair arrc,<M<zö, in
unsern Tcigen die Bluttatcn der mazedonischen Banden und was sonst noch die
englischen Liberalen zu leidenschaftlichen Anklagen veranlaßt hat, das reine Kinder¬
spiel sind, geschehen innerhalb der russischen Einflußsphäre in Persien und unter
dem Beirat der russischen Partei am Hofe des Schah, während der Herd der
revolutionären Bewegung in der englischen Einflußsphäre liegt, und sich die überall
verkündeten Prinzipien der englischen Politik in Übereinstimmung mit den Interessen
des englischen Handels kaum mit der gewaltsamen Aufrechterhaltung des ab¬
solutistischen Regiments und der Mißwirtschaft in Persien vereinigen lassen. Das
englisch-russische Abkomme» hat also die grausamsten und nichtswürdigsten Menschen¬
schlächtereien in dem Gebiet, über das man sich verständigt hat, nicht verhindert;
dafür darf England, um die Rücksichten gegen Rußland nicht zu verletzen, lächelnd
und mit verbindlicher Höflichkeit zusehen, wie Freiheit und Menschlichkeit mit Füßen
getreten werden. Ob das auch wohl geschehen würde, wenn England in Persien
freie Hand hätte? Wir glauben es nicht. Daß der englische Gesandte in Teheran
den verfolgten persischen Revolutionären ein Asyl geboten hat, ist gewiß anzuerkennen,
und wir wollen gern annehmen, daß er der andern Partei gegenüber ebenso ge¬
handelt haben würde, wenn sie die unterliegende gewesen wäre. Aber der Ge¬
samteindruck der Lage wird dadurch wohl schwerlich geändert werden. Selbst der
größten Macht und dem größten diplomatischen Geschick fügen sich die Ereignisse
nicht so willig. __
Die Veröffentlichung der von der belgischen
Regierung mit Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika ge-
pflvgueu Verhandlungen über die Reformen im Kongostaate sind die dritte und
vorletzte Etappe ans dem langen und mühsamen Wege zur schließlichen Annexion.
Bei der ersten Etappe handelte es sich darum, im belgischen Parlament eine
Majorität zu finden. Die zweite Etappe war die Tatsache, daß bei den legislativen
Neuwahlen das Volk die Regierung nicht im Stiche ließ. Die dritte Etappe ist
jetzt die Konstatierung der Tatsache, daß von internationaler Seite kein ernsthaftes
Hindernis gegen das Annexionsprojekt besteht. Es war ein glücklicher Gedanke
der drei interessierten Regierungen, ihren diplomatischen Schriftwechsel zu ver¬
öffentlichen, da sich aus ihm unzweifelhaft ergibt, daß man sich über die Haupt¬
punkte schon geeinigt hat. Übereinstimmung herrscht über den Wunsch, daß Belgien
den Kongostaat annektiere, ferner darüber, daß Belgien allein die Annexionsfrage
regle, und schließlich auch über das zukünftige Verwaltnngsprogramm.
Am 23. Januar 1908 hat der britische Gesandte Sir Arthur Hardinge dem
belgischen Minister des Äußern M, Dcwignon mitgeteilt, daß seine Regierung,
„weit entfernt davon, die Annexion des Kongostaats zu mißbilligen, seit langer
Zeit diese Annexion als das sicherste und natürlichste Mittel betrachtet habe, um
zu einer Lösung der gegenwärtigen Schwierigkeiten, zu gelangen und um ihren
eignen Meinungsverschiedenheiten mit dem Kongostaat ein Ende zu setzen". Das
Memorandum des amerikanischen Gesandten Mr. Wilson vom 7. April 1908
äußert sich in demselben Sinne, betont „die lange und traditionelle Freundschaft,
die immer zwischen den beiden Nationen bestanden hat", und versichert, daß „die
amerikanische Regierung glücklich ist, den Zeitpunkt der Annexion herankommen
zu sehen".
Sir Arthur Hardiuge erklärt in eiuer Note vom 30. März 1908 nochmals
ausdrücklich, daß „die britische Negierung Wert darauf legt, eine streng reservierte
Haltung zu beobachten und jede üsinarodo zu vermeiden, die irgendwie als ein
Eingriff gedeutet werden könnte in die absolute Freiheit Belgiens in bezug auf
die zukünftige Verwaltung der innern kongolesischen Angelegenheiten". Und alle
Noten und Memoranda der belgischen Negierung geben dem festen Willen Aus¬
druck, die Anncxionsfrage zu regeln „in der vollen Ausübung der belgischen
Souveränität". Besonders interessant ist die Note M. Davignons vom 4. März,
die die Antwort auf die Angriffe im englischen Parlament war. Festen Tones
wird darin erklärt, daß die Annexionsfrage lediglich verhandelt werden könne
zwischen der belgischen und der kongolesischen Regierung und zwischen der belgischen
Negierung und den Kammern, aber keinen Raum biete für die Vorstellungen einer
fremden Macht.
Es erscheint auf den ersten Blick sonderbar, daß Großbritannien auch bei
dieser Gelegenheit wieder so eifrig als Vorkämpferin der Humanität in fremden
Ländern auftritt, und daß es hierbei von den Vereinigten Staaten bis zu einem
gewissen Grade unterstützt wird, obwohl doch die eine Macht bis jetzt nicht die
furchtbaren Hungersnöte in Indien, die andre nicht die Lynchjustiz an den Negern
beseitigt hat, und ihnen deshalb füglich entgegengehalten werden könnte: oll-erit^
doZins At nomo — aber die englische sowohl als auch die amerikanische Regierung
befinden sich hier in einer Zwangslage gegenüber ihren einheimischen Wählern, die
sich nun einmal berufen fühlen, überall in der Welt ihre Humanitären Ideen zur
Geltung zu bringen. Schon aus diesem Grnnde haben die Proteste der britischen
und der amerikanischen Regierung bei der Kongofrage nicht die Bedeutung, die
ihnen ein Teil der europäischen Presse beilegt, zumal da jetzt über die wichtigsten
Punkte eine Einigung erreicht worden ist, und die belgische Regierung bestimmt
erklärt hat, sich nach einer etwaigen Annexion des Kongo keiner der Verpflichtungen
zu entziehen, die sie vom Kongostaat erben würde, noch denen, die sie selbst als
Signatarmacht der Berliner und der Brüsseler Akte eingegangen sei.
Die Frage der Verbesserung des Loses der kongolesischen Eingebornen hat
überdies, wie aus der Presse hervorgeht, in Belgien dieselbe Sorgfalt gefunden
Wie in England und in Amerika. Die öffentliche Meinung Belgiens ist erfüllt
von der hohen zivilisatorischer Mission, die ihrem Lande in Afrika zuteil geworden
ist, und die belgische Negierung hat erst kürzlich im Senat erklärt, daß sie bestrebt
sein werde, allgemein den Gebrauch des baren Geldes einzuführen, die Handarbeit
in gerechter Weise zu bezahlen, in allen Gebieten moderne Arbeitsmethoden einzu¬
führen und die Neger, die zum Teil noch Nomaden sind, auf ihrem eignen Grund
und Boden anzusiedeln, um dann ihre kommerziellen und industriellen Fähigkeiten
auszubilden und ihnen alle Wohltaten der Zivilisation zuteil werden zu lassen.
Die belgische Regierung hat außerdem erklärt, daß nach der Annexion des
Kongostaats alle Fremden dort volle Handelsfreiheit genießen und das Recht haben
sollen, Grundeigentum zu erwerben, und daß den Missionen gewisse Terrains über¬
wiesen werden sollen.
Es ist klar, daß nicht alle englischen Wünsche in Erfüllung gegangen sind,
insbesondre ist an eine Teilung des Kongostaats nicht zu denken. Da sich aber
alle andern Großmächte stillschweigend mit der Annexion des Kongostaats dnrch
Belgien einverstanden erklärt haben, und da Belgien versprochen hat, die Haupt¬
wünsche Amerikas und Englands zu erfüllen, so ist zu hoffen, daß bald die letzte
Etappe folgen und durch das belgische Parlament die Annexion vollzogen wird.
Wir Deutschen haben jedenfalls alle Ursache, im Interesse unsrer afrikanischen
Kolonien die hierauf zielenden Bestrebungen der belgischen Regierung wohlwollend
on Parabellum. Leipzig, Dieterichsche Verlagsbuchhandlung, 1908.
VIII und 278 Seiten, Oktav. Unter diesem japanischen Hurraruf erscheint hier ein
Seitenstück zu dem „Seestern" und zu der ältern „Schlacht bei Dorking". Wie diese
den Engländern die Gefahr eines deutsch-russischen Angriffs vor Augen rückte, jener
uns Deutschen einen Seekrieg mit England, so geht der Verfasser des Bansai, der
vielleicht mit dem des „Seesterns" identisch ist, von der Überzeugung aus, daß der
Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und Japan nicht nur unvermeidlich sei,
sondern schon in den nächsten Jahren ausbrechen werde, und daß es sich dabei um
den Entscheidungskampf zwischen der weißen und der gelben Rasse, den Ariern und
den Mongolen handle, zu dem der russisch-japanische Krieg nur die Einleitung
gebildet habe. Das Ganze ist mit guter Sachkenntnis und lebhaftester Anschaulich¬
keit geschildert, wenngleich starke Uuwahrscheinlichkeiten mit unterlaufen, und die
Handlung spielt auf den verschiedensten Schauplätzen. Sie beginnt in Manila im
Mai. Alles ist dort im tiefsten Frieden, das amerikanische Philippinengeschwader
ist nach Mindanao ausgelaufen, im Hafen liegen nur ein paar alte Kanonenboote.
Da wird plötzlich infolge eines „Seebebens", das ein einlaufender japanischer Dampfer
meldet, die telegraphische Verbindung nach allen Richtungen unterbrochen und
Manila von einem unsichtbar bleibenden japanischen Blockadegeschwader eingeschlossen,
wovon erst ein deutscher Dampfer die Besatzung in Kenntnis setzt. Durch ein
Torpedo des friedlichen japanischen Dampfers wird ein amerikanischer Monitor in
der Bai gesprengt und damit der offne Kriegszustand erklärt, jener Dampfer allerdings
dann zusammengeschossen, aber von den vier amerikanischen Kanonenbooten, die nun
auslaufen, bleibt im Kampfe mit einem japanischen Blockadekreuzer nur eins übrig; ein
Angriff erfolgt nicht, wohl aber bricht der Aufstand der Filipinos aus. In denselben
Tagen wird vor Jokohama ein amerikanischer Passagierdampfer von einem japanischen
Kreuzer als gute Prise gekapert; auf dem nordamerikanischen Festlande bemächtigen
sich die Japaner, die seit Jahren als harmlose Ansiedler ins Land gekommen, aber
militärisch organisiert sind, der großen quer durch den Kontinent laufenden Eisen¬
bahnen durch Besetzung wichtiger Stationen, heben den Verkehr nach dem Osten
auf, schneiden die pazifischen Staaten mit allen ihren Hilfsquellen ab, nehmen endlich
Francisco, von wo eben das amerikanische Geschwader zu einem großen Flotten¬
manöver ausgelaufen ist, durch einen Handstreich mit Hilfe der ebenfalls militärisch
organisierten im Chinesenviertel versteckten japanischen Einwandrer weg. Fortan ist
es ihr Einfallstor. und binnen kürzester Zeit stehen 170000 Mann Japaner auf
amerikanischem Boden, die Vorposten bis an die östlichen Abfälle des Felsen¬
gebirges vorgeschoben. Denn auch die Herrschaft über den Großen Ozean haben sie
mit einem Schlage an sich gerissen; die „blaue" Flotte des Pazifikgeschwaders
unter Admiral Sperry trifft völlig unvermutet statt auf die „gelbe" Flotte in der
Nähe der Magdalenabai (Altkalifornien) bei schwerem Seegange auf sechs ihr weit
überlegne Linienschiffe des Admirals Togo, wird, unvorbereitet, wie sie ist, plötzlich
mit einem Hagel von Geschossen überschüttet, dem sie 11 Minuten lang nichts ent¬
gegensetzen kann, und wird, als sie endlich anch scharf zu feuern beginnt, trotz alles
Heldenmutes binnen kurzer Zeit, da sie jenen Vorsprung nicht wieder einholen kann,
völlig zusammengeschossen, sodaß alle ihre sechs Linienschiffe versinken. Die Schilderung
dieser Seeschlacht, zu der offenbar die Schlacht von Tsuschima das Vorbild gegeben
hat, ist eines der glänzendsten Kapitel des Buches, vergegenwärtigt packend die
furchtbaren Schrecknisse des modernen Seekrieges, der gerade durch die hochentwickelte
Vernichtungstechnik zu einer fürchterlichen Barbarei entartet. Auch die „gelbe" Flotte
wird vou Kamimura durch einen nächtlichen Torpedoangriff vernichtet, nur das
Hospitalschiff Ontario entkommt mit etwa 500 Verwundeten, fällt aber auch in die
Hände der Japaner. Andre Kapitel schildern den Eindruck, den diese Nachrichten
in Newyork auf die Geschäftswelt und die Presse machen. Zunächst ist alles wie
betäubt. Dann erwacht die amerikanische Tatkraft; die freilich viel zu kleine reguläre
Armee, von der 15000 Mann auf den Philippinen, andre auf Kuba und in den
abgeschnittnen oder Verlornen Küstenposten am Pazifik stehen, wird mobilisiert und
nach dem Westen geworfen, die Milizen aufgeboten und Freiwilligenregimenter
gebildet, ganz wie 1861, aber es fehlt an allem, an Formationen für den Ver¬
pflegung-, Sarnath- und Trausportdienst, ganz wie 1861; der Versuch, die
kubanischen Truppen nach Texas heranzuziehen, wird kurz vor ihrer Landung in
Corpus Christi von ein paar plötzlich im Atlantischen Ozean auftauchende» japanischen
Riesenlinienschiffen vom Typus der Dreadnought, die auf englischen Werften angeblich
für brasilianische Rechnung gebaut worden sind, durch die Vernichtung der Transport¬
flotte vereitelt, und die Schlacht an den „Blauen Bergen" bei Hilgard an der
Northern Pacific Nailway geht unter furchtbaren Verlusten im August gegen die
Übermacht des japanischen Generals Nogi verloren. Aber während der Pause, die
nun eintritt, erwacht das Gesamtgefühl der angelsächsischen Nasse in Kanada und
Australien, und trotz des Widerstrebens der japanfreundlichen englischen Regierung
kommen Freiwilligenregimenter von dort den bedrängten Amerikanern zu Hilfe; auch
aus Deutschland treffen zahlreiche Offiziere ein. Charakteristisch und nur zu treffend
ist, was Parabcllum einen von ihnen einem Amerikaner auf dessen Frage, ob das
deutsche Volk auf ihrer Seite stehe, antworte» läßt: „Sie wissen, wie wenig das deutsche
Volk innern Anteil nimmt an den Fragen der auswärtigen Politik. Sehen Sie
doch unsern Reichstag an. Höchstens eine Woche lang im ganzen Jahre wird von
dem geredet, was jenseits unsrer Grenzen liegt, zwanzig Wochen von Fümnznot,
Wahlrechtsfrngen, Parteifragen und Sozialpolitik — als ob die Geschichte die Völker
jetzt zu Ende sei —^ als ob der Staat nur noch eine Versicherungsanstalt im großen
Stile sei" usf. Obwohl sich nun im Innern der großen Republik die unsichern Elemente
des bunten Völkergemisches, Slawen, Italiener und Neger, auch die Sozialisten als
höchst unzuverlässig zeigen, werden die japanischen Friedensbedingungen (japanische
Garnisonen in den vier westlichsten Staaten und freie japanische Einwandrung dort)
abgewiesen, die Rüstungen verdoppelt, der Kleinkrieg im Gebirge fortgesetzt, und
endlich beginnt sich das Glück zu wenden. Am 4. Dezember faßt Admiral Dayton
ein japanisches Geschwader, das an den englischen Falklandinseln Kohlen einnimmt,
und bohrt nach einstündigem Gefecht alle fünf Schiffe in den Grund. Allerdings lähmen
die von den Japanern angezettelten Aufstände in Indien und Jndochina England
und Frankreich, in Afrika gard es allerorten, aber die amerikanische Armee, bis
ans mehr als 300000 Mann verstärkt, geht im Felsengebirge zum Angriff auf die
japanische Stellung bei Fort Brigder östlich von Granger an der Central Pacific
Nailway über. Diese Entscheidung erlebt der Leser nicht auf dem Schlachtfelde,
sondern im Weißen Hause zu Washington bei dem Präsidenten. Die Schilderung,
wie hier, mit unsäglicher Spannung erwartet, in der Nacht vom 8. zum 9. Februar
die Depeschen von Fort Brigder eingehen, deren letzte den beginnenden Rückzug der
Japaner, also den Sieg der Amerikaner meldet, gehört zu den wirkungsvollsten des
ganzen Buchs. Mit den Worten „Nun ging es rasch vorwärts" schließt es? das
Endergebnis wird damit nur angedeutet. Es ist am 24. Juni auch in Amerika
ausgegeben worden, und noch vor dem Erscheinen sind die beiden ersten Auflagen
(10 000 Exemplare) schon vergriffen. Denn es ist ja dazu bestimmt, die Amerikaner
aufmerksam zu machen auf die Mängel ihrer Rüstung, sie zu warnen vor der Zer¬
splitterung ihrer Secstreitkrüste und vor allem vor den Japanern, deren Hinterlist
in den schwärzesten Farben gemalt wird. Aber nicht ihr schreibt Parabellum die
überraschenden Erfolge der Japaner zu, sondern dem stolzen Nationalgefühl und
der straffen politisch-militärischen Zucht dieses merkwürdigen Volkes, das darin alle
In der Besprechung der Straußbiographie von Theobald
Ziegler im 26. Heft ist mir zu meinem großen Bedauern ein unangenehmes Ver¬
sehen Passiert. Ich habe S. 626 unten ein andres Buch von „Ziegler" erwähnt
und daran die Bemerkung geknüpft, daß die Psyche eines Philosophieprofcssors
möglicherweise das Bewußtsein oder Gefühl ihrer Substantialität einbüßen könne.
Herr Professor Dr. Theobald Ziegler macht mich nun darauf aufmerksam, daß dieses
andre Buch nicht ihn. sondern Herrn Leopold Ziegler zum Verfasser hat, und daß
demnach die aus diesem Buche gezognen Schlußfolgerungen ans ihn wenigstens nicht
>le vielseitigen Fortschritte und Verbesserungen auf den Gebieten
von Industrie und Technik, von Handel und Gewerbe, die uns
die letzten Jahre in reicher Fülle gebracht haben, werden immer
gefolgt von einer Vermehrung und Weiterausdehnung des Ver¬
kehrs sowohl im kleinen von Ort zu Ort, von Hand zu Hand,
wie auch im großen von Weltteil zu Weltteil, von Weltmeer zu Weltmeer.
Manche Straße des Weltverkehrs, die noch vor wenigen Jahren und Jahr¬
zehnten als ein Wunder der Technik betrachtet wurde, genügt heute den An¬
forderungen des gesteigerten Verkehrs nicht mehr und fordert gebieterisch nach
baldiger Erweiterung. Daneben entstehn immer neue Wege, die sich der
Weltverkehr einrichtet, mit denen er ferne Länder, weit getrennte Weltteile
verbindet, und auf denen ungeheure Entfernungen in früher nie für möglich
erachteter Kürze der Zeit zurückgelegt werden.
Mehr und mehr beteiligt sich auch deutscher Fleiß und deutsche Tüchtig¬
keit auf diesen Gebieten. Bedeutende Bahnlinien sollen in absehbarer Zeit
den Persischen Meerbusen und damit den Indischen Ozean mit dem Herzen
Europas verbinden und so eine neue Straße des Weltverkehrs schaffen.
Daneben ist man in Deutschland selbst daran, eine groß angelegte Verkehrs¬
straße, die sich nach wenigen Jahrzehnten nicht mehr als ausreichend erwiesen
hat, zu vergrößern und den neuzeitlichen Anforderungen entsprechend zu er¬
weitern. Der Nord- und Ostsee verbindende Kaiser - Wilhelm - Kanal wird
einem nötigen Umbau unterzogen, durch den er befähigt werden soll, auch
den allergrößten Fahrzeugen der Kriegs- und der Handelsmarine Durchlaß zu
gewähren.
In ähnlicher Weise wie dieser deutsche Kanal genügt auch der vor¬
wiegend unter britischen Einfluß stehende Suezkanal nicht mehr völlig den
Anforderungen, die der gesteigerte Weltverkehr heute an ihn stellt. Jedoch
handelt es sich beim Suezkanal noch nicht um einen von den beteiligten Be¬
hörden schon festgesetzten und genehmigten Plan, wie ihn das Deutsche Reich
für die Erweiterung des Kaiser-Wilhelm-Kanals aufgestellt hat. Es tauchen
aber immer wieder Vorschläge zur Hebung des Verkehrs vom Mittelländischen
nach dem Roten Meere auf.
So ging vor einiger Zeit das Gerücht durch die Presse, England, das
ja keineswegs selbständiger Herr des Suezkanals ist, beabsichtige, auf eng¬
lischem Einflußgebiet einen zweiten Kanal neben dem bisherigen Suezkanal zu
bauen und die Genehmigung hierzu vom Khedive zu erwerben oder nötigen¬
falls mit Waffengewalt zu erzwingen.
Dieser Gedanke hat ohne Zweifel auf den ersten Blick etwas bestechendes.
Ein neuer Kanal, mit britischen Kapital erbaut, auf britischen Boden, in
britischer Verwaltung und vor allem unter britischen Kanonen würde England
mit einem Schlage einen Weg nach seiner wertvollsten außereuropäischen Be¬
sitzung, nach Indien, schaffen und es unabhängig machen von den die Durch¬
fahrt und die Benutzung des Suezkanals einschränkenden internationalen Be¬
stimmungen und Verträgen. Sicher ein Plan, dessen Ausführung auch ein
bedeutendes Opfer an Geld und Arbeit begreiflich machen würde.
Auf der andern Seite stehn diesem Gedanken doch auch recht schwer¬
wiegende Bedenken entgegen. Zunächst ist der Verkehr im Suezkanal doch noch
nicht derartig angewachsen, daß er an sich schon die Neuschaffung eines zweiten
Kanals nötig machte. Und ein solcher Kanal würde mit den nötigen Hafen-
und Schlensenanlagen am Ein- und Ausgang doch eine recht beträchtliche
Summe kosten.
Wenn sich aber auch diese Summe ohne allzugroße Schwierigkeiten
sicherstellen ließe, so sind doch wichtige politische Gründe gegen den Bau eines
zweiten Kanals anzuführen. Schon der französischen Negierung, die an der
Verwaltung und an der Benützung des alten Kanals stark beteiligt ist, kann
es nicht zugemutet werden, daß sie einem Unternehmen zustimmen sollte, das
geeignet ist, den Wert eines großen und wertvollen nationalen Werkes, das
mit Recht der Stolz des französischen Volkes ist, herabzudrücken. Wollte
aber die englische Regierung, selbst ohne die Zustimmung Frankreichs, die
Genehmigung zum Bau eines solchen zweiten Kanals vom Khedive erzwingen,
so würde sie sich den berechtigten Vorwurf zuziehen, sie nütze ihren zweifellos
vorhandnen großen Einfluß in Ägypten nicht im Sinne einer ehrlichen Politik
der „offnen Tür", sondern zu völlig eigennützigen, selbstsüchtigen Zwecken aus.
Die Ausführung dieses Planes würde einen tödlichen Schlag gegen das
englisch-französische Abkommen des Jahres 1904 sein, das England freie
Hand in Ägypten zugesichert hatte in dem festen Vertrauen auf die Er¬
haltung des Status <iuo seitens Englands allen berechtigten Interessen Frank¬
reichs gegenüber.
Kann also dieser Plan bei der gegenwärtigen politischen Lage in Europa
zurzeit nicht für ausführbar erachtet werden, so sind doch wohl Verbesserungen
auch an dieser Weltverkehrsstraße denkbar, die dem wachsenden Weltverkehr
zugute kommen. Solche Vorschläge macht der englische Oberst A. M. Murray
in seinem vor kurzem erschienenen Buche Outxosts*), dem wir bei
unsern Ausführungen folgen.
Bei den eigentümlichen Verhältnissen der ganzen Verwaltung des Suez¬
kanals ist jedoch eine einschneidende Veränderung nicht leicht zu erreichen.
In das durch den Suezkanal geschaffne eigenartige Monopol teilen sich die
französische und die englische Negierung, und zwar diese dank dem genialen,
von weitschauendem staatsmännischem Blick zeugenden Schachzug des Lords
Beaconsfield, der im Jahre 1875 die Aktien des verschuldeten Khedive in
der Höhe von insgesamt 32 Millionen Mark mit einem Schlag für die eng¬
lische Regierung aufkaufte. So ist heute britisches Kapital mit 632 Millionen
Mark am Suezkanal beteiligt, denen aber mehr als das Doppelte an fran¬
zösischem Kapital, nämlich 1326 Millionen Mark, gegenüberstehn.
Der Verwaltungsrat des Suezkanals besteht aus zweiundzwanzig fran¬
zösischen und zehn englischen Direktoren; von den zuletzt genannten vertreten
drei die englische Regierung, während sieben die Vertretung der englischen
Reeber in Händen haben. Die französischen und die englischen Wünsche stehn
einander jedoch vielfach feindlich gegenüber; während die französischen Direk¬
toren darauf ausgehn, die Dividenden ihrer Aktionäre zu vergrößern, trachten
die englischen danach, die Abgaben des Durchgangsverkehrs herabzusetzen.
Annähernd zwei Drittel des Tonnengehalts, der den Suezkanal durchzieht,
fahren unter britischer Flagge.**) Die britischen Reeber aber beklagen sich,
daß sie für die Taschen derer, die den Kanal nicht benützen, hohe Abgaben
(Aus Whitakers Almanach 1908)
zahlen müssen, während die sich in der Minderzahl befindenden englischen
Direktoren bei jedem Antrag auf Herabsetzung der Abgaben auf fast unüber¬
windlichen Widerstand stoßen. Ein entsprechender Ausgleich könnte wohl nur
in der Weise geschaffen werden, daß den englischen Reedern aus den dem
englischen Schatzamt aus den Suezkanaleinnahmen zufließenden Summen ein
gewisser Anteil herausbezahlt würde. Im ganzen sind dem englischen Schatz¬
amt seit dem Jahre 1875 nicht weniger als 200 Millionen Mark an Dividenden
und Zinsen (also mehr als das Doppelte des damaligen Ankaufspreises der
Kanalaktien) zugeflossen.
Ganz ohne Einfluß ist zwar die Tätigkeit der englischen Direktoren auch
nicht geblieben. Der ursprüugliche Tarif betrug im Jahre 1870 10 Franken
für die Tonne, wurde dann im Jahre 1874 auf 13 Franken erhöht und vom
Jahre 1877 an je um ^ Frank im Jahre herabgesetzt, bis er schließlich auf
9 Franken bis zum Jahre 1893 blieb. In diesem Jahre entschloß sich der
Verwaltungsrat in Anbetracht des dauernd wachsenden Verkehrs auf das nach¬
drückliche Verlangen der englischen Direktoren hin zu einer weitern Ermäßigung
um ^2 Frank. Im Jahre 1907 wurden dann vom 1. Januar an die Kosten
für eine Tonne noch einmal um 75 Centimes herabgesetzt, sodaß heute die
Abgabe 7"/^ Franken für die Tonne betrügt. Eine weitere Zunahme des Ver¬
kehrs würde für die Zukunft nicht nur eine nochmalige Herabsetzung der Ab¬
gaben, sondern auch die Aufwendung beträchtlicher Mittel zum weitern Ausbau
des Kanals ermöglichen.
Und darin, nicht im Bau eines zweiten Kanals sieht Oberst Murray das
anzustrebende Ziel. Auf diesem Gebiete ist aber auch tatsächlich vom Direktorium
gutes geleistet worden; diesem den Vorwurf der Rückständigkeit zu machen,
wäre unberechtigt. Während der letzten beiden Jahrzehnte haben unuuterbrochne
Grabarbeiten im und am Kanal stattgefunden.
Im Jahre 1870 hatte der Kanal eine Tiefe von nur 7,9 Metern und eine
untere Breite von 21,35 Metern. Im Jahre 1887/88 wurde er um ^ Meter
vertieft und an der Bodenfläche nach und nach auf 32,9 Meter verbreitert.
Zu derselben Zeit flachte man die Biegungen des Kanals ab, um die Durch¬
fahrtsgeschwindigkeit der Schiffe zu erhöhen. In den Jahren 1898 bis 1904
wurden in Zwischenräumen von rund 5 Kilometern Ausweichestellen angelegt in
einer Länge von 750 Metern bei einer Breite der Bodenfläche von 45 Metern.
Auch wurde in derselben Zeit der Kanal in seiner ganzen Länge auf eine Tiefe
von 9 Metern gebracht, sodaß im Jahre 1902 Schiffen mit einem Tiefgang von
7,9 Metern die Durchfahrt durch den Kanal gestattet werden konnte.
In dieser Weise wird seitdem weiter gearbeitet. Man beabsichtigt, die Tiefe
des Kanals auf 9^ Meter zu bringen und seine Sohle auf 39 Meter zu
erweitern. Hierdurch würde sich die Durchfahrtsgeschwindigkeit der Schiffe von
9,6 auf 14,5 Kilometer in der Stunde steigern und die durchschnittliche Fahrt¬
dauer durch den Kanal von 18 auf 12 Stunden vermindern lassen.
Schlachtschiffe vermögen zurzeit den Kanal zu durchfahren, nachdem sie
ihre schweren Geschütze in Leichterschiffe verladen haben, und wenn sie erst beim
Austritt aus dem Kanal Kohlen fassen. Hat der Kanal aber einmal eine Tiefe
von 9 Metern, so können selbst Schiffe wie die Dreadnought den Kanal glatt
durchfahren und ihre 30-Zentimetergeschütze an Bord behalten.
Von großer Bedeutung für die Zukunft wäre es, wenn sich das Direktorium
zu der Ausgabe entschließen wollte, den Kanal in seiner ganzen Länge durch
Verbindung der Ausweichestellen auf deren Breite zu erweitern und ihm so eine
durchlaufende Breite von 90 Metern an der Oberflüche und von 45 Metern an
der Kanalsohle zu geben. Auf diese Weise würde der Kanal gewissermaßen
verdoppelt, und die Schiffe könnten ohne Zeitverlust aneinander vorbeifahren.
Das Festmachen an einer Ausweichestelle bedeutet stets einen Aufenthalt von
mindestens einer Stunde.
Man hat berechnet, daß ein derartiger Ausbau des Kanals die Gesamt¬
summe von 20 Millionen Mark nicht übersteigen würde. Eine solche Summe
aber würde sich im Laufe der Zeiten sicher aufs beste verzinsen. Zudem aber
würde ein solcher Ausbau des Kanals die Errichtung eines neuen Wasserwegs
ein für allemal unnötig machen.
Eine dauernde Zunahme der Benutzung des Kanals im gleichen Ver¬
hältnis mit der jährlichen Vermehrung des Welthandels und der Schiffahrt
steht ohne weiteres zu erwarten. Seit dem Eröffnungsjahre des Kanals, in
dem sich die Einnahmen auf 44000 Mark beliefen, bis zum Jahre 1904, wo
sie eine Summe von über 94 Millionen Mark erreichten, ist ein stetiger,
gleichmüßiger Zuwachs des Verkehrs festzustellen. Besonders muß dabei darauf
aufmerksam gemacht werden, daß jeder Verminderung der Verkehrsabgaben fast
immer eine Zunahme der Einnahmen unmittelbar auf dem Fuße folgte.*)
Es ist anzunehmen, daß die hohe Bedeutung des Suezkanals für den
Welthandel auch für die Zukunft erhalten bleiben wird, und daß der Kanal
die Konkurrenz aller andern Verkehrsstraßen, was den Verkehr zwischen Europa
und dem Osten anlangt, wird aushalten können. Oberst Murray hält sogar
den Gedanken, die beabsichtigte Bahn durch Kleinasien und Mesopotamien
zum Persischen Golf könne einen Teil des Verkehrs aus dem Suezkanal ab¬
ziehen, mit Ausnahme der für lokale Märkte bestimmten Güter für unwahr-
Die Einnahmen aus dem Verkehr durch den Suezkanal hatten folgende Höhe-
*) Die Dividenden wurden im Jahre 1906 in der Höhe von 141 Franken für gewöhnliche
500-Frcmkenaktien und in der Höhe von 117,65 Franken für die zinstragenden Aktien ausbezahlt,
(Aus Whitakers Almanach 1908)
scheinlich. Auch der Panamakanal wird nach seiner Vollendung dem Suez¬
kanal keinen merklichen Abbruch tun. Der Weg von England nach Sydney
ist um 870, nach Uokohama um 2580 und der nach Schanghai um 5400 Kilo¬
meter kürzer durch den Suez- als durch den Panamakanal. Nur der Verkehr
der Vereinigten Staaten mit den Philippinen wird nach Fertigstellung des
Panamakanals künftig nicht mehr durch den Suezkanal seinen Weg nehmen.
Sonst sind die Aussichten des Suezkanals auch für die fernere Zukunft
durchaus günstig. Es bleibt nur zu wünschen, daß die Suezkanalgesellschaft
erst ihre Geschäftsführung großzügiger und fortschrittlicher gestaltet, um mit
der Weiterausdehnung und der Vergrößerung des Welthandels dauernd Schritt
halten zu können.
Mel der hohen Bedeutung der in Frage stehenden Interessen ist es
nicht zu verwundern, daß in der Tagespresse die Verhandlungen
über die am 22. April geschloßnen Verträge über die Nordsee
und die Ostsee noch immer der Gegenstand lebhafter Erörterungen
sind. Nicht zum wenigsten handelt es sich dabei um den Austausch
militärischer Anschauungen, insbesondre was die Ostsee anlangt, die mit ihren
zahlreichen Küstenbefestigungsanlagen benachbarter Staaten auch in Zukunft kein
Ug.r6 vlausum werden soll. Die norwegische, schwedische, dänische, deutsche
und russische Küste kommen dafür in Betracht, wenn ja auch Norwegen durch
den Jntegritätsvertrag mit England, Deutschland, Frankreich und Rußland
nicht unmittelbar an dem Ostseeabkommen beteiligt ist; sie mögen hier einer
kurzen Besprechung unterzogen werden, um das Verständnis für die in Betracht
kommenden Fragen zu vervollständigen.
Vom strategischen und geographischen Standpunkt aus wird Norwegen
durch das Kjölengebirge in folgende vier Abschnitte geteilt:
1. Der Abschnitt südlich vom Gebirge, der den südöstlichen Teil des Landes
umfaßt, worin die Landeshauptstadt und die wichtigsten Armee- und Marine¬
arsenale liegen; hier ist fast die Hälfte der Gesamtbevölkerung seßhaft.
2. Der Abschnitt westlich vom Gebirge oder der südliche und östliche Teil
des Landes, der das Küstengebiet umfaßt, das sich von Langesund bis nach
Christiansund ausdehnt. Hier liegen die meisten Seestädte, von denen aus die
große norwegische Handelsflotte ihren Handel treibt; die Einwohnerzahl bildet
den dritten Teil der Gesamtbevölkerung des Landes.
3. Der Abschnitt nördlich vom Gebirge oder der nördliche und westliche
Teil des Landes, der als Mittelpunkt die wichtige Stadt Trondhjem und das
sie umgebende fruchtbare Land hat. Bewohnt wird dieser Abschnitt vom fünften
Teil der Gesamtbevölkerung.
4. Der nördliche Abschnitt, der die Küste bis zur russischen Grenze ein¬
begreift, wird vom zehnten Teil der Gesamtbevölkerung bewohnt, der sehr
einträglichen Fischereihandel treibt.
Von den genannten vier Abschnitten ist der erste weitaus der wichtigste,
denn hier ist der Hauptangriff eines Feindes gegen Norwegen am meisten zu
fürchten. Infolgedessen hat man auch hier die Hauptmittel einer wirksamen
Verteidigung zusammengefaßt. Das Gebiet westlich vom Gebirge ist dagegen
mehr einer Blockade und feindlichen Landungsversuchen ausgesetzt; dasselbe
gilt, wenn auch in beschränktem Maße, von den nördlich vom Gebirge liegenden
Landstrichen. Was endlich den nördlichen Abschnitt anlangt, so liegt hier Gefahr
für eine Besetzung durch den Gegner vor; auch ist dieser Teil des Landes seiner
großen Ausdehnung wegen, und weil er nur schwach bevölkert ist, sehr schwer
zu verteidigen. Hier hat aber die im Jahre 1902 fertiggestellte und im
Sommer 1903 durch König Oskar von Schweden eröffnete Ofotenbahn, die
bei Victoriahcwn ausmündet, sehr viel geholfen und die Landesverteidigung
im Norden zu weit höherm Ansehn gebracht.
Was den wichtigen Abschnitt südlich vom Gebirge des nähern anlangt,
so umfaßt dessen Verteidigungsplan, der im Jahre 1899 von einer Sonder¬
kommission ausgearbeitet und im Jahre 1901 von der Regierung und den
Kammern angenommen worden ist, zwei Verteidigungslinien zum Schutz der
Landeshauptstadt und ihrer Zugänge.
Die erste Verteidigungslinie beginnt bei Singelfjord und geht über
Frederikshald und Orje nach Kongsvinger. Diese Linie soll mit permanenten
Befestigungswerken ausgestattet werden und hauptsächlich die Mobilmachung
der Armee decken.
Die zweite Verteidigungslinie soll von Moß aus über Raabe nach
Sarpsborg führen, soll sich dann nördlich den Glommen entlang wenden und
bei Fetsund auslaufen. Auf dieser Linie sollen nur provisorische Werke zur
Ausführung gelangen, und ihre Ausrüstung soll von der neu zu organisierenden
mobilen Positionsartillerie gestellt werden; der rechte Flügel der Linie wird
jenseits des Christianiafjords bei Drammen und Svelvik zu finden sein. Der
ursprünglich von der Kommission entworfne Plan beabsichtigte, die Verteidigung
noch weiter hinaus bis zu den Inseln Basko und Jelo vorzuschieben, wodurch
noch das Arsenal von Carljohansvörn einen besondern Schutz erhalten
haben würde. Da aber die finanziellen Verhältnisse Norwegens zurzeit nicht
günstig liegen, so ist die Ausführung des zuletzt genannten Planes vorläufig
aufgegeben worden.
Was nun die Küstenverteidigungsanlagen in dem hier besprochnen Abschnitt
im einzelnen anlangt, so sind diese der Reihe nach die folgenden: a) die Werke
an der Enge von Dröbak, b) die Werke bei Drammensfjord, v) die Werke
von Tonsbergfjord, <Z) die Werke von Fredcrikstad, <z) die Werke von
Frederikshald. Alle diese befestigten Anlagen sind in den letzten Jahren so
modernisiert worden, daß es ein kühnes Wagnis für eine feindliche Flotte
wäre, wollte sie hier eine Durchfahrt erzwingen.
Aus dem Studium der Militärgeographie Schwedens ergibt sich, daß das
Land, seiner natürlichen Gestaltung nach, in drei Kriegstheater zu teilen ist:
s.) in ein nördliches, das sich nach Süden zu fast bis zum Dalelven
ausdehnt,
b) in ein südliches, das nördlich bis zum Venernsee und bis an die Höhen
heranreicht, die der allgemeinen Richtung von Westen nach Osten folgend das
Bassin der vier großen Seen Venern, Vettern, Hjemarn und Mälarn nach
Süden zu abschließen,
o) in ein mittleres, worin die Landeshauptstadt Stockholm liegt, und das
zugleich die fruchtbarsten und am meisten bevölkerten Provinzen Schwedens
umfaßt. Infolge dieser Beschaffenheit ist das mittlere Kriegstheater weitaus
das wichtigste, gegen das sich auch in erster Linie ein etwaiger feindlicher
Angriff richten dürfte. Auf der andern Seite aber bildet dieser Mittelpunkt
des Landes mit seinen zahlreichen natürlichen Hindernissen an Seen, Flüssen
und dergleichen sowie mit seinen vielen ausgezeichneten Wegeverbindungen einen
außerordentlich günstigen Abschnitt für eine zähe und nachdrückliche Verteidigung.
Auch dürfte es einem Gegner nicht leicht werden, bei einem Angriff hier bis
zur Landeshauptstadt vorzudringen. Diese Annahme findet ihre Begründung
in dem Umstände, daß ein Angriff auf Schweden zu Lande nur von der finn-
ländischen Grenze aus oder vom Meere aus nur mit Truppenlandungen im
großen Stile unternommen werden kann.
Nun ist aber zu bedenken, daß eine Offensive, die an der finnlündischen
Grenze ihren Ausgangspunkt nehmen und sich gegen das mittlere Schweden
richten würde, selbst für die gewaltigen russischen Heeresmassen mit außerordent¬
lichen Schwierigkeiten verbunden sein wird. Die Hilfsquellen der Verpflegung
im nördlichen Schweden sind nämlich von ganz untergeordneter Bedeutung, die
Bevölkerung ist nur dünn gesät und weit zerstreut, und nur wenige Wege durch¬
zieh!? das Land; bis zum Ljusneelo gibt es sogar nur eine einzige brauchbare
Heeresstraße, die sich aber so dicht an der Küste entlang zieht, daß zu ihrer
Benutzung das Meer frei von feindlichen Schiffen sein muß.
Auch für große Landungsversuche ist der nördliche Kriegsschauplatz nicht
sonderlich geeignet. Allerdings finden sich ja in seinem südlichsten Teile eine
Anzahl guter Häfen und leidlicher Wegeverbindungen, aber das Gelände im
Innern des Landes, das der Gegner von der Küste aus bis zum Mittelpunkte
Schwedens zu durchschreiten hat, ist für eine Offensive keineswegs günstig.
Dazu kommt, daß der Angreifer bei einem solchen Vorgehn fortgesetzt unter
der Gefahr steht, von dem benachbarten Norwegen in der Flanke gefaßt zu
werden.
Was die Möglichkeit großer Landungsvcrsuche an andern Punkten der
schwedischen Ostseeküste anlangt, so können die Abschnitte, an denen sich sogenannte
„Skörgaards"*) finden, als durch sich selbst für hinreichend geschützt angesehn
werden. Da sich ferner die offne Küste in keiner Weise für Truppenlandungs¬
versuche eignet, so ist der Feind für derartige Unternehmungen allein auf die
Häfen angewiesen. Die Mehrzahl dieser liegt jedoch so, daß der Angreifer von
ihnen aus noch einen langen und beschwerlichen Marsch durch bedecktes Gelände
und zahlreiche Defileen (insbesondre in den Provinzen Smaaland und Oster-
gvtland) zurückzulegen hat, bevor er den Mittelpunkt Schwedens erreicht.
Ein Landungsversuch, der gegen die schwedische Küste vom Kattegatt aus
unternommen werden sollte, würde, was die Ausbreitung und die weitere Ver¬
wendung der Truppen anlangt, in mancher Hinsicht in weit günstigerer Lage
sein als in den vorgedachten Fällen. Denn hier sind nicht nur ausgezeichnete
Häfen vorhanden, die sich zu Operationsbasen sehr gut eignen würden, sondern auch
zahlreiche gut erhaltne Wegeverbindungen, die bis in das Herz Schwedens
führen. Insbesondre kommt hierbei die Provinz Westergotlcmd in Betracht.
Allerdings ist gegenüber diesen Vorteilen zu berücksichtigen, daß der nördliche
Teil dieser Provinz hinter dem Kanal von Göta, der selbst ein sehr schwer
zu überwindendes Hindernis ist, die Verteidigung in hohem Maße begünstigt.
Als Schlußfolgerung aus der vorangegangnen Darstellung ergibt sich, daß
sich die topographische Gestaltung Schwedens für eine hartnäckige Verteidigung
des Landes in hohem Maße eignet, sobald es sich um eiuen Angriff gegen seine
Selbständigkeit handelt. Es gehört aber nicht allzuviel Überlegung dazu, um
sich Konflikte in Europa vorzustellen, die es Schweden außerordentlich schwer
machen können, seine Neutralität in vollem Umfange innerhalb aller Grenzen
seines Reichs aufrecht zu erhalten und zu wahren. In diesem Falle werden
die Provinzen Norrland und Insel Gotland die am meisten exponierten
Punkte sein.
Es war zu Anfang des letzten Jahrhunderts, zur Zeit der napoleonischen
Kriege, als der Besitzstand Schwedens, so wie er es heute uoch ist, durch die
Abtretung Finnlands und dnrch die Vereinigung mit Norwegen geregelt wurde.
Kurze Zeit darauf, im Jahre 1819, wurde durch eine Order König Karls des
Vierzehnten eine Kommission ernannt, die den Auftrag erhielt, sich über das
geeignetste System der Landesverteidigung auszusprechen. Zu jener Zeit waren
an nachstehenden Plätzen Befestigungsanlagen vorhanden:
g,) Kriegshüfen in Carlskrona, Stockholm und Göteborg (an den beiden
zuletzt genannten Orten war nur die Front nach dem Meere zu befestigt),
b) an einigen an der Küste gelegnen Handelsstädten (mit Verteidigungs¬
anlagen von geringer Bedeutung),
o) in Christiansstad, im Innern des Landes, das die Operationsbasis für
eine Armee bilden sollte, die sich gegen einen etwaigen Angriff gegen Dünemark
zu wenden hätte.
Europa hatte eben erst erkannt, daß das alte Verteidigungssystem, das
sogenannte Kordonsystem, das die Landesgrenzen mit einer großen Menge
befestigter Plätze und Festungen umgab, die einen feindlichen Ansturm aushalten
sollten, gegenüber den ungeheuer angewachsnen, auf der allgemeinen Wehrpflicht
beruhenden Heeren nicht mehr widerstandsfähig genug sei. Die Folge davon
war, daß das Kordousystem allenthalben fallen gelassen und durch ein System
zentraler Landesverteidigung ersetzt wurde. Den Kernpunkt dieses Systems bildete
der Gedanke, daß eine Macht, die durch ihre numerische Schwäche auf die
Defensive angewiesen sei, ihre Truppen im Innern des Landes konzentrieren
müsse, da sie auf diese Weise eher in die Lage kommen würde, die Unterschiede
der Zahl gegenüber einem überlegnen Gegner auszugleichen. Das zentrale
Verteidigungssystem verlangt den Bau eines oder mehrerer fester Plätze im
Innern des Landes, die als Depots oder als Operationsbasen für die aktive
Armee dienen können. Im übrigen kann man sich aber bei dieser Art der
Organisation der Landesverteidigung darauf beschränken, nur noch an einigen
militärisch oder politisch wichtigen Plätzen fortifikatorische Werke anzulegen.
Ganz besonders gut paßt nun das System zentraler Verteidigung für die
topographische Gestaltung Schwedens. Es wurde auch von der schon erwähnten
Kommission in Vorschlag gebracht, und von ihr wurde zunächst der Punkt be¬
zeichnet, wo später die Festung Carlsborg augelegt wurde, die sich als Zentral-
waffenplatz so gut bewährt hat. Die Kommission empfahl weiter noch, die
Kriegshafen und einige Küstenverteidigungsplätze zu befestigen, um dadurch eine
Anzahl gut geeigneter Flottenstützpunkte zu haben und zugleich in der Lage zu
sein, die hinter diesen Operationsbasen gelegnen Handelsstädte gegen die Be¬
schießung einer feindlichen Flotte zu schützen. Endlich schlug die Kommission
auch noch vor, Christiansstad als Depotplatz und als Basis für eine im süd¬
lichen Schweden operierende Armee beizubehalten.
Diese Vorschläge fanden die Zustimmung des Königs, und es konnte darum
alsbald mit der Ausführung der fraglichen Arbeiten begonnen werden.
Dreiviertel Jahrhunderte sind seitdem verflossen, aber trotzdem in diesem
Zeitraum eine ganze Anzahl neu befestigter Plätze in Schweden entstanden ist,
und vorhandne Festungen wesentlich an militärischen! Werte gewonnen haben,
sind doch die verschiednen Kommissionen, die im Laufe der Zeit berufen wurden,
um sich über den Stand der Landesverteidigung zu äußern, derselben Ansicht
geblieben wie die Kommission vom Jahre 1819 und haben deren Vorschläge
durchaus gebilligt. Zu denselben Resultaten ist auch die letzte im Jahre 1897
ernannte Kommission gelangt, die in ihrem Bericht vom 25. Juli 1898 forti¬
fikatorische Anlagen an nachstehenden Punkten empfahl:
a) in Carlsborg als Hauptdepot und Zentralstützpunkt, b) in Carlskrona
und Stockholm (Kriegshüfen), v) in Göteborg und Farösund (Flottenzusluchts-
statten), 6) in Boden (Depot und Operationsbasis gegen die am meisten exponierte
Front), 6) in Tinksstäde auf der Insel Gotland (Reduit).
(Die Befestigungen von Stockholm und Göteborg sollten so angelegt
werden, daß sie auch das Stadtinnere gegen eine Beschießung einer feindlichen
Flotte schützen könnten.)
Wie schon bemerkt worden ist, hat auch heute uoch das System zentraler
Landesverteidigung seinen vollen Wert. Nur die Front Schwedens, die zu
schützen ist, hat sich geändert, denn nicht der Süden, sondern der Nordosten ist
einem feindlichen Angriff am ehesten ausgesetzt. Auch hat die Lage der Insel
Gotland einige Sondermaßregeln notwendig gemacht.
Die zuletzt genannte Kommission vom Jahre 1897 setzte sich aus Offi¬
zieren der Landarmee und der Flotte sowie aus Mitgliedern der beiden
Kammern zusammen. Die Vorschläge dieser Herren sowie auch die Ansichten
einiger andrer zu den Beratungen noch hinzugezogner Militärautoritäten
bildeten nun die Grundlage zu der neuen Landesvcrteidigungsorganisation
für Schweden, die im Jahre 1899 durch den Kriegs- und Marineminister
der Kammer zur Begutachtung vorgelegt wurde. Die Kosten für die Aus¬
führung dieser Pläne, die sich auf zehn Jahre verteilen sollten, wurden auf
24 Millionen Kronen berechnet und sollten in folgender Weise aus die einzelnen
Plätze verteilt werden:
Diese Kredite wurden auch von der Kammer bewilligt und von ihnen vom
Jahre 1899 bis zum Vorjahre die Summe von je 3 Millionen Kronen zur
Zahlung angewiesen.
Dänemark besaß früher mehrere Festungen, von denen die Landes¬
hauptstadt und die im Herzogtum Holstein gelegne Stadt Rendsburg die
größten waren. Dazu kamen noch eine ganze Menge Batterien und befestigter
Werke von mehr oder weniger Bedeutung, die längs der Küste angelegt und
während des preußisch-dänischen Krieges im Jahre 1848 noch vorhanden
waren. Von alledem sind heute nur noch die Befestigungen von Kopenhagen
vorhanden.
Nach der Meeresseite zu umfassen diese Werke eine doppelte Fortlinie
und mehrere Batterien; außerdem gehören zur Verteidigung noch eine Anzahl
Weitauseinanderliegender unterseeischer Minen.
Die innere Verteidigungslinie umfaßt:
g.) Das im Jahre 1881 erbaute Fort Kalkbrvuderi mit einer Bestückung
von 32,5-Zentimeter-Geschützen und einigen Schnellfeuerkanonen.
d) Das Fort Trekroner, das gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts
erbaut, seitdem aber mehrmals modernisiert und neu bestückt worden ist. Die
Armierung bilden einige 29-Zentimeter-, 24-Zentimeter- und 17-Zentimeter-
Geschütze sowie einige Schnellfeuerkanonen.
o) Die Batterie Lunetten, die mit 29-Zentimeter-Mörsern und einigen
Schnellfeuergeschützen armiert ist.
et) Das im Jahre 1863 erbaute Mellernfort, das mit 35,5-Zentimeter-
und 24-Zentimeter-Geschützen und einigen Schnellfeuerkanonen ausgerüstet ist.
o) Das Fort Provesten, das im Jahre 1863 erbaut worden und mit
29-Zentimeter- und 17-Zentimeter-Geschützen sowie mit einigen Schnellfeuer¬
kanonen armiert ist.
Zur äußern Verteidigungslinie gehören:
g.) Die Batterie Hoidore, die aus dem Jahre 1892 stammt und mit
17-Zentimeter-Geschützen ausgerüstet ist.
d) Das im Jahre 1897 erbaute Fort Charlottenlund. das mit 35,5-Zenti-
meter- und 15-Zentimeter-Geschützen und einigen Schnellfeuerkanonen aus¬
gerüstet ist.
<z) Das in den Jahren 1890 bis 1894 erbaute Fort Middelgrund, dessen
Armierung sich aus einer sehr großen Zahl von 30,5-Zentimeter- und 17-Zenti¬
meter-Geschützen sowie von Schnellfeucrkanonen zusammensetzt.
6) Das im Jahre 1397 erbaute Fort Kastrup, das mit 30,5-Zentimetcr-
und 15-Zentimeter-Geschützen sowie mit Schnellfcnerkanonen armiert ist.
Die Forts und Batterien sind teils in Erde, teils in Belon ausgeführt
und sind außerdem meist mit mehreren elektrischen Scheinwerfern versehen.
Wenn man sich die Gestaltung der deutschen Ostseeküsten ansieht,
so muß man zu dem Schlüsse kommen, daß ein Angriff auf sie von der See¬
seite her wenig Aussicht auf Erfolg haben wird, ganz abgesehen von der
starken Flotte, die sich Deutschland innerhalb der letzten Jahre herangezogen
hat, und die erst geschlagen sein müßte, bevor man die Küsten ernsthaft an¬
greifen könnte.
Was nun im besondern einen direkten Angriff der Küste durch eine
Flotte anlangt, so würde dieser ein wenn nicht unmögliches, so doch außer¬
ordentlich schwieriges Unternehmen sein, weil, mit Ausnahme des Kieler
Kriegshafens, der durch fortifikatorische Anlagen sehr gut geschützt ist, alle
Küstenplatze, die für einen Angriff überhaupt in Betracht kommen können,
nicht unmittelbar am Meeresufer liegen. Vielmehr liegen diese Plätze an Flüssen
und Jnnenmeeren, deren Schiffahrtsverhältnissc allein einem Angreifer große
Schwierigkeiten bieten, ganz abgesehen davon, daß die Mündungen überall durch
befestigte Werke gesperrt sind.
Auch für Landungsversuche sind die Küsten, die eine Ausdehnung von
rund 950 Kilometern haben, im allgemeinen nicht sehr geeignet. So ist zum
Beispiel von der russischen Grenze bis zur Odermündung mir ein einziger,
für eine große Transportflotte benutzbarer Ankerplatz vorhanden, nämlich das
hinter der Landzunge von Hela gelegne Putziger Wiek. Freilich finden sich
ja im westlichen Teile der Ostsee mehrere Stellen, die anscheinend Truppen¬
landungen begünstigen, wie zum Beispiel die Insel Rügen, die man in frühern
Zeiten oft für solche Unternehmungen benutzt hat, ferner die Bucht bei Wismar
und die Neustädter Bucht, sowie mehrere Einbuchtungen in der Provinz
Schleswig. Aber an allen diesen Plätzen, das Putziger Wiek inbegriffen,
wird sich ein Landungskorps nur unter wenig günstigen Verhältnissen ent¬
wickeln können, und zwar erstens, weil jeder nur einigermaßen wichtige
Küstenort mehr oder weniger befestigt ist, und weil andrerseits die Wegever¬
bindungen und der Nachrichtendienst so eingerichtet sind, daß sich die für den
Küstenschutz bestimmten Truppen schnellstens an den vom Feinde bedrohten
Punkten versammeln können. Zur leichtern Verbreitung von Meldungen und
Nachrichten sind die hierzu dienenden längs der Küste zahlreich aufgestellten
Semaphoren in drei Abschnitte eingeteilt, an deren Spitze je ein inaktiver
Seeoffizier steht. Weitere Angaben verbieten sich aus Rücksichten der Landes¬
verteidigung.
Die Anstrengungen Rußlands, ans Meer zu gelangen, haben der
Politik der Zaren jahrhundertelang ihren charakteristischen Stempel aufgedrückt.
Auf Grund dieser Tatsache erscheint es auch von einigem Interesse, den Weg
der Entwicklung zu verfolgen, den das russische Hafensystem gegangen ist,
wobei jedoch in den nachfolgenden Auslassungen nur die Häfen im Norden
des europäischen Rußlands zur Sprache kommen können, da diese allein in
den Nahmen dieses Aufsatzes hineingehören.
Lange Jahre stieß Rußland nur im Norden an das Meer, an das
sogenannte Arktische Meer, und der geringe Handelsverkehr, der damals diese
mangelhafte Straße einschlagen mußte, konzentrierte sich im wesentlichen auf
das Weiße Meer, das jedoch nur während der Monate Juni bis Oktober
eisfrei ist. Im Jahre 1553 errichteten nun englische Kaufleute eine Handels¬
filiale an der Stelle, wo dreißig Jahre später, im Jahre 1584, die Stadt
Archangelsk gegründet wurde. Diese Stadt, die in den nächsten hundertund¬
zwanzig Jahren der einzige Kriegshafen Rußlands war, wurde alsbald be¬
festigt, und ebenso wurden hier die ersten Kriegsschiffe gebaut, über die die
russische Marine damals verfügte.
Als aber zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts der Zar Peter der
Große die schwedischen Provinzen Ingermanland und Estland in Besitz nahm,
begann er fast zugleich (im Jahre 1703) mit dem Bau von Se. Petersburg
und mit den Befestigungen von Kronstäbe, die die Landeshauptstadt schützen
und eine Operationsbasis für eine russische Ostseeflotte bilden sollten. Später
wurden ebenfalls auf Befehl des Zaren neue Häfen in Reval und Baltischport
begonnen, aber keine dieser Anlagen wurde während seiner Regierungszeit
vollendet, und nach seinem Tode wurden die Arbeiten lange Zeit unterbrochen.
Schon im Jahre 1720 war Archangelsk als Kriegshafen aufgegeben worden,
und das Wenige, was man in Baltischport geschaffen hatte, wurde im
Jahre 1790 von den Schweden zerstört. In Reval wurden die Arbeiten im
Jahre 1803 wieder aufgenommen, und in den folgenden Jahren wurde der
Hafen vergrößert und fortifikatorisch verstärkt! dasselbe geschah zu derselben
Zeit mit dem Hafen von Helsingfors in Finnland, der, im Schutze der Festung
Sweaborg gelegen, im Jahre 1810 aus schwedischen Besitz an Rußland
überging.
Auf diese Weise besaß also Rußland damals im Finnischen Meerbusen
die drei Kriegshafen Kronstäbe, Reval und Sweaborg. Aber der militärische
Wert dieser drei Häfen war sehr gering, und um diesem Mangel abzuhelfen,
befahl Kaiser Nikolaus der Erste im Jahre 1829 die Befestigung der Reede
von Lumpar auf den Alandinseln an der Enge des Bomarsundes. Die hier
begonnenen Arbeiten schritten jedoch so langsam vorwärts, daß sie bei Aus¬
bruch des Krimkrieges nur halb vollendet waren. Und das, was fertig war,
wurde durch den gemeinsamen Angriff der Verbündeten zu Wasser und zu
Lande im August 1854 zerstört.
Schon als sich im Jahre 1852 die Beziehungen zwischen England und
Frankreich mehr und mehr zugespitzt hatten, war in Nußland eine Militär¬
kommission ernannt worden, die ihre Ansicht über die Verteidigung der Ost¬
seeküsten zu Papier bringen sollte. Auf den Vorschlag dieser Kommission
wurden alsdann die Befestigungen von Kronstäbe, Reval und Düuamünde
(Riga) durch mehrere permanente Werke verstärkt, während zugleich provisorische
Befestigungsanlagen in Abo, Kymen, Wiborg, Frederikshavn, Narva und an
mehreren andern Orten angelegt wurden. Die damals für offensive Maßnahmen
noch viel zu schwache Flotte sollte nur die Verteidigung von Kronstäbe, Swea¬
borg und Dünamünde unterstützen.
Als aber im Jahre 1854 die Verbündeten eine Flotte von sechzig Kriegs¬
schiffen nach der Ostsee entsandten, wurden die aufgezählten Verteidigungs¬
maßnahmen für nicht ausreichend zum Schutze der weitausgedehnter Küsten
befunden. Da aber augenblicklich nichts andres geschehen konnte, beließ
Nußland, obgleich doch die Krim der Hauptkriegsschauplatz war, und hier
die Entscheidung des ganzen Feldzuges zu erwarten stand, während des ganzen
Krieges eine Armee von 300000 Mann mit 400 Kanonen in den Ostsee¬
provinzen.
In den Jahren 1854 bis 1855 unternahm die Flotte der Verbündeten
wiederholt Rekognoszierungen gegen Kronstäbe. Aber während hier die Be¬
festigungen als stark genug erkannt wurden und ausreichend Widerstand
leisteten, wurden die Werke ans den Alandinseln, wie wir oben schon kurz
erwähnt haben, im Jahre 1854 zerstört. Das Jahr darauf wurde ein An¬
griff auf Sweaborg unternommen und dieser Hafen vom 8. bis 11. August
bombardiert. Zwar richtete die Beschießung an den Befestigungen ziemlich
bedeutenden Schaden an, doch hatten diese Beschädigungen nicht den Fall des
Platzes zur Folge.
Der Krimkrieg hatte aber Rußland hinreichend die Augen geöffnet über
die Mängel seiner Befestigungsanlagen an den Küsten der Ostsee. Bald nach
Friedensschluß wurde darum eine Kommission zur Beratung aller einschlägigen
Fragen berufen und ihr auch aufgetragen, sich über die günstigste Anlage eines
Hauptkriegshafens gutachtlich zu äußern.
Die Folge der angestellten Untersuchung war der Vorschlag, eine neue
weiter nach vorwärts gelegne und eisfreie Operationsbasis für die Flotte in
Valtischport anzulegen. Der Kriegshafen Reval sollte dann aufgegeben werden,
während Kronstäbe stärker befestigt und Sweaborg als Zufluchtshafen für die
Kanonenbootsslottillen beibehalten werden sollte.
Trotz des außerordentlich klaren Berichts, den die Kommission einreichte,
und der im Jahre 1856 die Zustimmung des Zaren fand, geschah in Baltisch¬
port nichts. Vielfach wurde als Grund für dieses unerklärliche Zögern der
Regierung angegeben, daß die Kosten, die für die Ausführung dieser Arbeiten
notwendig wären, zu hoch seien, vielleicht aber fürchtete man auch. Anlagen
von solcher Ausdehnung zu einer Zeit anzuordnen, wo man über die Ent¬
wicklung der Kriegsflotten andrer Mächte wie über wichtige Befestigungs¬
fragen noch vollständig im Dunkeln tappte. Indes verstrich die Zeit, und
das benachbarte Deutschland wuchs zu einer Großmacht heran, während sich
zugleich seine Flotte in der Ostsee entwickelte und die Häfen in Kiel und in
Danzig entstanden. Unter solchen Umstünden rührte man sich auch in Ru߬
land; es wurden die Häfen Kronstäbe, Sweaborg und Dünamünde allmählich
stärker befestigt, und es lag weiter die Absicht vor, die in Baltischport vor¬
geschoben gelegne Operationsbasis durch Liban, das sich zu einem großen
Ausfuhrhafen entwickelt hatte, oder durch Windau zu ersetzen. Der Ausbruch
des Krieges mit der Türkei unterbrach jedoch für lange Zeit die Ausführung
der zuletzt genannten Projekte. Erst lange nach Beendigung dieses Krieges
und als sich unter der Regierung Kaiser Alexanders des Dritten die russischen
Finanzen wesentlich gebessert hatten, wurde die Frage der Küstenbefestigungen
wieder aufgenommen und von neuem geprüft.
Zu dieser Zeit war es auch, als Deutschland mit dem Bau des Kaiser-
Wilhelm-Kanals seine Seekräfte teilte, worin Rußland eine Verminderung der
ihr von dieser Seite drohenden Gefahr zu erkennen glaubte. Dagegen wuchsen
die Besorgnisse Rußlands nach andrer Richtung, indem im Winter 1885 be¬
fürchtet wurde, eine englische Flotte werde infolge der mit England wegen
Afghanistan entstandnen Differenzen in der Ostsee erscheinen, gegen die die
russische Flotte, durch die Eisverhältnisse in Kronstäbe festgehalten, nicht aktions¬
bereit sei.
Im Jahre 1890 wurde deshalb der Entschluß gefaßt, Liban zu einem
großen Kriegshafen auszubauen, und schon im Juni desselben Jahres begann
man mit den hierzu notwendigen Arbeiten. Diese sind erst im Jahre 1906
zum Abschluß gelangt, sodaß die Pressenachrichten wenig Glauben verdienen,
die russische Negierung beabsichtige Libau als Kriegshafen aufzugeben.
In den letzten Jahren ist viel die Rede davon gewesen, anch aus Winden
einen Kriegshafen zu machen, sobald Libau ganz fertig sein werde.
Noch an einem andern Punkt seines weiten Besitztums hat sich Ru߬
land vor nicht langer Zeit einen neuen Hafen zu verschaffen gewußt, und
zwar im Norden in Alexandrowsk an der Katharinenbucht, nahe bei der
norwegischen Grenze. Da dieser Hafen, der Nähe des Golfstromes wegen,
das ganze Jahr über eisfrei ist, und da zudem die Verbindung von hier aus
nach dem Innern Rußlands durch den Bau der Bahn Wologda-Archangelsk
mit der Zeit außerordentlich verbessert worden ist, so kann hier nach und
nach für den Norden des russischen Reichs ein Handelsplatz von großer Be¬
deutung entstehn. Der Hafen wurde 15. Juni 1899 eingeweiht und soll dem¬
nächst auch noch befestigt werden.
Im August desselben Jahres (1890) besetzte Rußland auch die ein wenig
weiter nördlich gelegne Insel Bjorneo (Bäreninsel), um zu verhindern, daß sich
hier irgendeine andre Macht festsetzte, und dann Alexandrowsk.
Es ist, bevor das Ostseeabkommen veröffentlicht wurde, und auch noch
hinterher vielfach die Rede davon gewesen, daß Rußland die Aufhebung der
Klausel des Pariser Vertrages anstrebe und danach eine Nenbefestigung der
Alandinseln in Erwägung ziehn werde. Augenscheinlich sind das aber uur
Vermutungen gewesen, wenigstens hat der russische Minister des Auswärtigen,
Jswolski, in der Duma erklärt, daß sich Rußland nicht mit derartigen
Plänen trüge.
ileich nach dem siegreichen Kriege von 1870/71, als die Speku¬
lation und das Gründungsfieber, auf die französischen Milliarden
pochend, ihre Orgien feierten, verlegten Unternehmer, die einen
mühelosem Gewinn wohl zu schätzen wußten,' das Feld ihrer
! Tätigkeit auf das platte Land. In gut bevölkerten, wohlhabenden
Gegenden kauften sie Landstellen auf, teils gegen bar, teils auf Vorkaufsrecht,
und parzellierten diese. An geistigen Getränken wurde auf den in den Abend¬
stunden im Wirtshause abgehaltnen Verkaufsterminen nicht gespart, und wenn
die Köpfe dann recht erhitzt waren, wenn die „rechte Stimmung" aufgekommen,
wenn ein jeder der Käufer bei der Ehre seines Geldbeutels gepackt war, wenn-M
Mi
M
keiner sich überbieten lassen wollte, dann erfolgte Gebot auf Gebot, und die
Parzellanten hielten eine reiche Ernte. Denn die einfache Unterschrift des
Käufers galt auch ohne notarielle Beglaubigung damals noch vor Gericht, und
oftmals soll es vorgekommen sein, daß der Ersteher von Grundstücken, wenn
er am andern Morgen mit schwerem Kopf erwachte, erst Umfrage halten
mußte, um zu erfahren, um wie viele und welche Morgen, und um welchen
Preis er seinen Besitz vergrößert habe.
Aber diese Art, Geschäfte zu machen, hielt nicht lange an. Käufer und
Verkäufer wurden mißtrauisch, und da die Parzellanten bald mit Resten, auch
mit ganzen Objekten „sitzen" blieben, so schlief das Parzellierungsgeschüft nach
kurzer Dauer ebenso schnell wieder ein, wie es entstanden war.
Viele, viele Jahre vergingen, ohne daß man von neuen Parzellierungen
auf dem platten Lande hörte; erst die Maßnahmen der Negierung zur Sicher¬
stellung des Deutschtums in den Ostmarken brachte den ältern Leuten die
Parzellierungszeit der siebziger Jahre wieder in die Erinnerung. Und als
dann die Gründung neuer Rentengüter von der Regierung, nachdem sie vor
einem Vierteljahrhundert die Ablösung der Erbpacht, des Kanons, in Schleswig-
Holstein angeordnet hatte, auch hier in die Wege geleitet worden war, begann
sich auch die Spekulation wieder auf die hohen und mühelosem Gewinne zu
besinnen, die einst die Parzellierung der Landgüter eingetragen hatte. Und
ein besonders geeignetes Gebiet für solche Unternehmungen schien ihr der an
und zwischen den Bahnlinien Altona-Kiel und Altona-Kaltenkirchen liegende
Landstrich von Hamburg-Altona bis Wrist zu sein, dessen Bewohner sich infolge
ihres Fleißes und des günstigen Absatzgebiets, das die nahen Großstädte bieten,
einer reellen Wohlhabenheit erfreuen.
Gegen Ende des verflossenen Jahrhunderts traten die ersten Parzellierungs¬
versuche hervor, und da sie, trotz der erschwerenden Bestimmungen des Bürger¬
lichen Gesetzbuchs, von großen Erfolgen begleitet waren, mehrte sich die Zahl
der Parzellanten schnell, und überall in den Dörfern hörte man bald von
neuen Parzellierungen. Und da das Geschüft weiter gut ging, und da enorme
Summen bei der Zerschlagung der Landgüter verdient wurden, ist es schon
so weit gekommen, daß die Parzellierungswut, um nicht zu sagen Parzellierungs-
senche, keine Grenzen mehr zu kennen scheint. Ganz Unbeteiligte suchen nach
Objekten, die sich vielleicht für die Parzellierung eignen möchten, und bieten
sie den Parzellanten an, um sich einen leichten Verdienst durch die Provision
des Verkäufers zu sichern. Und da die Parzellanten fast immer gute, meisten¬
teils ganz außergewöhnlich gute Geschäfte machen — 30 bis 40 Prozent des
Anlagekapitals sollen vorkommen und in wenigen Wochen verdient sein —, so
wird denn immer weiter lustig darauf losparzelliert. Drei, vier, fünf An¬
zeigen bevorstehender Parzellierungen findet man zuweilen in derselben Aus¬
gabe des Lokalblattes, und es kommt vor, daß zuweilen mehrere verschiedne
Landstellen an aufeinanderfolgend er Tagen in derselben oder in angrenzenden
Gemeinden parzelliert werden, und — von seltnen Fällen abgesehen — fast
immer mit dem größten Erfolg. Mag das Landareal des eignen Hofes auch
noch so groß sein, auf den Parzellierungsterminen kaufen die meisten Besitzer
doch noch Land dazu, teils um sich zu arrondieren, teils aus Landhunger.
Und bequem wird ihnen der Ankauf auch gemacht. Nur ein Teil der Kauf¬
summe, etwa ein Viertel, braucht ausbezahlt zu werden, der Nest wird ihnen
von den Parzellanten, die gewöhnlich Geldgeber hinter sich haben, langfristig
gestundet.
Die Parzelliernngstermine haben sich schon zu einer Art Volksfest heraus¬
gebildet, das jedermann aus der Umgegend besuchen muß, und da wird denn
auch lustig darauflos geboten. Und wird hier und da einmal die Ansicht
laut, daß die Preise viel zu hoch hinaufgetrieben würden, daß sich das in
den neuerworbnen Landstücken angelegte Kapital unmöglich verzinsen könne,
dann heißt es gewöhnlich: „Wir haben unsre Landstellen billig von unsern
Eltern bekommen; wenn wir bei dem Zulauf nun auch viel zu hohe Preise
zahlen, so macht das nichts aus; die Stelle als solche wird dadurch nicht zu
hoch belastet und kann es tragen." Und dann wird darauflos geboten, und
die Parzellanten erlangen Preise, die im gewöhnlichen Verkehr nicht zu er¬
reichen sind. Unter diesen Umständen ist es schon dahin gekommen, daß für
den Morgen das Doppelte und mehr des Preises bezahlt wird, der vor fünf
Jahren noch als sehr hoch galt.
Wird nun durch solchen Zulauf um hohen Preis die Gesamtlandstelle
auch nicht zu übermäßig belastet — falls sie wenig mit Hypotheken beschwert
ist —, so kommt hier doch ein andrer Punkt in Betracht, der nicht unbeachtet
bleiben darf.
Ihre alten Landstellen bewirtschaften die Besitzer meistenteils mit ihren
eignen Kindern, höchstens mit noch einem gemieteten Knecht, Mädchen oder
Jungen. Und für das Gespann ist gerade genügend Beschäftigung vorhanden.
Durch den Zulauf tritt nun häufig der Fall ein, daß noch weitere Arbeits¬
kräfte eingestellt werden müssen, deren Kraft nicht voll ausgenutzt werden
kann, weil dafür das vergrößerte Areal wieder nicht groß genug ist. Der
Knecht bekommt aber schon 400 Mark und mehr an Lohn, und Mädchen für
Landarbeit sind oft nicht einmal für teures Geld zu haben, da die jungen
Leute gleich nach der Konfirmation in die nahe Großstadt streben. Es ist
dieses ein Punkt, der nicht übersehen werden sollte.
Und ein weiterer Übelstand von besonders tiefeingreifender Bedeutung ist:
bisher erbte ein Sohn die Landstelle, die übrigen Söhne und Töchter
heirateten in andre Landfamilien oder führten der Stadt frisches Blut zu,
während auch manche Söhne die Militärlaufbahn ergriffen. Der Mittelpunkt
aber, der die Familie zusammenhielt, die Wurzel der Kraft des alten ehren¬
fester Bauernstammes war und blieb der Erbhof. Dieses wird nun ganz
anders, denn durch das Parzellieren wird der Grundbesitz mobilisiert, wird
zum Spekulationsobjekt. Mancher Bauer, dessen Vorfahren seit undenklicher
Zeit fest auf der Scholle gesessen, und der nie daran gedacht haben würde,
das Erbe seiner Väter zu veräußern, läßt sich durch das hohe Angebot der
Parzellanten zum Verkauf bewegen, um sich dann zur Ruhe zu setzen, oder
läßt sich dazu verleiten, selber Landgeschäfte zu machen, um an dem hohen
Gewinn, den der Güterhandel augenblicklich bringt, teilzunehmen. Seine
Kinder werden dann, da der alte Besitz, an dem sie hingen, veräußert worden
ist, landflüchtig.
Und nun die andre Seite. Stirbt der Eigentümer eines um teuern
Preis vergrößerten Besitzes, der ohne diesen Zulauf eine Kapitalabfindung
für die übrigen Kinder hinterlassen haben würde, dann wird es, falls inzwischen
wieder „schlechtere" Zeiten eingetreten sein sollten, dem Erben kaum oder nur
unter schwerer Belastung des Erbes möglich sein, die Geschwister abzufinden.
Unter schwerer Schuldenlast seufzend, fehlt ihm das in der Landwirtschaft
heutigentags mehr als je zuvor so nötige Betriebskapital. Acker, Wiesen und
Viehstapel bekommen nicht ihr Recht; es wird eine „Kröpelwirtschaft", wie
der landläufige Ausdruck lautet, und einige schlechte Jahre genügen dann, den
Besitzer von seinem Grundstück zu treiben und aus dem selbständigen Bauern
einen Proletarier zu machen. So rächen sich dann die Sünden der Väter an
den Kindern.
Und eine weitere Erscheinung dieser Spekulationsparzellierungen ist, daß
dadurch nur sehr wenig Stellen für freie Arbeiter entstehn. Die größern Be¬
sitzer kaufen fast immer das zur Verteilung kommende Areal vollständig auf.
So in einer Gemeinde fast den dritten Teil des Gesamtgemeindeareals, das
dort zur Aufteilung gekommen ist. Und das in einer Gemeinde nicht allzu
entfernt von und mit guten Verbindungen nach Hamburg-Altona, wo Dienst¬
boten und freie Arbeitskräfte oft nicht zu haben sind, wo auf den Gütern der
Umgegend schon mit Landfremden gewirtschaftet wird. Auf den Parzellierungs¬
terminen werden die Landstücke eben zu sehr in die Höhe getrieben und für
den „kleinen Mann" zu teuer, sodaß er nicht daran denken kann, sich eine
eigne Heimat zu gründen. Auch ist es für den Parzellanten ja weit bequemer
und vorteilhafter, große Landstücke zu verkaufen als kleine. Die weitern
Folgen ergeben sich hieraus von selber.
In Bayern scheint man ähnliche Erfahrungen zu machen. Die Frank¬
furter Zeitung berichtet darüber folgendermaßen: Der bayrische Minister
des Innern hat an den bayrischen Landwirtschaftsrat einen Erlaß ge¬
richtet, worin es heißt, es bestehe Grund zur Annahme, daß bäuerliche
Landwirte vielfach Grundstücke, insbesondre bei Güterzertrümmerungen und
Übernahme von Anwesen, zu unverhältnismäßig hohen Preisen erwerben,
wodurch die Rentabilität der Anwesen wesentlich beeinträchtigt und sehr oft
eine unverhältnismäßig hohe Verschuldung herbeigeführt werde. Der Land¬
wirtschaftsrat soll erwägen, ob nicht, wenigstens zunächst, durch Belehrung der
bäuerlichen Bevölkerung geholfen werden könne. Das Ministerium des Innern
stellt Maßnahmen zur Eindämmung gewerbsmäßiger Gütcrzertrümmernug in
Aussicht und erwägt, ob nicht durch Ausgestaltung des bäuerlichen Erbrechts
auf eine wirtschaftlichere Gestaltung der Übernahmepreise hinzuwirken wäre.
> erliu, Lützowstraße 3ö, den 24. Januar 1887. Geheimrat Lothar
> Bucher an Frau von Kusserow:
Sie wollen wissen, wie ich auf das Pseudonym Bogislaw*) ge¬
kommen bin. Als ich noch für die „Nationalzeitung" schrieb, pflegte
ich nach englischer Sitte zum heiligen Abend eine Weihnachtsgcschichte, vbristwa.8
Larol, zu liefern. Die eine, 1861 oder 62 geschrieben, gab ein Stück Selbst¬
biographie, in der ich mich Bogislaw nannte in Erinnerung an meine pommersche
Heimat, deren Herzoge diesen Namen durch viele Generationen getragen hatten.
Ich habe mir geschworen, das einzige noch vorhandene Exemplar nicht ans den
Händen zu geben, weil eine andere solche Erzählung mir einmal entliehen und
nicht zurückgegeben worden ist. Aber wenn Sie dies Stück Dichtung und Wahrheit
lesen wollen, so bringe ich es einmal nach Hamburg.
Da Sie bei Autographen nicht mir auf die Schriftzüge, sondern auch auf den
Inhalt sehen, so wird Ihnen auch der anliegende Brief von Eckardt**) willkommen
sein. Die Aussicht, auf der Ebene von Karthago — Puttkamer schreibt vielleicht
Kartago — zu botanisieren, hat etwas sehr verlockendes. Wollen Sie nicht mit
Charlottcheu dahin gehen? Ich komme mit.
Für Ihre häuslichen Sorgen habe ich das vollste Mitgefühl; ich weiß aus
eigener Erfahrung, welchen Verdruß einem schlechte Dienstboten machen können.
Während des kalten Wetters ging es mir gut, so gut, daß ich mich einmal
als Eisonkel von Grete Begas auf den neuen See begab; seit dem Tauwetter habe
ich einiges Zwacken.
Den „Kladderadatsch" schicke ich weil er antifreisiunig geworden ist. Herzliche
Bucher.
Berlin, Lützowstraße 39, den 21. Februar 1887. Geheimrat Lothar Bucher
an Frau von Kusserow:
Da Ihnen mein Vorschlag, nach Tunis zu gehen, uicht gefallen hat, so habe
ich mich nach einer anderen Zuflucht umgesehen vor den Hexenschüssen und dem
Reißen in der Hand, womit ich seit Wochen geplagt bin. Der Entschluß, auf eine
Zeitlang auszuwandern, ist mir nicht leicht geworden. Ich muß eine Arbeit uuter-
brechen, die sich nur hier machen läßt und habe auf die verheißenen Ostertage in
Hamburg zu verzichten. Auch sträubt sich etwas dagegen, der schweren Krisis
gleichsam aus dem Wege zu gehen; indessen ich kann ja nichts ändern und nichts
helfen. Auch die Wahl des Ortes hat mir Kopfbrechen gemacht. Von der Riviera
habe ich die Nachricht, daß rauhe Winde wehen; in Rom friert man notorisch mehr
als in Berlin; in Neapel ist der Mnrz ein Negenmonat; an den italienischen Seen
ist es um diese Jahreszeit immer kalt; in Venedig feucht. Ein alter Freund aus
Ungarn — Sie haben ein Autograph von ihm — der Italien genau kennt, be¬
suchte mich vor einige» Tagen und bezeichnete Pisa als den einzigen Winter-
aufenthalt in Italien. Ich war aber doch so vorsichtig, ein klimatologisches Werk
nachzusehen und fand, daß die Temperatur allerdings hoch und konstant, daß aber
jeder dritte Tag ein voller Regentag ist; also auch nichts für einen Rheumatiker.
So bin ich denu auf versus zurückgekommen, wo ich deu letzten ungewöhnlich
strengen Winter ohne jede Beschwerde verlebt habe und werde mein Ränzel zum
1. März fertig machen. Hoffentlich kann ich Ihnen bald etwas aus meiner
Botanisiertrommel schicken. Wahrscheinlich gehe ich wieder in das Hotel Roy, weil
dort keine Deutschen, abgesehen von der Familie Hakin, die immer schon im Januar
wieder abzieht, zu Verkehren pflegen. Am angenehmsten ist es natürlich, deutsche
Freunde zu Hausgenossen zu haben; aber die deutschen Fremden finde ich weniger
bequem als die Ausländer. Vielleicht finde ich auch die Engländer vom vorigen
Jahre noch.
Clarens, Hotel Roy, den 17. April 1837. Geheimrcit Lothar Bücher an
Frau von Kusserow:
Ich habe mir ja gesagt, daß man in Clarens häufiger nach Hamburg denkt
als umgekehrt; bin ich doch in der Fremde und dazu umgeben von Gegenständen,
auf denen in meiner Erinnerung geschrieben steht Kußerow z. B. auf dem für einen
retsenden Hagestolz unschätzbaren Nähzeug. Aber nachgerade war ich doch besorgt
geworden, fürchtete Krankheiten oder andere Tribnlationen und hatte mir vor¬
genommen, auf dem nächsten Gange in die Berge Stiefmütterchen für Slina zu
suchen, um auf diese Weise vielleicht eine Nachricht aus Hamburg heraus zu locken.
Ihr lieber Brief vom 13. hat nun meine Besorgnis nur zu sehr bestätigt. Welche
schwere Zeit Sie gehabt haben mögen! und wie sehr Ihnen etwas von dem Leben
not thun würde, das ich hier führe, einem Leben, in welchem man sich nach dem
umzusehen hat, was einen beschäftigt, interessiert, amüsiert, meinetwegen ärgert.
Freilich könnte ich Ihnen nicht raten, hier Erholung zu suchen; das Klima, um
dessen willen man doch hierher kommt, ist diesmal so nichtswürdig, wie man sich's
nur denken kann. Erst acht Tage Nebel; dann ein einziger klarer und warmer
Tag; denn acht Tage Schnee; dann wieder ein warmer Tag, der mit einem furcht¬
baren Gewitter endete und acht Tage Regen uach sich zog; dann Stürme, die sogar
in diesen geschützte» Winkel drangen, so daß das Schiff nicht anlegen konnte und
mehrere Passagiere seekrank wurden; dann wieder Regen. Heute könnte man zu¬
frieden sein, wenn man sich vorstellte, daß wir den 17. Januar anstatt des 17. April
schrieben; ein schöner Wintertag, das Thermometer auf Centigrade. Auch
in dem Hotel ist es unbehaglich; vorigen Winter waren wir höchstens 20, jetzt
sind wir 60, meistens Flüchtlinge von der Riviera.*) Man fühlt sich wie an Bord
eines großen Dampfers; die Flure sind gefüllt mit enormen Koffern, lacliss' boxss,
ok ooui8ö mit Kinderbadewaunen, Wiegen und weiß Gott welchem Geschirr. In
dem Zimmer nebenan schreit ein bab^, nach dem Dialekt der Wärterin, welche sich
einmal bei mir entschuldigte, ein hanseatisches — also eine Erinnerung mehr an
Hamburg. Unter allen den Menschen aber nichts Umgängliches; ich bin auf eine
englische Familie angewiesen, die ich vom vorigen Jahre her kenne, und einen
Amerikaner. Von langen Märschen in die Berge, die mir vorigen Winter so wohl
thaten, ist bisher wenig die Rede gewesen. Zu botanisieren giebt es auch nichts;
die Blumen kommen aus Italien. Doch habe ich für die Schachtel, die ich heute
absende, einige blaue Gentianen und eine seltene (die behaarte) Anemone erwischt,
die auf deu hiesigen Bergen wachsen. Sie werden in der Sonne aufschließen; die
anderen Blumen bleiben besser im Schatten. Ich möchte die Sendung gern größer
machen, aber wenn die Schachtel so schnell wie ein Brief gehen soll, so darf sie
nicht über ^ Pfund wiegen.
Ich rechne unter den obwaltenden Umständen auf keine Antwort; lesen Sie
meine Briefe wie meine Zeitungsartikel.
8. Ich bleibe bis Mitte Mai.
Berlin, Lützowstrciße 39, den 7. Juni 1887. Geheimrat Lothar Bucher
an Herrn von Kusserow:
Beschäftigt, Bücher, deren ich nicht mehr bedarf, zum Verkauf auszusondern,
stoße ich auf einige, die ich lieber in Ihrer Bibliothek als bei dem Antiquar scheu
möchte (folgt der Name einer Anzahl englischer Bücher). Ich werde sie morgen
absenden und wünschte, sie könnten Ihnen ebensoviel Vergnügen machen wie mir
Wagners Botanik, die ich von Ihnen habe — was aber nicht wahrscheinlich ist.
Über Hamburg bin ich durch Springer so ziemlich im Laufenden erhalten
worden und habe mit Bedauern erfahren, daß Ihre Fran wieder geknetet wird,
hoffentlich mit dem guten Erfolge, den diese Behandlung bei mir gehabt hat, und
daß Sie nach Karlsbad müssen.
Von mir habe ich wenig zu sagen. Meine Rechnung, dieses Jahr zweimal
den Frühling zu genießen, erwies sich als trügerisch; ich bin beidemal darum geprellt
worden. Am Genfer See war das Wetter so schlecht, wie man es sich nur denken
kann. In der Nacht vom 13. zum 14. Mai schneite es in der Nähe von Glion,
wo ich mich zuletzt aufhielt, uicht nur auf den Bergspitzen, sondern tief in die Thäler
hinein, so daß ich in einer Stunde den Schnee erreichen konnte. Hier fand ich
Mitte Mai ähnliches Wetter, und seit einigen Tagen haben wir nicht Frühjahr,
sondern gleich den Sommer. Indessen habe ich mich doch viel im Freien bewegt
und immer wohl befunden. Abends spielte ich mit englischen Bekannten vom vorigen
Jahre Whist und lernte allerlei Feinheiten, dabei konnte ich mir aber auch ernste Bücher
verschaffen und habe einiges geschrieben, was gelegentlich gedruckt werden soll.
Der Fürst,*) den ich einmal gesehen habe, ist seiner Gesichtsschmerzen los,
war guter Laune und geht nächstens nach Friedrichsruh.
Laubdach, den 27. Juli.*) Geheimrat Lothar Bucher an Frau von
Knsserow: »> < . ^-
Von der Erlaubniß, in Bcissenheim einen Besuch abzustatten habe ich noch
keinen Gebrauch gemacht, weil ich doch nicht gern ungelegen kommen möchte; ich
bitte Sie vielmehr mir einen Tag bezeichnen zu wollen. Sonntags, Montags,
Mittwochs, Donnerstags bin ich am Nachmittage Thürfrei, alle übrige Zeit ist mit
mannigfachen Mißhandlungen ausgefüllt, denen ich mich aber willig unterwerfe, weil
ich immer mehr einsehe, daß ich recht gethan habe der Verlockung von Schöneck
zu widerstehen. Es ist doch außer den Händen noch allerlei in Ordnung zu bringen,
ehe ich mich wieder wie sonst auf dem Pilatus und dem Gorner Grat umhertreiben
kaun; der Weg auf den Aichkopf, deu ich vorgestern gemacht habe, war doch noch
recht ungewohnte Arbeit, Aber es geht jeden Tag besser.
Die Gesellschaft besteht wieder zum großen Theil aus Holländern, mit denen
ich mich trotz des Lachsfanges gut vertrage. Eine ist eben von der sonderbaren
Krankheit des Veitstanzes geheilt worden und hat sich sofort in den Strudel von
Baden-Baden gestürzt und tanzt jetzt wahrscheinlich Polka. Eine andere, die voriges
Jahr selbst im Zimmer nicht ohne Unterstützung gehen konnte, macht jetzt Land¬
partien mit und Sportel jeden Tag.
Nun verzeihen Sie diese abscheuliche Schrift, das Product erstens einer ab¬
scheulichen Feder und zweitens der noch abscheulicheren Finger-Massage. Wie immer
Berlin, Lützowstrciße 39, den 23. September 1837. Geheimrat Lothar
Bucher an Frau von Kusserow:
Ich habe erst jetzt erfahren, wie schlecht es Ihnen ergangen ist und mache
mir schwere Vorwürfe über den Ton, in welchem ich Ihnen zuletzt geschrieben habe.
Während der letzten Jahre sind ini Kreise meiner Bekannten mehrere Beinbrüche
vorgekommen und glatt verlaufen. Frau in der Rauchstraße, die Ihnen wahr¬
scheinlich bekannt ist, fiel während der Kanalisirungsarbeiten in einen Graben,
brach das Bein und war nach einigen Wochen wieder ans dem Platze. Die sehr
schwerfällige Schwiegermutter von Reinhold Begas fiel vor meinen Augen beim Über¬
schreiten einer Gosse, brach das Bein und war doch auch bald wieder sichtbar.
Ich rechnete, es würde mit Ihnen ebenso gehen, nahm die Sache nicht von der
bedauerlichen Seite, welche sie ja auch nnter den günstigsten Verhältnissen hat, und
glaubte Sie längst in Bcissenheim, während Sie noch in Bern an das Krankenlager
und sogar an ein Schmerzenslager gebannt sind. Seitdem ich das erfahre« siud
meine Gedanken in herzlichster Theilnahme oft genug bei Ihnen Beiden.
Zu melden weiß ich wenig. Schlözer war hier und setzte mir zu, im Oktober
auf 14 Tage nach Rom zu kommen. Ich werde mich aber schwerlich dazu ent¬
schließen, weil ich am 4. k. M. meinen Umzug zu machen und mich in die neue
Wohnung einzuleben habe, auch in der Bibliothek etwas arbeiten möchte, ehe die
Tage zu kurz werden. Schlözer wird immer jünger und heiterer; Nadowitz aber,
der auch hier war, ist seit dem Typhus zum Erschrecken gealtert. Tonsur, Näherung
der Nase an das Kinn, die Gesichtshaut stramm über die Knochen gespannt, kurz
ein ganz anderes Gesicht, keine Ähnlichkeit mehr mit dem Vater. Leute, die sich
auf Diagnose verstehen wollen, halten ihn für sehr krank.
Die Hcmsemcmnsche Familie findet sich allmählig wieder zusammen. Von
Gustav, dem Wiesbaden besser gethan hat als mir, habe ich eben eine Einladung
zu Sonntag erhalten. Tante Emma ist auch zurück. Frau Einnahm geht aus und
hat schon Neigung zum Kneipen geäußert. Der Frau von Dankelmann bekommt
der Ehestand vortrefflich, sie wird blühend, runder und ihr Haar dunkler — was
mich sehr interessiren würde, wenn ich Mediziner wäre. Das Haar ist entschieden
nicht künstlich gefärbt und hat jetzt doch die Schattierung von Frau Schmidt, welche
Letztere in Schlesien nmherlaviert. Frau Marx hat die Verwegenheit, drei Treppen
hoch zu ziehen.
Ihrem Gatten schicke ich eine Kleinigkeit als Lectüre und als Beweis, daß
ich nicht ganz müßig gehe. Das Manuskript hatte ich schon im Mai an die
Redaktion gesandt; da man mich solange auf den Abdruck warten ließ und so schlecht
korrigiert hat, so werde ich auf das nächste Manuskript auch lange warten lassen.
Berlin, Derfflingcr-Strcißc 22, den 25. Dezember 1887. Geheimrat Lothar
Bucher an Herrn von Kusserow:
Es ist rührend, daß Sie ein Auge für meine kleine Leselampe gehabt, in dem
Geschenkbuch Ihrer guten Frau nachgeschlagen und bei allen Ihren Sorgen, Ge¬
schäften und Besorgungen Sich Zeit genommen haben mich zu bescheren! Die ge¬
wissenhafte Comtoirdame von Heffter weigerte sich, den Namen des Geschenkgebers
zu verraten und gestand endlich nur soviel, daß der Auftrag von Hamburg ge¬
kommen sei. Eine stärkere Lampe mit Blender hatte ich mir selbst zu Weihnachten
schenken wollen, aber den Ankauf noch nicht ausgeführt, weil die Läden in den
vergangenen Tagen so überfüllt waren. Ich hätte schwerlich eine so gute Wahl
getroffen. Ihre Lampe, bei der ich schreibe, wirft ein starkes Licht auf den Tisch,
schützt durch den Blender die Augen und erfüllt zugleich das Zimmer mit freund¬
licher Helle, in welche die tyroler Gestalten der Porzellanglocke anmutend hinein¬
schauen. Herzlichen Dank! Ich brauche nicht zu sagen, wie oft ich gestern Abend
nach Hamburg und an das vorige Jahr gedacht und wie ich die Lücke mit em¬
pfunden habe, auf welcher Ihre und der Ihrigen Blicke sich begegnet haben.*)
Möge das neue Jahr, ich will nicht sagen, glücklich sein, aber Ihren Kummer
mildern!
Berlin, Derfflinger-Straße 22, den 26. Dezember 1888. Geheimrat Lothar
Bucher an Herrn von Kusserow:
Der scharfe Blick der künftigen Hausfrauen hat wohl gefunden, daß mein
Teppich verschossen sei: Ich kann das nicht leugnen und wenn ich auf Damenbesuch
gerechnet hätte, so würde ich längst einen neuen angeschafft haben trotz meiner An¬
hänglichkeit an Sachen, die mir lange gedient haben. Jetzt haben Sie mich auf
so liebenswürdige Weise genötigt, mit der Gewöhnung zu brechen und den alten
Teppich in das Zimmer der Haushälterin zu relegieren, die natürlich sehr glücklich
darüber ist. Ihr gutes Frauchen hat offenbar eine Notiz über Hefter gemacht, aber
unterlassen nachzutragen, daß ich sie einmal gebeten habe, mich nicht so reich mit
Fleisch zu nähren, sondern mir lieber statt der Kiste einen thorner Pfefferkuchen
zu schenken, weis sie auch in den letzten Jahren ihres Hierseins gethan hat. Bitte,
lassen Sie es dabei, falls ich noch eine Weihnacht erlebe und Sie mir wieder eine
Festfreude machen wollen. Mit meinem herzlichen Danke an Sie habe ich noch
einen besondern an meine mütterliche Freundin zu verbinden für das zweckmäßige
Tischchen, in welches sie wohl selbst die Blumen gemalt hat.
Meine Hand ist schlimmer geworden, in der That schlimmer als je. Nach
Schweniugers Vorschrift habe ich des Nachts ein Pflaster zu tragen, am Tage ein
langes und langweiliges Sandbad zu nehmen, Gymnastik zu machen, mir selbst
eine Massage zu verabreichen und außerdem im Freien Bewegung zu machen. Der
Tag verzettelt sich so, daß ich nicht weiß, wo er bleibt.
Ich habe mich herzlich gefreut, daß die Feierlichkeit in Hamburg Ihnen die
längst fällige Anerkennung eingetragen hat und wünsche, daß Sie im Jahre 1889
mehr Ruhe haben mögen; interessant genug wird es im Westen werden. Also
Prosit Neujahr!
Laubdach, den 6. August.*) Geheimrat Lothar Bucher an Kusserow:
In einem Gespräch über englische und französische Romane äußerte neulich
hier ein sachverständiger Mann, die zweiten Flitterwochen brauchten nicht solange
zu dauern wie die ersten. In der Voraussetzung, daß das richtig ist, will ich nicht
länger zögern, ein Lebenszeichen zu geben. Werden Sie nicht einmal den Ritter¬
sturz besuchen? und würde ich Ihnen an irgend einem Tage recht kommen? Wenn
ich des Morgens eine, allerdings sehr anstrengende Gymnastik überstanden habe, so
Friedrichsruh, Mittwoch.**) Geheimrat Lothar Bucher an Frau von
Kusserow:
Wo ich stecke, hat Ihnen schon der Poststempel verrathen, und daß ich die
Gelegenheit gern benützte, auf einen Tag nach Hamburg zu rutschen, brauche ich
nicht zu sagen. Aber ich kann nicht wissen, ob nicht Ihre Gesundheit, häusliche
Zustände, Reisen oder welche andern Umstände dagegen sprechen und bitte dringend,
nicht Ihrer freundschaftlichen Gesinnung das Übergewicht zu lassen. Ich bin seit
gestern Mittag hier und werde vor morgen Abend oder übermorgen früh wol nicht
losgelassen werden. Also bitte nur eine Zeile, Ja oder Nein; im ersteren Falle
Friedrichsruh, den 2. April 1892. Geheimrat Lothar Bucher an Kusserow:
Die Fürstin, die sich gern Korrespondenz abhalst, sagte mir eben bei Tische,
wenn ich an Sie schreibe, möchte ich doch ausrichten, daß sie für die Blumen und
die wunderbaren Gurken sehr dankbar sei — was hiermit geschieht. Was hier
xnbliLö vorgeht, erfahren Sie durch die Zeitungen, meines Erachtens nur zuviel
davon; und über das Private schreibe ich nicht gern, aus verschiedenen Gründen.
Den Ausschnitt aus dem „Hamburger Fremdenblatt", früher sehr übel, habe ich
Seiner Durchlaucht vorgelegt mit der Erwähnung, daß Sie denselben geschickt hätten.
Über meine Gesundheit kann ich nicht klagen, wenn auch das feuchte Wetter zu
Anfang der Woche mir in die Schreibepfote gefahren ist. Wann ich hier los¬
kommen werde, ist noch nicht abzusehen; doch werde ich mir jedenfalls im Mai
einige Ferien machen.
ur den ganzen deutschen Nordosten nahm in der ersten Hälfte
des vorigen Jahrhunderts das Riesengebirge ungefähr die Stellung
ein wie heute für Deutschland überhaupt die Alpen. Diese selbst
waren damals für den Norddeutschen und vollends für den nord¬
ostdeutschen schwer erreichbar und wurden noch wenig besticht.
Als im Sommer 1333 ein sächsischer Gymnasialrektor die weite
Reise nach Wien wagte mit Paßförmlichkeiten, die ungefähr den heutigen
russischen entsprechen, da fiel es ihm gar nicht ein, etwa bis zum nahen
Semmering vorzudringen, und noch in meiner Jugend war eine Reise aus
„Ostelbien" in die Schweiz ein außergewöhnliches Unternehmen, das Erstaunen
erregte; wenn man ein Hochgebirge besuchen wollte, so ging man selbstver¬
ständlich in das ja halbalpine Riesengebirge. Das ist heute gründlich anders
geworden. Heute wird in jedem Sommer Tirol und Oberbayern von Nord¬
deutschen, vor allem von Sachsen geradezu überschwemmt, sodaß dort oft alle
Gemütlichkeit völlig aufhört. Aber wenn man etwa in Leipzig die Absicht
äußert, man wolle nach Schlesien, so begegnet man leicht verwunderten Blicken
und Fragen, da man es ja bis München kaum viel weiter habe. Auch der
preußische Hof suchte vor einem halben Jahrhundert gern sein schlesisches Ge¬
birge auf, wo er eine Reihe anmutiger Sommerhitze besaß. Jetzt sind sie wenig
beachtet; an die Stelle des Riesengebirges ist Norwegen getreten, und schon
der alte Kaiser Wilhelm ging, wenn er ein Bad aufsuchte, was ja ganz regel¬
mäßig geschah, nach Eins und nach Gastein. Denn auch die zahlreichen
schlesischen Bäder, die längs des Sudetenzuges liegen, finden nicht mehr die
allgemeine Beachtung wie früher, und das ist wirklich schade; denn reizend in
Wald und Gebirge sind sie eingebettet, Flinsberg, Warmbrunn, Salzbrunn,
Charlottenbrunn und die Heilquellen der Grafschaft Glatz: Neinerz, Kudowa,
Langenau, Lembeck u. a. in. Nicht daß ihr Besuch abgenommen hätte, er ist
im Gegenteil gestiegen, wie denn auch sehr viel für die Verbesserung der Ein¬
richtungen geschehen ist, aber er ist lokaler geworden und geht nicht zum
wenigsten von dem benachbarten russischen Polen aus, gewinnt dadurch einen
internationalen Charakter. Sonst ist er wesentlich schlesisch, und wenn wir jene
„östlichen" Elemente leicht mit einem gewissen Mißtrauen betrachten, weil wir
in einer uns gegenüber westeuropäischen Völkern nicht eignen Überhebung gern
meinen, da drüben singe die Barbarei an — die man übrigens den Polen
gar nicht ansieht — und ganz vergessen, daß es unsre Aufgabe wäre, unsre
Kulturüberlegenheit dort zur anziehenden und gewinnenden Geltung zu bringen,
so ist das spezifisch schlesische „Milieu" höchst behaglich; denn die Schlesier
sind im allgemeinen „nette Leute", freundlich, umgänglich, höflich, duldsam,
in ihren Ansprüchen nicht übertrieben, voll Heimatliebe für ihre große schöne
Provinz, die geographisch, wirtschaftlich, national, kirchlich und sozial ein Ab¬
bild ganz Deutschlands ist und in manchen Perioden der deutschen Geschichte
eine entscheidende Rolle gespielt hat, aber ohne eine Spur von dem törichten
Partikularismus, der das eigne Lündle immer für das beste hält, sondern von
warmer Anhänglichkeit an den preußischen Staat und gute Deutsche.
Eines der entlegensten, aber vielleicht das lieblichste aller schlesischen Bäder
und zugleich eine Stätte voll Erinnerungen an eine große Zeit ist Landeck.
Die ganze deutsche Waldpracht der Sudeten, die dem Harz oder dem Thüringer
Walde nichts nachgibt, hüllt es ein, und vom großen Weltverkehr wird es nicht
berührt, denn keine Durchgangsstraße führt vorbei; während Langenau an dem
wichtigen Schienenwege liegt, der von Breslau über Glatz und Mittelwalde nach
Brünn und Wien führt, endet das Tal der Viele mit seinen Verzweigungen
am Hohen Schneeberge, dessen abgeplattetes kahles Haupt aus dunkeln Wald¬
massen emporragt und die Gegend weithin beherrscht. Und an diesem Tale ist
nichts slawisch als der Name des schönen Bergflusses, der weißschäumend
(djvl,^ — weiß) es durchzieht; das Tal selbst ist erst von den Deutschen der
Kultur erschlossen worden, ist deutscher Kolonial- und Volksboden, wie der ganze
weite Landstrich diesseits und jenseits des Gebirges. In der breiten Talsohle
zwischen fruchtbaren Wiesen und Feldern, umrahmt von sanften Waldboden,
ziehen sich die langgestreckten deutschen Reihendörfer in fast nnunterbrochner
stundenlanger Folge dahin: stattliche Bauernhöfe fränkischer Anlage, mit schmucken
Blumengürtchen unter breitwipfligen Linden, dazwischen die kleinen Aussiedlungen
der Häusler und gewöhnlich in der Nähe der Kirche ein Schloß mit Park,
oder wenn das Dorf besonders groß ist, mehrere dieser für Schlesien charak¬
teristischen Adelssitze, zuweilen im modernen Aufputz, häufiger in den schlichten
Formen des Klassizismus. Gelegentlich steht etwas abseits von der Straße
in herrschaftlicher Zurückgezogenheit ein umfänglicher, besonders großer Hof,
der doch kein Schloß ist; das ist dann der alte Sitz eines der „Freirichter"
des Glatzer Landes. Denn als die Herren des böhmischen Adels, die hier
einst herrschten, seit dem dreizehnten Jahrhundert deutsche Bauern ins Land
riefen, um den Waldboden zu roder, da vertrauten sie die Gründung eines neuen
Dorfes einem Unternehmer, einem Lokator an, der die Ansiedler als freie
Männer warb, ihnen ihre großen fränkischen Waldhufen vom Hofe uach der
Flurgrenze maaß, für sich selbst ein größeres Gut erhielt und auf diesem die
Schankgerechtigkeit, Gerichts- und Polizeigewalt im Namen des Grundherrn
erblich ausübte.
Diese „Freirichter" des Glatzer Landes bildeten eine Art bäuerlicher
Aristokratie, schlössen sich mit den ähnlich gestellten Erbvögten der Städte zu
einem Verbände zusammen, dessen Rechte zuerst 1337 vom Landesherrn be¬
stätigt wurden, erlangten schließlich die Standschaft im Glatzer Landtage und
traten hier und da, besonders wenn sie Lehngüter erwarben, auch zum Adel
über, worauf sie sich dann nach ihren Dörfern nannten. Umgekehrt erwarben
auch Adel und Städte Richtergüter, aber der Stand erhielt sich, und die
Dörfer tragen noch die Namen ihrer Begründer, wie so häufig im kolonialen
Deutschland.
Da liegt gleich am breiten offnen Eingange des Bieletcils von Glatz aus
das große Eisersdorf (Jsenrichesdorf), das drei Herrschaften gehört und ein
prächtiges neues Schloß (des Herrn von Löbbecke) in moderner Renaissance besitzt;
weiter hinauf folgt das langgestreckte Ullersdorf (Ulrichsdorf) mit seinen Adels¬
höfen, dem Ober- und Niederhof, die den Grafen Oppcrsdorf und Magnis
gehören. Die jetzigen Grafen von Magnis sind eins von den landfremden
Geschlechtern, die im Dienste der Habsburger heraufkamen und durch kaiserliche
Gunst in deren deutschen Ländern Grundbesitz erwarben, besonders während
des Dreißigjährigen Krieges, der den einheimischen Adel zum großen Teil ent¬
wurzelte und aus der Heimat trieb. Schon unter Karl dem Fünften hatte
sich Franz von Magnis aus Mailand hervorgetan; hundert Jahre später
wurde sein gleichnamiger Nachkomme, der sich während des großen Krieges
als Diplomat und Soldat ausgezeichnet hatte, von Kaiser Ferdinand dem
Zweiten 1636 zum Reichsgrafen erhoben. Durch ausgedehnten Grundbesitz
in Mähren und in der Grafschaft Glatz verwuchs das immer gut katholische
Geschlecht fest mit dem Lande und ging mit Schlesien 1742 unter preußische
Herrschaft über. Aber wie sich ganz Schlesien dieser sehr bald ehrlich und
eifrig anschloß, so auch die Grafen Magnis, obwohl ihr Grundbesitz zum Teil
in Mähren lag und liegt. Ihr schlesischer Hauptsitz wurde eben Ullersdorf.
Hier baute Graf Alexander, der es 1794 kaufte, das obere Schloß dicht an
der rauschenden Viele, inmitten eines Gartens, ein einfaches einstöckiges Herren¬
haus mit einem turmartigen Aufbau an der dem Flusse zugewandten Schmal¬
seite, dessen schmucklose Front in der Mitte durch einen flachen klassizistischen
Giebel über vier Halbpilastern unterbrochen wird; ein älteres Tor aus der
Barockzeit bildet gegenüber dem Mittelbau den Eingang zum Garten, rechts
steht eine Pieta aus derselben Zeit. Die ausgedehnten Wirtschaftsgebäude zur
Linken mit der stattlichen Wohnung des Gütcrdirektors, der wie überall bei
den schlesischen Magnaten ein gar großer Herr ist und auch die mährischen
Güter (Straßnitz und Prerau) verwaltet, verhüllen dichte Strauch- und Baum¬
gruppen. In der Nähe des Schlosses erhebt sich, wie gewöhnlich in diesen
Dörfern, die in ihrer Grundlage malte, schon 1384 erwähnte große Kirche, in
ihrem jetzigen Bestände ein Neubau im gotischen Stil, im Innern farbig
dekoriert, in der Apsis mit zwei Freskobildern aus dem Leben Johannes des
Täufers, im Querschiff mit zwei reichen Altären zwischen Marmorsäulen ge¬
schmückt, Stiftungen der Gutsherrschaft. Hier hat einst als Pfarrer Joseph
Kögler gewirkt, der Gründer der glatzischen Geschichtsforschung (gestorben 1817).
Die Bevölkerung ist, wie überall in der Grafschaft, in ihrer Masse katholisch,
doch gibt es seit 1882 auch ein evangelisches Schul- und Bethaus. Auf dem
an die Kirche anstoßenden Friedhofe hat sich die Patronatsherrschaft auch ihre
schöne romanische Grabkapelle aus farbigem Marmor errichtet, von deren Portal
ein Engel in Bronze über dem Spruche „Friede sei mit Euch" herabgrüßt.
Zahlreiche stattliche Grabmale verraten den Wohlstand des Ortes, über den, wie
so häufig in Schlesien, die adliche Grundherrschaft einen Schimmer höherer
Kultur verbreitet, den man hier kaum erwartet, und der sich auch in dem großen,
ganz städtischen Gasthofe nahe dem Schlosse ausspricht. Daß diese Familien
ihrem Volke vorangingen, wo es galt, dafür zeugen charakteristische Denkmäler,
die ebenfalls auf Alexander Magnis zurückgehn. In dem nicht ausgedehnten,
aber durch herrliche alte Bäume und einen dunkeln stillen Teich mit gelben
Seerosen ausgezeichneten Schloßpark, zu dem jenseits der Straße ein eiserner
Steg über die Viele führt, erhebt sich eine Art von offner Tempelhalle mit
der Front dem Haupteingange zugekehrt: über vier ionischen Säulen und dem
leichten Gebälk, das sie tragen, zeigt ein weißes Flachrelief auf rotem Grunde
in der Mitte einen runden Altar mit einem Il, von rechts und links je sechs
auf ihn zuschreitende Gestalten, die Gefäße und Schmuckkästchen, darunter eine
Schale mit acht goldnen Kugeln, darbringen, das Ganze eine Huldigung für
die Königin Luise. Auch das mit zarten Farben ausgemalte Innere der
länglich viereckigen Halle scheint die Idee des Opfers zu symbolisieren: zwei
brennende Dreifüße an jeder der drei Wände mit einer griechischen Lampe
darüber. Denn Graf Magnis, ein warmherziger Patriot, stand durch seine
Vermählung mit einer Schwester (Luise) des Grafen Friedrich Wilhelm von
Götzen, des heldenmütigen Verteidigers von Glatz 1306/07, die ihm die Herr¬
schaft Eckersdorf (zwei Stunden nördlich von Glatz) zubrachte, mit diesen Kreisen
in Verbindung und brachte, wie so viele Mitglieder des schlesischen Adels, große
Opfer für die Sache des Vaterlandes. Auch noch ein andres Denkmal hat er
der Königin errichtet. Auf der grünen „An", zu der vom Herrenhause aus
eine Allee alter Linden führt, erhebt sich ans einem Marmorsockel über vier
Kanonenkugeln ein 25 Meter hoher, gußeiserner Obelisk, das erste große Gu߬
werk aus der oberschlesischen Eisenhütte von Malapcme, in der Sonne glitzernd
von kristallinischem Gefunkel. Er erinnert an den Besuch der Königin in der
Zeit, wo sie auf der Höhe des Glücks zu stehn schien, am 22. August 1800
und wurde am 10. März 1802, ihrem Geburtstage, eingeweiht. Die Inschrift
ans dem Sockel redet in dem etwas sentimentalen Tone der Zeit den Obelisken
gewissermaßen an: „Denkmal ihrer Gegenwart, trotze der Zeit, und zeuge von
unserer Freude bey künftigen Geschlechtern. Das Andenken ihrer Tugenden geht
mit unsere» Geistern zur Unsterblichkeit über. Erz und Marmor vergehen, die
Liebe ist ewig." Aber die darin ausgesprochne Gesinnung war echt. So an¬
spruchslos diese Denkmale sind, sie zeugen von einer uns innerlich recht fern
gerückten Zeit, die besaß, was wir entbehren: sie hatte ihre festen sittlichen und
künstlerischen Ideale und glaubte an sie.
Mit Ullersdorf, der größten Siedlung des untern Bieletals, hängt der
nächste Ort, Kunzendorf, unmittelbar zusammen. Auch hier ragt aus den
dichten Wipfeln eines großen, nur etwas verwilderten Parks über der Viele
das langgestreckte Ziegeldach eines ansehnlichen Herrenhauses hervor, das seine
Front mit einem viereckigen Turm in der Mitte nach der entgegengesetzten
Seite dem Hofe zukehrt; nicht weit davon erhebt sich anch hier die Kirche auf
felsigem Ufer des Flusses. Ihr Ursprung reicht bis in die erste Hälfte des
dreizehnten Jahrhunderts zurück, denn die Pfarre Kunzendorf wird schon 1269
erwähnt. Das große Dorf gehörte mehreren Herrschaften und wechselte nicht
selten seine Besitzer. An die jetzigen Eigentümer, die Grafen von Chamare,
kam es durch eine Verschwägerung von den Grafen von Schlabrendorf. Im
Sommer 1813, als die königliche Familie während des Waffenstillstandes in
Landeck verweilte, bewohnten die königlichen Prinzen Schloß Kunzendorf, und
hier wurde am 3. August auch der Geburtstag des Königs Friedrich Wilhelm
gefeiert.
Die schöne, von stattlichen Ahornbäumen beschattete Straße läßt das
nächste Dorf Raiersdorf (alt Neichardsdorf), das schon 1384 eine selbständige
Pfarre bildete, weit links am Fuße des Hutberges liegen. Indem sie sich aus
den Häusern heraufwindet, steigt sie langsam an und gewährt einen freien
Überblick über die anmutige Landschaft, die sich rasch zu größerer Meereshöhe
erhebt. Dunkel bewaldete Bergzüge begrenzen den Blick im Osten und Süd¬
osten, und am südöstlichen Horizont steigt der Hohe Schneeberg auf. Heut¬
zutage ist die Straße wenig belebt, denn die Eisenbahn, die ihr im ganzen
parallel läuft, aber sie oft auch schneidet, hat seit 1897 den größten Teil des
Verkehrs an sich gezogen. nette Stationsgebäude in einem dem Gebirgs-
charakter der Gegend angemeßnen einfachen Stile ermöglichen die Benutzung
für jedes Dorf. Eine Industrie aber haben sie bis jetzt nicht ins Tal ge¬
zogen; nur in Eisersdorf besteht eine große Spinnerei; sonst sieht man keine
qualmenden Fabrikessen, nur Kalköfen, runde oder viereckige, turmartige Stein¬
bauten an einem Höhenrande, die aber jetzt nach der Erschöpfung des leicht
zugänglichen Materials meist nicht mehr im Betriebe sind. Im ganzen ist
der alte rein landwirtschaftliche Charakter des Bieletals bis heute zum Glück
erhalten geblieben.
Eine lange Reihe von Wagen verkündet dem Ankömmling auf dem Bahn¬
hofe Landeck die Nähe eines vielbesuchten und belebten Ortes. Dieser selbst
ist hier nicht sichtbar; denn die Stadt Landeck liegt etwas tiefer, und noch
weiter zurück, schon von Waldbergen umschlossen, etwa zwei Kilometer vom
Bahnhofe das Bad Landeck. Die üblichen Berge von Gepäck werden ab- und
aufgeladen, dann rasseln die leichten Wagen in dichter Folge staubaufwirbelnd
die Straße einwärts. Landeck ist der Typus einer schlesischen Kleinstadt, am
linken Ufer der rauschenden, hier ziemlich breiten Viele in regelmäßiger Anlage
um den großen viereckigen „Ring" gruppiert, mitten darauf das auffallend
stattliche Rathaus in moderner Renaissance, mit einem Turm, davor eine barocke
Mariensäule, die Häuser teilweise unter barocken Giebeln mit gewölbten Lauben¬
gängen dem Platze zugekehrt, in der Nähe die große Pfarrkirche. Alles das
sieht viel jünger aus, als Landeck tatsächlich ist, jedenfalls eine Gründung des
dreizehnten Jahrhunderts, denn die Stadt tritt schon 1325 hervor, die Pfarre
1336, und 1357 bestätigte ihr der Landesherr, Herzog Bolko von Münsterberg,
einer der Piaster, alle Rechte und Privilegien, die Stadt hatte also die übliche
selbständige Gemeindeverwaltung. Der Dreißigjährige Krieg spielte ihr übel
mit; ein Bauernaufstand in der Umgegend mußte 1622 von kaiserlichen Truppen
niedergeschlagen werden, und 1645 und 1647 plünderten auch hier schwedische
Kriegsvölker. Schließlich zerstörte eine Feuersbrunst 1739, also kurz vor dem
Ende der österreichischen Herrschaft, den größten Teil der Stadt und mit dem
Rathause auch das Archiv. Aber die Gunst der Lage brachte sie immer wieder
empor. Denn sie liegt an der Stelle, wo die Viele aus dem Gebirge heraus¬
tritt und scharf nach Mester ^umbiegt; hier sammelte sich also der Verkehr aus
dem. ganzen obern Wald- und ehemals auch erzreichen Gebiete des Flusses,
und mehrere Paßübergänge führten von jeher über das hohe Grenzgebirge nach
Schlesien hinein, die Viele und ihr felsiges Bett auf einer malerischen, alters¬
grauen hochaufsteigenden Steinbrücke überschreitend, auf der der böhmische
Brückenheilige Johannes Nepomuk steht. Aber die Hauptquelle ihres Wohl¬
standes wurde der große Waldbesitz im Osten der Stadt, der „Landecker Forst",
den die Stadt um 1500 von den Landesherren gegen einen geringen Jahres¬
zins erwarb, eine Flüche von 865 Hektar, und da sie später noch manches
hinzukaufte, so verfügt sie heute über einen höchst wertvollen Grundbesitz von
etwa 1000 Hektar.
Dieser prächtige Hochwald ist eine der wichtigsten Grundlagen für das
Aufblühen des Bades Landeck, das ebenfalls der Stadt gehört. Die Straße
führt zunächst dicht an der Viele hin, vorüber an der neuerbauten kleinen
evangelischen Kirche am östlichen Ende der Stadt, die mit dem reizenden grün¬
umsponnenen Pfarrhause und dem Friedhofe dazwischen unter hohen Bäumen
ein anmutiges Idyll darbietet. Dann teilt sie sich. Der eine Zweig über¬
schreitet auf der „Schlösselbrücke" die Viele und führt nach dem eigentlichen
alten Badeort Landeck, der zur Rechten bildet den Zugang zu dem neuen dazu
gehörenden reizenden Villenorte Ober-Talheim. Am rechten Ufer des Flusses
steigen die Anlagen des Badeortes auf rasch sich erhebenden Gelände auf,
unten die Hauptstraße längs seines Ufers, dann der Kurplatz mit dem neuen
Kurhause, darüber eine zweite parallel laufende Straße. Man kann die ver-
schiednen Bauperioden gewissermaßen ablesen. Natürlich hat sich die ganze
Anlage an die alkalischen, schwefelwasserstoffhaltigen Quellen angeschlossen, die
hier in einer Wärme von 20 bis 28,5 Grad Celsius mit bläulich-grünem klarem
Wasser aus den Gneisspalten des Felsengrundes reichlich emporquellen. Manche
sind wohl schon im Mittelalter benutzt worden, nachweislich am frühesten die
Georgenquelle, die oberste, über der alten Straßenbrücke, die hier den eigent¬
lichen Kurort mit Ob er--Talheim verbindet und die Viele weiter aufwärts führt.
Ihren Namen erhielt sie nach dem Herzog Georg von Mttnsterberg (1498 bis
1501); ursprünglich im Privatbesitz, ging sie 1572 durch Kauf an die Stadt
Landeck über. Der jetzige schlichte Bau hat seine Gestalt in der klassizistischen
Blütezeit von Landeck erhalten. Aus der Barockzeit stammt die hoch darüber
liegende kleine Nundkapelle zu Se. Georg unter dem schattigen Laubdach alter
Linden. Wesentlich später, 1622, wurde eine zweite Heilquelle weiter abwärts
am Ausgange des Seitentales entdeckt, das hier von rechts in die Viele
mündet, die „Marienquelle". Seit 1637 war sie Eigentum des Grundherrn
von Ober-Talheim, Sigismund von Hoffmann, der 1678 hier eine Bade¬
anstalt baute, an der Viele dicht an der Brücke das sogenannte Schlösset
(jetzt Gasthof) und darüber die Kapelle zu Unser Lieben Frauen von Ein¬
siedeln, die barocke Marienkapelle, die heute aus dichtem Baumwerk hervorlugt.
Sein Enkel Leopold verkaufte 1735 das Marienbad, 1736 das Rittergut Ober-
Talheim an die Stadt Landeck. Heute ist von jenem alten Bau nichts mehr
übrig; über der Marienquelle erhebt sich seit 1880 ein imposanter Bau, das
schöne Werk des Architekten Völkel aus Reiße: in der Mitte über dem
Schwimmbassin eine hohe Kuppel, von der vier Kreuzarme ausgehn, zwischen
ihnen im weitern Kreise die Räume für die Badezellen und Gastwohnnngen,
alles in geschmackvoller Renaissance mit reichlicher Verwendung des schlesischen
Marmors, der besonders den innern kreisrunden Mittelraum zur schönsten
Wirkung bringt. Aus dem alten Bau ist nur noch die Wanne übrig, die
Friedrich der Große 1765 benutzte. In der Nähe sind später noch mehrere
andre Quellen entdeckt und im Steinbade gegenüber dem Marienbade zusammen¬
gefaßt worden, das 1847 bis 1849 erbaut und auch für Moorbäder einge¬
richtet worden ist. Mit einer anmutigen Bogenhalle öffnet es sich nach
schattigen Anlagen. Etwas früher, 1842, ist die einfache aus Holz errichtete
Albrechtshalle hinter der Gevrgenkapelle als Wandelbahn entstanden. Wenige
Schritte von diesen ältern Bädern erhebt sich an der Straße nach Jauernig als
jüngste Anlage das Militärkurhaus von 1865.
Zwischen diesen Badehüusern und in ihrer unmittelbaren Nähe hat sich
der alte Kurort in mehrern parallelen Straßen und einigen Quergassen auf
ansteigendem Terrain angesiedelt. An der obersten liegen die ältesten Gasthöfe
und Logierhäuser: beim Steinbade die Krone, eine alte Anlage um einen
großen Hof mit offnen Holzgalerien, die Hintergebäude noch unter grauem
Schindeldach, gegenüber das jüngere Deutsche Haus, weiterhin das Haus Kaiser
Alexander, ein ansehnliches echt klassizistisches Gebäude mit den heute wieder be¬
liebten dicken Girlanden über Türen und Fenstern, endlich das schlichte Königs-
haus unter breitem Dache nach Schweizerart, beide gewissermaßen historische
Denkmäler, denn in diesem wohnte Friedrich Wilhelm der Dritte vom 2. Juli
bis 17. August 1813, jenes erinnert an die Zeit preußisch-russischer Bundes-
genossenschaft und an Kaiser Alexanders Anwesenheit, der am 2. August jenes
ereignisreichen Jahres hier eintraf. Aus derselben Zeit stammen in der Nähe
des Georgenbades der Weiße Löwe, der Anker u. a. Gasthöfe mit von alters
her gebräuchlichen Namen. Auch das alte Kurhaus, der sogenannte Luisensaal,
ist damals erbaut worden, ein langgestrecktes einfaches Gebäude ohne alle
äußere Architektur und völlig schmucklos, ein Erdgeschoß, ein einziges Stock¬
werk und darüber noch ein zweites niedrigeres mit kleinen Fenstern, die aber
beide demselben Jnnenraume, dem eigentlichen Luisensaal angehören, davor eine
hölzerne Veranda. Zu diesem Hause hat Königin Luise den Grundstein gelegt,
als sie im August 1800 hier verweilte., nachdem sie das Riesengebirge besucht
und die Schneekoppe bestiegen hatte, wo sie sich „erhoben über die Erde, Gott
näher" fühlte. Es ist, als ob man die Königin im lang herabfließenden
schlichten Gewände in diesen einfachen Räumen wandeln sähe; so sehr entsprach
die damalige Mode dieser schmucklosen Architektur, die nur die Schönheit ein¬
facher Linienführung kannte und von dem Prunk des Barockstils nichts mehr
wissen wollte. Es ist derselbe Eindruck, den wir im Goethehause zu Weimar
haben; so simpel und anspruchslos wie dieser Dichterfürst wohnt heute kein
Dichterling mehr, und das alte Kurhaus der Königin Luise ist jetzt ein un¬
scheinbares Anhängsel des neuen stolzen Kurhauses, das sich im rechten Winkel
daranschließt und die ganze östliche Langseite des Kurplatzes einnimmt mit
ausgedehnten Gesellschaftsräumen und Lesezimmern und einer luftigen breiten
Veranda längs der ganzen Front. Eine Bronzebüste des Kaisers Wilhelm
darunter in der Mitte bezeichnet die Zeit seiner Entstehung. Die tiefer ge¬
legne Häuserreihe gegenüber an der andern Langseite des Kurplatzes bietet
Kauflustigen in zahllosen Buden alles, was das Herz begehrt: neben Bade¬
bedürfnissen und dem üblichen Allerweltstand von Andenken, Postkarten,
Bildern u. tgi. die Erzeugnisse der Glashütten, der Porzellanfabrikation, der
Leinwand- und Spitzenindustrie Schlesiens. Es sind meist Filialen von Breslauer
Geschäften, die hier ihre Waren feilbieten.
Auch das ist ein Erzeugnis der neuern Zeit. Diese hat dem Kurorte
überhaupt eine ganz andre Gestalt gegeben; ein neues Landeck hat sich um
den alten Kern angesetzt. An den Höhen empor bis zum Bergwalde hinauf
klimmen zahlreiche moderne Villen und Logierhäuser, von Gärten umgeben,
und gegenüber jenseits der Viele auf dem rechten Ufer ist auf dem Grunde
des alten Dorfes Talhcim seit dem Ende der siebziger Jahre im Anschluß an
die Wasserkuranstalt Talheim (1878) eine ganze schmucke Villenkolonie ent¬
standen, die sich immer mehr ausbreitet. Daß man in Landeck auch auf zahlreiche
„östliche" Besucher rechnet, zeigen schon die Namen einzelner Häuser: Villa
Ostrowicz, Villa Pologne, Villa Osadci, und auch jüdischer Zuzug wird er¬
wartet: die Aurora wird Interessenten dnrch das Wort Koseluzr empfohlen, und
die „Villa Goldstücker" verheißt „rituelle Küche". Die Lesehalle des Kur-
Hauses bietet auch polnische Zeitungen, das Slowo, den Dziennik Poznanski,
und die kleine Buchhandlung an der Brücke legt mit Vorliebe revolutionäre
russische Literatur aus. In der Tat hört man während des Augusts auf den
Promenaden und auf dem Kurplatze ebensoviel polnisch und russisch sprechen
wie deutsch.
So findet sich eine stark internationale Gesellschaft auf dem Kurplatz im
Schatten der mächtigen alten Waldbüume zusammen, die ihm charakteristisch
sind, offenbar Neste des Waldes, der einst hier gestanden hat, nicht erst später
hier angepflanzt: hundertjährige hohe Ahornbäume, Fichten, Tannen, eine ganze
Allee von hochstämmigen Lärchen. Wenn die Kurmusik spielt, abwechselnd
nachmittags und abends, oder gar das beliebte Musikchor der wackern schlesischen
Füsiliere Ur. 38 Graf Moltke' aus Glatz, dann entfaltet sich hier ein buntes
Gewimmel: elegante duftige Sommertoiletten, Hüte von oft abenteuerlichen
Gestalten bei Weiblein und Männlein, dazwischen die Uniformen des deutschen
Heeres und besonders des sechsten Armeekorps, Kadetten aus Wahlstatt mit deu
gelben Achselklappen, aber auch grauröckige „Afrikaner" mit gebräunten, oft
leidenden Zügen, die zur Kur hier find und nicht zum Vergnügen, wie offenbar
so viele andre Leute. Das alles flaniere in buntem Strome auf dem Haupt¬
wege zwischen den Tischen hin und her, den Klängen der Musik lauschend,
plaudernd, lachend, „flirtend", beobachtend, sorglos, seelenvergnügt. Am frühen
Morgen sammelt sich das wirklich die Kur benutzende Publikum in den schönen
Anlagen hinter dem Marienbade um den Musikpavillon und genießt hier
zugleich von diesem etwas erhöhten Terrain aus anmutige Ausblicke in die
Umgegend hinaus: auf das Städtchen Landeck inmitten der freundlichen,
blühenden Landschaft, auf die langgestreckten Bergzüge dahinter, auf den Hohen
Schneeberg und nach der andern Seite auf das östliche Grenzgebirge nach
Schlesien hin, zu dem eine prächtige Straße in langen Kehren emporsteigt.
(Schluß folgt)
etzt sind acht Tage verstrichen, daß Dolly in der Goldner Gans
wohnt, und sie kennt Bärenburg besser, als ich es jemals gekannt
habe, und wundert sich, daß ich dieses und jenes nicht weiß. Sie
weiß, daß die medizinische Fakultät hier sehr aufgeregt über Doktor
Roland und über seine neuen Heilmethoden ist, und sie hat in Er¬
fahrung gebracht, daß der Geheime Medizinalrat im Ministerium
war, um Roland von hier wegzubringen. Aber der Minister hatte schon selbst
zweimal an Roland geschrieben und wird nächstens auf einige Wochen in der
Goldner Gans wohnen. Dolly weiß noch viel mehr, und sie unterhält sich
hier ausgezeichnet. Sie hat schon auf Schloß Mieder einen Besuch gemacht und
hat von dort allerlei Neuigkeiten mitgebracht, die sie mir sehr gern erzählen
möchte. Aber mein Sinn ist in diesen Tagen nicht sehr nach Klatsch und ähn¬
lichen Dingen.
Vorgestern wurde mir unter Kreuzband eine Zeitung aus Süddeutschland
geschickt, deren Namen ich nicht einmal kenne. Ich legte sie neben mich, weil ich
gerade meinem Manne Tee bereitete, und dieser griff danach und las einen rot
angestrichnen Satz. Und dann wurde er totenblaß und ging leise aus dem Zimmer.
Mir war seine Verstörtheit noch nicht klar geworden. Ich faltete das Blatt aus¬
einander und las einen überaus hämischen Angriff auf Walter. Es handelte sich
um die Vorträge, die er in den verschiednen Städten Süddeutschlands gehalten
hatte, und die der ungenannte Artikelschreiber für unwissenschaftlich und für ein
elendes Machwerk erklärte. Es ist eine bedauerliche Erscheinung der Jetztzeit,
so ungefähr lautete der Schluß, daß es Universitätslehrer gibt, die die hehre
Wissenschaft zum niedern Broterwerb herabwürdigen. Herr Professor Weinberg
soll mit diesen Vorträgen ein sehr gutes „Geschäft" machen. Da er in schlechten
Vermögensverhältnissen sein soll, wollen wir ihm den Beutel rin Geld gönnen,
aber wir wollen doch zugleich den Wunsch daran schließen, daß er seine kümmerliche
Weisheit auch nicht noch als Buch auf den Markt wirft.
Ich ging in Walters Zimmer. Da saß er in seinem Arbeitsstuhl vorm
Fenster und sah in den dunkelnden Garten. Von draußen kam eine regenschwere,
laue Luft herein, und im Busch jubelte die Nachtigall, über die wir uns schon
gestern gefreut hatten.
Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. Walter, du wirst dich nicht um
den abscheulichen Angriff bekümmern? Er kommt von Professor Müller, und ich
trage die Schuld. Ich hätte ihn zur Fürstin Monreal bringen sollen und ihm
nicht alles sagen dürfen, was er wissen wollte. Aber ich ahnte nicht, daß es so
gemeine Menschen gibt.
Walter antwortete nicht gleich. Dann sagte er ruhig:
Ich will versuchen, mich nicht zu ärgern, und du darfst es auch nicht tun.
Aber es ist ein Angriff, den ich eigentlich zurückweisen muß.
Die ganze Nacht hat mein Mann dann am Schreibtisch gesessen und hat an
einer Erwiderung gearbeitet, und gegen Morgen habe ich ihn dann ohnmächtig ge¬
funden. Dann schickte ich zu Doktor Roland, der gleich gekommen ist.
Der Professor hat ein schwaches Herz! sagte er mir nach einer genaue»
Untersuchung. Er darf sich nicht überanstrengen, und er darf keinen Ärger haben.
Lassen Sie ihn ruhig dahinleben, ohne Arbeit, mit viel Ruhe. Dann wird es
schon wieder gut werden.
Soll er reisen? fragte ich, und Roland schüttelte den Kopf.
Ich bin nicht fürs Reisen; höchstens für einen stillen Landaufenthalt, wo er
nichts zu tun hat und möglichst allein ist.
Dolly kam bei dieser Unterredung hinzu und bot Falkenhorst als Erholungs¬
stätte an. Walter hatte Neigung dazu; er kennt Falkenhorst gut von früher her,
und er hat immer viel von Bernb gehalten. Die beiden Herren werden gut
miteinander auskommen und sich nicht im Wege sein. Dolly war von diesem Plan
begeistert und auch davon, daß ich hier bleiben muß. Denn Haralds Schule beginnt
wieder in den nächsten Tagen, und ich kann ihn doch nicht allein hier lassen.
Doktor Roland sagt, daß diese Herzschwäche über kurz oder lang doch gekommen
wäre. Ich brauche also den Professor Müller mit seinem abscheulichen Artikel nicht
allein für dieses Unheil haftbar zu machen. Aber ich tue es doch.
Es ist jetzt Ende Mai, und die Welt ist sehr schön geworden. Wir sitzen die
meiste Zeit im Garten, und Dolly ist entzückt von unsrer Gegend. Sie ist frischer,
als ich sie seit Jahren gesehen habe, und auch Lila ist ein ganz nettes kleines
Mädchen geworden. Sie wird aber auch hier in die Schule genommen. Minchen
stellt sie als Aufsicht für ihre kleinen Schwestern an und teilt Püffe aus,
wenn Lila nicht parieren will. Die älteste kleine Roland ist herrschsüchtig, und
ihr Vater freut sich schon auf die Zeit, wenn sie ihm die Leitung der Klinik ab¬
nehmen kann.
Vorher sollten Sie Minchen aber etwas Ordentliches lernen lassen, meinte ich,
und er lacht unbekümmert:
Vor acht Jahren soll sie mir nicht mit den Weisheiten verdorben werden.
Dann kann sie noch genug lernen.
Es mag sein, daß er Recht hat; im übrigen hat Minchen schon lange von
selbst lesen gelernt und durch Harald eine ganze Menge Dinge in sich auf¬
genommen, die andre Kinder erst viel später wissen. Ich will mich auch nicht
mit dem Doktor streiten. Ich bin ihm dankbar; er hat Walter eine ausgezeichnete
Medizin gegeben, sodasz dieser schreibt, er fühlte sich Wühler als seit vielen Jahren.
Er ist seit drei Wochen auf Falkenhorst, und der Aufenthalt bekommt ihm aus¬
gezeichnet. Doch ich muß über den Ausdruck grübeln, daß Walter sagt, daß er
sich seit vielen Jahren nicht so wohl gefühlt habe wie jetzt. Wir sind doch Mann
und Frau, und ich habe immer gemeint, daß Walter sich im ganzen wohl be¬
fände. Ich muß schlecht auf ihn acht gegeben haben. Dolly tröstet mich bei diesem
Gedanken.
Ich weiß niemals, ob Bernb sich wohl befindet oder nicht. Männer sind
komisch. Wenn ihnen der kleine Finger weh tut, dann machen sie viel Wesens
davon und das ganze Haus ungemütlich; aber wenn ihnen etwas Ernsthaftes
fehlt, dann wird es einem erst gesagt, wenn es beinahe zu spät ist. Nur wenn
sie ewig kränkeln, dann hat man ewige Not. Ich denke an Bodild Monreal, die
ja nicht aus dem Pflegen herauskommt. Ich bin neulich mal dagewesen, da habe
ich den Fürsten nicht gesehen und Bodild nnr einen Augenblick. Sie sah sehr
schlecht aus und müßte vielleicht etwas für sich tun. Aber wenn der Mann krank
ist, dann bleibt keine Zeit für die Frau.
Ich freue mich immer, wenn Dolly kommt, und auch wenn sie geht. Deal
dann habe ich die Empfindung, daß ich ihr nun lange genug zugehört habe. Sie kommt
auch nicht alle Tage, schickt aber Lila mit großer Regelmäßigkeit. Und da sich
die Kleine in die Rolands gefunden hat und meinen Harald sehr liebt, so strahlt
sie schon übers ganze Gesicht, wenn sie in unsern Garten tritt.
Harald macht mir Sorge. Herr Külpe ist nicht unzufrieden mit ihm, aber
er hat noch über ihn dasselbe Urteil. Seine Leistungen sind ungleichmäßig,
manchmal gut, und dann wieder schlecht. Besonders das Lateinische wird ihm zu¬
zeiten so schwer, daß es den Anschein hat, als könnte er keine Vokabel. Und dann
macht er in der Klasse ganz erträgliche Extemporalien.
Vor einigen Tagen erhielt ich einen Brief von der Frau Bäckermeisterin.
Sie ist um Weihnachten krank gewesen, deshalb hat sie solange mit dem Dank für
das Muttergottesbild warten müssen. Und hat sich doch so über alle Maßen ge¬
freut. Die Muttergottes hat sie auch wieder gesund gemacht, zusammen mit der
großen Freude, daß ich sie nicht vergessen hätte. Und sie hoffte, daß wir alle
in Gesundheit lebten und im nächsten Jahre wiederkehren möchten. Der Brief
war nicht ganz richtig geschrieben. Aber Harald und ich freuten uns sehr über
das Lebenszeichen vou der guten Frau. Mein Junge konnte sich den Brief nicht
oft genug vorlesen lassen. Am liebsten wäre er gleich wieder nach Virneburg ge¬
fahren, und er versicherte, daß er zu den Sommerferien Hinreisen müßte.
Ich kann auch allein hinfahren, Mutterlieb, versicherte er. Ich fahre bis Köln
und dann geht es auf der Eisenbahn weiter. Ach ich hab es mir wohl gemerkt,
und warum kann ich nicht allein reisen? Ich bin ein großer Junge.
Was willst du allein in Virneburg? erkundigte ich mich, und Harald richtete
seine Augen in die Ferne.
Dann will ich allein in die Berge gehn und darüber nachdenken, wie viele
Menschen hier schon gegangen sind. Und sie haben alle ihre Mühe gehabt und
alle ihre Schmerzen. Und nun sind sie tot und brauche» sich nicht mehr zu
fürchten.
Du hast es doch auch nicht nötig, dich zu fürchten, Harald.
Mein Junge sprach weiter:
In den Bergen ist es besser als hier, Muttcrlieb. Da braucht man keine
Arbeiten zu machen und immerzu an Aufgaben zu denken und ob man auch zu
spät in die Schule kommt.
Aber Harald! Möchtest du wirklich nichts lernen und immer dumm bleiben?
Bist du so träge, daß du dir gar keine Mühe geben magst? Denke doch daran,
wie fleißig dein Vater gewesen ist, und du willst ihm keine Freude machen?
Papa soll ja ziemlich unwissenschaftlich arbeiten, murmelte mein Junge. Albert
Köhler, der Sohn vom Historiker — Ich ließ ihn nicht ausreden. Man soll seine
Kinder nicht im Zorn strafen; aber ich habe Harald die erste Ohrfeige seines Lebens
von Mutterhand gegeben.
Der Sommer ist in diesem Jahre ganz besonders reizend. Unser ganzer
Garten steht voll Rosen, und die Obstbäume haben so reich geblüht wie noch nie.
Minchen Roland freut sich auf die Äpfel, die sie bei uns pflücken will, und Lila
Falkenberg verspricht ihr noch ganz besondre Sorten, wenn sie mit ihr nach Falken¬
horst kommen will. Die beiden kleinen Mädchen sind sehr gute Freundinnen ge¬
worden, und Linchen und Stinchen spielen weiter ihre Rolle als Statisten. Sie
lachen, wenn die größern Mädchen lachen, und Verhalten sich in ehrerbietigem
Schweigen, wenn sie merken, daß es von ihnen erwartet wird. Ich könnte schon
nicht mehr ohne die kleine Rolandsgesellschaft sein, und es ist mir sehr recht, daß
ich noch immer bei ihnen die Schuld der Dankbarkeit abtragen muß, obgleich es
mir natürlich leid tut, daß Frau Roland seit einigen Wochen zu Bett liegt und
vorläufig wohl nicht wieder aufstehn wird.
Der arme Fred! Zu ihm strömen die Menschen, Weil sie in ihm einen
Zauberer vermuten, und er kann seine eigne Frau nicht wieder gesund machen.
Allerdings sagt man, daß sie nicht gesund werden will. Dolly erzählt mir
dies „man sagt". Sie sitzt in der Goldner Gans umringt Von Pilgern, die Doktor
Roland konsultieren wollen, und jeder weiß etwas andres. Mir ist es wie ein
Wunder, daß Rolands Name so schnell bekannt geworden ist, und daß es so viel
Krankheit in der Welt gibt. Die Goldne Gans ist um diese Zeit des Jahres
noch nie so voll gewesen, und sie beginnt schon ihre Gäste in Privathäuser aus¬
zuquartieren. Dolly wird täglich wohler und schwört auf den neuen Doktor, und
so wie ihr, so ergeht es vielen andern. In einigen ausländischen Zeitungen soll
auch schon auf Bärenburg als den Aufenthalt von Doktor Roland hingewiesen
werden, und wenn dieser Zuspruch so weiter geht, wird Fred Roland sicherlich
bald mit seinem eignen Wagen fahren können. Inzwischen geht das Leben an der
Universität weiter; für meinen Walter hat ein Außerordentlicher die Vorlesungen
übernommen, und ich freue mich, daß mein Melun wirklich einmal ausspannt. Die
Nachrichten von ihm lauten gut; er fährt täglich rin Bernb spazieren, und neulich
sind sie zusammen in meiner kleinen Stadt gewesen. In derselben, in der ich bei
Onkel Willi auf dem Schloß wohnte, und wo ich endlich ans dem Eise einbrach
und von Fred Roland gerettet wurde. In der Nacht träume ich noch manchmal
von meinen dortigen Erlebnissen. Im Schloß wohnte ebenfalls ein altes Fräulein,
das ehemals Tänzerin gewesen war, und das mir nach seinem Tode eine Summe
Geldes schenkte, die in einem alten Bilderbuch verwahrt war. Die Bilderbücher
habe ich noch; aber das Geld habe ich nicht behalten dürfen. Schade darum.
Aber vielleicht hätte ich es längst ausgegeben.
Ja, das Semester ist in vollem Gange. Die Studenten singen bei Tag und
Nacht von den Bergen herunter, und an meinem Garten geht manchmal Professor
Müller vorüber. Er grüßt immer sehr höflich, und ich danke kühl. Walter will
sich nicht nach einem Verleger für seine Vorträge umsehen; wäre nicht der ab¬
scheuliche Angriff auf ihn erfolgt, würde sich wohl einer von selbst gefunden haben.
Aber der Angriff ist in verschiednen Zeitungen nachgedruckt worden, und nun
habe» die Buchhändler Angst. Man kaun es ihnen nicht verdenken, und ich
möchte nicht, daß Walter nach Erscheinen seiner Arbeiten wieder so schmählich
heruntergezerrt würde; aber die Einnahmequelle, auf die er für dieses Buch ge¬
rechnet hat, wird nicht sprudeln. Und alles, weil es Herrn Professor Müller einmal so
gefallen hat. Was die Leute sonst hier von der Geschichte sagen, weiß ich nicht.
Seitdem die Magnifika weiß, daß ich die kleinen Rolands so viel bei mir im
Hause habe, ist sie eine Schattierung steifer gegen mich geworden und sieht mich
manchmal nicht, wenn ich ihr auf der Straße begegne. Aber als ich gestern mit
Bodild vor der Goldner Gans gerade über eine lustige Bemerkung meiner
Freundin lachte, kam die Frau Geheimrat vorüber, machte ihren Knicks vor der
Fürstin, sagte einige sehr liebenswürdige Worte und konnte nicht umhin, auch mich
einer Beachtung zu würdigen. Da sagte sie, daß die ganze Universität meinem
Manne eine baldige Genesung wünsche, und daß er den gänzlich ungerechtfertigten
Angriff niemals schwer nehmen dürfte.
Was schwatzte sie da? fragte Bodild, die zum erstenmal seit Monaten von
ihrem Schloß herunterkam und so ausgelassen war wie in ihren besten Backfisch¬
jahren. Einen Augenblick besann ich mich und erzählte ihr dann mein Erlebnis
mit Professor Müller.
Weshalb schicktest du ihn nicht zu mir? fragte sie.
Ich wollte nicht aufdringlich erscheinen, und er ist außerdem ein unangenehmer
Mensch.
Bodild zuckte die Achseln. Anneli, du bist noch gerade so schnurrig wie Anno
dazumal! Du hast dich meines Wissens niemals an mich herangedrängt; im
Gegenteil, dn bist immer fast zu zurückhaltend gewesen. Und dann hast du noch
einen Fehler: du bist zu aufrichtig für diese arge Welt. Die Menschen wollen
nun einmal nicht immer die nackte Wahrheit erfahren, sondern ein wenig um¬
schmeichelt werden. Kann ich diesen vorzüglichen Müller nicht einmal kennen
lernen? So ein gemeiner Kerl ist doch ganz sehenswert! Lad uns doch einmal
zusammen ein!
Aber Bodild, ich werde doch nicht den Herrn einladen, der meinem Manne
solchen schweren Schaden zugefügt hat. Und dann soll ich ihm auch noch die
Ehre erweisen, daß er deine Bekanntschaft macht?
Werde nicht so böse, Anneli! Man merkt, daß du niemals bei Hofe gewesen
bist und deinen ärgsten Feinden vergiftete Zuckerplätzchen gegeben hast. Na,
wenn du nicht willst, dann muß es so gut sein; ich wollte dir nur einen Vor¬
schlag machen.
Bodild kam auch gleich auf andre Gedanken, denn Dolly, auf die wir beide
warteten, erschien jetzt vom Schwanenweg her. Sie hatte zweimal wöchentlich
Konsultation bei ihrem Arzt, und heute war einer dieser großen Tage gewesen.
Sie war erregt und nicht so respektvoll gegen Bodild, wie ich es von ihr
erwartet hatte.
Anneli, warum hast du mir das nicht gesagt? Ich bin fast in Ohnmacht ge¬
fallen, so habe ich mich erschrocken! Ach die guten alten Zeiten! Man wird
doch gerührt, wenn man ihrer gedenkt! Du auch, Bodild, und dein Mann braucht
von der alten Geschichte natürlich nichts zu erfahren. Aber daß Anneli nichts
gesagt hat!
Was ist da? rief ich ungeduldig. Ich habe wirklich nichts zu erzählen, das
euch in Aufregung versetzen könnte.
So weißt du nicht, daß dein Onkel, der bekannte Schriftsteller Willi Pankow,
in Rolands Klinik angelangt ist und sich schon in die Kur begeben hat? Miß
Mason, unsre ehemalige Engländerin aus dem Pensionat Clairon, die wohl nachher
seine Haushälterin geworden ist, begleitet ihn. Ich habe sie gleich erkannt. Sie
ist natürlich nicht jünger geworden, aber noch merkwürdig gut konserviert. Ich
kam mir vor wie ein Schulkind, als ich ihre Stimme hörte. Sage nur, wie kommen
die hierher? Wohnte dein Onkel nicht noch in Luzern?
Gewiß! Ich selbst war nicht wenig überrascht. Onkel Willi hat noch immer
sein Landhaus in Luzern, und von dort her habe ich seinen letzten Brief erhalten.
Allerdings schreiben wir uns nicht sehr häufig. Er lebt still für sich hin und mag
nicht gern an die Außenwelt erinnert werden.
Nun, jetzt hat er sich in die Außenwelt begeben. Zwei Zimmer hat er mit
Miß Mason in der Klinik bezogen, und Doktor Roland war förmlich etwas auf¬
geregt. Er kennt doch auch deinen Onkel von früher her, und es ist ihm natürlich
interessant, ihn zu behandeln. Ich möchte wohl wissen, wie der alte Herr auf
Bärenburg und auf Roland gekommen ist.
Wahrscheinlich durch Lona Hellmund, sagte ich nach kurzem Nachdenken.
Durch wen? Dollys Stimme klang sehr scharf, aber ich achtete nicht darauf.
Weißt du denn nicht, daß Frau Päpke, die Wirtschafterin der Klinik, ehemals
Lona Hellmund hieß? Sie hat sich mir gleich zu erkennen gegeben, und ich kann
mir denken, daß sie noch immer etwas in Verbindung mit Onkel Willi steht. Er
hatte sie damals ganz gern, und . . .
Dolly unterbrach mich. Anneli, wie konntest du mir diese entsetzliche Tatsache
verschweigen? Lona Hellmund hier; die infam kokette Person, die sich so schamlos
hinter Bernb hermachte? Ich werde sofort die Stadt verlassen!
Dollys Stimme schlug fast um, und sie mußte sich auf einen der Stühle
setzen, die vor dem Gasthof standen. Bodild und ich suchten sie zu beruhigen, aber
sie weinte schon.
Ach Gott, ich soll mich hier erholen, und nun erfahre ich solche Nachricht!
Wer kann denn denken, daß diese Person noch lebt und meinen Frieden stört?
Bernb wollte mich gerade auf einige Tage besuchen, aber nun darf er natürlich
nicht kommen.
Bodild und ich hatten mit Dolly spazieren gehn wollen; aber sie erklärte jetzt,
daß sie sich hinlegen müßte. Da gingen wir also allein, und Bodild begleitete mich
in unser Haus. Sie hatte heute frei, wie sie sagte; ihr Mann hatte den Besuch
eines alten Freundes und konnte sie entbehren.
Was war es nur noch mit Lona Hellmund? fragte Bodild, als wir allein
durch die Straßen wanderten.
Ach, ganz und gar bringe ich die Geschichte auch nicht mehr zusammen. Aber
entsinnst du dich nicht, daß diese Lona im Hause meines Onkels in Luzern war?
Sie erzählte uns uoch so viele Liebesgeschichten. Dann, als mein Vetter Bernb
mit seinem Mentor, Doktor Weinberg, kam, fing sie den guten Jungen gleich ein
und wollte ihn heiraten. Es gelang ihr nicht; die Schlinge war denn doch zu
grob gedreht; aber Bernb kam doch einigermaßen in heißes Wasser, und —
Ich weiß jetzt. Er hätte sich beinah erschossen, wenn du nicht dazwischen ge¬
kommen wärst!
So schlimm wäre es vielleicht nicht mit ihm geworden, entgegnete ich lachend,
aber jedenfalls war die Geschichte etwas aufregend, und als ich Lona Hellmund
und ihre frechen Augen wiedersah, ärgerte ich mich. Daß aber Dolly sich so an¬
gestellt hat, finde ich töricht. Sie ist ihres Mannes ganz sicher. Der wird nicht
in Lona Päpkes Netze fallen.
Wir standen vor unserm Hause, und Bodild sah nachdenklich auf den kleinen
einfachen Bau und unsern grünen Garten.
Dolly wird sich schon beruhigen, sagte sie dann. Sie spielte sich schon früher
gern auf. Und vielleicht ist die Rolle, die sie in diesem kleinen Lustspiel über¬
nahm, nicht ganz klar gewesen. Aber es sind tsmxi ps-shall, die man besser ruhen
läßt. Ich für meine Person — sie atmete kurz auf. Lache mich nicht aus, Anneli,
aber ich glaube, daß ich deinem Onkel nicht begegnen kann. Ich schäme mich nicht
gerade so sehr, daß ich ihm meine Backfischliebe damals an den Kopf warf.
Manfred, dem ich die ganze Geschichte einmal erzählt habe, hat sich darüber
amüsiert. Er sagt, mit Backfischen passieren noch ganz andre Geschichten. Nein,
das ist es nicht, was mich abhält, deinen Onkel zu begrüßen. Aber ich fürchte
mich vor seinem Alter, und daß ich Mitleid für ihn empfinden könnte. Und daß
ich dann mich selbst und meine große Liebe von damals lächerlich finden müßte.
Nein, ich will ihn lieber nicht sehen.
Wie du willst. Auf diese Worte konnte ich nicht viel entgegnen, jedermann
hat seine eignen Empfindungen, und andre sollen nicht daran herumzerren. Wir
hatten jetzt andres zu reden. Harald, kam uns entgegen, und sein Gefolge, die
Rolands, waren anch schon da. Denn es war die nachmittägliche Kaffeestunde, die
sich die kleinen Mädchen nicht gern entgehn ließen.
Bodild sprach lange mit Harald, sah in seine schimmernden Augen und ließ
sich von seiner Schule berichten. Er stand da freimütig Rede und Antwort, und
sie lachte einigemale über ihn. Besonders, als er erklärte, nie in seinem Leben
Professor werden zu wollen.
Weshalb nicht? fragte die Fürstin.
Da muß man ewig lernen, hat niemals Ruhe vor den Büchern, und nachher
ist man dann doch nicht gelehrt genug.
Bodild warf mir einen Blick zu, der ihr Einverständnis mit seinen Worten
ausdrückte. Und dann setzte sie eine kleine Ermahnung hinzu, wie sie es Wohl für
ihre Pflicht hielt.
Werde mir gut und brav wie deine Mutter! Ich glaube, daß sie niemals
eine Unwahrheit gesagt hat.
Wechselte mein Junge die Farbe, oder bildete ich es niir ein? Jedenfalls
versuchte ich ein andres Thema und ließ Minchen vortreten, die schon lange darauf
brannte, mit Bodild zu plaudern.
Den Herrn Fürsten habe ich schon oft gesehen, wenn er bei Papa ist! sagte
sie wichtig. Frau Päpke kennt ihn auch. Er gibt ihr manchmal ein Fünfmarkstück,
wenn er nicht solange in der Sprechstunde warten will. Sie sagt, er ist ein
guter alter Kerl, und er kann noch lange leben I
Ich hatte diesen Redestrom nicht dämmen können. Wenn Minchen einmal
dran ist, dann läßt sie sich nicht unterbrechen. Bodild ließ nicht merken, daß sie
unangenehm berührt war, und fragte nach Minchens Mutter.
Die liegt jetzt den ganzen Tag im Bett. Papa hat ihr schon viel Medizin
verschrieben, aber es hilft alles nichts. Nun meint Frau Päpke, Mama sollte nur
lange verreisen. Sie sagt, der arme Doktor Roland, der müßte eine ganz andre
Frau haben!
Der Kaffee kam, und ich ließ Linchen und Stinchen, die zwei Trabanten, zu
Worte kommen. Sie sind nicht gewohnt, daß sie jemals etwas sagen dürfen, aber
da Harald gestern einen jungen Hund geschenkt erhalten hat, so konnten wir
hierüber reden. Haralds Hunde sind mir immer schrecklich, weil sie immer gleich
sterben. Andre Hunde werden doch groß; aber seine Pfleglinge überleben niemals
die Staupe, und wenn sie es tun, werden sie von irgendeinem Studenteuhunde
todgebissen.
Aber es nützt nichts; wir müssen immer wieder einen Hund haben, und ich
hänge mein Herz an ihn, um seinen kleinen Leib bald im Garten zu begraben.
Bodild lachte über mich und meine Klagen und ließ sich von Harald be¬
richten, daß ich einmal einen Hund gehabt hätte, dessen Name Cäsar war, und
der grausam an Brandwunden zugrunde ging. Harald kann die Geschichte mit einem
gewissen Wohlgefallen erzählen; er ist ein Junge und hat keine Nerven. Aber ich
suche nicht hinzuhören. Meine alten Kinderschmerzen tun manchmal noch weh.
Der Fürst war auch in der Stadt und holte nach einiger Zeit seine Gemahlin
mit dem Wagen ab. Er stieg auf einige Minuten aus, nahm von mir eine Tasse
Kaffee, sagte mir einige freundliche Worte und lud mich dringend ein, doch mit
Harald auf einige Tage nach Schloß Mieder zu kommen.
Wir sind ein wenig auf der Abreise! setzteer hinzu. Doktor Roland will mich
vorläufig entlassen. Und dann muß. ich nach meinem Besitz in Thüringen sehen.
Ich sah, wie Bodild große Augen machte; aber sie sagte nichts. Der Ent¬
schluß des Fürsten schien ihr neu zu sein. Ich aber mußte an Onkel Willi denken.
Der Fürst will ihm doch aus dem Wege gehn.
Noch einmal gingen wir allein durch unser Gärtchen und plauderten von allen
möglichen Dingen, bis sich der Fürst von mir verabschiedete, seine Einladung noch
einmal wiederholte und dann in den Wagen stieg. Gerade in dem Augenblick, wo
Professor Müller um die Ecke bog und sah, wie Bodild mich in die Arme schloß.
Auf weitere gute Freundschaft! sagte sie mit ihrer warmen, kräftigen Stimme,
grüßte noch einmal, und dann zogen die Pferde an.
Harald lehnte sich neben mich. Das ist eine nette Fürstin! meinte er wohl¬
wollend, und Minchen gab ihren Senf dazu.
Sehr nett, und ihr grünes Kleid war auch sehr hübsch, und sie hatte eine
grüne Feder. Tante Arrete, welche Vögel haben so große, grüne Federn!?
Ich antwortete nicht, denn Professor Müller lüftete den Hut vor mir bis auf
die Erde und fragte mich nach der Gesundheit meines Mannes.
Wir bedauern alle so sehr, daß er in diesem Semester nicht lesen kann! Was
ist es doch nur gewesen, daß er so Plötzlich zusammenbrach?
Ich hob die Schultern. Es ist vieles zusammengekommen, Herr Professor,
viele Arbeit, und dann noch ein großer Verdruß. Allerdings sollte er sich nichts
aus einem hämischen Anonymus machen, der ihn in einer unbekannten Zeitung angriff;
aber wenn die Nerven überreizt sind, kommt der Becher schnell zum Überlaufen.
Der Professor sah mich mit seinen blinzelnden Augen an.
Wie recht haben Sie, schöne Frau, daß man sich nicht um einen anonymen
Angriff grämen soll. Mau tut es eigentlich auch nur, wenn man sich getroffen
fühlt, und dieser Fall ist hier ja ganz ausgeschlossen. War diese Dame nicht die
Fürstin Monreal mit ihrem Gemahl?
Ich bejahte kurz, und Herr Müller blieb noch neben mir stehn.
Die Fürstin ist wirklich eine vornehme Erscheinung. Nicht gerade hübsch,
aber voll von Nasse. Dem alten Fürsten sieht man nicht an, daß er ein so wert¬
volles Archiv besitzt.
Ich weiß nicht, wie mir plötzlich der Gedanke an die vergifteten Zuckerplätzchen
kam, von denen Bodild sagte, daß mau sie seinen Widersachern geben müßte. Aber
ich zwang mich zu einem halbwegs freundlichen Lächeln.
Die Fürstin möchte Sie gern kennen lernen, Herr Professor. Sie fragte
mich, ob ich Sie beide nicht zusammen einladen wollte. Das kann ich nicht gut,
aber wenn Sie Ihren Besuch auf Schloß Mieder machen wollen, müsse» Sie sich
beeilen. Die Herrschaften werden sehr bald wegreisen.
(Fortsetzung folgt)
Wir erwähnten schon in der letzten Betrachtung, daß die Zeit, die jetzt heran¬
naht, nur äußerlich eine Zeit der Stille und der Ereignislosigkeit auf innerpolitischem
Gebiete ist. In Wahrheit ist es eine Zeit der Vorbereitung der Mobilmachung
und des Aufmarsches für den parlamentarischen Winterfeldzug. In diesem aber
steht uns ein großer Entscheidungskampf bevor, der Kampf um die Reichsfiuanz-
refvrm. Er muß diesmal zu einem guten Ende geführt werden, denn das Wort,
das man in politischen Waffengängen so oft hört, ohne daß es gerade besonders
ernst genommen wird, nämlich die Redewendung: „So wie bisher kann es nicht
weitergehn!" — dieses Wort ist hier im allerbittersten Ernst zu versteh».
Die Gefahr, die vor allem überwunden werden muß, ist die, daß der Ernst
dieser Lage nicht überall in vollem Umfange erkannt wird. Die Regelung der
Finanzfrage steht in engem Zusammenhange mit der sozialen Frage und in der
auswärtigen Politik mit dem Ansehen des Reichs. Denn die Behandlung der
Steuerfragen ist die beste Gelegenheit, sozialen Unfrieden zu stiften, und das Aus¬
land hofft, wie wir schon neulich erwähnten, daß sich aus unsern Finauznöten, von
denen man sich außerhalb der Rcichsgrenzen eine ganz falsche Vorstellung macht,
über kurz oder lang der Zusammenbruch unsrer gefürchteten militärischen Macht
und eine dauernde Schwächung des deutschen Wettbewerbs im Welthandel ergeben
werde. Deshalb müssen wir auf dem Gebiete der Finanzen endlich zu klaren, fest-
geregelteu Zuständen kommen.
Man möchte freilich erstaunt fragen: Ist es denn überhaupt möglich, daß ein
Politiker die ernste Bedeutung dieser Frage verkennt und die Gesundung unsrer
Finanzwirtschaft zu gering einschätzt? Leider kann die Antwort auf diese Frage
nicht so befriedigend lauten, wie es zu wünschen wäre. Wenn sich auch der Partei¬
geist auf vielen Gebieten vor der Macht der gesunden, instinktiven Erkenntnis der
vaterländischen Gesamtinteresfen zurückziehen muß — die Fragen des Geldbeutels
betrachtet er doch noch immer als seine Domäne. Und im Vertrauen auf diese
leidige Erfahrung wird auch jetzt der frivole Versuch erneuert, die Entscheidung
über die Reichsfinanzreform zu einem Handelsobjekt der Parteien zu machen. Zwar
die Blockparteien im ganzen musz man von diesem Vorwurf freisprechen. Sie
werden natürlich die finanzpolitischen Grundsätze ihres Parteiprogramms nicht ohne
weiteres verleugnen, sondern sie so weit als möglich zu verwirklichen streben.
Darin eine Verletzung der Grundsätze der Blockpolitik zu sehen, würde ganz un¬
gerechtfertigt sein. Verhängnisvoll für das Schicksal der Reform könnte es nur
werden, wenn die Bestrebungen des Demokratischen Vereins, wie sich die Barth-
gruppe nennt, in freisinnigen Kreisen so weit Boden gewinnen, daß die Partei
sich dem Übeln Rat zuneigt, der ihr von dieser Seite gegeben wird, nämlich die
Reform des preußischen Wahlrechts als Kaufpreis für die Zustimmung zu deu
Vorschlägen des Finanzreformprojekts zu verlangen. Die Zeiten ändern sich! Der
Kunstausdruck „Kuhhandel" für diese Art von politischen Geschäften ist einst von
Freisinnigen geprägt worden, um damit ihre schärfste grundsätzliche Verurteilung
dieser Methode auszudrücken. Jetzt sind es die Leute, die sich selbst für die Ver¬
körperung des einzig echten, gesinnungstüchtigen und prinzipienfesten Liberalismus
halten, von denen die Empfehlung eines besonders frivolen politischen Kuhhandels aus¬
geht. Ein würdiges Seitenstück zu dem Wahlterrorismus der Sozialdemokratie, die
früher die Unmoralität der Wahlbeeiuflussnngen gar nicht leidenschaftlich genug brand¬
marken konnte. Auch im demokratischen Lager heiligt der Zweck die Mittel.
Die Hindernisse, die sonst der Verständigung der Parteien über die Reichs¬
finanzreform entgegenstehn, sind zum größten Teil erst dnrch die Gewohnheiten
des Parteiknmpfes aufgetürmt worden. Die Einigung würde verhältnismäßig leicht
sein, wenn die Herrschaft der so oft wiederholten Schlagworte nicht den Rückzug
erschwerte. Die Liberalen haben sich auf die Gegnerschaft gegen eine weitere Aus¬
nutzung der Verbrauchssteuern festgelegt, die Konservativen auf ihre Gegnerschaft
gegen die Ausgestaltung der Erbschaftssteuer. Aber vielleicht liegt gerade darin,
daß zwei Projekte zur Erörterung stehn, von denen jedes seine Gegner auf einer
andern Seite hat, die Möglichkeit der Verständigung. Viel schlimmer wäre es,
wenn der ganze Neformplan entweder die Rechte oder die Linke gegen sich hätte.
Die Einzelheiten der Reform stehn zwar noch nicht fest, und die Negierung ist
begreiflicherweise nicht geneigt, ihre Absichten der Öffentlichkeit zu unterbreiten, ehe
die Sache nicht im Bundesrat vollständig ins reine gebracht worden ist. Aber
es ist doch ein offnes Geheimnis, daß der Ausbau der Erbschaftssteuer und eine
Neugestaltung gewisser Verbrauchssteuern gleichzeitig in Frage kommen müssen. Ist
das der Fall, dann kann nur etwas zustande kommen, wenn die Konservativen in
dem einen, die Liberalen in dem andern Punkte nachgeben. Das ist kein „Kuh¬
handel", der eine gar nicht zur Sache gehörige Frage, wie das Wahlrecht eines
Bundesstaats, in die Erörterung hineinzieht, sondern ein reinliches Kompromiß, wie
es in der Gesetzgebungsarbeit des modernen Staates natürlich und notwendig ist.
Es ist nur in den seltensten Fällen möglich, daß eine Partei eine Forderung ihres
Programms in vollem Umfange verwirklichen kann. Daher bedeutet das Nachgeben
bei der Beratung einer Gesetzvorlage praktisch gar nicht so viel, wie den Wählern
in Zeitungen und politischen Versammlungen künstlich eingeredet wird. Wenn aber
dieses Nachgeben in einem Punkte direkt mit einem Erfolg der Parteiprinzipien in
einem andern Punkte verbunden ist, dann müssen bei verständigen Politikern die
Bedenken schwinden, die sonst vielleicht vom Standpunkt der politischen Moral und
der Prinzipientreuc erhoben werden könnten.
Eine weitere Frage würde sein, ob nicht durch die Gestaltung der Reform im
einzelnen dieses durch die Umstände ohnehin gebotne Kompromiß noch erleichtert
werden könnte. Die Gegnerschaft der Konservativen gegen die Erbschaftssteuer
gründete sich auf grundsätzliche und praktische Bedenken. Die grundsätzlichen Be¬
denken werden allerdings wohl zu überwinden sein. Man hat nämlich gemeint,
das; es sich zwar rechtfertigen lasse, wenn der Staat in gewissen Fällen bei dem
Übergang eines Vermögens aus eiuer Hand in die andre eine gewisse Quote be¬
anspruche, daß aber eine Verallgemeinerung dieses Rechts durch seine Ausdehnung
ans alle Fälle des regelrechten Erbgangs nichts andres bedeute als eine grundsätz¬
liche Beschränkung des Eigentumsrechts. Deshalb enthalte die Begründung einer
allgemeinen, auch auf Deszendenten ausgedehnten Erbschaftssteuer eine Anerkennung
einer sozialistischen Staatsanschannng. Das mag ja auch richtig sein, aber wir
fürchten, daß wir bei Annahme dieser Ansicht aus dem sozialistischen Staat gar
nicht mehr herauskönnen. Wenn das Sozialismus ist, so stecken wir schon bis
über die Ohren darin, und es kann uns recht gleichgiltig sein, ob uns noch ein
kleines Stück Sozialismus mehr beschert wird. Warum eine Einkommensteuer
weniger sozialistisch sein soll als eine Erbschaftssteuer, ist schlechterdings nicht ein¬
zusehen. Wir glauben daher, daß diese theoretischen, grundsätzlichen Bedenken nur
Vorgeschoben werden, um gewisse praktische Befürchtungen wirtschaftlicher Art noch
etwas mehr zu unterstreichen. Diese Befürchtungen beruhen wohl im wesentlichen
darauf, daß eine mechanisch gehende, halbe, nicht genügend durchdachte Erbschafts¬
steuer den Jmmobilienbesitz härter trifft als das bewegliche Kapital, und daß diese
Wirkung den Konservativen vorzugsweise unsympathisch ist, wird leicht zu versteh«
sein. Hier wird also die Arbeit des Gesetzgebers im besondern einzusetzen haben,
um die Erbschaftssteuer so zu gestalten, daß solche Härten ausgeglichen werden,
und damit könnten sich auch die Liberalen einverstanden erklären, ohne sich etwas
zu vergeben. Denn dafür erreichen sie etwas, was ihren eignen Forderungen
entspricht, nämlich daß der Schwerpunkt der Neichseinnnhmen nicht mehr aus¬
schließlich in den Verbrauchssteuern und den Beiträgen der Einzelstaaten liegt,
sondern das Vermögen der Reichsangehörigen unmittelbar für den Finanzbedarf
des Reichs herangezogen wird. Denn wie auch die Doktorfrage entschieden werden
mag, ob die Erbschaftssteuer zu den direkten oder indirekten Steuern gehört, sie
ist zweifellos eine Vermögenssteuer. Daß sie nur die Vermögen trifft, die infolge
Todesfalls in eine andre Hand übergehn, macht sie weniger lästig als die periodisch
zu erhebende Vermögenssteuer im engern Sinne, ändert aber an ihrem Charakter
nichts. Und das kann in liberalen Augen doch nur als Vorzug gelten.
Daß eine Neuregelung der Verbrauchssteuern den andern Teil des Programms
bilden muß, ist unvermeidlich. Dieser Einsicht werden sich die Liberalen auch als
grundsätzliche Gegner der indirekten Besteuerung des Massenverbrauchs nicht ver¬
schließen können. Das Schlagwort von der Verteuerung der notwendigen Lebens¬
mittel wird in diesem politischen Kampfe wieder eine große Rolle spielen, und der
Begriff des notwendigen wird dabei auch auf Besteuerungsobjekte ausgedehnt, die
zwar als Gegenstände des gewohnheitsmäßigen Massenverbrauchs nahezu unent¬
behrlich geworden sind, aber doch nicht zu den eigentlichen Lebensbedürfnissen gerechnet
werden können. Man wird aber daran festhalten müssen, daß die Besteuerung von
Verbrauchsartikeln wie Bier, Tabak und Branntwein als Einnahmequelle gar nicht
zu entbehren ist. Es kann also auch hier uur darauf ankommen, für diese Steuern
eine Form zu finden, die gewisse Abstufungen gestattet, sodaß der Luxus und der
reichliche Verbrauch des Wohlhabenden mehr getroffen wird als der zwar ebenfalls
nicht direkt notwendige, aber einem Bedürfnis nahekommende Verbrauch des armern
Mannes. Aus den Verbrauchssteuern der genannten Art lassen sich sehr wohl höhere
Erträge ziehen, ohne daß von einer ungerechten Belastung der ärmern Klassen die
Rede zu sein braucht.
Neuerdings ist die öffentliche Meinung wieder mit einer neuen Krisis im
Deutschen Flotteuverein beschäftigt. Die Hoffnung, der wir hier vor einigen Wochen
Ausdruck gaben, daß die Danziger Verständigung ein dauernder Friede sein werde,
hat sich nicht erfüllt. Fürst Salm wollte sich nach den gemachten Erfcchrnngen zur
Annahme des Präsidiums nicht eher entschließen, als bis er eine gewisse Sicherheit
dafür erhielt, daß ihm die Führung der Geschäfte im Sinne der Danziger Resolution
nicht durch Quertreibereien erschwert würde. Es war zu fürchten, daß es politischen
Ränkespinnern, die den Verein gern unter bestimmte Parteieinflüsse bringen möchten,
wiederum gelingen könnte, das Ohr fürstlicher Protektoren des Vereins zu gewinnen
und so auch an einer Stelle ihren Willen durchzusetzen, der gegenüber das Präsidium
unter allen Umständen machtlos ist. Fürst Salm wollte also nicht eher annehmen,
bis er die ihm zugesicherte Audienz beim Kaiser erhalten und dessen Willensmeinung
gehört hatte. Darüber verging einige Zeit, und sie wurde gründlich von denen
ausgenutzt, die ihre Souderwünsche in Danzig nicht genügend befriedigt sahen. Noch
ehe die Entscheidung gefallen war, veranstaltete der bayrische Landesverband eine
Delegiertenversammlnng, wobei die scheinbar loyale Zurückhaltung, die die Bayern
in Danzig beobachtet hatten, eine seltsame Beleuchtung erfuhr. Die Erwartung, die
einige Optimisten gehegt hatten, daß nach dem Friedensschluß jetzt auch die alten
bayrischen Führer freiwillig zurücktreten würden, um die Erinnerung an den Zwist
zu begraben, so wie das alte Präsidium, obwohl es die Mehrheit hinter sich hatte,
die Personen der Sache geopfert hatte — diese Erwartung wurde getäuscht. Die
Bayern behielten ihre alten Führer, die den ganzen Streit entfesselt hatten und
genug Beweise hatten, daß die Mehrheit der Vereinsmitglieder im Reiche ihnen
das entschiedenste Mißtrauen entgegenbrachte. Aber nicht genug damitI Einer dieser
Führer, Regierungsrat von Braun, erklärte in der Versammlung öffentlich, daß
die Bayern den Fürsten Salm für eine ungeeignete Persönlichkeit hielten und seiner
Wahl nur zugestimmt hätten, weil sie erwarteten, daß er die Wahl nicht annehmen
werde. Als ferner in der Versammlung auf die Danziger Resolution hingewiesen
wurde, erklärte Herr von Braun mit bemerkenswerten Zynismus, daß Resolutionen
keine bindende Bedeutung hätten. Das war also der offne Friedensbruch, ein offnes
Bekenntnis zur Illoyalität. Da nun überdies Fürst Salm in der Audienz beim
Kaiser die erhellte Zusicherung — sie soll in der Bitte um Jmmediatvortrag der
Flottenvereinssachen bestanden haben — nicht erhielt, so lehnte er die Wahl zum
Präsidenten des Vereins ab. Diese Entscheidung, die nun dem Danziger Frieden
jede Bedeutung nahm und den vollen Sieg der bayrischen Minderheit bedeutete,
beantworteten viele Ortsgruppen und auch einige größere Verbände mit dem Aus¬
tritt aus dem Verein. Eine neue Krisis war da.
Einstweilen scheint es, als ob das vertrauenswürdige Auftreten des neuen
Präsidenten, des Großadmirals von Köster. sie beschwören werde. Er hat bei An¬
nahme des Präsidiums die bestimmte Erklärung abgegeben, daß er die Geschäfte
im Sinne der Danziger Resolution leiten und die Unabhängigkeit des Vereins
nach allen Seiten wahren werde. Daraufhin haben verschiedne Landes- und
Provinzialverbände, die sich schon mit dem Gedanken des Austritts aus dem Verein
getragen hatten, ihr Verbleiben im Verein beschlossen. Wenn sich daran auch der
Wunsch und die Hoffnung knüpfen läßt, daß die Einigkeit vielleicht erhalten bleibt,
so ist doch leider nicht zu leugnen, daß die Sicherheit, zu einem dauernden Frieden,
zu einem wirklichen Abschluß der Krisis gelangt zu sein, in diesem Augenblick noch
nicht gegeben ist. Denn der Massenaustritt ist nur durch die Überzeugung ver¬
hütet worden, daß der alte Kurs im Flottenverein beibehalten werden soll. Da
aber in Bayern noch dieselben Männer an der Spitze sind, die das Festhalten an
diesem alten Kurs immer und immer wieder zum Anlaß friedenstörender Schritte
genommen haben, so ist nicht zu erwarten, daß die Bayern Ruhe halten, wenn das
neue Präsidium ernstlich im Sinne der Bekundungen des Großadmirals von Köster
handeln will. Eine Weile nach dem Tage von Danzig konnte man wohl glauben,
daß die bayrische Minderheit, nachdem sie den Sturz des frühern Präsidiums
der Mehrheit abgetrotzt hatte, ihren Terrorismus fallen lassen würde. Aber dieses
Vertrauen ist seitdem erschüttert worden, und inzwischen ist auch in vielen Kreisen
des Flottenvereins der Zorn gegen diesen Minderheitsterrorismus so sehr gestiegen,
daß neue Forderungen von bayrischer Seite eine Spaltung im Verein zur not¬
wendigen Folge haben müßten. So bedauerlich eine solche Spaltung wäre, so wäre
sie doch immer noch einem Zustand vorzuziehen, der die Gesamtheit der Vereins¬
mitglieder zwänge, ihre Tätigkeit nach den Wünschen der Bayern einzurichten. Das
würde aus zwei Gründen verhängnisvoll sein.
Der erste dieser Gründe bezieht sich auf die Stellung Bayerns zum Deutschen
Reich. Wir sind über die Zeiten hinaus, in denen noch eine ernstliche Besorgnis
aufkommen konnte, die Festigkeit des Neichsbaues könne irgendwie erschüttert, die
Existenz des Reichs in Frage gestellt werden. Je weniger wir daran zu denken
brauchen, desto unbefangner können wir den bundesstaatlichen Charakter des Reichs
aufrechterhalten und den Einzelstaaten ihr Recht lassen. So finden wir es sehr
natürlich, daß dem zweitgrößten deutschen Bundesstaat eine möglichst weitgehende
Berücksichtigung zuteil wird, weil es der Entwicklung unsers nationalen Lebens
nicht zuträglich sein würde, wenn in dem größten deutschen Staate südlich der
Mainlinie das Gefühl Platz griffe, daß dieses große deutsche Gebiet nicht in
seiner geschichtlich berechtigten Bedeutung erkannt und unter Währung der gesetz¬
lichen Formen rücksichtslos majorisiert und ausgeschaltet würde. Jeder verständige
Deutsche wird deshalb nach dem uns von Bismarck gegebnen Beispiel damit ein¬
verstanden sein, daß sich namentlich Preußen hütet, gerade Bayern gegenüber
ohne Not sein natürliches Übergewicht als größter und führender Staat im Reiche
geltend zu machen. Es schadet auch gar nichts, Wenn in solchen Fragen, wo jeder
einzelne Bundesstaat als Ganzes seine Stimme in die Wagschale zu legen hat,
durch die Courtoisie Preußens das bayrische Gewicht im Rate der deutschen Stämme
etwas schwerer wiegt, als es im Grunde gerechtfertigt ist. Preußen kann das ver¬
tragen und erwartet dafür auch keinen Dank aus dem Lager jener Bajnwaren,
denen es Lebensbedürfnis ist, auf Preußen zu schimpfen. Aber ein gewisses Gegen¬
gewicht muß doch vorhanden sein. Es muß wenigstens einige Dinge geben, in
denen das deutsche Volk nicht nur geistig und kulturell, sondern auch politisch eine
Einheit darstellt, und die in dieses Gebiet fallenden Fragen müssen einheitlich be¬
handelt werden. Eine solche Angelegenheit ist in erster Linie die deutsche Flotte.
Es ist absolut unerfindlich, was der Staat Bayern für Sonderinteressen in Flotten¬
fragen haben kann, außer dem einzigen, daß die bayrische Bevölkerung ein Bruchteil
des deutschen Volks ist. Und wenn in diesem Volke das Bedürfnis entsteht, in freier
Vereinstätigkeit das Verständnis für die deutsche Seemacht zu fördern, so liegt auch
nicht ein Atom von einer moralischen Berechtigung für die bayrische Forderung vor,
daß das ganze deutsche Volk nach der Pfeife der bayrischen Minderheit tanzen soll.
Es kann vor allen Dingen auch nicht im bayrischen Interesse liegen, daß sich im
ganzen Reiche eine gewisse Entrüstung gegen Bayern ansammelt, und daß der An-
Spruch der Bayern, in allem und jedem eigne Wege zu gehn und über das
sachlich berechtigte Maß hinaus berücksichtigt zu werden, einem Unwillen begegnet,
der sich auch auf die Fragen überträgt, in denen die Neservatstelluug Bayerns bisher
berechtigt erschien. Wenn die bayrischen Treibereien im Flottenverein fortdauern,
wird damit eine jetzt noch mühsam zurückgedrängte Stimmung gefördert, die im
nationalen Interesse tief bedauerlich ist. Nicht die Festigkeit des Reichs, wohl aber
das Vertrauen der besten nationalen Kreise wird erschüttert, wenn der Eindruck
bestätigt erscheint, daß Richtungen, die in der Reichspolitik glücklich zurückgedrängt
sind, gleichwohl ihren Willen durchsetzen, wenn es ihnen gelingt, in dem Gewände
bayrischer Wünsche— womöglich unter Benutzung dynastischer Empfindlichkeiten —
wieder zu erscheinen.
Ein zweiter Grund, weshalb wir den Sieg der Bayern im Flottenverein be¬
dauern, ist die Beobachtung, daß die politische Betätigung des deutscheu Volks in
der Regel nur die Wahl kennt zwischen Indolenz und Nörgelei. Der Deutsche be¬
tätigt sich politisch entweder gar nicht oder negativ. Hat er einen Führer, dem
er Vertrauen schenkt, und mit dem er einverstanden ist, so läßt er sich führen, legt
die Hände in den Schoß und schlummert ein. Ist das Gegenteil der Fall, so
verfällt er in eine allgemeine Stimmung der Unzufriedenheit und betreibt eine ge¬
fühlsmäßige, unfruchtbare Opposition, die den Charakter der unpraktischen Prinzipien¬
reiterei oder der lächerlichen Nörgelei und Besserwisserei annimmt. Wenn unsre
innerpolitischen Zustände im Auslande so leicht zu diskreditieren sind, wenn unsre
Regierung nach außen hin autokrntischer erscheint, als sie es in Wahrheit ist, wenn
man im Auslande jedes nicht oppositionelle deutsche Urteil in politischen Dingen
für abhängig, von der Negierung befohlen hält, so liegt das im wesentlichen daran,
daß jede politische Bewegung, die bei uns aus freier Zustimmung die Regierung
in ihren nationalen Aufgaben unterstützt, sich ängstlich zurückhält und ihre Überein-
stimmung mit der Negierung bis zu einem Grade markiert, der die Zweifel an
ihrer Unabhängigkeit mindestens erklärlich macht. Der Flottenverein war die erste
Organisation, die auf dem beste» Wege war, weite Kreise des deutschen Volks nicht
in der Negation, sondern zu freier, selbständiger Arbeit an einer großen nationalen
Aufgabe zusammenzufassen. Das war nicht mir um sich nützlich, sondern auch als
Beispiel wertvoll; man konnte darin den Anfang einer wirklichen politischen Er¬
ziehung des deutschen Volks sehen. Diese verheißungsvoller Anfänge sind durch
Machenschaften einer Partei, die es verstanden hat, ihren Anteil um der Sache ge¬
schickt zu verbergen und dafür behördliche Rechthaberei und dynastische Empfindlichkeit
auf ihre Seite zu bringen, schwer bedroht, wenn es nicht gelingt, den Kurs des
Flottenvereins von der bayrischen Minderheit unabhängig zu erhalten. Die Be¬
sorgnis, daß das freie Schalten der Kräfte im Flottenverein ein Regiment von
Heißspornen herbeiführen werde, ist nur dann begründet, wenn die Regierung es
dauernd verabsäumt, zu. einer solchen nationalen Bewegung das rechte Verhältnis
zu gewinne», das heißt den Strom selbst gewähren zu lassen, aber das Nötige zu
tun, um das Wasser dieses Stroms im gegebnen Augenblick auf ihre Mühlen
leiten zu können. Wir hoffen, man wird mit dem Flottenverein trotz allen Hinder¬
nissen doch noch dahin kommen.
Dernburgs Fahrt nach Südwest ist nach wie vor im Augenblick das
Wichtigste, was die kolonialen Gemüter bewegt. Allerdings sorgt der Staatssekretär
dafür, daß die Gemütsbewegung nicht zu heftig wird. Er schweigt sich gründlich
aus, und da er diesmal die Berichterstatter zu Hause gelassen hat, so erfährt man
rein gar nichts von interessanten Gesprächen, bedeutsamen Reden. Dernburg hat
von seinen ostafrikanischen Ersahrungen in dieser Beziehung genug, was man ihm
nicht verdenken kann. Es ist ja auch für uns nicht übermäßig wichtig, was in
Britisch-Südafrika bei Frühstück und Diner an Liebenswürdigkeiten ausgetauscht
worden ist. Der Besuch auf englischem Boden diente ja mehr der persönlichen
Information Dernburgs, die Beziehungen zwischen den deutschen und englischen
Kolonien aber werdeu anderswo geregelt. Wichtiger wird die Reise für uns, so¬
bald der Staatssekretär deutschen Boden betritt, was in diesen Tagen von Prieska
aus über Upington in Mamas, der deutschen Grenzstation, geschehen wird. Denn
die Fragen, in denen Dernburg in Ostafrika einen von dem der Mehrheit
der kolonialen Kreise abweichenden Standpunkt eingenommen hat, sind für Süd¬
west beinahe noch in höherm Maße Lebensfragen als in Ostafrika. Ich meine die
Eingebornenfrage und die Besiedlungsfrage. Vernünftigerweise wollen die
südwestafrikanischeu Ansiedler deswegen dem Staatssekretär nicht voreingenommen
gegenübertreten. Diese Auffassung der Sachlage, die zunächst in einer Farmer-
Versammlung zum Ausdruck kam, ist recht verständig und spricht für die politische
Reife unsrer Landsleute drüben. Wie diese im übrigen über die Eingebornenfrage
denken, und daß fie keineswegs aus ihrem Herzen eine Mördergrube machen, geht
daraus hervor, daß in jener Versammlung unter Zustimmung der Beteiligten be¬
tont wurde, daß es immer noch Zeit sei, Stellung zu nehmen, falls Dernburg die¬
selbe Eiugebornenpolitik für Südwestafrika einleiten wolle wie für Ostafrika. Wo¬
nach zu richten! Es wird wohl auch nicht zu schlimm kommen, denn Dernburg
wird schließlich selbst einsehen, daß er mit seiner Ausnahmeauffassuug nicht durch-
dringen wird, sondern sich nach den Anschauungen des deutschen Volks zu richten
hat. Und diese entsprechen einem gemäßigten, durch natürliches Gerechtigkeitsgefühl
und Kulturbewußtseiu geläuterten Herrenstandpunkt. Und was die Besiedlungs¬
frage anlangt, so wird wohl Dernburg deutlich genug herausgefühlt haben, daß
Südwest nach unserm Volksempfinden in erster Linie dem unternehmenden deutschen
Mann eine neue Heimat werden soll, nicht ausschließlich ein Arbeitsfeld für
kapitalistische Unternehmungen. Und es sollte in dieser Richtung nicht gespart
werden. Wo ein tüchtiger Ansiedler aus Mangel an Kapital nicht weiter kommen
kann oder den zweifellos kommenden ungünstigen Übergangsjahren nicht gewachsen
ist, da soll das Mutterland einspringen und darum von vornherein dafür sorgen,
daß für solche Zwecke ein Fonds da ist, um Krcdilvereinigungen der Ansiedler ins
Leben zu rufen oder um sie in schweren Jahren über Wasser zu halte». Mit einige»
hunderttausend Mark, erst recht mit wenigen Millionen, wie sie bei uns alljährlich
für weit überflüssigere Dinge ausgegeben werdeu, ist da viel zu machen. Und
was bedeuten diese verhältnismäßig kleinen Opfer gegenüber dem dauernden Ge¬
winn für unser Volkstum? Es wäre denn doch etwas armselig, wenn wir nicht
verstünden, unsern eignen Kolonien die weltbekannten kolonisatorischen Fähigkeiten
des Deutschen, denen viele Länder der Erde ihren Wohlstand verdanken, dienstbar
zu machen und diese Fähigkeiten endlich einmal unter deutscher Flagge betätigen
zu lassen.
Eine gute Probe haben wir ja schon in unsrer südwestafriknnischen Kolonie.
Unsre Landsleute können sich mit ihren Leistungen sehen lasten, und an Gemeinsinn,
Politischein und wirtschaftlichem Verständnis fehlt es ihnen keineswegs. Das haben
sie bewiesen, indem sie ohne Murren die ans der Selbstverwaltung erwachsenden
Lasten auf sich nahmen, die in Anbetracht der durch den Aufstand geschaffnen unge¬
sunden Verhältnisse recht empfindlich sind. Darauf muß Bedacht genommen und
jede weitere Belastung vermieden werden, bis die nächsten Jahre überwunden und
wieder normale Verhältnisse in der Kolonie eingekehrt sind.
Bei dieser Gelegenheit und im Zusammenhang damit noch ein paar Worte über
die vielbesprochne deutsch-englische Interessengemeinschaft in Südafrika. Wir haben
schon wiederholt betont, daß eine solche Interessengemeinschaft sich zunächst auf wirt¬
schaftliches Gebiet und das Gebiet der Eingevornenpolitik erstreckt. Eine solche
Interessengemeinschaft ist aber auch die Grundlage einer gesunden politischen Ent¬
wicklung in Südafrika. Wie lebhaft die Unabhängigkeitsbestrebnngen der englischen
Kolonie Südafrikas sind, ist nur zu bekannt. Die treibende Kraft ist dabei das
überwiegende burisch-holländische Element der Bevölkerung, das auch in unsrer
Kolonie heute noch einen recht beträchtlichen Teil der Bevölkerung ausmacht, notorisch
den am schwersten lenkbarem. Das ist beizeiten zu beachten. Für unsre Kolonie
werden die Zeiten nicht ausbleiben, wo sich das gemeinsame Interesse mit dem
übrigen Südafrika auf wirtschaftlichem Gebiet und damit das Anschlußbedürfnis
lebhaft geltend machen wird. In einer rein oder vorwiegend deutschen Kolonie
wird das nicht viel schaden. Denn' das stärkste Band bilden schließlich Volkstum
und Sprache. Aber die Klugheit wie die Liebe zu unserm jungen Deutschland
jenseits des Meeres gebietet uns, dieser Entwicklung entgegenzukommen, indem wir
jetzt schon eine Interessengemeinschaft auf wirtschaftlichem Gebiete anbahnen, um zu
verhindern, daß sich ein politisches Anschlußbedürfnis eines Tages geltend macht.
In London wird man dies nicht minder beachten müssen, denn diese Taktik ist das
beste Mittel zur Dämpfung allzu lebhafter Unabhängigkeitsbestrebungen. Das
Interesse des Mutterlandes läßt sich deswegen doch einigermaßen wahren. Vor¬
aussetzung muß für uns sein, daß in allen Teilen von Deutsch-Südwest das
Deutschtum das Übergewicht hat, daß sich nirgends etwa burische Bezirke bilden,
namentlich nicht im Süden, kurz und gut, daß unsre Kolonie deutsch ist in ihrem
innersten Wesen. Sonst sind solche Experimente gefährlich. Dernburg wird gewiß
sein Augenmerk darauf richten.
Von besondern? Interesse gerade für unsre südwestafrikanische Kolonie ist
übrigens die Deutsche Ansiedlerschule, die in Hohenheim in Württemberg im
Anschluß an die dortige landwirtschaftliche Hochschule ins Leben gerufen werden
soll. Wenn man an die besondern kolonisatorischen Fähigkeiten der Schwaben denkt,
so verdient das Unternehmen entschieden Beachtung. Es soll die alte Kolvnialschule
in Witzenhausen ergänzen, indem es vorzugsweise Kleinsiedlern, Handwerkern,
Technikern in ein- bis anderthalbjährigem Lehrgang die für die Kolonien notwendige
Vorbildung geben will. Zur Verwirklichung des Gedankens hat sich ein Verein in
Stuttgart gebildet, der natürlich der Unterstützung durch Zeichnung von Beiträgen
bedarf. Wem die Besiedlung der Kolonien durch deutsche Auswandrer am Herzen
liegt, der tut ein gutes Werk, wenn er sich an der Verwirklichung dieses Unter¬
nehmens beteiligt.
Zum Schluß sei noch eines alten Kolonialpioniers gedacht, der jetzt nach
zwanzigjähriger Tätigkeit in den deutschen Kolonien in den Ruhestand tritt. Wir
meinen Jeskv von Puttkamer, den bisherigen Gouverneur von Kamerun. Wie
bei allen andern Kolonialskandalen so ist auch beim Fall Puttkamer sozusagen nichts
herausgekommen als eine nicht geringe Blamage für die, die ihn angerührt
haben. Kleine Entgleisungen berechtigen nicht dazu, einen verdienten, im schweren
Kolonialdienst ergrauten Mann seiner Verdienste zu berauben. Puttkamer ist und
bleibt der Mann, der den Grund gelegt hat zu einer erfreulichen Entwicklung
unsrer Kolonie Kamerun. Man kann ihm nur wünschen, daß sein otwm ouiü
äiKnitaw recht lange dauern und er noch die Früchte seiner Lebensarbeit erleben
möge. Lino ira se swclio betrachtet ist Puttkamer das Urbild des deutschen
meer den Vorzügen, denen die deutsche Armee ihre Erfolge von
1866 und von 1870/71 verdankte, nahm die einheitliche Ge¬
schlossenheit des Offizierkorps nicht den letzten Platz ein. In
der österreichischen wie in der französischen Armee gab es zwei
scharf abgesonderte Bestandteile, von denen der eine aus dem
Unteroffizierstande hervorgegangen war. Für den andern war weniger die
Zugehörigkeit zu den obern gesellschaftlichen Schichten als eine höhere Bildung
nötig. Nicht nur zwischen diesen beiden Klassen klaffte ein tiefer Spalt, selbst
innerhalb der zweiten fehlte infolge der verschiedenartigen Herkunft jeder innere
Zusammenhalt. Der Begriff der Kameradschaft blieb daher, sogar trotz des
vertraulichen „Dus" unter den gleichen Dienstgraden in Österreich, ziemlich tot.
Nach dem Dienst ging jeder Offizier seine eignen Wege.
Den diametralen Gegensatz hierzu bildete die damalige preußische Armee. Zu
der gleichen Bildungsstufe gesellte sich ein eng gezogner, hauptsächlich auf den
Adel und das höhere Beamtentum beschränkter Kreis des Offizierersatzes. Nur die
SpezialWaffen fielen etwas aus diesem Rahmen heraus. Auch die Armee--
reorgcmisation von 1859 hatte keine namhafte Bresche gelegt. Einen Unterschied
zwischen den einzelnen Regimentern und Waffengattungen machte höchstens die
damals noch unbedeutende Abstufung in der Wohlhabenheit. Ein festes Band
der Kameradschaft umschlang deshalb nicht nur den einzelnen Truppenteil,
sondern die ganze Armee. Aber diese Kameradschaft wurde für den Feldzug
von kaum geahnter Tragweite. Die Friedenserziehung kannte in Preußen wie
anderwärts nur den Buchstabengehorsam. Wenn nun hier allein die Fessel
gesprengt wurde, wenn jeder Offizier von oben bis unten mit unwiderstehlicher
Gewalt aus dem innersten Herzen heraus — oft mit schweren Gewissens¬
bedenken gegen den Wortlaut des erhaltnen Befehls — dem bedrängten
Kameraden zu Hilfe eilte, so lag die Triebkraft in der Kameradschaft. Diese
hat bei der Erziehung zur Selbständigkeit als der reifsten Frucht der Feldzugs¬
erfahrungen Gevatter gestanden.
Die politische Entwicklung seit der Gründung des Deutschen Reichs zwang
zu stetigen Vergrößerungen der Heeresmacht. Die bisherigen Quellen des
Offizierersatzes versiegten. Zur Deckung des gesteigerten Bedarfs den Spuren
des geschlagner Gegners durch Heranziehung des Unteroffizierstandes zu folgen,
wäre widersinnig gewesen. Der beständige Fortschritt in den Kriegswissenschaften
drängte zudem auf eine Erhöhung statt auf eine Herabsetzung der allgemeinen
wie der fachwissenschaftlichen Bildung. Der einzig gangbare Weg bestand also
in der Verbreiterung der Zufuhr. Der alte Offizierersatz hatte die Feuerprobe
bestanden, nichts war deshalb natürlicher, als daß die Erschließung neuer
Bezugsquellen zunächst als ein zwar unvermeidliches, aber nach Kräften ein¬
zudämmendes Übel angesehn wurde. Ihren vollen Zufluß brachte erst die
weitsichtige Kabinettsorder Wilhelms des Zweiten, die die Offizierslaufbahn
allen Schichten der Bevölkerung eröffnete.
Unzweifelhaft ändert sich hierdurch die Zusammensetzung des Offizierkorps
im Laufe der Jahre vollständig. Damit erhält die Frage, ob der neue Strom
in das richtige Bett geleitet worden ist, eine ausschlaggebende Bedeutung.
Die Beschränkung des Berufs auf bestimmte Gesellschaftsklassen, die Ver¬
erbung von Vater ans Sohn hat den Vorteil eingeborner Befähigung und die
Kehrseite des Festhaltens am Althergebrachten, der Standesvorurteile und des
Kastengeistes. Frisches Blut wiegt dagegen die Notwendigkeit eingehenderer
Erziehung und Schulung durch fehlende Voreingenommenheit und Empfäng¬
lichkeit für Neuerungen auf. Die Verschmelzung beider Bestandteile dahin, daß
jeder die eignen Mängel abstreift und die Vorzüge des andern aufnimmt, muß
natürlich das Offizierkorps auf die höchste Stufe der Leistungsfähigkeit bringen.
Gelingt dieser Durchdringungsprozeß nicht, so liegt die Gefahr der Doppel¬
teiligkeit vor, die unsern einstmaligen Gegnern so verhängnisvoll wurde,
mag auch der Riß wegen der Gleichheit der Bildung nicht so klaffend aus¬
einanderspalten.
Für die zutreffende sehr schwierige Beurteilung, ob die Zusammenschweißung
gelungen ist, gibt es für Außenstehende nur einen Anhalt. Der tonangebende
Vertreter des ehemaligen Offizierersatzes ist der Adel. Ihn richtig verwerten
heißt heutzutage ihn richtig verteilen. Statt dessen aber hat, wie ein Blick
in die Rangliste ergibt, eine Zusammenballung stattgefunden. Die Garde hat
bei der Infanterie, Kavallerie und Feldartillerie die vormalige geringe Anzahl
bürgerlicher Offiziere gänzlich abgestoßen. Immerhin mögen hier die höfischen
Verhältnisse und die geschichtliche Überlieferung ein gewichtiges Wort an¬
gesprochen haben. Die bezeichnende Erscheinung findet sich in den Provinzial-
armeekorps. Hier stehn selbst bei der vom Adel bevorzugten Waffe, der Kavallerie,
Regimenter, auf die der Adel ausschließlich die Hand gelegt hat, ganz bürger¬
lichen schroff gegenüber. Bei der Infanterie und der Feldartillerie hat sich
dagegen der Adel auch über die Anziehungskraft der kleinen Fürstenhöfe hinaus
auf einige wenige Regimenter zurückgezogen. Die Zahl der wirklich gemischten
Offizierkorps kommt bei diesen beiden Waffengattungen zur Kennzeichnung des
Bildes kaum in Betracht.
Selbst der einseitige Adelsstandpunkt kann diese Einpferchung oder, wenn
man will, Bevorzugung nicht für einen Standesvorteil halten. Der Grundsatz
der Inzucht hat sich am letzten Ende noch immer gegen seine Träger gewandt.
Das Zusammenleben der adlichen Offiziere unter sich mag ja behaglicher und
bequemer sein. Aber der Adel kann heutigestags seine geschichtliche Bedeutung
nur aufrecht erhalten, wenn er unter Hintansetzung jeglichen Sondervorteils
seine Kräfte rückhaltlos in den Dienst des Gemeinwohls stellt. Mdlssse obliZs.
In der geschloßnen Absonderung verpufft er nutzlos die militärischen Eigen¬
schaften, durch die er sich zum Mitbeteiligten an der Größe der deutschen Armee
gemacht hat. Nach zugegangnen Mitteilungen soll sich einmal ein verdienter
bürgerlicher General dahin geäußert haben: „Die militärischen Verdienste des
preußischen Adels verdienen gewiß die in der Garde liegende Bevorzugung.
Sollte sich aber unter uns nicht wenigstens ein Dutzend befinden, das der
gleichen Auszeichnung für seine Söhne würdig wäre?" Nur eine Verkennung
der menschlichen Eigenschaften kann dieser Absonderung die Wirkung absprechen,
daß sich die adlichen Offizierkorps für eine von oben herab beabsichtigte Elite
halten müßten. Kein Beruf weist eine engere Gemeinschaft auf als der
Offizierberuf, in ihm ist also die Gefahr der Ansteckung am größten. Mit
dem Abschluß des Adels geht auch eine Scheidung der einzelnen Waffengattungen
Hand in Hand. Das Ende vom Liede ist eine doppelte Abstufung. In ihrem
kameradschaftlichen Verkehr souderu sich einmal die Waffengattungen und dann
noch innerhalb dieses Nahmens die einzelnen Regimenter voneinander ab — beides
jedenfalls in weit höherm Maße als zur Zeit der letzten großen Kriege.
Nun muß auf das nachdrücklichste hervorgehoben werden, daß diese Gegensätze
einen Unterschied in den Friedensleistungen in keiner Weise hervorgerufen haben.
Der Erfolg im Kriege aber hängt bekanntlich nicht bloß von ihnen, sondern
hauptsächlich von dem innern Wert einer Armee ab. Der Grad der Friedens¬
ausbildung bedingt ihn, aber erschöpft ihn noch lange nicht. Gegenseitige Über-
hebung, selbst nur in der Beschränkung auf die jüngern Kreise, kann auf den
Geist im Offizierkorps nur nachteilig einwirken. Die Ausfechtung des Straußes
kann füglich in Friedenszeiten den Beteiligten überlassen werden. Gefährlich
wird nur die Beeinträchtigung der Waffenbrüderschaft im Feldzuge, wenn der
unwiderstehliche Trieb, das eigne Leben für den bedrängten Kameraden in die
Schanze zu schlagen, angefressen werden sollte, dann freilich in der verhängnis¬
vollsten, den Ausgang des Krieges entscheidenden Weise.
Daß das Band der Kameradschaft bis zu diesem Grade gelockert werden
kann, haben die Eifersüchteleien der Generale Napoleons des Dritten gezeigt.
Noch liegt diese Gefahr bei uns in weiter Ferne, noch ist die Kameradschaft
das unerreicht höchste Gut der deutschen Armee. Sie kennt freilich die Schwierig¬
keiten der Nachbarstaaten nicht. Zusammengekittet durch die ruhmvolle jüngste
Vergangenheit fehlt ihr der österreichisch-ungarische Nationalitütenstreit oder der
politische Gegensatz von Kaiser-, Königtum und Republik in Frankreich. Den
leitenden Stellen aber kann das volle Zutrauen entgegengebracht werden, daß
sie zur gegebnen Stunde das richtige Heilmittel anwenden werden.
! er erste Band der russischen Geschichte, mit der Professor Schiemann
unsre historische Literatur so wesentlich bereichert, hat sich rasch
einen angesehenen Platz erobert. Er hat das Bild Alexanders des
Ersten, des sentimentalen, stets unter dem Bewußtsein, sich von
!der Mitschuld an der Ermordung seines Vaters nicht völlig frei¬
sprechen zu können, leidenden, bei aller Beglückungsabsicht doch tyrannischen
Monarchen wesentlich verschärft und auch das Vierteljahrhundert seiner Negierung
lichtvoll behandelt. Der Zar nahm Anläufe, Rußland enger mit der Entwicklung
Westeuropas zu verbinden. Zweimal ließ er eine Verfassung für das Stamm¬
land ausarbeiten; Polen erhielt sogar eine wirkliche Verfassung mit Volks¬
vertretung. Doch konnte er das Völkerglück, das er erstrebte, aus seinem Wege
nicht erzwingen. Wenn auch die noch ohne alle Aufklärung, ohne alle Fühlung
mit dem politischen Leben hinvegetierende bäuerliche Masse kaum irgendwie
berührt wurde, so verdarb es Alexander gerade mit den Kreisen, auf die er
sich am ersten Hütte stützen müssen: dem Ofsizierstande, dem Adel, der Intelligenz,
ja auch mit dem gemeinen Soldaten. Die Militürkolonien sollten die Mann¬
schaften zu intelligenten, arbeitsamen, ordnungsliebenden, nüchternen Bauern
erziehn; sie waren nichts als Sklavenwirtschaften, der Aufenthalt darin eine
Hölle, auch den an ihrer Spitze stehenden Offizieren eine Qual. Eben die
Offiziere waren am meisten dem freiheitlichen Geiste zugänglich gewesen. Sie
waren im Napoleonischen Kriege nach Deutschland und Frankreich gekommen,
die Literatur des Westens hatte ihren Sinn beeinflußt, deutsche und französische
Erzieher hatten den Grund für eine neue Weltanschauung gelegt. Es war ein
Verhängnis für Rußland, daß zwischen dem Monarchen und diesen vorwärts¬
strebender Kräften jegliche Gelegenheit zu geistigem Austausch abgeschnitten
war. Kein Parlament, keine Presse. Der Autokrat thronte unnahbar, umgeben
von einer Mauer von Höflingen und Bureaukraten, deren Korruption er selber
aufs tiefste verachtete. So fehlte ihm auch der Glaube, daß aus seinem eignen
Volke etwas Gutes für die Regierung kommen könne.
Schon unter ihm hatte sich die Militärverschwörung der Pestel, Murciwiew,
Tolstoi usw. gebildet, die man sehr bald unter dem Namen der Dekabristen
kennen lernte, weil im Dezember 1825 (Dekaber — Dezember) der Ausbruch
erfolgte. Diese Männer hatten allerdings den Staat umwälzen wollen. Eine
Revolution im französischen Sinne, die Herstellung einer Republik lag ihren
Absichten ganz fern. Sie waren gewissenhaft, religiös. Sie waren noch nicht
mit sich im reinen, ob sie Alexander zugunsten seines Bruders Konstantin ans
den Thron bringen oder einen Monarchen aus nicht dynastischem Geschlecht
einsetzen müßten, als der allenfalls der im Kaukasus kommandierende
General Jermolow in Frage kam. Die Vorbereitungen waren überhaupt noch
lange nicht beendet, als unerwartet die Nachricht vom Tode Alexanders fern
am Ufer des Asowschen Meeres nach Petersburg kam. Hier war die Lage der
Dinge heilet. Der kinderlose Monarch hatte ein heimliches Testament hinter¬
lassen, daß nicht sein nur zwei Jahre jüngrer Bruder Konstantin die Regierung
übernehmen solle, sondern sein neunzehn Jahre jüngrer Halbbruder, der nur
neunundzwanzigjährige Großfürst Nikolaus. Auch Konstantin war kinderlos;
seine erste Ehe mit einer preußischen Prinzessin war geschieden, als zweite
Gemahlin stand eine polnische Gräfin an seiner Seite. Die Ausschließung vom
Thron hatte die volle Zustimmung Konstantins gefunden, auch Nikolaus hatte
eingewilligt. Dennoch, als die plötzliche Todesnachricht kam, wurde noch ein
wunderliches Schauspiel aufgeführt. Nikolaus selbst huldigte seinem ältern
Bruder und veranlaßte, daß der Reichsrat sowie die Petersburger Garnison
ebenfalls den Huldigungseid schworen. Er wußte recht wohl, daß Konstantin
die Krone nicht annehmen wollte und konnte, und in der Tat kam schon wenige
Tage daraus die Nachricht von dem in Warschau als Gouverneur weilenden
Konstantin, daß er von dein Anerbieten des jüngern Bruders nichts wissen wolle;
das Testament sei giltig und maßgebend. Nikolaus war nun in einer peinlichen
Lage. Er mußte das Testament bekannt geben und zugleich eine neue Ver¬
eidigung auf seinen eignen Namen anordnen, obgleich er sich dadurch, daß er
selbst geschworen hatte, des Rechtes, einen neuen Eid zu fordern und andre
vom ersten zu entbinden, begeben hatte.
Man hat das Verhalten der beiden Brüder den Großmutsstreit genannt.
Aber stets hat man auch gesagt, daß viel Schauspielerei dabei sei. Schiemann
hat den letzten Schleier gehoben. Nikolaus wußte sehr wohl von der Un¬
zufriedenheit im Heere. Er wußte, daß er selber sehr unbeliebt war, weil er
auf seine Weise ebenfalls den soldatischen Drill bis zur Quälerei von Mann¬
schaften und Offizieren trieb. Er wußte, daß man Konstantin wollte. Russische
Kaiser haben oft mit Militär- und Palastrevolutionen zu tun gehabt; Nikolaus
fürchtete einen Aufstand. Darum wollte er erst der Form nach Konstantin zur
Regierung kommen lassen; dieser sollte nach Petersburg reisen und hier feierlich
auf die ihm zugefallne Krone verzichten. Dann hätte er den Verschwörern
in einem ganz andern Lichte gegenüber gestanden. Das mißglückte, weil sich
Konstantin dazu nicht hergeben wollte. Nikolaus hatte die Stimmung der
Petersburger Garnison richtig eingeschätzt. Kaum wurde bekannt, daß nun der
neue Eid gefordert werden sollte, so traten auch schon einzelne Regimenter
meuternderweise in Reih und Glied. Wären die Leiter des Aufstandes vor¬
bereitet gewesen, oder hätte ein einziger genial die Gelegenheit auszunützen
verstanden, so hätten sie mit der Bewältigung der noch ganz unbefestigten
Regierung ein leichtes Spiel gehabt. Denn auch diese handelte mit aller
erdenklichen Kopflosigkeit. Beinahe ein ganzer Tag verstrich ohne entscheidendes
Handeln. Endlich am Abend fühlte sich Nikolaus stark genug, die Meuterer
zusammenschießen zu lassen. Das ging nun leicht genug. Auch des wenige
Tage später im Süden zum Ausbruch kommenden Aufstandes wurde man leicht
Herr. Die Verschwornen wurden sämtlich gefaßt und erlitten schwere Strafen,
einige den Tod, andre Verbannung nach Sibirien.
Dieses Erlebnis machte den tiefsten Eindruck auf den jungen Kaiser. Er
verhehlte sich nicht, daß ernste Mißstände vorliegen mußten, die eine solche
Verschwörung zeitigen könnten. Er ließ auch von den Beschwerden der Dekabristen
eine sorgfältige Aufstellung machen. Ja er verhörte sie manchmal selber. In
den Klagen der Pestel und Genossen erkennt man mit Staunen noch im
wesentlichen das Porträt des heutigen Rußland wieder. Dabei war der Kaiser
nicht von Haus aus reformfeindlich, im Gegenteil, er setzte selber Arbeitskraft
und Eifer daran, um die Zustände seines Reichs zu bessern. Aber im Laufe der
Beschäftigung damit kam er doch immer mehr wieder auf die despotische Methode
zurück. Anstatt den Dingen zu gewähren, sich nach den in ihnen selbst liegenden
Keimen zu entwickeln, setzte er mit Zwang ein und befestigte damit über
Rußland die Herrschaft des Fluches, unter dem es solange gestanden hatte
und noch solange stehn sollte: das gewalttätige, bestechliche, korrupte, dem
Volke nicht verantwortliche, dem eben nicht allsehenden Auge des Monarchen
nicht ausgesetzte Beamtentum. Rußlands Geduld ist groß. Es hat dieses Übel
noch fast achtzig Jahre nach dem Beginn der Regierung des Kaisers Nikolaus
ertragen. Unglaublich hat es wirtschaftlich, geistig, sittlich und zuletzt auch in
seiner Wehrkraft darunter gelitten. Und wenn jetzt auch die Revolution zu parla¬
mentarischen Formen geführt hat, so ist das Land doch noch weit davon, die
Schäden des nikolaitischen Regiments überwunden zu haben und zu einer neu¬
zeitlichen Teilnahme des Volks an der Staatsverwaltung zu gelangen.
Die drei Hauptmittel, mit denen der junge Zar sein Volk gewaltsam so
gestalten wollte, wie es ihm gut schien, waren die Zensur, die Geheimpolizei
der „dritten Abteilung" und die strengste Schurigclung des ganzen Erziehungs¬
wesens. Das ganze geistige Leben sollte seine Gestaltung von dem Willen des
Autokraten empfangen. Das Volk sollte lesen, was er billigte, sollte seine
Kinder so erziehn lassen, wie er es vorschrieb — schon äußerlich kündigte sich
das durch die Uuiformierung von Lehrenden und Lernenden an —, und endlich
sollte die Geheimpolizei nicht nur alle Vorgänge, selbst alle Gesinnungen dem
allmächtigen Regiment offenbar machen, sie erhielt auch die Machtvollkommen¬
heit, sofort ohne Richterspruch lenkend und strafend einzuwirken. Die Gewalt
erstreckte sich dahin, daß harmlose Untertanen auf bloßen Verdacht hin plötzlich
lebenslänglich nach Sibirien verbannt werden konnten. Aus diesem erschreckenden
Mißtrauen des Selbstherrschers gegen sein Volk ist dann das Nußland des
Nihilismus und des Terrorismus hervorgegangen, dem ein Alexander der
Zweite hat zum Opfer fallen müssen, und das noch jetzt aller Augenblicke blutig¬
rot beleuchtet wird.
Ausländische Beobachter täuschten sich nicht über die üble Lage, in der
sich das Haupt des mächtigen russischen Reichs beim Thronwechsel befand. Der
Adjutant des zur Beglückwünschung seines Schwagers nach Petersburg gesandten
Prinzen Wilhelm von Preußen, Leopold von Gerlach, verzeichnet den wilden
Fremden- und speziell Deutschenhaß der Gesellschaft, der sich sogar gegen das
Kaiserhaus richte. „In welcher schwankenden Lage befindet sich der arme Kaiser
mit seiner glühenden Kaiserkrone auf dem Kopfe, von Verrätern umgeben; nicht
alle Übeltäter seien in der Festung, hat jemand neulich dem General Thile
gesagt, einige von ihnen sind alle Tage mit uns im Vorzimmer des Kaisers,
und er hat die Beweise dafür in Händen." Ein andermal vergleicht er die
Stellung Nikolaus mit der eines Mannes, der auf einer dünnen hohen Säule
stehe, an der jeder Unzufriedne rüttle, „um entweder den Herrn von oben
herabzustürzen und einen andern hinaufzusetzen, oder wie das jetzt hat geschehen
sollen, die Säule selbst und für immer über den Haufen zu werfen". „Die
kaiserliche Familie, schreibt der hannoversche Gesandte von Reden, ist gleichsam
von aller Gesellschaft sequestriert, sie sieht, von den Garden beschützt, nur was
zum innern Kreis der Familie gehört. Das Palais ist wie eine belagerte
Festung von Truppen umringt, stets erwartet man neue Unruhen. Die Festung
und die Gefängnisse sind voll Gefangner, deren Zahl täglich zunimmt." In
der Stadt kursierte das Gerücht, daß im Kellerraum der Jsaakskirche ein Faß
voll Pulver gefunden sei, offenbar um die kaiserliche Familie in die Luft zu
sprengen; und die Vorsichtsmaßregeln, die von dem Mißtrauen des Kaisers
gegen die eignen Truppen zeugten, sielen allgemein auf. Auch machte sich die
Medisance der Petersburger Gesellschaft allen Maßregeln des neuen Kaisers
gegenüber geltend, was ja bei der Sorge und der Erbitterung begreiflich ist,
die die zahlreichen Verhaftungen in den Kreisen, die zur „Gesellschaft" ge¬
hörten, hervorgerufen hatten.
Diesen düstern Schatten gegenüber fehlt es nicht an hellen Lichtseiten,
die dem Zartum mitunter zu einer Art Hegemonie in Europa verholfen haben,
namentlich während der Regierung Nikolaus des Ersten und Alexanders des
Dritten. In außerordentlichem Glänze war Rußland aus den Napoleonischen
Kriegen hervorgegangen. Es schien der wahre Hort der monarchischen Staats¬
verfassungen gegen die Revolution zu sein; es war der Eckstein der Heiligen
Allianz. Schon damals erkannte man die lockenden Aussichten Rußlands auf
die Erbschaft des kranken Mannes. Doch fühlte sich noch Alexander so sehr
als die Säule der bestehenden Zustände, daß er den aufständischen Griechen
seine Hilfe rundweg abschlug. Die Gewalttätigkeit der Türken schuf den Griechen
wieder Freunde in den europäischen Mächten, aber alle diese Dinge verliefen
im Zickzack. Die europäische Diplomatie erging sich in verworrenen Intrigen.
Die Heilige Allianz fiel auseinander, Rußland näherte sich England, lehnte
aber immer noch die Unabhängigkeit Griechenlands ab, die England am Schluß
von Ccmnings kurzem Ministerpräsidium anstrebte. Als die Griechen „das
Kleinod ihrer Freiheit. Unabhängigkeit und politische Existenz unter den un-
umschränkten Schutz Großbritanniens stellten" (am 1. August 1825), mußte
Alexander fürchten, daß England den größten Nutzen aus dem Zusammen¬
bruch des osmanischen Reichs ziehn werde, und nahm eine bestimmtere Haltung
an. Er wollte russische Differenzen mit der Pforte allein lösen, die griechische
Frage dagegen mit Hilfe Englands, jedoch sollte die Bildung eines griechischen
Einheitsstaates ausgeschlossen bleiben. Am 18. August erklärte der Zar den
Großmächten, etwaige äußerste Schritte gegen die Türkei allein tun zu wollen.
Er befand sich in der Tat am Rande eines Krieges, als er sich nach dem
Süden begab, und als er am 1. Dezember abberufe» wurde.
König Friedrich Wilhelm der Dritte, der Schwiegervater des neuen Zaren
Nikolaus, hatte von dem Testament Alexanders geheime Kenntnis gehabt und
war durch den „Großmutsstreit" unliebsam berührt. Desto größer war seine
Freude, als bald darauf die Nachricht kam, daß es doch bei dem Testament
sein Bewenden behalte. Umgekehrt war die Stimmung in Wien. Dort waren
alle Sympathien für Konstantin. Gleich Metternich war auch er von Ver¬
achtung für die Griechen erfüllt; gleich ihm war er Gegner jeglicher Umsturz¬
bestrebungen und Freund der Erhaltung der Türkei. Metternich wußte nichts
von dem Testament und wollte schon einen Erzherzog zur Begrüßung des
vermeintlichen Kaisers Konstantin nach Petersburg schicken, als er die ver¬
blüffende Nachricht von dem Wechsel der Dinge erhielt. Nikolaus kannte diese
Gesinnung sehr wohl; er hatte obendrein einen Span mit dem österreichischen
Gesandten. Metternich hielt es daher für ratsam, jenen Erzherzog nun doch
abzusenden, wenn auch mit Glückwünschen an eine ganz andre Adresse. Zugleich
aber sandte der alte Fuchs eine zweite Mission an den Großfürsten Konstantin
nach Warschau, und zwar, wie man fälschlich annahm, um diesen österreichischer
Unterstützung zu versichern, falls er dennoch die Regierung übernehmen wolle.
Immerhin suchte Österreich doch auf diesem Umwege den jungen Zaren zu
beeinflussen, der Versuch kam aber übel an, denn Konstantin teilte alles loyal
dem Bruder mit, und dieser faßte einen starken Widerwillen gegen Österreich,
der ihn lange beherrscht hat.
Ganz besonders schloß sich Nikolaus an Frankreich an. Gleich nach der
ersten Audienz, die er dem diplomatischen Korps erteilte, nahm er den fran¬
zösischen Botschafter La Ferronais unter den Arm und führte ihn in sein
Kabinett und sprach sich eine Stunde lang in einem intimen Gespräch mit ihm
aus. Er erging sich in persönlichen Gefühlsergüssen für den Botschafter, besprach
dann den soeben niedergcwvrfnen Dekabristenaufstand und verweilte eingehend
bei dem Verhältnis zwischen ihm und Konstantin. „Ich durste keine Rechte
auf den Thron geltend machen. Ich rufe deu Himmel zum Zeugen und schwöre
es Ihnen bei meiner Ehre, daß ich nur die Stimme meines Gewissens gehört
und nur die Empfindungen zu Rate gezogen habe, die stets in meiner Seele
leben werden." Die Sympathien für Karl den Zehnten und seinen Gesandten
haben stets auf die Politik eingewirkt.
Ganz anders ging es mit England. Canning sandte keinen geringern als
seinen Mimsterkollegcn, deu berühmten Wellington nach Petersburg, um
Nikolaus zur Thronbesteigung zu beglückwünschen. Sein wahrer Zweck war,
Nußland vollständig von der Heiligen Allianz zu trennen und es unter Be¬
nutzung der griechischen Frage in die Gefolgschaft der englischen Politik zu
führen. Wellington solle entweder die englische Intervention in die Wirren
mit der Türkei oder eine gemeinsame englisch-russische Intervention in die
griechische Frage anbieten; damit nicht der Kaiser die türkische Ablehnung zu
einem Kriegsgrund aufbausche, müsse man vorher der Zustimmung der Pforte
sicher sein. Einen Krieg, der nicht die griechische Frage betreffe, werde Eng¬
land als aus Ehrgeiz und Eroberungslust unternommen ansehen. Eine geheime
Verständigung mit Nußland hatte für England den doppelten Zweck, Rußland
zu zügeln und die Ausschreitungen der Türken gegen die Griechen zu hindern.
Wellington sollte nach Ccmmngs Auftrag erklären, daß England weder darauf
ausgehe, das Territorium der jonischen Inseln zu vergrößern noch seinen
politischen Einfluß zu steigern.
Kaiser Nikolaus trat in das politische Duell mit Wellington ein und
führte es mit Geschicklichkeit durch. Er war entschlossen, die russisch-türkischen
Differenzen allein zu regeln. Die Türkei werde nachgeben; wenn nicht, so
fürchtete er auch einen Krieg nicht. Er ordnete sogleich die Ausarbeitung von
Kriegsplünen an. Nikolaus selbst schreibt: „Seit Donnerstag (2. März) ist
Wellington hier, sehr alt und zusammengefallen. Gleich bei seiner ersten
Zusammenkunft sagte er mir u. a., er sei ausdrücklich von seiner Regierung
beauftragt, mir Vorschläge zu machen, damit wir — England und Ru߬
land — zu zweien die griechische Sache ordnen. Ich spielte den Überraschten
(Nikolaus war von seinein Londoner Botschafter gut unterrichtet worden), ließ
ihn reden und sagte darauf, ich könne, was er vorbringe, nur als etwas völlig
neues ansehen." Er werde mit der Türkei allein fertig werden. „Bei alledem
handle es sich nicht um die Grieche»; solange das Reich bestünde, seien sie
für mich rebellische Untertanen." Der weitere sehr merkwürdige Gang der
Verhandlungen, so sagt Schiemann, ist nun der gewesen, daß Wellington
Schritt für Schritt über seine Instruktionen hinaus zu Konzessionen gedrängt
wurde. Sein Versuch, Nesselrode (den Vizekauzler und Leiter der auswärtigen
Politik) gegen deu Kaiser auszuspielen, mißglückte völlig, im Zaren selbst aber
fand er einen ihm in den Künsten der Diplomatie weit überlegnen Gegner.
Das angeborne Talent Nikolaus machte sich gerade auf diesem Gebiet geltend,
und vor der Erhabenheit seiner Prinzipien prallten alle Angriffe und Über¬
redungskünste des alten Herzogs ab. Vergebens bat er, die Absendung des
Ultimatums an die Pforte aufzugeben oder doch wenigstens den Wortlaut ab¬
zuschwächen. Der Kaiser bestand auf seinem guten Recht der Pforte gegen¬
über und versicherte, daß er nichts andres wollte, als dieses Recht zur Geltung
zu bringen. Um das zu erreichen aber müsse er drohen; wirke das nicht, so
werde er die Donanfürstentümcr besetzen, aber nichts liege ihm ferner, als sich
auch uur ein türkisches Dorf anzueignen. Schon am 10. März hatte Wellington
so viel Boden verloren, daß er die Berechtigung der russischen Forderungen
in betreff der Douaufürstentümer, aus denen die türkischen Truppen zurück¬
zuziehen seien, und in betreff der Befreiung gefangner serbischer Deputierten
zugeben mußte. Dabei ängstigte ihn der Kaiser durch das phantastische Bild,
das er von seiner ungeheuern militärischen Überlegenheit entwarf. Die Russen
haben den Sieger von Waterloo einen ganzen Monat mit Verhandlungen
hingehalten, ihm schließlich aber nichts gewährt als einen Scheinerfolg. Man
verständigte sich über ein nichtssagendes Protokoll. Wellingtons Versuch, die
auf Nichterfüllung des Friedens von Bukarest gegründeten russischen Be¬
schwerden als nichtexistent beiseite zu schieben, war vollständig mißglückt. Die
von ihm verweigerten „guten Dienste" Englands, um die Pforte zum Nach¬
geben zu bewegen, mußte England im eigensten Interesse freiwillig leisten,
wenn anders es einen Krieg verhindern wollte. Wellington kehrte in gedrückter
Stimmung zurück.
Es dauerte jedoch noch zwei Jahre bis zum Ausbruch des russisch¬
türkischen Krieges, eine Zeit, die mit langen widerspruchsvollen Verhandlungen
ausgefüllt wurde. Jenes Protokoll, das Wellington am 4. April 1326 in
Petersburg vereinbart hatte, führte allgemach doch zu einer Verständigung
zwischen Nußland, England und Fraukreich, wobei sich Nußland jedoch immer
freie Hand wahrte. Die Türken fuhren fort, in Griechenland und auf deu
Inseln zu wüten und drängten auch Nikolaus dadurch allmählich mehr auf
die Seite der Griechen. Am 6. Juli 1327 schlössen die drei Mächte eine
förmliche Tripelallianz, wodurch auch die Pforte zunächst etwas eingeschüchtert
wurde. Die Verbündeten erklären in dem Vertrage, die Selbstverwaltung
Griechenlands unter Oberherrlichkeit der Pforte erzwingen zu wollen, ohne
darum ihre friedlichen Beziehungen zur Türkei abzubrechen. Zu diesem
Zweck sollte eine alliierte Flotte alle türkisch-ägyptischen Schiffssendungen von
Menschen und Waffen abschneiden und so Ibrahim Pascha, den siegreichen
aber barbarischen Ägypter, zum Rückzug aus Morea zwingen. Ob sich das
ohne Anwendung von Gewalt erreichen lasse, mußte zweifelhaft erscheinen.
Canning gewährte seinem Admiral „einen gewissen Spielraum". Der Zweifel
war vollauf berechtigt. Seit Mai 1827 lag eine türkische Flotte in Navarino
(an der messenischen Küste). Am 7. September traf dort eine neue ägyptische
Flotte ein. Admiral Codrington, der Befehlshaber der Verbündeten, hatte
.das zu verhindern versäumt, hatte seine Flotte aber am 20. September anch
in den Hafen von Navarino gelegt. Am 14. Oktober stießen endlich die
Nüssen zu ihm. Nun drängten die verbündeten Admiräle auf eine „schleunige
und kategorische Antwort", daß die Greuel in Morea sofort aufhören sollten.
Als die Antwort des Vertreters des abwesenden Ibrahim ungenügend ausfiel,
nahmen die Verbündeten Schlachtordnung. Und nun waren die Türken auch
uoch so unbesonnen, die Feindseligkeiten zu eröffnen. Es war am 20. Oktober.
Die ganze türkische Flotte wurde von den in Eintracht handelnden Engländern,
Franzosen und Russen zusammengeschossen. Die ägyptisch-türkische Flotte war
mit dem Tage von Navarino vernichtet.
Der leitende Geist dieser Zwangspolitik gegen die Türken, Canning, war
schon am 8. August gestorben. Die englische Politik lenkte alsbald, und
vollends als der Herzog von Wellington ihre Führung übernahm, in andre
Bahnen. Man wollte die Hilfe für die Griechen nicht weiter treiben, als
mit der Erhaltung der Türkei als ansehnlicher Macht vereinbar war. Die
Hohe Pforte erschwerte diesen Standpunkt sehr, denn Sultan Mahmud war
rasend über den „völkerrechtswidrigen Akt" eines Angriffs im tiefen Frieden.
Auch das englische Ministerium war keineswegs erfreut, es untersuchte sogar,
ob es nicht Admiral Codrington den Prozeß machen könne. Je mehr nun
ein Krieg mit Nußland allein drohte, desto mehr mußte sich doch die Pforte
mit England abfinden.
Kaiser Nikolaus fühlte sich um diese Zeit sehr gehoben. Er hatte einen
Krieg mit Persien auszufechten, und hier ging alles nach Wunsch. Paskiewitsch
erreichte schon 1827 glänzende Erfolge und 1828 einen durchgreifenden
Frieden, der den Russen einen großen Teil Transkaukasiens und die Herr¬
schaft auf dem Kaspischen Meer sicherte. Der Kaiser drängte nun auch in
der türkischen Sache vorwärts. Während England den Griechen helfen wollte,
soweit es mit der Schonung der Türkei vereinbar war, wollte Nikolaus den
Griechen, die er als Rebellen ansah, nicht helfen, aber die Türken demütigen
und zur Erfüllung übernommner Verpflichtungen zwingen. Gegen Eroberungs¬
gelüste verwahrte er sich nachdrücklich. Die griechische Sache war 1827 stark
zurückgegangen, trotz Navarino. Das Wellington so unerwünschte und von
Metternich aufrichtig beklagte Ereignis gereichte ihnen nicht zum Nutzen.
Die Pforte wütete um so mehr gegen sie. Sie Vertrieb die als Zivilpersonen
weilenden Engländer, Franzosen und Russen aus ihren Gebieten und erließ
einen feierlichen Aufruf an die Gläubigen zur Verteidigung ihrer Religion
und ihrer Existenz. Die Gesandten der drei Mächte reisten ab. Nikolaus
traf alle Anstalten zum Kriege; seine Verbündeten, auch England, konnten
sich den Folgen ihrer bisherigen Schritte nicht entziehen und übten wenigstens
einen Druck ans die Pforte aus Dein Zaren hinderlich in den Weg treten
konnten sie deshalb nicht. Einen solchen Versuch ans diplomatischen! Felde
machte Metternich, aber vergebens.
Das Schiemcmnsche Buch verweilt nun eingehend bei den beiden russischen
Balkanfeldzügen von 1828 und 1829. Liebevoll bringt es die militärischen
Vorgänge und die allgemeinen Zustände der Heeresverwaltung, auch das
immer unglückliche, völlig verfehlte persönliche Eingreifen des Zaren zur
Darstellung. Die Streitkräfte waren zu ungenügend bemessen, als daß sie die
in der Verteidigung mit beispielloser Tapferkeit kämpfenden Türken leicht
hätten überwältigen können. Die ganze Verwaltung, das Verpflegungs-, das
Medizinalwesen lagen unglaublich im argen. Als sich die Armee in Be¬
wegung setzte, stellte sich heraus, daß man das Salz vergessen hatte, und auch
an Fleisch fehlte es bald. Nikolaus dachte, den militärischen Spaziergang
nach Konstantinopel mit einem Edelmutsdrama zu erledige». Ein Häuser
türkischer Gefangner wurde ohne Lösegeld zurückgesandt, damit sie von der
Großmut, Macht und Herrlichkeit, dem Reichtum des Zaren erzählten. Sie
gingen nach Silistria und leisteten bei der Verteidigung dieser Douaufestuug
außerordentliche Dienste. Weitere Erfolge hatte der auffallende Schritt nicht.
Das Vordringen war anfänglich unaufhaltsam. Schon am 20. Juli 1828
erreichte die Armee Schumla im Balkan, wo ein langer Widerstand große
Enttäuschung bringen sollte. Die Russen schritten zu regelmäßiger Belagerung.
Die Besatzung der in zu großer Zahl und in zu großer Nähe vom Feinde
angelegten Redouten schwächte den Bestand der Bataillone; die Kavallerie,
deren Pferde schon schlaff wurden, mußte sich Furage aus großer Entfernung
holen; jeder Transport forderte militärische Deckung, und die ungemein
rührige und vorzüglich berittene türkische Kavallerie brachte durch Auffangen
der russischen Kuriere, durch Plünderung der Transporte, Überfälle der an
Redouten und Trancheen arbeitenden Soldaten den Russen die empfindlichsten
Verluste bei. Dazu kam, daß die Krankheiten in immer bedenklicherm Maße
zunahmen und die Transpvrtochsen zu Hunderten fielen, sodaß die regelmäßige
Berprvviantieruug des russischen Lagers in Frage gestellt wurde. „Mit einem
Worte, als wir darau gingen, Schumla zu belagern, boten wir vielmehr selbst
das Bild eines belagerten Platzes", schreibt Benckendorf, der Vertraute des
Zaren. — Schumla hat sich in den beiden Feldzügen, 1828 und 1829,
behauptet.
Nikolaus verlor bald die Geduld. Schon am 23. August ritt er unmutig
auf Varna zu in den Wald hinein. „Unter nicht geringen Fährlichkeiten, so
schreibt Schiemann, wurde das Ufer des Schwarzen Meeres erreicht." Die
aus der Seefestung nusgefallnen Türken hatten hier soeben den Russen
ernstlich zu schaffen gemacht. „So lief das Abenteuer des Kaisers, denn so
ist dieser Ritt zu beurteilen, noch glücklich ab. Zeugt es von einem persön¬
lichen Mut, so doch nicht minder von unbesonnener Unterschützung wirklicher
Gefahren. Er schien zu vergessen, daß er in Feindesland sei. Andrerseits
aber scheute er vor Unternehmungen zurück, die einen Erfolg versprachen,
sobald ihm die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit großer Opfer an Menschen¬
leben vor die Seele traten. Als ihm Meuschikow vorschlug, mit Hilfe der
aus Anaga angelangten Truppen und unter Beistand der Flotte Warna im
Sturm zu nehmen, lehnte er ab. Die Festung werde in spätestens acht Tagen
kapitulieren, man solle zu einer regelrechten Belagerung schreiten. Dann be¬
sichtigte er die Flotte und segelte nach Odessa ab, auch der ganze Stab der
Diplomaten, Hofleute, Beamten und fremden Bevollmächtigten folgte ihm nach.
Mit ihnen zogen die Intrigen der europäischen Politik."
Wir können diesen hier natürlich ebensowenig folgen wie den militärischen
Operationen. Es kamen manche Hiobsposten, die zu geringe Truppenmacht
übte ihre Wirkungen aus. Die Pest begaun fürchterlich zu wüten. Nikolaus
kehrte von Odessa nach dem belagerten Varna zurück und mußte sich über¬
zeugen, daß die Aussicht, der Festung Herr zu werden, dahinschwand. Viel¬
mehr sammelten sich in der Nähe überlegne Türkcnmassen, um sie zu ent¬
setzen. Der Kaiser befahl dem Prinzen Wittgenstein, mit ganz ungenügenden
Kräften gegen die letzteren vvrzugehn. Es gab eine blutige Niederlage, die
Nikolaus tief verstimmte. Eine zweite erlitt Prinz Eugen von Württemberg.
Obendrein mußte Diebitsch die Belagerung Schumlas aufgeben. Hütten die
Russen soviel Mut in der Offensive gehabt wie in der Verteidigung, die
Sache hätte für die Türken übel ablaufen können. Nikolaus befahl endlich
einen Sturm auf Varna, gab aber plötzlich Befehl, ihn abzubrechen, weil er
das viele Blutvergießen nicht ansehen konnte. „Er bedachte nicht, daß jeder
Tag, den seine Truppen länger vor Varna lagen, die Hospitäler füllte, und
daß die Opfer, die er durch seine langsame und schlecht vorbereitete Krieg¬
führung den Dämonen der Pest und ihren Begleitern, Fieber, Dysenterie,
Skorbut zuführte, viel zahlreicher waren als alles, was Schwert und Geschoß
niedergestreckt hatten." Dem Verrat eines türkischen Offiziers hatte man
schließlich Varna zu verdanken, sodaß der Kaiser doch einen einzigen greifbaren
Erfolg hatte, als er endlich heimkehrte.
Ihm war „das roh gewaltsam' Handwerk" des Krieges gründlich ver¬
leidet. Der blutige Feldzug blieb weit davon, ihn zum Triumphator zu
machen. Seine Truppen mußten nördlich von der Donau Winterquartiere nehmen.
„Aber in welchem Zustande! Ermattet und entmutigt, fast völlig abgestumpft;
denn es gibt einen Grad von Unglück, bei dem schließlich Denk- und
Empfindungsvermögen versagen. Das Schlimmste war das Fehlen fast jeder
ärztlichen Hilfe und der unerhörte Zustand der Feldlazarette und Spitäler. ...
In Jcissy trafen zum Beispiel Mitte November aus Silistria 500 Kranke und
Verwundete ein, die nur von einem Feldscher begleitet wurden, darunter Sol¬
daten, die vor vierzehn Tagen amputiert waren und noch ihren ersten Ver¬
band trugen, währeud andre überhaupt noch nicht Verbünde» waren."
Für das nächste Jahr betraute Nikolaus den General Diebitsch mit dem
Oberkommando. Er selbst blieb in Petersburg und machte dann einen frucht¬
losen Versuch, durch seine Krönung in Warschau das Polentum zu gewinnen.
Von Diebitschs Feldzug im Jahre 1829 nur wenige Worte. Nach trefflichem
Plan drangen die Russen rasch vor, schlugen mehrfach die Türken und ließen
Schumla liegen. Der Balkanübergang gelang glänzend. Am 20. August war
Diebitsch in Adrianopel, freilich in einem gefährlichen Zustande. Seine Truppen
hatten starke Verluste gehabt, er- verbarg sorgsam seine Schwäche. Hätten die
Türken noch Schneid gehabt, sie hätten ihn mit seinen 12200 Jnfanteristen,
4500 Pferden und 100 Geschützen leicht vernichten können. Aber auch bei ihnen
waren Dämonen eingezogen. Der Sultan erwartete jeden Augenblick einen Auf¬
stand in Konstantinopel und suchte ihm durch zahlreiche geheime Hinrichtungen
zuvorzukommen. Seine Widerstandskraft war gebrochen. Fremde Diplomaten,
unter denen sich der preußische General von Müffling, der das Vertrauen des
Zaren genoß, glänzend hervortat, bewirkten die Verständigung. Am 14. Sep¬
tember kam der Friede von Adrianopel zustande, der Diebitsch aus seiner gefähr¬
lichen Lage befreite. Rußland begnügte sich mit dem Gewinn der Donaumündung
und einiger Kleinigkeiten in Armenien, wo Paskiewitsch siegreich gewesen war.
Der erste Abschnitt der Negierung des neuen Zaren dauerte noch bis zum
Sommer 1830. Mit der Julirevolution fand er seinen Abschluß. Es war
keine glanzvolle Epoche. Das nikolaitische Regiment, das die Mitte des Jahr¬
hunderts beherrschen und in Nußland bis ins neue Jahrhundert hinein dauern
sollte, ja das in seinen Grundmauern noch heute besteht, hatte Wurzel ge¬
schlagen. Von einem gedeihlichen Wachstum des Gemeinwesens konnte nur
sprechen, wer mit der Niederhaltung der Revolution das Wesentlichste für
geleistet hält. Die war allerdings gelungen, aber im Balkenwerk des Staates
und der Gesellschaft fraß das kalte Feuer um sich: Zurückhaltung der Geistes¬
bildung, Korruption, unkontrollierte Gewalttat, Unzufriedenheit der Intelligenz.
Das Rußland des Kaisers Nikolaus war auch das, das uns Turgenjew und
Dostojewski schildern, es war das Nußland Alexander Herzens und Vakuums,
aus dem das Nußland des Krimkrieges, der Polenaufstände, des Kaisermordcs,
des Nihilismus, der Niederlage gegen Japan hervorging, das Rußland, dem
nichts mehr übrig blieb als der Versuch mit parlamentarischen Einrichtungen.
Und diese sind noch nichts weniger als geglückt.
Nach einer Richtung fällt aus dem Schiemannschcn Buche ein günstiges
Licht auf Kaiser Nikolaus. Ein tyrannischer Wüterich, der Freude an dem
Mißbrauch seiner Macht hat, war er nicht. Sein Wille war gut, so sehr er
auch in seinen Handlungen fehlgriff.
in einundzwanzigsten Heft der Grenzboten hat Rudolf Stube die
Forderung begeisterter Assyriologen bekämpft, es solle die alt-
orieutalische Geschichte in deu höhern Unterricht aufgenommen
werden. Wenn mit diesem Unterricht ein kurzer Abriß der Haupt¬
tatsachen und eine Schilderung der Kulturzustände gemeint ist,
gehört er allerdings in den Schulplan, und ich war der Meinung, das würde
den Schülern heute schon geboten; auf der höhern Bürgerschule, die ich bis
zu meinem dreizehnten Jahre besuchte, wurden uns, lange vor der vollständigen
Entzifferung der Keilschrift, alle die hübschen altorientalischen Geschichten er¬
zählt, die Herodot und andre Griechen berichten. Aber an eine so ausführ¬
liche Behandlung, wie sie der griechisch-römischen Geschichte zuteil wird, ist
schon wegen der Unsicherheit der heutigen Ergebnisse der Assyriologie vor¬
läufig uicht zu denken. Diese Unsicherheit entspringt aus der Schwierigkeit der
Entzifferung der verschiednen Schriftarten und Sprachen, von der die darüber
handelnden Abschnitte des unten genannten Buches einen Begriff geben/') Es
gibt eine Bilderschrift (von der etwa 12000 Zeichen bekannt sind), eine Silben-
und eine Lautschrift, verschiedne Entwicklungsstufen dieser Schriftarten, die
Schreibweise von oben nach unten und von rechts nach links und die wage-
rechte von links nach rechts. (Von dem phantasievollen Gobineau erzählt man,
er habe eine Inschrift von oben nach unten, von unten nach oben, von rechts
nach links, von links nach rechts und in der Diagonale gelesen und immer
denselben Sinn herausbekommen.) Und es gibt Inschriften in humero-akkadischer,
in babylonisch-assyrischer und in persischer Sprache. Es handelt sich also keines^
Wegs bloß, wie bei den Unsicherheiten in der griechisch-römischen Geschichte,
um widersprechende Angaben und um Lücken der Berichterstattung, sondern
um Zweifel an der richtigen Entzifferung und Deutung; und dazu kommt
uoch der Umstand, daß die Entzifferungs- und Deutungsknnst auf einen ver¬
hältnismüßig kleinen Kreis von Männern beschränkt ist, deren Werke also nicht
gleich denen über griechisch-römische Geschichte unter der Kontrolle der ganze»
Gelehrtenwelt, ja des ganzen gebildeten Publikums stehen. Es kann sich also
leicht ereignen, daß die Deutungen von vorgefaßten Lieblingsmcinungen und
von Wünschen beeinflußt werden, wenn solche jenen kleinen Kreis beherrschen.
Daß aber dieses der Fall sei, daß manche Assyriologen der verzeihliche Wunsch
beseele, alles, was wertvoll ist im Altertume, den geliebten Babyloniern zu¬
zuschreiben und ihnen zum Ruhme namentlich das Alte Testament herab¬
zusetzen, haben in dem Babel-Bibelstreite nicht bloß christliche und jüdische
Theologen behauptet. Ein Nestor der Asshriologie, der einige Zeit darauf ver¬
storbne Julins Oppert in Paris, schrieb damals in der Wiener Zeit: gegen
Theologen, die die Bibel in ihrer heutigen Form für ein Diktat des lkbeu
Herrgotts halten, habe Delitzsch freilich leichtes Spiel; aber alle seine Ab¬
leitungen biblischer Angaben, Ideen und Erzählungen aus Babylon seien
falsch (er zeigt das kurz im einzelnen), und der ganze Beweis des chaldäischen
Ursprungs der jüdischen Kultur bestehe in Schlüssen wie dem folgenden: die
Chaldäer hatten die Nasen mitten im Gesicht, die Juden auch, also stammen
die Nasen der Juden aus Babylon. Außer den Theologen und Rabbinern
wehren sich auch die Ägyptologen gegen die Sucht, alles und jedes aus
Babylon abzuleiten, und wie bedeutend unter den Assyriologen selbst die
Meinungsverschiedenheiten noch sind, kann auch der Laie aus den angeführten
Äußerungen Opperts und aus kleinen Streitschriften ersehen wie „Die Pcm-
babylonisten, der alte Orient und die ägyptische Religion" von Alfred Jeremias
und „Die jüngsten Kämpfe wider den Panbabylonismus" von Hugo Winkler.
Es wird also noch geraume Zeit dauern, bis die Ergebnisse der Assyriologie
in dem Grade gesichert sind, daß ernstlich erwogen werden kann, in welchem
Umfange sie in den Mittelschulen berücksichtigt werden sollen.
Uns interessiert zunächst der Ausgang des Babel-Bibelstreits. Daß die
babylonischen Urkunden an religiösem und sittlichem Werte hinter den biblischen
weit zurückstehn, das konnte schon gleich anfangs nach den von den Assyriologen
selbst in populären Schriften veröffentlichten Texten keinem Unbefangnen zweifel¬
haft sein, aber das Buch von starck kommt uns mit neuen Vegründnngen
unsers Urteils zu Hilfe. Nicht dadurch, daß der Verfasser die Assyriologen
ingrimmig bekämpft. Im Gegenteil! Sein orthodoxer Eifer und die Manier
seiner Polemik erregen Bedenken gegen das Buch. Nicht bloß Assyriologen,
sondern auch manche unbefangne Leser werden es gleich nach den ersten Seiten
als ein keiner Beachtung würdiges Produkt des Vorurteils beiseite legen. Starcks
Manier macht die Darstellung sogar vielfach unverständlich; anstatt seine Ansicht
oder die Tatsachen, die er mitteilen will, schlicht auszusprechen, kleidet er sie viel¬
fach in eine sarkastische Abfertigung der Gegner. Und was den orthodoxen
Standpunkt betrifft, so wird sich der heutigen Ethnologie und Werken wie
Wundes Völkerpsychologie gegenüber die Ansicht des Verfassers, daß den ersten
Menschen die theistische Religion geoffenbart worden, die polytheistische Natur¬
religion Abfall von der Uroffenbarung sei, kaum aufrecht erhalten lassen. Die
biblische Geschichte vom Paradiese und ihre chronologische Verknüpfung mit
der Geschichte Abrahams, der die erste, gerade durch die Assyriologie jedem
Zweifel entrückte geschichtliche Persönlichkeit der Bibel ist (wie auch Oppert
anerkennt), für etwas andres als für eine sinnvolle Allegorie anzusehen (der
damit verknüpften Geschichte der vorsintflutlichen Patriarchen können immerhin
sichere Traditionen zugrunde gelegen haben), verbietet schon das geologisch
nachgewiesne hohe Alter des Menschengeschlechts, das Zehntausende von Jahren
vor dem Anfangspunkte der biblischen Chronologie auch schon in Europa ge¬
lebt hat. (Diese falsche biblische Chronologie ist nach Oppert das einzige, was
die Verfasser des Pentateuchs wirklich den Chaldäern entlehnt haben.) Auch
kann kein moderner Mensch den Gott, der in der Abendkühle im Garten lust¬
wandelt — so hoch erhaben über alle babylonischen Götzenscheusale und so
rührend schön und uns liebwert er als Bild ist —, historisch nehmen. Eine
Entwicklungslehre, die auf den göttlichen Ursprung der Welt und des Menschen
verzichtet, die alles geistige Leben für ein Seifenblascnlichtspiel in wunder¬
barerweise bewußt gewordnen Atomgruppierungen hält, und die das Höchste
vou geistigem Leben, das wir kennen, die ehrwürdigen Gestalten der Bibel
und ihre Lehren und Wirkungen, mit geflissentlicher Gehässigkeit herabsetzt,
lehnen wir mit derselben Entschiedenheit ab wie starck. Aber zwischen dieser
materialistischen Theorie, die auch viele Assyriologen angesteckt zu haben scheint,
und dem orthodoxen Offenbarungs- und Jnspirationsglauben gibt es noch eine
dritte Ansicht, die vielerlei Schattierungen zuläßt. Die, zu der sich der Kaiser
in seinem Briefe an den Admiral Hollmann bekannt hat, ist ungefähr auch die
unsre. Die Welt ist selbstverständlich eine Schöpfung Gottes; der Schöpfer
bleibt seiner Welt als Lenker nahe, so nahe, daß man ihn immanent nennen
darf, und er lenkt natürlich vor allem das Denken, Sinnen, Trachten und
Schicksal der Geschöpfe, die von sämtlichen uns bekannten die höchsten, und
um derenwillen die übrigen vorhanden sind. Die Lenkung geschieht in
einem weitern, dem weltgeschichtlichen, und in einem engern Kreise, den die
Theologie den Kreis der Offenbarung oder Erlösung oder Heilswirkung nennt.
Die Offenbarung geschieht aber nicht, wie sich naive Menschen und Geschlechter
vorstellen, durch körperliche Erscheinungen und Ansprachen Gottes und seiner
Engel, sondern nicht anders als die sonstige Leitung: durch Fügung der äußer¬
lichen Schicksale und durch innerliche, psychologische Einwirkung, die beide zu¬
sammen den von Gott zu Lehrern und Leitern der Menschheit erwählten
Menschen die wichtigsten religiösen und sittlichen Wahrheiten offenbar machen.
Solche innerliche, psychologische Offenbarung steht durchaus im Einklang mit
der halbpantheistischen Weltansicht, die Goethe in den berühmten Spruch:
„Was wär' ein Gott, der nur von außen stieße", gekleidet hat, und wird
durch die Erfahrungen großer und heiliger Menschen bestätigt. Wenn Gott
das Spiel der Atome so lenkt, daß ein Teil von ihnen gezwungen wird, zu
organischen Gebilden zusammenzutreten, und diesen Gebilden die Kraft ver¬
leiht, allen in sie eintretenden Atomen die Bahn für ihre Bewegung und den
Ort für ihr Verweile« anzuweisen, ähnlich wie es die Felsen, die einen Wasser¬
fall bilden, mit allen in ihre Höhlung eintretenden Wassermassen tun; wenn
Gott die Gedanken, Wünsche und Bestrebungen der Menschen so leitet, daß
bestimmte politische Gebilde entsteh», die bestimmte Aufgaben im Interesse der
Gesamtmenschheit zu lösen haben, warum soll er da nicht auch einzelnen
Geistern religiöse Gedanken inspirieren können, die das diesseitige Kulturleben
des Menschen vollenden und ihn für ein jenseitiges höheres Leben vorbereiten,
nicht ein ganzes Volk für diesen Zweck benutzen können? Im Babylonien
Hammurabis und auch, darf man schließen, bei den mit diesem in Verkehr
stehenden semitischen Nomadenstämmen war die Intelligenz hoch genug ent¬
wickelt, daß ein Abraham den reinsten und höchsten Gottesbegriff fassen konnte,
ohne daß seine psychologische Entwicklung durch ein Wunder im groben Sinne
des Wortes unterbrochen oder beschleunigt oder sonstwie gestört worden wäre,
gerade so wie reichliche anderthalbtausend Jahre später Plato und zwei¬
tausend Jahre später Jesus Gott als reinen Geist erkannt haben. Wenn man
will, kann man auch die griechische Philosophie eine göttliche Offenbarung
nennen, und nicht bloß sie, sondern auch die griechische Kunst und Realwissen¬
schaft, die heutige Wissenschaft, überhaupt das gesamte Geistesleben der Mensch¬
heit, in dem sich Gott ja tatsächlich offenbart, wie denn die Kirche nach des
Apostels Vorgang (Römer 1, 20) diese natürliche Offenbarung als die un¬
entbehrliche Grundlage der sogenannten übernatürlichen ausdrücklich anerkennt —
einem vernunftlosen Wesen, einem Tier, kann die Trinitüt so wenig offenbart,
mitgeteilt werden wie der pythagoreische Lehrsatz. Wenn wir nun auch an eine
im dogmatischen Sinn übernatürliche Offenbarung nicht glauben, so halten wir
uns dennoch für berechtigt, von der allgemeinen, in der natürlichen Entwicklung
der vernünftigen Anlage bestehenden Offenbarung eine Offenbarung im engern
Sinne zu unterscheiden, die durch eine Jahrtausende umfassende Reihe von
planvollen Veranstaltungen die Menschheit über Gott und unser Verhältnis
zu ihm in einer weit vollkommenem und wirksamern Weise aufgeklärt hat, als
es durch Plato geschehen ist. Als Uroffenbarung wäre bei dieser Auffassung
die dem ersten Menschen verliehene Vernunft zu bezeichnen.
Also nicht im Orthodoxismus Starcks liegt die Hilfe, die er uns leistet,
sondern lediglich in der sehr reichlichen Materialiensammlnng seines Buches.
Wir überzeugen uns beim Lesen, daß wir mit Abraham den geschichtlichen
Boden betreten, wenn auch die weitern biblischen Erzählungen bis zur Königs¬
zeit, die den Historiographen amtliche Annalen als Unterlage schafft, vielfach
mit Volkssagen vermischt und ausgeschmückt sind. Sehr glaublich wird die
Auswanderung Tharahs, des Vaters Abrahams, aus Chaldüa durch den Um¬
stand, daß der nomadisierende Teil der eingewanderten Semiten in dem wohl¬
kultivierten Babylonien bei zunehmender Bevölkerung leine Weiden mehr für
seine Herden fand, wahrscheinlich auch als ein unbequemes Element von der
seßhaften Bevölkerung hinausgedrängt wurde. Durch Inschriften bezeugt sind
die Anführer des Heeres, das nach den: vierzehnten Kapitel der Genesis
Abraham und seine Bundesgenossen besiegt haben. Amraphel ist Hammurabi,
Kedorlcwmor von Elam ist Kedurlagamar, der in der Tat König von Elam
und Hammurabis Lehnsmann war, Arioch von Ellasar ist Eriaku von Larsa,
und Thideal ist Tudghula, König der Goim. Die Vulgata hat das Gojim
der Bibel mit ^meinen übersetzt, und Luther schreibt dem jüdischen und ur¬
kirchlichen Sprachgebrauch gemäß König der Heiden; es hat aber nach den
Inschriften ein Volk gegeben, das Goim hieß. Ein Zug aus der Geschichte
Hagars findet seine Erklärung in den Gesetzen Hammnrabis. 1. Mose 16
wird erzählt, Sarah habe sich bei ihrem Gatten darüber beschwert, daß sie
von der Magd, nachdem diese schwanger geworden sei, verachtet werde;
Abraham aber habe geantwortet: „Siehe, deine Magd ist uuter deiner Gewalt;
tue mit ihr, wie dirs gefällt." Da nun, heißt es weiter, „Sarah sie demütigen
wollte, floh sie vor ihr". Das 146. der Gesetze Hammurabis lautet: „Wenn
jemand eine Frau nimmt, und diese ihrem Manne eine Magd zur Gattin gibt,
und die Magd ihm Kinder gebiert, dann aber diese Magd sich ihrer Herrin
gleichstellt, weil sie Kinder geboren hat, so soll ihre Herrin sie nicht für Geld
verkaufen. Das Sklavenmal soll sie ihr einritzen und sie unter ihre Mägde
rechnen." Das Demütigen, bemerkt starck, bedeutet also das Einritzen des
Sklavcnzeichens. Von der Zeit des Jesaja an lassen sich die alttestamentlichen
und die Keilschriftenangaben aneinander gegenseitig kontrollieren. Für die
Einnahme Samarias, schreibt starck, stehe das Jahr 722 nach beiden Quellen
fest. „Wenn aber einmal die Rechnungen auf beiden Seiten nicht bei der
ersten Probe übereinstimmen wollen, so ist es geraten, nicht ohne weiteres
dem Alten Testament die Schuld zuzumessen, sondern lieber daran zu denken,
daß Angaben der Bibel, die man schon verworfen hatte, sich nachträglich
mehr als einmal als richtig erwiesen haben, und daß die Keilschriften bei
der Stellung der Hofliteraten, die sie anfertigten, in mancher Beziehung
unzuverlässig — sein müssen."
Daß die babylonischen Wcltschöpfungslegcnden auch schon nach den bis
jetzt unter dem Publikum verbreiteten Texten die Stellung neben oder gar
über den ersten Kapiteln der Genesis, die man ihnen anweisen möchte, nicht
verdienen, ist oft auch in den Grenzboten gesagt worden. Auch Oppert hat
den großen Unterschied hervorgehoben. „In der Bibel ist Gott vor der Er¬
schaffung der Welt da, in Chaldüa ist er der leere Raum, der Abgrund, das
Chaos, aus dem die Götter nacheinander entstehn." Dazu kommt, daß von
einigen Assyriologen, wie starck Seite 231 andeutet, zugestutzte Texte ver¬
breitet worden sind, die das Publikum irre führen. Das Hauptverdienst Starcks
setze ich darein, daß er eine Menge Texte aus der von Schröder heraus-
gegebnen Keilinschriftlicheu Bibliothek mitteilt. Leider vermindert er sein Verdienst
wieder dadurch, daß er nur einzelne Stücke im Wortlaut gibt, gerade in den
beiden wichtigsten Sagen aber den Text mit seinen Glossen verflicht und stellen¬
weise den Inhalt des Originals mit eignen Worten wiedergibt, ohne deutlich
erkennbar zu machen, wo der wortgetreue Text in die Inhaltsangabe über-
geht. Wir drucken die Anfänge der beiden Sagen c>b, so wie sie bei starck
lauten, nebst einigen von seinen Glossen.
In der Urzeit, als die Himmel oben noch keine Namen erhalten hatten, d. h.
noch nicht entstanden waren, und die Erde unten noch nicht war und noch keine
Götter waren, da wurde der Abgrund der Wasser ihr Erzeuger. Apsu, der
Hinnnelsozecm, und Tlamat, der Erdozean, verbanden sich miteinander (ehelich),
daß die Götter alle geboren wurden. Ihre Wasser waren an einen Ort gesammelt,
aber Schilf war noch nicht erschienen, das Kraut des Feldes noch nicht gewachsen.
Erst später wurden große Götter gebildet. Zuerst gingen Landau und Lachamu aus der
Verbindung der beiden Ozeane hervor; doch bald mehrte sich ihre Zahl, indem Ansar
und Kisar, Ea und Ann gebildet wurden. Da sprach Apsu, der Himmelsozean,
zu Tlamat, dem Erdozean: „Eilends will ich sie verwirren und ihren Weg ver¬
derben." Zu dieseni Kampf der alten Götter gegen die neuen Götter, der das
Thema des Epos darstellt ftas man unberechtigterweise die chaldäische Genesis ge¬
nannt hat; viel näher liegt der Vergleich mit dem Kampf der olympischen Götter
gegen die Titanen) ist Tlamat alsobald bereit: „Eilends wollen wir gegen sie
ziehn." Beide Ozeane werden von Muninn, dem Sohne Apsus, unterstützt. Aber
Tlamat, die Mutter des Nordens, raste und fluchte, machte unwiderstehliche Waffen,
gebar ganze elf Ungeheuer, nämlich Riesenschlangen mit spitzen Zähnen und gift¬
gefüllten Leibern, Molche, Fischmenschen, Widder usw. . . . Kingu, eins der erst-
gebornen Kinder der Tlamat, soll dieser Schar von Ungeheuern als Befehlshaber
vorangehn. Sie sagt zu ihm: „Deinen Zauber habe ich gesprochen, ich habe dich
groß gemacht und mit der Herrschaft über die Götter belehnt. Du sollst der größte
sein, du mein lieber Buhle." Darauf befestigt sie die Schicksalstafeln an seiner
Brust, damit jeder Befehl, der aus seinem Munde gehe, feststehe." Als Ansar von
Tiamats Aufruhr hörte, schlug er an seine Scham und biß seine Lippen und sprach
zu Ann, seinem Sohne: „Auf, mein Sohn, beginne den Kampf. Dn wirst Apsu
bezwingen, und ich will Tlamat entgegentreten." Als aber Ann der Tlamat ins
Auge gesehen hatte, kehrte er ohne Kampf zu Ansar zurück. Dieser forderte nun
Marduk zum Kampfe auf. Hier, wo Marduk als ein nisu8 sx ins-obina. auftritt,
scheint eine kleine Unterbrechung des Berichts gerechtfertigt. Man erfährt nicht,
woher dieser Marduk kommt. Erst später wird er Anus Sohn genannt. Von ihm
ans wird das ganze Epos z» verstehen sein. Es ist abgefaßt, um ihn unter die
Götter und über die Götter zu erheben. sDas Epos spiegelt also den Kampf der
Städte und Staaten gegeneinander, deren Repräsentanten die Lokal- und die Staats¬
götter sind. j Die astrologische Deutung ist als die spätere anzusehen. Wo hätten auch
die Sternkundigen am Himmel das Vorbild dieser Kampfgeschichte sehen können?
sDer Schluß des Epos lautet:) Marduk bewältige Tlamat bis zum Alter der Tage.
Fünfzig Namen gaben ihm die Götter. Davon erzähle der Vater und lehre sie
den Sohn. Er möge sich freuen über Marduk, den Herrn der Götter, daß er sein
Land gedeihen lasse, ihm selbst es wohlergehe. Daß die Gebote Eas gelehrt, von
Weisen und Klugen bedacht werden. Denn beständig ist das Wort Marduks, des
Herrn der Götter. Marduk hatte den Rumpf der besiegten Tlamat gespalten, aus
der Haut der einen Hälfte die Himmelsdecke gemacht und im Himmel ein Gebäude
errichtet als Wohnung für die drei großen Götter Ann, Bel und Ea, die nun
nebst andern Götter» Sterne und Sternbilder bedeuten und den Monaten vor¬
stehen.) Also diesem blutigen Kriegsliede soll der biblische Schöpfungsbericht ent¬
nommen sein? sÜber die Schöpfung des Menschen wird im Enumacpos berichtet:)
Als Marduk die Rede der Götter hörte, da umhin er sich in den Sinn, Kunst¬
reiches zu schaffen. Er öffnete seinen Mund und sprach zu Ea, was er in seinem
Innern ersann, (ihm) anleitend: „Blut will ich nehmen und Bein will ich (bilden),
will hinstellen den Menschen; der Mensch möge sieben); will erschaffen den Menschen,
daß er bewohne (die Erde); auferlegt sei (ihm) der Dienst der Götter, die wohnen
(in ihren) Gölterkammern." jDer Anfang des Epos von Gilgamis und Istar lautet:^
In der Einsamkeit, fern von den Wohnungen andrer Menschen, lebte Eabani, das
Abbild Anus, ein Geschöpf Arurus, am ganzen Leibe behaart. Er frißt Kraut
mit den Gazellen, geht mit dem Vieh zur Tränke, tummelt sich im Wasser mit
den Fischen. Niemand beschränkt oder belästigt den weisen Menschen in dem glück¬
lichen Zustande dieser Freiheit, bis der Jäger Zaidu ihm begegnete. Der be¬
schwerte sich bei Ann über Eabanis Übergriffe: er fülle seine Fanggruben ans und
nehme seine Netze weg. Ann der Weise gibt auf solche Beschwerde dem Jäger
den Rat, er solle ein Freudenmädchen mitnehmen. Die soll ihr Gewand ablegen
und den Gewaltigen anlocken. So geschieht es. Sechs Tage und sieben Nächte
leben die beiden zusammen. Dann spricht die Dirne zu ihm: „Schön bist du,
Eabani. Wie ein Gott bist du. Ich will dich nach Erech führen, wo Gilgamis
über die Männer gewaltig ist." In dieser eklen Ausgeburt einer heidnischen Phantasie
sieht ein evangelischer Gelehrter unsrer Tage eine „naive Erzählung, in der eine
gewisse Jdeenverwcmdtschaft mit dem biblischen Bericht (mit welchem?) vorliege".
Als einzige Entschuldigung für eine solche Verirrung läßt Stcirck nur
gelten, daß der Herr eben einen zugestutztem und gefärbten Text benutzt habe.
Liest man die Sagen in der Form, wie sie starck darbietet, so kann in der
Tat kein Mensch bei gesunden Sinnen daran denken, die erhabnen, einfachen
Erzählungen der Bibel, vollendete Kunstwerke im Lapidarstil, die tiefe Wahr¬
heit enthaltenden Dichtungen eines von Gott inspirierten Genies (oder mehrerer
solcher) aus dem chaldäischen Wust ableiten zu wollen. Etwas anders steht
es um einen in humero-akkadischer Sprache abgefaßten, also sehr alten Text,
der den Inhalt der biblischen Geschichte vom Sündenfall kurz wiederzugeben
scheint: „In Sünde kamen die beiden — die ersten Menschen — überein. Das
Gebot war im Garten Gottes gegeben. Vom Ascunbcmm aßen sie und brachen
ihn entzwei. Seinen Stiel zerstörten sie, den süßen Saft, der dem Leibe
schadet, tranken sie. Groß ist ihre Sünde. Sich selbst erhoben sie. Dem
Marduk, ihrem Erlöser, überwies der Gott sar ihr Geschick." Hier haben
wir, meint starck, „sozusagen die erste Übertragung der alten s^die Uroffenbarung
fortpflanzenden^ Überlieferung in das neue Heidentum". Nach meiner Auf¬
fassung ist darin ein Niederschlag der die wirkliche Uroffenbarung, die Ver¬
nunft, auf dem religiös-sittlichen Gebiet entwickelnden Tätigkeit; einer Tätig¬
keit, die nicht die Bnbylonicr, sondern die wieder ausgewanderten Semiten,
und zwar insbesondre Abraham und seine Nachkommen fortgesetzt haben. Daß
stammverwandte Völker ihre Verwandtschaft auch in Form und Inhalt ihrer
Dichtungen bezeugen müssen, ist ja selbstverständlich, und so kann es nicht
überraschen, die Baumsymbolik bei den Juden wie bei den Babyloniern zu
finden. Aber gerade im religiös-sittlichen Gebiete sind die Ähnlichkeiten spärlich
und schwach. Während die jüdische Intelligenz, wie wir nach heutigem Sprach¬
gebrauch ihre Propheten nennen dürfen, alle ihre Kräfte ausschließlich in der
Reinigung und Vollendung des Gottesbegriffs und in dem Bemühen um
einen diesem Begriff entsprechenden Kultus, um die Anbetung Gottes im Geist
und in der Wahrheit, d. h. durch ein sittliches Leben, erschöpfte, haben sich die
Babylonier mit aller Macht auf die Fortbildung der Zivilisation, der materiellen,
technischen Kultur geworfen, das religiös-sittliche Leben aber verwildern und
versumpfen lassen. Zu den deutlichen Anklängen an die israelitische Religion
gehören die Bußpsalmen und solche Aufzählungen von Sünden, wie sie die
römische Kirche in ihren Beichtspiegeln zur Gewissenserforschung empfiehlt.
Abgesehen nun davon, daß es „einen schlechten literarischen Geschmack" ver¬
rät, diese Bußpsalmen und andre babylonische Psalmen an Wert denen der
Bibel gleichzustellen, erkennt man aus ihnen, daß die babylonische Sittlichkeit
rein legaler Art war, und daß die Gewissensbisse bloß aus der Furcht vor
dem Gott oder der Göttin entsprangen, deren Zorn man dnrch Übertretung
ihrer Gebote erregt haben konnte. Rituelle Verfehlungen werden den sittlichen
durchaus gleich gesetzt; mau ängstigt sich, weil man unwisfenderweise etwas
Verbotnes gegessen, auf einen Greuel getreten haben könne; man nennt in
den Sühngcbeten bald diesen, bald jenen Gott an erster Stelle, um nur ja
keinen zu beleidigen, und man versäumt es nicht, auch den unbekannten Gott
anzuflehen, den man beleidigt haben könnte. (Eine Psalmeuprobe! Zu Istar,
„dem Freudenmädchen unter den Göttern", betet man: „Der Herr, der große
Berg, der Gott Bel, möge dein Gemüt besänftigen. O Istar, Herrin des
Himmels, möge dein Herz sich beruhigen. Gebieterin, Herrin des Himmels,
möge dein Gemüt sich erfreuen. Gebieterin, Herrin von Ecmna, möge
dein Herz sich beruhigen. Gebieterin, Herrin des Bodens von Urugga,
möge dein Gemüt sich erfreuen" und so fort mit immer neue» Titeln.) Der
wüsten Phantastik der Mythen entsprach der wüste Aberglaube, mit dem man
alle Übel auf dämonische Einwirkungen zurückführte und durch Beschwörungen
und Zaubermittel zu bannen suchte. Der Hexenwahn samt Scheiterhaufen hat
hier seinen Ursprung, was jedoch, wie schon bei einer andern Gelegenheit be¬
merkt wurde, den europäischen Christen insofern zur Beschämung gereicht, als
ihre ersten Lehrer im Aberglcinben nicht die Hexe selbst, sondern statt ihrer
bloß eine Strohpuppe zu verbrennen pflegten. Das mosaische Gesetz und die
Propheten haben alle Arten von Aberglauben, insbesondre Zauberei, Wahr¬
sagerei, Totenbeschwörungen strengstens verboten und wo immer und so weit
immer ihr Einfluß reichte, aus dem Volksleben ausgetilgt. Es gehört zu den
Beweisen für die Zuverlässigkeit der biblischen Autoren, daß Jescija (z. B. 8,19)
das Flüstern der Zauberer erwähnt; das war nach den babylonischen Urkunden
rituelle Vorschrift. Bekannt ist ja, wie auch eine der wertvollsten Schöpfungen
der Chaldäer, die Astronomie, dem Aberglauben dienstbar gemacht worden ist.
Das Vorhersagen aus den Gestirnen und das Horoskopstellen waren gewinn¬
bringende Tätigkeiten. Der Astronom stieg ans die Stufe des ebenfalls gut
bezahlten Traumdeuters hinab. Die Wissenschaft wurde nach starck „fast
nur im astrologischen Interesse", des Gelderwerbs und der Herrschsucht wegen,
betneben: der Sterndeuter hatte den König in der Hand, da dieser kaum
wagen durfte, gegen den Willen der Gestirne, der Götter, etwas zu unter¬
nehmen. Das mag für die spätere Zeit richtig sein,- im Anfange wird wohl,
wie in Ägypten, das ökonomische Interesse zur Beobachtung der Gestirne getrieben
haben. Im übrigen wird die „Sittlichkeit" der chcildüischen Religion genügend
durch die bekannten Tatsachen charakterisiert, daß Prostitution und grausame
Menschenopfer am Euphrat und Tigris wie in Phönizien wesentliche Bestand¬
teile des Kultus, und daß die Assyrier Meister in raffinierter Grausamkeit, im
lebendig Schinder, Pfählen und ähnlichen Künsten waren. Von der Humanität,
die das Deuteronomium und die Propheten hoch über die Ethik aller vor¬
christlichen Völker, die Griechen nicht ausgenommen, erhebt (ich habe sie im
zweiten Teil meiner „Wandlungen" S. 211 ff. charakterisiert), findet sich
natürlich bei diesen Völkern keine Spur, obwohl die Gesetze Hammurabis einen
reich ausgebildeten und gesicherten Rechtszustand bekunden. Alles in allem ge¬
nommen bleibt es dabei: die Keilinschriften haben das Buch der Bücher nicht
entthront, sondern sein Ansehen erhöht. Zur Empfehlung des Buches von
starck sei noch bemerkt, daß es auch eine ausführliche Topographie der beideu
Reiche, des babylonischen und des assyrischen, enthält (ein Verzeichnis der
Städte, Angabe ihrer Lage und Beschreibung der bekanntern) sowie Verzeich¬
nisse der den Babyloniern und Assyriern bekannten Tiere, Pflanzen, Steine,
Arzneistoffe und ein sehr vollständiges Personen- lind Sachregister.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich das Buch eines Amateurexegeten er¬
wähnen, dessen Erklärung der ersten Kapitel der Genesis jeden andern als
einen national-israelitischen Ursprung dieser aus symbolistischer Spekulation
und Stammesüberlieferungen gemischten Dichtung ausschließt. Der im Mai 1907
verstorbne Dresdner Rechtsanwalt a. D. und Standesbeamte Moritz Engel,
„mehr als vierzig Jahre hindurch ein treuer Leser der Grenzboten", wie sein
Sohn mir schreibt, hat sich im Jahre 1855 dem Bibelstudium zugewandt und
nach Erlernung der hebräischen Sprache von 1372 an die Bibel zum Gegen¬
stande selbständiger und fachmäßiger Forschungen gemacht. Deren Frucht ist
ein Buch, dessen Drucklegung er uicht erlebte. Sein Sohn hat es (bei Wil¬
helm Baensch in Dresden 1907) mit zwei Karten herausgegeben nnter dem
Titel: Wirklichkeit und Dichtung. Aufschlüsse über 1. Mose 2 bis 4;
6, 1 bis 14; 9, 18 bis 27; 11 und 12, 1 bis 6. Dem Vorwort hat Professor
Dr. Paul Hohlfeld eine Empfehlung beigefügt, in der es heißt: Der Verfasser,
der freilich nicht Fachmann war, „vereinigte in seltener Weise Tiefsinn und
Scharfsinn, philosophische Schulung und reiches geschichtliches, erdkundliches
und sprachliches Wissen. Mögen die Fachgelehrten, was hier über die zwei
symbolischen Bäume des Paradieses, über die Völkertafel usw. behauptet und
nachgewiesen wird, unbefangen prüfen, das etwa Irrige widerlegen und
berichtige», das Neue und zugleich ewig Wahre aber freudig und dankbar an¬
erkennen und aufnehmen."
Ich Versuche das Hauptergebnis der Forschungen Engels über die ersten
vier Kapitel der Genesis in Kürze mitzuteilen. Diese Kapitel bestehn aus drei
Dichtungen: einer ältern, einige Verse des zweiten Kapitels und das vierte
Kapitel umfassenden, und zwei jüngern: der Schöpfungsgeschichte des ersten
Kapitels, die Engel nicht untersucht, und der Geschichte vom Sündenfall, die
in die älteste Erzählung eingeschoben und hineingearbeitet ist. Die älteste,
etwa in Salomos Zeit entstandne Dichtung erzählt den Ursprung, nicht des
Menschengeschlechts, sondern des auserwählten Volkes. Eden ist eine geo¬
graphisch genau zu bestimmende Landschaft: „ein breiter Talgrund von mehr
als achtzig Stunden Länge, der von der östlichen Hauranebene bis zum Dschof
in Nordarabien allmählich ansteigt". Die vier Flüsse sind nicht, wie eine un¬
sinnige Exegese herausgefunden hat, die Quellen des Euphrat, Tigris, Nil
und Ganges, sondern Quellbüche, die von den Talrändern in die inmitten des
Tales liegende Oase, in den dem Adam zur Wohnung cmgewiesnen Garten,
hinabströmen und ihn bewässern. Die Kerubim mit dem Flammenschwert östlich
von Eden, die — nach Engel nicht dem Adam, sondern — dem Kain den
Rückweg nach Eden versperren, sind feuerspeiende Vulkane. Adam bleibt nach
dieser ersten Erzählung bis an sein Lebensende in Eden. Die eingeschobne
symbolische Dichtung stammt aus der doppelt bösen Zeit des götzendienerischen
Königs Manasse und der assyrischen Einfälle. Sie ist eine Theodicee, die
die Gottlosigkeit der Menschen und das geplagte Dasein der Weiber und der
in ihrer Lage den heutigen Fellachen ähnlichen jüdischen Bauern erklären soll,
ohne Gott dafür verantwortlich zu machen. Ihr Verfasser oder ihre Ver¬
fasserin, Engel vermutet, daß es die Prophetin Hulda (2. Königin 22, 14) ge¬
wesen sei, ist unter den Mitgliedern eines Geheimbunds zu suchen, der aus
Jüngern des Jesaja bestand, der auch das Deuteronomium geschaffen, und
der dann unter dem frommen Könige Josias mit seinen Schöpfungen offen
hervortreten konnte. Die Dichtung hat einen exoterischen und einen esoterischen
Sinn. Der exoterische ist folgender: Gott hatte nicht mehr als zwei Menschen
haben wollen, die in kindlicher Unschuld und in Gehorsam gegen ihn in un¬
getrübtem Glück ewig leben sollten. Mit dem Guten und dem Schlimmen,
das sie nicht kennen lernen sollten, sind das Süße und das Bittere, die Wollust
und der Tod gemeint. Vermehrter sich die Menschen, dann wurde für sie wie
für alle andern organischen Wesen der Tod eine Notwendigkeit, mußte jedes
Geschlecht dem seiner Nachkommen Platz machen. Ein Dämon nun verlockte
sie dazu, das Süße zu kosten, weil er durch die Vermehrung der Menschen
seinen Machtbereich auszudehnen gedachte. Ihn verflucht Gott; die Menschen
hat er nicht verflucht, sondern ihnen nur die natürliche!? Folgen der von ihnen
gewählten Daseinsweise, des Kinderzeugers, Gebarens und der Menschen¬
anhäufung, verkündigt. Die Bäume sind lediglich Symbole, an wirkliche Bäume
ist nicht zu denken. Nach der esoterischen Deutung ist mit dem Baum der
Erkenntnis der Sternhimmel gemeint, aus dem die Chaldäer weissagten. „In
der hebräischen Sprache bedeutet das Wort nachasch sowohl Schlange als auch
Wahrsagung." Gutes und Böses erkennen bedeutet hier klug sein, die Zu¬
kunft vorauswissen, ein Stück göttlicher Allwissenheit erlangen zu dem Zweck,
sich in allen Dingen das Glück, das Gelingen zu sichern. Der Dichter will
die Sterndeuterei als eiuen Weg zum Götzendienste verpönen. Dieser führt
durch seine bekannte Beschaffenheit auch zur Unsittlichkeit, aber daß die Menschen
durch den Genuß der verbotnen Frucht zur Unterscheidung des sittlich Guten
vom sittlich Bösen gelangt seien, ist nicht die Meinung des Dichters oder der
Dichterin. Wir werden niemals genau erfahren, was dieser oder diese eigentlich
gemeint und beabsichtigt hat; doch gerade in ihrer Vieldeutigkeit ist die schöne
Dichtung ein Schatz für sinnige Gemüter und grübelnde Geister, und die neue
Deutung, die Engel sehr glaubhaft zu machen verstanden hat, wird vielen
G
on auswärtigen Besuchern ist neben den schon genannten Nord-
uud Nordwestdeutschen noch eine hervorragende süddeutsche, rich¬
tiger österreichische Persönlichkeit zu nennen: der Dichter Franz
Grillparzer. Grillparzer, damals 35 Jahre alt, hielt sich vom
29. September bis zum 3. Oktober 1826 in Weimar auf. Über
ihn schreibt Goethe unter dem 11. Oktober an Zelter: „Grillparzer ist ein an¬
genehmer wohlgefälliger Mann; ein angebornes poetisches Talent darf man ihm
wohl zuschreiben; wohin es langt und wie es ausreicht, will ich nicht sagen.
Daß er in unserem freien Leben etwas gedrückt erschien, ist natürlich."
Dieses „freie" weimarische Leben war nun allerdings nicht der Grund
von Grillpcirzers Gedrücktheit. Er selbst nennt in seinen Lebenserinnerungen
mit der ihm eignen Wahrheitsliebe und Bescheidenheit die wirklichen Grüude
seiner „Furcht" vor Goethe.
„Diese Furcht, schreibt Grillparzer, bestand aus mehreren Elementen.
Einmal schien mir in dem ganzen Bereich meines Wissens nichts, was würdig
gewesen wäre, Goethen gegenüber vorgebracht zu werden. Dann habe ich
meine eigenen Arbeiten erst später im Vergleich mit den Zeitgenossen schätzen
gelernt; im Abstände von dem Frühergewcsenen, namentlich hier in der Vater¬
stadt der deutschen Poesie, kamen sie mir höchst roh und unbedeutend vor.
Endlich habe ich schon gesagt, daß ich Wien mit dem Gefühle eines gänzlichen
Versiegens meines poetischen Talentes verlassen hatte, welches Gefühl sich in
Weimar bis zur eigentlichen Niedergedrücktheit vermehrte. Goethen aber
Klagelieder vorzusingen und von ihm durch nichts verbürgte Tröstungen ent¬
gegenzunehmen, schien mir doch gar zu erbärmlich.
In diesem Unsinn war übrigens doch auch ein Körnchen Sinn. Goethes
damalige Abneigung gegen alles Heftige und Gewaltsame war mir bekannt.
Nun war ich aber der Meinung, daß Ruhe und Gemessenheit nur demjenigen
anstehe, der im Stande ist, einen so ungeheueren Gehalt hineinzulegen, als
Goethe in der »Iphigenie« und im »Tasso« gethan hat. Zugleich meinte
ich, daß jeder die Eigenschaften in's Spiel bringen müsse, in denen er seine
Stärke hat. Das waren nun bei mir damals warme Empfindung und starke
Phantasie. Die Gründe einer solchen Abweichung von seinen Ansichten ihm
selbst gegenüber zu vertheidigen, fühlte ich mich, ans meinem damaligen Stand¬
puncte der unbefangenen Anschauung, viel zu schwach; seine Darlegung aber
mit einer geheuchelter Billigung oder einem lügenhaften Stillschweigen hinzu¬
nehmen, dazu hatte ich vor ihm viel zu viel Ehrfurcht."
Über seinen Verkehr mit Goethe schreibt Grillparzer an Katharina Fröhlich:
„Der alte Goethe war von einer Liebenswürdigkeit, wie seine Umgebungen
seit Jahren sich nicht erinnern, ihn gesehen zu haben. Ich speiste bei ihm
und mußte eine zweite Einladung leider darum ablehnen, weil ich bereits ver¬
sagt war. Er hat einen Maler fSchmeller^ bei sich, der ihm die Menschen,
die ihn vorzüglich interessiren, zeichnen muß; mir widerfuhr eine gleiche Ehre.
Leider habe ich ihn zum Danke für all die Güte tüchtig ennuyirt, denn mich
befiel jedesmal eine solche Rührung, wenn ich ihn sah, daß ich beinahe meiner
nicht Herr war und alle Mühe hatte, nicht in Thränen auszubrechen. Einmal
geschah es auch trotz alles Widerstrebens, als mich der alte Mann an der
Hand faßte, in's Eßzimmer führte und mit einem herzlichen Drucke an seine
Seite hinsetzte. Die Wirkung, die er auf mich hervorbrachte, war halb wie
ein Vater, halb wie ein König."
Nach der Betrachtung von Goethes dichterischer und schriftstellerischer
Tätigkeit während dieser Epoche und seiner Beziehungen nach außen werfen
wir zum Schluß noch einen kurzen Blick auf das wichtigste Verhältnis in
Weimar selbst, auf Goethes Beziehung zu seinem Fürsten, dem Großherzog
Karl August, der, wie schon erwähnt, unter den Adressaten des neuen Brief¬
bandes weitaus die erste Stelle einnimmt.
Unerschütterlich hatte der Bund zwischen dem Fürsten und dem Dichter,
der zugleich der erste Staatsdiener war, sich bewährt, durch alle Stürme der
Zeit hindurch, während eines halben Jahrhunderts. Dieser Tatsache hatte
der Großherzog sichtbaren, wahrhaft fürstlichen Ausdruck gegeben durch die
goldne Jubiläumsmedaille zum 7. November 1825; sie zeigt auf der einen
Seite Goethes Bildnis, auf der andern das Doppelbilduis Karl Augusts
und seiner Gemahlin, mit der lcipidaren Inschrift Lark ^u^use unä I/uso
— voetliLn - lium VII. Uovdr, UV00VXXV. Der beauftragte Künstler,
Brandt in Berlin, hatte freilich wegen der ihm allzu kurz bemessenen Zeit
zunächst ein Werk geliefert, das wenig Beifall fand. „Da sehe ich ja wie
ein Stier aus", soll Goethe beim ersten Anblick ausgerufen haben. Brandt
unternahm, nach längern Beratungen, an denen sich auch der Bildhauer Rauch
beteiligte, eine neue Ausführung, die zu allgemeiner Zufriedenheit gelang; die
Vollendung zog sich aber bis weit in das Jahr 1826 hinein. Unter dem
7. November 1826, also genau ein Jahr nach dem funfzigjährigen Jubiläum,
findet sich in Goethes Tagebuch der Vermerk: „Jahrestag meiner Ankunft
in Weimar. Serenissimus sendeten die wohlgelungene Medaille mit gnädigsten
Handschreiben." Dieses, vom selben Tage datierte „gnädigste Handschreiben"
Serenissimi (man findet es in der Ausgabe des Briefwechsels gedruckt) schließt
mit den Worten: „Unter uns bleibe es immer beim Alten. Amen." Goethes
Antwort, bisher nicht bekannt, in unserm Bande zum erstenmal veröffentlicht,
lautet:
schon vor einem Jahre mir zugedachte, ganz unschätzbare Gabe hat sich im
Verlauf dieser Zeit durch Höchst Ihro ununterbrochene Theilnahme und Ein¬
wirkung zu einem trefflichen Kunstwerk gesteigert. Jeder Beschatter, der den
ästhetischen Sinn nunmehr völlig befriedigt sieht, fühlt auch zugleich den sitt¬
lichen erhöht, indem Absicht und Ausführung mit einander völlig überein¬
stimmen.
Was ich, auf den sich dieses schöne Werk unmittelbar bezieht, hiebei
empfinden müsse, ist Höchst Denenselben nicht unbewußt. Gefühl, Sinn und
Gedanke bleiben an den Pflichten freudig geheftet, die für mich seit so vielen
Jahren immer wohlthätiger geworden sind."
Gewiß ist es die Nachwirkung des überwältigenden Eindrucks der bei
seinem funfzigjährigen Jubiläum ihm zuteil gewordnen Ehrungen, der Goethen
jetzt zu dem rührenden Bekenntnis nötigt, das sich in einem bisher unbekannten
Schreiben an Adolph Wagner findet, als dieser ihm sein Werk II I?g,rQWo
ItaliMO mit der Widmung ^.1 ?rinoixo als' ?c>6ti, (Zoetdv übersendet: „Es
begegnet mir seit einiger Zeit so viel Gutes, daß, wenn ich nicht eine redliche
Selbstkenntniß, welche uns immer auf die Überzeugung unserer Mängel zurück¬
führt, mir von jeher als Leitfaden festgehalten Hütte, ich nun befürchten müßte,
aus dem wahren und reinen Kreise, den Gott und die Natur mir vorschreiben
wollen, irrend herauszuweichen."
Eine für Karl August wichtige Angelegenheit kam, durch Goethe gefördert,
während der ersten Monate, die unser Briefband umfaßt, zum glücklichen Ab¬
schluß; es ist die nach des trefflichen Rehbein frühzeitigem Tode notwendig
gewordne Wahl und Anstellung eines neuen Leibarztes. Doktor Karl Vogel,
dem wir das inhaltreiche Buch „Goethe in amtlichen Verhältnissen" und wert-
Volle Mitteilungen über Goethes letzte Krankheit verdanken, trat im Januar 1826
in seinen neuen Wirkungskreis ein und fand sogleich Gelegenheit, sich bei der
Behandlung von Goethes Halsleiden dem Dichter von der menschlichen und
wissenschaftlichen Seite zu empfehlen. Goethe berichtet darüber in einem bisher
ungedruckten Briefe an den Großherzog vom 12. Juli:
„Vor allen Dingen aber habe von Rath Vogel zu melden, dessen Per¬
sönlichkeit mir und andern gar wohl gefällt. Er ist klar, offen, heiter, sich
selbst deutlich und wird es dadurch auch bald andern. Sein Handwerk ver¬
steht er aus demi Grunde, seine Ansichten sind schnell und bestimmt, so auch
seine Anordnungen; in seinem ganzen Thun und Lassen ist eine Art von
preußischer Entschiedenheit, aber keine Spur von Anmaßlichem, Affectirtem,
viel weniger Zurückhaltendem und heimlich Sinnenden.
Ich habe ihn diese wenige Tage her mehrfältig prüfen können; er assistirte
dem Verband meiner Halswunde, wobei mir sein Urtheil, Nath lind Zeugniß
sehr zur Beruhigung diente; auch würde sie sich schon geschlossen haben, wenn
man es nicht für besser achtete, sie noch ein wenig offen zu halten.
Meine diätetischen Gebräuche hab' ich ihm gleichfalls vorgelegt, da er
denn mein Kreuzbrunnenmaaß schon auf die Hälfte reduzirt hat und mich nach
und nach ganz davon entwöhnen möchte. Wir wollen sachte Verfahren.
Übrigens leb' ich der Hoffnung, daß Ew. Königlichen Hoheit Prüfung
ihm gleichfalls zu Gunsten ausfallen werde.
Gar manches Capitel hab' ich mit ihm durchgesprochen; besonders auch
traut er sich in medicinischer Polizei etwas zu und erweist sich durchaus seinen
Empfehlungen gemäß."
Karl August befand sich zur Zeit in Wilhelmsthal und hielt dort mili¬
tärische Übungen ab. Hierauf spielt Goethe am Schluß des eben genannten
Briefes an, indem er schreibt: „Und so fahren wir fort im Genuß der fried¬
lichen Tage zu verweilen, indessen Ew. Königliche Hoheit ein Bild des Krieges
in Berg und Thälern hervorzaubern."
Über diesen Krieg im Frieden findet sich in einem kürzlich erschienenen,
viel Neues bietenden und überaus lesenswerten Büchlein: „Briefe an Fritz
von Stein, herausgegeben und eingeleitet von Ludwig Rohmann" (Inselverlag
zu Leipzig, 1907) eine interessante Bemerkung. Karl von Stein auf Kochberg,
dessen Briefe sich durch originelle Ausdrucksweise und kernigen Humor aus¬
zeichnen, schreibt an seinen Bruder Fritz von Stein unter dem 18. Juli 1826:
„Der Großherzog hält Revue über die Conseribirten und hat seine Armee in
der Nähe von Wilhelmsthal versammelt; und damit sie bivaquiren lernen nach
und nach, weil's kein stehend Heer ist, sondern aus der Arbeit genommene
junge Leute, so hat er ihnen Zelte machen lassen, aber nur für 5000 Thaler,
weil die Kammerrevenuen ein Deficit von jährlich 50,000 Thalern leiden, durch
die banquerouten Pächter. Um selbst aber bessere Aufsicht führen zu können
von Wilhelmsthal aus, hat der gute alte Herr aus der Sparkasse in Weimar
zu der Reise, sagt man, 25,000 Thaler geborgt. Die Mutter, welche in der
Sparkasse, sagt sie, 150 Thaler hat und etwas ängstlich ist. hat darauf gleich
beschlossen, das Geld zu kündigen, da die Pächter sich nicht zu erholen scheinen.
Was das Bivaquiren betrifft, so wird es wohl noch gelernt werden. Es sind
19 gestorben, und die andern haben die Ruhr für's Vaterland, ist aber nicht
so schlimm, sondern sind nur ein paar verrückt geworden. Goethe kann ein
Gedicht drauf macheu; wenn ich wieder nach Weimar komme, will ich ihn be¬
nachrichtigen, daß er mich mit anführt, denn ich habe 3 Pr. Thaler mit zu
dem Manöver gegeben."
Goethe hat nun, soviel ich weiß, kein Gedicht auf dieses Manöver und
auf die an der Ruhr erkrankten Vaterlandsverteidiger gemacht. Wohl aber
müssen wir hier eines Goethischen Gedichts aus dieser Epoche und dessen Ver¬
anlassung erwähnen. Karl Augusts zweiter Sohn, der Herzog Bernhard, kehrte
im Juli 1826 von seiner großen Reise nach Nordamerika zurück; aus diesem
Anlaß veranstaltete die Loge Anna Amalia zu Weimar am 15. September eine
Feier, für die Goethe ein frisches Lied dichtete, das in den schönen Worten
cmsklingt Die Erde wird durch Liebe frei,
:
Durch Taten wird sie groß.
Herzog Bernhard hatte seine Erlebnisse und Erfahrungen auf dieser über
ein Jahr dauernden Reise in einem ausführlichen Tagebuch aufgezeichnet; die
Lektüre dieser Blätter bereitete Goethen viele lehrreiche und unterhaltende
Stunden. Eingehend berichtet er darüber in einem bisher ungedruckten Briefe
an Karl August unter dem 20. Juli:
verehrteste Frau Gemahlin, welcher angelegentlichst empfohlen zu sein wünsche,
hat die Gnade gehabt, mir die Reisebeschreibung des Herzogs Bernhard, welche
dankbarlichst anbei zurückerfvlgt, zu gar erfreulichem Durchlesen vor einiger
Zeit mitzutheilen. Was ich auch hier wieder bewunderte, war die Strategie,
womit der Zug unternommen und ausgeführt wurde; es ist kein zufälliger
Schritt und also auch kein unnützer. Der Reisende erscheint durchaus im
Gleichgewicht; alle seine Eigenschaften begleiten sich geschwisterlich, und wer
ihn nicht kennte, müßte gar eigen hernmrathen. Man sieht einen überall will¬
kommenen Welt- und Lebemann, einen wohlunterrichteten geprüften Militär,
einen Theilnehmenden an Staats- und bürgerlichen Einrichtungen, bei Gast¬
mahlen und Tänzen an seinem Platz, gegen Frauen-Anmuth uicht unempfindlich.
Ferner scheu wir ihn bei öffentlichen Gelegenheiten beredt aus dem Stegreife,
in der Konversation unterhaltend, mit Anstand frei gesinnt, seiner Würde sich
bewußt und die Vortheile seines hohen Standes zu einem leichtern und rascheren
Leben benutzend.
Dabei entzieht er sich keiner Unbequemlichkeit, er weiß vielmehr, besonders
auf der Reise, die geselligen oft beschwerlichen Fahrten zu Leben und Unter-
richt zu benutzen. In Philadelphia verließ ich ihn an dem wichtigen Jahrs¬
tage von Perus Ankunft an jenem waldigen Ufer, wo nun zwischen zwei
Gewässern eine merkwürdige reiche Stadt bewohnbar ist.
Diese durch aufmerksames Lesen abgenöthigte Charakteristik möge verziehen
sein, da sie mit treuem redlichem Sinn aus dem Ganzen entsprungen ist.
Nun aber füge bescheiden eine Bitte hinzu: in der ersten Abtheilung,
welche gegenwärtig unter Geh. Legations-Raths v. Corda Aufsicht abgeschrieben
wird, findet sich eine Stelle, deren Copie mir erbitten möchte.
Auf dem Wege zwischen Boston und Albany findet der Reisende eine
wunderliche Colonie, Abart von den Quäkers, die sich Schäkers nennen, im
Cölibate leben, in ihren religiösen Zusammenkünften auf die Einwirkung des
Geistes harren, ihren Cultus aber mit einem fratzenhaften Tanze vollenden
und abschließen. Diese Stelle wünschte ich, als ganz etwas Neues und Un¬
erhörtes, den Freunden und Sammlern kirchengeschichtlicher Verrücktheiten gar
zu gern sLuj überliefern."
Das ist die schon erwähnte „Unvernunft", aus der sich Goethe wieder in
das „Vernünftige" rettet, indem er sich Wert und Würde der neuen Bürger¬
schule zu Weimar vergegenwärtigt.
Noch manches Bedeutende wäre aus dem neuen Briefbande hervorzuheben,
so vor allem das bisher Ungedruckte über die nach Goethes Ausdruck „bedenk¬
liche" Angelegenheit der Niederlegung von Schillers Schädel in der Gro߬
herzoglichen Bibliothek zu Weimar und die mit ihr verbundne Feier, der
Schillers Sohn Ernst und Goethes Sohn beiwohnten; das Mitgeteilte jedoch
dürfte genügen, um einen Begriff von der Reichhaltigkeit auch dieses neuen
Bandes von Goethebriefen zu geben.
Ein Brief, auch er bisher unbekannt, ist an Charles Sterling gerichtet,
den Freund Lord Byrons. Ein Band Tragödien Lord Byrons, den dieser
schon 1821, drei Jahre vor seinem Tode, Goethen mit eigenhändiger Widmung
bestimmt hatte, gelangte seltsam genug, durch sonderbare Schicksale aufgehalten,
erst jetzt in Goethes Hand. Er, der soeben seiner Verehrung für den genialen
Briten im Euphorion seiner „Helena" ein wundersames und großartiges
Denkmal gesetzt hatte, empfing das posthume Geschenk mit tiefster Rührung;
er las die in dem Bande enthaltnen Dichtungen, darunter den ihm von Byron
gewidmeten „Sardanapal", aber- und abermals, und nicht zu allen Stunden
mochte der Trostgesang des Klagechors in der „Helena" des Dichters Schmerz
um den großen Verlust besänftigen:
An Sterling schreibt Goethe jetzt: „Wie schmerzlich wir den Verlust
unseres verehrten wie bewunderten Lord Byron empfinden, wird ein treues
Mitgefühl Ihnen selbst culssprechcn. Jetzt nun gar, wo der Ort, den er in
Griechenland zuerst betreten Missolonghil, zu Grunde gegangen und vielleicht
sogar das Hans zerstört ist, das der werthe Mann bewohnte."
Den Schluß des Briefes an Sterling bildet ein frommer Wunsch, mit
dem mich wir schließen wollen: „Möge es uns Überbliebcnen so wohl gehen,
als die Zeiten, in die wir gekommen sind, und das menschliche Geschick, das
über uns alle waltet, nur immer erlauben will."
er diesem Badgetriebe entgehn will, ist nach wenigen Schritten
im einsamen Hochwald. Wie Landeck ganz eingehüllt ist von
dem Grün der Gärten und Parks, von Linden- und Rosenduft
durchweht, vou munterm Bache durchflossen, so erhebt sich auf
drei Seiten das Waldgebirge von etwa 450 bis nahezu an
1000 Metern Höhe, und überall quillt und rauscht es dort von
lebendigem Wasser, das in kleinen und größern Rinnen der Viele zuströmt,
alles mit üppigem Pflnnzenwuchs erfüllend. Das ist der Sndetenwcild, den
Eichendorff, der geborne Schlesier, bei seinem vielbesungnen Liede im Auge
hat: „Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben"; an
Thüringen oder den Harz hat er dabei nicht gedacht. Unmittelbar unter der
Georgenkapelle führt ein Wiesental in langsamer Steigung zwischen den Ab¬
hängen des Waldgebirges aufwärts. Ein klarer Bach bildet einen Teich, auf
dem bunte Kühne zu einer harmlosen Wasserfahrt einladen. Keine Viertel¬
stunde weiter breitet sich zwischen uralten Tannen eine Lichtung aus. Dort
liegt eine Molkerei, die aber auch andre Getränke verschenkt, und im Schatten der
hohen Bäume der „Waldtempel", auch er ein Denkmal einer vergangnen
Naturschwärmerei: ein tempclartiger Bau mit einer Vorhalle von vier hölzernen
ionischen Säulen unter einem griechischen Giebel; in dessen Felde prangt der
springende weiße Löwe auf rotem Grunde, das böhmische Wappentier; in der
Vorhalle über der Eingangstür zu der Halle selbst stehn die etwas sentimen¬
talen Verse:
So sang ein schlesischer Poet zur Zeit von Goethes italienischer Reise gewiß
ganz im Sinne des Erbauers, und der war 1786 kein geringerer als jener
Graf Hoya, der allmächtige „dirigierende Minister" von Schlesien (seit 1770),
der sich 1806 so haltlos und kopflos benahm, aber durchaus der Bildung und
dem Geschmacke der Zeit huldigte. Ein paar Jahre später, im Sommer 1790,
brachte auch sein König Friedrich Wilhelm der Zweite der modischen Natur-
schwärmerei seinen Tribut, indem er die Heuschcuer erstieg. In dem bescheidnen
Raume dieses „Waldtempels", der kaum so groß ist wie ein ansehnliches Zimmer
und durch Bogenfenster erhellt wird, hat am 2. August 1813, wie drinnen eine
spätere Inschrift ans einer schwarzen, einfach umrahmten Tafel meldet, „unser
unvergeßlicher König Friedrich Wilhelm der Dritte den zu früh verklärten Kaiser
Alexander von Nußland" bewirtet, einen Tag vor seinem Geburtstage, eine Woche
vor dem Ablaufe des Waffenstillstandes (10. August), als auch'in die Stille
dieses Waldtales die ungeheure Aufregung, die einer großen Entscheidung voraus-
zugehn Pflegt, gedrungen war. Aber recht haben die klappernden Alexandriner
des Grafen Hoya noch heute: es ist immer kühl und schattig unter diesen mächtigen
Bäumen, deren Wurzeln der murmelnde Waldbach netzt, und an warmen Nach¬
mittagen sammeln sich hier Hunderte von Gästen aus Landeck, an Sonntagen
auch aus Glatz; dann spielt mitunter die Kurmusik, ein Springbrunnen, von der
neuen städtischen Hochquellenwasserleitung gespeist, treibt seine glitzernde rauschende
Wassersäule hoch empor. Gelegentlich hält hier eine Abteilung der Glatzer
Garnison auf einem Übnngsmarsche kühle Rast, dann herrscht ein paar Stunden
buntes militärisches Leben, und die rauschenden Klänge der Negimentskapelle
schmettern durch deu Waldfrieden wie zu der Zeit, wo hier das königliche Haupt¬
quartier stand. Ernste kriegerische Ereignisse hat Landeck seitdem nicht mehr
erlebt; nur am 26. Juni 1866 kam eine Brigade des sechsten Armeekorps von
Patschkau her über Jauernig nach Glatz marschierend hier durch.
Ein ganzes Netz von trefflich angelegten und unterhaltnen Wegen führt in
den Hochwald hinauf; stundenlang kann man hier wandern, ohne einen Menschen
anzutreffen, und immer wieder erfreuen reizende Blicke auf eine grüne Wald¬
blöße, ein tief eingesenktes Tal, eine ragende Höhe, bald in Hellem Sonnenlicht,
bald in tiefem Schatten. Zu geringerer Höhe erhebt sich die Südseite dieses
Landecker Forstes, zu größerer die Nord- und Ostseite. Gruppen von mächtigen
Granitblöcken, mauerartig geschichtet wie auf dem Kamm des Riesengebirges,
ragen hier und da auf dem Hochplateau auf und gewähren zuweilen eine anmutige
Fernsicht auf das obere Bieletal und das fernere Waldgebirge bis zum Schnee¬
berge, so im Süden der hohe Achillesfelsen und eine weniger ausgedehnte der
Schottenstein. Den hat der General von Grawert, der in der Nähe angesessen
war, im Jahre 1812 Befehlshaber des preußischen Hilfskorps gegen Rußland,
vorher (seit 1807) Generalgouvemeur von Schlesien, der wegen körperlichen Leidens
den Feldzug von 1813 nicht mitmachen konnte, zu einer Art Denkmal dieses
Feldzuges gestaltet. Auf dem Gipfel des Felsens steht ein hohes, hölzernes Kreuz,
darunter auf einer Marmortafel die Worte: In nov ÄMo vinoss 18. Oktober 1813
und in vergoldeten Messingbuchstaben auf Holz die Zeilen, die in den hervor¬
gehobnen Buchstaben mit einem Anagramm dieselbe Jahreszahl wiedergeben:
L<ziu88ig, noO fig'lo VInOsns kortes soDeN orrmt pöLtors. Denn Grawert
war ein wissenschaftlich hochgebildeter Offizier, und der eben aufsteigende Neu¬
humanismus liebte wieder diese gelehrten Spielereien. Mächtiger sind die sonst
sehr ähnlichen Felsgruppen auf dem höhern nördlichen Kamme, dem Dreiecker,
die zum Teil von unten sichtbar sind; die schönste Aussicht aber gewährt der
Ringelstein im Osten, denn von hier gesehn erhebt sich der Schneeberg in voller
Höhe über dem tief eingeschnittnen obern Bieletal und den ihm vorliegenden
niedrigern Bergzügen, inmitten einer prachtvollen Waldlandschaft, aus der nur
selten eine menschliche Wohnung hervorschaut.
In etwa derselben Höhe (774 Meter) liegen auf einem nach drei Seiten
steil abfallenden schmalen Rücken, im Walde völlig versteckt, die Reste einer
ansehnlichen Burg, aus Bruchsteinen roh gemauert ohne irgendwelche künstlerische
Zutat. Das ist Karpenstein, der älteste Herrensitz dieser Gegend, um 1300 ge¬
gründet, bestimmt, den Gebirgsübergcmg nach Schlesien (über Waldeck) zu be¬
herrschen, zugleich Mittelpunkt einer großen Lehnsherrschaft, die etwa dem Bezirke
des Amtsgerichts Landeck entsprach, also den ganzen Südosten des Glatzer
Landes umfaßte. Das böhmische Geschlecht der Glubosz, das sie bis gegen
1350 innehatte, hat vermutlich die ersten dentschen Kolonisten in diese entlegnen
Waldkater der obern Biele und ihrer Zuflüsse gezogen. Dann wechselten die
Besitzer mehrfach; zu Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts waren es die
Kruszina. Als diese sich mit den umliegenden Herren und der Stadt Landeck in
eine Fehde verwickelten, wurde der Karpenstein 1443 erobert und zerstört, wie
es zu dieser Zeit des aufstrebenden deutschen Bürgertums in den Randland¬
schaften Böhmens fo oft geschehn ist. und die große Lehnsherrschaft zerfiel.
Ihren nächsten Teil, den Landecker Forst, erwarb um 1500 Landeck; eine deutsche
Stadtgemeinde wurde die Erbin des böhmischen Herrengeschlechts, in diesen
Landschaften ein typischer Vorgang. Tief unten zu Füßen der alten Burg in
einem von Waldbergen eingeschloßnen Hochtale, das sich nordwärts längs der
Grenze hinzieht, werden die zerstreuten Höfe des Dorfes Karpenstein sichtbar,
hier und da unter einer uralten Linde niedrige Blockhäuser unter grauen
Schindeldächern. In tiefer Einsamkeit breiten sich die Wiesen und Felder aus,
auf denen das spärliche Getreide noch im August der Reife entgegenharrt.
Aber der Landbrieftrüger fehlt auch hier nicht und vermittelt die Verbindung
mit der Kulturwelt.
Gegenüber dem Landecker Forst auf der Westseite der Viele und dicht bei
Landeck erhebt sich ein langgestreckter, bewaldeter Hügel, der alte Galgenberg,
der jetzt in Bismarckkoppe umgetauft ist. Von seinem nördlichen Vorsprunge
bietet er deu schönsten Blick auf den tief unter ihm liegenden Kurort und seine
nächste Umgebung, von einer Felsgruppe am Südende, dem Moltkefelsen, eine
weite Aussicht über das ganze Gebiet der obern Viele und ihrer Seitentäler bis
zum Schneeberg hin, ein Waldrücken über dem andern, dazwischen die hellen
Linien der Straßen und die langen Dörfer, halb in Grün versteckt. Es ist ein
Kulturgebiet für sich, das sich dort öffnet und das vorübergehend belebter war
als heute. ^ ^ ^,
Eine prächtige Waldstraße führt von Landeck an der Viele aufwärts vorüber
an mehrem Schneidemühlen und am „Germanenbade", einer Kaltwasserheil-
stalt, in idyllischer Lage mitten im herrlichsten Hochwald, vielbesucht von
Heilbedürftigen jeder Art, nach Olbersdorf. Hier öffnet sich das Land, Wald
und Berge treten zurück, Felder und Wiesen bedecken die breiten Talsohlen,
ausgedehnte Reihendörfer: Olbersdorf, Schreckendorf, Seitenberg, Gompers-
dorf, Gersdorf strecken ihre Hufen zu beiden Seiten der Straßen bis zur
Höhe hinauf, wo auf die Bergwiesen der dunkle Nadelwald folgt, der die
Grenzscheide zwischen den Fluren bildet; dahinter steigt in größerer Nähe zur
Linken das einsame Bielegebirge auf, das Quellgebiet der Viele, die aus der
Weißen und der Schwarzen Viele — die Bedeutung des slawischen Namens ist
eben vergessen — zusammenrinnend bei Seitenberg scharf aus der ostwestlichen
Richtung nordwärts umbiegt; in größerer Ferne zeigt sich der Schneeberg. Hier
ist jetzt die größte Grundherrschaft die der Familie des Prinzen Albrecht von
Preußen, der Seitenberg und Schreckendorf und das Bielegebirge gehören, als
Erbschaft der Prinzessin Marianne der Niederlande (1838), alte Freirichterdörfer
ans dem vierzehnten Jahrhundert: die Kirche von Schreckendorf bestand schon
1337. Was eine solche kapitalkräftige, wohlwollende und umsichtige Herrschaft
für die Gegend bedeutet, sieht man hier wieder: prächtige Straßen führen durch
die Forsten des Bielegebirges, die Eisenbahn reicht bis Seitenberg, hier bestehn
eine große Holzschleiferei, Zündhölzchenfabrik und Marmorbrüche, sodaß man
sogar in manchem Bauernhause Fliesen und Schwellen aus Marmor trifft, und
Schloß Kamenz, der schönste Herrensitz Schlesiens, seinen Marmorschmuck von
hier bezogen hat; daneben qualmen die Schornsteine einer Glasfabrik, der
Oranienhütte. Diese moderne Industrie ist nur die Nachfolgerin einer ältern.
Schon zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts bestand ein Eisenwerk in Seiten¬
berg, 1606 ein solches hier und in Schreckendorf, doch gingen sie im Dreißig¬
jährigen Kriege zugrunde. Gegen dessen Ende, 1643, wurde der Betrieb wieder
aufgenommen; als er nicht mehr lohnte, wurde 1864 der Schreckendorfer Hoch¬
ofen ausgeblasen und dafür die Oranienhütte gegründet So hat Seiteuberg
zum Teil ein mehr städtisches Aussehn gewonnen, und ansehnliche Gasthöfe zeugen
von einem regern Verkehr. Hier liegt auch das herrschaftliche „Schloß", ein sehr
einfaches Gebäude, aber umgeben von einem Schollen Park und etwas abseits
von einem ausgedehnten Wirtschaftshofe, schräg gegenüber malerisch auf einem
isolierten Hügel die alte Onofriuskapelle zwischen mächtigen Linden; hier geht
zur Rechten die Straße nach dem Puhupasse (950 Meter), über den man steil
nach dem halbalpinen Wölfelsgrunde hinabsteigt oder auf den Schneeberg gelangt.
Hier trifft die Möhre, von Süden herabkommend, mit der Viele zusammen. Der
Bach ist so stark, daß man daran gegangen ist, etwas oberhalb einen ansehn¬
lichen Stauweiher anzulegen, der den unregelmäßigen Abfluß des Gebirgswassers
regulieren und elektrische Kraft liefern soll. Über die Talsohle führt die Straße
durch offnes Land geradeswegs südwärts nach einer der jüngsten Gründungen dieser
Gegend, Wilhelmstal, in 560 Meter Seehöhe, dem „Grunde". Es ist eine kleine
Bergstadt in einem flachen, sich nach Norden öffnenden Gebirgskessel aus der
Blütezeit des böhmischen Bergbaus im sechzehnten Jahrhundert, namentlich unter
Rudolf dem Zweiten, der der Grafschaft Glatz 1578 eine neue Bergordnung gab.
Sein oberster Münzmeister für Böhmen, Wilhelm Freiherr von Oppersdorf, legte
1581 den Ort an, der 1582 ein Bergamt, 1584 ein Wappen und das Markt¬
recht für zwei Jahrmärkte und einen Wochenmarkt erhielt. Noch 1729 verlieh
Karl der Sechste dem Stadtrat die Obergerichte. Aber der Kampf gegen das hier
und in der ganzen Umgegend wie so oft in den Bergorten um sich greifende
Luthertum, der zu gewaltsamer Nekatholisierung führte (in Wilhelmstal 1623),
schädigte den Bergbau schwer, und der Erzreichtum erschöpfte sich. Ein großer
Brand verwüstete 1824, ein Hochwasser 1829 das sinkende Wilhelmstal, bis es
endlich, auf wenige hundert Einwohner (kaum 600) herabgekommen, 1891 rechtlich
in ein Dorf verwandelt wurde.
Heute ist es sozusagen eine lebendige Ruine, deren Anlage noch die Hoffnungen
des Gründers verrät. In der Mitte breitet sich auf ansteigendem Terrain ein
riesiger, viereckiger Ring, berechnet auf einen großen Verkehr, aber heute fast ganz
eine ungepflegte Rasenflüche, auf die die dunkeln Waldboden des Bielegebirges
still hereinschauen. Mitten darauf steht, umgeben von vier Laternen und einigen
Linden, der Schutzheilige Böhmens, Nepomuk. Spitzgieblige, schindelgedeckte
Häuser ringsum, darunter eine Schmiede, in der der Hammer klingt, eine
„Spezerei-, Tabak- und Zigarrenhandlung", eine „Schnittwarenhandlung", ein
kleines Gasthaus „zum Blauen Hirsch", davor ein paar Eschen, aber es hat wenig
Verkehr. Es ist noch Mittag und totenstill. Eine Fran sitzt unter braunem Ton¬
geschirr in der Nähe des heiligen Nepomuk, aber niemand kauft; ein Wagen,
mit Rinde beladen, führt vorüber, schläfrig und verstaubt harrt der klapprige Post-
omnibus der Fahrgäste nach Seitenberg, das einzige Verkehrsmittel Wilhelms -
kath mit der Kulturwelt, dann und wann gehn barfüßige, blonde Kinder vorbei,
spielen und rufen einander zu in unverfälschten schlesischen Dialekt. An der
obern Seite zeigt sich das ebenfalls schindelgedeckte Pfarrhaus. Ein paar kurze
Gassen mit ähnlichen Häusern und einigen kleinen Läden gruppieren sich um
den Ring. Höher als der Ring liegt die Kirche, die anfangs dem heiligen
Bartholomäus geweiht war, bei einem Neubau 1672 dem heiligen Joseph zu¬
geeignet wurde, ein ans weit größere Verhältnisse berechneter, äußerlich gotischer
Bau, aber mit einem Tonnengewölbe gedeckt. Daran schließt sich der stille
Friedhof. Die Einwohnerschaft der alten Bergstadt sieht, wie es scheint, mit
geringen Hoffnungen ans die Zukunft. Der Wirt zum Stern dicht bei der
Kirche, der etwas mehr Vertrauen einflößte als der Blaue Hirsch und einen
trinkbaren herben weißen Ungarwein darbot, bemüht, nach Kräften seinen einzigen
Gast zu unterhalten, klagte, der Bergbau sei längst erloschen, Industrie gebe es
nicht, die Eisenbahn reiche nicht bis hierher, „die Kleinen bleiben sich selbst über¬
lassen". Lichtblicke waren für ihn offenbar das vor kurzem begangne fünfund¬
zwanzigjährige Stiftungsfest der Feuerwehr und die bevorstehende Kirmes des
nächsten Sonntags. Der Pfarrer habe es gut; wenn er die Messe gelesen habe, sei
er für den Tag fertig. Es lag etwas wie müde Resignation über dem Manne.
Ob der auch hier beginnende Fremdenverkehr dem Orte aufhelfen könnte?
Der Wald ist allerdings etwas weit entfernt, und stärkere Anziehungskraft übt
der Klessengrund. Dahin führt eine gute, hochliegende Straße, die kaum 2 Kilo¬
meter vor Wilhelmstal beim Mohrhof, einem großen Vorwerke, an einem
marmornen Wcgpfeiler abgeht und durch das kleine Mohrau den Eingang des
Grundes erreicht. Auch diese Ansiedlung verdankt erst dem Bergbau auf Silber
und Magneteisenstein ihre Entstehung gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts;
denn hier findet der Ackerbau bei der hohen Lage (650 Meter) weder das Klima
noch den Raum. Deshalb gibt es hier nur kleinere Höfe, dafür verarbeiten
zahlreiche Schneidemühlen, von der Kraft des rauschenden Bergbachs getrieben,
den Holzreichtum des Gebirges, eine durchaus bodenständige Industrie. Allmählich
wird das anfangs noch ziemlich weite und sonnige Tal enger, die dunkelbewaldeten
Bergwände rücken zusammen, die Wiesen verschwinden, die Häuser werden seltner,
und in tiefer Waldeinsamkeit taucht ein ganz ansehnlicher Gasthof „Kaisersruh"
auf, der von Sommerfrischlern viel besucht wird. Denn hier läuft eine der
Hauptzugangsstraßen uach dem Schneeberge, die bei der Kolonie Neu-Klessen-
grund den am weitesten vorgeschobnen Posten erreicht.
Die katholische Konfession der großen Mehrheit im Glatzer Lande, die Kreuze
an den Straßen, die Nepomukstandbilder auf Brücken und Plätzen bis auf die
Festung Glatz hinauf, das alles deutet auf den alten Zusammenhang der Graf¬
schaft mit Böhmen, der in der kirchlichen Zugehörigkeit des Ländchens zum
Erzbistum Prag noch heute fortbesteht. Allerdings verwaltet ein Großdechant
von Habelschwerdt aus die kirchlichen Angelegenheiten ziemlich selbständig, aber
der Name des Erzbischofs steht nnter jeder kirchlichen Verordnung, und er selbst
ist auch schon gelegentlich im Lande erschienen. Umgekehrt steht das österreichische
Schlesien noch heute unter dem Fürstbistnm Breslau. Ein Austausch dieser
Diözesenteile erscheint somit leicht als eine natürliche Sache, und doch hätte sie
ihre großen, nicht bloß äußern Schwierigkeiten. Der reiche Grundbesitz des
Fürstbistums Breslau liegt auf österreichischem Boden, ein Rest des Fürstentums
Reiße, das seit etwa 1290 dem Fürstbistum gehörte und in seinem preußischen
Teile erst 1810 in der schwersten Notzeit des Staats eingezogen wurde, während
ihm der österreichische Anteil erhalten blieb; hier ist der Mittelpunkt seiner
Verwaltung in Freiwaldau, hier hat der Fürstbischof noch heute seine Sommer¬
residenz auf Schloß Johannisberg über Jcmernig.
Das ist das Ziel eines landschaftlich lohnenden und interessanten Ausflugs von
Landeck aus. Die aussichtsreiche schöne Straße steigt in großen Windungen vom
Bieletal nach dein Kamme des Neichensteiner Gebirges, des Grenzgebirges, auf¬
wärts. Immer tiefer sinkt das waldumkränzte Landeck, das von hier das an¬
mutigste Bild darbietet, immer höher heben sich die Bergzüge heraus, die bis
zum Schneeberge seinen Hintergrund bilden; tief unten bleiben rechts und links
die grünen Matten der Täter, aus denen zur Linken die farbigen Ziegeldächer
des Dorfes Leuthen heraufschimmern. Hoch oben, etwa 700 Meter, liegt an der
Straße das einsame Bergschlössel mit dem Zollamt, unterhalb eines Hügels zur
Rechten, der den Namen „die Festung" trägt und wirklich zur Beherrschung der
Straße vortrefflich geeignet war. Im heißen Sommer mag sich hier kühle
Sommerfrische halten lassen; im harten Winter liegt die kleine Ansiedlung, die
letzte auf dieser Strecke diesseits der Grenze, oft wochenlang im tiefen Schnee
vergraben und von allem Verkehr abgeschnitten, denn dann ist die ganze Straße
unpassierbar. Kurz nach dem Bergschlössel ist die Paßhöhe und damit die Grenze
erreicht. In langen Kehren zieht sich die Straße auf dem hier waldlosen AbHange
hinunter; tief unten liegt ganz im Grün versteckt das große Dorf Krautenwalde
um den spitzen Turm seiner schönen neuen gotischen Kirche. Die Höfe und Häuser,
Blockhäuser unter Schindeldächern, erscheinen dürftiger und schlechter gehalten als
auf der andern Seite; doch zeigen ein „Marienhaus" und ein „Schweizerhaus",
daß auch hier Sommerfrischler nisten. Dem raschen Bache folgend tritt die
Straße in ein enges Gebirgstal zwischen steilen Berglehnen und dunkelm hoch¬
stämmigen Nadelwald; von rechts mündet der schöne Krebsgrund, durch den ein
andrer Paßübergang über Waldeck nach Kcirpenstein und Landeck führt; dann
öffnet sich das Land, einzelne Häuser, eine Mühle, ein hohes Schloß auf einem
waldigen Bergrücken werden sichtbar; die westliche Vorstadt von Jcmernig be¬
ginnt, etwa vier Gehstunden von Landeck.
Es ist eine alte Ansiedlung schon slawischen Ursprungs. Der Name (von
Mvorn, Ahornbaum) kommt im Nordosten nicht selten vor, bezog sich aber ur¬
sprünglich nur auf das Dorf; die Stadt ist sicherlich deutschen Ursprungs und bildet
eine lange Straße mit ein paar kurzen Nebengassen vom Fuße des Gebirges
bis an die nahe Grenze, entbehrt aber nicht des schlesischen „Ringes", an dem
auch ein paar größere Gasthöfe liegen. Zwischen den kleinen Giebelhäusern in
Barocksormen stehn manche stattliche Gebäude herrschaftlichen Ansehens; hier und
da zeigt sich das fürstbischöfliche Wappen mit dem Kardinalshut darüber, aber häufig
unterbricht das wohltuende Grün der Gärten die Gleichmäßigkeit der städtischen
Gassen. stattlich erhebt sich die eintürmige Kirche, ein dreischiffiger Barockbau
von 1723, und an einem kleinen grünen Platze an der Zedlitzstraße erinnert
die Bronzebüste des Dichters Joseph Christian von Zedlitz, der hier 1790 geboren
wurde, seiner ganzen Natur nach ein echter Altösterreicher, an den Anteil, den
auch dieses Stück Schlesiens an der deutschen Literatur gehabt hat; auch Eichen-
dorff hat sich gelegentlich hier aufgehalten, und der hochbegabte Komponist Karl
Dieters (von Diedersdorf) erhob hier als Kapellmeister des geistvollen, aber
auch sehr lebenslustigen Fürstbischofs Grafen Philipp Gotthard von Schaffgotsch
aus dem bekannten schlesischen Magnatengeschlecht (1748 bis 1795), der seit 1766
meist hier residierte, hier auch starb, das kleine Jauernig zu einem anerkannten
musikalischen Zentrum für Schlesien (1769 bis 1795).
Also fiel auch auf dieses weltentlegne Städtchen durch eine Hofhaltung ein
Schimmer höherer Kultur, wie so oft in Schlesien. Der Sitz dieser Hofhaltung
war das Schloß Johannisberg über der Stadt, das in seinem Namen noch die
Erinnerung an seinen Begründer und damit an eine reiche Zeit schlesischer Kultur
bewahrt, wie sie aus schmuckvollen Renaissancebauten in Breslau, Liegnitz,
Brieg u. a. noch zur Gegenwart spricht. Johann der Fünfte Graf Thurzo,
geboren 1464, der Sohn eines Adelsgeschlechts in der nordungarischen Zips,
das durch Bergbau emporgekommen war, wurde 1502 zum Koadjutor,
1506 zum Fürstbischof gewählt. In Italien gebildet, ein Anhänger der
Renaissance und der von ihr in Deutschland ausgehenden Erneuerung des
Schulwesens — er hat der nachmals berühmten Schule von Goldberg ein
Privileg gegeben —, begünstigte er die „Reuchlinisten" und stand mit Erasmus
im Briefwechsel; ja er nahm Interesse an den Anfängen Luthers und sandte im
Sommer 1520 einen seiner Günstlinge zur Fortsetzung seiner Studien nach
Wittenberg, starb aber 1521. Luther hat ihn den besten aller Bischöfe genannt.
Mild, freigebig und prachtliebend erbaute er 1509 das Schloß Johannisberg.
Auf bequemen Wegen und Treppen steigt man die Höhe hinan. Der ausgedehnte,
hohe, äußerlich ganz schlichte Bau, über den ein niedriger Glocken- und Uhrturm
hervorragt, ist sichtlich auf eine große Hofhaltung berechnet. Im Hofe zeigt
die Tür das Wappen des Begründers mit der Jahreszahl 1509. Der Fürst¬
bischof Kardinal Kopp war anwesend, das Innere deshalb leider unzugänglich.
Aber der herrliche Park, der es umgibt und den ganz flachen ins Land nach
Süden, nach dem Gebirge zu verlaufenden vorspringenden Höhenrücken bedeckt,
ist jederzeit geöffnet; nur ein schöner, dicht unter dem Schlosse gelegner Zier¬
garten ist abgesperrt. So kann sich jeder im Schatten mächtiger Bäume und an
weiten Wiesenflächen ergehen, und er hat dabei den Blick bald nach dem Städtchen
tief unten und auf das weite oberschlesische Flachland nach der Reiße hin, bald
nach dem Waldgebirge im Westen und auf die langen Züge des Mährischen
Geheules, des Altvatergebirges, das Schlesien von Mähren trennt. Dort
marschierten einst in den Schlesischen Kriegen die preußischen wie die österreichischen
Kolonnen, denn was man von hier übersieht, ist ein hart bestrittnes Grenzland.
Die 1742 festgestellte Grenze aber ist niemals wieder verrückt worden, Johannis¬
berg selbst ist immer österreichisch geblieben. Für die Fürstbischöfe von Breslau
hat das seine besondre Bedeutung gehabt. Graf Schaffgotsch fand hier eine
Zuflucht, als er bei Friedrich dem Großen, seinem frühern Gönner, in Ungnade
gefallen war, weil er im siebenjährigen Kriege Hinneigung zu Österreich gezeigt
hatte, und während des „Kulturkampfes" sein damaliger Nachfolger, außerhalb
der preußischen Grenze, aber ohne seine Diözese verlassen zu müssen.
Überall, auch in entlegnen und bescheidnen Gegenden, bietet der deutsche
Boden unendlich viel des Interessanten und Schönen, doppelt für den, der
durch die Gegenwart hindurch die Vergangenheit zu schauen und den innigen
Zusammenhang zwischen der geschichtlichen Entwicklung und der Natur zu er¬
kennen vermag. Nur muß man ohne Voreingenommenheit und ohne Vorurteile
sehen wollen.
rofessor Müller ging mit einem so strahlenden Lächeln von mir, daß
ich mich wunderte und zugleich Seba'ente. Wunderte, daß ein so kluger
Mann soviel Wert auf die Nichtigkeiten des Lebens legt, und ich
schämte mich, ihm ein süßes Plätzchen gegeben zu beiden, das ganz
gewiß nicht giftig war. Was wollte ich eigentlich? Ich wußte es
nicht und freute mich, an andre Dinge denken zu müssen.
Erstens hatte Harald die Neuigkeit für mich, daß sich Herr Külpe verlobt
hätte. Mit einem jungen Mädchen aus einem Sattlerladen, und die Hochzeit sollte
vielleicht sehr bald sein. Ich freute mich für Herrn Külpe, aber ich wunderte mich
über den Jungen, der die Nachricht so ernst nahm.
Mutterlieb, wird er dann nicht mehr bei Drehers wohnen?
Ich weiß nicht, Harald, das ist doch auch einerlei.
Bei Drehers ist es sehr nett, murmelte mein Sohn.
Nun, dann bleibt er vielleicht auch mit seiner jungen Frau bei Drehers
wohnen.
Eine so billige Wohnung bekommt er nicht wieder, und Frau Dreher paßt so
gut auf seine Sachen. Er schließt gar nichts ab, und wenn Frau Dreher nicht acht
gäbe, könnten die Diebe kommen.
Ich hoffe nicht, daß du noch immer soviel bei Drehers bist! sagte ich etwas
scharf. Denn ich mag den Anton Dreher nicht, der mit Harald in einer Klasse
sitzt. Harald sagte etwas Unverständliches, und dann öffnete sich die Tür, und vor
mir stand mein guter Onkel Willi, der mich eine Zeit lang durch meine Kindheit
geleitet hat, bis der innere Ruf an ihn erging, ein großer Schriftsteller zu werden.
Da verließ er mich; wir haben aber immer miteinander in Verbindung gestanden, und
in meine Backfischjahre fiel die Zeit, wo sich Bodild zum Sterben in ihn verliebte.
Onkel Willi ist ein kleiner, zarter Herr, mit schneeweißem Haar und sehr
schönen Angen. Er ist ein wenig gebrechlich geworden, und er kann nur ganz
langsam gehn, auch das Sprechen tut er sehr bedächtig; aber es ist mir eine Freude,
ihn als lieben Gast bei mir sehen zu dürfen. Und Miß Mason, die in unsrer
Pension eine etwas untergeordnete Rolle spielte, ist jetzt bei ihm Hausdame und
scheint ihren Posten gut auszufüllen. Der Onkel gehört zu den Mcinuern, die
immer etwas bewundert werden müssen, und Miß Mason bewundert ihn über die
Maßen. Sie war früher nicht allein. Die Frau Luise Bergheim, auch eine ehe¬
malige Bekanntschaft von mir, wohnte bet meinem Onkel und führte ihm die Wirt¬
schaft. Aber sie ist kürzlich gestorben, und das ist auch wohl der Grund, daß Onkel
Willi Luzern verlassen hat.
Ich mag nicht, wenn die Menschen sterben! sagte er etwas kläglich, nachdem
die erste Begrüßung vorüber war. Frau Bcrgheim war mit einemmal tot. Und
am Abend vorher hatte sie mir noch erzählt, Wie gern sie lebte. Es ist schrecklich,
wenn die Leute um mich sterben, und Luzern ist öde. Ich will meine kleine Villa
verkaufen.
Wohin willst du denn ziehen, Onkel? fragte ich, und er sagte vor sich hin:
Ich weiß noch nicht, wenn man alt wird, ist alles öde!
Aber die gute Miß Mason erzählte mir nachher, was er sich wünschte. Er
möchte so gern wieder in sein altes Schloß, Miß Anneli. Dorthin, wo auch Sie
gewohnt haben. War es nicht eine kleine Stadt, und auf dem Berge lag das
Schloß? Nun, dorthin möchte er ziehen, und ich glaube wohl, daß er es erreicht.
Ehemals hat er die Wohnung aufgegeben, weil er sich ein wenig mit der Regierung
des Landes erzürnt hatte. Aber dort sind auch die Menschen andre geworden, und
man ist dem Doktor nicht mehr böse. So habe ich wenigstens gehört.
Und Sie, Miß Mason, würden Sie mit meinem Onkel in das nordische Land
ziehen?
Die alte Dame wischte sich die Augen.
Miß Anneli, ich habe mir ja gelobt, immer in der Schweiz zu bleiben, weil
mein unvergeßlicher Bräutigam dort begraben liegt. Aber ich bin alt und heimatlos
geworden. Wenn Ihr Onkel mich ferner haben will, dann ziehe ich natürlich
mit ihm und hinterlasse in meinem Testament, daß ich in der Schweiz beerdigt
werden will, wenn genug Mittel basirt. Und wenn es zu teuer sein sollte —
well, dann wird mein John mich auch Wohl finden, wenn ich von anderswoher
komme. Man lernt sich bescheiden, Miß Anneli, und die Hauptsache ist, daß ich
bei Ihrem Onkel bleiben darf.
Die gute Miß sprach ebensogut deutsch wie ich, aber sie sagte immer „Miß
Anneli", zu mir, was ich ganz rührend fand.
Es war übrigens so, wie ich es schon gedacht hatte. Lona Hellmund, jetzt
Frau Päpke, hatte von Rolands Klinik eine so begeisterte Schilderung gemacht,
daß Onkel Willi sein Bündel schnürte, um bei diesem Wundermann ganz gesund
zu werden. Seine Krankheit scheint mir das Alter zu sein, und ob der Doktor
ihn davon kurieren kann, ist mir zweifelhaft.
Miß Mason schüttelte den Kopf über den Betrieb in der Klinik.
Es sind furchtbar viel Kranke und nur zwei Assistenzärzte. Und nicht genng
Pflegerinnen. Der Doktor Roland arbeitet bis tief in die Nacht und gibt sich
rasende Mühe; aber er ist auch nur ein Mensch, und schlafen muß er doch auch,
wenn nur wenige Stunden. Und jeden Tag ist seine Sprechstunde voller, wenigstens
sagt dies Frau Päpke.
Die Päpke ist wohl eine große Stütze? fragte ich, und die alte Miß legte
vorsichtig ihr Taschentuch zusammen.
Miß Anneli, als sie Lona Hellmund hieß, habe ich sie nicht gekannt. Ich
erlebte ja nur im Kaffeegnrten, daß sie sich von dem jungen Baron trennte und
ihn dazu brachte, sich beinahe totzuschießen, wenn Sie nicht dazwischengekommen
und auch beinahe tot geblieben wären. Nun, ich war immer sehr für die Liebe, und
zuerst bin ich auch über Lona gerührt gewesen. Wie sie dann aber heiratete, und
der Doktor ihr ein ansehnliches Hochzeitsgeschenk machen mußte, und wie sie dann
zum zweitenmale in den Ehestand trat und wieder vom Doktor was haben wollte,
und wie jetzt kein halbes Jahr vergeht, daß sie nicht dies und jenes vom Doktor
erreichen will, da bin ich doch von ihr zurückgekommen, und daß sie so in der Klinik
regiert, will mir auch nicht gefallen.
Ein weibliches Wesen muß dort aber doch wohl das Regiment führen, meinte
ich; aber Miß Mason erwiderte nichts.
Wie war es behaglich, diese gute Seele wieder in der Nähe zu wissen! Ich
bin in Bärenburg doch noch nicht heimisch geworden; obgleich ich alle Jahre meines
Ehestandes hier verbracht habe. Wenn ich mir denke, daß Onkel Willi wieder in
das alte Schloß oberhalb der kleinen Stadt zieht, dann kommt über mich die Sehn¬
sucht der Kindertage. Ob die Stadt wohl noch gerade so ist wie damals, als ich
durch ihre Gassen lief? Ob wohl noch der Laden da ist, wo ich die unbezahlten
Schlittschuhe nahm, und arbeitet Frau Roland noch für die Honoratioren Hauben
und Hüte? Ich möchte wohl auch einmal über den Schloßhof gehn und sehen,
ob der alte Brunnengott noch dort steht. Er hatte ein lustiges Gesicht und hielt
eine zerbrochne Muschel an die Lippen. Wenn ich zur alten Demoiselle Stahl lief,
die ihre Zimmer am Schloßhof hatte, dann betrachtete ich den moosbewachsnen
Jüngling und dachte darüber nach, wie lange er dort Wohl stünde, und was er
Wohl schon erlebt hätte. Ja, die dumme Sehnsucht!
Weshalb muß man sich dorthin wünschen, wo man nicht sein kann?
Nun ist Onkel Willi schon fast vierzehn Tage hier, und die Kur scheint ihm
gut zu bekommen. Fast jeden Tag besucht er mich und spricht mit mir in seiner
alten träumerischen Art. Schreiben mag er nicht mehr, und die Leute, die seine
Bücher einst so lobten, haben ihn alle vergessen. Manchmal tuts ihm leid; dann
aber lächelt er darüber und freut sich auf seine Freiwohnung im Schloß. Denn
es scheint wirklich dazu zu kommen, daß er dorthin kommt. Es bedarf nur noch
der bekannten vielen Schreibereien, ohne die ein deutscher Staat nicht denkbar ist.
Von Walter gute Nachrichten. Er darf nur nicht schon wieder in die Arbeit;
deshalb befiehlt Fred Roland, daß er ans Falkenhorst bleiben soll, was Dolly sehr
befürwortet, denn obgleich sie sich über Lona Hellmunds Anwesenheit in der Klinik
beruhigt hat, so will sie ihren Bernb doch nicht der Gefahr aussetzen, an seine
Jugendtorheit erinnert zu werden.
Ich werde übrigens die Person im Auge behalten, sagte sie mir gestern. Sie
mag sehr tüchtig sein, und es ist ja schrecklich, daß die Roland ewig im Bett liegt,
aber die Wirtschafterin wird sich sicher mancherlei erlauben, was sie nicht darf.
Zu diesem Satz sagte sie nichts. Mir ist Frau Päpke sehr gleichgiltig, und
ich finde es besser, gar nicht an sie zu denken.
Heute ist Minchens Geburtstag, und wir wollen das Fest mit einer solennen
Schokolade feiern. Sie wird sieben Jahre alt, und eigentlich ist es unerhört, daß
sie noch immer nicht regelmäßig lernt, aber ich werde mich nicht in die Rolandschen
Angelegenheiten mischen
Es sollte gestern ein nettes Fest werden. Harald, Lila, Minchen, Linchen
und Stinchen saßen alle um den Tisch und pflegten sich an dem braunen Trank
und den schönen Kuchen, die Dolly gestiftet hatte. Meine Cousine war nach Schloß
Mieder gefahren und hatte mich überreden wollen, sie zu begleiten. In den
nächsten Tagen wollten die Monreals abreisen. Aber ich hatte abgelehnt. Ich
mochte Harald nicht allein zu Hause lassen. Dieser Drehersche Junge schleicht sich
dann immer hier herum, und der ist mir unheimlich. Auch wollte ich ja Minchens
Wiegenfest feiern, und die kleine Gesellschaft war so lustig, daß ich mich nicht nach
den vornehmen Leuten sehnte. Minchen hatte vor allem das große Wort. Sie
schien es nicht verwunderlich zu finden, daß sie ihren Geburtstag hier und nicht bei
ihren Eltern feierte. Sie berichtete triumphierend, daß ihr Papa sie ein gutes
Ding genannt habe, das nur später brav etwas lernen sollte.
Und was sagte deine Mutter dir denn? fragte Lila, die manchmal ebenso
neugierig ist wie ihre eigne Mutter.
Minchen biß in ihren Kuchen.
Mama sagt nie mehr viel. Sie liegt im Bett und sagt höchstens, daß sie
es nicht mehr aushalten kann.
Aber Frau Pcipke sagt doch gewiß etwas! beharrte Lila.
Sie sagte: Geh nur zu Anneli hin, die kaun sich freuen, daß du ihr die Ehre
erzeigst!
Harald wurde rot. Was, die Frau nennt meine Mutter bei ihrem Vor¬
namen?
Ich wollte sage», daß wir von etwas anderm sprechen wollten, aber Minchens
schrille Stimme ließ sich nicht so leicht zum Schweigen bringen. Frau Pcipke sagt
immer Anneli, wenn sie von Tante Anneli spricht. Und sie sagt, daß Tante Anneli
ein ganz armes kleines Mädchen gewesen ist, viel ärmer als eine von uns. Und
sie könnte Gott danken, daß sie noch einen ordentlichen Mann gekriegt hätte, und
sie wäre auch sonst gar nicht nett gewesen, und — —
Harald sprang auf sie zu und schlug sie mit der Faust ins Gesicht.
Wenn Frau Pcipke noch mal was von meiner Mutter sagt, so sag ihr nur —
Sein Gesicht war weiß, und er stammelte vor Erregung.
Harald! Ich war so versteinert, daß ich jetzt erst zu Worte kam. Wie kannst
du dich so benehmen?
Aber er tobte, wie ich ihn noch nie gesehen hatte.
Mutter, Minchen hat schon mal was Häßliches von dir gesagt, und ich will
mir das nicht mehr gefallen lassen! Können sie nicht zu Hause bleiben in ihrer
ekligen Klinik?
Eklige Klinik? Minchen heulte beinahe. Wenn du das nochmal sagst, dann
sage ich — —
Zornig gebot ich Schweigen. Schämt ihr euch nicht, und ist dies eine Art, um
Geburtstag zu feiern? Gleich versöhnt ihr euch wieder und bittet euch gegenseitig
um Verzeihung.
Aber beide Kinder sahen sich grollend und schweigend an. Beide waren zu
sehr gekränkt; mein Junge in seiner Mutter, Minchen in ihrer Klinik. Die Ver¬
söhnung konnte noch nicht bald erfolgen.
Der Nachmittag war verdorben. Harald verließ sehr bald den Tisch, und
Minchen mummelte schweigend an ihrem Kuchen. Es nützte nichts, daß die andern
Kinder ein Gesellschaftsspiel begannen; die gedrückte Stimmung konnte nicht Ver¬
trieben werden, und bald zogen die kleinen Rolands von dannen. Mir war die
Sache leid, und ich wollte Minchen zum Schluß ein freundliches Wort sagen; aber
sie machte einen trotzigen Mund und sagte nnr: Unsre Klinik ist nicht eklig.
Als die Kinder weg waren, fiel mir erst wieder ein, was Minchen über mich
gesagt hatte, und ich spürte Neigung, Harald zu fragen, was Minchen denn sonst
noch über mich wußte. Aber ich kam mir daun so klatschsüchtig vor, daß ich diese
Absicht aufgab.
Als Dolly nachher kam, um ihre Lila abzuholen, erzählte ich lieber nichts, und
meine Cousine würde auch kaum auf mich gehört haben. Auf Schloß Mieder war
der Minister eines Nachbarlandes gewesen, und seine Unterhaltung hatte Dolly sehr
begeistert.
Der Professor Müller war auch da, berichtete sie zum Schluß, und Bodild
war sehr liebenswürdig mit ihm. Er schien sehr entzückt und läßt sich dir noch
ganz besonders empfehlen.
Der Juli ist eingezogen und hat herrliches Wetter mitgebracht. Die Universität
feiert Gartenfeste, und Rektors geben ihre letzte große Gesellschaft. Bald ist dann der
Reigen verhallt, und eine andre Magnifika wird freundlich Huld verstreuen. Heute
hat mich die uoch Negierende wieder besucht. Auf ihrem Gartenfest soll ich erscheinen
und ein Schäferkostüm anlegen. Es soll nämlich etwas Watteau gemacht werden, und
meine Figur eignet sich so gut zu dieser Verkleidung. Die Magnifika bittet sehr
artig, ich aber zögere. Nach Schäferspiel ist mir nicht zumute.
Sie haben doch gute Nachrichten von Ihrem Mann? fragte die Geheimrätin.
Gott sei Dank, ja!
Na also. Dann dürfen Sie ja mit gutem Gewissen vergnügt sein. Übrigens
hat mir Müller erzählt, daß man in Süddeutschland sehr eingenommen von den
Vorträgen Ihres Gemahls ist, und daß der häßliche Angriff auf die Intrige eines
Gymnasiallehrers zurückzuführen ist. Diese Herren sind ja leider oft eifersüchtig.
Also, nicht wahr, Sie werden mir keinen Korb geben?
Halb widerstrebend sagte ich zu, und mein Besuch plauderte von andern Dingen.
Von Onkel Willis Ankunft bei Roland hatte sie auch gehört, und es interessierte
sie plötzlich, daß der Doktor mein Onkel war.
Früher habe ich so für ihn geschwärmt, daß es mir fast leid tat, zu hören,
er sei noch am Leben.
Armer Onkel! dachte ich, aber die Dame Plauderte weiter.
Hören Sie sonst etwas von der Klinik? Sie ist ja übervoll, und mein Mann
meint, daß Roland kolossal verdienen müsse. Aber in dem schnellen Erfolg liegt
wohl eine große Gefahr. Und dann die Sache mit der Haushälterin — sie stockte
und wurde verlegen.
Ich will nicht klatschen. Es mag ja auch alles übertrieben sein. Doch die arme
Frau kann einem leid tun. Trotz ihrer großen Unbedeutendheit.
Die Geheimrätin ging. Ich aber hatte eine ganze Weile einen häßlichen
Geschmack im Munde. Armer Fred! Wohin gerätst du?
Die Kleinen waren nicht hier seit Minchens verhängnisvollen Geburtstage.
Ich hatte mich absichtlich nicht um sie bekümmert; weiß ich doch aus meiner Kinder¬
zeit, daß auch in diesem Alter der Zorn erst vergehen muß. Außerdem — ich leugne
es nicht — hat mich Minchens schrille Stimme doch gekränkt. Was habe ich Frau
Päpke denn getan, daß sie mich vor den Kindern schlecht macht? Ich bin allerdings
damals unglücklich gewesen, als Bernb sich mit ihr Verlobte, und das war Wohl mein
Recht. Im übrigen entsinne ich mich nicht, sie beleidigt zu haben. Wäre doch
Walter hier, damit ich mit ihm über die Sache sprechen könnte. Aber er hat mir
erst eben geschrieben, daß der dortige Arzt ganz mit Rolands Ansicht übereinstimmte
und ihn dringend vor der Rückkehr in die alltäglichen Verhältnisse warnte. Da
darf ich also nicht selbstsüchtig sein und muß meine kleinen Sorgen allein tragen.
Ich habe es sonst gut. Onkel Willi kommt fast täglich, um mich zu besuchen.
In der eigentlichen Klinik hat er kein Unterkommen gefunden und wohnt mit Miß
Mason in einem Nachbarhause. An einigen Tagen wird er massiert und muß Bäder
nehmen, dann erscheint er nicht, und Miß Mason kommt zu einem Plauderstündchen.
Auch sie ist eingenommen von Roland und seiner sichern Diagnose; aber sie glaubt
nicht, daß er Onkel Willi vom Alter befreien kann.
Das geht nicht mehr, Miß Anneli, sagte sie halb wehmütig. Gegen das Alter
kann der junge Doktor gleichfalls nichts tun. Ich habe es auch Herr» Stahl gesagt.
Das ist ein alter Herr, der ebenfalls wieder jung werden will. Aber ich fürchte,
es gelingt ihm nicht.
Ich wollte bei diesem Namen ncichfrcigen, aber es kam eine Verhinderung.
Mein Schäferkostüm, das die kleine niedliche Schneiderin aus der Langen Gasse bringt.
Sie ist eine Schwester von Herrn Külpes Braut, und daher haben wir allerhand
Gesprächsstoff. Herr Külpe sieht bei seiner Heirat nicht auf Geld, sondern nur auf
Liebe. Deswegen wird er mit seiner jungen Frau bei Drehers weiter wohnen, was
Harald mit Befriedigung erfüllt. Wenn er nächste Ostern nach Quarta versetzt wird,
hofft er, daß auch Herr Külpe Ordinarius dieser Klasse wird.
Diese kleine Schneiderin hat fürs Fest viel zu tun und hat sich schon eine
Hilfe nehmen müssen.
Sie war schwer zu bekommen, setzte sie hinzu, und ganz passen tut sie mir
auch nicht, aber was soll man tun, wenn die Arbeit drängt!
Wer ist denn diese Hilfe? frage ich, aber sie hat den Mund voll von Stecknadeln
und kann nicht antworten. Da denke ich denn auch lieber an mein Schäferkostüm.
Dolly ist auf einige Tage verreist und hat mir Lila anvertraut. Sie und
Harald sind sehr verträglich miteinander, und ich lasse der Kleinen einige Privat¬
stunden geben, daß sie sich nicht langweilt.
Sie findet diesen Schutz gegen Langeweile sehr überflüssig, und ich eigentlich
auch; denn mein Hans ist so still geworden. Die kleinen Rolands fehlen mir an
allen Ecken, aber ich kann doch nicht hinter ihnen herlaufen und mich vielleicht von
Frau Päpke schlecht behandeln lassen. Wo mögen sie nur stecken? Jetzt in dieser
schönen Sommerzeit? Im Garten der Klinik steht ja die Operationsbaracke, da
dürfen sie nicht sein, und sie hatten die Luft so nötig.
Heute erwartete ich meine Schneiderin vergebens. Sie ließ sich nicht einmal
entschuldigen, und das Fest soll doch in zwei Tagen stattfinden. Ich ging in die
Lange Gasse und wollte gerade in den Sattlerladen gehen, als ich Linchen Roland
ganz allein begegnete. Sie sah verwahrlost aus, mehr als sonst, und sie wollte sich
an mir vorüberdrängen. Aber ich faßte sie am Arm.
Was tust du hier, Linchen, und wo sind Minchen und Stinchen?
Die Kleine sah etwas trotzig zur Seite, aber als ich meine Frage wiederholte,
kam die Antwort.
Ich darf nicht mehr mit dir sprechen.
Wer hat es verboten?
Das darf ich nicht sagen.
Linchen strebte schon weiter, und ich hatte Lust, sie ziehen zu lassen, aber dann
fiel mir auf, daß sie rote Augen hatte und ganz fleckig im Gesicht war. Da fragte
ich sie noch einmal nach ihren Schwestern, und sie gab den Widerstand auf und
berichtete mir, daß sie drei jetzt immer in der Langen Gasse spielten. Dort wohnte
ein kleines Mädchen, das in ihres Vaters Klinik gewesen war, und Frau Päpke
hatte gesagt, da sollten sie nur hingehen. Minchen und Stinchen waren schon bei
ihrer neuen Freundin, und sie hatte nur noch einige Bonbons geholt.
Ich stand noch vor dem Kinde, da kam meine Schneiderin aus dem Laden.
Ach Frau Professor, Sie müssen entschuldigen, daß ich nicht gekommen bin.
Aber ich bin nicht fertig geworden. Meine Hilfe hat die Masern, und — sie stockte
und sah Linchen Roland an.
Kind, du darfst heute nicht zu Petrine, die ist auch krank. Und hole nur deine
beiden Schwestern von dort ab. Sie dürfen nicht mehr ins Haus.
Sie wandte sich kopfschüttelnd mir zu.
Ich kann es nicht begreifen. Da läßt der Herr Doktor Roland seine Kinder
hier bei Leuten spielen, an denen wirklich nichts ist. Und noch dazu in einem kleinen
engen Zimmer, und in dieser schönen Sommerzeit. Und die Masern sind aus dem
Hause noch niemals weg gewesen.
Ich holte also Minchen und Stinchen Roland aus einem kleinen, sehr übel¬
riechenden Hause, in dem sie in einem kleinen dumpfigen Loch auf der Erde saßen
und urit einem im Bette liegenden Kinde spielten. Minchen sah mich schief an, als
ich plötzlich erschien; aber sie wagte doch keinen Widerstand, und ich brachte sie alle
drei auf die Straße und ermahnte sie, sich gleich bei ihrem Vater zu melden.
Papa hat doch keine Zeit, sagte Minchen trotzig. Der hat nie Zeit für uns;
Mama sagt es auch.
Geht heute nur zu ihm und sagt von Tante Anneli, er sollte euch alle gleich
ins Bett stecken. Nachher komme ich und frage, ob ihrs auch ausgerichtet habt.
Widerwillig gingen die drei kleinen Mädchen davon; aber sie gingen doch,
und Fräulein Schilling, die Schneiderin, seufzte hinter ihnen her.
Ja, Frau Professor, mit dieser Nachbarschaft ist es hier nicht schön, und ich
ärgere mich, daß ich die älteste Schwester zum Nähen hatte. Jetzt hat sie auch die
Masern und läßt mich sitzen. Sie ist gar kein nettes Mädchen, und daß sie immer
Frau Päpke in der Klinik besuchen darf, wundert uus alle. Aber Frau Päpke — sie
stockte und sah mich fragend an — die Frau Doktor lebt doch noch, setzte sie leiser
hinzu. Und man kann es doch von dem Herrn Doktor nicht glauben. Das Kostüm
kriegen Sie aber morgen ganz gewiß, wenn ich auch die ganze Nacht darum auf¬
sitze» soll.
Mir war unheimlich zumute, und ich ging eilig nach Hause. Jetzt ging ich
lieber nicht in die Klinik und freute mich, wie am Abend die gute Miß Mnson kam
und meine Erkundigung für mich übernehmen wollte. Doktor Roland ist leider
verreist; der Minister, der neulich bei Monreals war, hat ihn in die Residenz
bestellt. Seine Diagnose soll wieder einmal den Ausschlag geben. Aber Frau Päpke
muß sich doch auf ihre Pflicht besinnen.
(Fortsetzung folgt)
Professor Karl Lamprecht hat jüngst in einer politischen Ansprache gesagt, in
Marokko und Mazedonien liege die Entscheidung über unsre Zukunft. Diese Äußerung,
die in solcher Form übrigens nur nach ihrem Sinn, nicht nach ihrem Wortlaut
wiedergegeben ist, hat einen lebhaften Widerhall gefunden und damit freilich auch
die Proteste politischer Flaumacher hervorgerufen. Beanstanden kann man den Aus¬
spruch aber nur auf Grund einer mißverständlichen Deutung, als ob in Marokko
und Mazedonien deutsche Interessen in besondern: Maße direkt engagiert seien. Das
würde natürlich eine Übertreibung sein, aber es kommt nicht auf die Bedeutung
dieser Fragen an sich an, sondern darauf, was für eine Rolle sie als Mittel zum
Zweck in der internationalen Politik spielen. Nichts konnte vor achtunddreißig Jahren
dem deutschen Volke gleichgiltiger sein als die Frage, wer künftig uns" dem spanischen
Thron sitzen solle, und doch gab diese Frage den Anlaß zu dem grüßten und be¬
deutungsvollsten Kriege, den die deutschen Stämme in neuerer Zeit gemeinsam geführt
haben. Dies geschah, weil eben die französische Politik die Angelegenheit als Hand¬
habe zur Demütigung Preußens und in ihm des deutschen Volks benutzen wollte.
Und so kann jede Frage, auf die sich das Juteresse der Mächte vorübergehend
konzentriert, unter Umständen zu schweren Konflikten führen, wenn eine oder die
andre der beteiligten Mächte ihr Ansehen und ihr Gesamtinteresse auf diese Weise
am besten zu wahren oder wiederherzustellen glaubt. Die Marokkofrage und die
mazedonische Frage können unter Umständen einzelne der entscheidenden Mächte in
Versuchung führen, das bestehende politische Gleichgewicht zu verschieben, und die
Art, wie wir solchen Unternehmungen gegenüber unsre Stellung zu wahren wissen,
muß allerdings entscheidend für unsre nächste Zukunft werden.
Wir wollen heute auf die zum mindesten recht unklare Lage in Marokko mit
den seltsamen Widersprüchen zwischen den Maßregeln der, französischen Regierung
und ihren Erklärungen und Versicherungen nicht eingehn. Dagegen ist es vielleicht
an der Zeit, die mazedonischen Angelegenheiten einer nähern Betrachtung zu unter¬
zieh«. Als in den Tagen der Revaler Zusammenkunft bekannt wurde, daß sich
England und Rußland über die mazedonische Frage verständigt hätten, wirkte dies in
mancher Hinsicht alarmierend. Denn England hatte nicht lange vorher — Wohl
unter der Einwirkung von Einflüssen, die vom englischen Balkankomitee aus¬
gingen — Vorschläge gemacht, die von den zwischen Rußland und Österreich-Ungarn
vereinbarten Richtlinien recht erheblich abwichen. Die neue Verständigung zwischen
Nußland und England mußte daher zunächst den Eindruck machen, als solle das
sogenannte Mürzsteger Programm, die bisherige Grundlage des gemeinsamen Vor-
gehns von Österreich-Ungarn und Rußland, zerrissen werden und einer ganz neuen
Balkanpolitik der europäischen Mächte Platz machen. Namentlich war die öffentliche
Meinung in Österreich-Ungarn von der neuen Wendung der Dinge sehr unan¬
genehm berührt.
In eingeweihten Kreisen sah man die Lage von Anfang an sehr viel kühler
an. Man war eher geneigt, zu glauben, daß England seine Politik im nahen
Orient mehr den russischen Wünschen angepaßt habe, als daß umgekehrt Rußland
seine Interessen den frühern Vorschlägen Sir Edward Greys geopfert habe. In¬
zwischen verständigten sich England und Rußland weiter über die Form ihres ge¬
meinsamen Vorgehens. Es waren dabei mancherlei Schwierigkeiten zu überwinden,
und so einigte man sich zuletzt dahin, daß jede der beiden Mächte den Teil des
Programms vertreten sollte, der ihre besondern Wünsche enthielt. England also legte
seine Vorschläge vor, die zunächst nur die Unterdrückung des Bandenwesens in
Mazedonien und der dadurch hervorgerufnen Wirren bezweckten. Die jedenfalls
umfangreichern russischen Vorschläge sind noch nicht den andern Mächten unterbreitet
worden, und deshalb ist es auch noch nicht möglich, über die englische Behandlung
der mazedonischen Frage ein endgiltiges Urteil zu fällen. Immerhin hat es einen
angenehmen Eindruck gemacht, daß die englische Politik ihre anfänglichen Wünsche
hat fallen lassen und nichts gefordert hat, was nicht im Prinzip von sämtlichen
Wächter und vor allem von der Pforte selbst angenommen werden könnte. Über
Einzelfragen, die noch manche Schwierigkeiten in sich bergen, wird man sich ver¬
ständigen können. England hat also von seiner Seite bis jetzt nichts getan, was
die Einigkeit der Mächte einschließlich Österreich-Ungarns und Deutschlands zu stören
brauchte. Aber es wird auch die russischen Vorschläge unterstützen, und noch weiß
man nicht genau, wie weit diese gehn. Und deshalb ist die Lage, obwohl wahr¬
scheinlich keine der beteiligten Mächte direkt friedenstörende Absichten hat, dennoch
nicht ganz ungefährlich.
Das hängt vor allem mit der Eigenart der mazedonischen Verhältnisse selbst
zusammen. Denn es handelt sich nicht um das Gebiet einer geschloßnen Nationalität,
die, wie einst Serben und Bulgaren, nach Befreiung von einer drückenden Ober¬
herrschaft strebt. Der Prozeß, durch den Serbien und Bulgarien allmählich aus
dem Körper des osmanischen Reichs ausgelöst wurden, zeigte als treibendes
Motiv den den Völkern innewohnenden Drang nach dem Selbstbestimmungsrecht.
Mochten die unbeteiligten Mächte diesen Drang hoch oder gering einschätzen, mochten
sie ihn billigen oder verwerfen, jedenfalls war ein Ziel da, über dessen Natur kein
Zweifel sein konnte. Wenn die neuen Staaten, die durch die Abschüttlung des
türkischen Jochs entstanden, nachher nicht den gehegten Erwartungen in der einen
oder der andern Weise entsprachen, so ließ sich trotzdem nicht leugnen, daß das an¬
gestrebte Ziel der geschichtlichen Gerechtigkeit entsprach. Die Oberherrschaft des
türkischen Padischahs, des Oberhauptes der sunnitischen Mohammedaner, über ein
christliches Volk, das sich seiner nationalen Einheit bewußt geworden ist, hat etwas
unnatürliches, und es war verständlich, daß die an den Schicksalen des nahen
Orients interessierten Großmächte in den zur Lösung drängenden Streitfragen
Gegner der Türkei waren.
Für die Führer der mazedonischen Bewegung lag es nahe, auf diese historischen
Vorgänge gestützt, Europa in den Wahn zu versetzen, daß sich in Mazedonien die¬
selbe Entwicklung vollzöge wie in den schon von der Türkei völlig oder halb los¬
gelösten Balkanländern. Eine solche Täuschung konnte freilich nicht überall und be¬
sonders nicht auf die Dauer glücken. Auf mazedonischen Boden haust eine bunte
Mischung von allen möglichen Nationalitäten, neben christlichen Serben und Bul¬
garen andre Bestandteile derselben Nationen, die den mohammedanischen Glauben
angenommen haben, ferner Griechen, Kutzowalachen, Albanesen und Türken. Die
Gegensätze der Nationalitäten und Bekenntnisse sind so schroff, daß nur eine starke,
über allen Parteien stehende Autorität eine Gewähr für die Aufrechterhaltung er¬
träglicher Zustände im Lande bieten kann. Wenn man also ernstlich von humanen
Gesichtspunkten, mit andern Worten von dem Wunsch ausgeht, eine feste gesetzliche
Ordnung in Mazedonien herzustellen und unmenschliche Greueltaten an Leben und
Eigentum aller Bewohner des Landes zu verhüten, so kann es nur einen Weg
geben, nämlich die Stärkung der Autorität der Regierung, die schon von Rechts wegen
die Gewalt besitzt, also der türkischen; denn jede aus der Bevölkerung selbst hervor¬
gehende Gewalt muß in diesem Lande Partei sein.
Die deutsche Politik hat in dieser Frage von Anfang an auf dem soeben be¬
zeichneten Standpunkt gestanden. Sie hat aus allgemein menschlichem Interesse
und mit Rücksicht auf die wirtschaftlichen Beziehungen Deutschlands im nahen
Orient bei der Pforte freundschaftliche Vorstellungen in dem Sinne erhoben, der
Sultan möge im eignen Interesse und aus eigner Initiative durch energische Ma߬
nahmen den Landfrieden in Mazedonien wiederherstellen und durch Reformen
künftigen Unruhen vorbeugen. Als sich Deutschland überzeugt hatte, daß Rußland
und Österreich-Ungarn in Mürzsteg nichts vereinbart hatten, was die Autorität des
Sultans in Mazedonien hätte verletzen können, sobald nur die türkische Regierung
die nötigen Reformen ohne Vorbehalte und Hinterhalte selbst in die Hand nahm,
hat unsre Politik ihren alten Grundsätzen gemäß den beiden nächstbeteiligten Mächten
den Vortritt gelassen und sich begnügt, der Orientpolitik dieser beiden Mächte die
Rückendeckung zu geben, zugleich aber auch in Konstantinopel selbst durch freund¬
schaftlichen Rat auf ehrliche Durchführung geeigneter Reformen im Sinne des
Mürzsteger Programms zu dringen.
Aber das dazu nötige Maß von Energie aufzuwenden, war die Pforte weder
imstande noch willens, und so blieb auch die von den Mächten eingerichtete polizei¬
liche und administrative Kontrolle in Mazedonien völlig unwirksam. Denn in die
unerschöpflichen Streitigkeiten zwischen den verschieden Bevölkerungselementen
mischten sich schon längst, vielleicht sogar von Anfang an als treibendes Motiv die
Begehrlichkeiten der benachbarten Balkanstaaten. Mazedonien, dessen slawische Be¬
völkerung aus Serben und Bulgaren gemischt ist — wobei übrigens das bulgarische
Element das stärkere ist —, erscheint natürlich den großserbischen wie den gro߬
bulgarischen Träumen als begehrenswerter Besitz. Beide sehnen sich danach, ihr
Gebiet bis zur Küste des Golfs von Saloniki zu erweitern, und in diesem Wett¬
bewerb liegt ein weiterer Grund, weshalb die mazedonischen Slawen nie zur
Einigkeit gelangen können, und die Zustände im Lande ein immer eiterndes Ge¬
schwür bleiben.
Das Eingreifen Englands und der erste Eindruck, als ob es in der Balkan¬
politik Rußland von der Seite Ästerreich-Ungarns weglocken wolle, wirkten im
ersten Augenblick darum so beruhigend, weil die ersten englischen Vorschläge offenbar
von dem englischen Balkankomitee beeinflußt waren, dieses aber im Einverständnis
mit den Serben und Bulgaren handelte und offen darauf ausging, eine Politik zu
befürworten, deren letztes Ziel, kurz gesagt, die Beseitigung der Türkenherrschaft
auf europäischem Boden überhaupt war. Daß dieses letzte Ziel in England sehr
vielen Sympathien begegnet, ist für den Kenner der politischen Parteirichtung, die
jetzt dort am Ruder ist, nicht gerade verwunderlich. Wenn Sir Edward Grey
den Wünschen einer Gruppe, die für den Bestand der gegenwärtigen Regierung
nicht ohne Bedeutung ist, in seiner Balkanpolitik nachgab, so wird ihm dieser Ent¬
schluß um so leichter geworden sein, als es der Richtung seiner allgemeinen Politik
entsprach, sich Rußland so weit als möglich zu nähern. Und er mußte sich sagen,
daß Rußland nach seiner ganzen Vergangenheit und den herrschenden volkstüm¬
lichen Vorstellungen durch eine Politik, die energisch für die Wünsche der Balkan¬
völker eintrat, keinesfalls zurückgeschreckt, sondern höchstens ermuntert werden konnte.
In demselben Maße jedoch, als Rußland dem englischen Wunsche nach einer Ver¬
ständigung und Beseitigung des frühern Gegensatzes entgegenkam, konnte auch Eng¬
land selbst in der Erhebung seiner eignen Forderungen zugunsten Mazedoniens
bescheidner werden. England hat seinen größern politischen Zweck zunächst erreicht
und sieht um keinen Anlaß mehr, mit seinen Vorschlägen Beunruhigungen uuter
den europäischen Mächten zu erwecken und insbesondre Österreich-Ungarn mißtrauisch
zu machen oder zurückzustoßen. Darin glauben wir die Erklärung für das ma߬
volle Vorgehn Englands in der mazedonischen Frage finden zu können. Wenn die
russischen Vorschläge gleichfalls durch Maßhalten die Einigkeit der Mächte ermög¬
lichen, wird sich aus dieser Frage vielleicht keine weitere Verwicklung ergeben.
Aber man erkennt schon aus diesen Ausführungen, wie weit die allgemeine
europäische Politik in diese Sonderfrage hineinspielt. Und darin liegt der Grund
für das besondre Interesse, das ihr gewidmet wird. Alle Mächte betrachten sie
als einen Prüfstein für ihr Ansehen, für das Gewicht ihres Einflusses und für
die Festigkeit ihrer Bündnisse; denu die Gestaltung der Verhältnisse auf der Balkan¬
halbinsel kann schließlich keiner europäischen Großmacht ganz gleichgiltig sein.
Den regelmäßigen Lesern des Reichsspiegels ist bekannt, wie wir die eng¬
lische Politik auffassen. Wir glauben nicht, daß sie von dem Gedanken ausge¬
gangen ist, alle Mächte Europas zu einem großen Ring zur Niederhaltung
Deutschlands zu vereinigen. Sie ist vielmehr aus einer nüchternen Betrachtung
ihrer eignen Interessen heraus zu einem System der Bündnisse und Einverständ¬
nisse gelangt, weil die veränderte Weltlage, vor allem die jetzige Politik der
Vereinigten Staaten von Amerika und das Emporsteigen Japans, das alte be¬
währte System, die europäischen Kontinentalmächte in Krieg oder Frieden unter¬
einander zu beschäftigen und in Schach zu halten, während Großbritannien, durch
keine Bündnisse beschwert, draußen im Weltmeer völlig freie Hand hatte, jetzt als
unwirksam und hochgefährlich erscheinen ließ. Aber die Furcht der Mächte, die
England vorzugsweise brauchte, vor einer deutschen Hegemonie in Europa war so
groß, daß die englischen Staatsmänner diese Furcht als taktisches Mittel, zu
ihrem Ziel zu gelangen, gar nicht unbenutzt lassen konnten. Auch darf man ein
andres Moment nicht unterschätzen, nämlich, daß ein gewisser „teutophvber" An¬
strich der englischen Politik den leitenden britischen Staatsmännern insofern die
Arbeit erleichterte, als ihre Politik dadurch in vielen Kreisen, und zwar gerade in
den sonst grundsätzlich oppositionellen, an Volkstümlichkeit gewann. Denn wir
täuschen uns keineswegs darüber, daß einerseits die Wühlarbeit eines von inter¬
nationalen Agenten und gewerbsmäßigen Deutscheufressern dauernd in Atem ge-
haltnen Teils der englischen Presse, andrerseits die durch mancherlei Eindrücke des
Alltagslebens hervvrgerufne und künstlich genährte Furcht der kleinen englischen
Geschäftsleute und Arbeiter vor der deutschen Konkurrenz in dem sonst so duld¬
samer und phlegmatischen Durchschnittsengländer rin der Zeit ein Mißtrauen und
ein Unbehagen gegen Deutschland großgezogen haben, das von der frühern naiven
Selbstgefälligkeit und Unbekümmertheit seltsam absticht. Diese Tatsache ist gewiß
für das, was wir soeben den „teutophoben Anstrich" der englischen Politik ge¬
nannt haben, mitbestimmend. Wenn aber auf Grund dessen in unsrer deutschen
Presse öfter behauptet wird, die wirtschaftliche Konkurrenz Deutschlands sei der
Hauptgrund für die anscheinend deutschfeindliche Richtung der englischen Politik,
so müssen wir freilich einschränkend drzu bemerken, daß sich die erwähnte Konkurrenz¬
furcht abgesehen von einigen systematisch in diesem Sinne bearbeiteten Kreisen
auf die Stimmung beschränkt, die „den Mann auf der Straße" — wie man in
England sagt — beherrscht. Die große englische Handelswelt, die Hochfinanz,
die Welthäuser und alle maßgebenden und gründlicher unterrichteten Geschäftskreise
benutzen wohl gelegentlich den Hinweis auf die deutschen wirtschaftlichen Erfolge
als Beispiel und als se,imuio.us, aber sie wissen im Grunde sehr wohl, daß die
wirtschaftliche Weltstellung Englands in absehbarer Zeit gar nicht zu erschüttern
ist, oder vielmehr, daß nur eins sie erschüttern könnte: ein Krieg mit Deutschland.
Es ist anzunehmen, daß Sir Edward Gray und seine Leute — und zu ihnen
gesellt sich die große Zahl der besonnenen und gebildeten Engländer, die nicht nur
die Chancen eines unnötig heraufbeschwornen Weltkrieges richtig berechnen, sondern
auch wirkliche Sympathien für deutsche Arbeit und deutsches Geistesleben hegen —
die Meinungen und Interessen jener maßgebenden englischen Geschäftskreise eher
berücksichtigen werden als die unklaren Befürchtungen andrer Leute. Aber als
geschickte Staatsmänner kleiden sie ihre Gedanken in eine Form, die auch dem Mann
auf der Straße einleuchtet.
Bekannt ist die Wirkung, die die neueste Bündnis- und Vertragspolitik Englands
auf unsre öffentliche Meinung ausgeübt hat. Aber diese an sich ja sehr erklärliche
Wirkung, die durch das Verhalten der französischen Presse bedeutend verschärft wurde,
gab den englischen Politikern neue Argumente an die Hand, um besonders gegen¬
über Frankreich und Rußland die Vorteile der Verständigung mit England in ein
Helles Licht zu rücken. Man nimmt die „Nervosität" und die „Einkretsungsfurcht"
Deutschlands zum Beweise, daß unsre Interessen in der Tat dahingingen, daß wir
andre Völker unberechtigterweise hindern wollten, ihre Interessen wahrzunehmen und
sich zu diesem Zwecke miteinander zu verbinden. Diese Vereinbarungen seien aber
gerade notwendig geworden, weil man den Anspruch Deutschlands, alle Mächte, die
nicht unbedingt seiner Führung folgten, isoliert zu halten, als unerträglichen Druck
empfinde.
Gegen solche Auffassungen zu polemisieren, lohnt eigentlich nicht der Mühe,
denn sie können vielmehr als lehrreiches Beispiel dienen, wie die Tatsachen auf der
Schaubühne der Weltgeschichte von jedem Volk im Spiegel der eignen Interessen
und Stimmungen beobachtet werden. Einem Deutschen aber braucht man nicht
ausdrücklich zu sagen, daß sich unsre Kritik der rings um uns geschlossenen Bündnisse
nicht auf diese selbst, sondern auf die Überzeugungen gründet, daß alle KoffiiungeNi
die nur irgendwo mit der Schwächung,. der Niederlage und der Zerstücklung Deutsch¬
lands rechnen, aus diesen Bündnissen Exmutigung schöpfen. Und wir können immerhin
feststellen, daß wir für das Vorhandensein solcher Hoffnungen und ihren Zusammen¬
hang mit der neuen englischen Bündnispolitik Beweise genug anführen können,,
während von der andern Seite für die Behauptung, Deutschland wolle durch
Isolierung der Mächte einen unberechtigten Druck auf sie ausüben, kein einziger
Tatsachcnbeweis beigebracht werden kann. Denn in diesem Falle wäre unser Ziel
durch eine aggressive Politik, zu der wir hundertfach die günstigste Gelegenheit
gehabt haben, sehr viel leichter zu erreichen gewesen als durch die Friedenspolitik,
die wir seit siebenunddreißig Jahren gewissenhaft durchgeführt haben.,
Wir finden die soeben gekennzeichneten Ansichten über die Notwendigkeit der
englischen Verständigungspolitik ohne Deutschland unter anderm . in einem Aufsatz
des neusten Heftes der Fortnightly ReView, der übrigens seinen Standpunkt sehr
geschickt und klar vertritt. Die Zeitschrift verende Kreise, die einem gewissen Mi߬
trauen gegen Deutschland stets sehr zugänglich gewesen sind; die Grundstimmung
des Artikels verrät dementsprechend nicht allzu viel Wohlwollen. Aber die Behand¬
lung der Frage des Einverständnisses zwischen Frankreich, England und.Rußland
ist in mancher andern Beziehung nicht weniger lehrreich. Es ist darin der Grund¬
gedanke ausgeführt, daß mir die Ungeschicklichkeit, mit der das System Bismarcks
— so nennt der englische Verfasser die Idee, daß sich Deutschland durch Isolie¬
rung der andern Mächte eine Hegemonie in Europa sichern solle --' von semen
Nachfolgern fortgesetzt worden sei, die Schuld daran trage, wenn sich Deutschland
jetzt seinerseits isoliert und benachteiligt fühle. Gewiß nicht .ohne Absicht. knüpft
der Verfasser, der fast in jedem Abschnitt der Bewunderung für den eisernen
Kanzler freien Lauf läßt, an einen Gedankengang, an, der auch bei uns die poli¬
tische Vorstellungswelt vieler Kreise beherrscht. Bismarcks, Werk durch den nach¬
folgenden Kurs verpfuscht! Das hört man ja auch, bei uns oft genug. Nur
dürfen wir nicht übersehen, daß diese Anschauung die große Gefahr in sich birgt,
sich in der berechtigten Verehrung des unvergeßlichen, großen Kanzlers zu verlieren
und darüber das wirklich Neue in den Pflichten und den Aufgaben der Zeit zu über¬
sehen. Vielleicht ist es ganz gut, daß un^ elMal ein Engländer, de
nicht wohlwill, auf die Kehrseite dieser ihren,Blick beständig rückwärts wendenden
politischen Anschauungsweise zeigt. Indirekt wird in dem englischen Aufsatz ganz
richtig zugegeben, daß das Deutsche Reich allerdings vor neuen Aufgaben stehe.
Wenn, übrigens xin Ausländer unter Berufung pus Bismarck beweisen will, wie
notwendig es für die europäischen Mächte ist, Deutschland mißtrauisch zu beob¬
achten, so ist es Zeit für uns, doppelte Aufmerksamkeit darauf zu verwenden, daß
wir uns den Aufgaben, die die neue Lage uns stellt, durchaus gewachsen zeigen.,
. Wir erkennen aber in dieser vorsichtigen, scheinbar auf deutsche Urteile selbst
gestützten Bewertung der deutschen Politik von englischer Seite-zugleich das Be¬
streben, den Bogen nicht zu überspannen. Allerdings ist die Tendenz der englischen
Politik, zwar Deutschland im R»t der Mächte so weit wie möglich matt zu setzen,
aber es nicht zu eiuer kriegerischen Verwicklung zu. treiben. Der Verfasser sagt
geradezu: Wenn Deutschland nicht den Frieden bricht, wird er überhaupt nicht
gebrochen werden. Ob das in dieser scharfen Zuspitzung richtig ist, kann nur
die Zukunft zeigen. Aber man wird dieses englische Urteil nicht ohne weiteres
für unehrlich halten dürfen. Der englische Politiker von geschulten Urteil und
historischer Bildung weiß in der Tat die Bedeutung des Umstandes, daß im Herzen
Europas jetzt eine festgefügte, kriegsbereite und doch friedfertige germanische Macht
besteht, auch für England durchaus zu schätzen. England wird das Unbehagen
unsrer östlichen und westlichen Nachbarn benutze», diese seinen Wünschen gefügig
zu machen, aber es wird sich hüten, Frankreich und Rußland zu helfen, daß sie
sich durch Zertrümmerung oder Schwächung der kontinentalen Zentralmacht selbst
wieder zu gefährlichen und nicht mehr gefügigen Konkurrenten Englands aus-
wachsen. Das wird auch auf die Behandlung der orientalischen Frage nicht ohne
Einfluß sein. Vielleicht sind wir bald in der Lage, auch die Stellung Rußlands
genauer zu übersehen. ___
Wenn man die steuerpolitischen Diskussionen verfolgt, die bei der bevorstehenden
Reichsfinanzreform in den letzten Monaten durch die deutsche Presse gegangen sind,
so kann man sich der Befürchtung nicht ganz erwehren, daß sich der Widerstreit der
Meinungen einseitig auf bestimmte Probleme zuspitzt und dabei eine Reihe andrer,
für die Wiederherstellung unsrer Finanzen mindestens so wichtiger Tatsachen über¬
sieht. Mit der Frage, ob direkte oder indirekte Steuern die Bevölkerung schwerer
belasten, ist es wahrlich doch nicht getan, insbesondre für den, der die Situation
vom Standpunkt der Gesamtheit aus betrachtet. Es genügt nämlich nicht, daß ein
Staat hohe Einnahmen hat, sondern es ist weiter auch darauf zu achten, daß sich
diese Einnahmen mit dem jeweiligen Staatsbedarf in einer gewissen Übereinstimmung
befinden.
Die Staatsausgaben sind ja im allgemeinen dauernder Natur. Der Stants-
bedarf in seinen wichtigsten Teilen — man denke nur an die Beamtenbesoldung — ist
dauernd fixiert. Selbst die außerordentlichen Ausgaben bleiben im ganzen in einer
Linie verhältnismäßiger Gleichmäßigkeit; sie zeigen entsprechend der organischen Ent¬
wicklung des Staats eine gewisse ständige Steigerung. Es kommt äußerst selten
vor, daß ein Jahr einen grundsätzlich geringern Bedarf aufweist als das voran¬
gegangne. Sind die Ausgaben aber regelmäßig, dauernd, so ist es vom Standpunkt
des Staatshaushalts aus in hohem Maße wünschenswert, daß sich auch die Staats¬
einnahmen einer gewissen Stetigkeit, einer ruhigen Fortentwicklung erfreuen. Wie
jeder Privathaushalt, so muß auch das Staatsbudget unter allen Umständen in
Unordnung geraten, wenn einem Jahr mit hohen Einnahmen bei gleichbleibenden
Ausgaben ein andres Jahr mit geringen Einnahmen folgt. So betrachtet erscheinen
die einzelnen Einnahmequellen des Staats in ganz anderm Lichte, als wenn man
sie nur prüft unter dem Gesichtspunkt der Steuerbelastung des einzelnen.
Interessant ist sür diese Frage insbesondre der preußische Staatshaushalt. Zu
einem ganz wesentlichen Teil beruht er auf Einnahmen, die ihrer Natur nach
schwankend sind, nämlich auf den Überschüssen der Eisenbahn und sodann der staat¬
lichen Einkommensteuer. Die Schwankungen dieser sind bisher nicht übermäßig in
die Erscheinung getreten, weil sich Deutschland seit der Durchführung der Miquelschen
Steuerreform im wesentlichen in einer Periode ständigen, nur kurz unterbrochner
wirtschaftlichen Aufschwungs befunden und daher auch die Einkommensteuer, bei der
die Ungleichheiten durch die Zugrundelegung von drei Jahresdurchschnitten des Er¬
werbseinkommens ausgeglichen werden, eine fast ständig wachsende Tendenz gezeigt
hat. Sollte einmal aber eine Depression wider Erwarten und Hoffen längere Zeit
andauern, so würden sich auch in Preußen diese Nachteile einer ausschließlich auf
dem Volkswohlstand basierten Einnahmequelle herausstellen.
Was für die Einkommensteuer nur zu befürchten ist, das ist bei den ein
Drittel aller Einnahmen Preußens betragenden Überschüssen der Eisenbahn bereits
wiederholt und gerade jetzt Wirklichkeit geworden. Wenn die Eisenbahnen nicht zur
Deckung des allgemeinen Staatsbedarfs jährlich über 200 Millionen beitrügen, so
würde es in keiner Weise imstande sein, seinen Bedarf zu decken. Diese sind aber
nun, wie die Erfahrungen insbesondre des letzten Jahres gezeigt haben, überaus
schwankender Natur, weil sie von der jeweiligen wirtschaftlichen Konjunktur in hohem
Maße abhängig sind. Es bedarf keiner besondern Hervorhebung, daß die starke
Steigerung des Verkehrs, die Perioden wirtschaftlichen Aufschwunges mit sich
bringen, ihren unmittelbaren Ausdruck in den Einnahmen aus den Eisenbahnen
findet. Wenn nun umgekehrt durch ein Jahr wirtschaftlichen Rückgangs eine solche
zweifellose Störung des Staatshaushalts eintritt, wie dies die lebhaften Erörterungen
des preußischen Abgeordnetenhauses bei den letzten Etatsverhcmdlnngm gezeigt haben,
so ist dies ein Beweis, daß es sich jeder Staat zweimal überlegen muß, bevor er
seine Finanzen ausschließlich auf derartige, von wirtschaftlichen Konjunkturen ab¬
hängige Einnahmequellen stellt.
Das Reich besitzt bekanntlich an solchen unmittelbar durch das Auf und Ab
des wirtschaftlichen Lebens bedingten Einnahmen nur verhältnismäßig wenige. Man
kann hierzu die Reichsstempclnbgaben rechnen, da die Umsätze, von denen hier die
Steuer erhoben wird, ihrerseits von der Intensität des Geschäftsverkehrs in wesent¬
lichen Punkten abhängen. Die ganze Masse der übrigen Steuern und Zölle ist
zwar nicht gänzlich unabhängig von den augenblicklichen wirtschaftlichen Verhältnissen,
aber doch in weit höherm Maße feststehend oder durch andre Dinge beeinflußt
als gerade Konjunkturen. Insbesondre sind die Getreidezölle ein interessantes
Gegenstück zu den oben besprochnen Eisenbahnüberschüssen. Sie betrugen
Die Schwankungen sind aber natürlich nicht beeinflußt durch die Konjunktur,
sondern ausschließlich durch die Ernte, die im Inland stattgefunden hat. Eine gute
ergiebige Ernte drückt die Erträge der Getreidezölle hinunter; eine schlechte, uner¬
giebige läßt sie emporschnellen. Das bedeutet keineswegs, daß sich die staatlichen
Einnahmen und der Wohlstand der ländlichen Bevölkerung gegenseitig beeinflussen,
denn eine ergiebige Ernte braucht ja noch keineswegs gute Preise mit sich zu
bringen.
Dagegen weist die Einnahmeskala des Reichs eine Reihe andrer Posten auf,
die von dem Gang der Konjunktur wie auch von den heimischen Produktionsver¬
hältnissen in hohem Maße unabhängig sind, ja überhaupt von dem Auf und Ab
des wirtschaftlichen Lebens fast unberührt erscheinen. Hierzu gehört vor allem die
Tabaksteuer. Sie überschritt
also im ganzen sehr geringe Unterschiede.
Noch schärfer tritt die Stetigkeit bei der Salzsteuer hervor, die darum jedoch
noch keineswegs als volkswirtschaftliches Ideal hingestellt werden soll. Hier über¬
steigen in dem angegebnen Zeitraum bei einem Gesamtertrag von 40 bis 54 Millionen
die Schwankungen von Jahr zu Jahr fast niemals eine Million.
Auch die Brausteuer verhält sich äußerst gleichmäßig. Zwischen 1898 und 1905
steht das Minimum auf 29116000, das Maximum ans 31478000.
Mag man nun über die bezeichneten Steuern denken, wie man will, zweifellos
dürste sein, daß sie für den Staatshaushalt in hohem Grade nützlich erscheinen.
Man wird solche Gesichtspunkte bet einer Neureglung unsers Reichsfinanzwesens
nicht ganz außer acht lassen dürfen. Bei dem engen Zusammenhang, der durch
das Medium der Matrikularbeiträge zwischen Reich und Einzelstaaten besteht, wird
man entschieden Bedenken tragen müssen, die Vermehrung der Reichseinnahmen
überwiegend auf Wegen zu suchen, die zu weiterer Abhängigkeit von den Kon-
junkturschwaukungen führen. Liegt die Sache so, daß große Bundesstaaten rin
eignen Eisenbahnen und ausgebildetem Steuersystem schon für die Ausgestaltung
ihres Staatshaushalts in hohem Maße den Konjunkturschwankungen unterworfen
sind, so muß es entschiedne Bedenken erwecken, nun auch das Reich noch in ähn¬
licher Weise durch Einführung direkter Reichseinkommen- und Vermögenssteuer von
den Wellenbewegungen des Wirtschaftslebens abhängig zu machen. Man wird
vielmehr auch aus diesem Grunde danach trachten müssen, die Einnahmenvergrößerung
in einer Weise vorzunehmen, die eine Ständigkett der Einnahmen und damit die
Sicherung einer Balancierung des Etats bedeutet.
Von diesem Standpunkt erscheinen die eingangs erwähnten Gegensätze zwischen
direkten und indirekten Steuern in einem ganz andern Lichte.
Um etwaigen Mißverständnissen vorzubeugen, sei nur noch darauf hingewiesen,
daß die hier erörterte Frage der Abhängigkeit zwischen Staatsfinanzen und Kon¬
junkturen in keiner Weise zu verwechseln ist mit der andern Frage, ob es sich
empfiehlt, eine sogenannte bewegliche Steuer im Staatshaushalt einzusetzen. Dabei
handelt es sich um die Möglichkeit, je nach dem Maß hinzukommender Ausgaben
den Bedarf durch verschiedne Festsetzung der Steuersätze auszugleichen und nicht,
wie bet den Eisenbahnüberschüssen, um ungewollte Schwankungen der Erträge.
Man kann sich sehr wohl ein Steuersystem denken, bei dem die Einnahmen auf
festen, von der Konjunktur nicht berührten Unterlagen beruhen und doch sogenannte
bewegliche Steuern eingeführt werden.
Bei einem etwa zwanzig Minuten
dauernden Gange durch die Stadt Leipzig gab ich mir die Mühe, die Damen-
und Herrenstrohhüte zu zählen, die als Schmuck des Hutbandes eine ausgenähte
kleine bunte Flagge trugen. Es waren im ganzen 38, darunter 35 Damen- und
3 Herrenhüte. Nun kann man ja über die Berechtigung eines bunten Fähnchens
als Hutschmuck verschiedner Ansicht sein, gibt man diese Berechtigung aber zu, so
sollte man doch zum wenigsten erwarten, daß deutsche Frauen, Mädchen und
Männer die deutschen Farben trügen. Welche Flaggen waren jedoch vertreten?
Eine — sage und schreibe eine! — deutsche, 2 japanische, 2 nichtssagende
Phantasiefahnen, 14 englische und 19 amerikanische! Braucht man sich da noch zu
wundern, wenn sich die Ausländer über unsre Lakaiengesinnung lustig machen? Aber
der Deutsche scheint sich nur wohl zu fühlen, wenn er seine Erbärmlichkeit in allen
nationalen Dingen recht offen zur Schau stelle» kann, und die Hutfabrikanten
wissen schon, weshalb sie dem deutschen Publikum Hutbänder mit englischen und
amerikanischen Flaggen bieten. Ich möchte einmal den Engländer oder die Amerikanerin
sehen, denen ihr Lieferant in London oder Newyork Hüte mit der deutschen Flagge
vorzulegen sich erdreistete. Sie würden ihm schön heimleuchten. Aber der deutsche
Michel samt Frau Gemahlin und Fräulein Tochter ist ja überglücklich, wenn er seine
Nationalität verleugnen, beim Tennisspiel ein bißchen englisch radebrechen und — seinen
Hut mit den Farben der Nation „schmücken" kann, über die er noch vor ein paar
Jahren in so töricht-taktloser Weise zu schimpfen für nötig hielt. Was uns fehlt
I. R. H.
ehr Jahre sind dahingegangen, seit der große Nationalheld im
Sachsenwalde die Augen für immer schloß. Solange er lebte,
hat seine gewaltige Kampfesnatur Parteiung erregt und erhalten,
jetzt ist der Streit allmählich zum Stillstand gekommen, und es
wird möglich, den ersten politischen Genius Deutschlands in rein
historischem Lichte zu sehen. Da zeigt es sich immer deutlicher, daß der Mann,
der der Gründer der deutschen Einheit, der Bezwinger tausendjährigen deutschen
Haders wurde, mit seinem Denken und Fühlen tief in dem heimischen Boden
der Mark wurzelt. In der Frühzeit seiner politischen Tätigkeit erscheint er unter
den schwärmerischen Aposteln der deutschen Einheit als ein schroffer Preuße,
der die deutschen Bestrebungen als windige Träume belächelt und unter den
Politischen Idealisten jener Zeit als ein unverstandner Realist, ein dreister Ver¬
teidiger des staatlichen Egoismus einherschreitet.
Will man den alten Bismarck richtig verstehn, so wird man nicht unter¬
lassen dürfen, die Tage seiner ersten politischen Tätigkeit zu durchforschen, die
Tage, wo er noch nicht in Frankfurt die Klinge mit den Diplomaten der
Hofburg maß, sondern in der zweiten Kammer des preußischen Landtags als
Vorkämpfer der alten preußischen Monarchie wirkte.
Seine Reden aus jener Zeit liegen längst gedruckt vor und geben uns
ein klares Bild seiner damaligen politischen Anschauungen. Weniger bekannt
ist die Geschichte seiner Wahlkandidatur und seiner Beziehungen zu dem
märkischen Wahlkreise, der ihn dreimal in die zweite Kammer, einmal in das
Volkshaus in Erfurt gewählt hat. Es ist mir gelungen, darüber manches
neue Material an Briefen, Ausrufen, auch Bildern zusammenzubringen, das
us zum Teil schon an andrer Stelle veröffentlicht habe. Hier soll des jungen
Parlamentariers Verkehr mit seinem Wahlkreise geschildert werden in der
Hoffnung, daß der innige Zusammenhang des größten Sohnes der märkischen
Erde mit seinem heimischen Mutterboden daraus immer deutlicher werden wird.
Bekanntlich ist Bismarck eigentlich durch die Not der preußischen Monarchie
1848 auf den politischen Kampfplatz gerufen worden. Sein Auftreten im
vereinigten Landtage schien nur eine vorübergehende Episode zu sein, die mit
seiner Verheiratung ihren Abschluß fand. Schon damals hatte er sich furchtlos
mit seinen streng konservativen Anschauungen dem Strome der öffentlichen
Meinung entgegengeworfen, indem er das monarchische Prinzip als den
Rechtsboden des preußischen Staats betonte und den christlichen Charakter
des Staatswesens scharf hervorhob. Aber er gedachte wohl, in den Hafen
still ländlichen Glücks zurückzukehren, als die Revolution ihn in ihre Strudel
riß. Zwar den parlamentarischen Körperschaften jenes Jahres blieb er fern,
nachdem er noch im April 1848 dem vereinigten Landtage angehört hatte.
strebte doch den auf Volkssouveränität gegründeten deutschen Verfassungs-
pläneu des Frankfurter Parlaments sein streng preußisches Fühlen ganz und
gar entgegen.
In die preußische Nationalversammlung gewählt zu werden, hatte er sich
„aus Gewissenspflicht" bemüht, war aber in der demokratischen Hochflut nicht
durchgedrungen. So verzehrte er sich in diesen stürmischen Tagen in leiden¬
schaftlichen Versuchen, der königlichen Gewalt als Privatmann beizuspringen.
Er versichert dem Herrscher in einem persönlichen Briefe seine unwandelbare
Treue. Er läßt auf dem Turme von Schönhausen die Preußenfahne mit
dem Eisernen Kreuz aufziehen, bewaffnet seine Bauern und sammelt das Land¬
volk der Umgegend, um dem Könige Hilfe zu bringen. Die entmutigten
Generale sucht er zu einer rettenden Gewalttat aufzustacheln; dem König selbst,
von dem er an den Hof gerufen wird, hält er schonungslos seine Schwäche
vor. Er will die alte preußische Monarchie, die er leidenschaftlich verehrt,
gegen König und Regierung durch seines Willens Wucht erretten. Die schein¬
bare Erfolglosigkeit seiner Bemühungen schreckt ihn nicht ab. Eifrig nimmt
er teil an der Schöpfung einer konservativen Parteipresse und an der Tagung
des „Junkerparlaments", eines Kongresses der durch die neue Gesetzgebung
bedrohten Großgrundbesitzer.
Neue Erregung ergriff ihn, als sich im Herbst Friedrich Wilhelm der Vierte
der immer dreister vordrängenden Nationalversammlung gegenüber dazu ermannte,
ein Ministerium zu berufen, das energisch die Kronrechte verteidigen sollte.
Bismarck hatte den größten Anteil daran, daß der wackere Minister¬
präsident Graf Brandenburg Geführten gewann, die bereit waren, an seiner
Seite auszuharren. Auch als dann der Umschwung herbeigeführt wurde, die
Nationalversammlung nach Brandenburg verlegt, der Versuch einzelner Ab¬
geordneter, in Berlin weiter zu tagen, scheiterte, Wrangel in die Hauptstadt
einzog, die Bürgerwehr auflöste und den Belagerungszustand über Berlin
Verhängte, war der Gutsherr von Schönhausen eifrig hinter dem Vorhange
tätig, um dem Monarchen wieder entschiednen Willen einzuflößen und ihn dabei
festzuhalten.
Als endlich das Ministerium eine Verfassung mit ziemlich weitgehenden
freiheitlichen Zugeständnissen aufzwang und Neuwahlen anordnete, die zwar
indirekt, aber geheim waren und nach dem Kopfzahlsystem vorgenommen
wurden, kehrte Bismarck von der Hauptstadt nach Schönhausen zurück, uuter
den Eindrücken der Parlamentsauflösung von Ungeduld verzehrt, ein Kammer¬
mandat zu erhalten, um seine Meinungen auf der Tribüne zur Geltung
bringen zu können. In seinem Heimatskreise war es ihm im Frühjahr nicht
gelungen. Jetzt bot sich ihm im nachbarlichen Wahlkreise Brandenburg-West¬
havelland-Zauns-Belzig eine günstige Aussicht.
Dieser Wahlkreis bietet im Sturmjahre 1848 recht eigentlich einen Mikro¬
kosmus der revolutionären und der antirevolutionären Bewegungen Preußens.
Der Freiheitsrausch, der von der Hauptstadt ausging und dort sich am
heftigste» auflohte, hat zunächst in Stadt und Land der Provinz ansteckend
gewirkt. Am stärksten loderte die Flamme der revolutionären Begeisterung
natürlich in den Städten: Brandenburg, Rathenow, aber auch in kleinern wie
Belzig, Werber u. a. Von den stark herausfordernd auftretenden radikalen
Elementen in der Stadt Brandenburg weiß ein altes Demvkratenschmählied
zu berichten, ohne daß sich doch bezeichnende Einzelheiten anführen ließen.
Die Spalten der Tagesblätter füllten sich mit politischem Inhalt, für die
Opfer der Berliner Barrikadenkämpfe wurde eifrig gesammelt, freiheitlich ge¬
sinnte Vereine wie der Konstitutionelle Klub und der Demokratische Verein ent¬
standen. Ja Ende Mai kam es zu einem wilden Tumult aufgeregter Tuch¬
machergesellen, nach dem hauptsächlich bedrohten Meister „der Dähnesche Krieg"
benannt, der mit Mühe von der Bürgerwehr gestillt wurde. Aber daneben
bekundete doch die Bürgerschaft, abgekühlt durch empörende Vorgänge in der
Hauptstadt wie den Zeughaussturm und andre Pöbelausschreitungen, bald
nach den Märztagen offen ihren preußischen Patriotismus. Während es im
Kreise Westhavelland vorkam, daß ein demokratischer Landpfarrer im Kirchen-
gebet eigenmächtig den Namen des ihm verhaßten Prinzen von Preußen
ausließ, sandte die Brandenburger Stadtbehörde und der Konstitutionelle Klub
der Regierung ihren Dank für die Rückberufung des Prinzen aus England,
und die Einwohner bereiteten dem Heimkehrenden am 7. Juni auf dem Bahn¬
hofe einen festlichen Empfang. Und als der Brandenburger Handwerker¬
verein am 10. September in der gewaltigen Stärke von 1400 Köpfen nach
Potsdam fuhr, zog er vor das Babelsberger Schloß, um dem Prinzen eine
Huldigung zu bereiten, wurde von diesem und seinem Sohne freundlich
empfangen, und es heißt sogar, die Prinzessin Augusta habe die Fahne des
Vereins geküßt. Neben den liberal denkenden Vereinen bildete sich schon
Ende April 1848 ein patriotischer, d. h. nach damaligem Sprachgebrauch ein
konservativ-monarchistischer Verein, der schon im Juli verschiedne gegen repu¬
blikanische Bestrebungen gerichtete Flugschriften verbreitete.
Die gut preußische Gesinnung der Brandenburger Bürgerschaft, die sich
neben und gegenüber der Begeisterung für die Einigung des deutschen Vater¬
landes behauptete, tat sich in manchen Anzeichen kund. Ein Fest zu Ehren
des neugewählten Reichsverwesers, des österreichischen Erzherzogs Johann, das
von demokratischer Seite angeregt wurde, fand keinen Anklang. Dagegen
vereinte die Rückkehr des Füsilierbataillons des zwanzigsten Regiments aus
dem Schleswig-holsteinischen Kriege alle Kreise und Parteien der Stadt Branden¬
burg, und jubelnd wurden die heimkehrenden Krieger von den Veteranen, der
Bürgerwehr, den Schützengilden, den Innungen und dem Handwerkerverein
mit seiner schwarzrotgoldnen Fahne eingeholt. Der Oberbürgermeister Ziegler
hielt dabei eine feurige Ansprache, in der er im Namen der Bürgerschaft dem
Königtum den Treuschwur erneute und die Fahne des Bataillons küßte. Bei
dieser Stimmung der Mehrheit der Bürgerschaft verlor Ziegler, wie er selbst
berichtet, ganz außerordentlich an Ansehen in der Stadt, als er sich, im Ok¬
tober 1848 im Kreise Zauns-Belzig durch die Bemühungen des Adels in die
Nationalversammlung gewählt, der ihn in Ermanglung eines Parteigenossen
auf den Schild erhob, ganz gegen seine bisher bekundete politische Richtung
der Linken anschloß und dem Steuerverweigerungsbeschluß beitrat. Das Ver¬
halten der Nationalversammlung und die Verlegung des Parlaments nach
Brandenburg fanden geteilte Aufnahme in der Stadt. Während sich die Stadt¬
verordnetenversammlung für das trotzige Parlament erklärte, nahmen der
Magistrat, der Patriotische und der Kriegerverein eine entgegengesetzte Haltung
ein. Die politischen Gegensätze spitzten sich immer mehr zu, und ein lebhafter
Preßstreit entbrannte am Ende des Jahres in den beiden Blättern der Stadt.
In den kleinern Städten Nathenow, Belzig, Werber, Brück, Niemegk
scheint die demokratische Stimmung lange vorgewogen zu haben, sodaß die
konservative Werbetätigkeit vom Lande her dort heftigen Widerstand fand.
Dagegen gelang es namentlich in der Zauche dem leidenschaftlichen Rittmeister
Albert von Arnstedt in Groß-Kreuz, das Landvolk gegen die revolutionäre Be¬
wegung in den Städten zu organisieren. Der hitzköpfige Ultra, von den
Zeitgenossen „der tolle Arnstedt" genannt, der seine streng konservative Ge¬
sinnung mit urwüchsigen Kernflüchen und trotzigen Gegnern gegenüber wohl
auch mit der Hetzpeitsche zur Geltung zu bringen suchte, wußte durch seinen
royalistischen Feuereifer und seine volkstümliche Derbheit seine schwerfälligen
Havelländischen Bauern mit fortzureißen und gründete Anfang Juli in Lehnin
einen patriotischen Verein, der bald hundert Dörfer und schon im August an¬
nähernd tausend Mitglieder umfaßte.*) Als dann im November 1848 das
Gerücht nach der Zcmche drang, der König sei selbst in Potsdam in persön¬
licher Gefahr und bedürfe des Beistands seines getreuen Landvolks, strömten
bei Groß-Kreuz, Werber und im Havellande an tausend bewaffnete Bauern
zusammen und zogen nach Potsdam, wo sie der König, der inzwischen seine
Truppen um sich sah, mit Dank und Anerkennung entließ. Auch im Kreise
Westhavelland nördlich von Brandenburg zeigte sich ähnliche Gesinnung. Die
Dorfgemeinde Barnewitz ließ es sich nicht nehmen, Königs Geburtstag (am
15. Oktober) durch ein mächtiges Freudenfeuer zu begehn und machte diese
vaterländische Absicht öffentlich im Kreisblatt bekannt, um Nachahmung zu
wecken. In diesem Dorfe wurde auch eine Adresse der ländlichen Gemeinden
in Westhavelland an den König beschlossen, die ihn der Treue der Bauern
versicherte und sich entschieden auf die Seite der Regierung in ihrem Kampfe
mit der Nationalversammlung stellte. Im Verfolge dieser Bewegung kon¬
stituierte sich der patriotische Verein des Westhavellands, der schon früher
entstanden, aber wieder eingeschlafen war, am 14. Dezember 1848 in Friesack
von neuem unter dem Vorsitz des Amtmanns Winterfeld zu Ketzür, der nachher
neben Bismarck zum Kammerabgeordneten gewählt wurde, und in Gegenwart
einer Abordnung des Berliner Patriotischen Vereins.
Es ist klar, daß ein Mann von den feudalen Anschauungen Bis-
marcks wohl bei dem Landvolke des Wahlkreises Anklang finden, aber nicht
ohne weiteres in der Stadt Brandenburg Boden fassen konnte. So stark
die Ernüchterung, die Wiederbesinnung auf preußischen Patriotismus unter
den Beamten, den alten Kriegern, den kleinen Bürgern sein mochte, so waren
doch die Konservativen der Stadt in ihrer Mehrheit durchaus gemäßigt.
Unter diesen Umständen war es für Bismarck sehr günstig, daß ihm gegen¬
über der schon genannte Oberbürgermeister Ziegler kandidierte, der sich in der
Stadt durch rücksichtsloses Durchgreifen manche Feinde gemacht und neuer¬
dings durch seinen jähen Gesinnungswechsel von absolutistischer Richtung zur
entschiedensten Demokratie bei Rechts- und Linksstehenden allgemeine Ver¬
blüffung erregt hatte.
Die erste Anregung zu Bismarcks Wahlkandidatur in Brandenburg scheint
die Anwesenheit der jungen Gattin des Brandenburger Strafanstaltsdirektors
Barschall, Franziska geborne von Putkamer, einer Cousine der Gattin Bis¬
marcks, in Schönhausen gegeben zu haben. Ihr wollte der Bundestags¬
gesandte, wie er später im Scherz sagte, seine Karriere verdanken. Barschall
war Vorsitzender des Patriotischen Vereins und trat, obwohl er selbst zu
kandidieren gedachte, sogleich mit Feuereifer für den hochbegabten Verwandten
ein, wie er auch Arnstedt für ihn gewann. Ins Gewicht fiel auch, daß der
rührige Assessor Bindewald, ein Hauptkämpfer der konservativen Partei in seinem
Heimatkreise Westhavelland, der selbst als Wahlbewerber für diesen Kreis in
Aussicht genommen war, zugunsten des bessern Mannes verzichtete und für
ihn eifrig wirkte.
In der Stadt Brandenburg tobte der Wahlkampf sehr heftig, heftiger als
je vorher und nachher. Die demokratischen Bezirksvereine bezeichneten die
oktroyierte Verfassung als eine Scheinkonstitution und verlangten die Vollendung
der Volksherrschaft durch Verlegung der Regierungsgewalt in die Mehrheit
der Kammer, also eine durchgreifende Umgestaltung der neuen preußischen Ver¬
fassung nach demokratischen Grundsätzen.
Die Konservativen dagegen fanden die Volksrechte durch die rettende Tat
der Verfassungsverleihung genügend gewährleistet, erklärten es für die dringendste
Aufgabe des Augenblicks, ein starkes und geachtetes Königtum zu erhalten, und
brandmarkten demgemäß den Steuerverweigerungsbeschluß der Nationalver¬
sammlung, an dem sich der Kandidat der Gegenpartei Ziegler beteiligt hatte.
Es ist nicht unmöglich, daß sich Bismarck selbst an dem Federstreite jener
Wochen beteiligt hat. Wenigstens begegnen uns in den Lokalblättern wieder¬
holt kleine Artikel mit —k unterzeichnet, die in rücksichtsloser Parteigängerweise
die Gegner als verkappte Republikaner zu entlarven versuchen. Die letzten acht
Tage vor der Wahl hielt sich der Gutsherr von Schönhausen in Brandenburg
auf, um seine Angelegenheit persönlich zu betreiben. Er wohnte in der Straf¬
anstalt bei Barschall und schrieb von dort „an Franziskas Tischchen" an seine
Gattin sehnsüchtige Briefe. Um ihn war ein lebhaftes Treiben; Boten und
Briefe kamen und gingen, und er selbst sprach wiederholt, um sich den Wahl¬
männern vorzustellen. Von einer dieser Versammlungen wird erzählt, daß
Bismarck keinen Frack zur Verfügung gehabt und sich deshalb einen solchen
von einem Gesinnungsgenossen, wie es heißt, dem Bürgermeister Brandt, einem
persönlichen Gegner Zieglers, geborgt habe. Seine demokratischen Gegner
pflegten das gut bezeugte Geschichtchen später als Beweis dafür zu erzählen, wie
ärmlich es damals noch um den verhaßten Junker bestellt gewesen sei. Das ist
natürlich eine vom Parteigeist aufgebrachte Fabel; denn die Zeit war schon längst
vorüber, wo Bismarck in wirklich beschränkten Vermögensverhältnissen lebte.
In vielen Lebensbeschreibungen des Fürsten wird den Rathenower Wahl¬
männern das Verdienst zugeschrieben, bei dieser Wahl für Bismarck den Aus-
schlag gegeben zu haben. Das erweist sich bei näherer Untersuchung als unrichtig.
Die Wahlmänner der Stadt Nathenow standen damals noch unter dem Einfluß
eines demokratischen Bürgermeisters und haben nachweislich gegen Bismarck
gestimmt. Eine hübsche Wahlgeschichte, bei der Rathenow die eben angedeutete
rühmliche Rolle spielt, bezieht sich vielmehr auf die zweite Wahl Bismarcks,
die im Juli 1849 stattfand.
Der Vorabend der Wahl war ein Sonntag, an dem die große Mehrzahl
der Wahlmänner nach dem Wahlort Brandenburg kam, und 137 sich von ihnen
für Bismarck erklärten. Er hatte trotz mancher innerer Bedenken für An¬
erkennung der Verfassung gesprochen und im übrigen verheißen, er werde die
Krone gegen die Anarchie verteidigen. Er erklärte sich für Gleichheit vor dem
Gesetz, aber gegen Abschaffung des Adels, für gleiche Verteilung der Steuern
nach dem Vermögen, soweit möglich, gegen Verminderung des stehenden Heeres
und für strengere Preß- und Vereinsgesetze. Trotz dieses recht konservativen
Programms hatte er auch die Gemäßigten unter Konservativen und Liberalen
für sich gewonnen; so stark war vor allem der Wunsch, das Königtum gegen
den demokratischen Ansturm zu stärken, so groß war die Abneigung gegen
seinen Gegner, den Oberbürgermeister Ziegler, dessen politisches Verhalten den
meisten als zweideutig erschien.
Mit einer knappen Majorität von 9 Stimmen errang Bismarck neben dem
Amtmann Winterfeld den Sieg. Von 290 Stimmen erhielt er 161, von denen
aber 7 ungiltig waren, weil nur sein Zuname darauf stand. In Brandenburg
selbst war nur eine allerdings bedeutende Minderheit, 33 von 68 Wahlmännern,
für ihn eingetreten. Der Erfolg wurde durch ein Verbrüderungsmahl der sieg¬
reichen Parteien von 400 Personen gefeiert, wo die vaterländische Begeisterung,
die sich in preußischen Vaterlandsliedern erging, Adel, Bürger und Bauern in
der Freude darüber vereinigte, daß die Demokratie eine Schlappe erlitten habe,
und der preußischen Krone ein Vorkämpfer im Parlament gewonnen sei.
In der Tat standen sich in diesem Wahlkampfe zwischen Bismarck und
Ziegler zwei entgegengesetzte Typen politischer Auffassung gegenüber, die noch
lange die Geschichte Preußens beherrscht haben.
Bismarck der erfolgreiche Schildhalter des Königtums, dem es gelingt,
durch seine geniale Politik ein neues Zeitalter der Monarchie heraufzuführen,
und dessen gigantische Herrschernatur doch nicht immer die Fesseln getragen
hat, die ihm die Pflicht als Kronvasall auferlegte; ihm gegenüber der ehemalige
Oberbürgermeister der Kurstadt, ein leidenschaftlicher Anhänger der demokratischen
Parlamentsherrschaft, der infolge seines Anteils am Steuerverweigerungs¬
beschlusse zu Festungshaft verurteilt und seines Amts entsetzt, ein Opfer seiner
Politischen Tätigkeit geworden ist und so es gesühnt hat, daß ihn in einer
verhängnisvollen Stunde der politische Ehrgeiz fortriß.
Beide sind Söhne der Mark, und in Bismarcks Briefen wie in Zieglers
Novellen findet sich neben glänzenden Geistesblitzen das tiefe Naturgefühl für
das niederdeutsche Flachland mit Sand und Sumpf, mit Kiefernheide und blauen
Seenspiegeln. Der eine ein Sproß des trotzig selbständigen Landadels, der doch
seine politische Stellung erst gewinnt als einflußreicher Vasall der Krone, der
andre ein Vertreter des aufstrebenden Bürgerstnndes, genährt mit dem Geistes¬
erbe politisch mündiger Völker. Beide haben durstig am Börne deutscher und
fremder Bildung gesogen. Während Bismarck aber seiner Seele Gleichgewicht
erst durch die Versenkung in kindlich frommen Glauben gefunden hat, glaubt
Ziegler seines Geistes Freiheit nur wahren zu können, wenn er sich an den
Ideen der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts nährt und hat mit dem
Freisinn jener Zeit auch ihre Frivolität eingesogen.
Beide sind stolze Preußen. Bismarck wird von Weinkrämpfen geschüttelt,
wenn er den Staat seiner Liebe bedroht sieht. In Ziegler aber lebt bei aller
Opposition gegen die absolute Krone in Zeiten der Gefahr ein starkes nationales
Empfinden, wie er 1866 in Breslau rief: Das Herz der Demokratie ist allemal
da, wo die Fahnen des Landes wehen. Jeder hat freilich ein grundverschiednes
Ideal von Preußens Zukunft: der eine will die alte feudal-monarchisch¬
militaristische Staatsordnung im ganzen erhalten in der Überzeugung, daß die
Rolle dieser Elemente noch nicht ausgespielt ist. Der andre sieht das Erbe
Preußens vor allem in den Idealen der protestantischen Geistesfreiheit, Toleranz
und Humanität, wie sie ihm der Philosoph von Sanssouci zu verkörpern schien.
So standen hier wie vor alters die beiden Gegensätze einander gegenüber, in
deren Wechselwirkung und Ausgleichung nun einmal der Inhalt der preußischen
Geschichte beschlossen erscheint.
!le preußische Ansiedlungskommission hat einen neuen Präsidenten
erhalten. Wie üblich bei solchen Anlässen hat die Presse die
Gelegenheit benutzt, die bisherige Tätigkeit der Ansiedlungs¬
kommission einer scharfen Kritik zu unterziehen und neue Wünsche
an den neuen Mann zu richten. Leider hat diesmal die Kritik
eine Form angenommen, wie sie der Sache nicht nur nicht förderlich sondern
schädlich ist. Ein heute vorliegender Artikel des DsisimiK?02man8ki (Ur. 148),
der auch durch das Krakauer Stantschikenblatt (ZüÄS (Ur. 152) übernommen
wurde, bedankt sich förmlich bei den Blättern für die Offenheit, mit der sie
angebliche Intrigen innerhalb der verantwortlichen und interessierten Kreise
enthüllen. Die öffentliche Meinung beschäftigt sich somit wieder eingehender
mit der Polenfrage. Auch der „Fall" Bernhard hat die Gemüter wieder
lebhafter auf das Ostmarkenpwblem gelenkt, und die Kölnische Volkszeitung
jubelt über den vermeintlichen Zusammenbruch des Hakatismus. Unter solchen
Verhältnissen ist es vielleicht an der Zeit, Eindrücke ans der Provinz Posen
wiederzugeben, die ich in der allerjüngsten Zeit nach einem längern Aufent¬
halt in Rußland gewonnen habe. Es sind Eindrücke eines Laien, dem ein
günstiges Geschick gestattet hat, die Provinz Posen unter Führung von An-
siedlungsspezialisten zu bereisen. Daneben war es mir vergönnt, mit einer
großen Anzahl von leitenden Personen in der Provinz zwanglos zu ver¬
kehren und im Gespräch verschiedne Ansichten über die preußische Ansiedlungs-
politik zu hören. Da es Männer aus allen politischen Lagern sowie aus
verschiednen sozialen Schichten waren, Beamte, Parlamentarier, Konservative
und Freisinnige, mit denen ich zu sprechen Gelegenheit hatte, habe ich in den
Vierzehn Tagen meines Aufenthalts in der Provinz vieles erfragt und er¬
lauscht, was man sonst nicht hört. Meine Ausbeute erscheint mir um so reicher,
als Posen mir eine zweite Heimat ist, die ich vor etwa zwölf Jahren ver¬
lassen hatte. Dadurch sind mir viele Vergleichspunkte geläufig zwischen
dem, was war, und dem, was ist. Im Hinblick auf das Gesagte bitte ich
meine Leser, die nachfolgenden Ausführungen nicht als feststehende und ab¬
geschlossene Ansichten über die vielen gestreiften Fragen aufzunehmen, sondern
mehr als die Wiedergabe dessen, was ich gehört habe, und was mir beim
Hören durch den Kopf ging.
Das Hauptquartier aller sich in der Ostmark befehdenden Richtungen und
Prinzipien ist die Stadt Posen. Dicht am Bahnhof füllt dem Ankömmling
der Riesenbau des neuen Schlosses auf. Beim Anblick dieses gewaltigen
Steinhaufens mit den kleinen Fenstern und dem dicken, kurzen Turm kann
man sich eines gewissen Druckgefühls nicht erwehren. Der Bau lastet förmlich
auf seiner Umgebung — auf den Menschen ebenso wie auf der Stadt. Er
wirkt wie ein Symbol der Macht, die sich bewußt ist, daß die ihr übertragne
Arbeit hart an die Grenzen ihres Könnens führt. Deshalb das Finstere,
Unbeugsame, Entschlossene und Starre. Das Posener Kaiserschloß könnte
sonnt das Symbol der Arbeit sein, die gegenwärtig geleistet wird, aber nicht
des Ziels, das erreicht werden soll. Denn das Ziel unsrer Ostmarkeu-
politik ist Kultur, also Befreiung. Am Fuße der Burg wird fast aus¬
schließlich polnisch gesprochen, und nicht tausend Schritt entfernt flattert auf
dem schlanken Turm des Rathauses der polnische Adler. Im übrigen bietet
Posen nichts Auffälliges, wenn wir nicht gerade die besonders große Zahl der
Baugerüste für deutsche und polnische öffentliche Bauten zum Auffälligen
rechnen wollen. Posen ist eine zur Großstadt aufstrebende Provinzstadt mit
einigen historischen Gebäuden und Winkeln, einer behaglichen Ungarweinstube,
mehreren polnischen Kaffeehäusern und modernen Anlagen. Alles wird sorg¬
fältig gepflegt, und man kann darum Posen eine leidlich schöne Stadt
nennen. Wäre nicht die riesige Garnison, gäbe es nicht so unendlich viele
Behörden und den politischen Streit, so könnte Posen sogar gemütlich sein.
Dann aber wäre es ein andres Posen; denn nur durch die Behörden, die
Garnison und die Politik ist Posen die interessante Stadt. Der Handel
nimmt hierneben eine untergeordnete Stelle ein — es sei denn, daß er genossen¬
schaftlich organisiert sei.
Doch wir verlassen die Stadt, um möglichst viel von dem zu sehen, was
die Ansiedlungskommission in den letzten zwölf Jahren geschaffen hat. Wir
durcheilen die Kreise Gnesen, Wittowo, Mogilno, Wreschen und Koschmin mit
der Eisenbahn, in der Kleinbahn, im bequemen Landauer der Ansiedlungs¬
kommission und zu Pferde, geführt von Herren der Ansiedlungskommission und
der Genossenschaftsverbünde, aber auch von andern. Es ist in der Tat
gewaltige Arbeit geleistet worden. Das lehrt uus die flüchtige Umschau
aus dem Fenster des Schnellzugs, davon überzeugen wir uns auf dem ge¬
mächlichen Ritt durch Siedlungen und Felder.
An einem Tage fuhren wir mehr als zehn Stunden durchs Land und
durchmaßen eine Strecke von fast sechzig Kilometern, die ausschließlich durch
neue deutsche Siedlungen führte. Überall deutscher für Jahrhunderte gesicherter
Boden. Solches Bewußtsein gibt Berechtigung zu Stolz, aber es verleitet auch
zu Überhebung und Selbstgefälligkeit. In diesem Zusammenhange mußte ich
spät am Abend jenes Tages, als ich mein Tagebuch ergänzte, an Bernhard
und sein Werk über „Das polnische Gemeinwesen im Preußischen Staat"
denken. Wenn man so tagelang durch die Dörfer der Ansiedlungskommission
fährt, vergißt man ganz, daß diese Dörfer nur eiuen kleinen Teil dessen
ausmachen, was noch zu leisten ist, und daß wir erst am Anfange des Weges
stehn, den der preußische Staat beschriften hat. Darum war Bernhards
Arbeit auch so außerordentlich zeitgemäß und wertvoll, wenn sie auch im
Auslande, besonders in Rußland, den Polen neue Sympathie» erworben hat,
die die Lösung des polnischen Problems in Preußen erschweren. Es war
die allerhöchste Zeit, daß den deutschen Parteien endlich einmal gezeigt wurde,
was und wieviel auf dem Spiele stand, und wieviel noch geleistet werden
muß — auf wirtschaftlichem Gebiet, um die Wirkungen der Konjunkturen in
den siebziger und achtziger Jahren wieder auszugleichen. Während meiner Fahrt
durch die genannten Kreise und auch heute noch erscheint mir die Grundlage des
Ostmarkenproblems in zwei Worten ausgedrückt wie folgt: In Ostelbien hat
sich ein Wirtschaftstypus, der landwirtschaftliche Großbetrieb, nicht befähigt
erwiesen, den gewaltigen durch unsre industrielle Entwicklung hervorgerufnen
Fortschritten zu folgen. Diese Tatsache fand ihren Ausdruck in einem starken
Abstrom von geistigen und körperlichen Arbeitskräften aus allen sozialen
Schichten der Ostmark sowie von Geldmitteln, was wieder eine allmähliche
Verkümmerung aller Teile der ostelbischen Wirtschaft zu Folge hatte.
Die preußische Staatsregierung suchte nun dem vorhandnen, kräftigern
Wirtschaftstypus, dem bäuerlichen Kleinbetriebe, die Stellung zu verschaffen,
die ihm wegen der einmal vorhandnen Lage gebührte, die einzunehmen ihn
aber politische und soziale Vorurteile hinderten. Das konnte nur geschehn durch
Aufteilung einer ganzen Zahl von großen Gütern, besonders der sich im Nieder¬
gang befindenden, und durch Ansehung von Bauern aus andern, kultivierten
Gegenden. Daß bei diesen die wirtschaftstechnisch hochstehenden deutschen Bauern,
die zur Auswcmdrung nach Amerika neigten, in Frage kommen und nicht die
weiter zurückstehender polnischen, erscheint so selbstverständlich, daß es einer
Erläuterung hierzu nicht bedarf. In Posen und Westpreußen hat die An¬
siedlungskommission, in Pommern haben private Parzellationsgesellschaften und
in Ostpreußen die Generalkommission wie auch neuerdings die Landschaft die
gedachte Aufgabe zur Durchführung übernommen. Ebenso wie die Deutschen
haben auch die Polen mit der Parzellierung begonnen, aber von vornherein
größere Ergebnisse erreicht als jene. Die Polen sind zur Besiedlung unsers
Ostens, rein vom Staudpunkte der Bevölkerungszunahme aus betrachtet, ge¬
eigneter als die Deutschen. Sie stehn mit ihren Ansprüchen wenig höher als das
Niveau, auf dem sich die Ostmark vor zwanzig Jahren befand. Das Ziel ihres
Strebens in wirtschaftlicher Beziehung liegt näher an dem, was heute schon vor¬
handen ist, als das, das die Deutschen erreichen wollen und müssen. Sie brauchen
infolgedessen weniger Mittel, geistige, körperliche, materielle anzuwenden, um das
Land auf ihr Kulturniveau zu heben, als ihrer der deutsche Bauer oder der Staat
bedarf, um das Land auf die Höhe der mitteldeutschen Provinzen zu bringen.
Dieser Unterschied zwischen den Ansprüchen ist es vor allen Dingen, was den
Polen den Kampf um den Boden erleichtert, was ihnen auch gestattet, ihre
Kapitalien rationeller zu verwerten, als es die Ansiedlungskommission, eben
weil sie von vornherein auf eine höhere Stufe hinzustreben hat, tun kann. Den
Polen ist nun dieser sehr bald bemerkte Vorsprung in den Kopf gestiegen, und
in einer ihre geheimsten Absichten offenbarenden Siegesgewißheit suchten sie
schon die erste» unbedeutenden Erfolge im wirtschaftlichen Wettlauf politisch zu
verwerten. Sie suchten sich politisch entsprechend der Neuordnung der Dinge
zu organisieren und entsprechende politische Forderungen aller Art zu stellen.
Das geschah zu einer Zeit, als im Zartum die liZg, oaroäovsg, entstand, als
in Galizien die freie „polnische Wirtschaft" die bedenklichsten Krisen im Lande
heraufbeschwor, deren Folgen gerade eben in der scheußlichen Ermordung des
Statthalters von Galizien, Andreas Potocki, erschütternden Ausdruck fanden.
Das Verhalten der Polen selbst, ihre schon im Jahre 1882 zum Angriff
neigende Stimmung waren es, die die Regierung darauf aufmerksam machten,
wie hinter der wirtschaftlichen Gefahr die nationale Gefahr lauerte, und sie
war einsichtig genug, das neue ihr von den Polen herangeschaffte Argument
zur politischen Durchführung ihrer wirtschaftlichen Reformabsichten zu verwenden.
Freilich, das muß zugegeben werden, geschickt ist die Negierung in dieser Frage
nicht vorgegangen. Die Polen haben nun keine Mühe und keine Lüge gescheut,
die Fiktion zu schaffen und zu erhalten, als sei die deutsche Ostmarkenpolitik
ausschließlich und in allererster Linie inauguriert worden, um die „loyale"
polnische Bevölkerung von ihrer Scholle zu treiben — als seien die Polen die
Angegriffnen.
Wie sich die einzelnen wirtschaftlichen Momente in der Ostmark entwickelten,
habe ich kürzlich in der Leipziger Illustrierten Zeitung**) eingehend dargestellt.
Hier möchte ich nur auf einige der auffallendsten Friktionen hinweisen, die sich
aus der Ansiedlungspolitik ganz natürlicherweise ergeben haben, und die unter
dem Übersehn der Tatsache, daß sich die Ostmark in einem Übergangsstadium
befindet, zumeist zum Ausgangspunkt von Angriffen gegen die Ansiedlungs¬
kommission und gegen unsre Ostmarkenpolitik gemacht werden.
Aus der Verquickung nationaler und wirtschaftlicher Fragen hat sich er¬
geben, daß sich die Ansiedlungskommission auch gegenwärtig nach Schaffung
des Enteignungsgesetzcs den Polen gegenüber im Nachteil befindet. Verschiedne
Gründe, die auf dem Gebiete der Gesetzgebung und der Organisation liegen,
lassen sich jedoch weit leichter beseitigen, als meist geglaubt wird. Anders steht
es mit den innern Gründen, die aus der Psyche der Ostmarkenverhältnisse
hervorgehn. Sie können nur durch stetige, unverdrossene und konsequente, ja
rücksichtslose Arbeit im Laufe vieler Jahre gehoben werden, aber sie lassen sich
beseitigen. Diese innern Gründe sind folgende: Die Ansiedlungskommission hat
als Werkzeug einer weitgehenden Wirtschaftsreform alle Deutschen der Ostmark
mit wenig Ausnahmen gegen sich, die sich durch die Tätigkeit der genannten
Behörde in ihrer wirtschaftlichen Weiterentwicklung momentan bedroht fühlen.
Zu diesen Deutschen gehört der gesamte Handels- und Handwerkerstand in den
Städten, deren bisherige Verbindungen mit dem platten Lande nach Auflösung
der Großbetriebe notwendigerweise aufgelöst werden müssen. Weiter sind Gegner
des rationellen Ansiedlungswerkes ein großer Teil der wohlhabenden deutschen
Gutsbesitzer und schließlich die politische Verwaltungsorganisation der Ostmark.
Alle diese direkten und indirekten, bewußten und unbewußten Widerstände
werden nun nicht paralysiert durch ein genugsam geschultes soziales Empfinden,
das das Deutschtum anleiten würde, sich der Notwendigkeit zu fügen, das es
zwingen würde, sich den neuen Forderungen mit seinen wirtschaftlichen Absichten
und Plänen anzupassen. Außerdem fehlt es der Ansiedlungskommission an einem
sorgfältig durchgebildeten Nachrichten- und Propagandaapparat, über den jede
modern organisierte Privatfirma verfügt. Alles das aber steht den Polen zur
Verfügung, dazu kommt die Hilfe durch die heimliche und offne Opposition
der Deutschen. Die polnische Gesellschaft, die nur das Ziel kennt, sich für
immer in der Ostmark festzusetzen, ist in ihrem wirtschaftlichen und politischen
Kampf weit leichter beweglich als die Ansiedlungskommission, weil jene von
keiner staatlichen Organisation beschwert wird wie die Ansiedlungsbehörde.
Ferner bilden die Polen eine festgefügte Phalanx, während der Ansiedlungs¬
behörde tausend Vorurteile und Befürchtungen aus der deutschen Gesellschaft
gegenüberstehn, wo doch ihr Werk nur dann durchführbar ist, wenn sie es, ge¬
tragen durch das Wollen eines geeinten Volkes, in Angriff nimmt!
VN diesem bei E. S. Mittler und Sohn in Berlin erschienenen,
großartig angelegten Werke liegen uns drei neue Bände vor. Der
erste darstellende Band (Zweiter Band: Guelfen und Ghibellinen.
Erster Teil: staufische Kämpfe. 621 Seiten, 13 Mary um¬
faßt die Zeit von Ottos des Vierten Kaiserkrönung 1209 bis
auf das Jahr nach Manfreds Fall in der Schlacht bei Benevent 1267; der
zweite (Zweiter Band: Guelfen und Ghibellinen. Zweiter Teil: Die Guelfen-
herrschaft und der Sieg des Volkes. 634 Seiten, 13 Mark) geht von 1267
bis 1297. Der Urkuudenbcmd (Forschungen zur Geschichte von Florenz. Vierter
Teil: Dreizehntes und vierzehntes Jahrhundert. 616 Seiten, 15 Mark) reicht
etwa bis 1330.
Um von dem in diesem Urkundenbande aus Staats- und Kirchenarchiven
und aus nur an Ort und Stelle erreichbaren seltnen Druckwerken zusammen¬
gebrachten Reichtum eine äußerliche Vorstellung zu geben, müßte man schon
die Titel der mehr als fünfzig Abschnitte ausschreiben, nach denen der Stoff ge¬
ordnet ist: Ereignisse der politischen Geschichte, Listen von Beamten, Baugeschichte
der Kirchen, Klöster, Staatsgebäude, Mauern, Brücken usw. Gleich bewunderns-
wert ist die streng exakte und zugleich für den Leser bequeme Redaktion.
Knappe, möglichst wörtliche Urkundenauszüge, von lichtvollen Erläuterungen
durchzogen, ermöglichen uns in ihrer streng chronologischen Anordnung jedesmal
einen schnellen Überblick und ein selbständiges Urteil über die tatsächlichen
Grundlagen, auf denen der historische Aufbau des darstellenden Bandes ruht.
Für einen Leser von historischem Sinn kann es kaum einen gewähltem
Genuß geben, als wenn er diese unmittelbare Frische der hundert und aber
hundert Äußerungen aus Urkundenmund auf sich wirken läßt, er fühlt etwas
vom Pulsschlag der Zeit und verkehrt in Gedanken mit ihren Menschen, als
wären es seine Bekannten. Der wissenschaftliche Leser wird diese Art, den
Stoff sprechen zu lassen, einer kunstvollen modernen Schilderung vorziehen, und
bei besonders interessanten Kapiteln wird der Wert dieser Methode jedem
ohne weiters einleuchten. So bei der Baugeschichte der beiden Mönchskirchen
Santa Maria Novella und Santa Croce. Oder bei der Geschichte des
Palazzo Vecchio, wo der Verfasser zum erstenmal eine Erklärung dafür
bringt, warum dieses Staatsgebäude diesen Namen bekommen hat, da doch
der Palazzo del Podestä der ältere war. Oder in dem Abschnitt über die
Entstehung der Guelfen- und der Ghibellinenpartei in Florenz Ostern 1216, wo
er den Beweis bringt, daß wirkliche Geschichte ist, was bisher meist als eine
novellistisch ausgeschmückte Episode von rein lokaler Bedeutung angesehen
wurde. Hierbei wird auch der ausführliche Nachweis allgemein interessieren,
daß die beiden Parteien erst allmählich zu ihrer aus der Geschichte bekannten
politischen Stellung gekommen sind. Ursprünglich standen die Guelfen auf
der Seite Ottos des Vierten, waren also kaiserlich und gegen die Kirche,
wogegen der Papst den Ghibellinen Friedrich den Zweiten beschützte. Erst
während der Negierung Friedrichs zogen die mit diesem entzweiten Päpste
die Guelfen zu sich herüber, und nun stand die Ghibellinenpartei gegen die
Kirche. Und daß sich dies alles in Toskana abspielte, und nicht etwa in
der Lombardei, die doch auch Reichsland war, oder in Unteritalien, das
Friedrich als Erbland gehörte, macht es verständlich, daß die beiden Parteien
nur in Florenz ihren Ursprung haben konnten. Unzählige kleine, für die
Italiener unendlich charakteristische Züge kann man beim bloßen Blättern in
diesem Urkundenband auflesen. So wenn die Frau eines Anstifters zur Blut¬
rache zehn Jahre später in einer Privaturkunde mit dem Vornamen „Laß mich
nicht dran denken" ^omnevkreeorcig.) erscheint. Oder wenn die Florentiner
eine Promenade vor der Stadt anlegen und von deren Benutzung allerlei
widerwärtig anzusehendes Volk ausschließen, auch die Blinden, bis auf solche,
„denen die Ghibellinen die Augen ausgestochen haben", die dürfen umher¬
geführt werden.
Der erste darstellende Band umfaßt mit seinen über 600 Seiten kaum sechzig
Jahre. Die Darstellung ist also sehr ausführlich. Sie führt oft in kürzern
und längern Abschnitten in die Geschichte der andern italienischen Städte
hinüber, sie bringt zu jeder Persönlichkeit da. wo diese zuerst auftritt, die mit
Sorgfalt gesammelten biographischen Antezedenzien, sie gibt, streng synchro¬
nistisch oder annalistisch, Großes und Kleines nebeneinander, unterbricht die
einzelnen Abschnitte oder Etappen der politischen Hauptereignisse durch lokale
Episoden, baugeschichtliche Daten, kulturgeschichtliche Einzelheiten usw., deren
Notwendigkeit an der betreffenden Stelle oder deren Bedeutung für das
Ganze nicht immer einleuchten will. Diese von dem Verfasser gewollte
Gruppierung fordert höchst aufmerksame Leser, häufiges Zurückschlagen, auch
wohl vorläufiges Überschlagen und späteres Nachholen einzelner Stücke, was
sich namentlich bei den detailreichen Verwicklungen der Verfassungsgeschichte
bemerklich macht; kein zweites Staatswesen hat Wohl eine so komplizierte und
zugleich wandelbare Verfassung gehabt wie die Republik am Arno. Zur An¬
deutung des Inhalts mögen die Überschriften der sieben Kapitel hierher ge¬
setzt werden: Die Spaltung der Bürgerschaft. Der Kampf um die Vor¬
herrschaft in Toskana. Franziskaner und Dominikaner. Äußere Erfolge und
beginnender Bürgerkrieg. Pcmdulf von Fasanella, König Enzio und Friedrich
von Antiochien. Das siegreiche Volk. Das ghibellinische Florenz.
Zwei große Gruppen von Ideen und Ereignissen werden den weitern
Leserkreis mächtig anziehen. Die eine hat ihren Mittelpunkt in dem Kampf
der Stände. Die zwei Adelsparteien bekriegen sich so lange, bis die eine am
Boden liegt, und die andre auch nicht mehr kräftig genug ist, um den An¬
sturm des nachdrängenden Bürgertums aufzuhalten. Sie hassen sich so grimmig,
daß sie sich lieber einem fremden Herrn unterwerfen und mit dessen Hilfe ihr
Werk des Hasses und der Rache fortsetzen bis zur eignen Erschöpfung, als
daß sie sich mit ihren Stadtgenossen in gegenseitigem Nachgeben vereinigten,
um nach außen hin selbständig zu bleiben. Denn das ist immer die sichere
Folge des Parteikampfes, die sie so und so oft an sich und an andern
Städten erlebt haben: ein Stärkerer kommt und frißt sie beide. Der Stärkere
ist in diesem zweiten Bande Karl von Anjou. Später wird es die eigne
Bürgerschaft sein und das niedre Volk, das aber dann dieses Kriegespielen
mit auswärtigen Machthabern so lange fortsetzt, bis sich die Republik all¬
mählich beinahe in ein Fürstentum umgewandelt hat. Und dabei führen die
Menschen und die Parteien beständig die Freiheit im Munde, und sie glauben
auch daran und meinen, für sie zu kämpfen. In Wirklichkeit gesehen aber
und ohne Selbsttäuschung geht der Kampf um die Macht, den Einfluß in der
Stadt. Und die so handeln, sind sehr kluge Menschen, wohl die geistig fort¬
geschrittensten im ganzen damaligen Europa. Weil man das ununterbrochne
Dreinschlagen mit den Waffen nicht aushalten würde, braucht man theoretische
Zwischenspiele, worin man sich feierlich und stilvoll darüber verständigt, an
welchen Punkten der Streit hält, bis es wieder losgehn kann: das sind die
Verfassungsüuderungen, durch die von Zeit zu Zeit die Machtanteile neu ge¬
regelt, die politischen Rechte anders verteilt werden. Mit ängstlicher, mi߬
trauischer Sorgfalt wird von der überlegnen Partei alles so zugeschnitten, daß
der andre Teil nur ja nicht zu viel bekommt, und zwar sind es immer nur
die politischen Machtmittel, um die man streitet; das Wirtschaftliche spielt eine
viel geringere Rolle als in unsern Zeiten. Die Gegner schädigen zwar
einander auch materiell, vernichten gegenseitig Haus und Habe, aber das ist
das Zerstörungswerk der Nachsucht und der brutalen Kriegführung, nicht die
systematische Regulierung der wirtschaftlichen Kräfte als Grundlagen der Macht.
Zu solchen langsam wirkenden Maßnahmen läßt man sich nicht die Zeit; der
einseitig politisch gerichtete Instinkt verlangt handgreifliche Erfolge. An diesem
kurzsichtigen Übereifer des Parteikrieges hat sich Florenz schließlich verblutet.
Der Verfasser wird nicht ganz dieser Meinung sein, aber es scheint, daß die
neuere Forschung in der Anspannung der wirtschaftlichen Triebfedern der
Politischen Geschichte doch des Guten ein wenig zuviel tut.
Noch mehr werden sich unsre Leser von den Abschnitten des Buches an¬
gezogen und geradezu ergriffen fühlen, in denen der Verfasser den Kampf
zwischen Kaisertum und Papsttum während der Regierungszeit Friedrichs des
Zweiten mit der ganzen Kunst seiner Detailmalerei lebensvoll an uns vorüber-
ziehen läßt. Es ist das alte und immer wieder gesungne Lied, das Haupt¬
thema unsrer mittelalterlichen Kaisergeschichte traurigen Andenkens, dessen
Grundzüge wir aus dem Unterricht und aus Büchern kennen und nicht ver¬
gessen werden. Aber hier kommt uns alles wieder neu und frisch vor, wie
von gestern, so nahe werden wir an den Schauplatz der Dinge hinangebracht.
Wir sehen einen hochbegabten Kaiser, der zugleich tatkräftig und beweglich ist,
und der vor seinen Vorgängern auch das noch voraus hat, daß er die Italiener
und das Papsttum gründlich kennt, weil er selbst ein halber Italiener ist. Er
hat auch kluge Berater, und andrerseits sind es nicht gerade hervorragend kluge
Männer, die während seiner Regierungszeit die Tiara tragen. Aber sie haben eine
fest vorgezeichnete Marschroute, an der die Persönlichkeit des einzelnen Papstes
gar nichts ändert. Der Papst kann äußerlich alles verlieren, aus Rom Ver¬
trieben werden, in der kleinsten Provinzstadt sitzen: er wird alles wieder¬
bekommen, wenn er nur abwartet und nicht nachgibt, und was er nicht mehr
erlebt, das erlebt einer seiner Nachfolger. Das war schon damals so wie
jetzt; ich erinnere mich, welchen Eindruck 1871 ein Wort von Pius dem
Neunten auf die Menschen machte: Avr xossuiuuZ. Auf solche Probe
könnte es doch die weltliche Macht niemals ankommen lassen, und hierin
lag die Schwäche des Kaisers. Jnnozenz der Dritte hatte Friedrich beschützt,
solange dieser nach des Papstes Willen tat. Gregor der Neunte zog zuerst
die florentinischen Guelfen auf die Seite der Kirche, das war ein namhafter
Erfolg, aber er würde nicht ausgereicht haben, um des Kaisers Macht zu
brechen. Jnnozenz der Vierte, der als Kardinal mit Friedrich befreundet ge¬
wesen war, tat einen noch wichtiger,: Zug: er ließ zu Hause alles im Stich,
floh nach Frankreich und operierte von dort aus weiter. Er überlebte
Friedrich noch um vier Jahre, aber das Aufgehen seiner Saat, die Ver¬
bindung Frankreichs mit dem Papsttum, erlebte er nicht mehr. Danach
kommen zwei Franzosen nacheinander auf dem Thron Petri, des Königs
von Frankreich Bruder Karl von Anjou wird Inhaber der weltlichen Macht
in Neapel und Toskana, und alle Guelfen in den Städten, namentlich
in Florenz, laufen ihm zu; das genügt, um sämtlichen Staufern den Hals zu
brechen.
Seit der Zeit hat die den Italienern im Blute liegende Franzosen¬
freundschaft immer wieder ihre Wirkungen geäußert, und andrerseits mögen
wir Deutschen es anstellen, wie wir wollen: wir find und bleiben ihnen von
Herzen widerwärtig. Diesen letzten Zug kann man in ihrer Literatur bis
hoch hinauf verfolgen. Das seltne und karge Lob auf einen Deutschen klingt
immer wie aus abwägenden Kaufmannsmunde: So und soviel ist mir der
Mann wert — während das französische Wesen in allen Tonarten besungen
wird. Und das bleibt bei aller Mißhandlung von französischer Seite, von
den Tagen der sizilischen Vesper an bis auf die Zeit des ersten Napoleon,
immer dasselbe. Ebenso ist und bleibt das Papsttum immer zunächst eine
romanische Potenz (wie Ranke sagen würde), und jeder Papst, er mag heißen,
wie er will, wird immer zu allererst ein Gegner des deutschen Wesens
sein. Man kommt sich trivial vor, das noch mit Betonung auszusprechen, so
selbstverständlich ist es, aber unser freisinniger Protestantismus hält sich ja
davor die Augen zu. Einer glaubt mit seiner überlegnen Bibelkritik die
katholische Kirche schon beinahe überwunden zu haben, ein andrer spinnt seine
Hoffnungen noch weiter aus den Sommerfäden einer dürftigen Los von Rom-
Bewegung; der dritte hat eine Ferienreise nach Rom gemacht und meint nun
die Kurie bis auf den Grund zu durchschauen; der vierte hat vielleicht eine
Tante in Venedig, und die hat ihm haarklein anvertraut, wie Pius der
Zehnte, der ehemalige Patriarch, denkt und was von ihm zu erwarten sei,
und so gehn die Torheiten fröhlich weiter. Angesichts dessen darf man
wirklich sagen, das Buch von Davidsohn hat in den Abschnitten, die über die
neun Päpste von 1193 bis 1276 handeln (also vom Beginn des welfisch-
staufischen Konflikts bis auf Rudolf vou Habsburg), eine geradezu aktuelle
Bedeutung. Es bewährt sich darin der uralte Satz, daß die Geschichtschreibung
die Lehrmeisterin für die Zukunft sein soll. Möchten sich nur auch recht viele
zur Belehrung einfinden!
Der zweite darstellende Band beschäftigt sich mit den innern Parteikämpfen,
die auf Konradins Enthauptung, während der Reichsverweserschaft Karls
von Anjou, folgten, aus denen eine neue Verfassung der Stadt hervorging.
Diese trat 1282 in Kraft und legte den Grund zu der Herrschaft des in Zünften
organisierten Volkes, die nach dein Aufstande des Gianv della Bella 1292 weiter
ausgestaltet wurde. Die Darstellung kann nicht so spannend sein wie in dem
frühern Bande, weil die großen dramatischen Momente fehlen, dafür erhalten
wir ein bis in die kleinsten Züge durchgeführtes Bild der florentinischen Ver¬
fassungsgeschichte, das früheste Beispiel seit der Zeit des Altertums in der
europäischen Staatenwelt, wie sich eine Stadtrepublik aus der Adelsoligarchie
zur Demokratie weiterentwickelt. Sorgfältige Register über beide Bände stellen
dem Leser das Material für jede einzelne Frage zu bequemer Verfügung.
Von der Kunst, die Florenz vorzugsweise berühmt gemacht hat, wird in
diesen Bänden noch nicht viel gehandelt, wir befinden uns ja noch in der
Zeit vor Giotto und Dante; immerhin erhalten wir, außer den schon er¬
wähnten baugeschichtlicher Regesten, interessante und wichtige Mitteilungen
über die Mosaiken im Baptisterium, über die unteritalische Herkunft des
Niccolo Pisano, über ein Lilienwappen vou der Hand des Giovanni Pisano
in einem Stadttor, über die von kirchlichen Gesangvereinen (Laudesi) gestifteten
Bilder der von musizierenden Engeln umgebnen Madonna. Dazu kommen zahl¬
reiche kleinere Winke und freundliche Beihilfen für die Kunsthistorie, „die ja
allerdings eine liebenswürdige Mittelstellung zwischen der Phantasiewelt und
der ernsten Wissenschaft einnimmt" (Urkundenband 472). Das ist jedenfalls
sehr rücksichtsvoll und schonend ausgedrückt, denn leider darf man ohne Über-
treibung sagen, daß/bei aller an sich gewiß erfreulichen Zunahme des Kunst¬
interesses im großen Publikum, die Beschäftigung mit der Kunst, weil sie sich
vortrefflich mit der Halbbildung zu vertragen scheint, immer mehr unter die
Analphabeten gerät. Wo sie ja auch hergekommen ist, wird mancher denken,
denn von Haus aus war ja die alte Kirchenmalerei in der Tat für Leute
bestimmt, die nicht lesen konnten oder mochten, sodciß wir nichts dagegen ein¬
zuwenden wüßten, wenn sich auch die heutigen Interessenten mit dieser be¬
scheidnen Position zufriedengeben möchten. Es gibt aber auch weniger an¬
spruchslose Menschen, und für die wird es eine Genugtuung sein, wieder
einmal ein Buch von streng wissenschaftlichem Charakter, worin von Gegen¬
ständen der Kunst die Rede ist, in Händen zu haben. Bei dieser Gelegenheit
möge hier am Schluß ein glücklich geprägtes Wort stehn, womit kürzlich im
sächsischen Landtage der Finanzminister, dem zugleich die Kunstsammlungen
unterstehn, auf allerlei Anremplungen antwortete: „Auf keinem andern Felde
kann eben der Mangel an Wissen so leicht verborgen werden wie in Angelegen¬
heiten der Kunst." Treffend und wahr und um seiner dogmatischen Klarheit
willen wert, behalten zu werden!
el einer Umfrage darüber, ob in der Pflanzen- oder in der
Tierwelt die größte Farbenpracht herrsche, würden unstreitig die
meisten Antworten zugunsten der Pflanzenwelt ausfallen. Solche
Urteile können jedoch nur bei oberflächlicher Beobachtung zu¬
stande kommen; wer aber überall in der Tierwelt genaue Um¬
schau hält, gelangt zu einem gegenteiligen Ergebnis. Freilich ist eine über¬
große Zahl von Tieren unscheinbar gefärbt. Welcher blendenden Farbenpracht
begegnen wir dafür bei unendlich vielen andern Tieren! Es sei nur an das
metallisch glänzende Gefieder der Kolibris, der Papageien, der Fasanen und
andrer buntfarbiger Vögel erinnert, ferner an die schillernden Farben der
Schlangen und vor allem der Insekten, dann an den ungemein großen Farben¬
reichtum, der unter den Tieren des Meeres herrscht, und endlich an die
Buntscheckigkeit und grelle Färbung unsrer einheimischen und der tropischen
Säugetiere.
Daß diese vielgestaltigen Farben in der Tierwelt ebensowohl ihren be¬
sondern Zweck haben, wie dies in der Pflanzenwelt der Fall ist, und nicht
etwas Zufälliges sind, dürfte wohl einleuchtend sein. Während aber das in
der Pflanzenwelt am meisten verbreitete Grün einen rein physiologischen Zweck,
nämlich Herstellung organischer oder der zum Leben der Pflanzen notwendigen
Nährstoffe aus unorganischen Stoffen hat und die lebhaftem Farben der
Pflanzen durchweg im Dienste der Arterhaltung stehn, haben die Farben der
Tiere ganz andre Bedeutung. Sie hängen nämlich aufs innigste mit der
Selbsterhaltung (Sicherung) der Tiere und in gewissen Fällen auch mit der
Arterhaltung zusammen und gehören somit zu den Lebensbedingungen in der
Tierwelt.
Die große Mannigfaltigkeit in der Färbung weist darauf hin, daß der
Nutzen, den ein Tier von seiner Farbe hat, verschieden sein muß. So kann
sie beispielsweise dem Warmebedürfnis dienen. Bekanntlich nehmen dunkle
Gegenstände bedeutend mehr Wärmestrahlen auf als helle. Darum werden
Tiere mit düsterer Färbung von den Sonnenstrahlen schneller und leichter er¬
wärmt als solche von lichter Färbung. Es ist somit erklärlich, daß wärme¬
bedürftige Tiere auf kalten Bergeshöhen dunkler gefärbt sind als in der Ebene,
was man an verschiednen Säugetieren, Vögeln, Eidechsen und Schmetterlingen
beobachten kann. Aus demselben Grunde kleiden sich viele Tiere der höhern
Breiten in düstere Farben, während die Tiere der Tropengebiete ein buntes
und leuchtendes Kleid tragen. Wo Ausnahmen vorkommen, wird die Färbung
durch ein andres Bedürfnis bestimmt. Nehmen dunkle Gegenstände mehr
Wärmestrahlen als helle aus, so strahlen diese umgekehrt weniger Wärme als
jene aus. Darum sind viele warmblütige Tiere der Polargebiete und der
Hochgebirge meist hell oder völlig weiß gefärbt, eine Färbung, die freilich auch
in andrer Weise für die Tiere von Bedeutung sein kann. Mit dem Wärme¬
schutz hängt vielfach auch der Farbenwechsel mancher Tiere zusammen, die, wie
Wiesel, Wolfe, Füchse, Eichhörnchen und andre mehr, während der kalten Jahres¬
zeit Heller als im Sommer gefärbt sind.
In gewissen Fällen dienen die Farben der Tiere den Artgenossen als Er¬
kennungszeichen, als Signale. Solche findet man besonders bei Tieren der
höhern Klassen, die in Herden, Rudeln oder Scharen gesellig zusammenleben,
wie man dies an vielen Säugetieren und Vögeln beobachten kann. Es handelt
sich hier durchweg um schwache oder wenig wehrhafte Tiere, die Genossen¬
schaften bilden, um durch vereinte Kräfte und Beobachtnngsvermögen sich gegen
Überfälle zu sichern. Haben sich vielleicht einige der Mitglieder vom Trupp
entfernt oder verirrt, dann ist es für sie von großer Bedeutung, daß sie aus
größerer Entfernung, zumal in der Dunkelheit, im Walde, im Gebüsch usw.,
an auffallenden, weithin leuchtenden „Vereinszeichen" oder „Signalflaggen"
die Stellung der Artgenossen auffinden können. Besonders zweckdienlich sind
solche Kennzeichen, wenn ein Trupp die Flucht ergreift, weil dann die einzelnen
Mitglieder leichter dem Führer folgen können. Deshalb sind die Signalzeichen
gewöhnlich am Hinterende des Körpers oder so angebracht, daß sie von Hinten¬
her wahrgenommen werden können. Als solche Signalzeichen sind anzusehen
der weiße Schwanz des Hasen, die sogenannte „Blume", und der weiße,
leuchtende „Spiegel" der Rehe. Derlei auffallende Merkzeichen, die als Signale
für versprengte und verirrte Artgenossen gelten, tragen besonders reichhaltig
die in großen Herden lebenden Antilopen und Gazellen Afrikas, und zwar
entweder als weiße Flecken oder gestreifte Zeichnungen am hintern Körperende
oder an den Flanken oder gar am hochgetragnen Kopfe. Auch gesellig lebende
Vögel weisen solche Signalzeichnungen auf, nämlich scharf sich abhebende
Farbenzeichnungen am Grunde der Hand- und Armschwingen und an der
Spitze der Schwungfedern, Signale, die aber besonders sichtbar werden, wenn
die Fittiche sich entfalten, also während des Fluges, das heißt unter den Um¬
ständen, da die Signalfarben für die Artgenossen um wertvollsten sind.
Als Erkennungszeichen kann man auch die vielgestaltigen Schmuck- oder
Putzfarben ansehen, die jedoch nicht der Sicherung dienen, sondern dem ge¬
schlechtlichen Interesse, und die deshalb auch als Geschlechtsfarben zu bezeichnen
sind. Durchweg sind es die Männchen vieler Tiergattungen, die durch pracht¬
volle Zeichnungen, leuchtenden, prunkenden oder schillernden Schmuck sofort
auffallen, während die Weibchen Kleider von dunkeln und unscheinbaren
Farben anlegen. Diese Farbenabweichungen der Geschlechter finden wir be¬
sonders bei den Tagschmetterlingen stark ausgeprägt. Mit ihnen wetteifern
die Vögel. Wir erinnern nur an die Schmuckfarben der männlichen Mit¬
glieder der Hühner, der Enten, der Buchsinken, der Pirole, der Kanarienvögel,
der Kolibris, der Paradiesvögel usw. Auch bei gewissen Fischen (Stichling,
Bitterling, Forelle), Reptilien (verschiednen Eidechsen) und Amphibien (Kamm¬
molch) kommen Geschlechtsfarben vor, dagegen bei den übrigen Tierklassen
weniger oder überhaupt nicht. Es handelt sich also in der Hauptsache um Tiere
mit starker Ortsbewegung. Bei ihnen ist es für die Männchen notwendig, durch
besondern Schmuck oder Putz die Weibchen auf sich aufmerksam zu machen
und deren Zuneigung bei der Werbung zu gewinnen. Der Kampf um das
Weib ist nämlich in den erwähnten Tierklassen groß, weil durchweg die
Männchen zahlreicher sind als die Weibchen. Daß dieses bei den Vögeln
wirklich der Fall ist, wird jeder Vogel- und Geflügelzüchter bestätigen. Bei
Fischen überwiegen die Männchen noch mehr, und bei Tagschmetterlingen
kommen sogar sechzig bis hundert Männchen auf ein Weibchen. Hieraus er¬
gibt sich wohl, daß bei der Werbung um das Weibchen nur das Männchen
den Sieg davonträgt, das durch seinen Schmuck am meisten Eindruck und Er¬
regung hervorruft. Darum ist es auch erklärlich, daß sich viele Männchen
namentlich zur Paarungs- und Brutzeit am schönsten schmücken, ihr sogenanntes
Hochzeitskleid anlegen.
Andre lebhafte Zeichnungen und auffallende Farben sind dagegen Warm-,
Schreck- oder Trutzfarben. So nennt man die weithin leuchtenden und grellen
Farben vieler Tiere, weil deren Träger gewissermaßen den Feinden hierdurch
warnend und trübend zurufen: „Rühret mich nicht an!" Die mit Warnfarben
ausgestatteten Tiere sind nämlich mit gewissen Waffen, wie Stacheln (Bienen,
Wespen) oder Dornen (einige Raupen), ausgerüstet, oder sie sind giftig
(Schlangen, Feuerkröte, Feuersalamander), oder sie sondern einen übelriechenden,
ekelhaften Saft ab (Marienkäferchen, Ölkäfer, verschiedne Schmetterlinge nebst
ihren Raupen, Wegschnecken). Trotzdem daß solche Tiere vielen Räubern als
willkommner Leckerbissen gelten, hüten sich diese doch vor dem Angriff, weil
sie wissen, daß der Genuß Verletzung, Ekel oder gar den Tod zur Folge haben
würde. Sie lassen sich darum durch die auffallende Farbe warnen und ab¬
schrecken.
Eine weit wichtigere Rolle im Kampf ums Dasein spielt die sympathische
Färbung. Hierunter versteht man die genaue Übereinstimmung der Körper¬
farbe mit der Umgebung. Dieses Anpassen eines Tieres an die Färbung
seines Aufenthaltsortes hat den Zweck, sich unlernbar und unbemerkbar zu
machen, und ist einerseits für Beutetiere zum Schutze, andrerseits für Räuber
zum Beschleichen und für den Überfall notwendig. Deshalb unterscheidet man
Schutz- und Deckfarben.
Hiermit hängt die Farbenanpassung der Polartiere an das Weiß der Um¬
gebung zusammen. Die meisten Säugetiere und Vögel der Polargebiete sind
nämlich nahezu oder rein weiß, und zwar sowohl Verfolger als auch die Beute¬
tiere, wie Eisbär, Eisfuchs, Polarhase, Schneehuhn, Schneeeule, Schneeammer.
Auch die Tiere der Wüste sind durchweg sympathisch gefärbt, das heißt sie sind
sandgelb oder gelbbraun oder mit allerlei Mischfarben versehen, die genau mit
der Färbung des Wohngebiets übereinstimmen, und dies ist der Fall sowohl
bei Räubern als auch bei Beutetieren, wie Löwen, Kamelen, Giraffen, Anti¬
lopen, Schlangen, Eidechsen, zahlreichen Vögeln und Insekten. Viele niedere
Tiere im Meere sind farblos und völlig durchsichtig oder haben höchstens einen
Stich ins Bläuliche oder Grünliche, wodurch diese Glas- oder Kristalltiere
geradezu unsichtbar werden, solange sie sich in der kristallartigen Umgebung
befinden. Die bei uns auf dem Felde lebenden Tiere tragen ein erdfarbnes
Kleid, wie Hase, Wiesel, Nebhuhn, Lerche. Die sich in grüner Umgebung auf¬
haltenden Tiere besitzen eine grüne Farbe, so die grüne Eidechse, der grüne
Wasserfrosch, der Laubfrosch, das grüne Heupferd. Die Sumpf- und Röhricht¬
bewohner sind durchweg dunkelbraun oder schmutziggelb gefärbt und tragen
häusig an der Oberseite Längs- und Querbinden von rötlicher oder rostgelber
Farbe, wodurch völlige Übereinstimmung mit der unklaren Färbung der Um¬
gebung erreicht wird. Das ist der Fall bei der Sumpfschnepfe, der Rohr¬
dommel, der Sumpfschildkröte. Die Moor- und Heidebewohner, wie Kreuz¬
ottern, Blindschleichen und Heidelerchen, sind durchweg braun oder grau in
Farbe, während die Waldtiere rotbraunes oder graubraunes Kleid tragen, wie
Eichhörnchen, Reh und Baummarder. Wasserbewohner, die in der Nähe der
Oberfläche leben, sind silberweiß (Hering), die sich am Grunde aufhalten da¬
gegen dunkel (Aal, Scholle). Vielfach sind Tiere, die im Dickicht und in
dichten Waldungen vorkommen, gestreift oder gefleckt, weil durch solche Zeichnung
ihr Körperkleid mit der Färbung der Umgebung geradezu verwächst, wie dies
bei Tigern, Leoparden und Jaguaren der Fall ist.
Am häufigsten kommt die Schutzfärbung in der Insektenwelt vor. So
entdeckt man nicht leicht grüne und gestreifte Raupen auf grünen oder braunen
Blättern, ferner blaue Schmetterlinge auf blauen Blüten, bunte auf bunten
Blüten usw.
Mit dem Schutzbedürfnis hängt es auch zusammen, daß schwache und
wehrlose Tiere die Färbung wehrhafter, giftiger oder ekelerregender Tiere an¬
nehmen, so verschiedne Bockkäfer, Fliegen und Schmetterlinge die Farben der
Bienen und Wespen, die Blindschleiche die Farbe der Kreuzotter usw.
Auf Grund der bisherigen Ausführungen ist es erklärlich, daß viele Tiere
ihre Farbe ändern, wenn sie den Wohnort wechseln und eine andre Farben¬
umgebung erhalten. Dieses beobachtet man häufig an Fröschen, Schlangen,
Weißfischen, Schollen, am Chamäleon usw. Aus denselben Gründen wechseln
die Tiere ihre Farbe mit der Jahreszeit und den Entwicklungsstufen.
Leider ist die Wissenschaft nicht in der Lage, eine völlig ausreichende
Antwort auf die Frage uach der Entstehung der verschiednen tierischen Fär¬
bungen zu geben. Nur soviel steht fest, daß die Färbung an gewisse Farb¬
stoffe in den Gewebezellen der Tiere gebunden ist und durch Licht, Wärme,
Feuchtigkeit und Nahrung, überhaupt durch Umgebung und Lebensweise ver¬
ursacht wird. Auch mögen wohl nur die Tiere im Laufe der Zeit durch die
sogenannte natürliche Auslese oder Zuchtwahl übrig geblieben sein, die sich in
ihrer Färbung den Verhältnissen angepaßt haben.
a hier nur von wirklichen Bühnen die Rede sein wird, wirklich
in dem Sinne, daß sie sich mit Tageskram und Halbschürigem
nichts zu schaffen machen, so kann man nicht sagen, daß sie den
Zuwachs an Publikum, der ihnen in den letzten Jahren zuteil
geworden ist, einer zahlreichern Beteiligung der Volksklassen zu
verdanken hätten, die man vor fünfzig Jahren ebenso unüberlegter- wie über¬
mütigerweise als „Hottig" zu bezeichnen pflegte. Was zu dem damaligen
Publikum hinzugekommen ist und die zahlreicher und geräumiger gewordnen
Theater zum großen Teil füllt oder doch nach den Wünschen der Verwaltungen
füllen sollte, sind gutgekleidete Zuschauer, die sich für gebildet halten, es aber
nur halb, in nicht allzu seltnen Füllen so gut wie gar nicht sind. Halb oder
Völlig ungebildet insonderheit auch was den Geschmack anlangt, aber bemittelt,
an gutes Leben gewöhnt und in ihrer den höhern geistigen Genuß und das
Verständnis für das Einfache, Wahre, Edle in der Kunst ausschließenden
Oberflächlichkeit vornehmlich nach Neuem, seltnem, schwierigen, Kostbarem
und Blendendem Verlangen tragend.
Die Frage, ob die Bühne für die Verrohung des Publikums verant¬
wortlich zu machen sei, oder ob das Publikum mehr zur Verrohung der
Bühne beigetragen habe, wird bekanntlich verschieden beantwortet. Sud Mäios
lis sse. Mir ist es immer so vorgekommen, als habe das Publikum die
Intendanten und Direktoren mehr auf dem Gewissen als diese das Publikum.
Es ist eben auch hier die alte Leier, daß der Kunde das bekommt, was er
sucht: ganz kann sich ein Bühnenleiter, und wenn er von der Bilanz der
Tageskasse noch so unabhängig gestellt wäre, der Verpflichtung nicht entziehen,
dem Publikum zu bieten, wonach sich dessen Herz sehnt. In der ganzen Welt
ist das Angebot auf die Dauer von der Nachfrage abhängig: wenn es ihm
umgekehrt ab und zu gelingt, sie hervorzurufen, so ist dies eine Ausnahme
und künstlich herbeigeführte Erscheinung von kurzer Dauer.
Nicht Aristophanes hat den Geschmack des athenischen Demos verseucht:
nein, dieser schon verseuchte Geschmack hat die Aristophanische Muse erzeugt.
Die überaus heikle Frage, welchen Einfluß — ich werfe hier ganz heterogene
Elemente zusammen — Meyerbeer, Spontini, Wagner, Strauß, Ibsen, Suder¬
mann, Hauptmann auf den musikalischen oder literarischen Geschmack der
Massen gehabt haben, und wie weit sie nur die Blüten eines schon entwickelten
Baumes waren, kann ich glücklicherweise völlig unberührt lassen: denn es soll
sich hier nicht darum handeln, was dem Publikum an Stücken, Opern, Schau¬
spielern und Sängern geboten werden, sondern vielmehr darum, wie, in welcher
äußern Ausstattung sich das Gebotne zeigen soll.
Um zunächst noch ein paar Worte über den Geschmack der weitaus
größern Hälfte des Publikums zu sagen, so zeigen sich dessen Mängel be¬
sonders oft darin, daß man Nebensächlichem große Beachtung schenkt, weil
man für die Hauptsache nicht genug Verständnis und nicht genug warmes
Gefühl hat. Ich habe Wachtels Virtuosität auf der Peitsche und die von
Frau Sigrid Arnoldson auf der Trommel nie unterschätzt und gebe unum¬
wunden zu, daß auch diese Fertigkeiten, bei künstlerisch feinfühlender und —
diskreter Verwendung, der Rolle und damit der Oper zugute gekommen
wären, wenn — ja wenn der verehrte Janhagel, der natürlich ebensogut in
den Logen des ersten Ranges wie im Paradiese zu finden war, durch seinen
ungemessenen Beifall nicht zu verstehn gegeben hätte, daß ihm die Sicherheit
der Peitschenführung, das ors8<zenäo und cisorsseenäo des Trommelwirbels
erstaunlicher und bewunderungswerter erschien als Musik, Stimmenliebreiz
und Gesangskunst. Mit andern Worten, wenn er nicht in seiner Verblendung
die Bühne zum Zirkus und zum Varittepodium gemacht hätte. Für diese in
unheimlicher Weise an Jahrmarktspublikum erinnernde Geschmacklosigkeit waren
offenbar weder die Theaterleitungen noch die Künstler verantwortlich, sondern
einzig und allein die, die sich nicht einmal auf die Höhe harmloser, wenngleich
sehr melodiöser Spielopern wie des Postillons und der Regimentstochter
schwingen konnten und daraus auch nicht das mindeste Hehl machen zu müssen
glaubten. Man wurde unwillkürlich an den braven Bauern erinnert, der vor
der Sixtinischen Madonna, nach längerer hingebender Betrachtung, in den be¬
wundernden Ausruf ausgebrochen war: Nee, der Rahmen!
Aber die Geschmacklosigkeit geht unter Umständen noch weiter, sie schenkt
ihre besondre Bewunderung nicht bloß Nebensachen, die, wenn als solche be¬
handelt, der künstlerischen Wirkung keinen Abbruch tun, sie findet auch an
Dingen Gefallen, über die der Regisseur, wenn er ehrlich und ein Mann von
Geschmack ist, erröten muß. So habe ich in einer deutschen Stadt, die von
einem unsrer größten Geister mit der vitis-luinisro verglichen worden ist, einen
Vorgang miterlebt, der von dem, was das Publikum in seiner natürlichen
Wildheit mitunter zu leisten vermag, ein recht bezeichnendes Beispiel war.
Am Schlüsse des vierten Auszugs der Piccolomini hatte sich der Darsteller
Ilios in der Auffassung dessen, was Schiller mit den Worten: „fluchend und
scheltend" gemeint habe, so vergriffen, daß er sich — man verzeihe den Aus¬
druck — tierisches Gebrüll ausstoßend aus dem Saale tragen ließ. Ich scheue
mich fast, es niederzuschreiben, dieser „Abgang" wurde, statt, wie es sich gehört
hätte, mit eisigem Schweigen, mit einer dreifachen Salve von Applaus be¬
grüßt, über deren jede der Feldmarschall durch erneutes Gebrüll quittierte.
Für ganz unschuldig an diesem bedauerlichen Auftritt konnte man freilich die
Regie nicht ansehen, aber zu einem skandalösen, bei dem sich Schiller, wie
man sich auszudrücken pflegt, im Grabe herumgedreht haben muß, hatte ihn
erst das Publikum gemacht.
Oder soll an den Beifallssturm erinnert werden, den das hohe L eines
damit begabten Manrico in der Schlußcabaletta des vierten Akts stricls ig,
vamxa, hervorzurufen pflegt, und der selten ruht, bis sich der zur Entsetzung
von Castelor und zur Befreiung seiner Mutter fortstürzende Troubadour noch
anders besinnt, und trotz der offenbaren Gefahr im Verzüge, in seiner gott¬
begnadigten Kehle nach einem zweiten hohen 0 sucht, es findet und mit
kriegerischer Bravour zum besten gibt. Ich leugne nicht, daß mich der in der
Höhe des Affekts ausgeführte und an das sprichwörtliche „aus der Haut
fahren" erinnernde sg-Jto mortals beim erstenmal rum jedesmal, ich möchte
sagen körperlich, weit mehr elektrisiert als ähnliche im Zirkus, aber so völlig
vermag ich doch die durch Ruiz' Meldung auch mir klar gewordne äußerst
kritische Situation nicht zu vergessen, daß mir nicht jedes Säumen und nun
gar erst die Rückkehr des Helden samt 6a cap0-„Darbietung" äußerst peinlich
sein sollte. Hier könnte ein rechtzeitiges Fallen des Vorhangs der Zerstörung
jeder Illusion auf dem Höhepunkte der Handlung vorbeugen, und bei allem,
was dann an Hervorrufen und Lorbeerbombardement vor sich ginge, hätte
der Zuschauer die Beruhigung, daß der wirkliche Manrico spornstreichs nach
Castelor unterwegs ist und nur aus Gefälligkeit für das Publikum an seiner
Stelle eine lächelnde, die Hand aufs Herz legende und dienernde, ihm täuschend
ähnliche Marionette dagelassen hat.
Man sieht, die Bühnenleitung würde leicht auf Abwege geraten, wenn
sie sich in solchen Dingen beim Publikum Rats erholen wollte, und das würde
sie ebenfalls, wenn sie sich bei der szenischen Ausstattung durch dessen Ge¬
schmack bestimmen lassen wollte. Hier ist sie obendrein vom Publikum weit
unabhängiger als bei der Wahl dessen, was sie vorführt: denn während sie
oft mit Erzeugnissen, die dem bessern, reifern Geschmack der Minderheit will¬
kommen wären, halbleere Häuser haben würde, macht es der Menge nichts
aus, wenn ihr statt unverstandner, auf falschen Anschauungen beruhender
Ausstattungen wirklich gediegne, von künstlerischen Grundsätzen ausgehende
geboten werden. Wenn nur die Ausstattung im übrigen glänzend und
phantasieanregend ist: und daß sie, neben andern Vorzügen, auch diesen haben
soll, wird uns, glaube ich, im Laufe der Besprechung als eins der ersten
prinzipiellen Erfordernisse einleuchten.
Was auf dem Theater geschieht, beruht auf einer stillschweigenden Ver¬
einbarung zwischen Bühne und Publikum. Für ihre höhern Zwecke, die uns
hier nicht beschäftigen, kommt es der Bühne darauf an, dem Publikum eine
Art von möglichst verschönerter und veredelter halber Wirklichkeit vorzutäuschen,
und das Publikum seinerseits erklärt sich nicht nnr einverstanden, diese
PseudoWirklichkeit vorübergehend für bare Münze zu nehmen, es geht weiter:
es bescheidet sich, alles das nicht zu sehen und zu hören, was mit dieser
Schcinwirklichkeit von der ersten bis zur letzten Minute der Aufführung im
grellsten Widerspruche steht.
Es ist denkbar, es ist zu allen Zeiten geschehen und geschieht bei
sogenannten Salonvorstellungen in kleinen Liebhaberkreisen noch heute, daß
man den Raum, in dem sich die Darsteller bewegen, nur abgrenzt und keinerlei
Versuch macht, ihn künstlich in den angenommnen Ort der Handlung, Saal,
Garten, Wald, Einöde, Gebirge zu verwandeln. Die Darsteller sind zwar
durch Kostüme, Schminke, Perücken und alles, was dazu gehört, möglichst
ihrer Persönlichkeit entkleidet und den von ihnen übernommnen Rollen gemäß
mit einer fremden angetan, sie mögen uns auch, wenn schauspielerisch begabt,
völlig vergessen machen, daß ihr Zorn, ihre Eifersucht, ihre Liebe, ihre Ge¬
spräche, Kümmernisse und Kabalen ebensowenig echt sind wie ihr Teint, ihre
Locken und ihre Nasen: ein Versuch dagegen, uns zu verbergen, daß die Sache
nicht da, wo sie spielen soll, sondern in dem weiß und goldnen Salon der Gräfin
Strapazzi vor sich geht, wird nicht gemacht. Die exotischen Gewächse und die
Gobelins, die zur Abgrenzung der Bühne und zur Herstellung von Kulissen
und eines den Raum nach hinten abschließenden Behanges dienen, sollen das,
was man absichtlich und um sich Unbequemlichkeiten zu ersparen fehlen läßt,
nur markieren. Ein Vorhang ist in solchen Füllen entbehrlich: wenn die Zu¬
schauer, von denen der Direktor im Vorspiele zum Faust so hübsch sagt:
Sie sitzen schon mit hohen Augenbraunen
Gelassen da und möchten gern erstaunen,
soweit sind, geht es los, und wenn es alle ist, wird die Bühne wieder zu
einem Teile des weiß-goldnen Salons, höchstens, daß etwa hinter einem der
Gobelins — ganz alte Gobelins sind besonders verschwiegen, weil sie sich
schon längst über gar nichts mehr wundern und aufregen — Pierrot die
reizende Colombine aus dem Stegreif noch einmal küßt, oder daß ihr Harlekin
ein Briefchen zusteckt, das, fürchte ich, mit der Intrige des eben aufgeführten
Singspiels nicht das mindeste zu tun hat.
Wie ganz anders, wenn wir im Hochgefühl der uns für den Abend zum
unumschränkten Herrn eines gepolsterten Klappsitzes machenden Billettnummer
Platz genommen haben vor dem gewaltigen Vorhang, der sich wegheben und
uns Einblick geben soll in eine andre Welt, damit wir in und mit ihr einige
Stunden selbstvergeßnen Mitempfindens und befriedigenden Schauens ver¬
leben können.
Zu welchen Meisterstücken ladet so ein Haupt- oder Zwischenvorhang den
Dekorationsmaler ein, wenn er nicht mir Routine, sondern auch Phantasie
und schaffende Begabung hat!
Der Zwischenvorhang ist ja freilich am schönsten, wenn er sich in Weiser
Beschränkung begnügt, nichts andres vorzustellen als eine gewaltige reiche
Draperie, aber welche mannigfachen Möglichkeiten sind auch in dieser Be¬
schränkung dem Künstler geboten. Er mache uns glauben, die uns die Bühne
verhüllende Wand sei ein tiefroter, reich mit Gold gestickter, mit breiten
Goldborten, schweren Goldfransen, Torsaden und Quasten, dem prächtigsten,
was die Kunst des Posamentiers aus Gold- und Seidenfaden herstellen kann,
geschmückter samtner Behang, dessen schwerer vornehmer Faltenwurf uns ein
Material vortäuscht, wie es kaiserliche Hofhaltungen nicht reicher und kost¬
barer beschaffen könnten, oder etwas ähnliches in einfarbigem kirschrotem,
reich broschiertem Seidendamast mit gleichfarbigen, von Seiden- und Atlas¬
glanz strotzenden Posamenten.
Mit völlig Neuem, wobei es gelten möchte, etwas Apartes, Originelles,
noch nicht Dagewesenes zu schaffen, ist hier der Künstler selten glücklich, denn
der Eindruck, den solche weithergeholte Veranstaltungen hervorrufen, ist mehr
der des Geplagten, Künstlicher, als des Künstlerischen. Geraffte Drapierungen
namentlich, unter denen ein andersfarbiger, glatt oder in geraden Falten
herabfallender Behang sichtbar wird, berühren uns peinlich, so oft die beiden
verschiedenfarbigen und in ganz verschiedner Drapierung dargestellten Stoffe
zu gleicher Zeit, und als wären sie aufeinander geleimt, zu Anfang eines
Aktes aufgezogen werden. Man würde erwarten, zuerst werde der Hintere
Vorhang aufsteigen, und der vordere geraffte werde ihm erst folgen, nachdem
er der Schnuren, die ihn fesseln, ledig, in voller Freiheit dem Gesetze der
Schwere habe folgen können, aber da ja alles nur gemalt ist, so verbleibt
der geraffte Vorhang, wie der gerollte Mantel des Feldwebels, in den alten
Falten, und die ganze Bescherung wird nicht wie übereinander drapierte
Stoffe, sondern wie eine starre, bemalte Wand — etwas andres ist es ja
auch nicht — in die Höhe gezogen. Die goldne Regel, daß man beim Zu¬
schauer nicht ohne Not eine Illusion erwecken soll, von der man weiß, daß
man sie im nächsten Augenblick zerstören wird, gilt auch hier: an Fällen, in
denen man dies notgedrungen tut, fehlt es bei der Bühne so wenig, daß man
sie nicht geflissentlich vermehren sollte.
Wenn ein Sardnnapal, dem Millionen zur Verfügung stünden, und der
bereit wäre, sie für dergleichen zu verschwenden, auf den Gedanken käme,
einen solchen die Bühne abschließenden Vorhang wirklich aus Samt oder
Goldbrokat herstellen und so einrichten zu lassen, daß er. in der Mitte geteilt,
mit der einen Hülste nach rechts, mit der andern nach links aufgezogen würde,
was ja an sich, wenn nicht gewichtige Zweckmäßigkeitsgründe dagegen sprächen,
das wünschenswerteste, weil dem Auge wohlgefälligste Verfahren wäre, so
müßte er vor allen Dingen Stoffe herstellen lassen, für die Vorderseite sowohl
als für das Futter, die ungleich mehr Körper und Konsistenz hätten als die
von den Fabrikanten für Kleider und Behänge auf den Markt gebrachten,
denn die besten Lyoner Sande und die solidesten Goldbrokate, von denen
man doch zu rühmen pflegt, daß sie von selber stehn, würden in den ge¬
waltigen Maßen, die ein Bühnenvorhang erheischt, „spirrlich", ärmlich und
lottrig erscheinen. Schon die Niesenposamente — man denke nur an zentner¬
schwere, mannslange Goldfransen — würden sie so straffziehen, daß von einem
reichen, malerischen Faltenwurf überhaupt nicht die Rede sein könnte. Ich
habe einmal bei einer winzigen Licbhaberbühne, für die der aus zwei Hälften
bestehende, doppelt gefütterte Vorhang stark genug war, etwas derartiges ge¬
sehen und muß allerdings bekennen, daß dieser wirkliche Vorhang alle nur
vorgetäuschten sehr in den Schatten stellte. Der bei jedem Auf- und Zu¬
ziehen sich verändernde Faltenwurf gab prächtige Effekte, die bei der Schön¬
heit des Stoffes und des Besatzes von um so größerm Reiz waren, weil
das Auge durchaus in echtem Material schwelgte. Aber wie gesagt, wo es
sich um größere Dimensionen handelt, ist so etwas leider selten ausführbar.^)
Man denke nur: wenn man sich auch über die unverhältnismäßig hohen
Kosten der ersten Anschaffung wegsetzen wollte, was würden in einem Jahre
der Theaterstaub und die Abnutzung, der ^vear ana war, wie der Engländer
sagt, aus einem solchen Krönungsmantel von verdreißig- ja verfünfzigfachter
Größe machen, ganz abgesehen davon, daß die am Boden hinschleppenden
Fransen aus den feuergefährlichsten Kollisionen mit den Beleuchtungskörpern
der Rampe nicht herauskommen würden. Wir werden uns also, wenn wir
auch später einmal das große Portemonnaie in der Tasche haben sollten, mit
dem begnügen müssen, was uns die Kunst des Malers an gediegner Pracht
vorzuspiegeln vermag. Nur ein einziger schüchterner Ausblick auf jene schwerlich
je zur Verwirklichung kommende Eventualität sei noch gestattet. Wie reizend
würde sich das Auseinandergleiten der beiden Vorhangshälften machen im
Falle — eines Hervorrufs. Der mit der Handhabung der Sache betraute
Maschinist, der natürlich feinstes Kunstverständnis mit eingehender Kenntnis
vom Geschmacke des lokalen Publikums vereinigen müßte, würde für die Jllo-
und Manricomarionette nur eine mannsbreite Spalte öffnen, nach dem Schlu߬
sextett im zweiten Akte des Don Juan schon eine breitere Bahn und nach
einer Märchenapotheose oder einem Kinderballett — alles!
Zu blauen, gelben, illam und hellgrünen Zwischenvorhüngen ist nicht zu
raten, da sie auf den Teint der im Zuschauerraum anwesenden Schönheiten
unerfreuliche Reflexe werfen würden. Auch moosgrüner Samt, der zu
Dukatengold den feinsten Kontrast gibt und dem vom Schauen ermüdeten
Auge wohltuende Erquickung gewähren würde, wird um desselben Grundes
willen besser vermieden.
Wenn der Umstand, daß wir in manchen Dingen den Zeitgenossen
der Marquise Pompadour und der Du Barry voraus sind, Künstler der
Gegenwart und vor allem die jüngsten Verehrer modernster Götzen in den
Wahn gewiegt hat, daß wir diesem vergangnen Jahrhundert auch an Ge¬
schmack für Farbe und Linie in der Ausschmückung von Innenräumen über¬
legen sind, so ist das menschlich wie so mancher andrer Irrtum. Tatsache ist,
daß wir aus Prinzipienreiterei auf diesem Gebiete Tag für Tag tiefer in den
Sumpf hoffnungsloser Steifheit und Leere versinken würden, wenn uns nicht
ab und zu ein Rückblick auf jene geschmackvollem Tage, ein beherzter Griff
nach deren Reichtümern zu Hilfe käme. Daß die Zusammenstellung von rotem
Stoff mit Weiß und Gold, sei es, daß dabei Stuck, weißer Lack auf Holz
oder Marmor Verwendung finde, für Festrüume, mit Ausnahme von Speisesälen,
das einzig Richtige, weil zugleich Prächtige, Warme, Erheiternde und Feine
ist. darüber waren sich die Dekorateure des achtzehnten Jahrhunderts völlig
klar, und niemand, der sich in der Welt umgesehen hat, wird behaupten
wollen, daß dieses Rot, Weiß, Gold in ihren Schöpfungen ein ermüdendes
Einerlei herbeigeführt hätte: ihre Begabung zeigte ihnen vielmehr Mittel und
Wege, wie man, ohne in der Hauptsache von diesem Farbendreiklange abzu-
gehn, immer neue, unerwartete und gefällige, künstlerisch befriedigende Effekte
erreichen könne. Wenn sie in Nebendingen auf Abwege geraten sind, so hat
sie, was die Hauptsache ist, das Festhalten an diesen drei Hauptfarben, zu
denen unter Umständen bunter Marmor, Gemaltes oder Gewebtes mit bild¬
licher Darstellung und der prismatische Glanz geschliffnen Kristalls hinzukam,
vor der Gefahr bewahrt, der die neuern so oft erlegen sind, Ernstes und
Bedrückendes da zu schaffen, wo Heiteres und Erhebendes am Platze war. Diese
Bemerkung gehört zwar eigentlich nur insofern hierher, als sich daran die
Behauptung, daß der rote Zwischenvorhang das einzig Richtige sei, anschließt,
aber im Vorübergehen mag doch etwas allgemeiner bemerkt werden, daß die
Experimente, die man bei Ausschmückung von Zuschcmerräumen mit andern
Farben, namentlich auch mit Grün gemacht hat, soweit mir bekannt, in
keinem Falle den gehegten Erwartungen entsprochen haben, und namentlich da,
wo der Hauptvorhang etwas dunkel gehalten ist, immer einen düstern Eindruck
machen, dem weder durch den Glanz der Beleuchtung noch durch die bunte Pracht
eines zu einem Festspiel versammelten Auditoriums abgeholfen werden kann.
Weit größer als beim Zwischenvorhang ist der Spielraum, den der Haupt¬
vorhang der Phantasie des Malers bietet. Aber auch hier zieht sich der gute
Geschmack gewisse Grenzen, von denen der Wagemut des zuversichtlichen Natur¬
burschen nichts weiß. So ist es offenbar falsch, aus dem Hauptvorhang einen
Prospekt zu machen, wie dies zum Beispiel der Künstler getan hat, von dessen
Pinsel der Vorhang der <ne>in6alle ?rg,mya,i8s herrührt. Er zeigt uns eine
Säulenhalle, in der auf schlanken Sockeln die Büsten der Männer stehn, deren
Genie und Talent sich um das französische Theater verdient gemacht haben.
An sich ist ja in einem Theater der Gedanke einer solchen Ehrenhalle durchaus
berechtigt, nur eignet sich der Vorwurf nicht für einen Vorhang.
Aus verschiednen Gründen. Einmal will man da, wo ein Vorhang hin¬
gehört, keinen Prospekt sehen, dann wird das allabendliche Aufsteigen einer
Säulenhalle nebst Marmorstufen, Fliesen und Podesten auf die Dauer als
naturwidriger Vorgang ermüdend, und endlich hat eine Galerie von Hermen,
auch wenn man ein aufrichtiger Bewundrer der durch sie gefeierten ist, für die
Phantasie wenig Anregendes. Man würde sich den Anblick dieser vorgespiegelten
Ruhmeshalle zur Not viermal im Jahre, an den Geburtstagen Racines, Corneilles,
Molieres und Beaumarchais' gefallen lassen, aber Abend für Abend — brrr!
War doch ein Spaßvogel sogar so weit gegangen, das Zuspätkommen so vieler
Besucher der (üoinsclio durch den Wunsch zu erklären, den sie hätten, sich den
Anblick dieser stereotypen Himmelfahrt — g-ssomption — zu ersparen.
Vor allen Dingen muß die bewegliche Wand, durch die uns vor dem
Anfang der Vorstellung der Anblick der Bühne entzogen wird, so behandelt,
so geschmückt sein, daß wir auch wirklich einen Vorhang vor uns zu haben
glauben, und hiernächst muß das Vorgestellte möglichst mannigfaltig und darauf
berechnet sein, unsre Phantasie in anmutiger Weise anzuregen und zu be¬
schäftigen. Man soll sich an einem Hauptvorhang sobald nicht satt sehen können.
Wenn der Künstler darauf ausgegangen ist, dem Zuschauer einen gewaltigen,
in dekorativer Weise möglichst reich gegliederten Gobelin vorzutäuschen, so
Wird — Geschmack, leichte helle Farbe, Harmonie der Töne und glückliche
Wahl des Vorwurfs für das Mittelstück vorausgesetzt — meist der erwünschte
künstlerische Effekt erreicht worden sein. Die Gefahr im Mittelfeld ist zu große
Körperlichkeit des Vorgestellten, wie sie der Gobelin bei dem sichern Geschmack
virtuoser, mit feinstem Gefühl prüfender Spezialisten zu vermeiden versteht,
ohne darum blaß, flach, matt oder grau zu erscheinen. Ihr von Generation
auf Generation vererbtes Empfinden für den kleinsten Bruchteil einer Nuance
erreicht Deutlichkeit, Schmelz, entzückendsten Farbenreiz, bezaubernde silberne
Lufttöne und duftigste Fernen, ohne je im Vordergründe durch eine zu plastische
Darstellung den Neiz des gewebten Bildes zu zerstören. Wem der Auftrag,
den Hauptvorhang einer großen Bühne herzustellen, erteilt worden ist, der schule
zuvor sein Auge an diesen Wundern der Webekunst; wenn er sich bei der
Ausführung immer vergegenwärtigt, daß er keinen körperlichen Vorgang dar¬
stellen, kein historisches oder mythologisches Bild malen darf, weil es sich hier
nicht um einen Ausschnitt aus dem mit Licht und Luft erfüllten unbegrenzten
Raum, sondern um das Mittelfeld eines Vorhangs, mithin eines Gewebes
handelt, und daß er unser Auge durch den Anblick eines reichen Teppichs
erfreuen soll, auf dem das Dargestellte Heller, leichter, duftiger, dekorativer
erscheint als die Wirklichkeit, weil wir uns im Märchenlande, im Zauberreich
der schöpferischen Phantasie befinden, dem wird ganz von selbst die richtige
Vortragsweise gelingen.
Setzen wir beispielsweise voraus, der Künstler habe die Naumeinteilung
so getroffen, daß inmitten der von ihm angebrachten Kanten und Nebenfelder
für das Mittelfeld ein Rechteck im ungefähren Verhältnis von (Höhe) zu
5 (Breite) offen geblieben ist, so kann er — er mag nun den Olymp, den
Triumph der Galatea, eine dionysische Festfeier oder sonst einen figurenreichen,
allegorischen Vorgang zu schildern unternommen haben — in der Farben¬
gebung und Behandlung nicht fehlen, wenn er dessen eingedenk bleibt, daß es
sich um die Darstellung eines Vorhangs, eines Stoffes handelt, und daß er
den Zuschauer nicht um den Eindruck eiues gewebten Bildes bringen darf.
Gelänge es ihm, uns einen wirklichen Vorgang vorzutäuschen, so würde sich
dieser Erfolg seiner die Natur unverkürzt wiedergebenden Kunst rächen, sobald
der so als Prospekt behandelte Vorhang in die Höhe ginge. Aha, würde
jedermann sagen, der vorgebliche Vorhang war also nur eine bemalte Wand,
so etwas, wie es im kleinen vor fünfzig Jahren auf Kaffecbrettern zu sehen
war. Ist der Künstler dagegen mit richtigem Verständnis innerhalb der Wirkung
geblieben, die ein gewebtes Bild auf unser Auge übt, so ist uns — es wäre
denn, daß das Wissen in einem Theaterbesucher die Fähigkeit, sich täuschen zu
lassen, völlig ertötet hätte — wenigstens diese eine Enttäuschung erspart: was
sich vor unsern Augen weghebt und uns den Ort der Handlung, dessen Anblick
uns bisher entzogen war, zu betrachten erlaubt, bleibt, was es für unser Auge
gewesen ist, ein Vorhang, dessen Wiedererscheinen am Ende des Stückes wir
mit Vertrauen begrüßen können, während wir andernfalls aus dem hybriden
Kunstwerk, halb Stoss, halb gemalter Wirklichkeitsausschnitt nichts Rechtes zu
machen wissen.
Da die zu schmückende Fläche an Ausdehnung der der gewaltigsten Fresken
gleichzukommen, ja sie in vielen Füllen zu übertreffen Pflegt, so liegt eins auf
der Hand: der dargestellte Vorgang muß derart sein, daß er einen möglichst
großen Figurenreichtum erheischt oder doch zuläßt. Allegorien, der Mythologie
und der Märchenwelt entnommne Vorwürfe werden besonders am Platze sein.
Alles, was den Olymp und den Parnaß, die blauen Wogen und die Unter¬
welt, was Wald und Heide, Höhen und Täter je bewohnt haben soll, ist auf
einem solchen Mittelfeld willkommen, sobald nur durch die Mannigfaltigkeit der
Gestalten die Einheit der Idee nicht beeinträchtigt wird. In den Lüften dürfen
geflügelte und nicht geflügelte Knaben in der halsbrecherischsten Haltung mit der
Bewegungsfreiheit des Zeppelinschen Lenkbaren wetteifern, während auf festem
Grund und Boden Dinge vor sich gehen, von denen wir die wenigsten mit
Amoretten oder sonstigen im Äther schwebenden Putten in Beziehung zu bringen
Pflegen. Der Allegorie geschieht mit der Einheit der Idee Genüge, an der
Zusammenwürfelung von Jahrhunderten und Ländern, von Trachten und Haut¬
farben, von gewappneten Rittern und tätowierten Indianern, von vermummten
Mönchen und ebenso unvermummten weiblichen Schönheiten, von arkadischen
Schäfern und „läppischen, ja täppischen" Pulcinellen nimmt sie keinen Anstoß.
Auch gar zu leicht und auf den ersten Blick verständlich braucht sie nicht
zu sein. Wenn es uns auch erst ganz allmählich klar wird, warum hier die
Schönheit die Leidenschaften entfesselt, da die Weisheit sie mäßigt, warum hier
die Phantasie die verschämt ihrem Brunnen entstiegne Wahrheit mit könig¬
lichem Schmucke bekleidet, da der Klang der Hirtenflöte den Tanz der Grazien
beflügelt, so hat das nichts zu sagen. Wer pünktlich, das heißt eine Viertel¬
stunde zu früh im Theater eintrifft, hat vollauf Zeit, solche allegorische Nüsse
zu knacken. Und kommt er schließlich durch eignes Nachdenken oder durch eine ihm
gegebne kunstverständige Auskunft hinter das, was gemeint ist, so ist die Freude,
nunmehr das zu verstehn, was er anfänglich nur als reizende Fata Morgana
bewunderte, um so größer.
Ich weiß mich augenblicklich nicht zu erinnern, wo es war, daß ich in
einem solchen Mittelfelde des Hauptvorhangs die Darstellung einer Dionysos¬
feier zu bewundern Gelegenheit hatte. Schon der Einfall, dem Zuschauer auf
solche Weise die Wiege der theatralischen Kunst in Erinnerung zu bringen,
scheint mir besonders glücklich. Auch die Ausführung war reizend. Kanten,
Nebenfelder und Zwickel waren mit Trophäen, Symbolen, Blumengewinden
und mit allem, was auf das Theater Bezug hat, reich geschmückt, und das
Mittelfeld, so bunt und so vielgestaltig es war, so entzückend leicht und fein
wirkte es in der Farbe, und vorstellen wollte es nur, was es vorstellen sollte:
ein gewebtes Bild.
Der Mittelpunkt der Handlung war der Altar, von dem das heilige Feuer
leichte Rauchwolken emporsandte, zwischen denen neugierig und teilnehmend
vom Olymp herbeigeeilte kleine Liebesgötter mit Blumen und Fackeln umher¬
gaukelten oder die bekannten, nie fehlenden Pfeile abzuschießen ihre Freude
hatten. Und an ungepanzerten Herzen, die ihre Jagdlust reizen konnten, schien
es um den Altar herum nicht zu fehlen. Mit Panthcrfellen bekleidete und mit
Weinlaub bekränzte Verehrerinnen und Verehrer des großen Sorgenbrechers in
mänadischem Tanz die Thyrsusstübe schwingend: rechts und links die sich bei¬
fällig gebärdende Menge: und unmittelbar vor dem Altar in langen weißen
Gewändern, Eichenkränze auf den: Haupt die Opferpriester, weiterhin eine
Schar musizierender Jünglinge, ihnen zur Seite der in hieratischer Ruhe ver¬
harrende Chor und — ob das für eine dionysische Feier die herkömmlichen
Opfertiere waren, bleibe dahingestellt — herrliche mit Rosen bekränzte weiße
Stiere, die mit salbungsvoller Gelassenheit den Todesstoß von dem ans goldner
Schale blitzenden Eisen zu erwarten schienen.
Bellinis Norma stand auf dem Zettel. Einen der Lösen sah ich ganz
deutlich den goldnen Pfeil abdrücken auf eine der jungen Tempeldienerinnen,
die sich in züchtigen langwallenden weißen Gewände mit einer blinkenden Kanne
dem Altar näherte. Wie hätte einem vor einem so reichen, in allen seinen
Teilen so anregenden Bilde die Zeit des Wartens lang werden können: schon
ehe die ersten Takte der Ouvertüre durch den Saal klangen, war man in der
rechten Weihe- und Feierstimmung.
Wäre das — die Frage liegt nahe — auch der Fall gewesen, wenn man,
statt sich an diesem heitern Spiele der Phantasie zu erfreuen, eine Viertel¬
stunde auf eine das Äußere des Theatergebäudes darstellende Ansicht zu stieren
gehabt Hütte? Das Ganze am Ende gar als Abendeffekt gedacht, das Haus
erleuchtet, die Gaskandelaber des Platzes brennend, willkommne Zuschauer¬
ströme sich den Eingängen zuwälzend? Damit man ja bis zum Aufgang des
Vorhangs der einen umgebenden Wirklichkeit unvergessen bleibe: wie man die
Fahrt mit Hilfe eines Taxameters zurückgelegt, an der Kasse bescheiden sein
Begehren vorgebracht, in der Garderobe eine Blechmarke empfangen habe und
nun in dem von dem Geheimen Baurate Stilowsky so herrlich errichteten Ge¬
bäude auf Grund einer willig geleisteten Barzahlung sitzen dürfe, wie die übrige
den Raum füllende Menge ein botmäßiger, der Autorität der Intendantur,
der Gendarmerie, der Feuerwehr, der Schließer und vor allem des Reglements
unterworfner Schaugast?
Und doch muß man für eine solche Vedute noch dankbar sein, wenn man
sich vergegenwärtigt, wozu von einer mehr praktisch als künstlerisch gearteten
Bühnenleitung ein Vorhang benutzt werden kann. Welcher Theaterbesucher,
fragt man sich, mag, statt das Adreßbuch zu Rate zu ziehen, beim Direktor
angefragt haben, welche Quellen er ihm behufs Erlangung billigen, eleganten
und wohlsitzenden Schuhwerks, preiswürdiger Brautroben und tadellosen
Dominikcmerbrüus zu empfehlen in der Lage sei? Oder sollte die Direktion
etwaigen Wünschen in dieser Richtung „kulanterweise" vorgegriffen und „um
einem längst gefühlten Bedürfnis" abzuhelfen den wie eine Harlekinsjacke in
allen Farben des Regenbogens gewürfelten Vorhang zu einem wüsten Sammel¬
surium disparater Reklamen gemacht haben, damit dieser schreckliche Anblick das
entsetzte Publikum in jeder Zwischenaktspause Mann für Mann dem Büfett
zuscheuche? Wie lange wird es dauern, bis den Hauptvorhang statt Apolls
und der Musen die Preisliste des Theatertraiteurs schmücken wird: belegte
Semmel mit Schweinebraten dreißig Pfennige, ditto mit Kcise...
Doch genug! Man soll den Teufel nicht an die Wand malen.
ierzehn Teige lang nicht geschrieben. Zu dumm, daß ich die Masern
bekommen mußte! Sie fingen an, als ich mein Schäferkostüm zum
letztenmal? anprobierte. Kaum konnte ich mich noch in mein Bett
schleppen, dann kam Fieber, begleitet von heftigen Kopfschmerzen, sodaß
ich wohl einige Tage für mich hingelegen habe, ohne viel von mir
zu wissen. Jetzt fühle ich mich viel besser, und der Doktor sagt, daß
ich mich freuen soll, so leicht davongekommen zu sein. Einige Falle wären viel
schwerer verlaufen. Eigentlich wunderte ich mich, daß Doktor Roland mich nicht
behandelte. Aber Walter sagte, daß er ihn nicht hätte bemühen wollen. Walter
ist nämlich wieder da. Dolly hat ihn gleich kommen lassen, während sie mit Lila
und Harald nach Falkenhorst gegangen ist. Diese Vorsicht war meiner Ansicht nach
überflüssig; aber Walter sagt, daß er mit Dollys Handlungsweise ganz einverstanden
wäre. Er ist viel frischer und heiterer geworden, sitzt an meinem Bett und erzählt
mir von Falkenhorst. Von dem lieben alten Gut, auf dem ich einen Teil meines
Lebens verbracht habe, und das ich so gern lange besuchen möchte. Lieber beinahe
möchte ich allerdings einmal wieder auf das alte Schloß, wo ich mit Onkel Willi
wohnte. Onkel Willi hat die Erlaubnis erhalten, seine alte Wohnung zu beziehen: in
einem gnädigen Schreiben ist ihm dieser Bescheid geworden, und Miß Mason sagt,
daß er sehr, sehr glücklich wäre. Die gute alte Engländerin darf mich jetzt wieder auf
ein Weilchen besuchen. Onkel Willi hats erlaubt, wenn sie hinterher eine Stunde
spazierengehen und die zweite Stunde nicht mit ihm sprechen will. Er ist ein wenig
bange vor Krankheit, der gute Onkel, und man solls ihm nicht verdenken. In seinen
Jahren muß man die Gesundheit doppelt hoch halten.
Es ist still im Hause. Walter liebäugelt schon wieder mit seinem Schreibtisch
und hat neue Pläne für nächsten Winter. Die Vorträge werden doch als Buch
erscheinen. Es hat sich ein Verleger gemeldet, der ganz gute Bedingungen gemacht
und sich auf Professor Müller berufen hat, der versprochen habe, eine gute
Kritik zu schreiben. Also ist er es doch vielleicht nicht gewesen, der hinter dem
Angriff steckte. Walter ist ganz glücklich bei diesem Gedanken. Er entschließt sich
schwer, Böses von andern zu glauben, sodaß ich ihm nicht widersprechen mag. Ich
bin übrigens noch etwas müde, und der Doktor will nichts von Aufstehen wissen.
Er sagt, Masern bei Erwachsnen seien nicht ganz ungefährlich. Ich muß also
Geduld haben und mich freuen, daß ich ein wenig rin Bleistift schreiben darf.
Die Fenster stehen offen, und ich fühle den Hauch der warmen Luft. Das tut
wohl, und auch der feine Blumenduft aus dem Garten macht mir Freude. Es war
doch schade, daß ich mein Schäferinnenkostüm nicht trug, und daß niemand kommt,
mir von dem Verlauf des Festes zu berichten. Aber ich darf noch nichts hören,
was mich erregen könnte. Die Magnifika hat mir ein Körbchen mit Frühobst geschickt
und gute Besserung wünschen lassen. Bald ist sie nicht mehr die Magnifika und
wird eine gewöhnliche Professorenfrau; aber sie hat ihr Amt gut ausgefüllt. Wenn
ich einmal Magnifika werde, will ich gerade so huldvoll sein wie sie.
Ach, Anneli, du wirst schwach im Kopf! Zum Rektor werden wir nie reich
genug sein, und wenn wir einmal soviel Geld erworben haben, dann machts keine
Freude mehr, den ersten Platz in der Universität einzunehmen.
Heute läuten die Glocken den ganzen Tag. Im Sommer durs sich sonst selten.
Da hat niemand Lust, krank zu sein oder gar zu sterben. Ich höre auch lieber die
Studenten singen, und am Abend tun sie mir den Gefallen und singen vor meinen
Fenstern die schönsten Lieder. Von Liebe und vom Abschied, von allen den Dingen,
die ein Student in Lieder kleidet, wenn sein Beutel leer ist, und er uach Hause
reisen muß.
Das Haus ist still. Walter hat beschlossen, Harald nicht vor den Ferien wieder¬
kommen zu lassen, und es ist wohl gut so, nur daß mir mein Junge fehlt. Die
kleinen Rolands scheinen noch immer zu grollen, oder die Päpke hält sie von mir
fern. Die abscheuliche Person! Wenn ich wieder ganz gesund bin, dann will ich doch
noch einmal zu Frau Roland gehen. Vielleicht könnte ich ihr einen Rat geben. An
Fred selbst kommt man ja nicht mehr heran. Es ist schade; aber er will natürlich
seinen Weg in großer Eile machen.
Onkel Willi hat sich entschlossen, mich zu besuchen. Ich konnte ihm schon ent¬
gegengehen, und er versicherte, daß ich mich nicht verändert hätte, was ihn zu be¬
ruhigen schien. Er setzte sich dann mir gegenüber und begann von seinen neuen
Plänen zu berichten.
Also ich ziehe wieder aufs Schloß, und du mußt mich einmal dort besuchen.
Herr Stahl will auch kommen. Weißt du, wer der Herr ist? Ein Verwandter von
der alten Demoiselle Stahl, die ehemals im Schloß wohnte, und die von zwei schreck¬
lichen Neffen beerbt wurde. Du wirst dich der Geschichte nicht mehr entsinnen, denn
du warst damals noch sehr jung; aber man war damals recht entrüstet über die
große Pietätlosigkeit der zwei Erben, die sich auch noch erzürnten. Nun, der eine
dieser Herren lebt noch und hat es zu einem beträchtlichen Vermögen gebracht. Er
scheint auch sein damaliges Betragen zu bedauern und hat mich gefragt, ob er dich
einmal später besuchen dürfe. Er möchte dich etwas fragen.
Ich gab natürlich meine Erlaubnis, und mein Onkel plauderte weiter. Dieser
Herr Stahl wird auch von Roland behandelt und spürt wie ich merkliche Besserung.
Ja, dieser Roland ist ein großes Talent; möchte er nur nicht denken, daß es immer
so weiter geht. Der Rückschlag wird jetzt schon kommen, obgleich er doch keine Schuld
an der traurigen Geschichte hatte, er war zuerst ja gar nicht hier, und als sie ihn
herriefen, war es zu spät.
Welche Geschichte meinst du? fragte ich, aber da stand Walter neben Onkel
Willi und schob ihn sachte hinaus.
Anneli muß unbedingt Ruhe haben! sagte er mit einer ungewohnt scharfen
Stimme.
Aber ich faßte nach seiner Hand.
Walter, was ist es? Um Gottes willen! Harald — ich wurde ganz unsinnig
vor Angst — wenn du nicht sprichst —
Da schob er mich auf mein Ruhebett.
Harald ist ganz gesund, und du brauchst dir seinetwegen keine Sorgen zu machen.
Es ist nur — schließlich mußt du es doch auch erfahren, und es wird dich schmerzen,
wie es uns alle schmerzt —
Was ist es? fragte ich noch einmal, und er strich über mein Haar.
Minchen und Linchen Roland sind beide an den Masern gestorben.
Ich lag ganz still. Minchen und Linchen Roland. Sie gehörten mir nicht;
ich kannte sie noch nicht lange, eigentlich sollten sie mir fremd sein, und ihre Mutter
war immer wenig nett gegen mich gewesen. Aber, aber — ich glaube, daß ich
laut geschrien habe.
Als ich die Augen aufschlug, lag ich im Bett, und Fred Roland saß
neben mir.
Frau Anneli, was machen Sie? Ich wollte gerade vorsprechen, um mich einmal
nach Ihrem Befinden zu erkundigen, da sagt mir Ihr Mann, daß Sie ohnmächtig
geworden sind. Solche Geschichten müssen Sie vermeiden.
Er sprach gleichmütig, und ich betrachtete ihn mit einer gewissen Ver¬
wunderung. Hatte er wirklich zwei seiner lieben kleinen Mädchen verloren und
konnte sein wie sonst?
Er schien meine Gedanken zu erraten, denn er nahm sich, wie mit einem Ruck,
zusammen.
Ja, Frau Anneli, ich habe meinen Tribut den Göttern zahlen müssen. Ich
weiß, daß Sie mitempfinden, und deshalb bin ich auch zu Ihnen gekommen. Sie
haben die kleinen Dinger lieb gehabt und sind gut mit ihnen gewesen. Besser
als ihr eigner Vater. Ich ärgerte mich eigentlich, daß es alle drei Mädchen
waren, und ich nannte sie Minchen, Linchen und Stincheu, weil ich alle andern
Namen zu großartig für diese kleinen unschönen Dinger fand. Wer wenn dann
zwei von ihnen sich auf einmal allein auf die große Reise macheu, und niemand
ihnen mehr helfen kann, und wenn man plötzlich weiß, daß man stolz auf sie ge¬
wesen ist, und daß nun alles zu spät ist —
Fred Roland war heiser geworden und legte seine schlanken Hände zu¬
sammen.
Minchen hat in den letzten Stunden immer von Ihnen gesprochen, Frau
Anneli. Sie sagte, sie wäre unartig gewesen, und wollte es nicht wieder tun.
Und sie hätte es auch nicht ernst gemeint, was sie gesagt hätte. Ich weiß nicht,
welcher Art die kleine Differenz zwischen Ihnen gewesen ist, ich weiß ja nichts
von meinen Kindern; aber meine Kleine hat sich in ihren letzten Lebensstunden mit
ihrer Bürde gequält, und ich mußte ihr versprechen, die Bestellung an Sie zu
übernehmen. Er schwieg und sah mit trocknen Angen vor sich hin. Als er meine
bittern Tränen sah, legte er die Hand auf meine.
Sie sind glücklich, Frau Anneli, Sie dürfen weinen. Ich aber, ich muß fast
lachen; lachen über den Doktor Eisenbart, zu dem die Leute gelaufen kommen,
damit er sie gesund macht. Er gibt sich auch redliche Mühe; versucht alles, opfert
seinen Schlaf, seine Gesundheit. Und dann muß er die eignen Mcnschenblumcn,
die in seinem Garten wuchsen, hinwelken sehen und kann nichts, absolut nichts
machen.
Sein Gesicht verzog sich so schmerzlich, daß ich mich aufrichtete.
Fred, lassen Sie Ihre Mutter kommen. Sie wird allein Sie trösten können.
Er setzte zum Sprechen an, aber seine Lippen zitterten so stark, daß ich ihn
kaum versteh» konnte.
Nein, sagte er mit schwerer Zunge, nein, sie ist mir zu gut für die Klinik,
für die neugierigen Leute, für — er hielt inne, denn im Nebenzimmer klang eine
scharfe Stimme, und Walter winkte Fred, daß er nach draußen kommen möge. Er
ging ohne Abschied, und als Walter nachher zu mir trat, hatte er ein verstörtes
Gesicht.
Was war mit Roland? fragte ich, und mein guter Mann versuchte eine aus¬
weichende Antwort zu geben. Aber er kann so schlecht lügen und um den Brei
herumgehn.
Frau Päpke war hier, sagte er zögernd. Roland mußte eilig nach Hause
kommen; seine Frau ist Plötzlich aus ihrem Zimmer verschwunden, und niemand ahnt,
wo sie geblieben ist.
Es ist wie ein Wunder, daß ich gesund werde; aber am andern Tage kann
ich das Bett schon verlassen und darf Miß Masons Besuch empfangen. Die gute
alte Dame zitterte am ganzen Leibe und erklärte weinend, daß der Aufenthalt in
dieser Klinik sehr aufregend wäre.
Miß Anneli, was sagen Sie doch zu dieser Geschichte? Ach, die Päpke ist
an allem schuld. Sie hat der armen Frau eingebildet, daß sie sterbenskrank wäre,
damit sie immer im Bett bleiben sollte, und nun ist sie natürlich wirklich krank
geworden. Schon vor Kummer über den Tod der kleinen Mädchen. Und vielleicht
hat ihr auch jemand gesagt, daß Frau Päpke auf ihren Tod wartete, um ihren
Mann zu heiraten. Die Menschen sind ja oft so böse, Miß Anneli. In der Klinik
wird rasend geklatscht, und gestern sind schon zehn Personen abgereist.
Ich versuchte, die gute Miß zu trösten, obgleich mir schlecht genng zumute
war; man muß eben den Ereignissen ihren Lauf lassen.
Am Abend desselben Tages wurde die blonde Rosa schon wiedergefunden.
Sie hatte sich auf ein Schienengeleise werfen wollen, war aber noch nicht dazu
gekommen. Roland zog einen Universitätsprofessor zu Rate, und dieser verordnete
eine Nervenheilanstalt.
Den Schluß der Geschichte berichtete mir der alte Herr Stahl. Auch ein
Patient von Doktor Roland, der jetzt ebenfalls von Abreisen spricht. Er ist ein
etwas verrunzelter Herr und ein Neffe der alten Demoiselle Stahl, die gegen
mich, als ich Kind war, sehr liebevoll war. Als sie starb, vermachte sie mir
Bilderbücher und auch eine Summes Geldes, die ich niemals erhalten habe. Ich
glaube, daß die Erben das Vermächtnis ansonsten, und daß mein Onkel Falken¬
berg sofort für mich auf die Erbschaft verzichtete. Herr Stahl ist nun einer der
Erben gewesen, und es scheint mir fast, als hätte er Lust, mir das Geld zu
geben. Wenigstens erzählt er sehr umständlich, wie er damals in Geldverlegen¬
heit gewesen sei und es erst im Alter zu etwas gebracht habe. Aber ich gehe
nicht auf seine Berichte ein. Wir könnten wohl Geld gebrauchen, aber es ist besser,
frei zu sein und arm. Bon Herrn Stahl will ich mir nichts schenken lassen.
Herr Stahl schien die Absicht zu merken und wurde nicht verstimmt, sondern
sehr mitteilsam. Er berichtete sehr ausführlich über seine Gesundheit, und daß er
zweimal die Masern gehabt hätte. Und daß Frau Päpke sich nicht um die kranken
kleinen Töchter des Doktors gekümmert hätte, bis es zu spät gewesen sei.
Diese Frau kann ich nicht leiden, feste der alte Herr hinzu, und wie niir, so
geht es vielen Patienten. Besonders denen, die ihr kein Trinkgeld geben. Ja,
wenn der Doktor alles wüßte, er würde sie wohl aus dem Hause werfen. Aber
er weiß es nicht, und sie ist sehr süß mit ihm.
Als mich Herr Stahl verlassen hatte, ging ich in unserm Garten hin und
her und sah den Weg entlang, den die kleinen Rolands so oft gelaufen waren.
Nun werden Minchen und Stinchen niemals mehr kommen und ihre Geschichten
erzählen, und Minchen hat gut daran getan, sich nicht mit Lernen die Kinderzeit
zu verderben.
Ich setzte mich in meine Rosenlande und atmete den feinen Duft ein. Hier
hat die arme kleine Rosa gesessen und viele Rosenblätter abgerissen; nun ist sie
selbst ein armes, verwestes Blatt, das keine Lücke hinterläßt. Und sie war Freds
Schülerliebe, und ich habe sie damals beneidet.
Hinter der Hecke klangen Stimmen.
Ach ja, hier wohnt Frau Professor Weinberg. Ich habe sie noch als Anneli
Pankow gekannt. Sie war hochmütig und verwöhnt, obgleich sie zu beiden, keinen
Grund hatte. Sie ist von ganz armer Herkunft, und wenn Herr Doktor Roland
sie nicht aus dem Wasser gezogen hätte, dann würde sie nicht so stolz durch die
Straßen wandern. Und undankbar ist sie auch; sie wollte sich nicht einmal ein
wenig der kleinen Mädchen annehmen, obgleich sie doch nichts zu tuu hat. Frau
Doktor hat sich genug darüber gewundert, und vielleicht ist sie deswegen nachher
so krank geworden, obgleich ich sie treu genug gepflegt habe. Ja, Herr Professor,
ich bin treu, ich habe es schon oft bewiesen. Meine zwei verstorbnen Männer
sagten es auch ^—
Ich glaube es Ihnen, sagte eine lachende Stimme, und es war mir, als
hörte ich einen Kuß. Vorsichtig lugte ich durch die Hecke. War das Professor
Müller, der neben Frau Päpke ging? Aber ich vermochte nicht, sein Gesicht
zu sehen.
Als ich wieder ins Haus trat, war Herr Külpe da gewesen, um mich zu
sprechen, und das Dienstmädchen hatte geglaubt, daß ich ausgegangen wäre. Es
tat mir leid, ihn verfehlt zu haben, aber ich konnte mir nicht denken, was er
eigentlich von mir wollte. Seitdem er verlobt ist, hat er nicht mehr bet uns ge¬
gessen, ich habe gehört, daß er jetzt zwei Anzüge hat und allmählich in bessere
Verhältnisse kommen wird. Ich hoffe, daß er dann auch von den Drehers weg¬
ziehen wird; den Anton Dreher kann ich nicht leiden.
Ich habe heute an die alte Frau Roland geschrieben. Sie wird sich meiner
kaum noch entsinnen, vielleicht aber weiß sie noch, daß ihr Sohn mir einst das
Leben rettete, und daß ich ihm dafür ewige Dankbarkeit schulde. Wenn man
weiter zieht auf der Lebensstraße, dann weiß man allerdings nicht, ob es nicht
besser ist, jung zu sterben und aller Sorge und Pein aus dem Wege zu gehn.
Aber dieser Gedanke ist Wohl eine Feigheit, und man muß tapfer sein, solange
einem die Sonne scheint.
Die Sonne scheint warm in diesen Tagen. Eine rechte August- und Ferien¬
sonne, bei deren Schein Bärenburg langsam einschläft. Der Student ist ver¬
schwunden, der Professor hat auch sein Bündel geschnürt, und nur einige Nach¬
zügler, zu denen wir gehören, wissen noch nicht, was sie tun sollen. Von Falken¬
horst ist eine dringende Einladung gekommen, und Harald schreibt von dort her
zufriedne Briefe. Aber Walter möchte noch etwas arbeiten, seine neuen Vorträge
beschäftigen ihn, und die ersten bedürfen der Korrektur. Professor Müller hat ihm ge¬
schrieben und ihn sehr liebenswürdig auf einige Irrtümer aufmerksam gemacht. Dieser
Herr ist von den Mvnreals aufgefordert worden, einige Wochen auf ihrem Schloß
in Thüringen zuzubringen. Es gibt dort noch mehr Schätze im Archiv, die der
Prüfung warten. Ich habe von Bodild keinen Abschied nehmen können, der Masern
wegen, und sie ist niemals eine große Briefschreiberin gewesen. So weiß ich also
nicht, was sie mit dem Professor Müller vorhat. Gibt sie ihm ein vergiftetes
Zuckerplätzchen, oder hat sie ihre Äußerung ganz vergessen? Ich glaube es. Vor¬
nehme Leute haben oft ein schlechtes Gedächtnis.
Heute war ich mit Walter lange spazieren. Das Wetter war herrlich, und
der Wald, der sonst widerhallt von Gesang und Gelächter der Studenten, einsam
und leer. Als wir langsam durch die hohen Stämme wanderten und das leise
zitterige Licht der Sounenstrahlen mit den Augen verfolgten, erzählte ich Walter,
daß ich an die alte Frau Roland geschrieben und sie gebeten hätte^ mich auf einige
Tage zu besuchen.
Ich mußte es tun, setzte ich hinzu. Eigentlich soll man sich niemals in die
Angelegenheiten andrer mischen; ich weiß es Wohl. Aber in diesem Fall, wo
Roland seinem Verderben cntgegcnzugehn scheint, muß ich mich wirklich des Um-
standes entsinnen, daß er mich einst aus dem Wasser zog. Jetzt sitzt er bis an
den Hals darin, und niemand ist da, der ihm die Hand zur Hilfe reicht.
Ich hatte mich in Eifer geredet, und mein Mann lächelte ein wenig. Doch
der Tod der kleinen Mädchen hat ihn selbst so sehr erschüttert, daß er geneigt ist,
mir manchen schnellen Entschluß zu verzeihen. Er ist ja immer gut gegen mich,
manchmal gewiß zu gut.
Hat Frau Roland nicht Hüte und Mützen verfertigt? fragte er, und ich be¬
jahte. Allerdings, sie hat ihren Jungen mit ihrer Hände Arbeit durchgebracht,
und zwar ganz allein. Sie ist nie verheiratet gewesen, und Freds Vater hat sie
sitzen lassen.
Und wer war dieser Bater?
Ich weiß es nicht; das ist jetzt ja auch einerlei.
Die Geschichte ist eigentlich nichts für dich, Anneli. Besonders die Ein¬
ladung — Mein guter Mann machte ein klägliches Gesicht, und ich empfand Mit¬
leid mit seiner Hilflosigkeit.
Walterchen, im ganzen stimme ich dir bei. Es ist natürlich nichts für eine
Professorenfrau, wenn sie Besuch erhält von jemand, die nicht ihres Standes ist,
und die sich dazu eines Vergehens gegen die allgemein geltenden Ausfassungen
schuldig gemacht hat. Aber muß man nicht von Fall zu Fall entscheiden, und
willst du nicht daran denken, daß diese Frau immer sehr gut gegen mich war, als
ich klein und oft so schrecklich einsam war? Und darf ich ihr nicht eine kleine
Freundlichkeit erweisen? Sieh einmal, sie hat ihren Sohn solange nicht gesehen,
und ihre Schwiegertochter ist nie nett gegen sie gewesen. Die kleinen Enkelinnen
sind gestorben, ohne daß sie die jemals gesehen hat, und Frau Rosa ist jetzt im
Sanatorium. Ist das nicht hart? Und sie hat ihren Sohn so über alle Maßen
geliebt und für ihn gesorgt und manche Demütigung geschluckt; ist es da nicht
ein Verlangen der Gerechtigkeit, wenn ich sie bitte, sich die Arbeit ihres Sohnes
einmal aus der Nähe zu betrachten? Fred muß sich doch auch freuen, seine
Mutter wiederzusehen, und in der Klinik braucht man nicht zu erfahren, wer mich
besucht.
Ich hatte mich in Eifer geredet, und Walter sagte nichts mehr. Wenn er
es getan hätte, würde ich noch gesagt haben, daß wir, die wir glücklich sind, die
Verpflichtung haben, andern von unserm Glück mitzuteilen. Aber ich kam nicht
nichr dazu.
Als wir heimkehrten, war Herr Külpe wieder dagewesen. Was wollte er
nur? Ich fragte es ziemlich ungeduldig, und Walter versprach mir, gleich am
nächsten Morgen zu ihm zu geh» und ihn nach seinem Begehr zu fragen.
Am andern Morgen kam Walter nicht zu seinem Besuch bei Herrn Külpe,
und ich erhielt ein Telegramm von der alten Frau Roland, daß sie meine gütige
Einladung, auf einige Tage zu mir zu kommeu, mit herzlichem Dank annehmen
würde. Habe ich recht gehandelt, oder mische ich mich in Angelegenheiten, die
mich nichts angehn? Zum Nachdenken hatte ich keine Zeit. Onkel Willi erschien
mit seiner Miß Mason, um Abschied zu nehmen. Er zieht schon in den nächsten
Tagen auf sein Schloß, freut sich wie ein Kind auf die bekannten Stätten und
lud mich dringend ein, ihn zu besuchen. Heute wollte er mit mir eine Ausfahrt
nach einer alten Ruine machen, von der er viel gehört hat, und die ungefähr eine
Tagesfahrt von hier entfernt liegt. Ich hatte immer Lust, einmal das alte Ge¬
mäuer zu sehen, bin aber niemals dazu gekommen, und Walter riet niir sehr zu,
die Einladung anzunehmen.
Der Tag war herrlich. Als wir im Wagen saßen, und Onkel Willi in seiner
mir so gut bekannten träumerischen Art zu sprechen begann, da konnte ich mir ein¬
bilden, noch ganz jung zu sein. Und war ich es nicht? Walter spricht manchmal
davon, daß der Herbst für ihn kommt; er fängt auch an, grau zu werden. Aber
in mir spüre ich noch den Sommer, besonders an einem Tage wie heute, wo die
ganze Welt in Sonnenglanz getaucht liegt.
Die Ruine war schön. Altes Gemäuer, alte Bäume, die im Schloßhof stehn.
Hier ist auch noch ein alter, leerer Brunnen, und wenn man in ihn blickt, soll
man ganz, ganz unten sein Schicksal sehen. Ich habe nichts gesehen.
Es war spät, als wir heimkehrten, und ich von dem Onkel vor unsrer Tür
abgesetzt wurde. Walter erwartete mich an der Haustür, und es fiel mir auf, daß
seine Stimme nicht so herzlich klang wie sonst. Er war auch sehr blaß.
Was hast du? fragte ich, als wir zusammen im Eßzimmer standen, wo mir
das Mädchen Brot und Milch hingestellt hatte.
Er machte eine abwehrende Bewegung.
Laß das Fragen. Morgen will ich dir berichten, daß ich einen Verdruß
gehabt habe.
In diesem Augenblick klingelte es an der Haustür, und der Bote brachte eine
Depesche. Ich riß sie aus; denn Depeschen machen mich immer erregt.
Ist Harald bei euch? Seit heute früh suchen wir ihn vergebens. Ich starrte
noch auf die Worte, als mir Walter das Blatt aus der Hand nahm und es eben¬
falls las.
Ich fürchtete es schon, sagte er für sich.
Was ist geschehen?
Meine Stimme klang mir selbst fremd, und als Walter meine Hand faßte,
entzog ich sie ihm. Da drückte er mich sachte in einen Stuhl.
Es ist geschehen, daß sich Harald im Verein mit seinem Schulkameraden
Dreher seit einem Jahre wohl schon die Aufgaben, die er haben sollte, vor allem die
Extemporale, von Herrn Külpes Schreibtisch genommen und niemals ordentlich ge¬
arbeitet, sondern eigentlich nur abgeschrieben hat. In den letzten Tagen ist die
Geschichte herausgekommen, und zwar durch Dreher, der schließlich mit einem
Schlüssel um des Lehrers Pult gegangen ist. Herr Külpe ist gleich bei dir gewesen,
um dir die Sache zu berichten; er hat dich zweimal nicht getroffen. Heute nach¬
mittag war ich bei ihm, und er berichtete mir alles. Er ist sehr niedergeschlagen,
weil er sich selbst beschuldigt, nicht immer alle seine Papiere verschlossen zu haben,
und weil er hätte merken müssen, daß die Drehers ihn deswegen so billig im
Hause hatten, weil sie auf diese Art hofften, ihren Jungen durch die Klassen zu
bringen. Als ob er sein ganzes Leben nur abzuschreiben brauchte!
Walter sprach ganz ruhig. Dabei hielt er meine Hand und streichelte
sie leise.
Du sollst es dir nicht so schwer zu Herzen nehmen, Anneli. Harald ist ver¬
führt worden, und ich selbst schreibe mir einen großen Teil der Schuld zu. Ich
habe zuviel Wert darauf gelegt, daß er im Lateinischen vorwärts käme, und ihn
auch wohl einmal angefahren, wenn er es nicht tat. Wir müssen versuchen —
Ich unterbrach ihn. Harald hat mich ein ganzes Jahr belogen, mein eigner
Junge, dem ich immer sagte, daß ich die Lügner verachtete. Er konnte das übers
Herz bringen?
Walter nahm das Telegramm und hielt es mir unter die Augen.
Dreher wird ihn benachrichtigt haben, daß alles entdeckt ist. Wohin ist er
gelaufen?
Ja, Wohin war mein Junge, mein Stolz und meine Freude, der Lügner und
Betrüger, gelaufen? Ich schrie laut und wäre hingefallen, wenn mich Walter
nicht gehalten hätte. Das war das Ende dieses Tages.
Aber der Tag ist doch noch barmherziger als die Nacht mit ihren raunenden
Stimmen. Ich wanderte ruhelos durch die Räume meines Hauses und horchte
auf den Wind, der die Bäume rauschen machte. Hin und wieder flatterte ein
Vogel vom Nest, oder ein Käuzchen klagte leise. Ich horchte auf alles, und dann
stieg die Kindheit vor mir auf. Ich erlebte noch einmal die Nacht, wo meine
Kindheitsgenossin Christel von mir ging, um nie wieder zu kommen. Sie hatte
Torheiten begangen, und sie fürchtete die Strafe, sodaß sie den Tod suchte und
fand. An ihrem Grabkreuz hatte ich gestanden und hatte gebetet: Lieber Jesu,
bleib bei mir, sei du meines Lebens Zier. Steh mir bei im Erdenleide bis zur
co'gen Himmelsfreude.
Ich faltete die Hände und flüsterte die Worte vor mich hin. Lange, lange
hatte ich ihrer nicht gedacht. Ach, man vergißt so vieles.
Eine warme, kleine Zunge leckte mir plötzlich die Hand, und ein dicker kleiner
Körper drückte sich neben mich. Es war Haralds Hund, der in der Küche sein
Dasein fristet. In aller dieser Zeit habe ich ihn kaum gesehen und nicht an ihn
gedacht. Nun ist er plötzlich da, und ich nehme ihn auf den Schoß und horche
weiter auf die raunenden Stirium.
(Schluß folgt)
Man ist nachgerade daran gewöhnt, daß die Persönlichen Begegnungen der
Monarchen, Staatsoberhäupter und leitenden Staatsmänner lange Zeit vorher zu
den ausschweifendsten Phantasien und Kombinationen benutzt werden. Natürlich
hält der nachfolgende Verlauf der Ereignisse nicht immer, was diese Kombinationen
zu versprechen schienen. Aber darum bleiben die erwähnten persönlichen Be¬
gegnungen doch bedeutungsvoll als ein ganz der modernen Zeit angepaßtes poli¬
tisches Verständigungsmittel. Gegenwärtig ist das Oberhaupt der französischen
Republik auf einer solchen politischen Besuchsreise begriffen. Nachdem Präsident
Fallieres in diesem Jahre seinen offiziellen Besuch in London abgestattet hatte,
lag es im Sinne der französischen Politik nahe, daß er auch in Se. Petersburg
erschien. Und da eine Reise des französischen Staatspräsidenten nach Rußland
wegen der geographischen Unbequemlichkeit, die durch die Lage des Deutschen Reichs
gegeben ist, notwendig zur See erfolgen muß, so konnte ein Besuch bei den
nordischen Höfen, deren drei Throne in den letzten Jahren neu besetzt worden
sind, sehr einfach damit verbunden werden. Wir haben natürlich keine Ver¬
anlassung, über die Reise des Präsidenten Fallieres irgendwelche Beklemmungen
zu empfinden, da sie an der bestehenden Lage schwerlich etwas ändern wird. Daß
sie von deutschfeindlichen Kreisen zur Stimmungsmache benutzt wird, ist beinahe
selbstverständlich. Weniger selbstverständlich ist, wie plump das manchmal ange¬
fangen wird. So zog ein polnisches Blatt eine Parallele zwischen Frankreich und
Dänemark als zwei Länder, die beide durch einen unglücklichen Krieg wertvolle
Grenzprovinzen verloren hätten und so durch gemeinsame Trauer und gemeinsamen
Haß verbunden seien. Sehr angenehme Empfindungen wird die Art dieses Ver¬
gleichs zwischen der Großmacht Frankreich und dem kleinen nordischen Staat in
Frankreich selbst schwerlich hervorrufen, wenn man davon Kenntnis erhalten sollte.
Die französischen Blätter sind in ihrer Mehrzahl vernünftig genug, die Reise ihres
Präsidenten einfach als ein Symptom der friedlichen Gesinnung Frankreichs und
seines Vertrauens in die Weltlage zu kennzeichnen. In diese Betrachtungen
mischt sich mitunter der Ausdruck einer heimlichen Erwartung, die man andeuten,
aber doch um keinen Preis eigentlich eingestehn will. Man denkt nämlich daran,
daß die Hohenzollern, die deutsche Kaiserjacht, die den Kaiser von seiner Nordland-
sahrt heimwärts und dann wieder das Kaiserpaar nach Stockholm führt, dieselben
Gewässer zu passieren hat, durch die auch Fallieres den Kurs nimmt. Wie leicht
könnte es da eine Begegnung geben, ein Ereignis von einer gewissen pikanten
Merkwürdigkeit, gleichsam vom Zufall herbeigeführt und doch nicht ganz der Ab-
sichtlichkeit entbehrend, so ganz dem sonderbaren Verhältnis entsprechend, das hinter
dem offiziellen Haß Frankreichs gegen den Enkel des Siegers von sedem doch die
heimliche Liebe für die die gallische Phantasie seltsam lockende Persönlichkeit des
deutschen Herrschers hervorblicken läßt. Der Kaiser hat ja auch das manövrierende
englische Geschwader auf seiner Fahrt nach Norden unvermutet getroffen; wer weiß,
was sich noch weiter ereignen kann! In Deutschland freilich urteilt man sehr
kühl und skeptisch über diese jedenfalls von unsrer Seite nicht beabsichtigte Mög¬
lichkeit. Ja es würde sich wohl bei einer Umfrage herausstellen, daß die Mehrheit
der deutschen Bevölkerung eine Begegnung des Kaisers mit dem Präsidenten nicht
wünscht, gewiß nicht aus Feindseligkeit gegen Frankreich, sondern weil Proben
und Erfahrungen genügsam bewiesen haben, daß alle Versuche, die französisch-
deutscheu Beziehungen über den Charakter kühler Korrektheit hinauszuführen, ver¬
früht sind, und es darum besser ist, durch solche Vorgänge, wie es ein persönliches
Zusammentreffen der Staatsoberhäupter sein würde, keine Irrtümer herbeizuführen,
die vielleicht die Ursache unangenehmer Rückschläge werden könnten. Man muß die
Früchte reifen lassen; künstlich nachhelfen kann man da nur wenig.
Wir haben in unsrer letzten Betrachtung die mazedonische Frage soweit be¬
leuchtet, als sie in Beziehung zu der Gesamtpolitik der europäischen Großmächte,
insbesondre Englands steht. Noch nicht erwähnt sollen wir die ziemlich uner¬
wartet einsetzende jungtürkische Bewegung, die sich inzwischen zu großer Bedeutung
entfaltet hat. Und schon ist eine der merkwürdigsten Wirkungen eingetreten, an
deren Möglichkeit noch vor wenigen Tagen niemand gedacht hat, nämlich der Ent¬
schluß des Sultans, die seit einunddreißig Jahren nicht mehr beachtete Verfassung
wiederherzustellen.
Daß sich bei dem Versuch, die Autonomie Mazedoniens von der Pforte zu
ertrotzen, das türkische Selbstgefühl stärker als früher regen würde, war zu erwarten.
Als nun die ersten Nachrichten kamen, daß in Mazedonien und Albanien unter den
Truppen Unruhen ausgebrochen seien, daß höhere Offiziere von jünger« Untergebnen
ermordet worden seien, und daß die Bewegung den Charakter einer jungtürkischen
Verschwörung zeige, da schien die Auffassung berechtigt, daß die Einmischung der
europäischen Mächte und der beständig auf die Entschließungen des Sultans geübte
Druck die unmittelbare Ursache der Erbitterung sei. Das ist gewiß auch richtig,
aber es kommen weitere Ursachen einer tiefgehenden Unzufriedenheit und Erbitterung
hinzu, die in innerpolitischen Verhältnissen zu suchen sind. Das alte Übel der
türkischen Zivil- und Militärverwaltung, das in der unregelmäßigen Soldauszahlung
zum Ausdruck kommt, wird in neuerer Zeit immer schärfer empfunden, weil es den
türkischen Beamten und Offizieren durch ihre häufigere und nähere Berührung mit
Ausländer:? deutlicher bewußt wird. Man kann es ihnen nachfühlen, daß sie an¬
fangen, diese Verhältnisse als unwürdig zu empfinden. Und dabei wissen und
erfahren sie zur Genüge, wie an andern Stellen und zu andern Zwecken öffent¬
liche Gelder geradezu verschleudert werde». Noch drückender empfinden sie das
Spitzelwesen, dem sie ausgeliefert, von dem sie überall umgeben sind. Dabei sind
sie aber durchaus keine Revolutionäre; sie sind ihren« Glauben und dem Sultan
treu ergeben.
Was bei dieser ganzen Bewegung am meisten überraschte, das waren die An¬
zeichen, die auf eine lange, systematische Vorbereitung schließen ließen. Zuerst glaubte
man wohl noch, daß es sich nur um wenige Unzufriedne handle, die den Augenblick
zum Losschlagen für gekommen hielten. Nach wenigen Tagen war kein Zweifel
mehr, daß eine weitgehende Übereinstimmung bis in die Kreise der höhern Offiziere
hinein herrschte, daß es nicht vereinzelte Meutereien waren, sondern daß die maze¬
donischen und albanischen Armeekorps mit ihren Forderungen politischer Reformen
bittern Ernst machten.
Das war alles vorbereitet und im Werke gewesen, ohne daß die Späher¬
organisation, deren Fäden im Mdiz Kiosk zusammenlaufen, eine Ahnung davon
hatte, geschweige denn daß die Verantwortlicher Behörden etwas davon erfahren
und den Sultan unterrichtet hatten. Auf diese Erfahrung war — so scheint es —
Sultan Abdul Hamid denn doch nicht gefaßt, und man kann es sich Wohl denken,
daß er einen tiefen Eindruck davon empfing. Die nächste Folge war die Entlassung
des Großwesirs Fcirid Pascha, dem der Padischah das Vorgefallne wohl um so
schärfer anrechnen mochte, als Farid selbst Albcmese ist. Der neue Großwesir
Said Pascha — man hat ihn zum Unterschied von andern türkischen Staats¬
männern gleichen Namens immer den „kleinen Said", Kütschük Said, genannt —
wurde wahrscheinlich vom Sultan, dessen Vertrauen er nicht immer besessen hat,
deshalb gewählt, weil ihm der Ruf der Neformfreuudlichkeit und eines gewissen
Anglophilentums vorausging. Kütschük Said hatte in dem ersten türkischen Par¬
lament, das bald nach der Thronbesteigung Abdul Hamids 1876 unter dem Ein¬
fluß Midhat Paschas berufen und nach wenigen Monaten wieder heimgeschickt
worden war, dem Senat angehört; er galt als einer der Mitarbeiter an der da¬
maligen Verfassung. Damit bereitete der Sultan die Ankündigung vor, die wenige
Tage nach dem Wechsel im Großwesirat folgte: die Einberufung eines neuen Par¬
laments, vorläufig anscheinend auf Grund derselben Verfassung, die niemals förmlich
aufgehoben wurde, aber doch seit einunddreißig Jahren in der Versenkung ver¬
schwunden ist.
Wie wird dieser bedeutsame Schritt weiter verlaufen, und was für Folgen
wird er haben? Die Frage ist jetzt natürlich noch nicht endgiltig zu beantworten.
Aber dieser Entschluß des Sultaus zeigt jedenfalls, wie ernst er die Lage auffaßt,
wie er von der Überzeugung durchdrungen sein muß, daß sein bisheriges System
völlig versagt hat, und daß etwas Besondres und Entscheidendes geschehen muß,
um seine Autorität bei der Armee und das Vertrauen zwischen dem Hause der
Osmanen und den besten Elementen der türkischen Nation wiederherzustellen. Und
in dieser Erkenntnis hat der staatskluge und erfahrne Herrscher nicht einen Augen¬
blick gezögert, sofort ganze Arbeit zu machen und den Übergang zur konstitutionellen
Staatsform zu verkünden. Er weiß freilich auch, daß es den Jungtürken auf die
Verfassung selbst eigentlich gar nicht so sehr ankommt, wenn unter Festhaltung der
nationalen Rechte der Türken und der Integrität des Reichs das Vertrauen auf
die Abstellung der schlimmsten Mißbräuche befestigt wird. Denn die Jungtürken
wollen als entschiedne Mohammedaner und getreue Untertanen des Sultans die
aus dieser Stellung folgenden rechtlichen Grundanschauungen nicht erschüttert sehen;
sehr schwer jedoch ist das Recht des Korans mit den Rechtsgrundlagen des modernen
Verfassungsstaates in Einklang zu bringen. Man steht also noch vor manchem
Fragezeichen.
Näher geht uns freilich die Frage an, ob die Stellung der Mächte durch den
Entschluß des Sultaus eine Änderung erleidet. Einstweilen wird das nicht der
Fall sein. Wenn die ersten Nachrichten über die jungtürkische Bewegung den Ge¬
danken an eine europäische Intervention auftauchen ließen, so zeigte sich auch sehr
bald die allgemeine Abneigung gegen einen solchen Versuch. Seit aber die Ein¬
berufung eines türkischen Parlaments bekannt geworden ist, denkt erst recht niemand
daran, sich in diese Fragen einzumischen.
Das wirkt natürlich auch auf die allgemeine Lage beruhigend, und die
gleiche Wirkung darf man von der am 11. August in Homburg stattfindenden Zu¬
sammenkunft König Eduards mit Kaiser Wilhelm erwarten. Diese Begegnung wird
hoffentlich dazu beitragen, daß die in letzter Zeit wieder gelegentlich bemerkbare all¬
gemeine Spannung in der europäischen Lage nachläßt. Vorläufig wird dadurch
eine ganze Reihe von Kombinationen, die von Gegnern unsers Reichs angestellt
worden waren, Lügen gestraft.
Erst in der letzten Woche hatte ein Vorgang im britischen Oberhause in einem
Teil unsrer Presse und an der Berliner Börse eine Auslegung gefunden, die von
hochgradiger Nervosität zeugte. Wir meinen die kriegerischen Befürchtungen, die
Von Lord Cromer angeblich ausgesprochen worden sein sollen. Lord Cromer schwebt
uns immer noch vor als der Mann, der in Ägypten eine der schwierigsten Auf¬
gaben, die der Staatskunst und Kulturarbeit gestellt werden konnten, ruhmvoll und
glänzend gelöst hat. So hat man den Worten, die er jetzt als Mitglied des Ober¬
hauses gesprochen hat, unwillkürlich ein Gewicht beigelegt, das sie nicht haben.
Auch konnte die Deutung, die man ihnen gegeben hat, nur dadurch möglich werden,
daß man sie aus ihrem Zusammenhange riß. Lord Cromer hielt es für nötig,
darauf aufmerksam zu machen, daß sich der Staat in einer Zeit und einer Welt¬
lage, die an allen möglichen Spannungen reich ist und die Möglichkeit eines Welt¬
kriegs nicht ausschließt, nicht finanziell festlegen und sich nicht der Verfügung über
bedeutende Mittel begeben dürfe. Das ist eine Mahnung, die uns Deutschen so
selbstverständlich erscheint, daß, wenn sie ans dem Munde eines deutschen Politikers
kommt, wir kaum darauf achten und uns höchstens wundern, wenn ausländische
Stimmen darüber Unruhe verraten. Als uns jetzt die gleiche selbstverständliche
Mahnung, aus ihrem Zusammenhange gelöst, von einem englischen Staatsmann
berichtet wurde, glaubte man sie nicht anders deuten zu können als durch die
Annahme, Lord Cromer habe eine kriegerische Verwicklung in Aussicht stellen wollen.
Erst hinterher merkte man, daß man einen Gedanken aus dem Nebensatz in den
Hauptsatz gestellt hatte. Die allgemeine Behauptung, daß ein Großstaat immer
daran denken müsse, wie leicht sich in unsrer Zeit in kurzer Frist ein Zusammenstoß
verschiedner Interessen und damit ein kriegerischer Konflikt ergeben kann, wird bei
uns am allerwenigsten beanstandet werden können. Es fragt sich nur, zu welchem
Zweck und in welchem Zusammenhange dieser Gedanke ausgesprochen wird. Das
war in diesem Falle einfach genug. Im britischen Oberhause wurde der Gesetz¬
entwurf über die Altersversorgung beraten, und Lord Cromer war, wie gerade
in England viele der alten grundsätzlichen Freihandelsfreunde, der Meinung, daß
die soziale Fürsorge dieser Art über kurz oder lang zum Schutzzollsystem führen
müsse. Und da er weiter glaubt, daß das Schutzzollsystem die Möglichkeiten inter¬
nationaler Konflikte vermehrt, während die vom Staat übernommnen neuen Für¬
sorgepflichten große Kapitalien festlegen, so glaubte er von seinem politischen
Standpunkt aus die Warnung aussprechen zu müssen, der Staat solle die Mög¬
lichkeit, im Fall eines baldigen Krieges auch die Mittel zur Verfügung zu haben, nicht
aus dem Auge verlieren. Daraus den Gedanken abzuleiten, Lord Cromer habe
zum Kriege mit Deutschland treiben wollen, liegt nicht die geringste Veran¬
lassung vor.
Feindselige Treibereien gegen Deutschland gruppieren sich um andre Mittel¬
punkte. Besonders rührig ist in diesem Punkte die slawische Welt. Zwar hat der
allslawische Kongreß, der kürzlich in Prag tagte, ebenso wie die vorangehende Ver¬
sammlung in Se. Petersburg, betont, daß die slawische Gemeinschaft nur eine geistige
und kulturelle, keine politische sei, aber das wirklich einigende Prinzip dieser Be¬
wegung ist lediglich die Feindschaft gegen das Deutschtum, und diese findet ihren
Ausdruck doch zuletzt auf politischem Gebiete. Alles übrige ist mehr oder weniger
Verbrämung und Maske. Eine positive politische Verbrüderung aller Slawen ist
allerdings eine Utopie. Unter den Südslawen vertragen sich Serben und Bulgaren
nur schlecht, und bei dem Greifen nach der mazedonischen Beute fehlte schon vor
einigen Tagen nicht viel daran, daß sich die beiden „Brüdernationen" gegenseitig
an die Kehle sprangen. In Galizien werden die Ruthenen von den Polen ge¬
knechtet, und ob die Harmonie zwischen Polen und Tschechen allen Stürmen ge¬
wachsen ist, erscheint mindestens zweifelhaft. Was aber Polen und Russen an¬
langt, so sind die polenfreundlichen Anwandlungen der russischen Fortschrittler nnr
ein schlechter und ungenügender Beweis für den Ausgleich der so weit ausein¬
anderklaffenden Interessen. Der Dziennik Poznanski leitete kürzlich einen Abschnitt
seiner Betrachtungen über den Präger Kongreß mit den Worten ein: „Die Frage
der slawischen Solidarität ist in erster Linie eine polnisch-russische Frage. Solange
Rußland die Polen drangsaliert, ihnen jede Bewegungsfreiheit hemmt und ihnen
den Weg zur nationalen und kulturellen Entwicklung versperrt, kann offenbar von
Verständigung unter den Slawen nicht die Rede sein."
Die Brüderlichkeit, die in diesen Sätzen zum Ausdruck kommt, ist nicht sehr
groß. Aber man darf nicht vergessen, daß der Haß ein noch besserer Kitt ist als
die Liebe, und dasselbe Blatt, das das soeben angeführte Bekenntnis über die
Polnisch-russischen Beziehungen niederschrieb, pries erst vor kurzem das neuerwachte
Interesse für den Pcmslawismus als den Beginn einer Bewegung für die über
kurz oder lang bevorstehende weltgeschichtliche Auseinandersetzung zwischen Deutsch¬
tum und Slawentum. Man wird deshalb dieser Bewegung die größte Aufmerk¬
samkeit zuwenden müssen- _
Der Vorwärts hat dieser Tage an der Hand der von zwei
englischen Gelbbüchern veröffentlichten Daten über deutsche und englische Arbeiter¬
budgets Wiederuni Gelegenheit zu finden geglaubt, sich über die elende Lage der
deutschen Arbeiterschaft entrüsten zu dürfen. Diese Gelbbücher sind nun mittler¬
weile von der englischen Regierung selbst wieder aus dem Verkehr gezogen worden,
weil sich die darin veröffentlichten Angaben als zu unzuverlässig erwiesen haben.
Es ist in der Tat eine eigne Sache mit diesen sogenannten Haushaltungsbudgets,
es ist da willkürlichen Verallgemeinerungen Tür und Tor geöffnet. Wirklich ein¬
wandfreie Vergleiche über die Lage der Massen ermöglicht zurzeit nur die Steuer-
und Konsnmstatistik. Und gerade da ist in den letzten Wochen eine äußerst wert¬
volle englische Arbeit erschienen, die die Gelehrten des Vorwärts allerdings übersehen
haben. Diese Arbeit ist betitelt:
S. Rosen dann, ?ova Taxation in ins lluitsä XiiiAÄoirl, FiÄnos, Osrnian^
ana tds Ilnitoä Ltatss. i/ournal ok tus Ro^l Ltatistiosl Looist^, Vol. I,XXI,
?art 2. .luus 1908, xx. 319—380.)
Rosenbaum untersucht in sehr sorgfältiger Weise den Ertrag der Zölle auf
Kolonialwaren, Zucker, Tabak und Nahrungsmittel sowie die innere Besteuerung
von Getränken. Tabak und Nahrungsmitteln für die Jahre 1870, 1875, 1880,
1885, 1890, 1895, 1900, 1901 bis 1906 getrennt für das Vereinigte König¬
reich, Frankreich, Deutschland und die Vereinigten Staaten. Seine Hauptergebnisse
hat er auf Seite 358 zusammengefaßt. Danach betrug die Prokopfbelastung
in Pfund Sterling oder in Mark:
Eine weitere Übersicht (S. 360) weist den Steuerertrag aus Nahrungsstoffen
und Kolonialwaren, Getränken und Tabak nach. Die Prokopfrate stellt sich da
f
olgendermaßen dar:
Die Geringfügigkeit der Belastung von Getränken als: Bier, Wein, Brannt¬
wein und von Tabak in Deutschland gegenüber der in den andern verglichnen Staaten
leuchtet ohne weiteres ein.
Man könnte nun einwenden, daß vielleicht der Branntwein-, Bier- und Tabak¬
konsum in Deutschland infolge der „elenden Lage" der Volksmassen ein sehr geringer
ist. Dies ist nicht der Fall. Der Deutsche konsumiert vielmehr um 60 Prozent mehr
Branntwein als der Engländer oder Amerikaner; in Deutschland beträgt die Prokopfrate
an absolutem Alkohol 4 Liter, in England und Amerika je 2,3 bis 2,4. Auch der
Bierkonsum ist in Deutschland nur um ein geringes niedriger als in England (hier
115 bis 120, in England etwa 125 Liter), aber um ein Drittel höher als in
Amerika. In Frankreich spielt freilich der erhöhte Weingenuß eine große Rolle;
der Franzose hat den höchsten Alkoholkonsum. Was den Tabakkonsum anlangt, so
beträgt dieser in England nur 2 Pfund englisch — 0,9 Kilogramm auf den Kopf,
in Frankreich 1,1 bis 1,2 Kilogramm, in Deutschland dagegen 1,7 Kilogramm!
Joch Guyot hat in einer Diskussion zu dem Bericht von Rosenbaum bemerkt,
daß man in Frankreich die Belastung der Konsumenten infolge der Nahrungs¬
mittelzölle höher veranschlagen müsse. Man müsse annehmen, daß etwa 70 Millionen
Meterzentner Weizen in den innern Verkehr übergehn, woraus sich eine Belastung
von 350 Millionen Franken ergebe. Desgleichen würde durch die Fleisch- und
Viehzölle eine Belastung von etwa 150 Millionen hervorgebracht. Insgesamt
Müsse man also noch mit 500 Millionen Franken Mehrbelastung rechnen, woraus
sich etwa 13 Franken auf den Kopf der Bevölkerung ergeben.
Wenn man die Guyotsche Berechnung auf Deutschland überträgt, dürfte, weil
in Deutschland der Roggenkonsum den Konsum von Weizen um das Doppelte über¬
trifft, und der Roggen um etwa 10 Prozent geringer belastet ist, mit einer Mehr¬
belastung von höchstens 10 Mark auf den Kopf, die durch die Nahrungsmittelzölle
verursacht werden, gerechnet werden können.
Die Minderbelastung der deutschen Bevölkerung gegenüber der englischen und
der französischen ist also immerhin recht beträchtlich. Sie würde England gegen¬
über immer noch 4,7 Mark ans den Kopf der Bevölkerung, Frankreich gegenüber
10,60 Mark betragen.
In bezug auf die Union scheint allerdings eine Mehrbelastung vorzuliegen;
allein es ist zu beachten, daß die Verteuerung des Zuckers für den innern Konsum
durch die Steuern nicht voll erfaßt wird. Die gesamte Zuckersteuer hat in der
Union im Jahre 1906 52,6 Millionen Dollars betragen, während die Gesanit-
vertenerung durch den Zoll (der im Inlande produzierte Zucker zahlt keine Steuer,
desgleichen ist der Zoll für eingeführten kubanischen Zucker recht mäßig) auf
128 Millionen zu rechnen ist. Konsumiert worden sind in der Union im Jahre 1906
2,86 Millionen Tonnen Zucker. Rechnet man die Belastnngsmöglichkeit zu 2 Cents
für das Pfund (^ dem Zollsatze für eingeführten Rübenzucker), so sind das 128 Mil¬
lionen Dollar. Es würde sich also in Wirklichkeit eine Mehrbelastung von 3,67 Mark
auf den Kopf der Bevölkerung der Union herausrechnen lassen gegenüber den An¬
gaben von Rosenbaum. Desgleichen sind von Rosenbaum die außerordentlich hohen
Lizenzen, die die Getränkeverkäufer in Amerika bezahlen müssen, nur zu einem
kleinen Teil erfaßt: sie betragen nicht 1^ Millionen Pfund Sterling jährlich
(S. 353), sondern etwa 11 bis 11^ Millionen. Die Getränkelizenzabgaben er¬
höhen somit die Belastung des Amerikaners um weitere 2^ Mark, sonstige
Lizenzen (die 1902 etwa 19,8 Millionen Dollar einbrachten), um 1 Mark. Die
Gesamtbelastuug der Getränke und Nahrungsmittel des Amerikaners stellt sich also
ebenfalls auf über 25 Mark, d. h. auf den Betrag, den man für Deutschland im
ungünstigsten Falle, bei recht hoher Einschätzung der Wirkung der Getreide- und
Fleischzölle, finden könnte.
Der frühere national¬
soziale Abgeordnete von Gerlach hat in seiner Schrift „Die Geschichte des Preußischen
Wahlrechts" (Berlin, Buchverlag der „Hilfe", 1908) vielerlei Material aus den
Parlamentsberichten und andern Quellen zusammengetragen. Wenn wir den Fleiß,
den er darauf verwandt hat, gern anerkennen und ihm für seine Sammlung
dankbar sind, so müssen wir doch hervorheben, daß er eine geschichtliche Darstellung
ganz und gar nicht geliefert hat. Es fehlt ihm durchaus an historischem Ver¬
ständnis. Er beurteilt die Menschen nach seinem Maßstab und tänzelt sie ab, wenn
sie andrer Meinung sind, während es doch die Aufgabe des Historikers ist, in
erster Linie die Vergangenheit aus ihren Voraussetzungen zu verstehn. So berück¬
sichtigt Gerlach nicht, daß der klassische Liberalismus vou dem unbedingt gleichen
Wahlrecht nichts wissen wollte, auch der geheimen Abstimmung nicht sonderlich
geneigt war. In Gerlachs Augen sind die Liberalen, die dem von ihm gewünschten
Wahlrecht widersprechen, Abtrünnige oder wenigstens charakterschwache Menschen
(bezeichnend ist zum Beispiel die höhnische Art, mit der er sS. 95) Tochter be¬
handelt, weil er Bedenken gegen das allgemeine und direkte Wahlrecht geäußert
hat). Tatsächlich aber haben sie sich doch in vollkommner Übereinstimmung mit
ihren Parteigrundsätzen befunden. Amüsant ist es, daß Gerlach im Vorwort er¬
klärt, er habe nur eine kritische Materialiensammlung geben und seine eignen An¬
sichten in den Hintergrund treten lassen wollen. In Wahrheit drängt er diese
keineswegs „in den Hintergrund", sondern hält sie uns, wie ja auch schon aus
den erwähnten Urteilen über die angeblich abtrünnigen Liberalen hervorgeht, recht
dicht vor die Nase. Den Kartellreichstag von 1887 zum Beispiel nennt er „be¬
rüchtigt" (S. 104), obwohl doch ein andrer Ausfall der Wahlen damals Deutsch¬
land in große Gefahr gebracht hätte, und obwohl dem Siege der Kartellparteien
zweifellos auch — Herr von Gerlach selbst zugejubelt hat! Wenn aber nach seiner
Meinung sein mit so schroffen Urteilen vollgestopftes Buch noch keine „eignen An¬
sichten" enthält, wie muß dann erst ein Buch aussehen, dem er mit Bewußtsein
von Dr. Robert Forrer. Mit 3000 Abbildungen. Berlin und Stuttgart,
W. Spemann (1908). VIII und 940 Seiten Lexikonoktav. In diesem Werke hat
der Verfasser (in Straßburg) auf Grund langjähriger Studien ein ungeheures Material
in übersichtlicher Ordnung aufgehäuft, das das gesamte Altertum im weitesten Sinne,
nicht nur die sogenannte Prähistorie, sondern auch den antiken Orient, soweit dessen
Denkmäler zur Vergleichung in Betracht kommen, und auf der andern Seite die
sich aus dem Altertum entwickelnde frühchristliche Kultur bis zur vollen Begründung
der germanischen Herrschaft im Westen, dem Siege der Araber im Osten, also etwa
bis 650 n. Chr. zusammenfaßt. Die innere Berechtigung dazu sieht er darin, daß in
den letzten, an Entdeckungen so überaus reichen Jahrzehnten die bisherigen Grenzen
zwischen jenen lange getrennten Wissensgebieten gefallen sind, da man endlich dazu
gelangt ist, die sogenannten prähistorischen Altertümer mit Hilfe der sicher datierten
ägyptischen Denkmäler zeitlich einigermaßen zu fixieren. Ausreichende Literatur¬
angaben sind den einzelnen wichtigern Artikeln (über 2000) beigefügt, vor allem
aber eine Fülle von Abbildungen (im ganzen 3000), viele aus besondern Tafeln.
Manche sind zu klein, aber das sind meist solche, die man anderwärts leicht in
größerer Ausführung finden kann; die meisten erfüllen völlig ihren Zweck, viele
werden hier zum erstenmal veröffentlicht. In Einzelheiten einzugehn, ist hier un¬
möglich; jede Stichprobe zeigt die volle Sachkunde des Verfassers. Hier und da
wird sich ja auch eine Ausstellung machen lassen; so gibt der Artikel „Schiffe" von
dem antiken Seewesen namentlich der griechischen Blütezeit mit ihren ausgebildeten
Rndcrschiffen keine genügende Vorstellung, und auch das Abbildungsmaterial ist
hier unzureichend. Aber was will das sagen gegenüber dem unabsehbaren Reichtum
an Mitteilungen, vor allem über die prähistorische Zeit! Das Verdienst dieser Riesen¬
leistung, die der Verfasser ohne Mitarbeiter bewältigt hat, wird dadurch nicht im
mindesten verringert, und den Zweck, dem Spezialforscher einen raschen und klaren
Ü
Ober- und Nieder-Österreich, Steier-
mark, Körnten und Kram. Handbuch für Reisende von Karl Baedeker. Mit 66 Karten,
12 Plänen und 8 Panoramen. 33. Auflage. Leipzig, Verlag von Karl Baedeker, 1908.
Sobald die ersten Touristen in die Alpen schwirren und als Talschleicher oder
Gipfelstürmer frische Lebenskräfte und Erholung von den Strapazen der Winterarbeit
suchen, pflegt auch eine neue Auflage des Baedeker zu erscheinen. Die vorliegende
ist wieder an Seitenzahl bedeutend gewachsen (664), trotzdem ist das Buch härtlich
und verhältnismäßig leicht, da der Verlag sehr dünnes aber doch festes Papier ver¬
wandt hat. Die neuen Gebirgsbahnen sind schon berücksichtigt worden; so finden
wir die Tauernbahn von Gastein bis Spittal, die Bahn von Bruneck nach Taufers,
die Rittnerbahn und Virglbahn bei Bozen, die Nonsbergbahn von Trient bis Male
und zur Mendel. Auch zahlreiche neugebaute Alpenvereinshütten sind in den Führer
aufgenommen worden, z. B. das Hochalpenhaus im Karweudelgebirge, die Wormser
Hütte am Kapelljoch im Montafon, die Brandenburger Hütte auf dem Kessel¬
wandhoch in den Ötztnler Alpen mit dein Blick auf den gewaltigen Gepatschferner,
die Egerer Hütte beim Seekofel in den Südtiroler Dolomiten, die Westfalenhütte im
Lisenser Tal in den Stubaier Alpen usw. Daß auch die neuen Alpenstraßen, z. B.
die neue Dolomitenstraße, beschrieben sind, macht diese Ausgabe besonders wertvoll.
Die Freunde des Baedeker würden es aber lebhaft begrüßen, wenn der Herausgeber
dort schärfere Kritik übte, wo sie wirklich notwendig ist, vor allem bei vernach¬
lässigten Wegen und bei ungenügenden oder irreführender Bezeichnungen. Seit
Jahren schon klagen die Touristen zum Beispiel über die verwahrlosten Zugänge
zu einem der schönsten Aussichtspunkte, zur Hohen Salve; wir haben selbst den
Aufstieg von Söll gemacht und müssen gesteh«, daß hier wirklich eine Besserung
dringend nötig wäre. Aber wer soll die Kosten tragen? Vielleicht erbarmt sich
der Deutsch-österreichische Alpenverein einmal und nimmt sich der Hohen Salve
etwas an. — Der Artikel in den Grenzboten „Bayrische Verkehrsmisere" hat gute
Wirkungen gehabt; die darin gerügten Übelstände sind in dieser Reisesaison im
wesentlichen abgestellt worden. Wir bitten unsre Leser, uns von den Reisen und
Wanderungen ihre Erfahrungen und Beobachtungen über allgemeine Schäden mit¬
zuteilen. Eine Notiz in den Grenzboten pflegt in den maßgebenden Kreisen eine
ganz besondre Wirkung zu haben.
le Dreihundertjahrfeier von Quebecs Gründung erweckt in ganz
Frankreich ein lebhaftes Echo. Nicht als ob die Beziehungen
zwischen dem heutigen Kanada und Frankreich so überaus vor¬
treffliche wären. Gewiß nicht. Man kann sogar sagen, das;
sowohl die moralischen wie die materiellen, die geistigen wie die
Handelsbeziehungen keineswegs ungetrübte sind. Aber die Fülle der Er¬
innerungen, die bei dieser Gelegenheit geweckt werden!
Schon 1534 war ein Franzose Jacques Carlier den Lorenzstrom hinaus-
gefahren und hatte das umliegende Land Xonvells Vranos getauft. Aber
erst sehr viel spater, im Jahre 1608, begann die systematische Eroberung und
Kolonisiernng des Landes dnrch die Franzosen. Es ist hier nicht meine Ab¬
sicht, einen Abriß der kanadischen Geschichte zu geben. Nur darauf sei hin¬
gewiesen, daß zu den letzten Verteidigern des französischen Kanada gegen die
Engländer der Marquis de Montcalm gehörte, der gegen den damals besten
englischen General Wolfe 1759 die Schlacht von Quebec verlor. Wolfe selbst
wurde tödlich verwundet. Aber während er schon die Fittiche des Todes über
sich flattern spürte, kam ein Eilbote und kündete: General, die Franzosen
fliehen! Und Wolfe darauf mit dem letzten Aufwand seiner schwindenden
Kraft: Ich sterbe glücklich! Die Gegner waren einander wert. Das ist kein
Zweifel. Aber werden bei den Festen diese heroischen Kämpfe gefeiert werden?
Heute im Zeichen der IZntentg oorcliglö? symbolische Bedeutung hat es
sicher, daß zu den Schiffen der französischen Flotte, die zu den kanadischen
Festen geeilt ist, der stattliche Kreuzer Montcalm gehört. Aber die bei den
Festen anwesenden Franzosen werden ebenso sicher nicht vergnügt sein, wenn
sie von neuem hören müssen, wie leichtherzig damals die französische Re¬
gierung ihre schöne Kolonie aufgab, während sie zugleich sehen können, wie
treu und zähe die Nachkommen der französischen Kolonisten ihr altes Franzoscn-
tum bewahren.
Denn in der seit dein Pariser Vertrag von 1763 englischen Dominion
ok Oanacla bildet trotz der fabelhaften fremdländischen Einwcmdrnng das fran¬
zösische Element hente immer noch ein Drittel. Es bewohnt hauptsächlich den
Osten, dessen Hauptstadt immer noch Quebec ist, neben dem freilich Montreal
in die Höhe ging wie Barcelona neben Madrid. Mit Zähigkeit verteidigen
die französischen Kanadier, die hauptsächlich Ackerbauer sind, ihr Franzosentum
und ihre Überlieferung. Sie haben ihre französische Tagespresse und Wochen¬
schriften, in denen sich ein Französisch mit ungemein reizvollen Archaismen
und in Frankreich längst vergessenen und überholten Provinzialismen breit
macht. In Quebec erscheinen Loloil, Dvensmeut, D6 ?iW«z lernxs und I^v
Lainocli, in Montreal ?atris, ?rs880, I^v .lournal und Ds Lanacla.
Und wie sie schreiben, so singen sie. Welch eigentümliches Gefühl muß
den heutigen Franzosen beschleichen, der Kanada bereist, wenn er hier die
längst vergessenen Laute seiner eignen Vergangenheit im täglichen Verkehr
heutiger Menschen hört. Wie wenn uns Deutschen plötzlich einer entgegen¬
träte, der mittelhochdeutsch redete! In Kanada singt man die alten Lieder,
die sich durch viele Jahrzehnte unentwegt erhielten, während sie in Frankreich
längst andern Platz machten und hier nur noch im Gedächtnis der ältesten
Großmütter von heute existieren! Man kann es begreifen, daß ein Franzose
bis zu Tränen gerührt wird, wenn ihm bei einem Spaziergang irgendwo
ans einem Hause ein Lied entgegenschallt, wie dieses:
und die Antwort ertönt:
Und der Anfang des fröhlich-spöttischen Hochzeitsliedchens, das allerdings
anch noch in den entlegnen Gegenden der Normandie und der Bretagne, wenn
auch nicht mehr in Paris, gesungen wird:
Ganz in die Melancholie der alten Volkslieder ist auch die OI.iirs-I'ontiunL getaucht:
Doch wozu noch Beweise liefern. Ganz französisch Kanada ist voll schöner
alter französischer Volkslieder, wie man sie im Stammland nur noch in den
entlegensten Örtchen der savoyischen Alpen oder der Normandie findet.
Und wie sie singen, so sprechen sie! Ein Pariser von heute, der vor
seinen kanadischen Stammesgenossen redet, erregt bei ihnen allgemeine Heiter¬
keit, wie der aufgeputzte Salontiroler Defreggers bei seinen bäurischen Vor¬
bildern. Aber nicht nur das, es klafft überhaupt ein ungeheurer Riß zwischen
dem heutigen Kanadier und dem heutigen Franzosen, besonders dem Pariser.
Der Riß wurde aufgetan durch die große Revolution. Die Kanadier blieben
vorrevolutionäre Franzosen mit den alten Idealen und Vorurteilen der fran¬
zösischen Königsperioden, und die Franzosen von heute sind alle mehr oder
weniger, selbst die reaktionärsten, Kinder der Revolution, die ihren Geist
völlig umgewandelt hat. So sprechen Kanadier und Franzosen heute immer
noch mit archaistischer Palma oder in moderner Abschleifung dieselbe Sprache,
aber sie verstehn sich nicht mehr. Die ganze Liebe, die die Kanadier für
Frankreich zeigen, ist eine platonische, ist pietätvolle Verehrung für die eigne
große Vergangenheit, während sie die heutigen Franzosen als ganz und gar
entartete Vettern betrachten.
Daß bei den französischen Kanadiern, die heute noch ein Drittel der Be¬
völkerung bilden, die aber trotz ihrer Fruchtbarkeit in ferner oder naher Zu¬
kunft von den fremden Elementen vollkommen überwuchert und aufgesogen
werden dürften, nicht der leiseste Wunsch einer politischen Rückkehr zum heutigen
Frankreich besteht, ist ganz zweifellos. Ihre berufensten Vertreter haben
darüber niemals das geringste Dunkel gebreitet. Vom ersten bis zum letzten
unterschreiben alle französischen Kanadier die Formel Crcmazies: ^Idiom, notre
K>i, 1a?rÄnvö, roer.6 oosur! Und wenn ein hochgestellter Kanadier auf einem
Bankett kürzlich erklären konnte: „Unsre Seele ist französisch geblieben, weil
wir stolz sind, die Franzosen Amerikas zu sein. Auf diesen Namen verzichten
wir nicht. Wir halten an Frankreich mit allen Fibern unsers Herzens.
Und wäre Frankreich die letzte der Nationen, so würden wir dennoch sagen:
Wir gehören dir!", so ist das platonisch, und Wilfried Laurier hat alle seine
Stammesgenossen hinter sich, wenn er den Franzosen in ihrem eignen Lande
rundweg Versichertc: „Wir bleiben der großen Nation treu, die uns die Freiheit
brachte." Das ist England.
Weiter kann man sagen: Seitdem in Kanada der alte Rassenhaß voll¬
kommen verschwunden ist, seitdem protestantische Ungko-Saxonen und katholische
Franzosen einträchtig nebeneinander leben, fällt für diese ein weiterer Grund
weg, einen Wechsel der politischen Zugehörigkeit zu wünschen. Die östlichen
französischen Kanadier, denen man ihr enges und engherziges Familien- und
Cliquenwesen vorwarf, und die früher die heftigsten Gegner der Einwandrung
in den Westen waren, widersetzen sich nicht mehr, seit sie selbst erkannten, daß
die Blüte des kanadischen Westens anch ihnen zugute kommt.
Und dann darf man nicht vergessen, daß ihnen das straff zentralisierende
und infolgedessen auf der kolonialen Peripherie schwer lastende französische
Verwaltungssystem ein Greuel ist. Sie würden mit deu heutigen Franzosen
einen Krieg aufs Messer führe», wenn sie französische Kolonie würden. Wie
sollten sie auch mit dem modernen atheistischen Frankreich zusammengehn können,
sie, die stockkatholisch und erzklerikal geblieben sind! Quebec war 1760 das
uubestrittne Besitztum der Jesuiten. Und heute ist die ganze Provinz das Dorado
des Katholizismus. Der Klerus ist ungeheuer reich und mächtig, weil er sich
seine Dienste gut bezahlen läßt und nichts, selbst nicht die letzte Ölung für einen
Sterbenden leistet, ehe das Geld im Kasten klingt. Heißt doch noch hente
ein Gebet im kanadischen Katechismus:
Di'vit« se <Z!mW tu pA/siA»
^ KMsillsut!
Und zu den Zehnten kommen die unausgesetzten Sammlungen in der Gemeinde,
die fabelhaftes Geld bringen. Die Hälfte der Stadt Montreal gehört heute
den Sulpizianern. Und die andre Hälfte zahlt für sie die Steuern. Als vor
einiger Zeit ein paar Laien doch die Kühnheit hatten, sich gegen diesen groben
Mißbrauch zu stemmen und ihre Mitbürger gegen ihn aufzureizen, wurde ihnen
von sieben Bischöfen sofort mit der Exkommunikation gedroht. Und der Emanzi¬
pationsversuch fiel kläglich ins Wasser. Mönche und Nonnen arbeiten ebenfalls
eifrig im Weinberg des Herrn: die Häuser des in Frankreich berüchtigten „Guten
Hirten" waschen und platten, und die Trappisten fabrizieren Alkohol. Nach der
Einführung der Waldeck-Rousseauschen Gesetze, die in Frankreich die Klöster
aufhoben und die klerikalen Schulen schlössen, fanden ganze Schwärme von
Mönchen und Nonnen liebevolle Aufnahme in Kanada. Überall fanden
sie bereitwilliges Entgegenkommen, um Klöster zu gründen. Überall auch
gründeten sie sofort Schulen, um sich die nächste Generation zu sichern, selbst
in den allerkleinsten Dörfern, wo sie dann die einzigen Lehrer wurden und
sogar sehr häufig die Kinder protestantischer englischer Kanadier in ihre Schule
. bekamen. So stemmt sich denn auch der kanadische Klerus mit Händen und
Füßen gegen die französische Eiuwandrnng. Denn aus dem gottlosen Frankreich
von heute kaun nur unheilvolles Gift für die frommen Kanadier kommen.
Höchstens dulden sie noch die Bretonen, wenn sie recht verbohrt klerikal sind
und außer ihrem Dialekt kaum ein bißchen Französisch radebrechen. Sonst aber
sind ihnen die modernen Franzosen vom Teufel besessene Sträflinge. Und ihre
Literatur erst! Musset und Renan sind verboten. Zola ist verpönt. Sogar
Brünettere ist nicht einwandfrei. Und was die politischen Führer des heutigen
Frankreichs betrifft, so sind Combes und Clemenceau die reinen Gottseibeiuns.
Den jungen Seminaristen, die Europa besuchen, verbieten die kanadischen Erz-
bischöfe, die alle Macht in den Händen haben, sich in Frankreich, vor allem
in Paris, aufzuhalten. Sie befehlen ihnen, stracks nach Rom zu fahren. Man
kann hinzufügen, daß die Pariser freidenkende Presse den klerikalen Kanadiern
ihre freundlichen Gefühle für das moderne Frankreich mit Zinsen zurückgibt
und ihrerseits die Franzosen vor der Auswcmdrung nach Kanada warnt. Und
wenn auch die kanadische Wissenschaft durchaus französischen Ursprungs ist — denn
die Mole- xolMollnique von Montreal wurde von dem Franzosen Batate ge¬
gründet —, so bestehen doch zwischen dem heutigen Frankreich und den Kanadiern
fast gar keine geistigen Wechselwirkungen.
Aber selbst die wirtschaftlichen Beziehungen sind nicht sehr erfreulich. Der
kanadisch-französische Handel ist allerdings noch nicht alt. Man kann sagen,
daß Kanada den Franzosen unter dem zweiten Kaiserreich so gut wie unbekannt
war. Erst als nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs aus Kanada eine
starke Sympathiekundgebung wie eine hochgehende Welle über den Ozean
herüberkam, ward Neu-Frankreich den Franzosen sozusagen wieder enthüllt.
Aber einigermaßen bedeutsame Handelsbeziehungen zwischen Kanada und
Frankreich begannen trotzdem erst im Jahre 1900. Bis dahin mußten die
zwischen beiden Ländern ausgetauschten Waren auf Umwegen über England
oder Holland transportiert werden, da keine direkte Verbindung zwischen
Frankreich und Kanada bestand. Und das war namentlich gegenüber den eng¬
lischen Vorzugszöllen für den französisch-kanadischen Handel geradezu tödlich.
Direkte Schiffahrtslinien wurden erst seit 1900 eingerichtet, und seitdem steigert
sich der Handel. Denn wenn die Kanadier auch keinen Franzmann leiden
können, so mögen sie ihre Luxuswaren doch gern. Immerhin bleibt selbst heute
der Handel noch in bescheidnen Grenzen. Er beträgt knapp 50 Millionen, während
sich das Gesamthandelsbudget Kanadas schon ans 3 Milliarden belüuft. Daran
ist wesentlich die geschäftliche Kaltblütigkeit der Kanadier schuld, die durch keine
sentimentalen Erwägungen beeinflußt wird. Und wenn die Pariser anch vom
höhern Standpunkt der Rasse und Stammesverwandtschaft aus den Kanadiern
manches verzeihn, selbst die Tatsache, daß die Bischöfe aus religiösen Gründen
kanadischen Ärzten verbieten, sich an der Pariser Universität weiter zu bilden,
so wollen sie doch vor einem nicht die Segel streichen, nämlich der rücksichts¬
losen Zähigkeit, mit der die Kanadier ihren geschäftlichen Vorteil zu wahren
verstehn. Das hat sogar zu recht mißlichen handelspolitischen Beziehungen
zwischen den beiden Ländern geführt. So lange überhaupt der modus vivencli
von 1893 bestand, war an eine wesentliche Besserung nicht zu denken, zumal
als der darauf gepfropfte neue berühmte, vielleicht berüchtigte kanadische, haar¬
spaltend spezialisierende Zolltarif die Lage nur noch verschlimmerte. Im ver¬
gangnen Jahre wurde aber doch nach langen und mühsamen Verhandlungen,
bei denen die Kanadier zäh an ihren Vorteilen festhielten, unter persönlicher
Mitarbeit und Anwesenheit zweier kanadischer Minister in Paris ein neues
Handelsabkommen zustande gebracht, das eine neue Ära der französisch-kanadischen
Handelspolitik heraufführen soll. Aber seit einer ganzen Reihe von Monaten
liegt der Entwurf schon dem französischen Senat vor, der sich, weil nach seiner
Ansicht die französischen Interessen geopfert werden, sträubt, das Abkommen
zu bestätigen und damit endgiltig einzuführen, da sich alle übrigen Instanzen
bereits entschieden haben. Darob scheint nun in der Regierung der Dominion
eine böse Erregung zu herrschen. Man verliert dort die Geduld und hat in
diesen Tagen schon mit der Aufhebung des inoäus vivenäi von 1893 gedroht,
wie die Tagespresse meldete. Das wäre dann die erfreuliche Aussicht auf
einen erbitterten Zollkrieg! Und zugleich eine sehr mißtönende Begleitmusik zu
den dichterischen und sentimentalen Ergüssen über Stammesverwandtschaft zwischen
Kanadiern und Franzosen, an denen es auf den Festen von Quebec nicht
fehlen wird.
l er Sieg Bismarcks im Wahlkampfe vom Februar 1849 war
wesentlich dadurch gewonnen worden, daß man es bis in die
liberalen Kreise Brandenburgs für notwendig hielt, nach der Ver¬
leihung der Verfassung die Krone gegen weitere demokratische
> Angriffe zu schützen.
Der besiegte Wahlkandidat Ziegler wurde für seine Niederlage dadurch
entschädigt, daß man ihn in Berlin wählte, und die Brandenburger Demokraten
feierten diesen Erfolg durch einen Fackelzug. Im übrigen war die Linke sehr
erbittert, daß ein Mitglied der äußersten Rechten der Sieger war, und nahm
sogleich den planmäßigen Preßkampf gegen Bismarck auf. Indem die Bezirks¬
vereine die Reden, die er im vereinigten Landtage gehalten hatte, und seine
Abstimmungen nach den stenographischen Berichten veröffentlichten, suchten sie
die liberalen und die gemüßigt konservativen Wähler von ihm abwendig zu
machen, wie es scheint nicht ohne Erfolg. Mußte doch in der Tat eine genauere
Kenntnis der bisherigen politischen Tätigkeit Bismarcks die Brandenburger
Wähler davon überzeugen, daß sein Standpunkt ein extrem konservativer war
und vielen liberalen Lieblingsmeinnngen der Zeitgenossen direkt ins Gesicht
schlug. Bismarck versäumte nicht, auf diese Veröffentlichungen der Branden¬
burger Vezirksvereine zu antworten. Er übersandte seinem politischen Kampf¬
genossen, dem Bürgermeister Brandt, eine Erwiderung, die am 3. Mürz 1849
im Brandenburger Anzeiger erschien. Bismarck dankte darin dem Zentralausschuß
der Bezirksvereine ironisch dafür, daß er sich bemüht habe, eine genauere
Bekanntschaft zwischen den Wählern des Bezirks und ihm einzuleiten. Die
vollständigste Öffentlichkeit aller seiner politischen Handlungen entspräche durchaus
seinen Wünschen. Er bestätigt und vervollständigt die Angaben des Artikels
über seine Abstimmungen. Indem er dann mit freudiger Genugtuung davon
Kenntnis nimmt, daß auch die Bezirksvereine das Vertrauen des Wahlkörpers
anerkennten, das ihn zum Volksvertreter berufen habe, schließt er:
„Ich werde es mit Dank erkennen, wenn der Zentralausschuß, seinem
Versprechen gemäß, fortfahren will, auf genaue Schilderung meiner politischen
Vergangenheit ein engeres Verhältnis zwischen den Urwähleru und mir zu
begründen, und gebe mich der Hoffnung hin, daß die Bezirksvereine selbst bei
dieser Gelegenheit die Überzeugung gewinnen werden, daß ich stets ohne
Menschenfurcht öffentlich ausgesprochen habe, was ich glaubte, vor meinem
Gewissen und meinen Wählern verantworten zu können, eine Richtung, in
der ich mich auch jetzt mit Gottes Hilfe erhalten werde!"
Wenn der Abgeordnete hier vornehm und höflich, aber mit überlegner
Ironie die Gegner abfertigt, so besteht doch kein Zweifel, daß die Demokratie
in diesen Mitteilungen ein sehr wirksames Mittel gefunden hatte, die Beliebtheit
Vismarcks in Brandenburg zu untergraben.
Verschärft wurde die Entfremdung zwischen dem Abgeordneten und einem
Teil seiner Wähler durch seine Haltung in der deutschen Frage.
Bismarck hat ja nicht nur im Landtage vom Februar bis April 1849
gegen den Strom schwimmend die Ziele der Liberalen rücksichtslos bekämpft,
sodaß man in ihm seit jener Zeit den verwegensten Vertreter des Junkertums
sqh, nein am ärgsten hat er doch die Gefühle der deutschnational gesinnten
dadurch verletzt, daß er sich damals den Träumen entgegenstellte, die Einheit
des deutschen Reichs könne von Preußens König durch Annahme der Frank¬
furter Verfassung hergestellt werden. Als am 21. April in der zweiten Kammer
trotz der Ablehnung der deutschen Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm den
Vierten der Antrag gestellt wurde, den König um Änderung seines Entschlusses
und Anerkennung der von der deutschen Nationalversammlung vollendeten
Reichsverfassung zu ersuchen, trat Bismarck diesem Antrage entschieden entgegen.
Er meinte, Preußen solle lieber Preußen bleiben, als daß es von den Frank¬
furter Theoretikern Gesetze annähme, und begründete schließlich seine Ansicht
durch ausdrückliche Berufung auf seine Eigenschaft als Abgeordneter der Stadt
Brandenburg. Er sagte: „Ich habe als Abgeordneter die Ehre, die Kur- und
Hauptstadt Brandenburg zu vertreten, welche dieser Provinz, der Grundlage
und Wiege der preußischen Monarchie, den Namen gegeben hat, und fühle mich
deshalb um so stärker verpflichtet, mich der Diskussion eines Antrags zu wider¬
setzen, welcher darauf hinausgeht, das Staatsgebäude, welches Jahrhunderte
des Ruhms und der Vaterlandsliebe aufgebaut haben, welches von Grund auf
mit dem Blut unsrer Väter gekittet ist, zu untergraben und einstürzen zu lassen.
Die Frankfurter Krone mag sehr glänzend sein, aber das Gold, welches dem
Glänze Wahrheit verleiht, soll erst durch das Einschmelzen der preußischen
Krone gewonnen werden, und ich habe kein Vertrauen, daß der Umguß mit
der Form dieser Verfassung gelingen werde." Es sind dies Worte, denen
die spätern ergänzenden im September 184-9 zur Seite zu stellen sind: „Wir
alle wollen, daß der preußische Adler seine Fittiche von der Memel bis zum
Donnersberge schützend und herrschend ausbreite, aber frei wollen wir ihn sehn,
nicht gefesselt durch einen neuen Regensburger Reichstag und nicht gestutzt
an den Flügeln von jener gleichmachenden Heckenschere aus Frankfurt."
Heute, wo wir eine tiefere Erkenntnis der damals miteinander ringenden
Gegensätze gewonnen haben, vermögen wir den Gedankengang Bismarcks
einigermaßen zu verstehen. Wenn die unitarisch empfindenden liberalen Politiker
der Paulskirche, die Friedrich Wilhelm dem Vierten die Kaiserkrone anboten,
allen Ernstes daran gedacht haben, Preußen zum Heile Deutschlands in seine
Provinzen zu zerschlagen, ihm kein Sonderparlament z» gestatten, seine Ne¬
gierung nach Frankfurt am Mai» übersiedeln zu lassen und den Schwerpunkt
der Macht in das vom Volke gewählte Parlament zu verlegen,*) so können
wir uns denken, daß sich der stolze Preuße Bismarck solchen Absichten mit
aller Wucht entgegenwarf. Auch mag er mit weitem Blick den Augenblick für
eine Einigung Deutschlands durch Preußen noch nicht für gekommen gehalten
und diese Rolle einem siegreichen, nicht einem durch die Revolution geschwächten
Hohenzollernstacit gewünscht haben. Aber die wackern Deutschen jener Zeit
hörten aus jenen Worten nur verbissenen preußischen Partikularismus, fanden
sich in ihren heiligsten Gefühlen gekränkt und stimmten dem edeln Rheinländer
von Beckerath zu, der mit zornigem Kummer Bismarck Deutschlands Verlornen
Sohn nannte.
35 Brandenburger liberale Wahlmänner erließen in der Vossischen Zeitung
vom 28. April eine Erklärung, die Stadt Brandenburg verdanke lediglich dem
Umstände, daß sie in einem überwiegend ländlichen Wahlkreise gelegen sei, der
Bismarck mit ganz knapper Mehrheit gewählt habe, die historische Merkwürdig¬
keit, von diesem Führer der äußersten Rechten vertreten zu werden. Die politischen
Ansichten des Herrn von Bismarck seien keineswegs die der Mehrzahl der
Brandenburger Bevölkerung; die 35 Unterzeichneten gehörten der volkstümlichen
Partei an und hätten gegen Bismarck gestimmt. Die Zahl der Brandenburger
Wahlmänner einschließlich des Doms betrage 68, sodaß also nur die Minder¬
heit von höchstens 33 Wahlmünnern für ihn eingetreten sei, und auch der
Erwartung dieser Männer entspräche die Haltung des Abgeordneten vermutlich
nicht. Wirklich erfolgte damals ein merklicher Umschwung der Stimmung unter
den gemäßigt Liberale» und den Konservativen Brandenburgs gegen Bismarck.
Als die zweite Kammer in jenen Tagen (April 1849) aufgelöst wurde, weil sie
die Verlängerung des Belagerungszustandes in Berlin für ungesetzlich erklärt
und die Anerkennung der deutschen Reichsverfassung gefordert hatte, und als nun
die Neuwahl mit einem veränderten Wahlsystem, dem jetzigen, nach drei Klassen
und unter öffentlicher Stimmabgabe erfolgte, fand die Wiederwahl Bismarcks
große Schwierigkeiten, obwohl doch die Veränderung des Wahlmodus ihm
günstig sein mußte. Er wandte sich mit einem Flugblatte an seine Wähler,
das in seiner einfachen volkstümlichen Sprache vor allem auf die Bauern
berechnet war. Er erklärt die Auflösung der Kammer durch den König, wozu
er nach der Verfassung das Recht habe, für geboten, weil die Zustände in der
Kammer unhaltbar gewesen seien. Das Haus sei in zwei ziemlich gleiche Hälften,
eine regierungsfreundliche und eine oppositionelle, gespalten gewesen, zwischen
denen ein Dutzend Männer den Ausschlag gaben. Die Kammer habe nur
geringe positive Arbeit geleistet, dagegen durch zahllose Interpellationen und
siebzig zeitraubende namentliche Abstimmungen unendlich viel Zeit vergeudet. Auch
die Erörterung der Frage, ob der König die deutsche Kaiserkrone annehmen
solle, einer Frage, die zu entscheiden dem Herrscher allem zustünde, und die er
zum Wohle seiner Preußen ablehnend entschieden habe, habe die Kammer in
die Hand genommen, teilweise in ehrgeizigen Absichten. So sei man nicht dazu
gekommen, die Not des Landes zu lindern, und es diene zum Wohle des
Staats, wenn die Kammer aufgelöst würde, damit Männer gewählt werden
könnten, die nicht darauf ausgingen, die Minister zu stürzen, um sich an ihre
Stelle zu setzen, sondern den innern und äußern Frieden des Landes zu be¬
fördern trachteten.
In der Landbevölkerung fand dieser Rechenschaftsbericht willige Hörer.
Aber in Brandenburg trat unter deu bisherigen Anhängern Bismarcks eine
Spaltung ein. Die gemäßigten konservativen und liberalen Elemente der Stadt
schlössen sich zu einem Bürgerverein für konstitutionelle Wahlen zusammen, der
das Wohl des ganzen Volks und die Erhaltung der konstitutionellen Grund¬
festen des Staats durch Besonnenheit auf ihre Fahne schrieb. Diese Gruppe
stellte an Stelle von Bismarck den Geheimen Finanzrat Pochhammer als
Kandidaten auf. Vergebens trat der Rittmeister von Loebell, der Vater des
jetzigen Unterstaatssekretärs im Reichskanzleramt, warm für den bisherigen
Abgeordneten ein. Er hob hervor, daß sich Bismarck als ein treuer Anhänger
des konstitutionellen Königs und ein wohlmeinender Freund aller Stände be¬
wiesen habe, und daß die Ehre der Patrioten erfordere, „diesen ehrenwerten,
mutvollen, kräftigen, kenntnisreichen Mann wieder zu wählen, dem die Verhält¬
nisse der Städte sowohl als des Landes gemalt bekannt seien". Umsonst! In
Brandenburg blieb nur der patriotische Verein unter Barschall Bismarck treu
und wirkte für den Angegriffnen durch öffentliche Kundgebungen. Aber es gingen
ihm doch fast alle Brandenburger Stimmen verloren, und er schrieb am 20. Juli
seiner Gattin von dort, seine Wahl hier sei sehr unwahrscheinlich, da man,
nachdem man die Roten unschädlich gemacht habe, min um so mehr Sorge vor
der Reaktion habe. Die Demokraten brächten die ärgsten Räubergeschichte» über
ihn unter die Bauern, schwärzten ihn als einen teuflischen Wüterich an, und
bei seinem Namen gehe den gläubigen Hörern ordentlich el» Gruseln von oben
runter, als wenn man gleich ein paar altprenßische Fnchtelhicbe übergezogen
erhalten sollte.
Da wurde die Stellungnahme der Rathenower Wahlmänner für Bismarck
wichtig. Seit der ersten Wahl, die in Nathenow für ihn ungünstig ausgefallen
war, hatte er dort sichtlich Boden gewonnen. Der Magistrat hatte sich an ihn
gewandt, um durch seinen Einfluß der Stadt Vorteile zuzuwenden, und Vismnrck
benutzte dies, um nähere Beziehungen zur Gemeinde zu gewinnen. Vor der
Wahl erschien er dann in Nathenow, wahrscheinlich am 21. Juli, und wußte
die in Bölkes Gewächshause versammelten Wahlmänner durch eine schlichte und
markige Wahlrede für sich zu gewinnen. Ein Zeitgenosse hat diese Wahl¬
versammlung und ihre Nebenumstände sehr launig erzählt. Es entwickelt sich
da zwischen dem Gutsherrn von Schönhausen und dem in Politik reisenden
Holz- und Strohhändler Heidepriem aus Schollehne ein sehr ergötzliches Wort¬
gefecht, in dem der politische Strohhändler natürlich den kürzern zieht. Die
Wogen müssen aber damals in dem Städtchen sehr hoch gegangen sein, denn
als Bismarck im offnen Wagen den Ort verließ, traf ein wohlgezielter Stein¬
wurf aus der Mitte der wütenden Volksmenge seinen Arm, eine Verwundung,
an die sich der alte Kämpe noch nach vielen Jahren erinnert hat. Jedenfalls
kamen ihm aber die 22 Stimmen der Rathenower zugute. Am 28. Juli 1849
wurde Bismarck wieder mit knapper Majorität neben seinem Gegner Pochhammer
gewählt. Nach den amtlichen Wahlakten des Ministeriums des Innern erhielt
von 318 anwesenden Wahlmännern Bismarck bei der ersten Abstimmung
172 Stimmen, gegenüber 144 für Pochhammer abgegebnen, während bei der
zweiten Abstimmung Pochhammer mit 208 Stimmen gegen 99 für Assessor
Bindewald gezählte durchdrang.
Der König nahm an dem Wahlergebnis lebhaften Anteil. Als der
Herrscher im Oktober 1849 nach Brandenburg kam, um die neunte Säkular¬
feier des Doms zu begeh« und das 1848 zu deu Sitzungen der National¬
versammlung benutzte Gotteshaus neu zu weihen, lud er den Abgeordneten
von Bismarck-Schönhausen zu dieser von großem Jubel des Volkes begleiteten
Feier, und als bei dem Festmahle, zu dem auf des Königs Wunsch alle
Schulzen und Pfarrer aus den Dörfern des Domstifts eingeladen worden
waren, der Monarch auf die alte, getreue Kur- und Hauptstadt Brandenburg
trank, stellte Bismarck der Königin die wackern Dorfschulzen vor, die sich um
seine Wahl besonders verdient gemacht hatten.
Anfang 1850 wurden dann auch die Wahlen für das Volkshaus des
deutschen (Ünions-) Parlaments in Erfurt ausgeschrieben, wo der deutsche
Unionsverfafsungsentwurf beraten werden sollte, und Bismarck wurde in seinem
alten Wahlbezirk, wie es scheint, ohne Schwierigkeit gewählt, obwohl gerade
damals in der Zcmche über revolutionäre Unruhen auf dem Lande geklagt
wurde. Während aber die Verhandlungen in Erfurt, wie es scheint, leine
Veranlassung zur Verständigung zwischen dem Abgeordneten und seinen Wählern
gegeben haben, hat der Tag von Olmiitz einen lebhaften Meinungsaustausch
des Einverständnisses zwischen Bismarck und den Politikern der Zauche und
Westhavellands hervorgerufen.
Preußen hatte bekanntlich damals vor den Kriegsdrohungen Österreichs und
Rußlands kapituliert, auf alle seine Unionspläne verzichtet und seine Truppen
aus Hessen herausgezogen, die den Kurfürsten am Vcrfassungsbruch hatten
hindern sollen. Für diese Politik des Ministeriums Manteuffel hat Bismarck
im preußischen Landtage sehr im Gegensatze zu dein Prinzen von Preußen,
dessen soldatischer Sinn den Rückzug aufs schmerzlichste empfand, seine be¬
rühmte Rede vom 3. Dezember 1850 gehalten, die man trotz ihrer glänzenden
Anlage nur mit gemischten Gefühlen lesen wird. Der Mann, der uns später
von Österreichs Bevormundung befreien sollte, rechtfertigt darin einen demüti¬
gender Vertrag, den Habsburg seinem Könige aufgezwungen hat. Zwei
Gesichtspunkte haben ihn offenbar geleitet. Er wußte aus dem Munde des
Kriegsministers selbst, daß Preußen nicht ausreichend gerüstet war, um sogleich
losschlagen zu können. Dann aber blendete ihn die heftige Abneigung gegen
den deutschen Liberalismus und dessen Gefahr für das alte Preußen über das
Bedenkliche einer Annäherung an den natürlichen Gegner Habsburg, dessen
Übelwollen er noch nicht erfahren hatte. Jedenfalls war es keineswegs seine
Absicht, ein endgiltiges Beugen Preußens vor Österreich zu befürworten. Er
wies ausdrücklich ans die bevorstehenden freien Konferenzen hin, die über die
zukünftige Gestaltung Deutschlands entscheiden sollten, und während deren
Dauer nach seinem Wunsche das Schwert noch nicht in die Scheide gesteckt
werden sollte. Daß Manteuffel in Olmiitz schon das verhängnisvolle Zu¬
geständnis der Entwaffnung gemacht hatte, wußte er noch nicht.
Da es sehr wichtig erschien, die Regicrungspolitik im Lande zu recht¬
fertigen, die erst zur Mobilmachung und dann zu einem offensichtlichen Rück¬
züge geführt und natürlich im Lande große Aufregung hervorgerufen hatte,
beschloß die konservative Partei, Bismarcks Rede in zwanzigtausend Exemplaren
drucken und im Lande verbreiten zu lassen. Der Patriotische Verein der
Zauche ergriff diese Veranlassung, dem Abgeordneten eine am 19. Januar 1850
beschlossene, von Arnstedt abgefaßte Adresse zu überreichen, in der ihm für die
treue Vertretung der heiligsten Interessen des Volkes, insbesondre aber für die
glorreiche Verteidigung der letzten Negicrungsmaßregeln in der ewig denkwürdigen
Rede vom 3. Dezember gedankt und der Wunsch ausgesprochen wird, es möge
seinem Einflüsse gelingen, aus der neuen Verfassung die revolutionären Ein¬
dringlinge, insbesondre die neue Gemeindeordnung zu beseitigen.
Wenn darin gesagt wird, daß er durch jene Rede dem Könige und dem
preußischen Vaterlande den treusten Dienst erwiesen habe, so sind es offenbar
die monarchisch-konservativen, die warm vaterländischen Töne der Rede, in
denen er die einmütige anhängliche Stimmung der Wehrmänner bei der Mohn-
machung hervorhebt, die jenen vollen Widerklang in den Wählern der Zanchc
erzeugten, und die Freude über die Erhaltung des Friedens. Der Stolz auf
ihren hervorragenden Vertreter hat das übrige getan. Eine tiefere Auf¬
fassung der politischen Lage wird man in diesen Kreisen natürlich nicht er¬
warten.
Die parlamentarische Tätigkeit Bismarcks fand ein frühes Ende durch
seine Ernennung zum Bundestagsgesandter. Allerdings ließ er sich noch
einmal als solcher von seinem Wahlkreise wiederwählen lam 13. Oktober 1851),
weil die Regierung auf seine Vermittlung in der konservativen Partei uicht
verzichten wollte.*) Aber seine Beziehungen zu den Wählern lockerten sich
natürlich, da der Hauptschwerpnnkt seiner Tätigkeit nunmehr im Bundes¬
tage lag. Es spricht sich dies in den interessanten noch unveröffentlichten
Briefen Bismarcks aus, die Friedrich Meusel in dem Familienarchiv von
Arnstedts in Groß-Kreuz aufgefunden hat und demnächst zu veröffentlichen
gedenkt.
In diesen zahlreichen Briefen bemüht sich der Frankfurter Bundestagsge¬
sandte, die steigende Empfindlichkeit seiner märkischen Wähler, die ihn in der
Kammer und auch wohl im Wahlkreise vermissen, zu beschwichtigen. Er klagt über
seine „Schirrmeisterexistenz", er habe im letzten Jahre über zweitausend Meilen
zurückgelegt und müsse von seiner Frau fast ganz getrennt leben. Daneben
erzählt er von seinen diplomatischen Erfahrungen in Frankfurt und Wien.
Seine neue Auffassung von Österreichs Auftreten Preußen gegenüber faßt er
in die klassischen Worte: „Die Österreicher führen eine Fähnrichspolitik.
Schwarzenberg scheint sich sein Verhältnis zu uns etwa so zu denken wie das
eines leicht angetrnnknen Junkers vom Regiment Garde du Corps zu einem
Nachtwächter, dessen äußersten Zorn man schließlich mit einiger doMommis
und 2 Taler bar besänftigt. So lange dieser arrogante Windbeutel an der
Spitze von Österreich steht, laufen wir stets Gefahr, in die Stellung von 1850
zurückzufallen, wenn auch mit besserm Recht auf unsrer Seite als damals."
Nun, es stand schon der rechte Mann an rechter Stelle, der ein zweites Olmütz
verhindern konnte.
Im Herbst 1852 kam es zur Lösung des etwas unerquicklich gewordnen
Verhältnisses. Als eine Neuwahl bevorstand, legte Arnstedt Bismarck die
Frage vor, ob es ihm sein Amt möglich ließe, dauernd in der Kammer an¬
wesend zu sein. Der Befragte, der wohl wußte, welchen Wert König und
Regierung auf die Beibehaltung seines Maubads legten, bat das Ministerium
um Bescheid hierüber, und da lange keine Entscheidung kam, verzögerte sich
seine Antwort an die Wähler sehr, was schließlich große Ungeduld erregte.
Aber ein offner Brief Bismarcks beruhigte endlich den Unmut. Der Abgeordnete
sprach den Wunsch aus, nicht wiedergewählt zu werden, da man nicht zugleich
Kammermitglied in Berlin und Bundesgcsandter in Frankfurt sein könne, er
hoffe aber trotzdem, das Vertrauen seiner bisherigen Wühler zu behalten.
Diese Lösung entsprach der Auffassung der Marter durchaus. Der einsichtige
Nachfolger Barschalls in der Leitung des Brandenburger Patriotische!, Vereins,
Professor Hornig, hielt auf Grund von direkten Auskünften Bismarck in
Frankfurt für dringend notwendig, da er die geeignetste Persönlichkeit sei, die
preußische Ehre gegen österreichische Anmaßung zu wahren. So schied man
von dem bisherigen Vertreter in höchster Anerkennung seines Wertes und
wählte zu seinem Nachfolger einen Vertrauten des Königs, den Geheimen
Regierungsrat Markus Niebuhr.
Eine dauernde Erinnerung an diese Abgeordnetenzeit Bismarcks ist das
lebensgroße Ölgemälde des großen Mannes, das die Stadt Brandenburg
besitzt. Das Bild stellt deu Schloßherrn von Schönhausen im Parke seines
Gutes stehend dar. Im Hintergrunde ist Herrenhaus und Kirche von Schön¬
hausen sichtbar. Bismarck steht im schwarzen Gesellschaftsrock aufrecht in
ruhigem Selbstgefühl da. Der Kopf zeigt den blonden Vollbart, den der
Landjunker in bewußter Auflehnung gegen die höfische Sitte trägt, etwas ge¬
lichtetes Haupthaar, darunter die mächtig gewölbte Stirn. Eindrucksvoll
wirkt der sichre Blick der klaren blauen Augen. An die hohe Gestalt schmiegt
sich eng die dänische Dogge Odin, aus deren Augen Klugheit und ruhige
Zuverlässigkeit sprechen."') Das Bild ist auf merkwürdige Art in deu Besitz
des Magistrats gekommen. Ein tüchtiger Porträtmaler, Moritz Berendt,
hatte 1850 Bismarck in Schönhausen ohne erhaltne Bestellung gemalt. Es
wurde dann auf Veranlassung des Künstlers eine Verlosung unter dem
Havelländischen Landadel veranstaltet, und die Gewinnerin schenkte 1854 das
Kunstwerk dem Oberbürgermeister Brandt für die Stadt Brandenburg zur
dauernden Erinnerung an die Wahl des „wahren Vaterlandsfreundes Otto
von Bismarck" und den Anteil so vieler braver Bewohner der alten vater¬
ländischen Stadt.
So ist also dieses bisher fast ganz unbekannte Bismarckbild ein denk¬
würdiges Zeugnis für die hohe Achtung, in der Otto von Bismarck schon
damals bei seinen Havelländischen Standesgenossen stand, und ein dauerndes
Denkmal an den gemeinsamen Wahlkampf des Adels, der Bürger und der
Bauern der Mittelmark für die Wiederherstellung der preußischen Monarchie
im Jahre 1849.
in 2. Februar war für Jena ein bedeutungsvoller Tag: das
dreihuudertfüufzigjührigc Jubiläum der Universität, das freilich
aus Gründen der Zweckmäßigkeit (wie auch seinerzeit das drei¬
hundertjährige) erst in dieser Woche feierlich begangen worden ist,
zugleich mit der Einweihung eines neuen Universitätsgebäudes,
Die kleinen Universitäten haben für unser deutsches Vaterland und seine Geistes¬
bildung eine große Bedeutung: sie sind Brennpunkte des geistigen Lebens und
der Kultur; und das ist an der langen Zerrissenheit des Landes, der Klein¬
staaterei und Ohnmacht auch eine Lichtseite, daß das geistige Leben nicht so
zentralisiert und monopolisiert ist wie zum Beispiel in Frankreich. Berlin ist,
Gott sei Dank! uicht Paris.
Von diesen kleinen Hochschulen hat aber jede wieder ihre Eigenart, ihre»
eigentümlichen Charakter. Das gilt von Jena in besonders hohem Maße,
schon ihre Gründung zeigt das.. Gegründet ist die Universität eigentlich am
19. März 1548 von dem unglücklichen Kurfürsten Johann Friedrich von
Sachsen als ein neues Wittenberg, nachdem im Schmalkaldischen Kriege das
alte mit Luthers Grab in der Schloßkirche in die Hand Karls des Fünften
gefallen war. Am 19. Mürz 1548 hielt hier der humanistische Poet Victorin
Striegel, ein Schüler Mclanchthons, in Gegenwart der drei Söhne des ge¬
fangnen Kurfürsten die Festrede: „Von den Ursachen, warum in diesen
traurigen Zeiten und Aussichten, wo die Wiederhersteller und Verfasser der
Religion noch in Gefangenschaft umhergeführt werden, gleichwohl auf die Er¬
richtung einer Hochschule gedacht worden."
„So war gleich in der Gründung etwas Kühnes, Heroisches, Protestan¬
tisches",*) ein Idealismus wie 1809 bei der Gründung der Berliner Hoch¬
schule, der äußern Verlust an Land und Leuten durch innern Gewinn er¬
setzen wollte.
Doch das kaiserliche Privileg zog sich hin und wurde erst am 2. Februar 1553
nach Karls des Fünften Abdankung durch seinen Bruder Ferdinand den Ersten
erlangt.
Jena wurde jetzt nach Luthers Tode im Gegensatz zu Wittenberg und
Melanchthon die Stätte echten, streitbaren Luthertums, und nicht am wenigsten
der Jenenser Flacius Illyriens, der Stamm- und Namensvatcr aller „Flätze"
oder „Flötze", hat Melanchthon das verzweifelte Wort von der radies tllso-
lo^orna ausgepreßt. Seitdem hat die thüringische Hochschule immer den
Ruhm behauptet, ein Sitz freimütiger, unerschrocknen Wahrhcitssinnes, Wahr-
heitsmntes und ernsten wissenschaftlichen Strebens zu sein.
Für uns freilich bedeutet Jelen doch noch etwas andres: es ist nicht der
Geruch der Gelehrsamkeit, der uns entgegenströmt, nicht die feuchtfröhliche
Burschenlust, die die idyllische Landschaft durchbraust, die seinen Charakter
ausmache«: es ist der Glanz einer reichen Vergangenheit, der Duft unsrer
klassischen Poesie. Jena und Weimar sind unauflöslich verbunden mit den
Namen unsrer beiden Dioskuren, mit Schiller und Goethe; und was Goethe
von Weimar singt: „O Weimar, dir fiel ein besondres Los! Wie Bethlehem
in Juda — klein nud groß", das gilt ebenso von der Schwesterstadt. Das
fühlen wir ans Schritt und Tritt, ob wir nun im Geiste mit Schiller, da
alle andern Auditorien zu klein sind, Hinansstürmen in den großen Saal und
seine gedankenreiche, von idealem Geiste getragne Antrittsvorlesung hören:
„Was heißt und zu welchem Eude studiert man Universalgeschichte?" oder in
seinem Garten bei der Sternwarte in die Werkstätte des dramatischen Genius
sehen und mit Wallenstein oder Sein auf deu Turm steigen, oder ob wir mit
Goethe und seinem Karl August eine fröhliche Spritztour vou Weimar hierher
machen.
oder endlich still und andächtig beobachten, wie schnell hier das Epos
Hermann und Dorothea erwächst, und wie Goethe mit Tränen der Rührung,
„mit feuchtverklärtem Blick" dem Freunde die einzelnen Gesänge vorliest.
Doch genug.
Aber auch andre erlauchte Namen treten uns in Fülle entgegen, wenn
wir im Geiste eine Wnndrnug durch die Stadt macheu, zu der wir uns im
Schwarzen Bären gestärkt haben, wo Luther als Junker Jörg auf seiner Rück¬
kehr vou der Wartburg nach Wittenberg die berühmte Unterredung rin den
Schweizer Studenten hatte. Da sehen wir in den Gebrüdern Schlegel die
Romantik, die damals hier ihr Zelt aufschlug und die beideu Dichterheroeu
erst anschwärmte, dann anpöbelte, bis diese sich in geharnischten .Lernen Luft
machten; da sind von Philosophen die den Romantikern am nächsten stehn:
Schelling und Fichte, der sich hier eine törichte Anklage wegen Atheismus
zuzog, und der später in Berlin seine bedeutende, anch persönliche Lehrtätig¬
keit fortsetzen sollte. Da ist anch Hegel, der fleischgewvrdne Gedanke. Wir
gedenken auch der Schlacht bei Jena und der deutschen Burschenschaft und
Fritz Reuters, der noch im Alter in wehmütiger Erinnerung an die schöne Zeit
den Pfarrer in Hanne Rute sagen läßt:
Noch ein Würd, min Sahn —
Ich würde doch nach Jena gehn,
und der am Fuße der Wartburg seine letzten Jahre verlebte.
Auch im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts hat die kleine Hochschule
ihren guten Ruf gewahrt. Ich nenne nur den Philosophen Kuno Fischer,
der durch Schenkel aus Heidelberg verdrängt, wo er später seine glänzende
Laufbahn beenden sollte, hier in Jena eine Freistatt und einen Lehrstuhl fand.
Da ist der alte Burschenschafter und spätere Nestor und Klassiker unter den
Theologen Karl Hase, der Dogmatiker Lipsius, der am strengsten auf Kantischen
Boden fußend alle Metaphysik aus der Theologie auskehren zu müssen meint
und alles durch „innere Nötigungen" begründet. Doch wer zählt die Völker,
nennt die Namen? Heute sind es besonders zwei Namen, die weit über
Jenas Mauern bekannt sind, ja die, darf man wohl sagen, Weltruf haben:
Ernst Haeckel und Rudolf Eucken, der Naturforscher und der Philosoph,
beide nach Art und Arbeit Antipoden.
Hier der Naturforscher, bekannt auf seinem Gebiet, viel geliebt und
verehrt von seinen Hörern und Schülern. Doch es treibt ihn hinaus über
die Schranken seiner Fachwissenschaft, Lebensfragen will er beantworten,
Welträtsel lösen. Aber da ist er mehr Dichter als Denker: leuchtend steht
das Ziel vor seinen Augen, das er seinen Zuhörern vor die Seele malt, sie
begeisternd und fortreißend, das Ziel, das er in gewaltigen Sätzen zu er¬
stürmen meint. Da geht es auf ungeschulten, ungesatteltem Pferde, ohne
Bügel und Zaumzeug über Hecken und Gräben! „Die Psychologie ist (ihm!)
nur ein Teil der Physiologie." „Die Psyche nur ein Kollektivbegriff für die
gesamten psychischen Funktionen des Plasma." „Die Seele ebenso eine
physiologische Abstraktion wie der Begriff Stoffwechsel oder Zeugung." „Durch
Assoziativ» der früheren isolierten oder lokalisierten Empfindungen entstehen
Vorstellungen." „Bewußtsein ist eine physiologische Funktion des Gehirns.
Die verwickelten Gehirnoperationen, die Bildung von zusammenhängenden
Kettenschlüssen, die Abstraktion und Begriffsbildung, die Ergänzung des er¬
kennenden Verstandes durch die plastische Tätigkeit der Phantasie, schließlich
das Bewußtsein, das Denken und Philosophieren sind ebenso Funktionen der
Ganglienzellen der Großhirnrinde wie die vorhergehenden einfachern Seelen¬
tätigkeiten. Alle zusammen vereinigen wir in dem höchsten Begriffe der Ver¬
nunft." In anmutigen Zirkeltanz wird uns wahrhaftig der Hylozoismus
der vorsokratischen Naturphilosophen als Weisheit letzter Schluß angepriesen.
Wenn aber Virchow, Dn Bois-Reymond, Wundt ihre frühere, mehr ma¬
terialistische Denkart eingeschränkt oder teilweise zurückgenommen haben, so
weiß er das nicht anders zu erklären als durch ferne Schrumpfung des
Gehirns! „Die Erfahrungen späterer Jahre führen vielfach nicht nur zur Be¬
reicherung, sondern auch zur Trübung der Einsicht, und mit dem Greisenalter
tritt allmähliche Rückbildung ebenso im Gehirn wie in andern Organen ein.
Jedenfalls ist diese erkenntnistheoretische Metamorphose an sich eine lehrreiche
psychologische Tatsache; denn sie beweist mit vielen andern Formen des »Ge¬
sinnungswechsels«, daß die höchsten Seelenfunktionen ebenso wesentlichen,
individuellen Veränderungen im Laufe des Lebens unterliegen wie alle andern
Lebenstätigkeiten."
Zu diesem Feuerkops, der, schon ein Siebziger, noch mit jugendlicher
Begeisterung in die Arena sprengt, der, ein Feind jedes religiösen Dogmas,
doch naturwissenschaftlich so stark dogmatisch befangen ist wie nur ein streit¬
barer Theologe des sechzehnten Jahrhunderts, der ohne weiteres die Methode
des Naturerkennens glaubt auf die Geisteswissenschnften übertragen und an¬
wenden zu können, der jeder Metaphysik ihr Recht abspricht, „in der Über¬
zeugung, daß die ersten Grundlagen aller Philosophie auf der Naturerkenutnis
beruhen und durch denkende Erfahrung g. xc>8tsriori entstanden sind", zu ihm
bildet Rudolf Eucken in jeder Beziehung den Gegensatz. Er zeichnet sich von
vornherein durch vornehme Ruhe und Sachlichkeit, ja durch wissenschaftliche
Vorsicht aus, er wendet in zum Teil klassischer Sprache den Gedanken nach
allen Seiten, um ja nicht eine Möglichkeit, ein Loch zu übersehen, einen
Trugschluß durchgehn zu lassen. Er erkennt überall Wert und Notwendigkeit
der Naturwissenschaften bereitwilligst an, ja betont sie stark; aber seine Lebens¬
aufgabe ist gerade, die Selbständigkeit des Geisteslebens, des geistigen Ge¬
schehens zu sichern, eine selbständige, eigne Metaphysik zu schaffen, gegenüber
den Naturwissenschaften auch Recht und Ausgabe der Geisteswissenschaften,
besonders der Philosophie festzustellen und zu wahren. Was ihn interessiert,
nein mehr, ihn immer aufs neue bewegt, ist das Lebensproblem, die Frage
nach Wert, Zweck, Aufgabe des Lebens. Wie gewinnt mein persönliches,
subjektives Empfinden, Fühlen, Handeln objektiven Wert? Wie kommt wirk¬
liches, wahres Geschehen zustande? Jahrelang, als die Fluten des Naturalismus
alles überschwemmten, hat der wackere Kämpfer ziemlich allein gestanden.
„Wer so wie ich, schreibt er mir einmal, mitten im Kampfe und zugleich außer¬
halb der Parteien steht, dem ist eine derartige Bezeugung der Sympathie
besonders wertvoll. Lassen Sie uns trotz aller Wirrnisse und Hemmnisse
der Gegenwart an dem energischen Eintreten für einen Idealismus ethischer
Art, für eine zugleich universale und feste Lebensanschauung getreulich fest¬
halten."
Die Zeiten haben sich geändert, Gott sei Dank! Überall macht sich die
Frage, das Bedürfnis nach Vertiefung des Lebens, der Ruf nach Befreiung
und Ausbildung der Persönlichkeit, nach Weltauffassung geltend. Das ist
uicht zum wenigsten Euckens Verdienst. „Wir dürfen uns freuen, kann er
mitteilen, daß hier in Jena für die philosophischen und speziell auch für die
religionsphilosophischen Fragen ein äußerst lebhaftes Interesse ist" — und
wieder: „Übrigens hat man doch den entschiedenen Eindruck des Vordringens
eines substantiellen Idealismus, wenn auch nicht in den breiten Massen, so
doch auf der Höhe der geistigen Arbeit. Auch zeigen ja die Bewegungen der
Literatur ein rasch wachsendes Interesse für die Probleme der Lebensver¬
tiefung. Außer Deutschland ist es namentlich England und auch Italien, wo
meine speziellen Bestrebungen Anklang finden. . . . Für die Anfang des
Jahres erschienenen »Grundlinien einer neuen Lebensanschauung« sind schon
englische, schwedische, finnische Übersetzungen im Gange."
Es sind besonders die Völker des germanischen Kulturkreises, bei denen
das Interesse für Euckens Bestrebungen in raschem Wachsen begriffen ist.
W. R. Boyce Gibson (Dozent an der Londoner Universität) schrieb 1907
ein Buch Ruäolk VuelcönL kuilosoplr^ ok I,ito, die erste Auflage war in
vier Monaten vergriffen, und es ist schon eine zweite erschienen.
In Deutschland selbst schließt sich an den Namen R. Eucken schon eine
ganze, große Literatur. Hier sei besonders hingewiesen auf die von begeisterter
Verehrung für den Denker getragne Schrift von sichert: Rudolf Euckens
Welt- und Lebensanschauung (Langensalza, Beycr, 1904) und auf H. Pöhl-
mann: Rudolf Euckens Theologie mit ihren philosophischen Grundlagen dar¬
gestellt (Berlin, Reuther und Reichard, 1903).
Es ist das schlichte und doch stolze Leben eines deutschen Gelehrten und
Wahrheitsuchers, das Eucken führt: einfach und anspruchslos, und doch heimisch
auf den Höhen des Geistes, der Menschheit, des Lebens.
Zuerst hat er sich den Weg gebahnt, die gangbaren philosophischen
Begriffe kritisch auf ihren Wert und ihre Bedeutung betrachtet: „Geschichte
der philosophischen Terminologie" 1879 und „Die Grundbegriffe der Gegen¬
wart" 1878 (1904 neu aufgelegt unter dem Titel: „Geistige Strömungen
der Gegenwart" 3. Auflage). Solche Begriffe gleichen Versteinerungen oder
Kristallen: ein langer geistiger Prozeß ist darin zum Abschluß gekommen, hat
feste Forni und Prägung erlangt, und es ist von hohem bildenden Wert und
Interesse, den umgekehrten Weg zu machen: sie aufzulösen, den geistigen Prozeß
zu beobachten, das geistige Leben zu ergreifen, das sich schließlich darin fest¬
gelegt hat — oder vielmehr nicht festgelegt, denn sie selbst sind auch wieder
dauernder Umbildung und Umdeutung unterworfen. Solche Begriffe sind:
subjektiv — objektiv; Erfahrung; a priori — g. posteriori: Entwicklung;
Monismus — Dualismus; mechanisch — organisch; Gesetz; Idealismus —
Realismus — Naturalismus; Persönlichkeit und Charakter; theoretisch —
praktisch; Immanenz — Transzendenz usw.
In dem Buche „Die Einheit des Geisteslebens in Bewußtsein und Tat
der Menschheit" 1888 hat Eucken, nachdem er sich zuvor in den Prole-
gomena 1885 eine eigne Begriffswelt und Terminologie geschaffen und ge¬
sichert, den Grundgedanken seiner Lebensarbeit niederlegt. In eingehender,
noch heute sehr lesenswerter Darstellung gibt Eucken zunächst ein Bild und
eine Kritik der beiden wichtigsten und verbreitetsten Systeme, des Intellek¬
tualismus und des Naturalismus. Beide sind zuletzt feindliche Brüder; der
Intellektualismus gibt statt des Lebens ein System, ein engmaschiges Netz
von Begriffen, das aber doch das Wasser des Lebens nicht aufzufangen
imstande ist; der Naturalismus, der stolz den kleinen Menschen und seine Be¬
dürfnisse als unwichtig beiseite drängt, gibt entweder statt des Gebäudes un¬
verarbeiteten Rohstoff, unbehauene Felsblöcke — dann hat er überhaupt keinen
Anspruch auf den Namen Wissenschaft —, oder sofern er alles Geschehen
und Werden unter unverbrüchliche Gesetze unterordnen will, beweist er gerade,
was er widerlegen will, die selbständige, überlegne Geltung der Geisteswelt.
Bei der Frage: Wie kommt wahres Geschehen zustande? stehn wir seit alters
vor einem doppelten Problem: 1. Wie ist die Beziehung, das Verhältnis von
Geist und Stoff? 2. Von Subjektiv und Objektiv: wie und wie weit haben
und gewinnen persönliche Taten, Erlebnisse usw. absoluten, objektiven Wert?
Die rohe, unwissenschaftliche Denkart des Sensualismus, der meint, die
Ereignisse halten durch die Tore der Sinne ihren Einzug und hinterlassen
ans der bisher unbeschriebnen Tafel der Seele ihre Eindrücke, ist für uns seit
Kant abgetan. Wir sind alle von Kants epochemachenden Lebenswerk ab¬
hängig — so oder so —, stehn auf seinen Schultern. Er hat durch seine
„Kritik der reinen Vernunft" aber auch die scholastische Metaphysik, die die
Kategorien und Begriffe unsers Denkens ohne weiteres auf eine gedachte,
konstruierte Überwelt überträgt, als unzureichend und unmöglich dargelegt; er
hat dafür in seiner „Kritik der praktischen Vernunft" die geistige Welt über
die Welt des Denkens hinaus erweitert und in der Tatsache des Gewissens
die Gewißheit einer geistig-sittlichen Welt gefunden. (Freilich behauptet der
Naturalismus, das Gewissen selbst sei nicht primär, sondern abgeleitet, an¬
erzogen; seine Aussagen sind es gewiß, aber die Tatsache des sittlichen Urteils?)
Ein andrer Einwand ist von jeher gegen Kant erhoben worden gerade von
Künstlern, so zum Beispiel von Schiller in dem bekannten Distichon:
Gerne bien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung,
Darum wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.
Antwort:
Da ist kein anderer Rat, du mußt suchen, sie zu verachten,
Und mit Abscheu alsdann tun, wie die Pflicht dir gebeut.
Bei aller Anerkennung der heroischen, geradezu antiken Auffassung der
Pflicht, die Kant weit über alles persönliche Begehren und Wohlergehn erhebt,
für die er unbedingte Geltung fordert — sie bleibt ein äußerliches, über den
Menschen stehendes, unfaßbares, rein abstraktes Gesetz, zu dem wir keine
innere — höchstens widerstrebende — Beziehung haben. Hier setzt Eucken ein.
Für alle rein psychologischen Versuche, das heißt solche, die von den Geistes-
kräften des einzelnen Menschen ausgehn und darauf absolute Gewißheit gründen
wollen, bleibt immer die Gefahr, daß persönliche, subjektive Überzeugung für
objektive Gewißheit und Tatsächlichkeit genommen wird. Das ändert sich nur.
wenn wir einen andern Standort wählen, anstatt des psychologischen, der zuletzt
doch nur das Wie erklärt, den „noologischcn", der uns Antwort gibt auf unsre
eigentliche Frage nach dem Was, wenn wir von dem Einzelgeschehn, dem
Einzelwesen übergehn zu einem geistigen Gesamtgeschehn, sie erweitern zu
einer selbständigen Geisteswelt.
Das ist nun Euckens Fundamentalsatz: Ganz gewiß ist der Mensch auch
zunächst Naturwesen; aber innerhalb dieser Natur, das ist doch Tatsache, hat
sich eine Welt wahren Geisteslebens entwickelt, herausgebildet, sie setzt sich
durch uuter fortdauerndem Kampf und Widerstand, eine Welt wahrer Kultur
und Sittlichkeit, die sich auf den Gebieten der Wissenschaft, des Rechts, des
Staates, der Religion, des Vaterlandes usw. zeigt und an der wir auch teil¬
haben sollen und können, eine Welt, die viel wertvoller ist als unser eignes
kleines Ich, das erst dadurch und so weit Wert gewinnt, als es an diesem
allgemeinen Geistesgeschehn, an dem Aufbau dieser wahren, innern, ewigen Welt
mithilft. Diese soll nicht, wie der alte Idealismus meinte, hinter und über unsrer
Welt liegen, eine Welt der Hoffnung und der Zukunft, sondern gerade in dieser
Welt, die durch freie Tat der Menschheit umgebildet werdeu soll zu einer rein
ethischen. So ist tatsächlich jedes Tun, jede Entwicklung des einzelnen Menschen
eine Tat der Gesamtheit, der Menschheit, ein Wachsen des Ethischen an sich.
Und doch ist diese Geisteswelt nicht allein von uns und unsern Entschlüssen
abhängig, sondern sie ist, Gott sei Dank, da, wir werden in sie hinein geboren,
nicht wir allein haben sie aufzubauen und zu tragen, sie trägt uns und gibt
unserm Leben Zweck, Inhalt, Wert. Eine stolze, hohe, aber auch schwere
Aufgabe! Ein Leben voll sittlichen Ernstes und sittlicher Forderungen an den
einzelnen, eine Religion des steten Kampfes, aber auch des Sieges. Es
leuchtet ein, wie nahe diese Gedankenwelt dem Christentum steht, besonders in
der durchgeistigten Form des Johannesevcmgeliums: „Daß der Mensch in den
Stand echt geistigen Lebens gegenüber der eignen Schwäche und dem Wider¬
stände einer unermeßlichen Welt gehoben wird, das ist das größte aller Wunder,
aber es ist kein Mirakel, das nur von außen her an uns geschieht. Jene
große Wendung trägt in sich das Wirken einer überlegnen Welt, die mensch¬
liche Tat ist hier von Grund aus und unmittelbar ein Werk der Gottheit.
Wie das möglich sei, wie aus Gnade Freiheit, aus Abhängigkeit Selbsttätig-
keit entspringen könne, das übersteigt als ein Urphänomen alle Erklärung, es
hat als die Grundbedingung alles Geisteslebens einen durchaus aromatischen
Charakter. Das aber läßt sich dartun, daß es kein isoliertes Problem, sondern
nur die höhere Stufe jenes allgemeinen Problems ist, wie aus den Zusammen¬
hängen der Welt Einzelwesen seelischer Art, bewußte und fühlende Wesen,
hervorgehn und ihr Leben als ein eignes im Gegensatz zu allem übrigen führen
können; wäre dies Problem glücklich gelöst, dann könnten wir an die Be¬
handlung jenes andern gehn."
Auch Goethe, der ja gern als Kronzeuge für den Pantheismus zitiert
wird — übrigens nicht mit Unrecht, aber wofür könnte man Goethe, diesen
proteischen Geist, den Mikrokosmos, nicht anführen! —, schlägt in seinen
spätern Jahren ähnliche Töne an:
Im Jahre 1890 erschienen die „Lebensanschauungen der großen Denker"
(1907 in 7. Auflage), ein klassisches Werk, zugleich von enormer Gelehrsamkeit,
das des Verfassers Unbefangenheit und Fähigkeit zu objektiver Darstellung
und Würdigung auch ihm fremder Geister glänzend bewies; so bringt er zum
Beispiel dem großen Denker Augustin immer wieder lebhaftes Interesse entgegen.
Eucken will hier nicht bis ins einzelne die philosophischen Systeme der Denker
darstellen, sondern er prüft sie daraufhin, was sie über Zweck, Wert und
Inhalt des Lebens, also über das Lebensproblem denken. Drei große „Syn-
tagmen" findet er hier: 1. Die Lebensanschauungen des nationalen Griechen¬
tums, die eine unveränderliche Oberwelt, die Welt der Ideen, über der Welt
der Erscheinungen annahmen. 2. Das ethisch-religiöse Lebensideal der Mensch¬
heit, die Welt des Christentums. 3. Das Kulturideal der Menschheit, die
Neuzeit mit all ihren Wandlungen.
Im Jahre 1896 kam heraus „Der Kampf um einen geistigen Lebens¬
inhalt" (1902 in 2. Auflage), 1901 sein epochemachendes Werk „Der Wahrheits¬
gehalt der Religion" (1905 die 2. Auflage). Unablässig ist Eucken seitdem
bemüht, die Goldbarren auszumünzen, seine Gedankenwelt aufs neue zu
Prüfen, zu klären, zu vertiefen, nach allen Seiten zu durchdenken, auch zu
Popularisieren. Er selbst schreibt in edler Bescheidenheit: „Wir selbst fühlen
uns durchaus als Suchende und wenden uns daher auch an Suchende; wir
richten uns an die, welche mit uns die gegenwärtige Verflachung und Ver¬
flüchtigung des Geisteslebens als einen nicht länger erträglichen Notstand
empfinden und die nicht davor zurückscheuen, auch in schroffem Widerspruch zur
breiten Zeitoberflüche eine Erneuerung des Lebens zu suchen." (Wahrheits¬
gehalt der Religion, Vorrede, S. IV.)
Früher konnte es besonders weiblichen Lesern wegen der Terminologie zu¬
nächst etwas schwer fallen, sich in die ihnen fremde Gedankenwelt hineinzufinden.
So klagte mir eine Freundin, eine hochgebildete Dame, über den Wahrheits¬
gehalt der Religion: „Eucken wurde mir sauer! Das sind Höhen, in denen
unsereins sich als Fremdling fühlt — soviel Mühe ich mir gab, ich fühlte doch
mit Ärger und Betrübnis, daß ich den Stoff nicht beherrschen konnte. Stellen¬
weise ja, mit Genuß, aber dann kamen Stellen, in denen mir der Faden
entglitt, und ich nur ahnte! Was halfs, ich mußte zurück in die Niederung,
mit sehnsüchtigem Blick nach den ragenden Gipfeln. Es müßte einem vieles
leichter werden, wenn man den Staub von den Füßen schütteln könnte!" Das
ist inzwischen anders geworden. Eucken hat selbst dafür gesorgt. Im Jahre 1907
erschienen zunächst „Die Hauptprobleme der Religionsphilosophie der Gegen¬
wart." Drei Vorlesungen, die auf einem theologischen Ferienkursus in Jena
am 23. und 24. Oktober gehalten wurden. I. Die seelische Begründung
der Religion (besonders wichtig!). II. Religion und Geschichte. III. Das Wesen
des Christentums. „Die Untersuchungen ruhen auf einer geschlossenen philo¬
sophischen Grundanschauung, aber sie sind möglichst einfach und anschaulich
gehalten, und sie richten sich durchaus nicht bloß an gelehrte Kreise, sondern
an alle Zeitgenossen, welche sich in den geistigen Wirren der Gegenwart mit
dem Problem der Religion befassen, und welche bei der Behandlung dieses
Problems eine Freiheit verlangen, die nicht flach, und eine Tiefe, die nicht starr
werde." (Vorrede.) Sodann erschienen „Grundlinien einer neuen Lebensan¬
schauung" (seiner Gattin und geistigen Genossin Irene gewidmet), in denen er seine
Gedankenwelt nach allen Seiten entwickelt. Allen, die sich in seine Welt einleben
wollen, ist dieses Buch ganz besonders zu empfehlen. Nachdem er in geradezu
klassischer Weise die vorhandnen Lebensordnungen dargestellt hat, ») die ältern:
die Lebensordnungen der Religion und des kosmischen Idealismus, b) die
neuern: die naturalistische, die sozialistische und die Lebensordnung des
künstlerischen Subjektivismus (eine höchst reizvolle Lektüre), gibt er darauf einen
zusammenhängenden Überblick über die Gesamtlage der Gegenwart und den
„Entwurf einer neuen Lebensordnung". Ich muß es mir leider versagen, hier
genauer darauf einzugehn, eine kurze Angabe der Kapitel wird einen Begriff
geben von dem reichen Inhalt. I. Die Hauptthese. 1. Der Mensch als Natur¬
wesen. Das Hinauswachsen des Menschen über die Natur. Der innere Wider¬
spruch des neuen Lebens. Das Selbstündigwerden des Geisteslebens. Die
Forderungen einer neuen Lebensordnung. Die Wandlung und Erhöhung des
menschlichen Lebens, a) Ziele und Wege, v) Die Rettung der Freiheit, e) Die
Ansätze selbständigen Geisteslebens. S) Die Überwindung der Vereinzelung.
II. Die nähere Gestaltung unsers Geisteslebens, g.) Wahrheit und Wirklichkeit,
d) Mensch und Welt, e) Die Bewegung des menschlichen Geisteslebens, et) Auf¬
steigen eines neuen Lebenstypus. III. Das menschliche Geistesleben in Kampf
und Überwindung. IV. Wendung zur Gegenwart: 1. Forderungen für das
Gesamtbild des Lebens, s,) Zum Charakter der Kultur, d) Zur Gliederung der
Kulturarbeit. 2. Zur Gestaltung der einzelnen Gebiete: a) Religion, Moral,
Erziehung und Unterricht, v) Wissenschaft und Philosophie, e) Kunst und
Literatur, ä) Zum gesellschaftlichen Leben, e) Zum Einzelleben.
Endlich seine neuste Schrift: „Der Sinn und Wert des Lebens." Leipzig,
1908. (162 Seiten, Preis 2,75 Mark.) Ich gebe statt einer Besprechung eine
kurze Probe von dem Stil und dem Gedankengehalt. Nachdem er auf die Schäden
und Gefahren der Zeit hingewiesen hat, führt er fort (S. 77): „Hüten wir
uns, von der eignen Zeit gering zu denken, weil sie sich so unfertig ausnimmt,
so voller Widersprüche zeigt. Ist sie nicht zum guten Teil nur deshalb unfertig,
weil sie mehr verlangt als andre Zeiten, und hat sie nicht namentlich deshalb
so schwer an den Widersprüchen zu tragen, weil sie die Möglichkeiten des
Lebens mit so glühendem Verlangen und so gewaltiger Energie durchlebt und
ansieht? Welche Zeit hat so sehr den Kreis der Möglichkeiten durchmessen, wie
die unsrige es tut? So wird sich sicherlich auch aus dem, was zunächst als
bloße Begrenzung und Verneinung erscheint, schließlich ein Ja herausheben
lassen." „Denn was ist es, was jene Begrenzung und Verneinung bewirkt?
Es ist keine außer uns befindliche Macht, es ist unser eignes Leben, das jenen
Abschluß zurückweist, der Widerstand liegt nicht draußen, sondern drinnen, und
er ist damit eine Erweisung der Kraft; die Forderungen, welche keine Be¬
friedigung fanden, wurden nicht von draußen gestellt, sondern sie steigen aus
unserm eignen Wesen auf und zeigen zugleich die Richtung, die unser Streben
einschlagen muß. Ja es kann sich keine unbefangne Betrachtung der Gegenwart
dem Eindruck entziehen, daß hinter allen ihren Kämpfen ein gehaltvolleres
Leben steht, das sich in ihnen sucht, ihnen Kraft und Leidenschaft einflößt, dann
freilich unbefriedigt aus ihnen zurückkehren muß. Nur weil eine größere Tiefe
sich in uns regt, aber nicht zur vollen Belebung kommt, sind wir in solche
Unruhe und Unsicherheit geraten. Auch ein Zug zum Ganzen erscheint un-
verkennbar in der Energie, mit der die verschiednen Lebensgestaltungen einander
bekämpfen; eine gewisse Überlegenheit erweisen wir schon dadurch, daß wir sie
alle zu überschauen und gegeneinander abzuwägen vermögen____ So befinden
wir uns heute unbestreitbar innerlich in einer höchst unfertigen Lage, in der
Nein und Ja durcheinander gehn; eine neue Art strebt auf, aber sie vermag
sich nicht zur Genüge durchzusetzen, in uns wirkt mehr, als unser Bewußtsein
erfaßt, aber es ist noch nicht unser voller Besitz."
„Versuche, solchem zerstörenden Widerspruch zu entgehn, gibt es in Hülle
und Fülle, schließlich aber führen sie bei allen Umwegen immer auf das eine
Dilemma zurück: entweder ist das, was an Eigentümlichem im Menschen auf¬
strebt, und was durch alle Mannigfaltigkeit seines Strebens hindurch das eine
Ziel verfolgt, eine neue Welt gegenüber dem Menschen nicht nur, sondern
gegenüber dem ganzen unmittelbaren Dasein aufzubauen, entweder ist dies alles
Erzeugnis des bloßen Menschen und damit eine haltlose Illusion, oder es stammt
aus einer tiefern Quelle als der Sondernatur des Menschen und erweist das
Dasein einer solchen Quelle. Eine Selbständigkeit gegenüber dem Menschen
kann es nur haben, wenn es nicht seiner besondern Art angehört, sondern
wenn er in ihm die Teilnahme an einem Weltleben gewinnt, wenn es gegenüber
der Natur eine neue Stufe der Wirklichkeit einführt, die für unsern Gesichts¬
kreis nur im Menschen zur Eröffnung kommt, die aber nicht aus ihm hervor¬
geht und daher auch nicht den Bedingungen seiner Natur unterliegt. Mit
andern Worten: das Geistesleben im Menschen bricht zusammen, und alles Mühen
darum ist ein Haschen nach Phantomen, wenn es hinter sich nicht eine geistige
Welt hat, aus der es schöpft und die es vertritt. Daß die Anerkennung einer
solchen selbständigen Tiefe des geistigen Lebens bei uns den Anblick des Menschen
und der Welt wie auch die Aufgabe des Lebens aufs wesentlichste verändert,
ja daß sie eine Umkehrung der gesamten vorgefundnen Lage bewirkt, wird näher
darzulegen sein; dann ist auch zu prüfen, ob damit die Erhöhung des Menschen
geboten wird, ohne die das Leben allen Sinn und Wert verliert." —
So sehen wir hier den reichen Ertrag einer gut angewandten Lebensarbeit:
Eucken schüttelt mit freigiebiger Hand an dem Baume seines Lebens, und die
Früchte fallen „gehäuft uns in den Schoß".
Möge dem edeln Manne noch recht lange seine körperliche und geistige
Frische erhalten bleiben! Denn er hat uns noch viel zu sagen, und wir —
wir haben ihn noch viel, sehr viel zu fragen!
>ancher griechische Schriftsteller, dessen Verlust wir jetzt beklagen,
ist noch bis zum Anfang des siebenten Jahrhunderts n. Chr.
gelesen worden, wo die antike Kultur in der Osthälfte des alten
römischen Reiches durch den Einbruch der Araber einen schweren
!Stoß erhielt. Unter den vielen, die in der darauffolgenden
Periode des politischen und geistigen Niedergangs vergessen und verloren
worden sind, gibt es wenige, die die Nachwelt so schmerzlich vermißt hat,
wie den berühmtesten Dichter der hellenistischen Zeit, Menander von Athen.
Aber schon seit einigen Jahren konnte man hoffen, daß dieser Hauptvertreter
der neuern attischen Komödie nicht auf immer untergegangen sei. In Ägypten
sind in griechischen Gräbern und Kehrichthaufen, die man ausgegraben hat,
zahlreiche Reste griechischer Bücher und Buchrollen gefunden worden, die uns
schon manches bisher Verlorne wiedergeschenkt haben. Schon wiederholt waren
unter diesen Funden größere und kleinere Bruchstücke von Komödien Menanders
ans Tageslicht gekommen, die wenigstens zeigten, daß der Dichter einst in
Ägypten viel gelesen worden ist, ja es ließen sich aus ihnen auch einzelne
Szenen rekonstruieren. Aber alles frühere hat der neuste Fund in den
Schatten gestellt. Bei französischen Ausgrabungen ist ein teilweise erhaltnes
Buch zutage gekommen, worin große Stücke von vier Komödien des Menander
stehn, zusammen etwa 1500 Verse.
Carl Robert in Halle hat sich das Verdienst erworben, den kostbaren
Fund durch eine Übersetzung in Versen,*) der er anch kurze Angaben über
den vermutlichen Inhalt der Verlornen Szenen beigegeben hat, Philologen
und NichtPhilologen näher zu bringen. In dieser Übersetzung sind die beiden
der neu gefundnen Komödien, von denen das meiste — etwa die Hälfte —
erhalten ist, am 20. und 27. Juni in Lanchstedt aufgeführt worden, das
erstemal vor geladnem Publikum. Am 11. Juli ist dann auf dringenden
Wunsch noch eine zweite öffentliche Vorstellung gegeben worden. Robert selbst
hatte zusammen mit andern die Leitung übernommen. So konnte man
griechische klassische Stücke auf einer klassisch deutschen Bühne sehen, die ja
vor kurzem wiederhergestellt und mit der Aufführung von Goethes Iphigenie
eingeweiht worden ist.**)
Der Vorhang geht ans, wir sehen uns vor die Bühne von Oropos ver¬
setzt, eines Grcnzstädtcheus zwischen Aetit'a und Böotien, dessen kleines, wohl-
erhaltnes Theater sehr geeignet ist, als Vorbild zu dienen. Der Beschauer
sieht die Vorderseite eiues Hanfes mit einer von sechs dorischen Säulen ge¬
tragnen Vorhalle, aus der man dnrch drei Türen in das Haus gelangen
kann. Wir wissen, daß durch die drei Türen ans einfachste Weise drei Nachbar¬
häuser angedeutet sind, wir wissen auch, daß der rechte Seitenausgang der
Bühne in die Stadt, der linke aufs Land führen soll. Die Handlung spielt,
wie immer in der neuern attischen Komödie, auf der Straße.
Die Darsteller sind getreu nach antiken Mustern gekleidet und aus¬
gestattet. Sogar in Haltung und Bewegung Nüssen sie sich nach ihren
Vorbildern zu richten. Die Darstellungen von Komödienszenen in Hand¬
schriften, auf Wandbildern und Vasen scheinen in ihnen lebendig geworden zu
sein. Die Masken, die die Schauspieler in Athen trugen, sind sehr geschickt
dnrch Schminke wiedergegeben. Man erkennt die sachkundige Leitung des
Archäologen.
Aber wie ist es möglich, die erhaltnen Szenen zu vollständigen Theater¬
stücken auszugestalten? Die Leiter der Aufführung haben einen sehr glück¬
lichen Ausweg gefunden. Sie lassen die Verlornen Teile pantomimisch dar¬
stellen, dazu spielt Klavier und Streichorchester Musikstücke, die Herr Dr. Abert
aus zwei Orchestersniten vom Ende des siebzehnten Jahrhunderts ausgewählt
und so eingerichtet hat, daß das Ende der einzelnen Szene auch durch einen
musikalischen Abschluß hervorgehoben wird; der Charakter der Musik, bald
feierlich, bald lebhaft, entspricht etwa dem Inhalt der Szene. So ist bei der
Aufführung der Schwerpunkt bei dem wirklich Erhaltnen geblieben und doch
aus den Fragmenten etwas Ganzes geschaffen worden. Infolge der Gleich¬
förmigkeit der Fabeln in der neuern Komödie, von der noch die Rede sein
wird, ist die Rekonstruktion nicht so aussichtslos, wie es etwa bei einem
modernen Drama der Fall sein würde. Daß natürlich auch so manches in
den Ergänzungen problematisch ist, nimmt man für den Preis einer soweit
möglich vollständigen Aufführung gern mit in Kauf. Die Hauptsache sind ja
doch die echt menandrischen Szenen, und die allein bieten des Schönen genug.
Betrachten wir gleich die prächtige unversehrt erhaltne Szene, die dem ersten
Stück, dem „Schiedsspruch" (lZxiti-öpcmtss), den Namen gegeben hat.
Zwei Männer, in Felle gekleidet, treten in heftigem Wortwechsel auf,
doch einigen sie sich bald, ihre Sache dem alten Herrn Smikrines vorzutragen.
Der ist zwar wenig geneigt, sich mit dem Gesindel im Wollenflaus einzulassen,
aber die dem Athener angeborne Freude am Prozessieren und Judizieren
siegt in ihm, und so fordert er mit dem Takt des erfahrnen Richters den
von den beiden, der bisher geschwiegen hat, auf, den Streit zu berichten.
Wir erfahren hieraus zugleich ein wichtiges Stück von der Vorgeschichte der
Komödie.
Ich habe, so erzählt der Ziegenhirt Daos, ein ausgesetztes Kind gefunden,
doch habe ich es nicht selbst behalten, sondern meinem jetzigen Gegner, dem
Köhler Syriskos, auf seine dringenden Bitten überlassen. Den Schmuck des
Kindes, der kaum etwas wert ist, habe ich behalten. Auf den macht jetzt
Syriskos Anspruch. Ist das nicht unverschämt? Hätten wir beide zusammen
das Kind gefunden, dann hätten wir doch billig den Fund geteilt, dem einen
das Kind, dem andern der Schmuck. Nun bin ich gar der alleinige Finder
und habe freiwillig ihm das Kind abgetreten. Und doch will Syriskos, der
nichts gefunden hat, alles haben? Wenn er nicht zufrieden ist, mag er mir
das Kind zurückgeben, dann geschieht keinem Unrecht.
Doch alles bekommen, zur Hälfte geschenkt, zur Halse' ertrotzt,
Das geht doch nicht. Das hatt' ich zu sagen, ich bin zu End'.
Alles, was Daos erzählt hat, bestätigt Syriskos, den Fund, seine Bitten
um das Kind. Und doch bestreitet er das Recht des Daos auf den Schmuck.
Den reklamiert der Junge für sich — dabei läßt er sich das Wickelkind von
seiner Frau, die dabei steht, auf den Arm legen —, und er, Syriskos, den
Daos selbst zum Vormund eingesetzt hat, vertritt die Forderung. Daos ist
gar nicht der Finder des Schmuckes:
Ist das ein Fund, wenn der Eigentümer daneben liegt?
Das heißt nicht „finden", sondern „schinden"!
Und NUN wird der einfache Köhler pathetisch. Er erinnert an die Helden
der Tragödie, an Pelias und Neleus, die einst wie dieses Kind ausgesetzt
und von einem Hirten gefunden worden sind; in Niedrigkeit wüchse» sie auf,
bis ihre erhabne Herkunft ans Licht kam. Was wäre aus ihnen geworden,
wenn ihre Pflegevater Leute wie Daos gewesen wären! Darum wäre es auch
eine Ungerechtigkeit, diesem das Kind zurückzugeben, der es doch jetzt nur haben
wollte, um den Schmuck verschleudern zu können.
Der Zuschauer selber fühlt sich als Richter und spricht oder sucht im
stillen das Urteil. Der Schiedsspruch des Smikrines drückt aus, was jeder
denkt oder fühlt: Dem Kinde gehört der Schmuck, das Kind dem Syriskos,
der dessen Eigentum verteidigt, nicht dem Daos, der es seines Eigentums
berauben will. So muß dieser den Schmuck hergeben, freilich murrt er über
das Urteil und ruft wenigstens dem Syriskos zu, er würde wohl aufpassen,
daß er den Schmuck auch wirklich dem Kinde bewahrte.
An einem Ring, der sich unter den Schmucksachen befindet, wird dann
im Verlauf des Stückes erkannt, daß das Kind von dem jungen Herrn des
Syriskos und seiner Frau, der Tochter des Smikrines, eben jenes Schieds¬
richters in dem Streite, stammt. Sie ist als Mädchen nicht allzulange vor
der Hochzeit bei einem orgiastischen Feste von ihrem spätern Manne in der
Trunkenheit vergewaltigt worden, ohne daß die beiden sich später wiedererkannt
haben. Die Entdeckung des Kindes führt so zur Aufklärung und zur Ver¬
söhnung der durch Verrat und Verdacht entzweiten Gatten.
Die Fabel des andern Stückes, das nach der Hetäre des Dcmeas, eines
ältern reichen Atheners, „Die Samierin" heißt, ist der des „Schiedsspruchs"
sehr ähnlich. Ein vor der Hochzeit des Liebespaares gebornes Kind gibt den
Anlaß zu der Verwicklung. Mit köstlichem Humor ist eine glücklich erhaltne
Szene zwischen den beiden künftigen Schwiegervätern ausgeführt. Nikeratos,
der Vater des Mädchens, ist bei der Entdeckung von dem Fehltritt seiner
Tochter von rasender Wut gepackt worden. Ganz richtig ahnt er, daß der
junge Moschion, der das Mädchen liebt, der Tüter ist. Aber Demeas, der
Vater des Moschion, der Typus des jovialen Atheners, bezwingt den
Wütenden erst mit dem Stock, mit dem er ihn angegriffen hat, und dann er¬
ringt seine Überredungskunst einen glänzenden Sieg über den Gegner. Auch
hier werden Sagen, die dem attischen Publikum aus Tragödien geläufig
waren, komisch herangezogen. Am besten ists, ich führe das amüsante Stück
wörtlich in Roberts Übersetzung an.
Demeas, du kränkst mich bitter, und du weißt doch ganz gewiß,
Wie sich alles hat begeben.
Freilich, also hör' mir zu,
Und dein Weib laß ganz in Ruhe.
Hat am Ende doch dein Sohn
Mich hineingelegt?
Ach Unsinn! Freilich nimmt er sie zur Frau,
Doch begeben hat sichs anders. Komm, wir bummeln auf und ab,
Bummeln?
Ja dich abzukühlen, — Sag, hast du im Trauerspiel
Nie gehört, daß Zeus als flüßges Gold durchs Dach geträufelt ist,
Um ein Mädchen zu beglücken, das dort eingeschlossen war?
Nun, und weiter?
El, man muß doch stets gefaßt auf alles sein,
(Er weist am Haus des Nikeratos in die Höhe,)
Sieh einmal dein Dach an! Wenn es regnet, regnets meistens durch,
Das gehört doch nicht zur Sache.
Nicht zur Sache? Allerdings,
Heute Gold und morgen Regen, Ganz so, wie es Zeus beliebt.
Sieh, da haben wirs: Gewiß ists Zeus gewesen.
Halt' mich doch
Nicht zum Narren.
Gott behüte! Schlechter bist du keinesfalls
Als Akrisios") . , . Hat er dessen Kind beglückt, warum nicht deines?
Nein, zum Henker! Moschion wars. Der hat nur das eingebrockt,
Sei doch ruhig. Er nimmt zur Frau sie, doch ist er nicht schuld daran.
Nein, du kannst dich drauf verlassen, daß ein Gott dahinterstecke.
Ach, es gehn so viele Leute hier spazieren in der Stadt,
Die zu Vätern Götter haben! Warum regst du dich so auf?
Sieh einmal, da ist zum ersten Chairephon! In jedem Klub
Trifft man ihn,' doch seinen Beitrag hat er niemals noch bezahlt.
DaS erlaubt doch nur ein Gott sich. Meinst du nicht?
Nun meinethalb.
Warum soll ich mit dir streiten?
Sehr verständig, lieber Freund,
Weiter AndrokleS! Der lebt nun schon so viele Jahre lang,
Läuft und springt, Geschäfte macht er riesige; kein graues Haar
Sieht man noch aus seinem Scheitel, , . .
Siehst du wohl, daß das ein Gott ist? Also sei zufrieden jetzt.
Natürlich kommt zum Schluß die Hochzeit der jungen Leute zustande,
und das Kind wird von dem Vater anerkannt.
Darin aber, daß Demcas anscheinend lebende Personen zu Beispielen
nimmt, lebt ein Zug der alten attischen Komödie fort, die bei jeder Gelegen¬
heit berühmte oder bekannte Zeitgenossen verspottete, zuMeilen auch feierte, ja
sie sogar mit ihrer Maske auf die Bühne brachte. Sonst hat freilich das
bürgerliche Lustspiel Mcncmdcrs wenig mit den phantastischen Schöpfungen
der tollen Laune des Aristophanes gemeinsam. Die merkwürdige Tatsache, daß
sich die attische Komödie in so kurzer Zeit vom fünften zum vierten Jahrhundert
so gänzlich verwandelt hat, wird nur durch die völlig veränderte Stellung
Athens verständlich.
Viel näher steht Menanders Komödie der Tragödie des Euripides. Nicht
allein, daß die von ihm behandelten Sagen erwähnt, daß berühmte Partien
seiner Tragödien zitiert werden, anch inhaltlich ist Euripides Vorbild gewesen.
Die Szene zwischen dem Hirten und dem Köhler im „Schiedsspruch" entspricht
ganz der Art des Euripides, der gern seine Dramen mit solchen Redetnrnicrcn
ausgestattet hat; ja noch mehr, die ganze Handlung ist, wie man bereits
erkannt hat, einer Szene der euripideischen „Alope" nachgebildet. Auch in dieser
Verlornen Tragödie, deren Inhalt uns jedoch bekannt ist, hat ein Hirt das
ausgesetzte Kind, das er gefunden hat, einem andern zur Erziehung übergeben,
aber das Kleid des Kindes für sich behalten, anch hier geraten die beiden
darüber in Streit und rufen die Entscheidung des Mannes an, der, wie sich
nachher herausstellt, der Vater von der Mutter des Kindes ist.
Mit Euripides hat Menander anch die Neigung zum Reflektieren gemeinsam.
Seine Sprüche praktischer Lebensweisheit, die er in die Reden seiner Personen
eingeflochten hat, waren im Altertum berühmt und wurden viel zitiert, alphabetisch
geordnete Sammlungen solcher Sentenzen sind das einzige, was uns die
Byzantiner vou Menander überliefert haben. Sogar der Apostel Paulus hat
im 1. Korintherbrief, Kapitel 15, 33 den Spruch „Böse Geschwätze verderben
gute Sitten" angeführt, der uns in der einen dieser Sammlungen überliefert
und auch sonst als menandrisch bezeugt ist. Natürlich beweist dieser zum
Sprichwort abgenutzte Vers nicht, daß der Apostel die betreffende Komödie
selbst gelesen habe, geschweige denn, daß er mit Menander und der griechischen
Literatur vertraut gewesen sei.
Wie bei Euripides sogar die Ammen philosophieren, so hat Menander im
„Schiedsspruch" einen Sklaven Gedanken über das Weltregiment aussprechen
lassen. Doch hat er diese Worte geschickt und uicht ohne komische Wirkung mit
der Handlung in Zusammenhang gebracht; wir nehmen gar nicht daran Anstoß,
daß die Weisheit ans Sklavenmnnd kommt. Der alte Smikrines will erbittert
über den Lebenswandel seines Schwiegersohnes die Scheidung seiner Tochter
durchsetzen und kommt vor dessen Haus, um ihre Mitgift zurückzuverlangen, Götter
und Dämonen ruft er dabei zu Zeugen an, daß er ganz recht handelt. Da
sagt ihm der Sklave des jungen Ehemanns Onesimos, der ihm auf sein un-
stümes Pochen geöffnet hat:
Glaubst du wirklich, Smikrines,
Die Götter hätten soviel Zeit, um Tag für Tag
Uns zuzumessen das Gute und Schlimme, und obendrein
Noch einem jeden einzeln?
Ich versteh dich nicht.
So will ichs deutlich erklären. Paß mal auf.
Es gibt auf dieser Welt — nun sagen wir einmal
So gegen tausend Städte, und in jeder Stadt
Sind dreißigtausend Menschen. Wie machens die Götter da,
Um uns zu segnen oder zu schinden, Stück für Stück?
Da hast du recht; da hätten sie gar viel zu tun.
Und also kümmern sie sich keinen Deut um uns?
So wirst du fragen. Nun, gewissermaßen doch.
Den Charakter haben uns die Götter eingepflanzt
Als Kommandanten. Wenn der schlecht behandelt wird,
Zcrschindet er dich. Doch Heil und Segen bringt er dem,
Der ihn gut behandelt. Der Charakter ist unser Gott,
Die Quelle des Guten und des Bösen. Suche seine Gunst,
Und handle nicht töricht und unverständig: dann gehts dir gut.
Und handelt mein Charakter, du verdammter Hund,
Jetzt unverständig?
Er zerschindet dich ganz und gar.
So eine Frechheit!
Ist das eine gute Tat,
Deine Tochter wegzuholen von ihrem Ehemann?
Gut ist es nicht, doch sittliche Notwendigkeit!
Das Schlechte nennt der sittliche Notwendigkeit!
Ist das zu glauben? Wenn du in dein Verderben rennst.
Wer sonst ist schuld als dein Charakter? Aber jetzt
Hat dich der Zufall noch einmal gerettet. Drin
Triffst du Versöhnung, Fried' und Freud' und Einigkeit.
Das aber sag ich dir, daß ich nicht noch einmal
Dich straucheln seh! Für diesmal absolvier ich dich.
Jetzt geh hinein — und küss' deinen Enkel.
Der Enkel ist jenes ausgesetzte Kind, dem Smikrines selbst mit seinem
Schiedsspruch die bei ihm gefundnen Schmucksachen zuerkannt und es dem
redlichen Pflegevater erhalten hat.
Die Komödien Mencmders wirken nicht wie die meisten Lustspiele der
neuern Zeit durch ihren Stoff. Ich meine nicht deshalb, weil sie vielfach einen
recht unerfreulichen Einblick in das attische Familienleben und die faulen Sitten-
zustande der damaligen Zeit geben, das mag wohl das zeitgenössische Publikum
des Dichters weniger unangenehm empfunden haben als wir. Aber sie bieten
stofflich wenig neues, ihre Fabeln sehn einander oft zum Verwechseln ähnlich
nud scheinen manchmal geradezu nach einer Schablone fabriziert. Den Per¬
sonen ist mit der Maske, die sie tragen, in der Regel auch schon ihr Charakter
aufgeprägt, und die Zahl dieser Masken oder Personen, über die der Dichter
verfügt, ist recht beschränkt. Fester Bestand ist nicht nur das Liebespaar und
der verschmitzte Diener, die sich ja auch in den Lustspielen der modernen Völker
mit geringen Abwandlungen wiederholen, sondern auch die andern Personen
kehren in den Komödien, in denen sie der Dichter verwandt hat, schlechthin
als dieselben wieder: der Bater, die Ehefrau, der Parasit, der Koch, der Soldat.
Denn Individuen, komplizierte Charaktere, wie es die Menschen nun einmal
wirklich sind, kennt die Komödie Mencmders ebensowenig wie die Plastik der
klassischen Zeit Porträts. Wie die bildende Kunst des fünften und vierten
Jahrhunderts stellt sie Typen dar, Typen der verschiednen Lebensalter, Ge¬
schlechter, Stände und Berufe und stattet sie in neuen Situationen und Ver¬
wicklungen mit neuen Zügen aus. Denn trotz der Ähnlichkeit der Fabeln und
der Personen sind doch die Stücke Mencmders, die wir jetzt im Urtext oder
von anders her in den lateinischen Nachbildungen kennen, keine Wiederholungen
voneinander. Mögen sie auch nach ähnlichem Grundriß und zum Teil auch
mit denselben Bausteinen aufgeführt sein, so sind sie doch selbständige Schöpfungen,
jede hat ihren eignen Reiz. Was im allgemeinen für die griechische Kunst
überhaupt gilt, das trifft auf die neuere attische Komödie ganz besonders zu:
ihr Wert liegt nicht im Was? sondern im Wie? nicht im Stoff, sondern in
der Behandlung. Dadurch, daß sich die griechischen Künstler und Dichter immer
wieder denselben Aufgaben — oft viele Generationen hindurch — zugewandt
haben, sind sie zu ihrer Meisterschaft gelangt.
Mencmders Einfluß auf die Mitwelt und Nachwelt ist sehr groß gewesen.
Er selbst ging zwar in den Stürmen des Mittelalters uuter, aber sein Schatten
ist immer auf Erden geblieben. Zu allen Zeiten sind die sechs Komödien des
Terenz, die bis auf eine Übersetzungen oder Bearbeitungen von mencmdrischen
Originalen sind, bewundert und gelesen worden. im Mittelalter und im Beginn
der Neuzeit noch viel mehr als hente, denn damals bildeten sie in den Schulen
einen Hauptteil der lateinischen Lektüre. An Terenz und an dem seit der
Renaissance wieder entdeckten Plcintus hat sich dann das Lustspiel der Volker
des modernen Europas gebildet. Menander und wenige andre Dichter der
neuern attischen Komödie sind es, deren Erben und Nachfolger Shakespeare
und Moliere, Holberg und Lessing geworden sind.*)
Freuen wir uns, daß wir jetzt den Ahnherrn des modernen Lustspiels
wieder in ureigner Schöpfungen lesen und verstehn können. Denn natürlich,
nur im Original läßt er sich ganz genießen. Seine wundervollen Verse, seine
ungekünstelte und doch abwechslungsreiche Sprache, die jedem Gedanken den
treffenden Ausdruck gibt, sind eben unübersetzbar. Viele Feinheiten des Originals
verblassen in der Übersetzung oder werden vergröbert. Darum hat Carl Robert
nach der Erstaufführung am 20. Juni seinem Publikum, das ihn nach der
Vorstellung stürmisch hervorgerufen hatte, gesagt: „Lesen Sie ihn griechisch!"
Mag man aber auch gerade von diesem Dichter sagen, daß auch eine gute
Übersetzung der Rückseite des Teppichs gleicht, so ist doch in der Übersetzung
lesen besser als gar nicht lesen.
Seien wir darum dem Gelehrten dankbar, der mit seiner deutschen Über¬
tragung der neugefuuduen Szenen die Bekanntschaft mit dem Dichter erleichtert
oder ermöglicht. Ein besondres Glückslos aber haben die gezogen, die den
neuen Menander in Lanchstedt gesehn haben. Bei jeder der drei Aufführungen
war das hübsche Theater gefüllt bis auf den letzten Platz, und nicht nur von
Fachleuten. Auch die Damen waren zahlreich vertreten. Jedesmal hat lebhafter
Beifall den Darstellern und den Leitern der Aufführung gezeigt, daß ihre
Mühe dankbare Zuschauer gefunden hat. Mir wird die Menanderanfführuug in
Lauchstedt in schöner Erinnerung bleiben.
äsar Flaischleu hat ein wundersames Gedicht verfaßt: „Im
Kahn". Tränmend läßt sich im Nachen der Sänger von deu
Wellen schaukeln und wiegen und forttragen in die Ferne, den
stillen, weißen Wolken zu, die den Horizont umschweben; immer
mehr versinkt die Küste, alles wird zu blauem Glanz:
Vor ein paar Jahren, als ich zuerst in dem holländischen Seebade Noord-
wijk weilte und das Leben in Poesie und Poesie sich in Leben wandelte, da
umklang mich immer der Refrain: „Meine Mutter ist die Sonne . . . und
ich weiß, sie hat mich lieb!" Und als ich heimgekehrt ihn Meister August
Brugere rezitierte, da setzte er ihn sofort mit der ihm eignen Jmprovisations-
gabe in Töne um, und nicht lange, nachdem ich ihm das ganze Gedicht ab¬
geschrieben, sandte er mir die wundervolle Komposition (Op. 65, Ur. 7, Herz¬
blut-Lieder Heft III, bei Leede in Leipzig).
Und als Heuer am Pfingstsonntage die Mutter Sonne so hold lächelnd
mich zu fragen schien, ob ich den Tag verträumen und versäumen wolle,
anstatt ihn in seiner ganzen Schöne zu genießen, als sie immer dringender
„mit Feuerliebe" lockte, da — führte mich der Zug in wenigen Stunden über
Köln und Leiden nach Noordwijk.
Als schlichtes Fischerdorf hatte dieses jahrhundertelang, eingebettet in
seinen grünen Dünen, friedlich gelegen, wenn nicht Normannen auf ihren
Raubzügen auch diesen verträumten Erdenwinkel aufspürten und ausplünderten.
Erst vor weniger als zwei Jahrzehnten wurde der Strand, der an der Nord¬
seeküste mit seinen romantischen Dünenhängeu schier einzig dasteht, für das
moderne Badeleben entdeckt. Doch bis heute hat es seinen traulichen, familien-
haften, anheimelnden und vornehmen Charakter bewahrt, wenn anch neben
dem vielgegliederten hochragenden Hülf ehr vuin ein Hülf ehr Ac-K und eine
ganze Reihe von Villen entstanden sind, die teils Hotcldependenzen, teils
Privatbesitz sind. Wer aus den lauten, lärmenden Badeplätzen der belgischen
Küste (wie Ostende und Blankenberghe) oder der holländischen Küste selbst
(wie Scheveningen) hierher kommt, den umweht der Hauch echter Natur¬
einsamkeit und friedevoller Stille oder einer behaglichen Häuslichkeit, in der sich
ein jeder frei, ohne viel Aufwand und Prunk, bewegen kann.
Und wie fesselnd ist diese holländische Landschaft zu allen Zeiten des
Jahres! Wie ein Garten mit bunten Feldern, auf denen Hyazinthen, Tulpen,
Narzissen, Krokus und andre Blumenzwiebeln für die Blumenfreunde der
ganzen Welt gezogen werden, nimmt sich die Umgebung von Noordwijk-binnen
aus, jenem schmuck inmitten von Lindenbäumen und grünen Büschen ge¬
legnen Dorfe, das durch eine Dampfbahn mit dem Schwesterdorf Noordwijk
aan Zee verbunden ist. Und nicht fern liegt das Dorf Rijnsbnrg, das in
seinem Namen noch daran erinnert, daß hier vor anderthalb Jahrtausenden
der Rhein seine Fluten ins Meer wälzte, während er jetzt nur noch eine
schmale Rinne — einen Kilometer südlich — bei Kattwijk bildet und im
übrigen in Sumpf und Sand und spärlichen Wasserarmen verblutet. In
Rijnsbnrg war es auch, wo der große Flüchtling aus Amsterdam, der Philo¬
soph Spinoza, ein Asyl fand, Brillen und Begriffe schleifend; und nicht fern
davon ergrübelte Descartes sein oogito or^o sum. Und auch hente noch
können Philosophen- und Poetenaugcu mit Behagen und mit weihevoller
Sammlung auf dieser Landschaft ruhen. Inmitten der welligen Dünenhänge,
die mit Gräsern und kürzeren Buschwerk bewachsen sind, erhebt sich unfern von
Noordwijk-binnen ein Aussichtsturm mit weithin sichtbarer Spitze, das Koepeltje.
Wer dort am stillen Juniabende im Mondenscheine gestanden, während Lerchen¬
triller und Nachtigallenschlag ihn umklangen. der vergißt die Stunde nicht.
Wie eine kuppenreiche Gebirgskette breitet sich in magischem Lichte die
Düneulandschaft um uns her, von ferne blitzen die Lichter vom Scheveninger
Pier über das sich in dunkeln Schatten breitende Land herüber, näher glänzen
die Lichter von Leiden, und wie ein Bild des Friedens liegt zu unsern Füßen
das von Gärten und Buschwerk umrahmte Dorf; wie gespenstisch ragen auf
dem Dünenrande die Hotels und die Villen, und zwischen ihnen schimmert
hindurch das dämmrige Meer. Und dieses ist es doch vor allem, das auch
hier unsre ganze Seele in seinen Zauberbann zieht. Wem jauchzt nicht das
Herz, wem: sein Blick dahinschweift über die im Sonnenglanze daherziehenden,
schaumgekrönten Wellen, wem schweifen nicht trunken Auge und Sinn ins
Unermeßliche, wem füllt sich nicht das Innere mit Jubel und mit Andacht
zugleich? Wer wünscht sich nicht Flügel, um sich mit den Wogen und mit
den Wolken im blauen Raum zu verlieren? Wer spürt dann nicht den großen
Zusammenklang, der das Menschenherz und das große, stolze Element in eins
faßt? Wie ein Ein- und Aufatmen, wie ein Pochen des Pulses erscheint
dieses Auf und Ab der Wogen in seiner regelmäßigen Bewegung. Und vom
Sehnen und Verlangen ins Weite und Ferne oder von trotziger Kraft und
freudigem Mute oder von neckischen Spiel und sich überstürzender Laune
scheinen die Wassermassen zu reden, die sich unablässig vom dümmrigen
Horizonte her in der breiten gewaltigen Fläche dahinwälzen und sich an dein
Strande mit Gischt und Strudel brechen und in langhinzerfließendem Geriesel
zerrinnen.
Und unablässig spricht das Meer in andern Farben und Tönen zu der
empfänglichen Menschenseele. Gestern noch rollte der Donner haltend über
die weite See, grollte der Sturm, bäumten sich die Wogen wie wilde Rosse
und sprühte der Regen aus den tief herabhängenden dunkeln Wolken hernieder,
und den ganzen Tag über walteten Zorn und Leidenschaft in den entfesselten
Elementen, die ihre ganze Größe und Wildheit offenbarten. Und sie boten
das erhabenste Schauspiel uoch in der Nacht, wo über all den Graus in der
Tiefe der silberne Vollmond aus den Wolkenvorhüngen sein gespenstisches
Licht warf. Aber heute strahlt wieder blau der Himmel und blaue das Meer,
und mit blendend weißen Schaumkronen kommen die Wellen heran wie stolze
Schwäne.
Und nun wird es Abend. Über einer Wolkenbank schwebt die Sonne,
auf dem feuchten Strande spiegelt sich blendend ihr Bild, während sich
eine goldne Brücke vom Strand zum Horizonte spannt. Dann verschwindet
die Königin des Tages — da plötzlich hebt sich die Wolkenbank, und die
rote Feuerkugel erstrahlt aufs neue dicht über dem Horizont, alles in Glut
tauchend, und sinkt in majestätischer Ruhe hinab in die Fluten — doch noch
lange hängen zartrote Wölkchen wie Rosen inmitten des grünen und blauen
Dunstes, der den abendlichen Himmel umspannt, und in mir klingen die Zeilen
Meister Kellers wieder:
Und neue Tage in Glanz und Licht führte in mütterlicher Liebe das
Gestirn über Noordwijk herauf, Junitage voll stählender Reinheit der Luft
in der Frühe und voll sommerlicher Wärme um Mittag; wie herrlich war es
da, sich nach erfrischendem Bade auf der Düne durchglühen zu lassen von der
Sonne und an? Spütuachmittage im Kahn sich schaukeln und wiegen zu lassen
von Wellen und Winden — durch die wunderbare Ruhe der lichten Einsam¬
keit . . . und zu träumen wie ein Kind in stiller Wiege . . .
rud am Morgen la» Bernb. Walter hatte ihm noch gestern spät
telegraphiert, und er wollte uns melden, daß er schon in der ganzen
Provinz nach Harald suchen ließe. Er war sehr erregt und sprach
unausgesetzt. Nach seiner Ansicht konnte Harald nicht weit gelaufen
sein und würde sicher bald wieder zum Vorschein kommen. Etwas
Geld hatte er allerdings, neulich hatte er ihm einmal zwanzig Mark
gegeben. Ob er Briefe erhalten habe? schon möglich, er war dem Briefboten jeden
Morgen entgegengegangen. Niemand hatte sich darüber gewundert; er erhielt doch
fast täglich Briefe von seineu Eltern. Ob er in der letzten Zeit still gewesen war?
Bernb konnte es natürlich nicht sagen. Erwachsne Männer haben andres zu tun,
"is sich um die Stimmungen kleiner Knaben zu bekümmern. Während Bernb noch
sprach, erhielt er ein Telegramm mit der Meldung, daß ein junger Arbeiter, den
sein Gärtner beschäftigte, ebenfalls gesucht würde. Das war ein Abenteurer, von
dem man nichts wußte, als daß er schon in aller Herren Ländern gewesen war.
Mit ihm war Harald wahrscheinlich gegangen.
Herr Külve kam und brachte Anton Dreher mit, den Anstifter des ganzen
Elends und ein kleiner Junge mit blassem Gesicht und falschen Augen. Einer
Von denen, die nur klug in der Sünde sind, und sonst dumm. Aus ihm war
nichts mehr herauszubringen, eilf er schon gestanden hatte. Er und Harald hatten
sich die fertigen Extemporale abgeschrieben und auch sonst versucht, sich durch aller¬
hand Gaunereien das Lernen leicht zu machen. Es war mir auch, als könnten noch
andre Knaben an der Geschichte beteiligt sein; aber ich hütete mich zu fragen.
Die armen Mütter müssen zu sehr leiden. Herr Külpe sagte mir, daß die
Familie Dreher nicht so sehr ergriffen von der Schlechtigkeit ihres Sohnes wäre.
Nach ihrer Ansicht sind alle Mittel gut, sofern man es nur leicht zu etwas
bringt, und der Junge gab ruhig zu, an Harald geschrieben zu haben, daß alles
entdeckt wäre.
Und die Strafe? erkundigte ich mich bei Herrn Külpe mit trocknen Lippen.
Der arme kleine Mensch wird blutrot und murmelt etwas von Relegation. Also
wenn mein Junge noch lebt, dann darf er hier nicht mehr stolz sein Haupt erheben.
Wenn er noch lebt. Ist es vielleicht nicht besser —
Ich zittere vor dem Gedanken, der mich durchzuckt, und ich flehe Gott um, mir
zu verzeihen. Nein, ich will mein Kind suchen, will es an mein Herz nehmen und
versuchen, mit ihm die Schmach zu tragen. Aber wo soll ich ihn suchen?
Daß eine Frau mit grauem Haar vor mir steht und leise mit mir spricht,
merke ich nur ganz allmählich und dann auch nur halb im Traum. Es ist Frau
Roland, die mir dankt, daß sie kommen durfte. Sie will sich uicht in das Haus
ihres Sohnes drängen, der sich fern von ihr gehalten hat, aber sie hatte schon solange
ihren Sohn zu sehen und vielleicht einige Worte mit ihm zu sprechen gewünscht. Sie
klagt nicht, daß es so gekommen ist, und daß Fred kaum mehr ihr Sohn ist.
Wenn die Kinder groß werden, dann gehn sie ihre eignen Wege, und sie hat es
gewußt, daß sie immer bescheiden im Hintergrunde stehn müßte. Denn wenn mau
seinem stolzen Sohne nur den Mutternamen zu geben hat, und dann das Leben
kommt mit seinen grausamen Fragen, wenn die Schwiegertochter sich schämt, dann
ist es besser, allein zu bleiben und niemand beschwerlich zu fallen. Besonders
wenn das Glück kommt, und der Sohn sich einen klingenden Namen macht, was
soll er dann mit seiner Mutter, an der ein Makel klebt? Aber jetzt ist Frau
Roland doch unruhig geworden, und dann ist auch in ihr stilles Stübchen das hämische
Gerücht gedrungen, daß Doktor Eisenbart wohl andern helfen konnte, aber nicht
seiner eignen Familie. Und dann kam meine Einladung.
Ich höre alles wie im Traum. Es gibt viele Mutterschmerzen, ich weiß es.
Aber mein Schmerz ist doch der schlimmste. Dennoch horchte ich auf die leise
Stimme, und sehe mich nach ihr um, als sie plötzlich schweigt. Im Nebenzimmer
steht mein Mann und sieht mich traurig an. Er ist blaß, und ich müßte ihm ein
gutes Wort sagen. Aber ich kann es nicht. Er soll mir meinen Jungen wieder¬
geben. Er hat ihn mir genommen. Was sollte er so viel lernen?
Bleiern vergehn die Stunden. Bernb hat sich mit so vielen Polizeibehörden
in Verbindung gesetzt, daß er fast jede Stunde ein Telegramm erhält. Walter
studiert Fahrpläne, läuft hier auf die Polizei, ohne etwas zu erreichen, und Dolly
hat ebenfalls zweimal eine Depesche gesandt, einmal, daß eine Spur gefunden wäre,
nach einer Stunde, daß sie falsch gewesen wäre.
Sie sagen mir, daß ich mich ruhig halten soll. So sitze ich also auf dem
Sofa, halte Haralds Hund auf dem Schoß und wundre mich, noch zu leben.
Und dann steht Frau Roland wieder vor mir, und an der Hand hält sie das
kleine Stinchen, die Überlebende der drei. Stinchen hat ja nie viel gesprochen,
und ich kenne sie kaum. Jetzt hat sie ein reines Gesicht und glattgekämmte
Haare. Sie drückt sich an die Großmutter, und diese spricht ihr mit ihrer leisen
Stimme zu.
Willst du Tcinte Anneli nicht sagen, was Minchen dir erzählte, als sie noch
bei dir war? Was sagte sie, daß Harald wollte?
Einen Augenblick zögert die Kleine. Dann beginnt sie in ihrer langsamen
Art zu sprechen.
Milchen sagte, Harald sagte, wenn es herauskäme, dann ginge er zur Frau
Bäckermeisterin
Ich bin noch mit demi Nachtzug nach Virnebnrg gefahren.
Es ist eine lange Fahrt. Vierzehn Stunden mit der Eisenbahn, und dann
noch drei Stunden mit der Post. Walter wollte mir die Reise abnehmen, aber ich
lehnte heftig ab. Es ist mein Junge, und ich will ihn mir wiederholen.
Es war spät am andern Nachmittag, als ich in Virnebnrg anlangte. Die
Reise war heiß gewesen, und der Aufenthalt im Postwagen schrecklich. Jetzt lag
eine Wolke von Staub und Hitze über der kleinen Stadt, und die Berge waren
im Dunst; aber ich sah mich nicht um. Als ich cmsgesttegen war, ging ich die
enge Gasse hinunter, die ich zuletzt mit meinem Jungen gewandert war. Vertrauend
und in Erinnerungen schwelgend. Jetzt hatte mich die harte Wirklichkeit gepackt.
Wer einen Sohn zu behüten hat, der darf nicht träumen.
Der Laden duftete nach dem warmen Brot, und ein dicker Mann schob die
frischen Brötchen auf eine Platte. Ich kannte ihn nicht und fragte hastig uach der
Frau Bäckermeisterin. Er sah mich ernsthaft an.
Sie ist gestern auf den Kirchhof gebracht worden. Ich bin der Schwager.
Der Mann ist auch krank. Es ist das Typhusfieber.
Langsam ging ich die Gasse wieder hinunter. Die Abendglocken läuteten,
und auf der Straße lachten die Kinder. Von den Bergen kam ein kühler Hauch
und glitt mir uns Haupt. Der Kirchhof, das war das Ende von uns allen.
Hatte ich es ganz vergessen? Und es war doch so gut, es zu wissen! Ruht man
nicht still in der weichen Erde und Hort wie im Traum über sich die Vögel singen?
oder man sieht große Herrlichkeit, die sich auf Erden nicht versteh», nicht beschreiben
läßt? Und alles, was schwer war, ist leicht geworden. Daß man einst weinte, ist
vergessen über der großen Freude.
Hoch ragte der Gekreuzigte über den Kirchhof. Er streckte seine Arme aus
und lächelte sein ernsthaftes Lächeln. Denn es ist eine ernsthafte Sache um den
Tod; ein Abschied von allem, was wir bis dahin liebten, und was wir armen
Erdenmenschen kannten. Wir haben gepflanzt, gesät, wir haben die Sonne
kennen gelernt und den Regen; jetzt reift die Frucht, sind wir bereit, geerntet zu
werden?
Mit müden Füßen gehe ich weiter und will die Fran Bäckermeisterin be¬
suchen, die jetzt so still und friedlich in der Erde ruht. Ich will ihr sage», daß
ich sie niemals vergessen werde, daß ich sie bitte, für mich an dem Throne zu
beten, wo alle Tränen versiegen, die wir weinten. Ich will sie bitten, in ihrer
Freude meiner zu gedenken, wie sie schon einmal gut gegen mich war. Aber bevor
ich zu ihr gehe, schleiche ich mich ans den wilden kleinen Friedhof, auf dem Anneli
und Harald Pankow ausruhen, wo die wilden Rosen ebenso reich blühen wie
anderswo, wohin der Gekreuzigte ebenso milde lächelt wie über den Friedhof der
Stolzen.
Die Pforte steht offen, und zwei Meisen flattern mit Gejnbel vor mir her.
Freuen sie sich, daß anch hierher ein Menschlein kommt, um seine Bürde nieder¬
zulegen bei den Toten? Oder wollen sie mir sagen, daß sie hier ebenso schön
singen wollen wie auf dem Grabe der Frau Bäckermeisterin? Ich weiß es nicht,
ich denke nichts mehr. Auf dem wilden Grabe meiner Eltern liegt ein Knabe im
tiefen Schlaf. Er ist verstaubt und schmutzig. Und er hat sein Gesicht in die hohen
kühlen Kirchhofsgräser gesteckt. Aber ich kenne ihn doch; ich knie neben ihm nieder
und lege seinen blonden Kopf in meinen Schoß. Bei den Toten habe ich den
Lebenden wiedergefunden.
Und es ist mir, als hörte ich die Stimme der Frau Bäckermeisterin:
Der Herrgott und der Heiland nehmen alle Sünd weg!
Nun sind wir wieder daheim, und das Nachhausekommen ist uicht leicht. Weder
für Harald noch für mich. Nach großem Leid ist das Leben doppelt nüchtern, und
was man einst nicht spürte, tut heute weh. Ich muß noch oft mit Herrn Külpe
verhandeln und wieder hören, daß Harald unehrlich war. Es ist schwer, auf die
Straße zu gehen und bekannte Gesichter zu sehen. Ich war eine stolze Mutter,
nnn bin ich sein demütig geworden.
Walter hilft mir nicht viel. Er hat Korrekturen zu lesen, und ich sehe ihn
wenig. Seine Vortrage kommen schnell heraus; der Verleger hat plötzlich Eile mit
ihnen. Es ist ein Glück, daß Frau Roland hier ist; in ihrer ruhigen stillen Art
waltet sie im Hanse und weiß mit Harald so gütig zu sprechen, daß er seinen scheuen
Ausdruck verliert. Über ihn ist ein Sturm dahingegangen, und sobald wird er seine
Wanderung in die Eifel nicht vergessen. Der junge Arbeiter, der ihn zum Mitgehen
verlockte, stahl ihm seine kleine Barschaft, daß er betteln mußte, um weiter zu kommen,
und als er sich endlich bis zur Fran Bäckermeisterin hingequält hatte, kam ihm ihr
Sarg entgegen.
Lebensschule, sagt Frau Roland, mit der ich von diesen Dingen spreche. Mit
ihr kann ich reden, weil ich weiß, daß sie viele Schmerzen hatte und noch hat.
Lebensschule, wiederholte sie. Man lernt sie nie aus. Über ihr Gesicht geht ein
ernsthaftes Lächeln, und ich muß daran denken, daß sie ihren Sohn nur flüchtig
gesehen hat. Frau Päpke weiß sie von ihm fernzuhalten. Wie sie es anstellt, den
Doktor so zu regieren, ist ihr Geheimnis; er soll sie in allen Stücken zu Rate
ziehen. Er muß ja auch jemand haben, da ihm die Wirtschaft führt. Seine Praxis
hat abgenommen, da bemüht er sich, das Verlorne wiederzugewinnen. Aber wer
so schnell stieg, mit dem kann es auch schnell wieder bergab gehen, und in einigen
wissenschaftlichen Zeitungen sollen scharfe Angriffe ans seine Heilmethode stehen. Die
Magnifika hats mir berichtet. Sie ist nicht mehr besorgt über die Klinik am
Schwcmenweg. Die Menschen in Bärenburg haben viel Stoff zum Sprechen, auch
wir liefern ihnen einigen; und als ich kürzlich Herrn Professor Müller begegnete,
grüßte er mit einer Art Mitleid. In einer gelehrten Zeitschrift habe ich kürzlich
gelesen, daß dieser bekannte Gelehrte eine alte, lange Verlorne Handschrift wieder¬
gefunden habe und sie nächstens herausgeben würde. Eine alte Handschrift. Hat er
sie in dem Archiv des Fürsten Monrcal gefunden, dann sollte er sich hüten. Bodild
liebte immer Scherze, auch wenn sie etwas grausam waren.
Aber ich habe wenig Zeit, an solche Dinge zu denken. Onkel Willi ist abgereist,
und Frau Lona Päpke erschien bei mir, »in einiges zu bringen, das er vergessen
hatte. Sie trug ein weißes Kleid, und ihre dunkeln Augen lächelten schadenfroh.
Aber sie sagte mir, daß alle Leute großes Mitleid mit mir hätten. Es müßte auch
schrecklich sein, wenn die Kinder sich so schlecht wie Harald benähmen. Die ganze
Stadt spräche davon, und daß ich wohl nicht strenge genug gewesen wäre.
Ich erwiderte nichts, und Lona begann über die Rolandschen Kinder zu seufzen,
die so früh hätten sterben müssen. Aber sie wären gut aufgehoben, und ihre Mutter
wäre unheilbar krank. Und dann über die alte Frau Roland. Die ganze Stadt habe
sich gewundert, daß ich sie bei mir aufgenommen hätte. Sie wäre nun einmal nicht
verheiratet gewesen, und die junge Frau Roland hätte sich immer ihrer geschämt,
was man ihr nicht verdenken könnte. Ich wollte eine sehr scharfe Antwort geben,
da ging die Tür auf, und Herr Professor Müller trat ein, der sich nach meinem
Befinde« erkundigen wollte. Aber er wartete die Antwort nicht ab und sah lächelnd
in die herausfordernden Augen meiner Besucherin. Sie hatten sich allerlei zu er¬
zähle», und Lona versteckte ihre Zunge voll Gift und träufelte etwas Honigseim
darauf. Zusammen sind sie dann weggegangen, und ich hoffe, daß die Zwei sich
für immer finden werden.
Die Schulferien gehen zu Ende. Man spricht davon, daß Herr Külpe straf¬
versetzt werden soll, weil er so schlecht auf seine Arbeiten aufgepaßt hat, und heiraten
wird er sobald nicht können. Daher kommt es, daß meine kleine Schneiderin, die
mir kürzlich über den Weg lief, nicht recht wußte, ob sie freundlich wie sonst grüßen
sollte. Sie ist so stolz auf die Verwandtschaft mit einem wirklichen Gymnasiallehrer
gewesen; aber Hochmut kommt vor den Fall. Auch ich bin einmal stolz gewesen
und liege jetzt zerschlagen am Boden.
Was mit Harald wird, wissen wir noch nicht. Wenn wir ihn vom hiesigen
Gymnasium wegnehmen, soll von einer Relegation abgesehen werden. Ich kann
noch nicht über die Sache sprechen, und Walter auch nicht. Schweigend gehen wir
nebeneinander her, und jeder hat Furcht vor dem andern. Heute brachte nur Harald
einen großen Strauß vou reifen Brombeeren.
Mutterlieb, willst du sie nicht haben? Ich habe sie für dich gepflückt. Ernsthaft
sah ich in sein Gesicht. Es ist klein und blaß geworden, und seine Augen haben ihren
schimmernden Glanz verloren. Plötzlich faßt er mich um und bricht in Weinen aus.
Mutterlieb, willst du mich nie, niemals wieder etwas lieb haben? Ach, wenn
ich doch tot wäre wie Minchen Roland!
Da hielt ich meinen Jungen in den Armen, weinte mit ihm und suchte ihn
zu trösten. Er ist noch zu jung für die Feuer der Trübsal, und das Leid der Welt
kann er nicht tragen. Am Abend habe ich wieder mit ihm gebetet. Liebster Jesu,
bleib bei mir — ach, er ist nicht immer bei ihm geblieben.
Frau Roland rät, daß Harald auf das Gymnasium ihrer kleinen Stadt geschickt
werde, derselben Stadt, durch deren Gassen ich leichten Herzens gelaufen bin, und
wo Fred Roland seine ersten Erfolge errang. Mit Walter sprach ich noch nicht
über den Gedanken; ich muß mich erst an ihn gewöhnen. Ich bewundre Frau
Roland. Sie ist immer freundlich, fast heiter, sucht meinen Jungen ans fröhliche
Gedanken zu bringen und muß doch selbst immer im Schatten stehen. Erst ist es
die Schwiegertochter gewesen, die zwischen Fred und ihr stand, nun verdrängt Frau
Päpke sie aus dem Herzen des Sohnes. Fred arbeitet wie wahnsinnig, um seine
Klinik auf der Höhe zu halten, aber die Kranken werden immer weniger. Die
Amerikaner sind abgereist, und die vornehmen Herrschaften gehn wieder zum Geheimen
Medizinalrat, der laut über Überbürdung klagt. Fred hat allerhand Totengräber,
die jetzt eifrig an der Arbeit sind. Sein Erfolg war zu groß, zu schnell, nun muß
er ihn bezahlen, und daher kommt es auch wohl, daß er seine Mutter fast niemals
besucht. Aber er schickt ihr das kleine Stinchen, und die arme Nachgebliebne hockt
mit Harald zusammen, und beide trösten sich mit Frau Roland über den Umstand,
daß die Welt nichts von ihnen wissen will.
Heute hat mich Bernb besucht. Er nud Dolly wünschen dringend, daß wir
alle nach Falkenhorst kommen. Harald soll einen Hauslehrer erhalten und nicht
wieder auf das Gymnasium. Bernb ist rührend in seiner Güte, aber ich werde
keinen Gebrauch davon machen. Harald muß sich in der Schule durcharbeiten; er
ist kein Junker, dem das Lernen leicht gemacht werden soll, sondern ein armer
Professorensohn.
Anneli, sei nicht so schroff, sagte mein Vetter, nachdem ich seinen Vorschlag
abgelehnt hatte. Ehemals wärest du nicht so, sondern ließest mit dir reden. Mau
soll niemals übertreiben, auch in der Strenge nicht. Harald hat uns allen Sorgen
gemacht, aber er ist noch ein Kind und wird sich ganz gewiß bessern. Denke doch,
was ich für Dummheiten gemacht habe, als ich viel größer als Harald war! Dolly
will mich ja kaum uach Bärenburg lassen, weil hier die gefährliche Lona Hellmund
haust, die durchaus meine Frau werden wollte. Wenn ich daran noch denke, dann
kann mir heiß und kalt werden.
Er wollte noch weiter sprechen, da ging die Haustür, und Fred Rolands
Stimme fragte nach mir. Dann trat er ins Zimmer und sah weder nach rechts
noch nach links.
Anneli, ist es wahr, daß ich einen schlechten Ruf habe? Daß die Leute über
mich reden, als wäre ich ein Frauenverführer, und daß meine Klinik leer wird, weil
niemand sich mehr mir anvertrauen will?
Ich war zu erstaunt, als daß ich gleich hätte antworten können, da trat er
hart mit dem Fuß auf.
Anneli, Sie dürfen uicht schweigen. Wir sind zusammen Kinder gewesen, fröhlich
und ohne Sorgen, und ich habe Ihnen anch einmal das Leben gerettet. Das war
nichts Großes, und wenn Rosa Ihnen diese Rettung anschrieb wie ein Verdienst
von mir, so ist sie damals Wohl schon krank gewesen. Aber ich hoffe, daß Sie den
Mut finden, mir die Wahrheit zu sagen.
Er merkte nicht, daß Bernb leise das Zimmer verließ, und daß seine Mutter
eintrat: er sah nur in mein Gesicht. Und ich begann zu sprechen:
Ich will Ihnen die Wahrheit sagen, obgleich die Wahrheit nicht immer angenehm
zu hören ist. Sie sind hierher gekommen, und der Erfolg hat Ihnen gelächelt. Da
sind Sie schwindlig geworden und haben Ihre Kinder vergessen und auch Ihre
Frau. Zum Nachdenken nahmen Sie sich keine Zeit: daher ist es gekommen, daß
Lona Hellmund, verheiratete Päpke, bei Ihnen regierte. Aber ihre Negierung ist
sehr schlecht gewesen.
Ich hielt einen Augenblick inne, da trat Fred wieder mit demi Fuß auf.
Weiter, Anneli Pankow!
Ich wurde zornig.
Weshalb haben Sie Ihre Mutter so vernachlässigt? Wer hat Ihnen solche
Liebe gezeigt wie sie, und wie war es möglich, daß Sie sich ihrer zu schämen
schienen?
Ich habe mich niemals ihrer geschämt, begann Fred, es war nur — er sah
jetzt seine Mutter stehn, die ihn mit Augen voll Liebe betrachtete. Da stieß er einen
Laut aus, der wie ein Schluchze» klang, und fiel in ihre geöffneten Arme. So
also hat Fred Roland in der Trübsal seine Mutter wiedergefunden. Sie nahm ihn
auf mit Freuden, und ich bin leise davongegangen.
Am Abend berichtete mir Bernb, was Fred in so starke Aufregung versetzt hatte.
Mein Vetter hatte in der Goldner Gaus einen Bekannten getroffen, der ein Patient
Doktor Rolands war, aber die Klinik verlassen hatte, weil das Benehmen der Päpke
zu unverschämt geworden war. Sie hatte sich als Herrin gebärdet und Andeutungen
gemacht, daß sich der Doktor von seiner kranken Frau scheiden lassen wolle, um sie
zu heiraten. Dem Doktor war diese Äußerung sofort hinterbracht worden, und er
hatte Frau Päpke zur Rede gestellt. Da war sie auch gegen ihn unverschämt geworden
und hatte behauptet, daß er ihr schon lange die Ehe versprochen und ihren Ruf
verdorben habe.
Er antwortete mit der Aufforderung, sein Haus zu verlassen, was sie auch tat,
aber erst nachdem sie in eine Flut von Schmähungen ausgebrochen war, die das
ganze Haus hörte. Von vielen Dingen hatte sie gesprochen, von den Kindern, die
der Doktor hatte sterben lassen, von der Frau, die er verkehrt behandelt habe, von
den Kranken, die alle verkommen wären, hätte sie sich ihrer nicht angenommen. Jetzt
wohnte sie auch in der Goldner Gans, und es gab Menschen, die in ihr ein armes,
verfolgtes Weib sahen und über Doktor Roland sehr hart sprachen.
Mein Vetter war ganz erschüttert.
Anneli, wenn ich die geheiratet hätte! Welcher Gefahr bin ich entgangen!
Ich mußte lächeln. Die Gefahr war nicht so groß. Dein Vater lebte noch l
Bernb seufzte. Ach, wie sind die Eltern uns so bitter notwendig! Und dann
verlassen sie uns doch und lassen uns mit dem Leben kämpfen. Fred kann sich
glücklich schätzen, daß er seine Mutter noch hat. Im ganzen ist er doch auch ein
guter Kerl. Etwas hochfahrend war er ja immer, und der großartige Erfolg, den
er hier fand, hat ihn verwöhnt. Die Frau soll einmal so ungezogen gegen seine
Mutter gewesen sein, als sie eben mit Fred verheiratet war; seit der Zeit hat der
Sohn die Zwei nicht wieder zusammenbringen wolle». Es war vielleicht vorsichtig,
aber doch verkehrt gehandelt. Die Mutter des Mannes muß seiner Frau heilig sein,
und wer gegen dieses Gesetz verstößt, den ereilt immer die Strafe.
Bernb war sehr ernsthaft geworden, und ich freute mich an seinem ehrlichen Gesicht
und an seinen guten Augen. Mit seinem Urteil über Fred wird er wohl recht haben.
Das ist einer von denen, die nur langsam reifen. Aber dann werden sie sehr gut.
Frau Roland ist zu ihrem Sohn in der Klinik gezogen. Es gibt dort jetzt für
sie eine Menge zu tun, und sie wird ihrem Sohn schon helfen, durchzukommen.
An diesem selben Tage erhielt ich einen Brief von Bodild. Sie schreibt von
ihren: Schloß in Thüringen und ladet mich ein, sie zu besuchen. Du wirst dann
auch vielleicht deinen Freund, Professor Müller treffen, schreibt sie unter anderm.
Er und ich sind sehr befreundet. Du warst immer so brav, kleine, liebe Anneli!
Ich aber Schnarre wie der bekannte Romanpapagei: Rache ist süß! Wer meiner
Anneli Schmerzen bereitet, der hat es mit mir zu tun!
Hieraus sehe ich, daß meine liebe Bodild dem Professor ein vergiftetes Zucker-
Plätzchen gegeben hat. Ist die Handschrist, die er herausgeben will, vielleicht ge¬
fälscht? Ich muß Walter fragen. Solche Rache wäre niemals nach seinem Geschmack.
Gestern schrieb ich so weit, da rief Walter nach mir, und ich ging zu ihm.
An Walter habe ich in dieser Zeit so wenig gedacht; ich hatte zu viel mit mir
und meinen Sorgen zu tun. Er war mir auch deswegen nicht böse und streckte
wir jetzt lächelnd einen Brief entgegen.
Sieh! sagte er mit leuchtenden Augen, ließ mich aber nicht lesen und sprach
hastig auf mich ein.
Der Brief ist von Theodor Mommsen, dem großen Philologen, der unser aller
Meister ist. Er hat meine Vorträge gelesen und findet sie so gut, daß er sie lobend
besprechen will. Ich habe ihm das Buch nicht geschickt, das würde ich niemals wagen.
Er hat es von meinem Verleger erhalten, und was er sagt und tut, ist ganz aus
s'es selbst heraus.
Ach. Anneli, ich freue mich so sehr! Nun kann Professor Müller mir nichts
?^hr anhaben, und niemand wird meine Arbeit über die Achsel ansehen! Nun
lallst du auch wieder heiter werde», Anneli, und nicht so ernsthafte Augen machen,
^es weiß, was dich quält, und auch ich habe schwer an Harald getragen, doch der
^unge wird schon wieder ordentlich werden, und wir dürfen ihm nicht ewig zürnen.
Ich legte meine Wange an die seine.
Du hast recht, Walter, wir dürfen nicht ewig zürnen. Doch das Verzeihen ist
einem geliebten Kinde gegenüber oft so schwer.
Walter streichelte meine Hand, und dann begann er wieder von seinem Buch
zu sprechen und von der großen Freude, die so unerwartet zu ihm gekommen war,
gerade wie damals das Böse.
Er hatte sich in seinen Arbeitsstuhl gesetzt, und ich stand neben ihm, horchte
auf seine liebe Stimme und grämte mich leise, daß ich in dieser Zeit so wenig an
meine Pflichten als Frau gedacht hatte. Aber es sollte besser werden. Nicht allein
Harald sollte meine Gedanken ausfüllen: Walter war der erste in meinem Herzen
und sollte es bleiben. Mein Mann sprach noch immer. Von allerhand Plänen, die
er ausführen wollte, daß nun vielleicht auch ein Ruf an eine andre Universität
käme, und daß es gut für uns sein würde, Bärenburg zu verlassen. Seine Augen
glänzten fast überirdisch, und dann griff er nach meiner Hand.
Anneli, ich habe dich lieb!
Seine Stimme klang etwas belegt, und ich küßte ihn.
Ich liebe dich auch, Walter, du weißt est
Da lachte er leise auf und senkte den Kopf auf die Seite. Ganz unvermerkt
war er von mir in das Land gegangen, wo es keine Schmerzen, sondern nur
Seligkeit geben soll.
Dieses habe ich ganz ruhig aufgeschrieben. Aber mein armes Herz ist dabei
zu Stein geworden. Walter, du hast mich sehr allein gelassen.
Zweimal reiften schon wieder die Früchte, und die Luft ist angefüllt mit Koru-
geruch. Die Felder werden abgeerntet, und auf den Wegen, die zu der kleinen
Stadt führen, schwanken die beladnen Wagen.
Ich stehe ans der Terrasse des alten Schlosses meiner Kindheit und sehe auf
den weiten See unter mir, auf die Buchenwälder, die ihn umsäumen. Weiße Fäden
schweben durch die Luft, und in der Luft schwatzen die frühen Wandervögel; aber
die Sonne scheint noch warm, und Harald, der aus der Schule kommt, lacht schon
Von weitem. Das bedeutet, daß er eine gute Zensur heimbringt.
Ja, ich wohne in dem alten Schloß, in dem ich einen Teil meiner Kindheit
verlebte, und unter liegt die kleine Stadt, durch deren Gassen ich meine Kinder¬
gedanken trug. Die Menschen sind sehr gut mit mir gewesen. Bodild hat es durch¬
gesetzt, daß ich hier eine Freiwohnung erhalten habe, in der ich und mein Junge
viel Raum haben. I« meiner Kindheit lebte in den Zimmern die alte Demoiselle
Stahl, die mir gut gesinnt war: damals ahnte ich nicht, daß ich einmal an ihrem
Fenster sitzen und auf den lustigen Brunnengott blicken würde, der noch immer im
Schloßhof steht. Aber es ist ein friedliches Nestchen, das ich mir bauen durfte, und
wenn ich durch die Straßen der kleinen Stadt gehe, dann grüßen mich mauche
bekannte Gesichter. Und hin und wieder gehe ich zu Onkel Willi, der mit seiner
Miß ebenfalls in seinen alten Räumen wohnt, und dann kommt es, daß ich frage:
Onkel Willi, weißt du noch, wie dieses war und jenes?
Er nickt dann wohl und sagt ein bestätigendes Wort; aber am liebsten sitzt er
ganz still und spinnt sich ein in seine Träume und fragt nicht danach, daß ihn die
Menschen vergessen habe«. Und eines Tages wird er aus seinen Träumen nicht
wieder erwachen.
Ich aber versuche nicht immer zu träumen. Meine Zeit ist noch nicht gekommen,
ich soll noch Frucht bringen, und eines Tages wird sie von mir gefordert werden.
Ich will arbeiten an Harald, und Bernb will mir seine kleine Tochter Lila geben,
damit sie unter meiner Obhut aufwachse. Dolly ist in der letzten Zeit so viel krank
gewesen, daß sie für Jahre nach dem Süden muß. So also wird Lila mein Kind,
und ich will gut für sie sorgen.
Manchmal höre ich uoch von Bttrenburg. Die einstige Magnifika schreibt mir
zuweilen, und von ihr weiß ich, daß Frau Pnpke Herrn Professor Müller geheiratet
hat. Er hat wohl nicht die Absicht gehabt, es zu tun, aber er rechnete nicht mit eiuer
so willenstarken Persönlichkeit, wie Lona Hellmund es ist. Die Universität hat sich
von ihm zurückgezogen, und er sucht nach einer Versetzung. Sein Buch über die
alte Handschrift ist auch nicht erschienen; die Geheimra'tin schrieb, daß allerlei über
diese Handschrift geflüstert würde, die nicht echt gewesen sein sollte. Als ich dies
las, mußte ich an meine Freundin Bodild denken, die nur mühsam auf meine Bitte
einging, Professor Müller aufzuklären, daß er sich in der in ihrem Archiv gefundnen
Handschrift geirrt habe. Sie hatte sich auf diese Rache gefreut; aber meine Bitte
hat sie dann doch erfüllt. Ich weiß, daß Walter ganz meiner Ansicht sein würde.
Walter haßte alles Unedle, und ich will werden wie er.
Frau Roland wohnt nicht mehr hier in der Stadt. Fred hat seine Klinik ver¬
kauft und ist mit seiner Mutter nach Paris gegangen; es heißt, daß er nächstens
an eine größere Universität berufen werden würde. Denn seine große Bedeutung
ist ihm unvergessen, und die Menschheit hat ihn nötig. Harald spricht manchmal
von Stinchen und sehnt sich sogar nach ihr.
Weil sie eine Schwester von Minchen ist, möchte ich sie gern sehen, sagte er
mir gestern. Mutterlieb, wenn Stinchen groß ist, kann ich sie vielleicht heiraten.
Glaubst du, daß es Papa recht sein würde? Er spricht so viel von seinem Vater,
und in seinen Gedanken ist er nicht tot, sondern lebt weiter. Der Geist seines Vaters
wird ihn auch hoffentlich weiter schützen und seinen Charakter befestigen.
Es ist ein stiller Herbsttag. Die Sonne liegt auf unserm alten Schloß, ans
seinem Hofe, auf dem lachenden Triton. Ich sitze auf der verwitterten Brunnen¬
schale und lese ein Schreiben, das ich heute erhalten habe. Der alte Herr Stahl
ist gestorben und hat mir zwanzigtausend Mark vermacht. Zum Ersatz dafür, daß
ich die Erbschaft, die mir seine Tante bestimmte, nicht erhalten durfte. Dieses Geld
kommt mir sehr überraschend, aber es wird mein Witwenleben erleichtern und vielleicht
für Harald die Wege bahnen. Unwillkürlich sehe ich nach den Fenstern, hinter denen
ich als Kind die alte Demoiselle sitzen sah. Sie ist seit mehr als zwanzig Jahren
tot, aber ihre Gedanken leben noch und haben Frucht getragen. Wenn ich einmal
so alt sein werde, wird man das auch von mir sagen können?
Harald kam heim, ich hörte seine lachende Stimme, und dann rief er: Da sitzt sie!
Vor mir stand Fred Roland, der sein kleines Stinchen an der Hand führte.
Sie trug ein schwarzes Kleid, aber ich achtete nicht darauf, sah nur in ihre Kinder¬
augen und freute mich, daß sie so groß geworden war.
Dann lief Harald mit ihr davon. Er hat wieder einen Hund und einen Vogel;
er mußte alles zeigen.
Fred Roland setzte sich neben mich auf den Bruunenrund, und der Triton lächelte.
Wir sprachen von vielen Dingen. Er hat einen Ruf als ordentlicher Professor
"nich K. erhalten und wird ihn annehmen. Sein letztes Buch über eine neue Heil¬
methode hat ihm die Berufung eingetragen.
Nun wirds hoffentlich besser gehn, sagte er mit einem kurzem Atemzug, und
wie ich in sein scharfgewordnes Gesicht sah, da wußte ich, daß auch für ihn die
Zeit der Reife gekommen war.
Dann sagte er plötzlich: Meine arme Frau ist schon vor sechs Monaten
gestorben.
Ich erwiderte nicht viel. Es war schwer, die richtigen Worte zu finden. Er
machte auch eine abwehrende Handbewegung und nahm daun plötzlich den Hut
vom Kopfe.
Anneli, Sie brauchen mir nicht zu kondolieren. Es mag hart klingen, aber
meine erste Ehe ist eine Kette von Unglück gewesen. Ich trug natürlich die Schuld;
fern sei es von mir, der Verstorbnen einen Vorwurf zu machen; aber ich kann mir
denken, daß es nun alles mit mir besser wird. Besonders, wenn — er hielt inne
und sah mich an. Anneli, ich habe Sie einst aus dem Wasser gezogen; wollen Sie
jetzt auch mir das Leben retten? Wollen Sie nicht meine Frau werden?
Ich saß ganz still. Der Triton sah zu mir hin, und über das Schloß schwebten
wieder die Wandervögel. Walter blickte ihnen immer nach, wenn sie in die Ferne
zogen. Und dann begann ich vor mich hiu zu sprechen:
Sie dürfen nicht zürnen, Fred, aber ich kann nicht die Ihre werden. Denn
ich gehöre einem andern. Ich gehöre meinem Manne. Sie werden sagen, daß er
tot ist, aber für mich ist er nicht tot: er lebt, und er ist immer um mich. Er ist
mit mir so gut gewesen, Fred, so gut, und ich habe so viel an mich und an meine
Gedanken und Sorgen gedacht und so selten an ihn. Er hat es mir nie übel
genommen; er hat mich weiter geliebt, mit meinen Fehlern und Schwachen, und
sein letztes Wort war für mich ein Wort der Liebe.
Sie siud noch so jung — murmelte Fred, und seine Stimme klang heiser.
Die Liebe fragt nicht nach Alter und Jugend, Fred; ich kann Walter niemals
aufhören zu lieben, und meine Liebe soll immer größer werden. Sie soll nicht blaß
werden mit den Jahren, und sie würde es vielleicht, wenn ich Ihnen folgte in ein
andres buntes Leben.
Fred saß eine Zeit lang ohne zu sprechen, dann begann er von neuem. Einmal
habe ich gedacht, geglaubt —
Ganz recht, einmal habe ich Sie sehr lieb gehabt, Fred; das war, als ich ein
Kind war, und dann, als wir uns in Luzern trafen. Als ich Walter heiratete,
empfand ich für ihn keine große Liebe. Wenigstens nicht die, von der in den Romanen
geschrieben steht. Aber meine Liebe zu meinem Manne ist immer größer geworden,
und jetzt, da er von mir gegangen ist —
Ich bemühte mich, meine Trauer zu verstecken, aber sie brachen hervor. Lassen
Sie mir meine Liebe, Fred!
Da faßte er meine Hand, küßte sie und ist den Schloßberg hinunter gegangen,
ganz langsam und in gebeugter Haltung, wie ein alter Mann. Aber ich weiß, daß
er wieder aufrecht gehn und jung werden wird. Und eine Frau, die zu ihm paßt,
wird mit ihm die Früchte seines Ruhmes ernten.
In der Ferne aber hörte ich Haralds lustige Stimme. Ja, mein Sohn, ich
will bei dir bleiben, und auch bei dir sollen die Früchte reifen.
Im Schloßhof steht noch hente der Triton und lächelt sein lustiges Lächeln.
Er hat schon vieles in seinem Leben gesehn und sieht jetzt dem Winter entgegen,
dem Schnee und Regen, den Eiszapfen, den grauen Schwänen, die über sein Haupt
dahinfliegen.
Aber nach dem Winter kommt wieder der Frühling, und wir werden seiner
warten.
Mit Eifer werden jetzt, in der stillen Zeit des Jahres, schon die Aufgaben
erörtert, die im kommenden Winter voraussichtlich die Volksvertretung?» beschäftigen
werden. Aber die Vorarbeiten der zu erwartenden Gesetzentwürfe sind noch nicht
durchweg so weit gefördert, daß sie veröffentlicht werden können. Über die Grund¬
züge der Strafprozeßrcform ist kürzlich in der Presse so viel mitgeteilt worden, daß
man sich ein Bild davon machen kaun. Es ist aber wohl nicht die Aufgabe dieser
Betrachtungen, die geplante Reform an dieser Stelle eingehend zu besprechen. Er¬
wähnt mag nur werden, daß nach der Veröffentlichung der ersten Mitteilungen
über die jetzt ausgearbeiteten Pläne mit seltner Einmütigkeit anerkannt wurde, daß
die Vorschläge in der Tat Verbesserungen seien, sich wenigstens in einer Richtung
bewegten, die man als Fortschritt bezeichnen müsse, wenn natürlich auch manche
Stimmen laut wurden, die in dem einen oder andern Punkte über das Maß dieses
Fortschritts verschiedner Meinung waren. Die Frage der Zweckmäßigkeit der Be¬
rufung in Strafsachen ist ein alter Streitpunkt uuter deu Juristen. Aber die Wag¬
schale hat sich jetzt so sehr nach der Seite der Neuerung geneigt, daß der Plan,
diese Berufung einzuführen, fast allgemein Zustimmung gefunden hat. Auch die in
Aussicht genommne Verstärkung des Laienelements bei der Rechtsprechung in Straf¬
sachen wird gebilligt. Stärker werden wohl die Wünsche bei der Frage der Schwur¬
gerichte auseinandergehn. Hier scheint in der Hauptsache alles beim alten bleiben
zu sollen, und doch regt sich in vielen Kreisen eine sehr entschiedne Sehnsucht nach
Reform. Die Schwierigkeit liegt wohl darin, daß um die Schwurgerichte, die einst
in engem Zusammenhange mit unsern parlamentarischen Einrichtungen nach eng¬
lischem Muster gebildet wurden, ein auf politischen Überlieferungen beruhender
Nimbus schwebt, und daß jeder Versuch der Juristen, die Einrichtung nüchtern vom
fachmännischer Standpunkt aus zu prüfen und zu verbessern, in weitern Kreisen auf
ein gewisses Mißtrauen stößt. Vor längerer Zeit trug sich die Kommission, wie
vielen erinnerlich sein wird, mit dem Gedanken, die Schwurgerichte durch verstärkte
Schöffengerichte zu ersetzen. Man ist davon abgekommen, weil man sich Wohl mit
Recht sagte, daß bei dieser Frage gewisse Imponderabilien im Spiele seien. Die
Sache würde ähnlich wirken, als wenn man den Vorschlag machte, eine Verfassung
dahin abzuändern, daß man das Parlament durch eine Art von verstärktem Staatsrat
ersetzte. Eine solche Einrichtung würde wahrscheinlich bessere Gesetze machen als
die jetzigen Volksvertretungen; auch ließe sich wahrscheinlich ans irgendeine Art
erreichen, daß in einem solchen Stnatsrat die Meinung der verschiedensten Volks¬
kreise in Wahrheit besser zur Geltung käme als jetzt. Dennoch würde man der¬
gleichen allgemein als eine Rückkehr zun: Absolutismus und als schlimmste Reaktion
empfinden. Denn die öffentlichen Einrichtungen wirken nicht mir durch das, was
sie geben und sind, sondern auch durch die Vorstellungen und Empfindungen, die
sie durch psychologische und geschichtliche Zusammenhänge in der Volksseele erzeugen.
Das darf auch bei der Beurteilung der Schwurgerichte uicht vergessen werden.
Noch mehr als die lange und sorgfältig vorbereitete Reform der Justizgesetze
wirft die Reichsfinanzreform ihre Schatten voraus. Das allgemeine Verlangen geht
dahin, recht bald über die zu erwartenden Vorschläge unterrichtet zu sein. Aber eine
gnnze Reihe von Gründen, die man als berechtigt anerkennen muß, haben die ver¬
bündeten Regierungen veranlaßt, sich gegenseitig zu verpflichten, einstweilen noch
Stillschweigen zu beobachten, bis ein völlig durchgearbeiteter, vou allen einzelstaatlichcn
Regierungen gutgeheißner Entwurf der Öffentlichkeit vorgelegt werden kann. Um
so lebhafter setzen jetzt die Plänkeleien der Parteien über die taktische Behandlung
der bevorstehenden Vorlage ein. Und da ist es vor allem der von uns schon früher
erwähnte Plan eines „Kuhhandels", der die Geister beschäftigt und in Erregung
versetzt. Die Liberalen leben sich immer mehr in den Gedanken ein, als Gegen¬
geschenk für ihre Mitwirkung bei der Reichsfinanzreform die Reform des preußischen
Wahlrechts zu verlangen. Nicht nur in freisinnigen, auch in nationalliberalen Kreisen
faßt dieser Gedanke Wurzel. Man weist darauf hin, daß eine solche Politik der
Gaben und Gegengaben etwas ganz Gewöhnliches sei. Jede Partei habe dergleichen
Handelsgeschäfte auf ihrem Konto. Warum sollten die Liberalen allein die Gunst
der Lage nicht benutzen? Außerdem — so wird die Forderung weiter nicht un¬
geschickt begründet — bestehe doch wirklich ein innerer Zusammenhang zwischen den
Wünschen der Reichspolitik und den Wünschen der Liberalen. Wenn die Regierung
an die Opferwilligkeit des Volks für die Gesundung der Reichsfinanzen appelliere,
so sei es doch wirklich nicht zu viel verlangt, wenn das Volk im Zusammenhang
damit die Rechte zu erlangen wünsche, die ihm nach seiner Auffassung zu Unrecht in
einem einzelnen deutschen Staat — und noch dazu dem größten und führenden —
vorenthalten würden.
Wie gesagt, eine geschickte Begründung! Aber es läßt sich doch manches da¬
gegen einwenden. Zunächst würde die Sache anders liegen, wenn in bezug auf
das preußische Wahlrecht gegen das bestehende System ein bestimmter Positiver
Reformvorschlag aufgestellt würde. Bekanntlich ist das nicht der Fall. Einig sind
die Gegner des bestehenden Wahlrechts nur in negativer Beziehung. Sie sagen:
Das Wahlrecht taugt nichts, es muß anders werden. Aber an positiven Gegen¬
vorschlägen liegt nicht einer, sondern liegen zwei vor, wenn man von geringern
Meinungsverschiedenheiten absieht. Die Forderung der vorgeschrittnen Liberalen,
das Neichstagswahlrecht auf Preußen zu übertragen, wird von den Nationalliberalen
und sogar von einem Teil der Freisinnigen als undurchführbar erkannt; der vermittelnde
Vorschlag beschränkt sich auf die Forderung einer Neueinteilung der Wahlkreise und
Einführung der geheimen Wahl. Nun frage man sich ehrlich: Ist dieses Zurück¬
gehen auf einen nach seinen Wirkungen voraussichtlich recht unbedeutenden Ver¬
mittlungsvorschlag so überzeugungskräftig für die Behauptung, die Bevölkerung des
Königreichs Preußen sei so sehr gekränkt und eingeengt in ihren Grundrechten, daß
die Nichtgcwähruug dieses Vorschlags dem ganzen deutschen Volk das Recht gebe,
eine der wichtigsten Lebensfragen seiner Reichspolitik über den Haufen zu werfen?
Das deutsche Volk besitzt durch sein Wahlrecht die Möglichkeit der Beeinflussung
aller Fragen von nationaler Bedeutung in einem Umfange wie kein andres Volk
der Welt. Da müßte es doch ein leichtes sein, die Störungen, die angeblich aus
der Reformbedürftigkeit eines einzelstnntlichen Wahlrechts erwachsen, den Beteiligten
so stark zum Bewußtsein zu bringen, daß eine starke Bewegung für Rechtser¬
weiterungen positiven Inhalts zustande käme. Aber wo ist in Preußen eine solche
Bewegung, die — natürlich abgesehen von den sozialdemokratisch beeinflußten und
geführten Massen, die jede radikale Forderung grundsätzlich unterstützen, und wenn
sie noch so blödsinnig ist — ein positives, ernstes Bedürfnis des geschlossen auf¬
tretenden Bürgertums bekundete? Dafür stellt man die kleine Flickarbeit am
preußischen Wahlrecht, auf die man sich zur Not geeinigt hat, um gegenüber der
Massenverhetzung nur gerade noch als volkstümlich und liberal konkurrieren zu
können, mit großen Worten der größten und dringendsten Aufgabe entgegen, die der
Reichspolitik zurzeit erwachsen ist.
Es ist übrigens nicht das einzige Kennzeichen der politischen Geschäfte, die
man mit dem Ausdruck „Kuhhandel" zu brandmarken pflegt, daß die beiden Dinge,
die mau als Forderung und Gegenforderung aufzustellen pflegt, nichts miteinander
zu tun haben. An und für sich wurde nichts dagegen zu sagen sein, wenn eine
Partei die Zustimmung der Gegner zu einem Gesetz, das diese überhaupt nicht
haben wollen, durch ein Zugeständnis in einer andern Sache erkauft, die aus¬
schließlich eine Forderung der Gegenpartei ist. Es gibt Gesetze, die die Kon¬
servativen, andre, die die Liberalen überhaupt nicht wollen. Man einigt sich.
Oo ut clos! Ein einfacher Vorgang! Aber liegt denn dieser Fall hier überhaupt
vor? Die Regelung der Finanzfrage im Reiche ist eine dringende, ja die dringendste
Aufgabe, an deren Losung alle Parteien mitzuarbeiten haben, die den Staat und
das Reich überhaupt wollen. Diese Aufgabe kann nur gelöst werdeu, wenn sich inner¬
halb der Frage selbst die Parteien gegenseitig Zugeständnisse machen und von ihren
grundsätzlichen finanzpolitischen Meinungen an beiden Teilen etwas opfern. Man
wird daher niemals von dem konservativen oder liberalen Charakter einer Reichs¬
finanzreform sprechen können, wenn das Ziel auch nur annähernd erreicht werden
soll. Es kann auf diesem Gebiete uur etwas geleistet werden, wenn das Werk den
Charakter eines Kompromisses erhält. Was manchem Gesetz als unvermeidliches
Übel anhaftet, ist hier eine auf innern Gründen beruhende Notwendigkeit. Die
Lösung dieser Aufgabe ist für alle bürgerlichen Parteien gleichmäßig die Erfüllung
einer nationalen Pflicht. Es kann nicht davon die Rede sein, daß es sich hier um
eine Forderung handelt, die etwa die Regierung, auf die Konservativen gestützt,
erhebt, sodaß die Liberalen ein Recht hätten, für ihre Mitwirkung Bedingungen zu
stellen. Wenn die Liberalen gleichwohl für ihre einfache Mitwirkung an der Er¬
füllung einer nationalen Pflicht einen besondern Vorteil auf Kosten ihrer Partei¬
gegner fordern, also die Möglichkeit andeuten, daß die wichtigste Lebensfrage des
Reichs ohne die Gewährung von Sondervorteilen an ihre Partei ungelöst bleibt,
so ist das in nichts verschieden von der Haltung des Zentrums am 13. Dezember
1906. Es würde ein Lebensinteresse des Reichs dem Parteigeist geopfert werden,
wenn sich die Regierung darauf einließe, und man ist berechtigt, ein solches An¬
sinnen als Vorschlag eines Kuhhandels der schlimmsten Sorte zu bezeichnen.
In solchen Zeiten sollte sich übrigens auch die Regierung hüten, ohne Not
Verstimmungen zu schaffen. In der Sommerzeit, wo die größern Kämpfe ruhen,
ist man ohnehin geneigt, einzelnen „Fällen", die die öffentliche Aufmerksamkeit er¬
regen, größere Bedeutung beizulegen. In Husum ist dem Bürgermeister Dr. Schücking,
der bissige Zeitungsartikel und Broschüren im Sinne der freisinnigen Volkspartei
schrieb und sich bei einer Wahl als Kandidat dieser Partei aufstellen lassen wollte,
durch den übereifriger Regierungspräsidenten ein Disziplinarverfahren angekündigt
worden. Zweifellos eine sehr unglückliche und überflüssige Maßnahme, die zu¬
nächst die Folge gehabt hat, daß den schriftstellerischen Leistungen des erwähnten
Herrn eine Bedeutung gegeben worden ist, die sie schwerlich hatten. Denn sie
sprachen nur mit wenig Geschmack und Takt und mit überflüssiger Schärfe aus,
was in den Kreisen der freisinnigen Parteien ohnehin als wahr gilt, außerhalb
dieser Kreise aber absolut nichts Überraschendes hat. Man hätte den Herrn also
ruhig reden und schreiben lassen sollen, auch wenn er ein sogenannter „mittelbarer
Staatsbeamter" war, wie man die vom Staat bestätigten Kommnnalbeamten be¬
zeichnet. Anders wenn man die Parteianschanungen als solche treffen wollte. Und
so scheint es bei dem Regierungspräsidenten allerdings gewesen zu sein. Aber
das stimmt nicht mit den Direktiven der Reichspolitik und war ein schwerer
Fehler, der nicht vorkommen sollte. Denn die alte Methode, nach der sich jeder
preußische politische Verwaltungsbeamte verpflichtet glaubt, im konservativen Sinne
zu wirken und dem Liberalismus, besonders aber dem Freisinn, das Wasser abzu¬
graben, ist allerdings unvereinbar mit der Blockpolitik, die zur Voraussetzung hat,
nicht daß nun plötzlich trotz konservativer Mehrheiten liberale Gesetze gemacht
Werden, wohl aber, daß die Regierung bei unvermeidlichen Auseinandersetzungen
zwischen Konservativen und Liberalen völlige Neutralität bewahrt, die Gleich¬
berechtigung und Gleichwertigkeit der Parteien anerkennt, nach Möglichkeit aus¬
gleichend wirkt und zur Unterstützung dieser Ausgleichung in die Verwaltung einen
freiern Zug einführt, der mit der alten polizeistaatlichen Engherzigkeit einmal so
gründlich aufräumt, wie es eines großen, modernen Staatswesens allein würdig
ist. Insofern hat die Sache allerdings eine Bedeutung erlangt, die über den
Einzelfall weit hinausgeht. Er hat in liberalen Kreisen und Recht tief verstimmt
und zu Betrachtungen über die Blockpolitik geführt, die besser vermieden worden
wären. Hoffentlich macht ein festes Eingreifen des Ministers des Innern den
ganzen Mißgriff rückgängig.
Seit einigen Wochen erleben wir das merkwürdige
Schauspiel, daß in einem Teil der süddeutschen Presse der Plan einer Elektrizitäts¬
steuer dazu benutzt wird, die alten immer noch nicht erloschnen partikularistischen
Gegensatze und Strebungen neu anzufachen. Blätter der bayrischen Sozialdemokratie
und auch des bayrischen Zentrums verbreiten die wahnsinnige Idee, daß es sich
bei der geplanten Elektrizitätssteuer um einen gemeinsamen Feldzug der preußischen
Eisenbahnverwaltungen und des rheinisch-westfälischen Kohlensyndikats handelte. Zu
unserm Erstaunen finden wir nun auch in einer liberalen Zeitschrift, dem „Fort¬
schritt", einen Artikel des Grafen von Boehmer, eines bekannten jüngern national¬
sozialen Politikers, der jenes Gerücht nicht nur wiedergibt, sondern auch als wahr¬
scheinlich darzustellen versucht. Damit dürfte der Zeitpunkt gekommen sein, wo der
Unsinn zum Unfug wirbt
Man denke sich: bei einer Reichselektrizitätssteuer, die, wie es heißt, im Neichs-
schatzamt ausgearbeitet wird, soll es das rheinisch-westfälische Kohlensyndikat durch¬
gesetzt haben, eine angebliche bayrische Konkurrenz zu beseitigen. Eine wildere Idee
ist wohl seit langem nicht in die Öffentlichkeit gebracht worden. Zunächst ist es
eine völlig beliebige Behauptung, „daß das Kohlenkontor ein treuer Bundesgenosse
des Preußischen Finanzministeriums" sei. Die beiden stehn sich, soviel wir wissen,
als Verkäufer und Käufer oder als Konkurrenten gegenüber, aber als Bundes¬
genossen, das ist neu — und selbst wenn sie Bundesgenossen wären, was hat dies
mit dem Reichsschatzamt zu tun?! Aber mit den verfassungsrechtlichen Kenntnissen
scheint es bei dem Grafen von Boehmer überhaupt nicht so weit her zu sein. So
setzt er ganz munter die Fahrkartensteuer dem preußischen Eisenbahnminister auf
Rechnung, obgleich sich dieser, wie bekannt, seinerzeit dem Reichstag gegenüber
energisch dagegen gewehrt hat. Auf ähnlicher Höhe der Erkenntnis stehn seine Aus¬
führungen über Betriebsmittelgemeinschaft und Neichseisenbahnen.
Sieht man sich gegenüber diesen Phantasiesprüngen nun einmal die Wirklich¬
keit an, wie ist es denn überhaupt mit der ganzen Elektrizitätssteuer gewesen?
Seit vielen Jahren beklagt insbesondre die sozialdemokratische, aber auch die links¬
liberale Presse in allen Tönen die Ungerechtigkeit eines Petrolenmzolls. Seit
Jahren entrüstet man sich darüber, daß die Lampe des armen Mannes verteuert
wird, während die luxuriöse Beleuchtung des Reichen frei bleibt. Nun ist es ein
ganz ausgesprochner Zug unsrer modernen Steuergesetzgebung, soziale Abstufungen
auch innerhalb der indirekten Steuern vorzunehmen. Es blieb deshalb die Mög¬
lichkeit, den Petroleumzoll aufzuheben, oder eine Steuer auf Gas- und Elektrizitäts¬
beleuchtung einzuführen. Den Petroleumzoll aufzuheben, ging finanziell nicht, da
er durchschnittlich siebzig Millionen Mark einbringt, es blieb also mir die Licht¬
besteuerung der wohlhabender» Schichten. Auch diese hat man nicht etwa im
Reichsschatzamt erfunden, wie es denn überhaupt eine ziemlich merkwürdige Vor¬
stellung ist, als ließen sich irgendwo durch Findigkeit neue Steuerquellen entdecken.
Vielmehr gibt es die jetzt so viel angegriffne Lichtsteuer, und zwar nicht nur
außerhalb Deutschlands. Wenn sich die Gegner dieses Steuergedankens einmal ent¬
schlössen, die badische und württembergische Besteuerung durchzusehen, so würden
sie voraussichtlich zu ihrer Überraschung finden, daß eine derartige Steuer als
Gcineindeabgabe in den süddeutschen Nachbarländern schon vorhanden ist. Es kann
denn auch kein vernünftiger Mensch bestreiten, daß, wenn man überhaupt Luxus-
steucrn haben will — und hierüber sind doch im Prinzip gerade auch die Links-
liberalen einig —, es dann kaum geeignetere Besteneruugsobjekte gibt als die elek¬
trische Beleuchtung, mit der im Privatleben wie auf den Straßen ein in keinem
andern europäischen Lande gekannter Luxus bei uus getrieben wird.
So ist der Gedanke eiuer Elektrizitätssteuer zu beurteilen. Ob es sich durch¬
führen läßt, eine Steuer lediglich auf elektrisches Licht einzuführen, ohne dabei
zugleich die Abgabe von Kraft mit einem jedenfalls nur geringen Satz zu treffen,
darüber schwanken in der öffentlichen Diskussion die Ansichten der Sachverständigen.
Aus dem Projekt aber eiuen bewußten Angriff ans die notwendigen Produktions¬
mittel der bayrischen Industrie zu machen, dazu gehört eine außerordentliche poli¬
tische Kurzsichtigkeit.
Die Klagen über Störungen
des Verkehrs durch die Automobile kommen nicht zur Ruhe. Es ist das eine Er¬
scheinung, die seit Jahrzehnten, ja man kann sagen, seit Jahrhunderten immer bei
Einführung neuer Beförderungsmittel eintrat. So schreibt die norddeutsche Allgemeine
Zeitung in ihrer Unterhaltungsbeilage vom 28. Dezember 1907 in einem Aufsatze
„Aus der Geschichte der Vorurteile": Als vor sechs Jahrhunderten Roger Bacon,
der Franziskanermönch, schrieb: „Wir werden imstande sein, Gefährte in nnglnnb-
licher Schnelligkeit ohne die Hilfe von Tieren anzutreiben" — da vergaß er
hinzuzufügen: „Und jedes dieser Fahrzeuge wird anfangs zum Opfer des Vorurteils
werden." Und so ist es auch geschehen. Schon im alten Rom begrüßte man die ersten
vierrädrigen Wagen mit unvcrhvhlnem Mißfallen, und ein kaiserliches Edikt verbot
schließlich die Wagen im Bannkreis der Stüdte. Und einen ähnlichen Kampf begann
im Jahre 1634 Karl der Erste, als in London die ersten Mietkutschen erschienen.
1L35 kam die erste Proklamation gegen die Unzahl und unterschiedslose Benutzung
der Kutschen um London und Westminster. „Indem die Mietskutscheu auf den
Straßen, so besagt diese Proklamation, nicht nur ein großes Mißbehagen Seiner
Majestät, seiner edeln Gemahlin, der Königin, des Adels und andrer von Rang und
Stand erregt haben, sondern auch die Straßen selbst so überfüllt werden und das
Pflaster so beschädigt, daß der öffentliche Verkehr dadurch gehindert und gefährlich
wird und die Preise vou Heu und Futter usw. verteuert. Warum wir ausdrücklich
befehlen und verbieten, daß keine Mietskutscher benutzt oder geduldet werden in London,
Westminster und den Vororten, mit Ausnahme, daß sie zur Reise dienen für mindestens
drei Meilen aus der Stadt." Das Parlament beschränkte später die Zahl der
Mietskutscher und legte ihnen eine Steuer auf. Der erwähnte Aufsatz der Nord¬
deutschen Allgemeinen Zeitung, dem ich diesen Auszug hier entnehme, enthält noch
weitere Angaben, die sich auf Vorurteile gegen Einführung der Eisenbahnen beziehen.
Ich kann über die Einführung der Eisenbahnen aus meiner eignen Erfahrung
berichten, daß auch in Deutschland große Vorurteile herrschten. So behaupteten Ärzte
in der Nähe vou Nürnberg, wo bekanntlich die Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth
als eine der ersten in Deutschland gebaut und in Betrieb gesetzt wurde, man müsse
die ganze Bahnlünge von beiden Seiten mit einer Bretterwand besetzen, damit man
das Vvrübersnusen der Bahnzüge nicht sehen könne; denn dieses schnelle Vorbei¬
fliegen fester Gegenstände würde den zusehenden Menschen schädlich sein. Auch die
Bauern in Thüringen zum Beispiel schrieben die in den vierziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts auftretende Kartoffelkrankheit dem auf deu Ackern lagernden
Lokomotivendampf zu, der giftig auf die Pflanzen wirke. Die Zahl von Eisenbahn-
unfällcn regte die Menschheit damals ganz außerordentlich auf, bis statistisch nach¬
gewiesen wurde, daß die Zahl der durch Unfälle mit Fuhrwerk und Pferden ver¬
ursachte» Todesfälle von Menschen nach Prozenten größer war als die durch die
Eisenbahn verursachten.
Nun erschienen die Fahrräder. Da erhob sich derselbe Kampf xro und eontrs,.
Mau glaubte, keine Straße und keinen Platz mehr überschreiten zu können, ohne
in Lebensgefahr zu sein. Man hielt das Fahren mit Fahrrädern für einen völlig
überflüssigen Sport. Daß das Fahrrad zu einem der schätzbarsten Fvrtbeweguugs-
mittel für jedermann, insbesondre aber für Geschäftsleute, Arbeiter, Postbeamte usw.
werden würde, daran dachten nur wenige Menschen. Man sprach nur von Unglücks-
fttllen, die durch Stürzen, Anfahren n. tgi. mit dein Fahrrad vorkamen. Und in
der Tat mußte man ja auch erst mit dem Fahrrad die Probezeit bestehen, bis man
auf das jetzt allgemein eingeführte Zwcirad kam und das ja allerdings sehr schnell
fahrende große, hohe Einrad mit dem kleinen Stützrädcheu gänzlich abschaffte. Die
Vorteile, die das jetzt allgemein eingeführte Zweirad bietet, sind kaum aufzuzählen.
Man sehe nur, wie es jetzt von allen Gesellschaftsklassen eifrig benutzt wird, und
wie sich auf den Straßen Radfahrer frei unter Menschen, Fuhrwerken aller Art,
elektrischen und sonstigen Straßenbahnwagen bewegen.
So werden wir auch mit den Automobilen freien Verkehr lernen. Daß das
Automobil als das Fahrzeug der Zukunft angesehen werden muß, unterliegt keinem
Zweifel. Man denke nur daran, mit welcher Schnelligkeit man Wege zurücklegen
kann, welche Lasten es zu bewegen vermag, und welche Vorteile es bietet gegenüber
der Verwendung von Pferden und sonstigen Zugtieren. Die Pferde sind teuer, und
wer weiß nicht, wie schwer sich mancher Pferdebesitzer betroffen fühlt, wenn er
morgens in den Stall kommt und ein Pferd unheilbar krank oder verendet im Stall
liegend findet. Für das Kriegswesen hat das Automobil ganz hervorragenden Wert.
Unsre Kaiser- und sonstigen Manöver der letzten Jahre haben das schon dargetan.
Die höhern Stäbe sind durch Verwendung von Automobilen in der Lage, die oft
recht großen Entfernungen, die sie zurückzulegen haben, von einem Flügel ihrer
Gefechtslinie bis zum andern oder vom Ende langer Kolonnen bis an die Spitze
in bedeutend kürzerer Zeit und mit geringerer eigner Anstrengung zu überwinden
als selbst mit den besten Pferden. Bedenkt man ferner, wie sehr die endlosen
Muttitions-, Lebensmittel-, Sanitntskolonuen durch den Wegfall der Pferdebespnnnung
verkürzt werden, wenn man diese Kolonnen mit Automobilen bewegt, so kann
man über den Wert dieses neuen Transportmittels gar keine Zweifel mehr haben.
Auch für den Ordounanzdienst im Kriege und in den Manövern sind die automobilen
und selbst die gewöhnlichen Fahrräder unschätzbar. Bekanntlich werden im Kriege,
wenn Armeekorps längere Zeit ein Gebiet besetzt halten, von dein Quartiere des
Generalkommandos aus nach den Quartieren der andern Kommnndvstellen Ver¬
bindungslinien angelegt, die man seither mit einzelnen Knvallericpatronillen besetzte,
die stets einen Reiter bereit halten mußten, der die Befehle von einer Station zur
andern möglichst schnell zu befördern hatte. Viele Pferde wurden dabei durch das
stete Traben auf harter Straße unbrauchbar. Jetzt benutzt man automobile oder
gewöhnliche Fahrräder, wodurch die Pferdeverluste wegfallen und die Schnelligkeit
der Beförderung wesentlich zunimmt.
Daß die Zahl der durch Automobile verursachten Unfälle immerhin noch be¬
deutend ist, kann nicht geleugnet werden. Eine Zusammenstellung darüber gibt das
Beiblatt zur Ur. 62 der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung vom 21. März. Im
Anschluß daran wird aber bemerkt, daß die bis jetzt noch ungenügende Ausbildung
der Chauffeure die meiste Schuld daran trägt, und daß die preußische sowie die
Reichsregierung auf demselben Standpunkte stehen, sodaß die Einrichtung der ersten
staatlich kontrollierten Chauffeurschnleu baldigst erwartet werden darf. Im preußischen
Abgeordnetenhaus« erwähnte am 23. Januar d. I. Minister Vreitenbnch, daß die
Besserung im Automobilfahreu eintreten werde, sobald Schalen sür Fahrunterricht
und eine staatliche Prüfung für jeden Automobilfahrer eingeführt seien. Außerdem
haben sich die deutschen Automobilklubs schon dazu entschlossen, und die erste solche
Schule, die amtlichen Charakter trägt, soll in baldiger Aussicht stehen. Ein tüchtiger,
einwandfreier Chauffenrstand soll herangebildet werden. Italien besitzt schon eine
Militärautomobilschule.
Wenn man den Automobilnnfällcn gegenüber täglich sieht und aus Zeitungs¬
nachrichten entnimmt, welche Unfälle noch immer bei dem gewöhnlichen Fahren rin
Pferden durch Kutscher und Kutscherinnen, namentlich durch Metzger- und Milch¬
wagen vorkommen, so kann mau auch hier betonen, wie die Einrichtung von Fahr¬
schulen für Pferdewagen unbedingt notwendig ist. Das Fahren sollte polizeilich jedeni
Kutscher verboten sein, der nicht das Zeugnis von einer Fahrschule beibringen kann,
daß er vollständig in der Pferdepflege, Beschirruug, Anspannen der Pferde und im
Fahren ausgebildet ist. Ich habe schon in den Grenzboten von 1901, S. 212 die
„Schäden und Mängel in unserm Fuhrwesen" ausführlich behandelt und beschränke
mich deshalb hier, auf den genannten Aufsatz hinzuweisen. Ich schließe meine jetzigen
Betrachtungen mit dem Satze, der sich bald bewahrheiten wird: „Das Automobil
ist d
Unser Urteil über Pascal zu begründen, haben wir schon ein paarmal
Anlaß gehabt: ein edler Charakter, ein hochfliegender Geist, ein tief eindringender
Denker, ein feiner Psycholog, ein Kampfer gegen Heuchelei, Verfluchung und
Laxismus, aber zum Jugenderzieher, zum Führer des Volks nicht geeignet. Haupt¬
sächlich ist er ein lohnendes Objekt für psychologische Analyse, und Psychologen,
überhaupt ernste Denker werden ihre Freude haben an der „historischen Studie"
vom Kandidaten Adolph Köster zu Marburg: Die Ethik Pascals. (Tübingen,
I. C. B. Mohr, 1907.) Man erstaunt über die mit reichem Wissen gepaarte Reife
des Urteils, wenn man ans einer Vorbemerkung erfährt, daß das Buch, einen kleinen
Teil ausgenommen, drei Jahre vor dem Erscheinen geschrieben worden ist, als der
Verfasser noch Student im fünften Semester war. Das Vorwort enthält eine äußerst
glückliche Paralle zwischen Pascal und Kierkegaard. Nur einen Satz daraus!
„Pascal — das ist Mißverständnis, Abbruch, Flucht, das ist stickige Klvsterlnft und
Messekliugelu, das ist schwarzer Ernst und wildes Weinen. Kierkegaard — das ist
geniehaftes Sehe» und wahnsinnige Reflexion, das ist Spott, Ironie und unbändige
Heiterkeit, das ist ein Leben in Schönheit, ein glänz- und grauenvolles Lachen, eine
einsame Schwermut, aber auf der himmlischen Schwelle der Möglichkeiten." Köster
weist nach — und darauf sei besonders die Aufmerksamkeit der Leser gelenkt —, daß
Pascal in seinen ethischen Prinzipien ganz, in seiner Dogmatik beinah Protestant
gewesen ist (nicht lutherischer, sondern calvinischcr, erlauben wir uns zu bemerke»),
und zeigt, wie er trotzdem mit aufrichtiger Überzeugung als treuer Sohn der katholischen
Kirche leben und sterben konnte. „Vor dem grauenhaften Anblick der kirchlichen
Unsittlichkeit flüchtete er in das mystische Halbdunkel der Klosterkirche und betete hier
das Allerheiligste nu." Darin äußere sich der quietlstische Zug seiner Ethik. „Theoretisch
ist er konsequent, praktisch zaghaft. Es ist nichts Aktives, nichts stürmendes, so gar
nichts Lutherisches in seiner Ethik! Alles so leise, so zurückgezogen, so weltfremd!
Allein sein Jesuitenkampf macht die Ausnahme! Aber auch hier kein konsequentes
^vielmehr kein offnes j Dranflosgehcn gegen Papst und Jesuiterei, sondern ein kluges
Pfeilschießeu aus dem Versteck heraus! Wie die Duukelmänuerbriefe!" Die Bedeutung
Pascals für unsre Zeit findet der Verfasser am Schluß darin, daß heute von der
einen Seite der Strom des Historismus, von der andern der Strom des Mystizismus
„den schmalen Steg des Sittlichen, der allein ans andre Ufer führt", hinwegzu¬
schwemmen drohen, an den Pascal so eindringlich mahnt. — Die Provinzialbriefc
hat (1907 bei Eugen Diederichs in Jena) E, Rüssel in deutscher Übersetzung nnter
dem Titel: „Blaise Pascal; Briefe gegen die Jesuiten" herausgegeben, mit eiuer
vortrefflichen Einleitung von Max Christlich. Das Buch wird reißend abgegangen
sein, aber die meisten Leser werden sich enttäuscht fühlen, weil sie die Theologie,
aus der sie das Pikante, die „Jesuitenmoral", die sie ohnehin schon zur Genüge
aus den Zeitungen kennen, mühsam herausklauben müssen, ungenießbar gefunden
haben werden.
Vor dreißig Jahren stand am Ein¬
gange der Münchner An eine Warnungstafel (ob sie heute noch steht, weiß ich
nicht), deren Inschrift wie der Demonstrationsgaul in Veterinärschulen dazu benutzt
werden kaun, ein halbes Dutzend Sprachdummheiten zu demonstrieren; sie lautete:
„Das Betreten von Kindern und Erwachsnen ist auf dem Rasen ohne Erlaubnis
des Aumeisters verboten." Dr. Heinrich Schmidt, der Generalsekretär des Deutschen
Monistenbundes, schreibt in seiner Flugschrift „Monismus und Christentum": „Die
Spektralanalyse wies nach, daß auch im fernsten Winkel des Weltraums, soweit dieser
durchforscht werden konnte, kein Stoff sich fand, der nicht auf der Erde vorhanden
War; damit war die kosmische Einheit der Natur begründet." Von diesem Satze
zeigt nun Chwolson, daß er ein ebensolcher Demonstrationsgaul ist: jedes Glied
eine Krankheit; eine tatsächliche Unrichtigkeit oder eine Sprachdummhcit. Niemand
versnnme es, diesen Nachweis zu lesen; man genießt einen köstlichen Spaß und
nebenbet eine nützliche Lektion in der Wissenschaft von der Spektralanalyse. Der
Se. Petersburger Physiker Chwolson hatte, wie wir im 1. Bande des Jahr¬
gangs 1907 der Grenzboten erzählt haben, mit Herrn Haeckel eine Prüfung in der
Physik angestellt und ihn durchfallen lassen. Haeckel hat in einer Broschüre ge¬
antwortet — mit Schimpfereien -—, und Chwolson erwidert darauf in dem (bei
Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig 1908 erschienenen) Schriftchen: Zwei
Fragen an die Mitglieder des Deutschen Monistenbuudes. Der zweite
Teil der Broschüre ist eben dem klassischen Diktum des Herrn Dr. Heinrich Schmidt
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uncl nkrüoKsivIitigLn 8is, los lleutseiilÄNlls Msontstsilung im wosent-
lielisii beuingt ist cluroli nie Avr!f»urd iter lisutsenen Inülistrie. Kelten
8is nur llsnn uem lluslüncliseneii fadrikste um Vorzug, wenn es besser
ist als rliis lleutselie. Kauenen 8le 8alsen AleiKum - Ligsretten.
Dieselben sinnt i» veutsonlsnll rhor orisntalisvkem 8vstem mittels
sorgfältige»' i-ianclsrlisit liergestellt unä entlislten ausselilielZlioli nie
geseiist^ten, mittlen, seiir dskömmiieiien ?Ä»s!<e rler tiesten Ernten
lies Orients. Dieses dir^eugnis mietet Innen vollwertigen Hrsat? für
uis liureli ?o» uncl 8teuer ernediieli verteuerten auslänuiselien
Ligarstten. Keine Ausstattung, nur llualität! -----i---^.-
Klr. 3 4 S K 8 10
f>reif:3^ 4 5 6 8 10 k>fg. alas 8tuet<.
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MMnsre größer» Parteien leiten ihren Ursprung aus Zeiten her,
die weit vor der Reichsgründung zurückliegen. Man spricht dabei
gern von einer konservativen und einer liberalen Weltanschauung,
in den letzten Jahrzehnten war sogar oft auch schon von einer
sozialdemokratischen Weltanschauung die Rede. Mit solchen großen
Worten schießt man über das Ziel hinaus, und der praktische Politiker weiß
wenig damit anzufangen. Parteiprogramme sind durchaus nicht unabänderlich,
die Bedürfnisse, die das Leben des Volkes mit sich bringt, wirken auf sie ein,
sonst wird das bisher lebendige Parteigebilde zum Stein, von dem sich die
Anhänger abwenden, während er nur noch von den Parteipfaffen verehrt
wird, bis diese aussterben. In der Prinzipientrene liegt demnach die Stärke
der Parteien nicht, sondern in der Befähigung, sich der Befriedigung der
realen Bedürfnisse des Volks anzupassen. Das hat gerade die Geschichte der
freisinnigen Partei bewiesen, und Eugen Richter war doch wirklich ein Mann,
dem es nicht an reicher Befähigung und festem ehrlichen Wollen fehlte. Weil
ihn aber das liberale Parteiprinzip in die unfruchtbarste Opposition trieb, kam
diese nur der Sozialdemokratie als Vorfrucht zugute, und die meisten frei¬
sinnigen Wahlkreise gingen einer nach dem andern an die Sozialdemokraten
verloren. Parteiprogramme können wohl zeitweise große Schichten der Be¬
völkerung ergreifen, sodaß sie allerdings in gewissem Sinne förmlichen Welt¬
anschauungen gleichen, aber sie sind es keineswegs. Als treffliches Beispiel
dafür muß das in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahr¬
hunderts entstandne Programm des deutschen Liberalismus gelten, das zur
Zeit des preußischen Verfassungskonflikts nahezu das gesamte öffentliche Leben
in Deutschland ergriffen hatte und doch in wenigen Monaten großer geschicht¬
licher Entscheidungen jede Bedeutung verlor. Mit der Gründung des Reichs
und der Erkämpfung einer nationalen Volksvertretung auf breiter Grundlage
waren die Programmpunkte erreicht, die die großen Volkskreise angezogen
hatten, die Dogmen vom Freihandel, vom parlamentarischen Regiments usw.
wurden nicht als Volksbedürfnis empfunden. Solche Dogmen ruinieren die
Parteien. Heute ist der Freihandel selbst in seinem Ausgangslande im Ab¬
sterben begriffen, und König Eduard ist wenigstens in der äußern Politik
Englands unstreitig der Leiter, dem das Parlament folgt. Wenn sich die
Franzosen durch das parlamentarische System weiter Flotte und Armee unter¬
graben wollen und dadurch schon in ein Abhüngigkeitsverhültnis, anfangs
zu Rußland, jetzt zu England, geraten sind, so werden wir uns das zur Lehre
dienen lassen.
Seit dem Entstehen des Deutschen Reichs ist über ein Menschenalter ver¬
flossen, und es tritt jetzt eine neue Generation mit andrer Gesinnung und
andern Interessen in den Bordergrund. Die frühere Generation war mit den
lange erfolglos gebliebneu Bestrebungen von 1843 alt geworden, die neue
fußt auf dem realen Boden der Ereignisse von 1866 bis 1871. Im vorigen
Jahrhundert waren Konservatismus und Liberalismus die hauptsächlichsten
Gegensätze, die sich ans dem weiten Gebiete der innern Entwicklung geltend
machten, nud der Widerstreit dieser beiden Richtungen hat den kulturpolitischen
Anschauungen und Verhältnissen Deutschlands damals das Gepräge aufge¬
drückt. Diese Gegensätze schrieben sich ursprünglich anch von den Unterschieden
zweier zeitlich getrennten Generationen her, von denen die konservative mehr
in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, die liberale mehr in der zweiten
Hälfte den Haupteinfluß ausübte. Das gilt mit geringen Abänderungen für
ganz Deutschland, hier braucht aber der Kürze halber nur auf die allein ent¬
scheidende Entwicklung in Preußen hingewiesen zu werden. Die ganze preußische
Staatsschvpfnng hatte seit dem Großen Kurfürsten bis 1806 auf dein scharfen
Zusammenfassen der Einzelnen zum Ganzen beruht, dem Recht und der Frei¬
heit des Individuums war wenig Aufmerksamkeit zugewandt worden. Der
ganze Staat glich der Potsdamer Wachtparade, über die das Ausland
witzelte, mit der aber der Alte Fritz seiue großen Schlachten schlug. Die
Regeneration Preußens von 1808 bis 1871 erfolgte dann nnter immer sieg¬
reicherm Vordringen liberaler Gedanken. Wie jedoch die preußische, jetzt
deutsche Armee die alte friderizianische Disziplin bewahrt, aber auf dieser
Grundlage sich jetzt die Ausbildung des einzelnen Mannes zum selbtätigen
Feldsoldateu als Ziel gesetzt hat, so behielt auch der neue preußische Staat
die gesunden Elemente der monarchischen Verwaltung, der Einheit, der Zen-
tralisation, der Veamtenorganisation und der Heeresdisziplin bei, fügte aber
einen ausgedehnten Schutz der Rechte des Einzelnen, eine große Summe
persönlicher Freiheit und freier Bewegung, Selbstverwaltung und eine Ver¬
fassung hinzu, die an wirklich freiheitlichen Bestimmungen nicht hinter denen
der liberalsten Staaten zurücksteht. Das hat uoch größere Geltung für die
Reichsverfassung, die sogar ein so liberales Wahlrecht hat und dieses so
ehrlich und ohne Beeinflussung durchführt, wie das in keinem Lande der
Erde der Fall ist. Denn gerade mit den modernen liberalen Einrichtungen
geht sonst überall der Regierungs- und Parteizwang sowie die Bestechung
aller Art Hand in Hand. Die deutschen Verfassungen sind ehrliche Kom¬
promisse zwischen der konservativen und der liberalen Zeitrichtung. Die zeit¬
lichen Unterschiede des Entstehens beider Richtungen sind für die Gegenwart
dadurch schon bedeutungslos geworden; beide stehn sich jetzt politisch und
sozial gleichberechtigt gegenüber und arbeiten nebeneinander meist schon gemein¬
samen Zielen entgegen. Ihre erfüllten Forderungen sind jetzt Gemeingut
aller Parteien, darum haben sich die Konservativen und die Liberalen in ihrer
frühern Bedeutung überlebt, und beide Parteien bewegen sich heute auf kon¬
stitutionellem Boden. Der große Kompromiß, die Reichsverfassung, steht
heute schon längst außerhalb der Partcistreitigkeitcn, die Liberalen haben ihr
ehemaliges Verlangen nach dem parlamentarischen Regiment stillschweigend
fallen lassen, und die Konservativen bedauern zwar noch die ihnen am
wenigsten zusagende Einführung des allgemeinen Wahlrechts, aber an seine
Beseitigung denken sie im Ernst nicht.
Jede politische Richtung hat ihre Zeit je, nach den Umständen, unter
denen sie in Wirkung tritt, und je nach dem Maße, worin sie wirkt. Nur
Pfuscher vermeinen, mit einem Mittel alles heilen zu können, es gibt aber
ebensowenig ein Allheilmittel für den Staat wie für den Leib. Es ist auch
natürlich, daß sich jede politische Richtung, wie jede Kulturbewegung und
selbst jeder Verwaltnngsgrnndsatz, über das ursprüngliche Ziel hinaus zu ent¬
wickeln sucht. Kein geistiges Streben ist aber unfehlbar, keine menschliche
Einrichtung absolut, alle Begriffe sind relativ und setzen sich nur aus ihrem
Verhältnis zueinander zusammen. Und darum gibt es auch weder eine
konservative noch eine liberale Weltanschauung. Bismarck, der seine Staats¬
kunst im Innern immer als eine Politik der Kompromisse bezeichnete, behielt
Praktisch stets eine Mittellinie im Auge, sie gipfelte in der Anwendung der
verschiedensten Mittel, die er, unbeirrt durch Theorien, nach dem sachlichen
Bedürfnisse wählte. Was man normal nennt, ist nur die Mittellinie, um
die sich jeweilig die politischen Bestrebungen nach rechts und links gleich
Pendelschwingungen bewegen. Bismarck genierte sich gar nicht, das dem großen
liberalen Programm entstammende allgemeine Stimmrecht in die Reichsver-
fassung aufzunehmen, weil es seit 1843 eine praktische Bedeutung erlaugt
hatte, und er zögerte wieder keinen Augenblick, gegen das demselben Pro¬
gramm angehörende Spiel der freien Kräfte Stellung zu nehmen, als es not¬
wendig geworden war. Man war infolge der liberalen Zeitströmung in den
sechziger und siebziger Jahren zu weit nach dem Manchestertum abgeschwenkt,
darum entsagte er in der Zollpolitik dem Freihandel, und in der sozialen Für¬
sorge gab er das laisssr g-llsr auf. Trotzdem läßt sich mit Sicherheit be¬
haupten, daß er den unter Berufung auf ihn hente von den Kathedersozialisten
zur Theorie erhobnen Staatssozialismus nicht mitgemacht hätte, der die Rücksicht
auf die tatsächlichen Erfordernisse des Staats außer Augen läßt und nur mit
Preisgebung der bürgerlichen Staatsordnung zu erreichen wäre. Bülow hat
erklärt, auch die Politik der Mittellinie einhalten zu wollen, und wenn ihm
das gelingt, wird er den Ruhm eines würdigen Nachfolgers Bismarcks er¬
werben. Darunter ist keineswegs eine automatenhafte Nachahmung des Alt¬
reichskanzlers zu versteh«, wie gewisse Bismarckverehrer immer empfehlend
betonen. Bülow hat selbst treffend in der großen Rede nach seiner Genesung
am 14. November 1906 darüber ausgeführt: „Die wahre Nachfolge eines
Mannes wie Bismarck besteht eben nicht in sklavischer Nachahmung, sondern
in der Fortbildung, selbst wenn diese hier und da zu einem Gegensatze
führt. Und darum richte ich an alle, die es angeht, die Mahnung, es
nicht zu machen wie Loth Weib, die, weil sie nur rückwärts sah, zur Salz¬
säule wurde."
Kurz vorher hatte er in derselben Rede in bezug ans Bismarck die eben¬
falls zutreffende Bemerkung gemacht, „daß auch der größte Staatsmann ein
Sohn seiner Zeit bleibt". Das gilt von den politischen Parteien in gleicher
Weise, sie sind auch Kinder ihrer Zeit, und wenn sie nur rückwärts sehen,
werden auch sie zu Salzsäulen. Parteien müssen sich wandeln nach den Auf¬
gaben, die im Laufe der Zeit verschiedenartig an sie herantreten. Die neue
Generation steht den politischen Fragen des Tages ganz anders gegenüber
als die ältere aus der Zeit der konservativen und liberalen Kämpfe. Das
Deutsche Reich und seine Verfassung sind ihr ein Gegebnes, das nach bald
vierzigjährigen Bestand kein Streitobjekt, weder im Ganzen noch in seinen
einzelnen Teilen, mehr ist. Für den Erfahrungssatz Macaulays: „Es gehört
zur Natur der Parteien, ihre ursprünglichen Feindschaften weit fester zu be¬
wahren als ihre ursprünglichen Grundsätze", hat sie kein Verständnis.
Deutschland ist da, und seine Entwicklung weckte in ihr den Sinn für die
äußere Politik und ein nationalpolitisches Selbstgefühl, das die Bedingung
für unsre Lebensfähigkeit und die Weiterentwicklung der von der ältern
Generation geschaffnen und überlieferten Grundlagen ist. Dieses nationale
Selbstgefühl kann sich natürlich nur im Wettstreit mit andern Nationen, also
in der Weltpolitik, betätigen. Die extensive Entwicklung unsrer Nationalität
ist die eigentliche Wirkungssphäre der lebenden Generation und wird die Auf¬
gaben unsrer innern Entwicklung über die bisherigen Errungenschaften hinaus
führen und die meisten davon lösen. Es sind Aufgaben, die weit über die
bisherigen Gegensätze von konservativ und liberal hinausgehn, für die die lebende
Generation kein Interesse mehr hat. Weltfragen können nach solchen Partei¬
standpunkten gar nicht mehr beurteilt werden, und es fällt auch schon keinem
Liberalen heute mehr ein, etwa wie Anno 1848 und 1863 für polnische
Revolutionäre zu schwärmen, und keinem Konservativen, sich für den zarischen
Absolutismus zu begeistern. Ähnliche Dinge gestattet sich höchstens noch die
Sozialdemokratie in ihren exzessiven Elementen. Wie tief das National¬
empfinden trotz unsers Zeitungswirrwarrs schon Boden gefaßt hat, das haben
die letzten Neichstagswahlen bewiesen, wo das von den Blättern fast tot-
geschwiegne Südwestafrika eine Bewegung entfesselte, die dem nationalen Auf¬
schwung bei den Septennatswahlen von 1887 nahezu gleichkam.
Bloß unter der Erkenntnis, daß die Gegensätze des Konservatismus und
des Liberalismus überholt sind und zu erblassen beginnen, ist die Wendung
in der innern Reichspolitik, das Zusammenarbeiten des sogenannten Blocks
zu versteh«. Die neue Generation ist weder dem Konservatismus noch dem
Liberalismus feind, sie erkennt vielmehr das in ihren Kämpfen errungne
dankbar an, aber sie strebt in ihren eignen Zielen weit hinaus über diese
Resultate. Als ihr erster und nach Lage der Sache weitschauendster Vertreter
gilt Kaiser Wilhelm. Mit seinem denkwürdigen Ausspruche: „Unsre Zukunft
liegt auf dem Wasser" hat er der neuen Generation die richtige Bahn ge¬
wiesen, da sie unter dem Einflüsse eines gewissen eroberungssüchtigen Kraft-
meiertums auf gefährliche Abwege zu geraten drohte. Bülow warnte noch in
seiner schon erwähnten Rede davor: „Für die praktische Politik kommt es
noch mehr auf Klarheit des Kopfes als auf Wärme und Güte des Herzens
an, und das Herz des Patrioten soll sich nicht zeigen in unterschiedslosem
Rüsonieren ans alle Fremden, Engländer und Russen, auf Amerikaner und
Brasilianer, auf Italiener und Ungarn, und noch weniger in kühnen Zukunfts-
träumen, die die Erfüllung der Aufgaben der Gegenwart erschweren und
überall Mißtrauen gegen uns erwecken." Seit wir mit dem bewußten Wollen
zur See fahren, neben den andern Weltnationen einen Platz an der Sonne
zu erringen und zu behaupten, ist die alte Parteigruppiernng gegenstandslos
geworden, die Geltung zur See hängt nicht voll konservativen oder liberalen
Grundsätzen ab. Daß es politische Interessen und Kulturaufgaben gibt, die
weit über solche Gegensätze hinausgehn, ist dem jetzt lebenden Geschlechte
schon zu geläufig, und die Parteien müssen sich danach richten. Jede neu
entstehende Bewegung, jede sich entwickelnde Richtung wendet sich zuerst und
am schärfsten gegen die Übelstünde, unter denen sie ihre bisherige Entwicklung
hat leiden sehen, und die sie deshalb für ganz besonders nachteilig hält.
Darum hat bei den letzten Reichstagswahlen zunächst die Sozialdemokrntie
die Zeche bezahlen müssen. Den Deutschen, dem die neue Weltstellung seines
Vaterlandes auf der Seele brennt, mußte das vaterlandslose Gebaren der
sozialdemokratischen Führerschaft mit Hellem Zorn erfüllen. Schon Wieland
hat gesagt: „Ein großes Volk hat Leidenschaften Vonnöten, um in die starke
und anhaltende Bewegung gesetzt zu werden, welche zu seinem politischen
Leben erfordert wird." Es muß darum als Beweis für die Befähigung
Bülows zum Staatsmann gelten, daß er die im deutschen Volke längst vor-
hcmdne, noch zum Teil latente Leidenschaft für eine Weltpolitik klar er¬
kannt und durch die Neichstagsauflösung entfesselt hat zum Besten des Vater¬
landes und zu einer notwendigen Umgestaltung des sich im gegenstandslosen
Hader um überständig gewordne Fragen verzehrenden Parteiwesens.
Wenn sich der Reichskanzler freilich nur nach den Zeitungen und den
üblichen Parteiäußcrungen gerichtet hätte, wäre er gar nicht auf den Gedanken
gekommen. Durch diese Kundgebungen und das Treiben der in unsern Tagen
zahlreicher als sonst auftretenden Thersitesnaturen konnte er nicht zu dem
Appell an die gefunden Regungen der Volksseele veranlaßt werden. Dazu
gehörte ein tieferer Einblick in die bleibende Wirkung, die der durch die
Einigung Deutschlands geschaffne deutsche Welthandel, die Entfaltung der
deutschen Industrie, die Ausbreitung der deutschen Geschäfte über deu Erdball,
das Wachstum des von eiuer stattlichen Flotte unter der schwarz-weiß-roten
Flagge geschützten Überseeverkehrs in: Gemüt des deutscheu Volks hinter¬
lassen hatte. Und die Antwort kam mit überraschender Deutlichkeit: Nichts ist
uns zu schwer, nichts zu teuer, wenn es gilt, unsre nationale Persönlichkeit
durchzusetzen. Die lebende Generation sieht auch in dem Reichstage nicht mehr
das langersehnte Weihnachtsgeschenk für artige deutsche Kinder, die sich aus¬
schließlich darüber zu freuen haben, sondern sie weiß, daß er nun vier Jahr¬
zehnte dem Reichsbau angehört und sich nicht im selbstgefälligen Spiegel der
Immunität bewundern darf, sondern nützliche Arbeit zu leisten hat. Sie fühlt
sich auch vollkommen berechtigt zu einer Kritik, denn ihr sind schon in die
Wiege politische Kenntnisse und Wahrheiten eingebunden worden, die unsern
Eltern noch Gegenstände unklaren Ringens, noch Hoffnungen der Zukunft
waren. Mit von Jahr zu Jahr abnehmendem Interesse war sie dem in deu
alten Formen des Konservatismus und Liberalismus dahinfließenden Nede-
geplütscher über das Budget gefolgt, an dem nicht ein Hundertstel geändert
wurde und werden konnte, sowie über Vorlagen, bei denen es den nicht zu
allernächst beteiligten ganz gleichgiltig war, ob sie eine Schattierung mehr
nach der liberalen oder der konservativen Färbung erhielten.
Auch der ohrenbetäubende Lärm der Presse darüber regte niemand auf,
höchstens ließen sich Leute, die nicht selbständig zu urteilen vermochten, dadurch
verleiten, zur Sozialdemokratie überzulaufen. Mit wachsendem Unbehagen nahm
man dagegen die kühle Haltung der Neichstagsparteien wahr, mit der sie die
vom Kaiser mit eigner Arbeit und hoher Begeisterung geförderte Flotte be¬
handelten, die kleinliche Knauserei in den Kolonialsragen, wo man einige
Hunderttausende zu sparen vermeinte, während hinterher mehr Millionen und
kostbare Opfer an Menschenleben dargebracht werden mußten, um die Unter¬
lassungen wieder gut zu machen und die Ehre des deutschen Namens aufrecht
zu erhalten. Das hatte böses Blut gemacht und das Nationalgefühl zu der
Leidenschaft entflammt, an die der Reichskanzler zu appellieren verstand.
Nicht die Reden der Parlamentarier, sondern der deutsche Unternehmungs¬
geist, der zum Staunen der Völker und zum besondern Kummer der Briten den
Weltmarkt erobert hat, der persönliche Wagemut, der auf eigne Rechnung und
Gefahr die deutsche Handelsmacht geschaffen hat, sind der Stolz der heutigen
Generation. Bis in die bescheidenste Bauernhütte dringt durch Chinakümpfer,
Westafrikaner und die heimgekehrten Mannschaften der Flotte die erfrischende
Kunde, daß der deutsche Name hochgeehrt und gleichgeachtet neben den ersten
Nationen der Welt gilt. Dagegen vermag die verärgerte Stimmung in ihren
gewohnten Zirkeln gestörter Parteien und nach der hergebrachten Schablone
betriebner Zeitungen nicht auszukommen. Es ist ihnen vielmehr zu empfehlen,
daß sie neuen Wem in die alten Schläuche tun. Sie werden den Kaiser, der
der jetzigen Generation als Führer zur Kolonialmacht und Weltmacht gilt,
weder mit beschwörenden Anrufen der „guten alten Zeit" Bismarcks, noch mit
anscheinend ernst gemeinten konstitutionellen Bedenken, noch mit den platten
Denkmalswitzen, noch gar mit dem neusten Feldzuge „im Interesse des Vater¬
landes" gegen eine perverse Kamarilla im Auge der Bevölkerung in dieser
Führerrolle herabzudrücken vermögen. Man kann höchstens den eifernden
Tngendbolden wünschen, daß sie sich in dem Sumpfe der modernen übertriebnen
Genußsucht ebenso rein erhalten haben mögen wie der Kaiser sich und sein Haus.
Mit all diesem Krimskrams mag man vor politischen Kindern eine leichte
Trübung hervorrufen, aber der große Strom der nationalen Leidenschaft hat
sie schon geklärt und fließt mit unwiderstehlicher Majestät weiter. Wenn wir
nicht als Nation im Laufe dieses oder des nächsten Jahrhunderts in einer
andern Weltmacht untergehn wollen, muß Deutschland selbst Kolonial- und
Weltmacht werden; davon ist die herangewachsne Generation überzeugt und
auch bereit, die Opfer dafür zu bringen. Die Welt ist noch groß genug dafür,
und wir brauchen deshalb niemand etwas mit Gewalt abzunehmen. Für die
richtige gesunde Entwicklung unsers Volkstums, das ja begreiflicherweise in
Polnischer Beziehung noch manche Schwächen zeigt, ist die Kolonial- und
Weltpolitik dringend nötig. Den ersten heilsamen Einfluß haben wir ja gerade
jetzt vor Augen: seit langen Jahren wieder einmal einen Reichstag, bei dem
der nationale Gedanke den Ausschlag gibt! Aber erst in fernen Zonen und
fremden Völkern gegenüber werden wir uns unsers Volkstums recht bewußt
werden, im Wettbewerb mit andern Nationen uns selbst erkennen und lernen,
unserm Leben in allem und jedem den Stempel deutschen Wesens aufzudrücken.
Das ist es ja, was wir am Engländer, am Franzosen bewundern, während
uns Deutschen außer unsrer Sprache und vielfach etwas militärischer Haltung die
nationale Sonderheit gänzlich abgeht. Jene Völker haben sie sich im Welt¬
verkehr anerzogen, das Träumen, Dichten, Studieren und Theoretisieren hatte
unsrer Eigenart einen internationalen Anstrich verliehen.
Als Nation sind wir noch jung; in kurzer Zeit hoch aufgeschossen, befinden
wir uns in einem Stadium der Entwicklung, das noch weit von innerer Festigung
entfernt ist. Von jeher ist die geistige Kultur weniger ans Büchern als aus
der durch Kolonisation und Seehandel erzeugten Annäherung und Vereinigung
der Menschen, ans den dafür notwendigen Kenntnissen der Verhältnisse, aus
der daraus gewonnenen Erweiterung des Wissens, der dadurch bewirkten Ver¬
vollkommnung des StnatswescuS und angenehmem Gestaltung des Daseins
hervorgegangen. Die Geschichte der Menschheit zeigt ein ununterbrochnes Wachsen
der Vertrautheit mit dem Meere, der Unterwerfung des Meeres und der an¬
grenzenden Landgebiete unter Geist und Willenskraft des Menschen. Die volks¬
wirtschaftliche Entwicklung unsers Großstaats hat auch uns ans die See geführt
und gezwungen, Seemacht zu werden. Von der richtigen Erkenntnis und
Wertschätzung der seewirtschaftlichen und kolonialpolitischen Machtmittel mußte
das deutsche Volk erst durchdrungen werden, aber die heutige Generation begreift
nicht mehr und unsre Nachkommen werden es erst recht nicht begreifen, daß
es eine Meinung geben konnte, Flotte und Kolonien seien zur weitern Ent¬
wicklung des Reichs nicht nötig. Ans dieser Erkenntnis ergeben sich Konsequenzen,
die wir nicht scheuen dürfen, und die namentlich von den Parteien und der
Presse beherzigt werden müssen. Sie dürfen nicht übersehn, daß wir aus unsrer
Kontinentalstellung zu Bismarcks Zeiten in die Weltstellung emporgerückt sind.
Was sich damals für uns schickte, gilt heute nicht mehr für Deutschland.
„Unsre Stellung würde heute gesicherter und leichter sein, als sie es in den
achtziger Jahren war, wenn wir nicht die überseeische Politik inauguriert
Hütten", sagte der Reichskanzler in seiner mehrfach erwähnten Rede. „Die
Aufgabe unsrer Generation ist es, gleichzeitig unsre europäische Stellung zu
wahren, die die Grundlage unsrer Weltstellung ist, und unsre überseeischen
Interessen so zu pflegen, eine besonnene und vernünftige, sich weise beschränkende
Weltpvlitik so zu führen, daß die Sicherheit des deutschen Volks nicht gefährdet
und die Zukunft der Nation nicht beeinträchtigt wird. Gewiß ist die Erfüllung
dieser Aufgabe nicht leicht." Darin ist die Hauptveränderung seit der Zeit
Bismarcks ausgedrückt. Wären wir noch ans unsre Festlandsstellung beschränkt,
so könnten wir, gestützt auf unsre jedem unsrer Nachbarn überlegne Armee,
unter Umständen selbst eine gebietende Rolle in Europa spielen. Aber in unsrer
überseeischen Stellung ist uns unser Heer nicht in gleichem Maße von direktem
Nutzen, es kann uns bloß helfen, unsre nächsten Nachbarn davon abzuhalten,
uns in unsern überseeischen Bestrebungen zu stören. Diese direkt zu schützen, ist
allein die Flotte berufen, und da müssen wir uns eben nach der Decke strecken.
Über alle solche Dinge muß man sich klar sein, wenn man mit Ernst
Weltpolitik treiben will. Das braucht uus aber nicht abzuhalten, unsre deutsche
Flotte so zu gestalten, wie wir es wollen. „Warum solle» wir nicht ebenso¬
gut Schiffe bauen und uus eine Flotte halten dürfen wie andre Länder, wie
Frankreich oder Rußland oder Japan oder Italien oder England selbst?"
sagte ebenfalls Bülow. Um einige ärgerliche oder neidische englische Stimmen
brauchen wir uns dabei uicht zu kümmern, ebensowenig wie englische staats-
männische Kreise den Behauptungen sozialdemokratischer deutscher Blätter, die
deutsche Flotte werde gegen England gebant, Wert beilegen. Selbst wenn
englische Staatsmänner, um ihre Flottenpläne im Parlament durchzusetzen, für
nützlich halten, auf die wachsende deutsche Flotte hinzuweisen, braucht uns das
nicht zu beunruhigen. Hätten sie die Absicht, die deutsche Flotte zu zerstören,
so hätten sie längst eine kriegerische Gelegenheit dafür herbeiführen können.
Sie sind aber davon überzeugt, daß die deutsche Flotte nicht dazu bestimmt ist,
sich gegen England, sondern neben England zu behaupten, und sie sind in allen
Parteilagern mit viel zu klarem weltpolitischen Weitblick ausgestattet, als daß
sie versuchen sollten, eine Flotte zu vernichten, die in deu bevorstehenden über¬
seeische» Kämpfen um die Weltstellung Europas mehr zu leisten verspricht als
die weiland russische. Haben wir eine gute Flotte, werden wir anch Freunde
haben, ebenso wie unser Heer uus gute Freunde erhält. Alle Einkreisuugspolitik
ist nichts als eine Phantasmagorie der Zeitungen. In der Weltpolitik ist für
eine europäische Einkreisungspolitik kein Raum mehr, und für England haben
europäische Freunde mehr Wert als alle Freundschaft schlitzängiger und schlitz¬
ohriger Asiaten. Wenn die Deutschen Wcltpolitik treiben wollen, müssen sie
sich auch gewöhnen, die Dinge mit weltpolitischen Angen einzusehn und nicht
hinter jedem Monarchenbesuch eine Intrige aus den Zeiten der europäischen
Kabinettspolitik zu suchen. Jede Annäherung zwischen zwei europäische» Müchtcu
ist eine Bürgschaft mehr für das zukünftige Zusammeustehu Europas, dem
heute nur noch die ungestillte Nevanchelnst der Franzosen widerstrebt. Sie wird
aber noch mehr in sich zerfallen, als es bereits geschehn ist, je mehr mau
jenseits der Vogesen zu der Einsicht genötigt wird, daß England ebensowenig
wie Rußland die für die Revanche fehlenden Bataillone stellen will, und daß
Frankreich bei seiner abnehmenden jüngern Generation nicht einmal seine
Marokkopvlitik durchführen kann. Es vermag eben nicht, beliebig viele Tausende
nach Afrika, wie Deutschland unes China und Südwestafrika, zu werfen, ohne
daß der Rahmen der Armee angetastet wird.
Das sind alles Gesichtspunkte, die für die deutsche Weltpolitik vou Be¬
deutung sind. Je mehr wir uus über solche Dinge klar werden, desto umsichtiger
und vorsichtiger werde» wir unsre Weltpolitik treibe», ohne Prahlerei, doch
das Ziel fest im Auge. Dazu gehört aber noch eine wesentliche Umwandlung
in unsern innern Verhältnissen. Ein vielversprechender Anfang dazu ist schon
"ut der letzten Neichstagswahl gemacht worden. Aber Nückfülle sind bei unserm
Parteiwesen nicht ausgeschlossen, die abgelebten „Prinzipien" rumoren noch
immer. Man muß jedoch deu Führern der Linksliberalen zugestehn, daß sie
sich in die neue Lage mit einer noch großzügigern Auffassung hineiugcfuudeu
haben als selbst die Nationalliberaleu, die ihre gewohnte Kulturkampfpaukerei
nicht lassen mögen. Man sollte doch endlich einmal wirklich liberal fein und
jedermann nach seiner Fasson selig werden lassen, wie es schon unter dem auf¬
geklärten Absolutismus Friedrichs des Großen der Fall gewesen ist. Für die
Abwehr wirklicher klerikaler Übergriffe wird schon die Regierung sorgen und
hat es auch getan. Eine klerikale Reaktion ist überhaupt bei dem heutigen
Stande der Bildung und dem Einfluß der Großstädte schlechthin unmöglich, und
alles Gerede darüber ist einseitig und beschränkt. Nichts hat den Führern des
Zentrums die Irreführung der Wähler bei den letzten Neichstagswahlcn, als
handle es sich um den Beginn eines neuen Kulturkampfes, leichter gemacht
als die Angriffe von liberaler, hauptsächlich nationalliberaler Seite. Daß mau
damit das Zentrum niemals überwinden wird, haben die Reichstagswahlcn
abermals bewiesen. Das Zentrum kann und wird nur geschwächt werden
dadurch, daß es samt seinen Wählern fortwährend vor nationale Fragen gestellt
wird, denn seine gebildeten Kreise sind mit der ganzen jetzigen Generation für
die deutsche Überscepolitik eingenommen. Nur die gänzlich unangebrachter
Rückfälle in die Kampfweise vergangner Tage haben die nationale Regung
innerhalb des Zentrums noch nicht mächtiger werden lassen. Man lasse doch
die alten Geschichten ruhen, denn auch die jetzige katholische Generation hat
den nationalen Hauch der Überseepolitik verspürt. Das ist sogar bis weit in
die sozialdemokratischen Reihen hinein der Fall. Weniger als der Wahlausfall
selbst hat die Rücksicht auf die Stimmung großer Wählermassen Bebel und seine
Getreuen bewogen, in den Kolvnialfragen viel gemäßigter aufzutreten. Von
dieser allgemeinen Volksstimmung sind noch große Fortschritte im nationalen
Sinne zu erhoffen, wenn auch Rückschläge nicht ausbleiben werden. Hoffent¬
lich versteht es aber die Neichsregierung, diese Stimmung zu benutzen und
bei zukünftigen Wahlen die Lage so zu gestalten, daß der nationale Gesichts¬
punkt den Wählern klar in die Augen springt. In solchen Füllen hat das deutsche
Volk noch immer, trotz des allgemeinen Wahlrechts, eine überraschende politische
Reife bewiesen
le stärkste Gegnerschaft gegen die Ansiedlungspolitik der Negierung
findet sich in den Städten der Ostmark. Sie ist im Grunde ge¬
nommen wirtschaftlicher Art, wenn auch rein politische Gründe mit¬
spielen. Die Gegnerschaft ist um so gefährlicher, als ihr eine Menge
Tatsachen zur Verfügung stehn, die geeignet sind, die gesamte
Tätigkeit der Ansiedlungskommission uicht nur als verfehlt, souderu als direkt
schädlich erscheinen zu lassen. So weisen besonders in den Städten viele Er¬
scheinungen auf einen Rückgang des Deutschtums hin, und aus verschiednen Tat¬
sachen könnte sogar gefolgert werden, die deutsche Sache sei dort verloren.
Die im Gebiet der Ansiedlungskommission liegenden Städte, die ältesten
ebenso wie die jüngern, verdanken ihr Entstehn zum größten Teil, ihr Vestehn
ausschließlich dem Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen als Ausfuhrware
und mit Bedarfsartikeln der Landbewohner als Einfnhrware. Der Verbrauch
der Städte ist gering. Er steigt und fällt mit der Größe der Garnisonen und
der Zahl der Behörden in ihnen. Hierzu tritt noch der Umstand, daß, von
Hvhensalza") abgesehen, nirgends in Posen und Westpreußen Bodenschätze vor¬
handen sind, die, wie in Oberschlesien, eine industrielle Grundlage für das Auf¬
blähn von Städten gewähren. Diese Tatsache muß unterstrichen werden, wenn
wir versteh» wollen, warum die Städte des Ostens im Zeitalter der Industrie
immer noch in vollkommner Abhängigkeit vom Lande geblieben sind. Infolge¬
dessen können die Städte Posens und Westpreußens in absehbarer Zeit nicht
Sammelplätze für große Volksmassen werden, die entsprechend ihrer Armut und
Unbildung oder auch durch die Möglichkeit, sich straff zu organisieren, leicht zu
revolutionären Erhebungen zu veranlassen wären. Die geringen Fortschritte
der Sozialdemvkrcitie in den genannten Provinzen bestätigen unsre Beobachtung.
Daneben ist der Handel nicht sehr vielseitig, und der Mangel an Vielseitigkeit
hat den Kanfmannsstnud in der Ostmark entsprechend einseitiger und schwerer
beweglich erhalten als im Westen. Hiermit soll nicht bestritten werden, daß es
auch in der Ostmark außerordentlich umsichtige lind weitschciucnde Handelsherren
gibt. Aber solche Einzelerscheinungen stellen keine Charakteristik des ganzen
Standes dar.
Bezüglich ihrer Abhängigkeit vom platten Lande und infolgedessen von der
Ansiedlungspolitik können die Städte der Ostmark in zwei Gruppen geordnet
werden: die an den Flußlüufeu Weichsel, Brahe, Warthe, Netze liegenden größern
und die übrigen, kleinern Städte. Die erste Gruppe, zu der Danzig, Thorn,
Bromberg gehören, werden von der Tätigkeit der Ansiedlungskommission weniger
und zumeist nur indirekt betroffen durch den gesteigerten Zuzug aus dem polnischen
Mittelstande und die Steigerung der Lebcnsmittelpreise. Der Handel in seiner
Gesamtheit erleidet in ihnen nicht nnr keine Einbuße, sondern ist gewachsen, aber
den deutschen Kaufleuten ist eine kapitalkräftige polnische Konkurrenz entstanden.
Die genannten Städte beschäftigen sich hauptsächlich mit dem Holz-, Getreide-, Kleie-,
Flachs- und Fellhandel aus Nußland. Danzig ist der nächste Seehafen für das
Zartum Polen. Für die genannten Städte tritt die revolutionierende Bedeutung
der Ansiedlungskommission auf wirtschaftlichem Gebiete, solange wir vom nationalen
Punkte absehu, an die zweite Stelle.
Anders liegt die Sache mit den Städten, die ihren Wohlstand hauptsächlich
oder gar ausschließlich ihrer landwirtschaftlichen Umgebung zu danken haben.
Zu ihnen gesopen neben vielen Kleinstädter auch Graudenz, Ratel und Posen.
Die Rückwirkung der Tätigkeit der Ansiedlungskommission macht sich unter anderm
dadurch bemerkbar, daß durch die Auflösung des Großgrundbesitzes ein alter,
leicht auszubeutender Kundenkreis der Vieh-, Getreide-, Futter-, Maschinen- und
Düugemittelhändler beseitigt wird. An die Stelle der wenigen Großgruud-
hinzu treten zahlreiche Ansiedler oder Nentenbcmern. Bot der Boden des Guts¬
besitzers dnrch Eintragung von Hypotheken auf ihn genügende Sicherheit für
weitgehende Warenkredite, so ist die Sicherheit des Nentengutsbesitzers beschränkt.
Nicht etwa, daß der Nentengutsbesitzcr weniger kreditwürdig wäre als der freie
Gutsbesitzer — im Gegenteil er ist infolge der Klarheit seiner Vermögenslage
bedeutend sichrer für jeden reellen Kredit als jener — aber er eignet sich nicht
in dem frühern Maße zur spekulativen Ausbeutung durch den Kreditgeber.
Bei dem Zusammenbruch eines Ansiedlers wird es der Ansicdlungsbehvrde nicht
nur darauf ankommen dürfen, die eignen Einsätze zu retten, sie hat auch, zur
eignen Kontrolle und um gegen ungerechtfertigte Vorwürfe gesichert zu sein, ein
starkes Interesse daran, den Gründen jedes Zusammenbruchs nachzugehn. Es
ist bekannt, daß nicht alle mit Landwirten abgeschlossenen Kreditgeschäfte eine
solche Nachprüfung vertragen. Die natürliche Folge in der Beschränkung der
spekulativen Kredithergabe ist aber die Beschränkung des Kredits für den Kauf¬
mann selbst. Dies um so mehr, je ärmer ein Wirtschaftsgebiet an flüssigen
Kapitalien und je geringer seine Mannigfaltigkeit in den Branchen ist. Der
Kaufmann, der Warenrechnungen in Hypotheken umwandelt, erhält die Möglichkeit,
seinen eignen Kredit mit Hilfe fremden Besitzes und fremder Arbeit zu heben
und fortgesetzt je uach der Lage des Geldmarkts zu balancieren. Hierin wird der
Kaufmann aus der Ostmark in dem Maße beschränkt, in dem sich das Renten-
gut als Wirtschaftstypus ausbreitet. Es ist nach Lage der Dinge selbstverständlich,
daß in erster Linie das Heer der kleinen und der ganz kleinen Gewerbetreibenden
in der Provinz getroffen wird. Hieraus erklärt sich ein bedeutender Teil des
Widerspruchs, den die Ansiedlungspolitik des Staates in der ostmärkischen
Kaufmannschaft findet. Für die Ausbreitung des Rentenguts sorgt nnn die
Ansiedlungskommission nicht allein. In dem Wunsche, verschuldete, aber irgendwie
noch zu haltende Bauern wieder selbständig auf ihrem Besitz und von den
Gläubigern unabhängig zu machen, ist in Posen die Deutsche Mittelstands¬
kasse begründet worden. Sie „reguliert" verschuldete Höfe durch Umwandlung
in Rentengüter. Bis zum 11. Juni d. I. haben 855 Regulierungen mit einem
Areal vou ungefähr 16320 Hektar durchgeführt werden können, während sich
in Vorbereitung etwa 1200 Sachen mit mehr als 24000 Hektar befinden.*)
Auch diese regulierte!! Bodeuflächen sind somit dem freien Verkehr auf dem
Güter- und Geldmarkt entzogen.
Neben den angedeuteten Beschränkungen im kaufmännischen Kredit gibt es
aber auch noch eine direkte Konkurrenz, die dem alteingesessenen Handel der Ost¬
mark im Anschluß an das Erscheinen der Ansiedlungskommission erstanden ist.
Ich meine die beiden Naiffeisen-Geuossenschaftsverbände Neuwied und
Offenbach, insonderheit den Neuwieder Verband, der die Ausbreitung seiner
Organisation streng nach den Bedürfnissen der Ansicdluugsbehörde, deren Kom¬
missionär er ist, regelt. Der Neuwieder Genossenschaftsverband trachtet danach,
überall, wo eine deutsche Siedlung entsteht, aus den Ansiedlern Ein- und Ver¬
kaufsvereine, dann Spar- und Vorschnßkassen sowie Verwertungsgenossenschaften
aller Art zu gründen. Die leitenden Kreise in der Ostmark, die diesen Teil des
Genossenschaftswesens unterstützen, gingen dabei — so möchte ich annehmen —
ungefähr von folgender Überlegung aus: Nachdem die großen Güter verschwunden
sind, muß sich der Handel mehr als früher mit den Bauern beschäftigen. Er
wird es um so lieber tun, je mehr Barmittel die Ansiedler mitbringen. Der orts¬
unkundige Ansiedler ist somit fiir den ortskundigen Maschinen-, Sämereien- und
Viehhändler ein wertvolles Objekt zur Ausbeutung im besten kaufmännischen
Sinne. Um das Ausiedlungswerk durch eine zuweitgeheude Ausbeutung der An¬
siedler nicht zu gefährden, muß dem Handel eine Konkurrenz an die Seite gestellt
werden, die befähigt ist, ihre eignen Interessen mit denen der Bauern zu iden¬
tifiziere». Dazu aber siud am besten die von philanthropischen und nationalen
Ideen ausgehenden Genossenschaften geeignet. Ohne Zweifel bedeutet das Auf¬
treten dieser kapitalkräftigen und geistig hochentwickelten Konkurrenz eine un¬
angenehme Erscheinung fiir den alteingesessenen Handel. Aber sie war unver¬
meidlich, wenn das Siedluugswerk nicht von vornherein in Frage gestellt werden
sollte. So glaube ich aus einer meinem Kenntnis der Verhältnisse heraus
behaupten zu dürfen, daß zum Beispiel die Siedlungen Neu-Zedlitz, Orchheim
und viele andre gegenwärtig nicht so glänzend dastehn würden, wenn die Ansiedler
ohne genossenschaftliche Organisationen und ausschließlich auf die Verbindung
mit dem städtischen Kaufmann angewiesen geblieben wären. Ich meine, nur wenige
der Ansiedler, die heute über verhältnismüßig große Ersparnisse verfügen, wären
alsdann materiell selbständig geblieben. Die einfachen Zusammenhänge zwischen
diesen beiden Gedanken wird der Leser zweifellos selbst finden. Eine Begleit¬
erscheinung der Genossenschaften ist nun, daß gewisse Teile der kleinen und ganz
kleinen Kaufmannschaft aus dein Wirtschaftsleben ganzer Bezirke ausgeschaltet
werden. Sie verlassen die Städte des Ostens. Das ist für Einzelne gewiß eine
unangenehme, ja traurige Alternative. Ist nun aber diese Tatsache auch dem
Deutschtum als solchem gefährlich? Bis in die höchsten Kreise der Beamten¬
schaft, bis tief in die Reihen der Konservativen hinein habe ich sie als gefährlich
bezeichnen hören, während Kaufmaunskreise und viele Liberale gerade an dieser
Erscheinung den Zusammenbruch unsrer Ostmarkenpolitik zu deduzieren liebten.
Sie zeigen zum Beispiel durchaus zutreffend für die Stadt ,L: Im Jahre 1900
Ansiedlung von 200 deutschen Familien und Erscheinen deutscher Genossenschaften;
1902 Zuzug von 3 polnischen Geschäftsleuten; 1903 Abzug von 6 Deutschen
(evangelischen und mosaischen) Geschäftsleuten. 1904 Zuzug von 3 polnischen
Handwerkern, Abzug von weitern 6 deutschen Kaufleuten. Ergebnis im Jahre
1908: abgezogen 50 deutsche Familien, zugezogen 10 polnische. Resultat: die
Tätigkeit der Ansiedlungskommission polonisiert die Städte des Ostens. Hrwei
srat cIem0nstrg.nZv.1n! Nun ist die Statistik, sobald sie von toten Dingen und
Tieren zum Menschen übergeht, eine recht korrumpierte Dame, mit der man alle
möglichen Dinge anstellen kann. Und das trifft auch für unsre Bevölkerungs¬
statistik in der Ostmark zu. Zunächst wird der Zuwachs von 200 deutschen An¬
siedlern und der Abgang von mindestens 100 polnischen Landarbeitern, die mit
der Aufteilung jedes Gutes ohne weiteres vou selbst fortfallen, nicht beachtet.
Ferner fällt es niemand ein, den Grund zu erforschen, warum in einer deutschen
Gegend plötzlich drei Polnische Kaufleute erscheinen und bestehn können. Ge¬
wöhnlich wird gesagt, jene Polen hätten billigern Kredit. Ich meine, das wäre
Nebensache, solange die Deutschen bei ihnen nicht zu kaufen brauchten. Die
Deutschen müssen aber bei Polen kaufen, weil die die bessere Ware,
immer die neusten Modelle auf Lager haben und weit entgegen-
- kommender sind als die Deutschen, die vielfach auf dem Standpunkt stehn,
die Ansiedler, Offiziere, Beamten usw. müßten zu ihnen kommen. Dasselbe gilt
von den Handwerkern. Mit einem Wort: die polnischen Kalifleute und Hand¬
werker sind vielfach moderner und gewissenhafter. Schließlich aber fragt niemand
danach, was das eigentlich für Leute sind, die der Ostmark, ihrer Heimat, so
leichten Herzens den Rücken kehren. Zunächst entschließen sich zur Abwcmdrung
am schnellsten solche Elemente, die nicht schon fest mit der Provinz verwachsen
sind, die die Provinz vielmehr als Sprungbrett benutzen, um später in Berlin
oder in westlich gelegnen Städten ihre kleinen Vermögen einschließlich der Hypo¬
theken aus der Ostmark besser zu verwerten, als es in Wreschen oder Janowitz
möglich ist. Es sind Elemente, die früher oder später der Ostmark doch den
Rücken gekehrt hätten mit oder ohne dem Gelde der Ansiedler. Einen Beweis
für die Richtigkeit meiner Behauptung findet der Leser, wenn er vergleicht,
wieviel Personen mosaischen Glaubens in der Zeit von 1876 bis 1886 und
wieviel von 1896 bis 1906 in Berlin zugezogen sind. Die Steigerung in der
jüngsten Dekade ist nur wenig größer als die normale Steigerung. Die Ab-
wcmdrnng der Deutschen evangelischen und mosaischen Glaubens aus den Städten,
wie sie sich gegenwärtig vollzieht, darf darum nicht tragisch genommen werden.
Durch die Abwcmdrung eines großen Teils der bisherigen Städter, die aus¬
schließlich mit polnischen Produzenten und Verbrauchern zu arbeiten verstehn,
verschwinden lediglich solche Elemente aus der Provinz, die weder tatkräftig noch
elastisch genug sind, die sich langsam vollziehende Neuordnung der Dinge im
Sinne des deutschen Reichsinteresses für ihr eignes Fortkommen auszunutzen.
Alle diese Leute kann die Ostmark sehr wohl vermissen. Sie und ihr Geschäfts¬
patriotismus sind ein Hindernis für die deutsche Siedlungsarbeit. Sie dürfen darum
auch nur mit der größten Vorsicht in die deutsch-polnische Bevölkerungsbilanz
eingestellt werden. Die Städte werden im Laufe der Zeit ganz von selbst dort
deutsch werden, wo das Land deutsch geworden ist, aber polnisch sein und bleiben,
wo das Landvolk polnisch bleibt. Gehn jene unsichern Leute weg ans der Ostmark,
dann geben sie den Raum frei für die überschüssigen Kräfte in den Ausiedlungs-
dörfern, die sich, ausgerüstet mit zahlreichen persönlichen Beziehungen zum Dorf,
dem kaufmännischen Beruf in der neuen Heimat zuwenden wollen. Solche
überschüssigen Kräfte beginnen sich schon jetzt in den ältern Siedlungen, die
vor zwölf bis fünfzehn Jahren abgeschlossen waren, zu bilden. Für solche be¬
sonders beanlagten Individuen bieten die Genossenschaften aber selbst dort keine
ernste Konkurrenz, wo sie sich fest mit dem Leben der einzelnen Gemeinden
verbunden haben. Ein Beispiel für meine Behauptung bietet die Stadt Briefen
in Westpreußen. Der Ort zeigt auch, wieviel Nutzen der westdeutsche Produzent
aus der Neuordnung der Dinge im Osten ziehen kann. Wir sehen dort, daß
eine weitgehende Siedlung im engen Zusammenhange mit einer energischen
Politik der Genossenschaften eine Gewähr dafür bietet, daß auch die Landstädte
in der Ostmark in absehbarer Zeit ganz von selbst deutsch werden müssen. Nur
nicht die Geduld verlieren!
Freilich kann auch in dieser Beziehung des Guten zuviel getan werde».
Man darf in der Genossenschaft nicht jene ideale Organisation sehen, der alle
andern Interessen geopfert werden müssen. Ich meine, die Genossenschaften sind
vorübergehende Einrichtungen, die mir die Aufgabe haben, eine neue Wirtschafts¬
basis zu schaffen. Vielleicht schon nach einem Menschenalter werden hervor¬
ragende Individuen auf dieser Basis Handel, Wandel, Kultur weiter in die
Höhe bringen, als es demokratische Vereinigungen tun können. Die Genossen¬
schaften sind und bleiben Erwerbsnnternehmen, wenn sie auch noch so scharf
und uneigennützig nationale Interessen vertreten. Der gewerbliche Charakter der
Genossenschaften zwingt sie zu einem gewissen Geschäftsegoismus, der leicht zu
weit getrieben werden kann. So verzichten die Offenbacher auf jede Berück¬
sichtigung der nationalen Sache, während die Neuwieder ausschließlich das
Wohl des deutschen Ansiedlers im Auge haben. Hier müssen meines Erachtens
die Ansiedlungsbehörde und die Regierung vermitteln, damit das Kind nicht
mit dem Bade ausgeschüttet werde. So ist Neuwied bestrebt, Maschinenküufe,
Dachreparaturen und vieles andre möglichst wohlfeil und gut für die Ansiedler
Herstellei: zu lassen. Eine Folge ist, daß der Verband vorwiegend mit großen
Firmen arbeitet, die häufig nicht in, eigentlichen Ansicdlungsgebiet liegen.
Durch diese Firmen wird aber der kleine deutsche Maschinenschlosser und Dach¬
deckermeister in der Provinz um sein Brot gebracht, lind das Geld, an dem die
Ostmark so arm ist, wird aus ihr herausgezogen. Aus verschiednen Gesprächen
mit verantwortlichen Persönlichkeiten habe ich den Eindruck gewonnen, daß sie
sich der eben angedeuteten Schwierigkeiten vollkommen bewußt sind und manche
Entscheidung zu ungunsteu der Genossenschaften getroffen haben, lediglich um
das gesunde Deutschtum in den Städten zu schützen.
Weiter oben ist bemerkt worden, die größern Handelsstädte der Ostmark
würden durch die Tätigkeit der Ansiedlungskommission nicht direkt berührt.
Wie bekannt widerspricht eine solche Behauptung den fortgesetzten Klagen ver-
schiedner Handelskammern in der Ostmark. Tatsächlich werden die Städte
Danzig, Graudenz, Thorn. Posen und noch einige kleinere sehr wohl durch die
deutsche Besiedlung des Ostens in Mitleidenschaft gezogen, ober doch in ganz
andrer Weise, als wie es bei den weiter oben behandelten kleinen Städten der
Fall ist. Von den Wirkungen der Erhöhung der Güterprcise wollen wir an
einer andern Stelle sprechen, uns hier nur Einzelerscheinungen zuwenden. So
muß ohne weiteres zugegeben werden, daß der Gctreidehandel on gros durch
die genossenschaftliche Organisation im Zusammenhange mit Speicher-- und
Elevatorenbauten seit etwa fünfzehn Jahren eines andre Wege gefunden hat,
als er vorher ging. Doch wenn auch das deutsche Siedlungswesen den Anstoß
dazu gegeben haben mag, daß eine Änderung in den Handelswegen eingetreten
ist, konnte diese Änderung doch nur lebensfähig werden, weil ein Bedürfnis
dafür vorhanden war, und weil das Gesetz von der Freiheit des Handels und
der Gewerbe jeder Person das Recht gibt, Handel auch dort zu treiben, wo
es den zünftigen Kaufleuten unangenehm ist. In Posen erhält nun diese Frage
noch einen ganz pikanten Anstrich. Die Handelskammern klagen ausschlie߬
lich über die Tätigkeit des Neuwieder Verbandes, nicht aber über die des
Offenbacher und der polnischen Genossenschaften! Logischerweise müßten sie es tun.
Denn ebenso wie die deutschen Genossenschaften den alteingesessenen Handel
bedrohen, besteht noch eine viel schärfere Konkurrenz von seiten der polnischen
genossenschaftlichen Unternehmungen, die weit rücksichtsloser die nationale Seite
in den Vordergrund rücken als die deutschen. Diese Konkurrenz aber igno¬
rieren die Kaufleute mit dein Hinweis, sie sei erst eine Folge der Ansied-
lnngspolitik. Wie haltlos die Behauptung ist, geht aus der Tatsache hervor,
daß es in Posen schon um 1840 polnische politische Handwerkervereine, 1872
bis 1873 schon 14 ausschließlich polnische Genossenschaften gab, während die
Deutschen erst um 1900 als Kampforganisation auf den Plan rückten! Zwischen
beiden Konkurrenten besteht jedoch ein wichtiger Hauptunterschied, der das Ver¬
halten unsrer Kaufmannschaft begreiflich macht. Die Polen suchen engen Anschluß
an den alteingesessenen Handel und lassen ihn darum anch gern an ihren Ge¬
winnen teilnehmen, solange dessen Kapitalien und rückwärtige Verbindungen mit
Erfolg für sie auszunutzen sind. Das ist kaufmännisch gedacht und wird darum
von den deutschen Kaufleuten auch als berechtigt anerkannt. Die national
deutschen Kassen des Neuwieder Verbandes lassen dagegen andre Gründe in den
Vordergrund treten, die im Rechenexempel des Kaufmanns kein Konto haben.
Es sind also auch nicht ausschließlich kommerzielle Gründe, die sie zum An¬
schluß an den alteingesessenen Handel veranlassen oder davon abhalten. Die
beharrliche Fürsprache der Handelskammern könnte bei einer schwächlichen Negie¬
rung sehr Wohl dazu führen, daß der Handelsstand von der Konkurrenz der
deutschen Genossenschaften befreit wird. Wir hoffen es nicht; denn eine solche
Befreiung käme hauptsächlich den polnischen Genossenschaften zugute und würde
sie stärken im Kampf gegen dieselbe deutsche Kaufmannschaft, die sich hente ans
die Seite der Polen stellt. Ich meine, die Klagen der ostmärkischen Handels-
kammern bedürfen einer gründlichen Nachprüfung. Der Liberalismus der Polen
in nationalen Fragen sollte unsern Kaufleuten ebenso bekannt sein wie ihr
Philosemitismus. Es gibt vielleicht außer den Japanern kein Volk auf der Erde,
das so unverhohlen den nationalen Egoismus predigt wie die Polen. Wie die
deutsch-polnischen Beziehungen liegen, erscheint es ausgeschlossen, daß die Polen
auch dann mit Deutschen und Juden zusammen arbeiten würden, wenn sie einmal
geschäftlich die Oberhand bekommen sollten, und wenn es den Deutschen einfallen
sollte, unter allen Umständen deutsche Kultur- und Reichsinteressen zu vertreten.
Der ostelbischeu Kaufmannschaft geht patriotischer Sinn nicht ab. Oft
genug hat sie ihn in schweren Stunden bezeugt. Darum geht es aber vorerst
noch gar nicht. Denn nicht seinen nationalen Aufgaben will sich der Handels¬
stand entziehen. Wogegen sich der Kaufmann als Kapitalist und Unternehmer
sträubt, das ist das genossenschaftliche Prinzip überhaupt, das sich infolge der
aggressiven Haltung der Polen kräftiger in Posen entwickelt als in andern
Provinzen. Es liegt in der Natur des Kaufmanns, daß er die versöhnliche
Stimmung jeder Kampfstimmung vorzieht, wenn er nicht gern Partei ergreift,
wo der Ausgang des Kampfes nach seiner Meinung ungewiß ist. Der Kauf¬
mann in der Ostmark fühlt sich zwischen die beiden mächtigen Gegner, zwischen
die deutschen und polnischen Genossenschaften geklemmt, deren Kampf zunächst
um das Erbe des freien Kaufmannstandes geht.
Soweit ich selbst die Verhältnisse überschaue, möchte ich glauben, daß die
Kaufleute in der Ostmark, die sich durch Raisfeisen in ihrer Existenz bedroht
fühlen, das Mittel zur Abwehr versuchen sollten, das sonst überall von den
Unternehmern angewandt wird: die Fusion, d. h. Anschluß an die ihnen gefähr¬
lichen deutschen Genossenschaften. Für den ersten Augenblick schiene das freilich
wie ein großes Opfer, denn ein solcher Anschluß wäre gleichbedeutend mit
Kriegserklärung an die polnischen Geschäftsleute, die in einzelnen Teilen des
Landes nach Lage der Dinge noch für eine Reihe von Jahren die maßgebende
Stelle einnehmen müssen. Es kann somit von den deutschen Kaufleuten nicht
überall verlangt werden, daß sie ihre polnischen Beziehungen abbrechen. Aber
sie brauchen darum die Polen auch nicht den Deutsche» vorzuziehen. Sie sollen
Vertrauen haben in die wirtschaftliche Reformarbeit, die nicht durch das Verhalten
der Deutschen, sondern der Polen zu einer streng nationalen deutschen Sache
geworden ist. Wenn wir Vertrauen haben in die Wirksamkeit der Tätigkeit der
Ansiedlungskommission, dann können wir auch überzeugt sein, daß der Zeit-
Punkt nicht fern ist, wo es auch rein kommerziell für den Deutschen von Vorteil
sein wird, offen auf die heute befehdete Seite zu treten. Jetzt in der Über¬
gangszeit aber gilt es, sich den einzelnen Phasen des Kampfes anzupassen.
Die dazu nötige Intelligenz besitzt der deutsche Kaufmann zweifellos. Das
Tätigkeitsfeld in den Genosfenschciften ist dabei so groß, daß auch hervorragend
energische Persönlichkeiten Gelegenheit finden können, ihre geistigen und materiellen
Kräfte vollkommen zu entwickeln.
Was NUN die auffallende Stärkung des Polentums in den größern Städten
der Ostmark wie Danzig, Graudenz, Thorn, Bromberg und Posen betrifft, so
möchte ich hier nur an drei Gründe dafür erinnern: die Unterstützung der
polnischen Finanzen durch die mit der Ostmarkenpolitik verbundnen Geld¬
verhältnisse im allgemeinen, gefördert durch gleichzeitige Schwerfälligkeit des
alteingesessenen Handels, natürliche und gesunde Gewinnsucht bei Deutschen und
Juden und die Fähigkeit der Polen, sich in zwei Sprachen zu verständigen.
Über die beiden ersten Punkte habe ich mich schon genügend verbreitet, über
den dritten nur einige Worte. Die Polen sind durch ihre Sprachkcnntnisse in
den Stand gesetzt, direkt mit Warschau und Berlin zu arbeiten, unter Um¬
gehung der nicht polonisierten Juden und Deutschen.*) In den großen Städten
der Ostmark wird, so möchte ich glauben, der Kampf gegen das Vordringen
der Polen schwerer sein als in den kleinen. Ja ich meine, es kann eine Zeit
kommen, in der der gesamte Handel zwischen Rußland und Deutschland im
Stromgebiet der Weichsel und der Warthe in polnischen Händen liegen wird.
Ich lasse mich bei solcher Auffassung besonders durch meine Beobachtungen
der Wirtschaftslage im Zartum Polen leiten (vgl.. Die Zukunft Polens, Band I,
Kapitel 9 bis 12**), die bestärkt werden durch das zielbewußte Streben der Polen,
in und um Danzig festen Fuß zu fassen. Aber zu einer dauernden Besorgnis
können solche Beobachtungen keinen Anlaß geben, solange die Besiedlung der
Ostmark nach großen Grundsätzen und ohne Schwankungen erfolgt, und solange
wir uns der mit dem Abzug der Polen vom Lande verbundnen Gefahr bewußt
bleiben. Darum müssen wir dahin Wirten, solche Zustünde zu schaffen, daß
bald auch deutsche Kräfte vom Lande in die Städte der Ostmark ziehn können.
Sobald deutsche Kräfte vom flachen Lande in die Städte der Ostmark drängen,
wird auch die Zeit kommen, wo der polnische Einfluß aus den Städten ver¬
schwinden muß. Das Herannahen dieser Zeit können die deutschen Kaufleute
lutherischen und mosaischen Glaubens beschleunigen durch möglichst intensive
Ausnutzung der ausgezeichneten Organisationen des Neuwieder Genossenschafts¬
verbandes, kann auch die preußische Regierung beschleunigen durch eine den
Aufgaben möglichst fein angepaßte und tief ausgebildete Organisation des An-
siedlungsinstituts.
echzig Vorträge, klagt uns ein Freund der Grenzboten, haben
die Haeckeliciner diesen Winter in Berlin gehalten, und nur der
eine Reinke hat gegen sie gesprochen! Nun, Berlin ist nicht die
Welt, und die Untersekundaner und die Backfische sind noch lange
nicht die deutsche Intelligenz. Auf diese beideu Kategorien be¬
schränkt sich nämlich nach Pciulsens Ansicht das Publikum der „Welträtsel"
und der Sächelchen von Ellen Key. Natürlich muß man die Erwachsnen hinzu¬
rechnen, die auf der Untersekundanerstufe stehn geblieben sind. Wie die deutsche
Intelligenz denkt (zu der nach einer bekannten lÄdls eonvermg die wissenschaftlich
gebildeten Christen beider Konfessionen, also auch wir Grenzbotenleute, nicht
gehören), erführe man aus dem von Drews*) herausgegebnen Bande: er und
neun seiner Mitarbeiter zerschneiden das Tischtuch zwischen sich und dem
Jenenser Unfehlbarer; der zehnte tut es offenbar nur darum nicht, weil ihm
sein Thema keine Veranlassung darbot, sich zu äußern. Die Herren würden
es selbstverständlich für eine Beleidigung halten, wenn man sie des Christen¬
tums oder auch nur des Theismus verdächtigte, dennoch bezeichnet ihr Buch
eine Station auf dem Rückwege aus der Sonnenferne, in die der kometengleich
schweifende deutsche Denkgeist geraten war, in die Sonnennähe. Den Reigen
eröffnet der Herausgeber. Er kritisiert die verschiednen Monismen, die kon¬
struiert werden können und wirklich konstruiert worden sind, je nachdem man
den Stoff, die Kraft oder den Geist für das Alleinige nimmt, und je nachdem
man diese drei hypothetischen Wesen miteinander und mit ihren Qualitäten und
Wirkungen so oder anders in Beziehung setzt. Da Drews der Apostel Eduard
von Hartmanns ist, wissen wir im voraus, daß er nach Widerlegung aller
andern Spielarten, namentlich der Haeckelschen, bei des Meisters „konkretem
Monismus des Unbewußten" anlangen wird. Aber er ist kein Nachbeter,
sondern ein selbständiger Wiedererzeuger und Fortbildner, und darum bereitet
es Genuß, Hartmanns Lehre in dieser neuen Form zu vernehmen. Ein für
allemal, sagt er sehr schön, müsse man „dem modischen Vorurteil entsagen, als
ob eine wirkliche Lösung der sogenannten Welträtsel mit Hilfe naturwissen¬
schaftlicher Erfahrung zustande zu bringen und eine einheitliche Weltanschauung
nur auf naturwissenschaftlicher Grundlage möglich sei. Die Naturwissenschaft
hat es immer nur mit der einen, der materiellen Seite der Wirklichkeit zu tun,
deren mechanische Gesetzlichkeit sie aufdeckt. Sie überschreitet folglich ihre
Grenzen, wenn sie auch die andre, die geistige Seite, in ihre Betrachtungen
hineinzieht. Und sie verwickelt sich in unlösbare Schwierigkeiten und Wider¬
sprüche, wenn sie auch diese dem mechanischen Gesichtspunkte unterordnet." Er
hebt eine Reihe solcher Widersprüche von Naturforschern, die sich sämtlich
Monisten nennen, hervor und fährt fort: „Alle diese verschiednen Behauptungen
werden lediglich durch das eine Wort »Monismus« zusammengehalten, das
hier somit die verschiedenartigsten Bedeutungen hat und zu alleu möglichen
Zwecken herhalten muß. Da ist es denn freilich kein Wunder, wenn Leute
von philosophischer Bildung, die im übrigen für den Dualismus keine Vorliebe
haben, über diese Art von Monismus die Achseln zucken und scharfe Zungen
an die Stelle jener altehrwürdigen Bezeichnung lieber den Ausdruck Kon-
fusionismus setzen möchten. Da begreift man, wenn die Gründung eines
Monistenbundes selbst bei solchen auf Widerstand stößt, die einer monistischen
Auffassungsweise in wissenschaftlicher wie in religiöser Hinsicht gleich zugetan
sind. Ja man kann es sogar einem Wasmann und den übrigen Vertretern
einer sogenannten kirchlichen Philosophie nicht einmal übelnehmen, wenn sie
sich dem Dogmatismus der naturwissenschaftlichen Monisten gegenüber auf ihre
eigne höhere logische Schulung und ihre gründlichere Kenntnis der Geschichte
der Philosophie und der Bedürfnisse des menschlichen Geisteslebens berufen.
Denn der Naturalismus jenes Standpunktes kann zu allerletzt auf allgemeine
Zustimmung rechnen, solange nicht der Beweis erbracht ist, daß das religiöse
Bewußtsein ^Bedürfnis?^ keinen Anspruch auf Befriedigung hat oder der natu-
ralistische Monismus selbst imstande ist, ein haltbares Verhältnis zwischen Gott
und den Menschen zu begründen. Diese Begründung aber ist so wenig wie
jener Nachweis möglich, und darum hat der Monismus der Naturforscher,
selbst wenn er widerspruchsloser wäre, als er ist, keine Aussicht, im Kampfe
mit veralteten und unhaltbaren dualistischen Vorurteilen obzusiegen. Man
kann es im Interesse der Sache nur bedauern, daß der Lärm, den der natur¬
wissenschaftliche Monismus in der Gegenwart verursacht, den Monismus über¬
haupt in Verruf gebracht und bei vielen schon deshalb ein Vorurteil für den
Dualismus erweckt hat, weil sie bei jenem Worte eben nur an den Naturalis¬
mus denken und sie mit diesem keine Gemeinschaft haben wollen." Auch Ost¬
walds Energetik wird widerlegt, soweit sie sich vermißt, das psychische Leben
naturwissenschaftlich zu erklären. Daß sich im Gehirn Nervenenergie in psychische
Energie umsetze, könne natürlich nur nnter der Voraussetzung behauptet werden,
daß dabei das Grundgesetz der Erhaltung der Energie gewahrt bleibe. Nach
Ostwald sei das der Fall, „allein keine Erfahrung hat bisher bestätigt, daß
tatsächlich bei der Umformung von Energie des Zentralorgans in Bewußtseins¬
inhalt physische Energie verschwindet oder umgekehrt bei dem Übergange von
Bewußtseinsinhalt in körperliche Bewegung die psychische Energie vermindert
oder die Intensität jenes Inhalts herabgesetzt wird". Die erste Hälfte des
letzten Satzes ist unanfechtbar. Gegen die zweite jedoch werden die Physiker
Wohl einwenden, daß sie nicht imstande sind, beim Rennen oder Holzhacken
eine schwierige Rechnung auszuführen, womit aber natürlich Ostwalds Theorie
noch lange nicht bewiesen ist.
Ganz richtig nennt es Drews einen dogmatischen Machtspruch und ein
Vorurteil, wenn die naturwissenschaftlichen Monisten einen finalen, teleologischen
Zusammenhang der Weltgeschehnisse für undenkbar und die Annahme eines
solchen für wissenschaftlich wertlos erklären. Nur übersieht er, daß er seineu
eignen Monismus auf dogmatische Machtsprüche baut. Ein solcher ist es,
wenn er schreibt: den substantiellen Dualismus zwischen Gott und Welt müsse
die Wissenschaft wie die Religion gleich entschieden verwerfen, denn die An¬
nahme eines transzendenten Schöpfers vernichte die Einheit und unverbrüch¬
liche Gesetzmäßigkeit der Welt, diese selbstverständliche Voraussetzung aller wissen¬
schaftlichen Erkenntnis; und die Behauptung, daß Mensch und Gott wesentlich
verschieden voneinander seien, mache „das religiöse Bedürfnis, die Sehnsucht
nach Vereinigung von Gott und Mensch, um dadurch von der Weltabhängigkeit
erlöst zu werden, illusorisch". Die Einheit der Welt und deren Gesetzmäßig¬
keit werden durch die Annahme eines von der Welt verschiednen Schöpfers
nicht im mindeste» beeinträchtigt. Im Gegenteil hat erst der Theismus mit
seinem die Welt durchwaltenden einen Gotteswillen den Begriff des unver¬
brüchlichen Natnrgesetzes möglich gemacht, der durch den Glauben an Wunder
im Sinne der christlichen Theologie — man mag sich sonst zu diesen stellen,
wie man will — bestätigt und befestigt wird; denn nur wo eine Regel herrscht,
kann von Ausnahmen die Rede sein; für den Polytheisten ist alles, was ge¬
schieht, oder nichts ein Wunder. Und alle die großen Physiker und Mathe¬
matiker, die im sechzehnten und im siebzehnten Jahrhundert die moderne Wissen¬
schaft begründet haben, sind gläubige Theisten gewesen. Alle Spekulationen
über die Art und Weise, wie die Dinge dieser Welt mit ihrem Urgründe zu¬
sammenhängen, können ja nichts als Phantasien sein und sind meist weniger
als dieses, leere Worte, unter denen man sich nichts denkt, nichts vorstellt.
Wenn ich selbst das christliche Dogma von der Schöpfung aus nichts für eine
wenig glückliche Formel ansehe, so bestimmt mich nicht die Sorge um die
Sicherheit der Wissenschaft — die ist gerade beim strengsten Theismus am
besten geborgen —, sondern ein Empfinden, das mit wissenschaftlichen Unter¬
suchungen gar nichts zu schaffen hat. Diesem Empfinden entspricht es besser,
die Dinge aus der Fülle des Urwesens, des eus roalissimum, als aus dem
Nichts geschöpft zu denken. Ebenso willkürlich ist es, wenn Drews durch den
Theismus die Religion gefährdet sehen will. Sehnsucht nach der Vereinigung
mit Gott ist unter allen religiösen Gefühlen das seltenste. Die frommen Beter,
die es mit den Lippen aussprechen, sprechen es nur dem Gebetbuch nach oder
bilden es sich höchstens ein. Und von den auserwählten Seelen, die es wirklich
empfinden, wollen die wenigsten — es sind die „ketzerischen" Mystiker —mit
Gottes Wesen verschmelzen, darin aufgehn lind verschwinden; die übrigen
Mystiker wollen im Liebcsverkehr mit Gott ihre eigne Persönlichkeit behaupten,
geradeso wie im irdischen Liebesverkehr mit Menschen; Selbstvernichtung würde
ja auch den Liebesgenuß vernichten. Aus der Abhängigkeit von der Welt
erlöst aber fühlt sich, wie unzählige Beispiele beweisen, gerade der gläubige
Christ, der sich selbst in der Hand Gottes und alle Haare seines Hauptes ge¬
zählt weiß. Und lediglich ein dogmatischer Machtspruch ist die Unbewußtheit
Gottes, die Drews mit seinem Meister Hartmann behauptet. Daß es ein
bloßes Vorurteil ist, der unendliche Geist könne nicht anders als unbewußt
gedacht werden, eine Person müsse notwendig begrenzt sein, hat Lotze (in der
zweiten Auflage des Mikrokosmus, III, S. 565ff.) unwiderleglich bewiesen.
Von demselben Hartmannischen Vorurteil des Unbewußten ist Wilhelm
von Schreber angesteckt, der über „Monismus und Dualismus" schreibt. Es
bleibe nichts übrig als in uns selber eine vorbcwußte und darum auch ewig
unbewußte Geistestätigkeit oder Verstandestätigkeit, die kantischen Kategorial-
funktivnen, anzunehmen. Das ist einfach Unsinn. Alle Verstandestätigkeit ist
bewußt. Daß sie so und nicht anders verläuft, daß wir logisch urteilen und
schließen, die Gegenstände unsrer Erfahrung nach Qualität, Quantität und
andern Kategorien ordnen, kommt nicht von einer unbewußten Verstandestätig-
keit, die der bewußten vorherginge, sondern von der Einrichtung unsrer Seele,
gerade so, wie der regelmäßige Gang einer Uhr von der Einrichtung dieser
Uhr und nicht von einem vorhergehenden Gange kommt. Aber eine irgendwie
eingerichtete Seele, eine Seelensnbstcmz, dürfen wir natürlich nicht haben; das
verbietet der idealistische Pantheismus so entschieden wie der materialistische
Atheismus. „Denn dann bliebe kaum etwas andres übrig, als dem Leibe und
dessen kleinsten materiellen Teilen, den Atomen, ebenfalls ein wesenhaftes
(substantielles) Sein zu geben, und dieses wesenhafte Sein der Materie im
Unterschiede von dem rein innerlichen, geistigen Sein der Seele als ein äußer¬
liches, stoffliches Sein zu bezeichnen." Daß diese Folgerung grundfalsch ist,
macht wiederum Lotzes Mikrokosmus klar, der einerseits das Dasein der Seelen¬
monaden beweist und andrerseits die naive Vorstellung von der Stofflichkeit
der Körperwelt vernichtet. Aber ich kann unmöglich in den Grenzboten ein
Werk abschreiben, von dem mich die Achtung vor der deutschen Intelligenz
anzunehmen zwingt, daß es jeder gebildete Deutsche gelesen hat. Den Erwägungen
Lotzes möchte ich noch etwas aus Eignen hinzufügen. Kein Vernünftiger wird
behaupte», daß der Schlafzustand des Menschen höher sei als der wache.
Demnach muß auch der — ich spreche im Sinne der Pantheistcn — wache
Zustand Gottes höher sein als der unbewußte — doch wohl eine Art Schlaf-
zustnnd? — vor seinem Erwachen im bewußten Menschengeiste. Nun vermag
auch ein Hegel, ein Hartmann im wachen Zustande durch sein Eingreifen nicht
die geringste Korrektur in seinem Blutlauf, in seiner Verdauungstütigkeit, in
seinem Gehirn vorzunehmen, wenn da etwas in Unordnung geraten ist; ja er
weiß gar nicht, worin die Unordnung besteht, die er empfindet oder auch — das
kommt bekanntlich oft vor — nicht einmal empfindet. Und nun soll er in seinem
niedern, dem unbewußten, Daseinsstadium nicht bloß Einblick in die komplizierte
Maschine des Menschenleibes haben, sondern ihn, ja alle Menschen und Tier¬
leiber gebaut haben und in Ordnung erhalten! (Bekanntlich schreibt Hartmann
seinem „Unbewußten" alle Funktionen der Weltschöpfung, Erhaltung und Re¬
gierung zu, die der Christ als Tätigkeiten seines bewußten Gottes glaubt.)
Und was war der unbewußte Gott vor der Weltschöpfung? Dasselbe wie die
Materie, wenn man sie sich ohne bewußte Seelen vorzustellen bemüht: ein Wesen,
das weder selbst etwas wahrnimmt noch wahrgenommen wird, also ein absolutes
Nichts. Und aus diesem absoluten Nichts soll die Welt hervorgegangen sein!
Und nach dem Erwachen im Menschen soll Gott ein Doppeldasein führen: das
unbewußte, das die Welt mit unendlicher Weisheit regiert, und das bewußte
im Philosophen, der diese Weisheit seines wahren Ichs vergebens zu ergründen
sucht! Es bleibt also bei der Erkenntnis, die wir durch Lotze gewonnen haben:
„Das wahrhaft Wirkliche, das ist und sein soll, ist nicht der Stoff und noch
weniger die Idee, sondern der lebendige persönliche Geist Gottes und die Welt
Persönlicher Geister, die er geschaffen hat." Übrigens lehrt Schreber sehr gut,
daß es unsinnig sein würde, wenn der Monist die in der Wirklichkeit gegebnen
Unterschiede und Gegensätze für nicht vorhanden erklären wollte. „Schon Plato
hat (im Parmenides) gezeigt, daß ein schlechthin einfaches Eines ohne irgend¬
welche innere Mannigfaltigkeit ein ebensolcher Unbegriff ist wie eine schlechthin
zusammenhanglose Vielheit ohne übergreifende Einheit." Auch geben wir ihm
AU, daß im Christentum — weniger der fromme Glaube, wie er sagt, als — die
theologische Kvnsequenzmacherei die Verschiedenheit Gottes von der Welt
überspannt wie die indische Philosophie die Einheit beider. Und verdienstlich
ist es auch, daß er aller Phantasterei gegenüber an der Überzeugung festhält:
Kräfte, Ideen, Gedanken, Wollungen können nicht in der Luft oder im Nichts
schweben; sie brauchen einen Träger, ein substantielles Subjekt, an dem sie
haften, und von dem sie ausgehen.
Leonhard Veeh klagt in seiner Abhandlung: „Monismus und Indi¬
vidualismus", wir Deutschen hätten keine einheitliche Weltanschauung und
Religion, weil wir durch fremde, durch theistische Nasseninstinkte „vergiftet"
seien. Glaubt er wirklich, daß wir einig werden würden, wenn statt der Bibel
die Edda als Religionsurkunde in die Schulen eingeführt würde? Das
Christentum lehre einen transzendenten Gott, der in unendlicher Ferne throne.
Wie schön hat darauf die heilige Teresa geantwortet, die Gott sprechen läßt:
..O Seele, suche Dich in Mir, und Mich such' nirgends als in Dir." Der
Katechismus lehrt bekanntlich die Allgegenwart Gottes. Dem guten Kant
wird übel genommen, daß er „die alten Ladenhüter aus der Aufklärungs-
Periode: persönlichen Gott und persönliche Unsterblichkeit, in sein System
hereinspazieren" lasse. Den Jndividualitätsbegriff widerspruchslos mit dem
Einen zu verbinden, hätten sich alle Philosophen seit Descartes vergebens
abgemüht, erst Eduard vou Hartmann sei es gelungen. Nietzsche sei als
Kampfgenosse gegen den Materialismus und als Befreier vom semitisch¬
römischen Joch zu begrüßen, aber der Gottmensch des konkreten Monismus
sei sein Übermensch noch nicht. Nietzsches und jeder andre Individualismus
blase das Mittel, dessen sich das All-Eine zu seinen überpersönlichen Zwecken
bedient, zum Selbstzweck auf. Es ist keine angenehme Empfindung für einen
denkenden Menschen, bloß Mittel sein zu sollen für einen Zweck, den er nicht
kennt, und der ihm schon darum gleichgiltig ist; deswegen hält er es lieber
mit dein Christentum oder mit der Sozialdemokratie; beider Weltanschauung
räumt ihm selbst einen Platz im Weltzwecke ein. „Der Gottmensch des kon¬
kreten Monismus tut seine Pflicht um Gottes willen." Wunderschön, Wenns
der Christ sagt. Aber der Gott des konkreten Monismus ist unbewußt, und
wer um eines unbewußten Wesens, etwa eines Holzklotzes willen sich an¬
strengt oder leidet, der ist ein Esel; einem Menschen, ja auch einem Hunde,
einem kranken Pferde zuliebe arbeiten oder hungern, das hat einen Sinn,
denn alle diese Wesen haben, als bewußte, etwas von den Opfern, die man
ihnen bringt. Von Lotze weiß auch dieser Herr nichts; er nennt eine absolute
Persönlichkeit einen Widerspruch in sich selbst. Otto Braun, der über
„Monismus und Ethik" schreibt, wollen wir in Ehren halten, weil er bekennt:
ohne eine vom äußern Kosmos geschiedne innere Welt des Geistes, die ihren
eignen Gesetzen folgt, gibt es keine Ethik. Sehr gut beschreibt er die Ehe
als den einfachsten Weg zum „Lebensmonismus", zur Aufhebung des Gegen¬
satzes und Widerspruchs zwischen Pflicht und Glück. Friedrich Steudel, ein
Gesinnungsgenosse des verstorbnen Kalthoff, behandelt das Verhältnis der
Religion zum Monismus. Er erklärt sich einverstanden mit Feuerbachs
Definition: ein Gott sei nichts andres als der in der Phantasie befriedigte
Glückseligkeitstrieb des Menschen (was natürlich falsch ist), und untersucht, ob
nicht der Mensch „auf einer höhern Stufe der Geistesbildung gerade diese
Form, in der Phantasie die Befriedigung des Glückseligkeitsstxebens vorweg¬
zunehmen, überwinden" könne. In der Tat sei das dadurch möglich, daß
sich der individuelle Glückswille zum Knlturwillen ausweite. (Das kaun er
vielleicht beim Gelehrten; der Bauer, der Lohnarbeiter leistet schon genug,
wenn sich sein Egoismus zur christlichen Nächstenliebe erweitert.) So erscheine
Religion als Bejahung der Entwicklung. Und diese Religion des Monismus,
dieser Lebens- und Zukunftsglaube, leiste genau dasselbe, was nach Feuerbach
die Religion nur unter der Annahme eines transzendenten Gottes zu leisten
vermöge. In der Theorie vielleicht; wie weit in der Praxis, würde die Er¬
fahrung lehren, wenn es der Monistenreligion gelänge, das Christentum zu ver¬
drängen. Karl Wollf ssolj zeigt in „Monismus und Kunst", daß die Wirkung
des Natur- und Kunstschönen auf Einfühlung beruht, und daß diese unmöglich
Ware, wenn nicht Geist und Körper, Subjekt und Objekt, Ich und Natur wesens¬
gleich wären. Christoph Schrempf, der vor Jahren seinen theologischen Amts¬
brüdern bittere Wahrheiten gesagt hat, läßt diesesmal seine Brüder im Monismus
einige Pillen schlucken. Wenn man die Einheit der Welt bloß behaupte oder
glaube, sei der Monismus ein leeres Wort; begreifen müsse man die Ent¬
faltung des Alls aus dem Einen. Saft und Kraft bekomme der Monismus erst
dadurch, daß er den Dualismus der unmittelbar gegebnen Wirklichkeit anerkenne;
was schlimmer sei, ein Monismus, der die Dissonanz, oder ein Dualismus, der
die Auflösung wegstreiten wolle, das lasse sich fragen. In den beiden paulinischen
Ansprüchen: aus ihm, durch ihn und zu ihm ist alles (Römer 11, 36), und
in Gott leben, weben und sind wir (Apostelgeschichte 17, 28; er hätte noch
1. Kor. 15, 28 hinzufügen sollen: Gott werde nach Vernichtung des letzten
Feindes, des Todes, alles in allem sein), findet er „einen Ausdruck für das
monistische Programm, dessen Schärfe und Tiefe kaum übertroffen werden
kann". Aber Paulus habe sein Bestes zurückdrängen müssen, und so auch die
Kirche uach ihm. Hütte das Christentum mit dem monistischen Gedanken Ernst
gemacht, so hätte es seine Mission nicht erfüllen können. „Denn der Monismus
zerstört das Pathos der Bejahung und Verneinung, das die treibende Kraft
in aller Mission und Agitation ist." Wer glaubt, daß Gott unwiderstehlich
alles in allen wirke, der kann weder die Götzendiener noch die Sünder schelten;
das kann man nur, wenn man an den freien Willen glaubt, der den Menschen
zu einem von Gott verschiednen und im Handeln unabhängigen Individuum
macht. Paulus durfte gar nicht merken, wie komisch sich der Zorn Gottes
über eine sündige Welt ausnimmt, deren Sündhaftigkeit er selbst verhängt hat.
„Mit einem Wort: der unterchristliche Aberglaube konnte nur durch einen
christlichen Aberglauben überwunden werden; die Wahrheit versagt gegen diesen
Gegner. Und da es auch heute noch genug unterchristlichen Aberglauben gibt
(sogar bei solchen, die längst über das Christentum hinaus sind), so mag es
nicht übel sein, daß das Christentum mit seinen höchsten Erkenntnissen noch
keinen rechten Ernst macht." Dem Christen, wie er vorläufig noch ist, sei es
nicht übel zu nehmen, wenn er den Monismus als einen gefährlichen Feind
mit Erbitterung bekämpft; der Monist dagegen, der sich über den gläubigen
Christen ereifert, der — sagt Schrempf sehr gut — ist gar kein Monist; wäre
^ ein solcher, so würde er diesen Christen wie jedes andre Wesen als ein
naturnotwendiges Produkt der Entwicklung, das nicht anders sein kann, als
es eben ist, mit gelassenen Forscherinteresse beschauen. Schrempf ist der einzige
Klaräugige in dieser ganzen Monistengesellschaft. Max Dreßler, „Der Monismus
des Gesetzes und die Freiheit", bekämpft die Abstraktionen und setzt die ab¬
strakteste aller Abstraktionen, das Gesetz, auf den Thron. Bei ihm wie bei
Steudel, der es einen Fehlschluß nennt, wenn vom Naturgesetz ans den Gesetz¬
geber geschlossen wird, muß man wieder das Ignorieren Lotzes rügen, der das
Wesen des Gesetzes (besonders I, S. 412 der ersten Ausgabe) völlig klar
gemacht hat. Es ist ein Jammer, zu sehen, wie an einer schon völlig ins
reine gebrachten Sache immer wieder aufs neue hcrumgepfuschert und das
gute Lcsepublikum in die alte Verwirrung zurückgestoßen wird. Bruno Wille
gibt uns unter der Überschrift „Faustischer Monismus" eine vortreffliche
Interpretation des Faust und erklärt besonders die Bedeutung Mephistos und
des Homunkulus in befriedigender Weise. Der Monismus ist dabei Neben¬
sache. Soweit auf ihn Bezug genommen wird, geschieht es im Sinne Goethes.
„Einheitlichkeit, Widerspruchslosigkeit und Totalität im Erleben — das ist es,
was der Monismus eigentlich meint. Alle Zerstückelung des Ganzen, alle
Vereinzelung, Vercndlichung lind Verkümmerung in der Betrachtungsweise ist
unmonistisch, ist dualistisch im Übeln Sinne des Worts." In dem Dialog
„Parmenides" von Karl Paul Hasse interessiert uns besonders zweierlei. Hart¬
mann hat die Begrenztheit der Welt behauptet. Wahrscheinlich ist es der Wider¬
wille des Pessimisten gegen den Gedanken einer unendlichen Fortdauer der Welt,
was ihn den physikalischen Beweis für seine Behauptung finden ließ. Das Gesetz
der Entropie, des alles Leben, alle nicht molekulare Bewegung vernichtenden
schließlichen Temperaturansgleichs im Weltall, gilt nämlich nur für ein ge¬
schlossenes System; kann in unser erstarrendes Fixsternsystem aus unendlichen
Fernen bewegende Kraft einströmen, dann beginnt das Spiel aufs neue. Hasse
behauptet die Unendlichkeit des Universums, weil, da dieses doch eben wahrscheinlich
nicht von einer kristallnen Hohlkugel umschlossen wird, nur der Gott des Theismus
als das begrenzende gedacht werden könnte. Da diesem Hartmann nicht weniger
abgeneigt war als Hasse, sehen wir wieder einmal — und wie oft haben wir
Gelegenheit, das zu sehen! —, wie weit das „streng wissenschaftliche, das voraus¬
setzungslose Denken" sogar Gesinnungsgenossen auseinanderführt, wie wenig
demnach wir uns von den Diktaten der modernen Wissenschaft imponieren zu
lassen brauchen, so oft sie sich über die Grenzen der Experimentalphysik und
der Astronomie hinauswagt. Das andre Interessante ist die richtige Bemerkung,
der Materialismus, der für verwerflich erklärt wird, könne entschuldigt werden
als Opposition gegen die Theologie. „Wer in der Jugend gezwungen wurde,
unter der Fuchtel trockner, geistloser Schulmeister toten Formelkram als Religion,
physische Unmöglichkeiten, die nur symbolisch zu verstehen sind, als Glaubens-
wahrheiten zu lernen und zu bekennen, der ist geneigt, Männern, die sich als
Streiter für Geistesfreiheit ausposaunen, sein Ohr zu leihen, sei auch, was sie
lehren, noch so flach und haltlos. Nur den Pfaffenknechten Verachtung zeigen,
ist die Losung." So ists. Und so rufen, gleich den entgegengesetzten Elektrizitäten,
die Extreme einander hervor. Lieber Atheisten als Pfaffenkncchte, ist links,
lieber Pfaffenknechte als durch Modernismus und Protestantismus in die
Haeckelei und von da zu Frank Wedekind und Ellen Key hinabrutschen, ist rechts
die Losung. Das erklärt auch die Scheu vor Lotze; man fürchtet törichterweise,
durch seinen Theismus schließlich nach Wittenberg oder gar nach Rom gelockt
zu werden. Der letzte Aufsatz, „Die sechs Schöpfungstage" von Hans Thoma,
hat mit dem Monismus um sich gar nichts zu schaffen, erinnert jedoch insofern
an Haeckel, als dieser die Bibel verachtet und schmäht, Thonr betrachtet voll
Ehrfurcht das erste Kapitel der Genesis als eine Dichtung von hohem Kunst¬
wert, die noch dazu einen tiefen Sinn berge, da jedem neugebornen Menschen¬
kinde die Geschöpfe in derselben Reihenfolge, in denselben Stadien der Erfahrung
bekannt werden, in denen sie der biblische Dichter geschaffen werden läßt.
Die deutsche Ausgabe der englischen Widerlegung Hcicckels sagt uns in
der Hauptsache nichts Neues, aber sie trägt das längst Bekannte in überzeugender
Weise vor, stützt es mit einigen neuen physikalischen Erkenntnissen, und der
Beweisführung verleiht die Person des Verfassers Gewicht. Sir Walter Lodge
ist seit 1900 ürst principal der Universität Birmingham. Chwolson nennt ihn
„einen unsrer Generäle". Er hat die Entdeckung der elektromagnetischen Wellen
vorbereitet, die dann Hertz zuerst gelang. Er führte sie in England ein und
erfand den vollerer, einen Apparat zur Auffindung der Wellen. Mit diesem
hat er vor Marconi den ersten drahtlosen Telegraphen gebaut; Marconi hat
ihn nur vervollkommnet. Lodge protestiert gegen die Anmaßung der Materialisten
haeckelscher Richtung, ans den Monismus ein Monopol zu beanspruchen; alle
Philosophie sei Monismus, da sie den Zusammenhang der Erscheinungen unter¬
einander zu ergründen bemüht sei und die manichäische Zerreißung des Uni¬
versums in zwei oder mehrere ganz disparate und unversöhnliche Wesenheiten
ablehne. Zur Widerlegung Haeckels bedürfe man übrigens keiner Philosophie,
da hierzu die Physik genüge. Die leichtfertige und liederliche Manier, mit der
Haeckel die physikalischen Grundgesetze behandelt, rügt er so scharf wie Chwolson.
U. a. weist er nach, daß die Erhaltung des Stoffs keineswegs etwas so Selbst¬
verständliches und absolut Gewisses sei, wie Haeckel glauben machen wolle. Schon
jetzt sei man mit der Zerlegung der Stoffteilchen bis zu den Elektronen gelangt,
von denen wir nicht wissen, ob sie noch Gewicht haben. Haben sie keins, so
ist somit die letzte der Eigenschaften geschwunden, von denen man bisher an¬
nahm, daß sie das Stoffliche, Materielle ausmachten. Nach Auflösung der ge¬
samten Körpermasse in Elektronen würde nicht die Materie selbst, sondern nur
ihre Basis in Gestalt elektrischer Spannungen und Ladungen übrig bleiben, und
diese eben als Basis der Materie augesehen, könne man ja auch dann noch von
der Erhaltung der Masse sprechen; aber das Gegenteil dieser Erhaltung bleibe
denkbar und möglich.
Über die „groteske Behauptung" Haeckels, die Materie werde nicht aus¬
schließlich durch mechanische Kräfte bewegt, sondern durch innere Wünsche, Ge¬
fühle und Begehrungen, die Atome seien beseelt, bemerkt Lodge: „Ich Habemir
vorgenommen, bei meiner Kritik höflich zu bleiben, und darum verzichte ich
darauf, einen solchen Ausspruch so zu charakterisiere,:, wie man als Physiker
eigentlich müßte. fHaeckelsj ganze angebliche Erklärung von Leben, Geist und
Bewußtsein besteht darin, daß man annimmt, die Materie besitze eben diese
unerklärten Eigenschaften! Eine Erklärung ist das jedenfalls nicht, auch wenn sich
die Dinge wirklich so verhielten. Man konstatiert nur eben einfach das Dasein
des zu Erklärenden und schiebt es den Atomen zu in der Hoffnung, daß damit
dem Fragen ein Ende gemacht sein werde." Wahrgenommen werde Bewußtsein,
Leben nur in Organismen; der Schluß, daß Phänomene, die an einem Ganzen
wahrgenommen werden, auch in dessen Teilen vorkommen müßten, sei durchaus
unberechtigt (was an einzelnen Beispielen gezeigt wird, z. B.: der Sonne ermög¬
liche nur ihre ungeheure Masse, Sonne zu bleiben, da jede radiale Schrumpfung
so ungeheure Wärmemengen erzeuge, daß ihre hohe Temperatur erhalten bleibt;
eine kleine Sonne wäre eine Unmöglichkeit; glühende Bälle vom Volumen der
Planeten kühlen, zunächst an der Oberfläche, ab). Dagegen sei der umgekehrte
Schluß, vom Teil aufs Ganze, berechtigt. Hat der Apfel Kerne, so hat auch
der Apfelbnum solche — natürlich nicht in der Rinde, sondern in den Äpfeln,
und alle Fähigkeiten, die der Mensch besitzt, müssen auch in dem Allwesen, in
Gott, angenommen werden. „Der das Auge gebildet hat, sollte nicht sehen,
der das Ohr gemacht hat, sollte nicht hören?" Selbstverständlich nicht mit
menschlichen oder tierischen Augen und Ohren. Das sei ein durchaus be¬
rechtigter, ja ein unabweisbarer Anthropomorphismus. Man könne ja Gott
leugnen, wie es denn manche Philosophen sogar fertig bringen, die Existenz der
Außenwelt zu leugnen; was Gott, der gewiß Sinn für das Komische habe,
großen Spaß machen müsse (das Spaßhafte daran wird ausführlich dargelegt).
Mit ihren Angriffen auf die Kirche Hütten die Materialisten vielleicht recht,
dagegen sei ihre Feindschaft gegen das ursprüngliche echte Christentum und
gegen seine Wirkungen unbegründet. Haeckel sei übrigens selbst Enthusiast, und
sein Enthusiasmus nehme mitunter eine religiöse Färbung an: seine Bewunderung
des Weltalls werde ihm zur Religion. Solche Bewunderung der durch die
Forschung enthüllten Schönheiten der Natur dürfe man den Naturforschern um
so weniger verargen, da sie aus der erkannten Naturordnung auch ethische Ge¬
setze ableiteten, die sie für ihre Person befolgten. Unzähligen andern Personen
aber genüge diese Religion nicht: der Begriff einer auf das materielle Universum
beschränkten Gottheit sei zu eng; gerade das Höchste und Schönste, dessen sich
die Menschheit erfreue, fehle darin.
Den Versuch, das Psychische als eine Funktion der Materie zu erklären,
weist Lodge mit Erwägungen zurück, die uns längst vertraut, aber darum noch
nicht überflüssig sind. Das Gehirn ist das Organ, aber nicht die Wurzel der
Seele. Kein Geiger kann ohne Violine geigen, aber die Melodie ist nicht das
Erzeugnis der Geige. Lodge nennt statt der Geige die Orgel, was sich deshalb
sehr gut macht, weil das englische orZsm sowohl Organ wie Orgel bedeutet.
Wer lehrt, „daß Monismus die Beschränkung bedeuten müsse auf die Fähig¬
keiten der Materie in dem engen Rahmen, wie wir sie jetzt kennen, daß der
Geist unbedingt an die Materie gebunden und ihm ein transzendentes Dasein
versagt sei, daß mit den Gehirnhemisphüren Bewußtsein und Intelligenz und
Gefühl und Liebe und alle die höhern Lebensäußerungen, zu denen sich die
Menschheit emporarbeitet, verschwinden müssen, daß »Seele« weiter nichts be¬
deutet als »die Summe der Plasmabewegung in den Ganglienzellen«, und
»Gott« nur die Summe aller Atomkräfte und Ätherschwingungen sei, der muß
sich mit einem Publikum ungebildeter Leute begnügen; schreibt er aber als
Naturforscher für Männer der Wissenschaft, so muß er es sich gefallen lassen,
daß diese ihm widersprechen." Man sieht, in den Kreisen der englischen Natur¬
forscher hat man einen andern Begriff von Wissenschaft als in jenen Kreisen
unsers deutschen Volkes, deren Lehrmeister unsre „liberalen" Zeitungen, die
„Jugend" und der Kladderadatsch sind. Das Leben, nicht erst das geistige,
sondern schon das organische der Pflanze, faßt Lodge ganz so wie E. von Hart¬
mann und Neinke auf. Es ist nicht eine Art von Energie oder ein Ergebnis,
eine Begleiterscheinung der bekannten Energieströmungen und -Umsätze, sondern
es ist das Ergebnis einer Lenkung der Energie. Weder der Materie noch der
Energie eignet das Vermögen, zu lenken, eine Richtung zu geben. „Unorga¬
nische Materie wird nur durch vis a te-r^o in Bewegung gesetzt, wird aber nicht
gelenkt, nicht dnrch die Rücksicht auf ein Künftiges beeinflußt, folgt nicht einem
vorgefaßten Plane, hält nicht einen vorgezeichneten Kurs inne ^genauer: nur
den durch die Trägheit gegebnen gradlinigen und den bei Einwirkung mehrerer
in Winkeln auf die Bahn wirkenden Kräften entstehenden Zickzack- oder Kurven-
kurs^, richtet sich nicht von selber auf ein bestimmtes Ziel." Der Organismus
dagegen gestaltet sich und bewegt sich unter innern Antrieben bestimmten Zielen
zu. „Ein mit Verstand begabtes Lebewesen fühlt sich, wenn geschoben, in einer
widernatürlichen Lage und sträubt sich dagegen, in der ihm zusagenden hingegen,
wenn es geführt wird oder gern einem Zuruf gehorcht. Zum Wesen des
Geistigen gehören Absicht und Zweck. Die Materie ist der Träger des Geistes,
dieser aber der Herr der Materie und ihr transzendent. . . . Ein Dom wird
zusammengehalten durch anorganische Kräfte, nud solche wurden benutzt für seinen
Bau, aber sie erklären ihn nicht. Sein Dasein verdankt er dem Entschluß und
dem Plane von Männern, die vielleicht bei seinem Bau keinen Stein angerührt
haben." In einem rein körperlichen System sind die Lage und die Bewegung
jedes Teils in jedem Augenblick durch die darin wirkenden mechanischen Kräfte
determiniert. Damit allein hat es der Physiker zu tun. Aber die Welt ist kein
solches System. „Leben und Geist, Wille und Neugierde, Laune und Narrheit,
Gier und Bosheit" walten darin und bringen Veränderungen hervor, die den
Physiker nichts eingehn. Weder der Ingenieur noch der Lokomotivführer ver¬
mehrt die in der Welt vorhcmdne Energie; aber indem der erste Schienen legt
und Lokomotiven baut und der zweite die Lokomotive lenkt, führen sie Reisende
und Güter ihren Zielen zu. Bei einer unbeabsichtigten Explosion und bei einem
gezielten Schuß mögen dieselben Energiemengen umgesetzt werden, aber der
zweite bringt eine beabsichtigte Wirkung hervor, die, ebenfalls vorausgeplante,
weltgeschichtliche Folgen haben kann. Ähnlich werden im Organismus die
unorganischen Stoffe und die Energieströme so gelenkt, daß sie ein geplantes Ge¬
bilde erzeugen und erhalten. „John Stuart Mill pflegte zu sagen, wir könnten
weiter nichts als Dinge bewegen. Ich behaupte, daß wir nicht einmal das
können. Wir können nur die Dinge so ordnen, daß sie einander in der von
uns gewollten Richtung bewegen." Durch solche Anordnung und Lenkung wird
der Weltmechanismus, wird die kausale Verknüpfung der Dinge miteinander und
der Ablauf der Veränderungen nach den physikalischen Gesetzen nicht gestört.
„Sind wir aber einmal genötigt, das Dasein und die Wirklichkeit von Lenkung
und Kontrolle im Gebiete des Lebendigen überhaupt und im Gebiete des be¬
wußten Menschenlebens im besondern zuzugeben, so köunen wir auch nicht die
Möglichkeit solchen Vermögens und solcher Wirkung einer noch höhern Wesen¬
heit, etwa eines geistigen Gesamtwesens, von dem wir selber nur ein Teil sind",
leugnen. „Absprechen," steht da, aber da müßte es heißen: „einem geistigen
Gesamtwesen". Durch stilistische Verbesserungen, deren sehr viele notwendig
wären, würde das Schriftchen, dem ich die weiteste Verbreitung wünsche, an
Wenige Tage vor der Vollendung des siebenten Jahrzehnts seines
Lebens (Graf Zeppelin ist am 8. Juli 1838 geboren), nach
mehrere Jahrzehnte lang mit unermüdlichem Eifer fortgesetzten
Studien und Versuchen und genau acht Jahre nach dem ersten Auf-
! stieg mit einem lenkbarem Luftschiff seiner Erfindung (2. Juli 1900)
war es dem Grafen Zeppelin vergönnt, sein Werk bis zu einer Stufe der
Vollendung zu fördern, die es einerseits gestattet, heute schon von einem vollen
Die Korrektur des vorstehenden Aufsatzes wurde vom Verfasser in Friedrichshafen vor¬
genommen, wohin er sich sofort auf die Nachricht vom Aufstieg des Grafen Zeppelin zu seiner
großen Fernfahrt begeben hatte. Lastet auch hier zurzeit über allen noch der lähmende Schreck
und die Trauer ob des so jäh hereingebrochnen Unglücks, das das Luftschiff des Grafen Zeppelin
rüttelt aus einer überaus ereignisvollen, gewinnbringenden Fahrt, nachdem es über zwanzig
Stunden die Lüfte durchflogen hatte, in ein Nichts verwandelte, so darf doch unter keinen Um¬
ständen der Gedanke aufkommen, als ob dieses elementare Ereignis, das weder mit der Er¬
findung noch mit dem System irgend etwas zu tun hat, und dein ein Luftschiff natürlich ebenso
ausgesetzt ist wie irgendein Gebilde von Menschenhand, sei es ein Haus, ein Eisenbahnzug,
ein die Weltmeere befahrender Segler oder Dampfer, einen Einfluß haben dürfte auf die Weiter¬
entwicklung der Schiffahrt mit lenkbarem Luftschiffer. Hier darf kein Augenblick gezögert werden!
Jeder, der jetzt dazu beiträgt, daß dieser erfolgreichsten Erfindung der letzten Jahrzehnte Unter¬
stützung mit allen Mitteln zuteil wird, erwirbt sich ein Verdienst um unser Vaterland. Schon
Erfolg zu sprechen, und die andrerseits Ausblicke ermöglicht auf zunächst noch
gar nicht zu übersehende Umwälzungen unsers Verkehrswesens, wichtiger und
ausschlaggebender Gebiete der Kriegführung zu Lande und zu Wasser, auf
wesentliche Umgestaltungen des internationalen Rechts und der Beziehung der
Völker zueinander.
Der jetzige Zeitpunkt scheint deshalb wohl geeignet zu einem kurzen Rück¬
uno Ausblick.
Als Graf Zeppelin nach langjähriger, an Arbeit und Auszeichnung reicher
Dienstzeit im Heere, bewährt in mehrern Feldzügen, im Jahre 1891 den aktiven
Dienst verließ, ging er mit frischer Kraft an die Ausgestaltung seines neuen
Lebenswerkes, dem er schon lange Jahre vorher durch eingehende theoretische
Studien vorgearbeitet hatte. Schon im Jahre 1862 hatte der Graf am nord-
amerikanischen Sezessionskriegc teilgenommen und war hier durch einen Auf¬
stieg im Fesselballon auf die Luftschiffahrt und ihre Verwendung im Kriege
hingewiesen worden.
Nur ganz allmählich gelang es dem von einem nie wankenden Glauben
ein seine Aufgabe und an das schließliche Gelingen seines Werkes beseelten
Grafen, für seine Gedanken die Teilnahme weiterer Kreise zu gewinnen. Nur
einige wenige Getreue hielten immer fest zu ihm, namentlich auch in Zeiten
schweren Unglücks, wo sich die große Menge von dem genialen Erfinder ab¬
wandte und mancher schon halb Bekehrte ihm wieder den Rücken kehrte.
Den Antrag des Grafen, den er genau vor einem Jahrzehnt an die
deutsche Heeresverwaltung stellte, ihr den Bau und die Verwertung seiner
lenkbarem Luftschiffe zu überlassen, fand damals beim preußischen Kriegs¬
ministerium keinen Anklang, wogegen sich schon in jener Zeit der Vorstand des
Deutschen Jngenieurvereins auf seine Seite stellte. So gelang es im Jahre 1898,
das Zustandekommen einer „Aktiengesellschaft zur Förderung der Luftschiffahrt"
zik erreichen, die es sich zum Ziel setzte, den Ban eines Luftschiffes nach den
Entwürfen des Grafen Zeppelin und dessen spätere Verwertung in die Hände
zu nehmen.
So entstanden dann im Jahre 1899 die ersten Anfänge des großen
Werkes.
Wenige Kilometer westlich von Friedrichshafen, der größten württem-
bergischen Vodenseestadt, die zugleich die Sommerresidenz des württembergischen
Königspaares ist, das sie allsommerlich für mehrere Wochen im altertümlichen,
von herrlichem Park umrahmten Schlosse aufnimmt, liegt an stiller, wald¬
umschlossener Bucht die königliche Meierei Manzell. Nie hätte in früher»
Zeiten jemand gedacht, daß gerade dieser friedliche Erdenwinkel, wo sonst nur
einsame Fischerboote kreuzten, und auf den über die hier größte Breite des
Sees der stattliche Säntis und der trotzige Altmann als vorderste in der langen
Reihe der Niesen der Alpenwelt herüberschaueu, der Ausgangspunkt werden
sollte für eine die ganze Welt in Erstaunen Setzende Erfindung, daß einmal
Tausende hierher pilgern würden, um das Werden und Wachsen eines Werkes
mit anzusehen, das berufen erscheint, die Verkehrsverhältnisse auf unsrer Erde
in neue Bahnen zu lenken.
Hier hatte der König von Württemberg, der vom ersten Anfang um dem
Grafen Zeppelin in hochherziger Weise seine nie versagende Teilnahme be¬
wiesen und der ihn auch dann nicht im Stich gelassen hat, als sich die große
Menge durch vorübergehende Mißerfolge enttäuscht abwandte, dein Grafen
Grund und Boden und die Fläche des die Ufer von Manzell bespülenden See¬
beckens zur Verfügung gestellt zum Beginn seines Werkes.
Nun wurde es mit einemmal lebendig in der sonst so friedlichen Bucht.
Manches Schiff mit schweren Lasten wurde herbeigeschleppt; am Ufer entstanden
Hütten und Schuppen. Laut tönte der Klang von Axt und Hammer durch
die Stille des Waldes und über die klare Fläche des Sees hin. Im Früh¬
jahr 1899 entstand die erste schwimmende Ballonhalle, 600 Meter vom Ufer
entfernt. Sie war 140 Meter lang, 20 breit und 30 hoch und ruhte auf
95 schwimmenden Pontons; an der Spitze war sie im See verankert, damit
sie sich immer mit dem Winde drehen konnte. Die erste Halle hatte bald
schwer vom Sturm zu leiden, der sie zweimal, am 14. Juli 1899 und dann am
14. Februar 1900, losriß.
Diese Halle war die Geburtsstütte des ersten Zeppelinschen Luftschiffes,
dessen Bau Ingenieur Kühler leitete. Am 2. Juli 1900 wurde die erste Fahrt
unternommen, die insofern einen großen Erfolg bedeutete, als sie die Steuer¬
barkeit des Luftschiffes als hinreichend erwies, wogegen freilich seine Schnellig¬
keit und Festigkeit noch zu wünschen übrig ließen. Eine Verbesserung war
uur denkbar, wenn es gelang, stärkere Motoren bei annähernd gleichem Gewicht
zu bauen und eine größere Festigkeit des Aluminiumgerüstes zu erreichen. Da
aber leider zur Ausführung weiterer Pläne die nötigen Mittel fehlten und sich
die Aktiengesellschaft für Förderung der Luftschiffahrt auflöste, mußte das erste
Luftschiff nach wenig Fahrten auseinandergenommen, die erste Halle abgerissen
werden.
Wäre durch ein solches Schicksal, durch den Zweifel an der Ausführbar¬
keit seiner Plane, wie sie ihm hier auf allen Seiten entgegentraten, auch
mancher entmutigt worden und hätte auf den Weiterbau seines Werkes ver¬
zichtet, Graf Zeppelin war ein andrer Mann. Er glaubte fest an die Mög¬
lichkeit der Durchführung seiner Pläne, er war sich voll bewußt, daß es
sich hier darum handle, unübersteigbar scheinende Hindernisse zu überwinden.
Aber nichts reizt den wahrhaft großen Mann, nichts spornt das wahre
Genie so an, wie der Kampf, wie das schwere Ringen um den endlichen
Sieg! Ihm ist es nicht um leicht zu erreichende Lorbeeren zu tun. Er¬
arbeiten und erwerben will er sich seinen Ruhm, und sei es im allerschwersten
Kampfe.
Kein Opfer war dem Grafen zu groß, keine Mühe zu schwer. Allmählich
gelang es ihm auch, von neuem die Teilnahme verschiedner Kreise für sein
Werk zu gewinnen. Württembergs König in nie versagender Hilfsbereitschaft
genehmigte die Abhaltung einer großen staatlichen Lotterie, die dem Grafen
von neuem nicht unbedeutende Mittel zur Verfügung stellte. So entstand im
Sommer 1904 die feststehende Ballonhalle am Manzeller Ufer, die noch heute
die Baustätte für die Luftschiffe ist, und in der auch das neuste bis zu seiner
Überführung in die neue schwimmende Halle geweilt hat.
Die Oberleitung des Luftschiffbaues ging nun in die Hände des Ober¬
ingenieurs Ludwig Dürr über, der schon beim Bau des ersten Luftschiffes
mitgewirkt und sich inzwischen zu einem glänzenden Konstrukteur ausgebildet
hatte. Das Ende des Jahres 1905 sah dann das zweite Luftschiff ent¬
steh», das zunächst Ende 1905 einige Ausstiege unternahm, dann aber am
17. Januar 1906 durch starken Wind über Land getrieben und zu einer Landung
auf festgefrvrnem Boden bei Kißlcgg gezwungen wurde. Ein in der Nacht los¬
brechender Sturm beschädigte das Luftschiff damals so schwer, daß es an Ort
und Stelle auseinandergenommen werden mußte.
Aber auch dieses schwere Mißgeschick konnte den mutigen Grafen nicht von
dem einmal eingcschlagnen Wege abbringen. Mit frischem Wagemut ging er
an den Bau des dritten Luftschiffes, das am 9. und 10. Oktober 1906 glänzende
Proben seiner Tüchtigkeit ablegte und einen deutlichen Beweis für die Vorzüge
des starren Systems lieferte. Dieser bedeutende Erfolg verschaffte denn auch
dem Grafen Zeppelin die Unterstützung des Deutschen Reiches, das zunächst
Zum Bau einer großen schwimmenden Halle einen Beitrag von einer halben
Million Mark leistete, die nun inzwischen fertiggestellt und am 27. No¬
vember 1907 vom Reich übernommen wurde. Auch der Herbst 1907 war
sodann Zeuge einer Reihe wohlgelnngner Fahrten, die die volle Lenkbarkeit des
Luftschiffes nach Höhe und Seite dartaten.
Zeigte so schon das Unternehmen des Grafen ein aufsteigendes Streben
bis in das Jahr 1907, so sollte das Jahr 1908 vollends glänzende Erfolge
zeitigen. Seit Anfang Juni barg die große, schwimmende, am hintern Ende
im See verankerte Neichshalle, die alle Drehungen des Windes mitzumachen
vermag, das neuerbaute ziemlich vergrößerte Luftschiff, das zwar im allgemeinen
die gleiche Konstruktion aufweist wie sein Vorgänger vorn Jahre vorher. Es
ist jedoch bei einer Länge von 136 und einem Durchmesser von 13 Metern
nicht unwesentlich größer als das vorhergegcmgne. Das neue Luftschiff ist
ausgerüstet mit zwei vierzylindrigen Daimlermotoreu von je 105 ?. 8. In
Rücksicht auf mehrstündige Fahrten ist der mittlere Teil des Laufgangs (des
Verbindungsgangs zwischen beiden Gondeln) zu einem Aufenthaltsraum für
eine Reservebesatzung oder für Fahrgäste eingerichtet; er kann ebenso wie der
übrige Laufgang bei Benutzung von Hängematten auch als Schlafraum ver¬
wandt werden. Eine Neueinrichtung ist auch der das Luftschiff durchschneidende
Schacht, der es ermöglicht, oben auf den Ballonkörper zu gelangen, um von
hier aus astronomische Positionsbestimmungen auszuführen, die von der Gondel
aus, da der große Ballonkörper den freien Ausblick nach oben behindert, seither
nicht ausführbar waren. Auch waren auf Grund theoretischer Erwägungen die
Einrichtungen für die Seitensteuerung gegenüber dem Luftschiff vom Jahre 1907
verändert worden.
Dieses Luftschiff begann nun im Juni dieses Jahres seiue Probefahrten.
Gleich der erste Aufstieg am 20. Juni zeigte, daß sich die Neuordnung der
Seitensteuerung nicht bewährt hatte. Nach einer Fahrt von zwanzig Minute«
ging das Luftschiff auf den Seespiegel herab. Eine vorübergehend ange¬
brachte Veränderung brachte schon eine ganz wesentliche Besserung; bei einem
zweiten Aufstieg am 23. Juni folgte das Luftschiff willig der Höhen- und
Seitensteuerung und flog im ganzen zwei Stunden. Dann folgten einige Tage
eifriger Arbeit in der Ballouhalle, die dazu benützt wurden, um, auf den Er¬
fahrungen des 23. aufbauend, eine gänzlich neue Seitensteuerung einzubauen.
Diese setzt sich zusammen aus einem in der Längsachse des Schiffes angebrachten
eiförmigen Steuerruder, aus je zwei zwischen die am Heat des Schiffes seit¬
wärts augebrachten Stabilitätsflächen eingebauten Steuerpaaren sowie aus
einer Art von fester Rücken- und Bauchflosse, die oben und unten am Hinter¬
teil des Luftschiffes angebracht sind. Auf diese Weise sind die wesentlichsten
Elemente der Bewegungsrichtung von Fisch und von Vogel auf das Luftschiff
übertragen und haben dessen unbedingt sichere Lenkbarkeit nach der Höhe wie
nach der Seite zuwege gebracht.
Am 29. Juni erprobte das Luftschiff in mehrstündiger Fahrt diese neue
Steuervorrichtung und erwies sich als durchaus gehorsam in der Hand seines
Führers. Ermutigt durch diesen Erfolg, unternahm dann Graf Zeppelin am
1. Juli seine große, zwölfstündige Fahrt über Konstanz, Schaffhausen, Baden,
Luzern, Zug, Zürich, Winterthur, Arbon, Rorschach, Bregenz, Lindau und
Friedrichshafen. Diese Fahrt wies eine solche Summe von Schwierigkeiten auf,
die alle sicher und ohne irgendwelche Beschädigungen überwunden wurden, daß
sie als vollgiltige Probe für die Güte und Haltbarkeit des starren Luftschiffes
angesehn werden kann. Gegen widrige Winde von einer Stärke, daß der Weg
oft zollweise in heißem Ringen erkämpft werden mußte, durch enge Gebirgs¬
täler und -Pässe, über steile Höhen, unter gänzlich verschiednen atmosphärischen
Verhältnissen bahnte sich das Luftschiff zwölf Stunden lang seinen Weg und
legte in dieser Zeit eine Strecke von rund 360 Kilometern zurück, damit alle
seither von lenkbarem Luftschiffer erreichten Zeiten und Wegestrecken weit hinter
sich lassend.
Genügte diese glänzende Leistung für den Kenner und Fachmann vollständig,
um alle Zweifel an der Leistungsfähigkeit des Zeppelinschen Luftschiffes zu zer¬
streuen — kam es doch nach zwölfstündiger Fahrt mit einem Benzinvorrat an,
der noch zu mindestens sechs weitern Fahrtstunden gereicht hätte —, so brachte
der 3. Juli dem Luftschiff die äußere Weihe, indem es dem Grafen Zeppelin
vergönnt war, nacheinander den König und die Königin von Württemberg je
dreiviertel Stunden über den Bodensee und über Friedrichshafen zu führen. Dieses
mutige Eintreten des Königspaars für den kühnen Bezwinger der Lüfte verdient
den ehrfurchtsvollen Dank aller Luftschiffer und Freunde der Luftschiffahrt, denn
es ist ein glänzendes Zeichen des Vertrauens für den Grafen Zeppelin und
sein Werk.
Daß bei den nach der Neufüllung des Luftschiffes am 14. und 15. Juli
vorgenommnen Ausstiegen Störungen eintraten, die ein Hinausschieben des Zeit-
Punkts für die vom Reiche verlangte Vierundzwanzigstundcnfahrt nötig gemacht
haben, ist für die Weiterentwicklung des Zeppelinschen Luftschiffes ohne Bedeutung.
Daß bei einem solchen Unternehmen, das auf eine erst achtjährige Probezeit
zurücksehn kaun, und das mit derartigen Schwierigkeiten in einem noch keineswegs
völlig durchforschten Element zu kämpfen hat, häufige Störungen vorgekommen
siud und auch noch oft vorkommen werden, wird keinen vorurteilsfreien
Beobachter in Staunen setzen. Alle diese Störungen geben nur immer von
neuem Gelegenheit zur Erkenntnis der zahllosen Schwierigkeiten, nach deren
Überwindung erst sich im Laufe der Zeit eine wirkliche Betriebssicherheit wird
erreichen lassen.
Daß es Graf Zeppelin in Kürze gelingen wird, vierundzwanzig Stunden
lang zu fahren, daran kann man ebensowenig zweifeln, wie daß er eine glatte
Landung auf festem Boden bewerkstelligen wird, oder daß er in bedeutende
Höhen aufzusteigen vermag.
Graf Zeppelin hat einen wichtigen Punkt im Werdegang seines großartigen
Unternehmens erreicht, einen Punkt, der nicht allein zum Rückblick, sondern auch
zum Ausblick auffordert. Hier ist in kurzem die Entwicklung des starren lenk¬
barem Luftschiffes geschildert worden. Wenn Graf Zeppelin selbst auf die hinter
ihm liegende Zeit zu sprechen kommt, wie das erst vor kurzem bei einem Feste
geschah, das er seiner treuen Arbeiterschar gab, so gedenkt er zunächst der eifrigen
Mitarbeit und der treuen Anhänglichkeit, die ihm bei seinem Unternehmen immer
weiter geholfen haben. Eine kleine Schar von Anhängern hat ihn nie verlassei?,
auch in Zeiten nicht, wo sich alle Welt von ihm abwandte. Da ist zuerst sein
treuer Berater und Freund, Geheimer Negiernngsmt Professor Hergesell aus
Straßburg, da ist der bekannte und vielerfahrne Luftschiffer Baron von Bassus
aus München, da ist sein Neffe und treuer Gehilfe, Graf Zeppelin d. I., da
sind seine ausgezeichneten Konstrukteure und Ingenieure Kober und Dürr, die
von der kaiserlichen Marine übernommnen Obersteuerlente Hacker und Lau. Und
hinter diesen steht eine Schar von Werkmeistern, Monteuren und Arbeitern, wie
sie sonst ihresgleichen sucht. Man muß diese Leute bei der Arbeit gesehn haben,
um ihre hervorragende Disziplin, ihre Ruhe und Sicherheit bei «klein, was sie
unternehmen, bewundern zu können; man muß ihre Mußestunden mit ihnen
geteilt haben, um zu sehn und zu hören, mit welcher Begeisterung sie an ihrem
verehrten Meister und seinem Werke hängen, wie sie teilnehmen an seinen
Erfolgen, wie sie stolz sind, mitzuarbeiten an einem solchen hochbedeutsamen
Unternehmen. In schwerer Zeit hatte Graf Zeppelin seine Arbeiter einst entlassen
müssen, als er die Fortsetzung seines Werkes aufs Spiel gesetzt sah. Für alle
hatte er damals gesorgt, damit sie gute Stellen bekommen sollten. Als er aber
von neuem rief, kamen alle, alle wieder. Mit Stolz erzählt ein jeder, wie lange
er schon dem großen Werke dient. Diese alle aber hält der eine zusammen
durch die Schwungkraft seines Geistes, durch seinen festen, unbeugsamen Willen,
durch den nicht zu erschütternden Glauben an sein Werk, diese markige Natur,
die trotz zurückgelegter siebzig Jahre mit der Leichtigkeit eines Jünglings einher
schreitet, der keine Müdigkeit kennt, dessen Lampe am Arbeitstisch noch brennt,
wenn ganz Friedrichshafen längst zur Ruhe gegangen ist, der aufsteht mit dem
frühsten seiner Arbeiter, er der große Arbeiter, der weiß, daß Arbeit alles bedeutet,
der siegreiche Bezwinger der Lüfte, der Vater, wie ihn seine Arbeiter nennen.
Und wenn wir ihn fragen, wie er sich die Zukunft seines Unternehmens
denkt, so ist es eine große Reihe von Aufgaben, die er diesem zu stellen
beabsichtigt. Darauf näher einzugehn, verbietet leider der zur Verfügung stehende
Raum. Man muß hier nur davor warnen, der Einbildungskraft die Zügel zu
sehr schießen zu lassen. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß das jetzt erfundne
lenkbare Luftschiff im Laufe der Zeiten einen großen Umschwung in den Ver-
kchrsverhültnisseu auf unsrer Erde hervorrufen wird; diese Entwicklung wird
aber wohl noch manches Jahr in Anspruch nehmen.
Nach und nach werden Luftverkehrslinien eingerichtet werden, die zuerst dein
Luxusverkehr dienen und allmählich auch dem geschäftlichen Verkehr dienstbar
gemacht werden, da sich die große Schnelligkeit der Beförderung bald in wert¬
voller Weise fühlbar machen wird. Eine bedeutende Umwälzung wird das lenkbare
Luftschiff namentlich in den Händen der Heeresverwaltung hervorrufen, und zwar
zunächst auf dem Gebiete der Fernaufklärung. Hier eröffnet es ganz neue
Aussichten, hier ist es von geradezu unschätzbaren: Werte. Daß es auch zum
Transport von kleinen Truppenmengen unter gewissen besondern taktischen und
strategischen Verhältnissen hervorragende Dienste leisten kann, soll nicht bezweifelt
werden; bis aber ganze Armeekorps in einer Luftflotte durch die Lüfte befördert
werden können, bis dahin hat es noch gute Weile. Und ebenso verhält es sich
mit der Frage des Luftschiffes als Waffe. Vorläufig ist die von ihm zu be¬
fördernde Nutzlast doch noch so gering, daß sie in der Form von Spreng-
munitiou zwar nachhaltigen Schaden anzurichten vermag, nicht aber in Kürze
schon eine völlige Umwälzung der gesamten Kriegführung zur Folge haben wird.
Daß die Weiterentwicklung der Durchquerung der Lüfte mit dem lenkbarem
Luftschiff im Laufe der nächsten Jahre noch manche Überraschungen zeitigen,
noch manche Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse nach sich ziehen wird,
kann nicht bezweifelt werden. Immerhin mag jedoch noch manches Jahr darüber
hingehn. Heute aber können wir uns freuen, daß in doch verhältnismäßig so
kurzer Zeit so Großes erreicht, so Großes vollbracht worden ist, und daß es
ein echter deutscher Mann von bestem Schrot und Korn ist, der all das Große
>in 30. April ist auf seiner Herrschaft Haseldorf in Holstein Prinz
Emil von Schönaich-Carolath uach langem Leiden gestorben;
sein letzter Wille besagte, daß er nur von den Gliedern seiner
Familie, von seinen Dienern und den Landleuten seiner Be¬
sitzung zu Grabe gebracht werden sollte, der Außenwelt gegen¬
über einsam und abgeschlossen, wie der verstorbne Prinz es bei allem regen
Verkehr im Grunde sein Leben lang war. Seine Geburt fiel in Zeiten, denen
eine ganze Reihe solcher einsamen Dichter in Deutschland entsprossen sind.
Die Kinder der vierziger und der ersten fünfziger Jahre stehn zwischen den
großen Realisten und den Münchnern auf der einen, den Stürmern und
Drängern des jüngsten Deutschlands auf der andern Seite als eine unver-
bundne Reihe für sich da: Joseph Viktor Widmann (geboren 1842), Detlev
Von Liliencron und Friedrich Nietzsche (1344), Karl Spitteler, Ernst von Wilden¬
bruch und Eduard Grisebach (1845), Hans Hoffmann (1848), Albcrta von Putt-
kamer (1849), endlich, der letzte, eben Prinz Emil von Schönaich-Carolath,
dessen funfzigsten Geburtstag ich am 8. April 1902 mit ihm anbrechen sehen
dürfte. Aber auch uur einbrechen: denn wir (außer mir noch wenige Gäste)
wurden in geschickter Weise so dirigiert, daß unsre Abreise erfolgen konnte,
bevor irgendwie der Tag durch Ansprachen, Glückwünsche und dergleichen in
das Gebiet allgemeiner Feierlichkeit gerückt werden mochte. Prinz Emil
von Schönaich-Carolath war — das ist nicht übertrieben — unendlich gütig;
und dennoch lag eine letzte Grenze, die aber nicht etwa das blaue Blut des
Aristokraten zog, zwischen ihm und allen, die sich seiner Herzensfeinheit er¬
freuten, mit Ausnahme der Frau und der Kinder. Und Prinz Emil
von Schönaich-Carolath war ein großer Lyriker, ein weit über die meisten
ragender Dichter, der aus Herzenstiefen heraus schuf; und dennoch lag ein
letzter Schleier über seinen Dichtungen, durch den hindurch sich manches kaum
ahnen läßt, was er empfand. Die wundervollen, merkwürdig klaren Augen
des Dahingegangnen, die kein Maler je richtig getroffen hat, sahen in jeden
Gast hinein, machten keinen verlegen, übten aber auch auf Neulinge in dem
Hause einen bannender, zur Stille mahnenden Einfluß; was in ihnen lebte,
blieb wohl jedem im Letzten unergründbar. Und diese Angen schauen für
jeden, der das Glück hatte, Carolath öfters im Leben zu begegnen, aus seinen
Versen dem Leser wieder ins Gesicht — ganz mit der Klarheit und mit der
Wirkung wie die Augen des Lebenden, aber auch mit jenem letzten Zuge eines
uns nicht zugänglichen, geheimen Seelenlebens.
Karl Busse hat in einem schönen Nachruf auf den Prinzen gesagt, daß
jeder der Dichter, die kurz nach 1870 zuerst auftraten, einen Tropfen Gift
ins Blut mitbekommen hätte und diesen nie wieder ganz losgeworden wäre.
Das ist ohne Zweifel richtig, wie denn auch der größte und von diesem
Zusatz ganz freie Dichter, den die Kriegsepoche, die letzte heroische Zeit
Deutschlands, hervorgebracht hat, Detlev von Liliencron, bezeichnenderweise
erst ein Jahrzehnt nach dem Feldzuge die Quelle sprudeln ließ. In all den
ältesten Liedern Carolaths können wir jenen Fremdkörper wohl durchspüren,
und es ist kein Zufall, daß Heinrich Heine, dessen Nachfolge noch niemand
gut bekam, mit manchem hinter den ältesten Liedern und Dichtungen des
Prinzen steht, in denen vom Lande Bimini die Rede ist. Freilich uicht in
leicht hinhuschenden, scheinbar von selbst fließenden Versen lebt sich die so
gefärbte romantische Sehnsucht Schönaich-Carolaths aus, sondern in schwer ab¬
gleitenden Rhythmen, wie wenn die Künstlerhand jede Zeile in Marmor
schreiben müßte. In der Technik nahm Carolath damals schon manches von
dem voraus, was wir bei spätern Poeten unsrer Tage als selbstverständlich
empfinden; wenn da von der schönen Fatthume ausgesagt wird:
Du lagst gelangweilt in den Seidenkissen,
Ringschillernd, eine halberstarrte Schlange,
wenn da von einem „Geschwirr verbuhlter Serenaden" die Rede ist, so hören wir
den Tritt einer neuen Zeit hindurch, die sich in der Prägnanz des Bildes, des
einzelnen Worts langsam zu einer subjektivistischen Lyrik von hohem Reiz erziehen
s Keine Liebe sättigt bis zum Grunde
ollte.
Ein Herz, das Gott mit ewiger Sehnsucht schlug —
das ist das Leidwort der „Lieder an eine Verlorene", die Carolaths erste
Gabe waren. Wir erleben bei ihm eine Entwicklung von dem rauschbefangnen
Jubel unbesorgter Jugend bis zum Ekel, aber auch über den Ekel hinaus
zur Läuterung, und da freilich dann auf ganz eignem Gleis zur Höhe. Dem
Manne, der Ägypten und manches andre Land der Fremde farbenfroh durch¬
zogen hatte, wird Vineta oder Julin ein noch teurerer Gegenstand der Träumerei
als die Fata Morgan« der Wüste. Und der innige Ton religiöser Sehnsucht,
der schon früher unklar mitschwingt, ringt sich allmählich bis zu einer „Bot¬
schaft großer Feierzeit" durch. So wird der rein persönliche Lyriker zum
sozialen Novellisten und beschenkt uns in dem „Heiland der Tiere" mit einer
Erzählung von höchstem Reiz, scharf gesehen und klar hingestellt, jedes Wort
getränkt mit dem Gefühl einer erbarmenden Liebe, die sich auch der Kreatur
neigt. Und der fünfzig Jahre alt gewordne Poet gab dann, frei geworden
von dem, was seine Jugend unruhig machte, in seinen letzten Liedern den
vollen Klang seiner neuen Ideale. Nicht mehr nach Griechenküsten, sondern
zur Einkehr in die Heimat seines tiefgläubigen Herzens ladet er ein:
Es gibt keinen reinern und tiefern Ausklang für dieses ganz in Güte cmf-
gegangne Menschenleben als diese wunderbar schönen Verse. Und wenn je
Dichter und Mensch ganz eins waren und für den, der beide kannte, un¬
trennbar verbunden blieben, eins gehoben durch das andre, so war dieses bei
Emil von Schönaich-Carolath der Fall. Seine Scheu vor der Öffentlichkeit
war mit den Jahren immer größer geworden, und mit darauf ist es wohl
zurückzuführen, daß seine noch vor kurzem erschienenen „Gesammelten Werke"
(sieben Bände bei G. I. Göschen in Leipzig) so spät kamen und verhältnis¬
mäßig nicht umfangreich sind. Einen Roman, von dem er mir einmal sprach,
hat er wohl nie vollendet. Seine einsame Gestalt wird bleiben, unvergeßlich
denen, die ihn kannten, und seine vollendeten Gedichte sind ein unvergänglicher
Besitz unsrer Kunst.
Es hält schwer, unter dem Eindruck eines solchen Hingangs zur Literatur
der noch Lebenden zurückzukehren; man sucht unwillkürlich den Klang ver¬
wandter Saiten und ist glücklich, wenn man den Kammerton eines andern
Dichters ähnlich empfindet. Wenn auch zwischen der Technik Carolaths und
der Carl Hauptmanns Abgründe liegen, so erscheint der Abstand beider von¬
einander nicht gar so groß in dem, was beider Dichter Bestes ist. Denn auch
^art Hauptmann ist ein ehrlicher Gottsucher, ich möchte sagen, ein Kletterer,
der sich ein steilen Abhängen müht, und dem denn auch, wie in seinem pracht¬
vollen Drama „Moses", der Aufstieg auf eine weithin herrschende Höhe ge¬
lingt. In seinem neuen Roman „Einhard, der Lächter" (Berlin, Marquardt
und Co.) ist das Gelingen nicht so groß, der Drang nicht so warm. Denn
dieser Maler Einhard, dessen Seelengeschichte in oft sehr merkwürdiger äußerer
Entwicklung hier erzählt wird, ist im Grunde nicht so stark und nicht so
eigenartig, daß uns seine Psyche so fesseln könnte wie etwa die schlichte
Mathilde in einem frühern Werk des Dichters, auf das ich hier vor Jahren
hingewiesen habe (vgl. Grenzboten vom 26. Juli )906). Carl Hauptmann
ist der Pinselwurf etwas zu breit geraten, sodaß mehr noch als in ältern
Dichtungen ein starker Gesamteindruck nicht erreicht wird; dafür ist freilich
eine Fülle einzelner Farbenreize vorhanden. Ich liebe sonst die Parallele
zwischen den beiden Brüdern nicht, weil sie sich als Dichter ziemlich fern stehn
und bei einer solchen Gegenüberstellung gewöhnlich der eine gegen den andern
ausgespielt wird; aber hier darf man doch an Gerhart Hauptmanns Künstler¬
gestalten, insbesondre an Michael und Arnold Krämer erinnern, vielleicht
auch an seinen Meister Heinrich. Ihnen fehlt auch das scharfe Profil, ihr
Bild hinterläßt aber in uns eine Reihe feiner, künstlerischer Eindrücke. „Ein¬
hard, der Lächter" ist ein etwas lässig geschriebnes, gutes, nur eben nicht sehr
starkes Buch. Was es aus der Masse hervorhebt, ist, wie eigentlich bei
beiden Hauptmanns immer, die Echtheit der menschlichen Zeichnung, in der
so gar nichts Konstruiertes liegt. (Ich sehe dabei natürlich von unreifern
Jugeudwerken ab.)
Wie konstruiert wirkt gegenüber diesem Leben der neue Roman von
Felix Hollaender „Charlotte Adutti, ein Buch der Liebe" (Berlin, Dr. Wede¬
kind und Co.). Ich erinnere mich noch deutlich des Eindrucks, den Hollaenders
ohne Zweifel bestes Werk „Der Weg des Thomas Truck" in mir hinterließ.
Ich hatte es, besonders da ich in den Jahren, die das Buch umfaßt, in
Berlin lebte, mit großem Interesse gelesen und empfand einen ehrlichen
Respekt vor der Bezwingung des großen Stoffs, nahm auch Anteil an vielen
der darin geschilderten Personen. Je weiter ich mich aber von dem Werk
entfernte, um so gezwungner erschien mir alles, und wenn ich es später
wieder in die Hand nahm, so freute ich mich zwar mancher gut gegebnen
Szene, aber ein warmes Verhältnis zu den darin auftretenden Menschen
wollte sich nicht wieder einstellen; es war eben alles darin zu sehr gewollt,
zu wenig geschöpft. Bei dem neuen Buch liegt der Fall schlimmer, weil es
als Arbeit viel weniger bedeutet. Auf Schritt und Tritt empfinde ich hier
die unnatürliche Zeichnung, die dem Leben fern steht, und aus der heraus ich
keinen lebendigen Eindruck gewinnen kann. Felix Hollaender hat in einer
Selbstanzeige zu dem Buche geschrieben: „Ich habe darüber seelische Auf¬
schlüsse zu geben versucht, daß eine gerade gewachsene Frau ebenso entschlossen
fremde Erkenntnisse ablehnt, wie sie mit alten Begriffen von Schuld und
Vergehen aufräumt." Natürlich läßt sich etwas derartiges auch in einer
Dichtung zeigen, nur empfinde ich nicht, daß diese Auseinandersetzung des
Zwecks gerade die Sprache eines Dichters ist. Und so sind denn die Ge¬
stalten des Buches wirklich mehr Aufschlüsse, Paradigmen für Theorien als
Meuscheu.
Das Gegenteil gilt von Evci Lottiug, eiuer talentvollen Schriftstellerin, die
zum erstenmal mit einer Erzählung auftritt. Sie bringt für ihre Geschichte „Das
bockige Alma" (Mannheim, I. Bensheimer) eine seltne und erfreuliche Gabe
mit: Humor. Die Geschichte dieses späten Mädchens, dieses bockigen Almas,
ist im Grunde eintönig, aber die außerordentliche Schürfe und Wahrheit
der Schilderung, die überall ein oft grotesker Humor durchleuchtet, bringt
darüber durchaus hinweg. Es sind noch allerlei unnötige Kanten und Ecke»
vorhanden, aber die Frische des Talents läßt eine fröhliche Entwicklung er¬
warten.
Die neuen Novellen von Max Grad „Lebensspiele" (Berlin, Egon
Fleischel und Co.) machen einen nicht recht warm; hier fehlt nicht nur die
Originalität, die etwa Eva Lotting für sich hat, und ihr echter Humor, sondern
es fehlt auch jene Wärme und lebensnahe Menschenkenntnis, die das ältere
Buch derselben Verfasserin, Max Grads „Der Lattenhofer Sepp" (Leipzig,
Fr. Wilh. Grunow, 1899) auszeichnete. Ich habe dieses Buch gelegentlich des
neuen wieder vorgenommen und darin vieles Hübsche und Feine, vor allem
Einfachere und Lebensvollere gefunden als in dem neuen. Ja manches im
„Lattenhofer Sepp" entbehrt nicht einer gewissen Größe in der Schilderung.
Den Falten freilich, den Paul Heyse als das unerläßliche Zeichen der
echten Novelle betrachtet, haben einstweilen weder Eva Lotting noch Max Grad
eingefangen. Wie Paul Heyse selbst mit unermüdeter Hand noch sein Metier
(Fontnnes Lieblingsausdruck) meistert, lehrt sein außerordentlich interessantes
und feines neues Buch „Menschen und Schicksale" (Stuttgart, Cotta). Die
Grenzbotenleser haben nun schon mehr als einmal von mir Heyses Stil
rühmen hören, und dennoch kann ich auch heute wieder nicht anders, als
zuerst hervorheben, wie wohltuend dieser kristallklare Bau jeder Erzählung,
jedes Satzes wirkt. Diesesmal nennt der Dichter seine zum Teil offenbar
wirklich nur der Erinnerung entnommnen Geschichten „Charakterbilder", und
er reiht nun auf knappen Raum dreizehn Schicksale aneinander, von denen
uns keines kalt lassen kann, von denen aber das eine oder das andre uns mit
der Kunst der besten Heysischen Novellen ans Herz rührt. Vielleicht die feinste
dieser kleinen Gaben ist die Erzählung von „Lottchen Tappe", einer kleinen,
durch ein Unglück verkrümmten Jugendfreundin von Heyses Mutter; wir glauben,
die alte Dame in ihrem Dachstübchen an der Stechbahn zu Berlin vor uns
zu sehen, und empfinden den jähen Abschluß ihres Geschicks mit all der Trauer,
die der Erzähler im rückblickenden Gedenken noch einmal aufsteigen fühlt. Und
nüchstdem dürfte „Ein Menschenfeind" den Preis verdienen, mich offenbar eine
Erzählung, die von einer Lebenserfahrung genährt ist und uns wie das Leben
selbst in ihrem kleinen Nahmen noch einmal anspricht.
An Heyses Buch seien die neuen des Altersgenosse» Wilhelm Raabe und
des Freundes Adolf Wilbrcmdt gleich angeschlossen; es sind freilich nur neue
Sammlungen älterer Werke. Raabes „Halb Mär, halb mehr" (Berlin, G. Grote)
bringt eine Reihe von Erzählungen, Skizzen und Schnurren noch einmal zum
Abdruck, die bisher nur in einer längst vergriffnen Ausgabe vorhanden waren,
darunter die vortreffliche Geschichte „Der Student von Wittenberg", die in
den gesammelten Erzählungen nicht enthalten ist; Wilbrandts Buch „Dämonen
und andere Geschichten" (Stuttgart, Cotta) vereinigt einige Arbeiten des Dichters
aus ältern Jahren, mit Ausnahme der letzten allerdings recht schwächliche
Werke. Nur das „Märchen vom ersten Menschen" hat wirklichen dämonischen
Reiz und zieht uns mit unwiderstehlicher Kraft in ein halb phantastisches,
halb als wahr geuommnes Geschehn hinein, aus dein entronnen, wir uns mühsam,
wie nach einem schweren Traum, wieder in der Welt zurechtfinden.
Ein feiner, stiller und eigenartiger Roman ist das neue Buch von Sieg¬
fried Trebitsch „Das Haus am Abhang" (Berlin, S. Fischer). Die Geschichte
eines jungen Arztes, der ohne Schuld als Verführer einer jungen Patientin
erscheint, ist mit großer Keuschheit erzählt und von vornherein bewußt, aber
unaufdringlich in den Ton einer unentrinnbaren Tragik getaucht. Mit einer
Sprache, die immer voll feiner Resignation steckt, ist die im Grunde einfache
Geschichte bis zu dem Tode der beiden durch eine jähe Stunde vereinten
Menschen erzählt, und dennoch übt das Buch auch den Reiz einer gar nicht
sensationellen, feinen Spannung aus, in der jede eingefügte Episode mit Recht
nur als zum Kern der Sache gehörend empfunden wird. Es ist ein Buch, mie
es in seiner Art in Osterreich noch immer wieder geschrieben wird, verwandt
Schnitzlers besten Erzählungen, und auch uicht ohne einen Hauch der Ver¬
wandtschaft mit dem heute am meisten bekannten jüngern Dichter Österreichs,
mit Hugo von Hofmannsthal. Nur eben, daß wir Hofmannsthal doch als
lebensfremder und lebensferner empfinden, selbst da, wo wir den Glanz seiner
Verse und die Schönheit seiner Bilder bewundern. Es gehört heute schon ein
kleines Studium dazu, sich in den verschiednen Pseudonymen Hofmannsthals
und in den verschiednen Ausgaben seiner Werke zurechtzufinden. So glaube
ich auch uicht, daß die vier kleinen Dichtungen, die (im Insel-Verlage zu Leipzig)
jüngst von ihm erschienen sind, alle neu sind. Das eine Zwischenspiel „Der
weiße Fächer" ist in einer prachtvollen Ausgabe mit Holzschnitten von Edward
Gordon Craig herausgekommen. Das andre Bändchen enthält drei Vorspiele:
„Prolog für ein Puppentheater", ein „Vorspiel zur Antigone des Sophokles"
und einen ganz prächtigen „Prolog zur Lysistrata des Aristophanes". Die
seinen Paradoxe dieses letzten Prologs sind hübsch geschliffen, und man kann
sie sich ohne weiteres durch den Dramaturgen vor dem Vorhang gesprochen
als reizvoll wirksam denken. „Ich — lassen Sie mich gestehn — ich liebe das
Theater nicht. Es verdirbt mir zu oft meine Träume. Jedenfalls habe ich eine
nicht abzuleugnende Schwäche für die Schauspieler. Ein Etwas berauscht mich
an ihnen: daß sie alles in die Gewalt der Gegenwart bringen wollen. Sie
sind entzückende Überschätzer des Augenblicks. Sie besitzen nicht die geringste
Perspektive in die Vergangenheit. Dieses haben sie mit den Kindern gemein
und mit den Griechen... i Ich ließ mich zu ihrem Sprecher machen und will
es nur gestehn, daß sie mich, den sie den Pedanten nennen, herausgeschickt
haben, weil ihnen nun doch angst wird vor den dritthalb Jahrtausend, die ihre
unbedenkliche Phantasie übersprungen hat, als wäre es ein dritthalb Schuh
breiter Graben." Jedenfalls geben diese vier Spiele, von denen auch der feine
„Weiße Fächer" nach des Dichters Wunsch nicht mehr bringen soll, „als was
ein bunter Augenblick umschließt" — jedenfalls geben diese kleinen Dichtungen
einen Begriff davon, welchen Reichtum innerhalb ihres verhältnismäßig engen
Gebiets Hofmannsthals Kunst umschließt. Ich kann diese Kunst nicht groß und,
wie ich es eben sagte, den Kreis des Dichters nicht weit finden, aber man
wird auch ihn als eine besondre und keineswegs nur künstliche Erscheinung
aufzufassen und zu würdigen haben, auch da, wo mau im Grunde andres liebt.
Man muß nur durch die nicht wegzuleugnende Prätentiösität des Dichters und
seiner lautesten Verehrer dringen und dann mit bescheidneren Maßstabe ab¬
messen, was Hofmannsthal kann.
Zum Schluß sei auf drei Bücher hingewiesen, deren nähere Charakterisierung
überflüssig ist. Ricarda Huch hat zu ihrem Roman „Die Verteidigung Roms",
dem ersten Teil der Geschichten von Garibaldi, den zweiten Teil unter dem
Titel „Der Kampf um Rom" (Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt) erscheinen
lassen. Ich habe das erste Buch hier (am 22. November 1906) ausführlich
besprochen und kann mich deshalb damit begnügen, ans diese im Stil genau
dem ersten Werke folgende Fortsetzung hinzuweisen. — Von dem bekannten treff¬
lichen Roman von August spert „Die Sohne des Herrn Budiwoi" ist (bei
C- H. Beck, München) eine billigere Volksausgabe erschienen, die in ihrer
vorzüglichen Ausstattung das bekannte Werk hoffentlich noch zu vielen Lesern,
besonders auch zu jungen, bringt. — Endlich hat Ernst von Wolzogen (bei
F- Fontane und Co., Berlin) ein Erntebuch „Ansichten und Aussichten" erscheinen
lassen, worin er eine Reihe früher veröffentlichter Studien über Musik, Literatur
und Theater zusammenfaßt. Mit Recht wehrt er sich energisch dagegen, daß
man ihm auch bei der Würdigung seiner literarischen Arbeiten immer und immer
wieder das ohne sein Verschulden heruntcrgekommne und denn verschwundne
Uberbrettl anhängt, dessen Geschichte er sehr amüsant erzählt. Und wer den
statten, humorbegabten Erzähler manches hübschen Romans, den sichern Bühnen-
schilderer des „Lumpengesindels" kennt und schätzt, wird an vielen der hier
uoch einmal veröffentlichte:! Aufsätze seine Freude haben. Sie sind übrigens
auch rein als historisches Material zum Teil sehr wichtig, und ich erwähne da
besonders den an Erinnerungen reichen, ganz vortrefflichen Aufsatz „Vom alten
und neuen Weimar". Wolzogen knüpft in ihm an die Eröffnung des neuen
Hoftheaters in Weimar an, dieses technisch und ästhetisch gleich vollendeten
Bühnenhauses. Wer die schöne und in dem Weimarer Milieu besonders er¬
greifende Stunde der Eröffnung miterleben durfte, wird doppelt gern diesen
Artikel lesen. _
n einem Portal von schimmerndem Golde war sie ihm entgegen¬
getreten.
Das Haar glatt über der Stirn gescheitelt, schlank und groß in
dem schwarzen Kleide, wie jemand, an dem nichts von dem Schmutz
dieser Welt haften kann, so kam sie ihm unter dem hängenden Gold¬
regen im Garten entgegen.
Und so in dem goldnen Rahmen von Sonnenschein, das fühlte er in diesem
Augenblick tief und feierlich, so würde sie sein lebelang vor seinen Augen und in
seinen Gedanken stehn.
Juliane Hage!
Der Name formte sich wie ein faltenreiches Gewand Plastisch um ihre Gestalt.
Juliane Hage!
Ihr Blick war ernst und ruhig, ihr Lächeln schwach aber sanft, vielleicht ein
wenig müde oder fern, als habe sie — um ihn, der den Kiesweg hinauskam, freund¬
lich zu begrüßen — nicht ohne Schmerzen ihre tiefgefesselten Gedanken von dem
Buch da drinnen in der Laube losgerissen.
Juliane Hage!
Wie harmonisch trat ihm nicht diese edle Frauengestalt als Professor Hages
Tochter in dem Bilde entgegen, das er sich von dem Professor selbst, von seinem
Leben und seinem Heim gebildet hatte! Und gerade in dem reichen, sonnendurch-
flutetcn Garten, so fern hinter seinem weißen Gitter, wie eine Welt für sich in¬
mitten des geschäftigen Alltaglebens. Obstbäume, alte Linden, Bluthunden und
blütenschwere Fliederbüsche, im Hintergrunde das niedrige hölzerne Haus mit seiner
Veranda und den weitgeöffneten Türen, so still, so still . . .
Juliane Hage!
Wunderbar, klar wie eine Vision sah er sein ganzes Leben vor sich, aufwärts¬
führend wie ein ansteigender Weg, aufwärts zu der Höhe, die er ja niemals er¬
reichen würde, die ihm aber von diesem Tage an bis zu seinem Tode das Ziel
sein sollte, dem er entgegenstrebte, die Anhöhe, auf der ein Tempel errichtet war
mit weißen Säulen, worin sie, Professor Hages schöne Tochter, als Vestalin das
heilige Feuer hütete.
Juliane Hage!
Aber er war hungrig, war plötzlich ganz schrecklich hungrig! Madam Ras-
mussen hatte schon vor langer Zeit die warmen Kartoffeln hereingebracht und an
dem einen Ende des Tisches aufgedeckt.
Aus der Schiffskiste holte er Brot und Butter. Drinnen im Alkoven stand
die Heringstonne; er mußte sie ans Licht tragen, um zu sehen, es waren so viele
darunter, die ranzig geworden waren.
Während er zwischen den Heringen herumsuchte, mußte er an seine Mutter
denken — wenn die dies erfuhr! Er wollte gleich heute an den Pfarrer schreiben
und ihn bitten, ihr die Nachricht zu überbringen. Traurig war es ja, daß er
diesen Sommer nicht nach Hause kam. Aber welch eine Nachricht!
Wenn er den Sommer über in der Stadt bleiben würde, mußte er sie übrigens
bitten, ein neues Faß zu schicken. Diese Heringe waren bald keine menschliche
Nahrung mehr.
Entschlossen setzte er die Tonne in den Alkoven, holte die Geldbörse heraus
und zählte nach. El was! An einem solchen Tage konnte man sich wohl ein
bißchen gutes Essen leisten!
Bald stand er unten in dem Kellergeschäft von Mamsell Jlseng auf der andern
Seite der Straße und wählte unter den Gerichten auf dem Ladentisch.
Sie haben wohl heute Ihren Herrn Freund bei sich? fragte Mamsell Jlseng.
Nein, der ist gar nicht in der Stadt.
Ich habe gerade etwas von ihm in der Zeitung gelesen, und da dacht ich ...
Nein, mein Freund, der Dichter, ist auf dem Lande.
Ein ungemein appetitlicher junger Mann, sagte Mamsell Jlseng. Und nun
wollen Sie wohl auch bald weg, Herr Opseth, weg von uns!
Nein, ach nein. Daraus wird wohl nichts. Ich werde Wohl den ganzen
Sommer meinen Gang hier zum Laden haben.
Aber das ist ja erfreulich zu hören! Es wird ja so still hier in dieser Zeit!
Aber für Sie selbst ist es wohl eine Enttäuschung, denke ich mir?
Ach nein, doch nicht. Doch eigentlich nicht. Ich denke, ich nehme sechs von den
Frikandellen, Mamsell Jlseng! Es gibt ja sechs für vierzehn Schilling? Ach nein, dies
ist im Grunde eine Freude, dies. Ich habe heute eine Anstellung bekommen.
Nein, ist das möglich? Da will ich von Herzen glückwünschen!
Danke. Ja sehen Sie, dies sollte so eine Art Festmahlzeit sein . . .
Ganz natürlich bei einer so erfreulichen Veranlassung! Darf man vielleicht
fragen, was für eine Art Stellung . . .
Es ist eine wissenschaftliche . . .
Ja, natürlich! Und vermutlich mit einem schönen Gehalt?
Ach ja, ich kann gar nicht klagen. Aber das beste dabei ist, daß ich hinaus
komme. Zum Herbst soll ich in Rom Sekretär bei Professor Hage werden. Sie
wissen wohl, unser großer Sprachprofessor und Historiker . . .
Was, Rom sagen Sie! Aber haben Sie auch jemand, der Ihnen diese Frikandellen
aufwärmt, Herr Opseth? Denn sie sind ja kalt!
Das macht nichts!
Aber nein, nein, das dürfen Sie nicht sagen, sie kommen erst zu ihrem Recht,
wenn sie warm angerichtet werden! Und dann die Sauce . . .
Als der Kandidat über die Straße nach Hause eilte, trug er die Frikandellen
dampfend warm in einer Deckelschüssel, die ihm Mamsell Jlseng geliehen hatte.
Dazu in der Tasche seiner Jacke eine Flasche bayrisches Bier. Sehr gespannt war
er nun, ob Madam Rasmussens Kartoffeln wohl ganz kalt geworden waren. . . .
Aber sie waren nicht so ganz übel.
Nach beendeter Mahlzeit stopfte er seine Pfeife und setzte sich in den Schaukel¬
stuhl. Er nippte an dem Rest des guten Bieres, während er seinen Augen einen
Genuß bereitete, indem er sie abwechselnd die beiden kostbaren Schätze betrachten
ließ, die er hervorgeholt hatte. Aus der Brusttasche des Staatsrocks den Brief
von Professor Hage auf blankem, steifem Papier:
Es würde mir lieb sein, wenn ich Sie morgen, Sonnabend zwölf Uhr, in
meinem Hause sehen könnte, da ich eine Frage von Interesse für Sie und mich
iM. ... S.. in°es.. ,
Und von dem Bücherbrett herunter die Zeitschrift, in der seine Abhandlung ge¬
druckt war.
„Casus Flaminius. Eine Studie aus Rom wahrend des zweiten Punischen
Krieges. Von H. Haut Opseth, cnnÄ. xliil,"
Er blätterte in dem Heft, verweilte flüchtig bei diesem oder jenem Satz. War
es nicht wirklich wunderbar! So viel Kummer und Unannehmlichkeiten er von dieser
Abhandlung gehabt hatte, sie hatte doch schließlich sein Glück begründet!
Er hatte so große Gedanken bei dieser Arbeit gehabt, viele Jahre lang; ja,
eigentlich von seiner Seminarzeit ein, als er eine so brennende Liebe, konnte er Wohl
sagen, zu Hannibal faßte. Gewissermaßen war seine Lebensbahn auf dem großen
Karthager begründet; die eifrigen Nachforschungen nach ihm in allen Quellen,
die er damals hatte auftreiben können, hatten ihn von Anfang an auf das hin¬
geführt, was er jetzt sein Fach nennen konnte. Später auf dem Gymnasium und
in den Studentenjahren, wie hatte er den arbeitsvollen Tagen die paar Stunden
abgerungen, um sich in Ruhe den semitischen Studien, Hellas und Rom widmen
zu können! Und das Ziel war das große Werk: „Die Bnrkiden in Karthago".
Aber als er älter wurde und weiter gelangte, fingen die Zweifel und die
Furcht an von allen Seiten hereinzusickeru: er würde der Sache nicht gewachsen
sein. Und er hatte mit den Zweifeln und der Furcht gekämpft und sich tiefer
und tiefer und tiefer in den gewaltigen Stoff hineingegraben, der dadurch nur um
so mehr anschwoll. Aber dann erwuchs seinem stolzen Plan ein neuer Feind.
Sein Interesse wurde mehr und mehr gefesselt von dem, was ihm auf dem Wege
zum Ziel begegnete. Und das Ziel selber verblaßte für ihn. Auch hiergegen hatte
er tapfer gekämpft — aber vergeblich. Es war, als zöge ihn eine Macht fort von
der semitischen Stadt an der Küste Nordafrikas und gen Norden nach Rom und
Italie.. Er empfand es selbst als einen Schmerz, als einen Verrat an seinem
Helden, dem Manne von Spanien, den Alpen und Cannä; er liebte ihn noch, ja
vielleicht noch heißer als früher, als er erkennen mußte, daß er nicht imstande war,
das große Werk über sein Schicksal aufzubauen: er hatte ein Gefühl, als füge er
eine neue Ungerechtigkeit der Reihe von Ungerechtigkeiten hinzu, die der historische
Weltwille auf die mächtige, tragische Gestalt gehäuft hatte.
Aber es wurde ihm immer unmöglicher. Und als er nun um die Weihnachts¬
zeit dieses kleine Bruchstück über Rom an die Zeitschrift abgeliefert hatte, um sich
ein wenig Geld zu Weihnachten zu verschaffen, da hatte er eigentlich das Todes¬
urteil über seinen alten Jugendtraum gefällt.
War ihm dies im innersten Innern ein Kummer gewesen, so gereichte es ihm
nun zu geringem Trost, seinen Cajus Flaminius gedruckt zu sehen. Er hatte immer
gehört, namentlich von seinem Freund, dem Dichter, welche Wonne es sei, sich zum
erstenmal gedruckt zu sehen. Es war im Gegenteil für ihn eine tiefe und nieder¬
schlagende Enttäuschung. Erst jetzt schwarz auf weiß sah er, wie schändlich er seine
ganze Darstellung verflacht und verwässert hatte, weil er sie aus ihrem großen,
stolzen Rahmen hatte herausreißen müssen. Der ganze weite, schimmernde Horizont
über Land und Meer zwischen den Alpen und dem Atlas war eingeschrumpft, aller
Mut und alle Kühnheit, im Widerspruch mit der alten Auffassung und in der
Darstellung einer neuen, waren jetzt dahingewelkt und verschwunden —! Er schämte
sich ganz einfach dieses kleinen, zierlichen Abiturientenanfsatzes. . . .
Und dann war es doch diese Abhandlung gewesen, die in „hervorragendem
Grade" Professor Hages Aufmerksamkeit erregt hatte!
Ich habe Ihre kleine Abhandlung mit lebhaftem Interesse gelesen. Sie haben
viel Arbeit darin niedergelegt, mein junger Freund! Sie sind im Besitz einer in
die Augen fallenden historischen Phantasie, vielleicht einer reichlich lebhaften Phantasie.
Einen Teil der zu großen Kühnheit, wohl gar Rücksichtslosigkeit schreibe ich getrost
auf Rechnung Ihrer Jugend. Aber Sie haben Methode, Herr Opseth! Eine aus¬
geprägte, wissenschaftliche Methode!
Vor sich ans dem mächtigen Arbeitstisch hatte der Professor das Heft liegen,
das Elfenbeinmesser bei Cajus Flaminius hineingesteckt, und er hatte ein paar Einzel¬
heiten zitiert und erörtert. . . .
Schon Ihr Examen im vergangnen Jahre ließ ja Ihren Namen unter dem
jungen Nachwuchs in den Vordergrund treten. Aber diese kleine Arbeit hier ist
für mich ganz entscheidend. Wie Sie wissen, gehe ich wieder auf ein paar Jahre
»ach Rom. Man hat mir ein Stipendium zur Verfügung gestellt als Gehalt für
einen Sekretär und Gehilfen. Das ist es, was ich Ihnen jetzt anbieten möchte,
Herr Opseth!
Ein Erlebnis, wie dies heute, die Überraschung, die Gemütsbewegung — das
griff an. Er fühlte jetzt, wie überwältigt, wie müde er war. Einen Anteil daran
hatte am Ende auch die kräftige Mahlzeit — und das Bier.
Ein Wendepunkt in seinem Leben war dieser Vormittag gewesen. Von dem
Augenblick an, wo er klopfenden Herzens, ohne zu ahnen, was ihm bevorstand,
durch die Gartenpforte schritt. Als er zwei Stunden später wieder durch dieselbe
Pforte ging und sie hinter sich schloß, war es ihm, als bliebe seine Seele, sein
wirkliches Wesen eigentlich da drinnen — und zwar für immer!
In einem Portal von schimmernden Golde . . .
Juliane Hage!
Wenn Kandidat Haut Opseth schlief, schnarchte er mächtig. Sein Freund, der
Dichter, behauptete, es seien die Eismeerstürme seiner heimischen Küste, die im
Schlafe sein unbewußtes Seelenleben beherrschten und durch seinen Körper tobten
u»d r
Man erzählte von Professor Hage, daß auch er bettelarm begonnen habe.
Sein Vater war Pedell an einem Gymnasium gewesen. Und dann hatte er sich
von der Kellerwohnung durch sämtliche Stockwerke der Schule emporgearbeitet.
Es mußte sonderbar sein, so weit zu kommen! So wie jetzt hoch und fern über
alle» Sorgen des Lebens da zu sitzen in edler Sicherheit. Ruhig und geborgen,
heimisch in den höchsten Gesellschaftsklassen, ohne daß man ihn- etwas von dem
Pedellen oder der Mühe und Not vergangner Zeiten anmerkte!
Ob er wohl jemals zurückdachte? Oder sich überhaupt daran erinnerte? Wohl
kaum. Professor Hage war ja nun heimisch in diesem Leben, das sein ganzes Wesen
umfriedigt, ihn in sich aufgenommen und sicherlich längst ausgelöscht hatte, was
durchkämpft war.
Mnu begriff das hier in seinem Heim, in diesem traulichen eignen Hause, wo
alles stand, wie es seit Jahrhunderten gestanden hatte und von nichts als von Reichtum
und Ruhe wußte. Und obwohl der Professor jetzt abwesend war, hatte man doch immer
ein Gefühl, als sei er gegenwärtig. Als sei der stattliche Herr, ehe er von dannen
gereist war, von einem Zimmer zum andern gewandert mit seiner ergrauenden Mähne,
dem volle», glattrasierten Gesicht, in kurzem, schwarzem Rock und weißem Schlips,
und habe mit der vom Katheder her wohlbekannten Handbewegung in einem jeden
Raum Halt gemacht und jedem Gegenstande, Stühlen, Tischen, Wänden, befohlen,
sich sein Bild einzuprägen und es getreulich zu bewahren, bis er zurückkehren würde!
Und Fräulein Juliane ging dadrinnen umher und wischte Staub und begoß die
Blumen; ihre Aufgabe war es nur, zu bewahren und zu überwachen, so wenig wie
man ihr lautloses Walten hörte, so wenig hinterließ sie irgendeine Spur, wie sie
in dem schwarzen, glatten Kleide durch die Zimmer glitt. . . .
Da war zuerst der große Salon hinter der Veranda mit den mächtigen Lehn¬
stühlen, den langherabhängenden Plüschtischdecken, dem Kronleuchter unter der Decke
und den Wänden voller Gemälde. Dann an der einen Seite das pompejanische
Kabinett mit den Fresken an den Wänden und im übrigen angefüllt mit allerlei
Antiquitäten, Bronzelampen, Urnen und Vasen, kleinen Statuetten, Büsten und
Reliefs, alles echte Sachen aus Italien und Griechenland, beinahe ein kleines Museum.
Auf der andern Seite des Salons lag das Boudoir der Frau Professor. Das
hatte jetzt drei Jahre so gestanden, wie an dem Tage, als die Fran des Hauses
gestorben war. Am Fenster ein blankpolierter Mahagoninähtisch mit grünseidnen
Beutel darunter; in der Ecke ein kleines, altmodisches Piano und darüber an der
Wand zwei Bilder in ovalen, goldnen Nahmen, ein Offizier aus Friedrichs des
Sechsten Zeit und seine Gemahlin.
Frau Professor Hage war von Geburt dänisch gewesen, aus sehr vornehmer,
aber armer Familie. Sie war hier im Lande als eine Art Pflegetochter des alten
Stiftamtmanns Risting aufgewachsen.
Aber hinter dem pompejanischen Boudoir lag des Hauses Kern und feste Burg, des
Professors Arbeitszimmer und Bibliothek, eigentlich zwei Zimmer, aber ohne eine ganze
Wand dazwischen. Hier gab es nichts anßer dem mächtigen, mit grünem Tuch über¬
zognen Schreibtisch und dann Bücher. Bücher an allen Wänden und Bücher bis unter
die Decke, Bücher in doppelten Reihen auf beweglichen Borten, auf hängenden Borten,
Professor Hages im ganzen Lande bekannte Bibliothek. Den einzigen Schmuck bildete
ein Pastellgemälde seiner Fran mit dem Namen des Malers und aus Rom datiert
mit einer Jahreszahl, die weit zurücklag; aber die Bücherborte rings umher waren
gewachsen, sodaß es nun in einer tiefen Nische hing, in die das Tageslicht nur
spärlich hineindrang. So war es übrigens mit dem ganzen großen Zimmer; es lag in
einer halbdunkeln Tiefe von massiv zusammengeschloßnen Bücherrücken. . . .
Haut Opseth saß in des Professors großem Lederstnhl am Schreibtisch und legte
seine Papiere von der Morgenarbeit zusammen. Während der Sommermonate, in
denen der Professor draußen an der See wohnte und badete, hatte er den Auftrag
erhalten, die vorbereitenden Arbeiten des Professors für den kommenden Winter in
Rom durchzusehn — teils um sich selbst rin dem Stoff vertraut zu machen, teils auch
um zu ordnen und allerlei abzuschreiben. Das war eine schwere Arbeit. Er kam
am Morgen, ging des Mittags nach Hause und kam oft noch am Nachmittag wieder.
Für diesen Vormittag war er fertig und legte sich in den bequemen Stuhl zurück.
. . . Ach nein, Professor Hage war jeglicher Art früherer Armut weit ent¬
rückt, war in eine ganz andre Daseinsform hinüberversetzt wie in eine neue geologische
Periode. Und es war ganz wunderbar, daß man so aus seinem Gedächtnis Jahre
und Tage, Tage und Jahre auszulöschen vermochte----!
Wäre es nun nicht so peinlich gewesen, sich gleich im Anfang als der arme
Schlucker vorzustellen, so hätte er an den Professor geschrieben und ihn um ein
paar Taler Vorschuß auf das Stipendium hin gebeten. Hier vergingen Wochen in
angestrengter Arbeit vom Morgen bis zum Abend, und es war kein Schilling zu
verdienen oder zu borgen, da die Stadt um diese Zeit völlig leer von Bekannten
war. Es war noch ein Glück, daß die gute Mamsell Jlseng so lange Kredit gab.
Das schlimmste war, daß er so sonderbar müde wurde, sogar mitten am hellen
Tage: das kam zweifellos davon, daß er kein ordentliches Essen in den Leib bekam. So
zum Beispiel jetzt, wo er hier saß und sich kaum vom Stuhl zu erhebe» vermochte....
Und durch die offnen Türen in dem stillen, leeren Hause stahl sich der
lieblichste Duft von gebratnem Beefsteak aus der Küche her zu ihm hinein. Das
war Fräuleins Juliaues Mittagessen. Bester» waren es Kohl und Hammelfleisch
gewesen. Vorgestern Fisch — nein Fisch, das war am Montag gewesen! Vorgestern
hatte er nichts riechen können, wahrscheinlich hatte sie da von dem Schinken gegessen,
mit dem er das Mädchen von der Vorratskammer hatte vorübergehn sehn.
Anfangs hatte er Fräulein Juliane kaum gesehn, sie nur so eben begrüßt,
wenn er kam und ging, oft nicht einmal das. Aber neulich hier im Salon hatte
sie sich ans eine Unterhaltung mit ihm eingelassen und ihm das Haus gezeigt. Ja,
ein paarmal hatte sie sich seither in der Bibliothek zu schaffen gemacht. Gestern
hatte er ihr behilflich sein müsse», ein Buch zu finden. Bischof Martensens Ethik
wollte sie haben. Sie hatte es schon früher gelesen, aber ihr war eine Frage ein¬
gefallen, deren Beantwortung sie gern bei Martensen finden wollte.
Sie las offenbar sehr viel und war eine ungewöhnlich gebildete und ernste Dame.
Aber er mußte weg.
Er ging dnrch die leeren Zimmer, über die Veranda und in den sonnen¬
durchglühten Garten hiinib. Aus der Laube mit dein jetzt verblühten Goldregen kam
ihm Fräulein Juliane entgegen. Ihre Schönheit wurde heute durch eine feine
Wärme der Wangen erhöht, und wie sie ihm zulächelte, lag ein Glanz in ihren
großen, hellblauen Augen.
Sind Sie für heute fertig? fragte sie freundlich.
Ach nein, wenn ich fertig werden will, bis der Herr Professor wiederkommt,
muß ich alle Zeit verwenden, die ich habe.
Sie arbeiten also heute nachmittag weiter?
Ja, ich bin wohl dazu gezwungen.
Ich hatte daran gedacht, Sie zu fragen, Herr Opseth, ob Sie vielleicht heute
hier bei mir mit dem Mittagessen fürliebnehmen wollen? Dann brauchen Sie den
langen Weg nicht zu machen, dachte ich.
Vielen Dank, gnädiges Fräulein, aber .. .
Es ist vielleicht kühn von einer einzelnen Dame, sagte sie mit einem leisen
Anflug von Schelmerei, einen Herrn so einzuladen, aber wir sind hier ja jeden
zusammen.
Ja, das sind wir.
Ich habe gründlich darüber nachgedacht, fügte sie ernsthaft hinzu, und ich bin
ganz sicher, daß mein Vater nichts dagegen haben würde.
Aber es ist Unrecht, daß Sie sich meinetwege» Umstände machen wollen,
gnädiges Fräulein.
Ach nein, es sind gar keine Umstände. Ich, die daran gewöhnt bin, das ganze
Haus voll zu haben! Ich lasse nur ein Gedeck mehr auflegen. Sie ging ins Haus
hinauf. Er blieb im Garten stehn, lächelnd. Sie strahlte vor Güte! Und so lieb
hatte sie an seinen langen Weg gedacht. Es lag über ihr diese bezaubernde Mischung
von ruhigem, reifem Ernst und feiner Schelmerei und dazu das rein kindliche,
"nschuldsvvlle Verhältnis zum Vater.
Er schlenderte umher und wartete. Er lugte in die Laube hinein.
Auf dem Tisch dadrinnen lag ihr Buch aufgeschlagen. Es war nicht Martensen.
Es war ein geheftetes Buch mit gelbem Papierumschlag. Er ging hinein und beugte
sich darüber. Es war ein französischer Roman. Er las einige Zeilen, las hastig
weiter, die halbe Seite hinunter — und fühlte, daß er dunkelrot wurde.
Ein Strom von brennenden Liebesworten — Monsieur Victor in Madames
Boudoir—um Mitternacht — alle im Schlosse schliefen — sie wehrte sich — er
drang in sie — sie flehte, beschwor ihn — der Gatte war nicht weit — Monsieur
Victor flüsterte Feuergluten —und sie gab nach — gab nach —^ nach . .'.
Wie ein ertappter Dieb floh er aus der Laube. Er sah nach der Veranda
hinauf, aber sie kam zum Glück »och nicht. ,
Er setzte sich auf eine Bank.
Verwirre saß er da und kam sich vor wie jemand, der eine Niederträchtigkeit
begangen hat. Als habe er durch das Schlüsselloch in ihr Kämmerlein gelugt — zu
nächtlicher Stunde >— wie ein zweiter Monsieur Victor — er glühte vor Scham.
Also hier saß sie und las so etwas — in ihrem schwarzen Kleide — mit den
großen, fast strengen Augen! . . .
Er kannte den Roman nicht; aber es war wohl eins von den berühmten
Büchern, eins von denen, das man als gebildeter Mensch kennen mußte. Und sie
War ja in hohem Maße literarisch gebildet. Natürlich war sie erhaben über alle
möglichen Einzelheiten. Die moderne französische Literatur war nun einmal voll von
dergleichen.
Nur er allein war ja unfein, wenn er auch nur einen Augenblick denken
konnte - ^ N"^r^ ^'
Aber aus dem innersten Innern seiner Gedanken schlich^sich gleichsam ein feiner
Duft oder eine Süßigkeit halbklar über sein ganzes Empfinden. !
Und er lächelte.
Sie war ja ein junges Mädchen. Das schwarze, schlanke Kleid umschloß eiuen
lebenden Menschen; in ihrem Wesen pochte das rote BliA, das ihre Wangen so
fein färbte. (Fortsetzung folgt)
Die Gedanken unsrer Landsleute sind in der letzten Woche einmal gründlich
von allen politischen Streitfragen im engern Sinne abgelenkt worden. Sie haben
sich darauf besonnen, darauf besinnen müssen, mit wie starken Klammern unser
ganzes Volk doch im Denken und Fühlen innerlich verbunden ist, obwohl wir uns
gelegentlich noch immer so gebärden, als ob es zwischen verschiednen Stämmen,
sozialen Schichten, politischen Parteien und künstlerischen oder wissenschaftlichen
Richtungen kaum noch eine Brücke gäbe. In dem Augenblick, als bekannt wurde,
daß der greise Graf Zeppelin, der soeben im Begriffe stand, den größten Erfolg
seines Lebens zu erringen, infolge einer unerwarteten Katastrophe plötzlich vor den
Trümmern seines mühsam gefügten Werkes stand, schnellte der deutsche National¬
geist alsbald zu einer einzigen Empfindung empor. Weggeblasen war in diesem
Augenblick jede kleinliche Engherzigkeit, jenes philisterhafte Überlegenheitsgefühl,
das unsre Stammtische gewöhnlichen Schlages so oft beherrscht, wenn ein Mann,
der sich erlaubt, über den Durchschnitt hervorzuragen, mit dem Erreichten hinter
den Erwartungen der blöden, oberflächlich urteilenden Menge zurückbleibt. Mit
einem Schlage trat überall nur das eine, richtige Gefühl sieghaft in den Vorder¬
grund: Wie bekunden wir diesem Mann, der sein Lebenswerk durch ein jähes
Unglück gefährdet sieht, sofort durch die Tat, daß wir alle hinter ihm stehn und
er zu uns gehört?.
Es hat sich deutlich gezeigt, daß es nicht die epochemachende Erfindung allein
ist, die dieses Gefühl ausgelöst hat, sondern vor allem die Persönlichkeit, die da¬
hinter steht. Gewiß kommt auch die Erwägung in Betracht, daß Deutschland hier
einen Erfolg gegen den Wettbewerb andrer Nationen zu verteidigen hat. Was
Graf Zeppelin bereits erreicht hat, ist mehr, als was irgendwo sonst in der Welt geleistet
worden ist, und so hat er unserm Vaterlande einen Vorsprung verschafft, den fest¬
zuhalten wir alle ein dringendes Interesse haben. Aber das ist bei unsrer nationalen
Art doch nicht so geeignet, eine solche Einmütigkeit hervorzurufen, wie sie sich jetzt
gezeigt hat. Das deutsche Volk fühlt sich vielmehr zu der Persönlichkeit des Grafen
Zeppelin hingezogen. Die Art, wie dieser Mann seine Idee verfolgt und ausgeführt
hat, hat ihm alle Herzen gewonnen. In einem Lebensalter, in dem die meisten
bereits anfangen, an den Abschluß ihrer irdische« Laufbahn zu denken, am Ziele seines
ursprünglichen Lebensberufs angelangt, widmete Graf Zeppelin seine ganze Kraft
einem Gedanken, dessen Ausführung selbst einem jüngern Manne wegen der anscheinenden
Ferne des Ziels und der unsäglichen Schwierigkeiten und Anfechtungen auf dem Wege
dahin mit Zagen erfüllt, wenn nicht abgeschreckt hätte. Graf Zeppelin ist diesen
Weg gegangen, gleich unbeirrt durch Spott und Ablehnung wie durch Beifall und
Bewunderung. Er lebte nur diesem einen Gedanken, der Sache, der er das Be¬
hagen seines Alters und sein Vermögen geopfert hat. Diese wahrhaft heldenhafte
Stärke im Dienst einer Sache hat schließlich nicht nur zu wunderbare» Erfolgen
geführt, sondern auch die deutsche Art des Mannes so sicher geoffenbart, daß die
Erkenntnis der Tüchtigkeit seines Wesens auch durch unglückliche Zwischenfälle nicht
mehr erschüttert werden kann. Als nach der ersten größern Probefahrt des neuen
Luftschiffs nach dem Bierwaldstätter See der Jubel in ganz Deutschland in begeisterten
Hymnen erscholl, warnten einige Stimmen, dem Grafen Zeppelin „Vorschußlorbeeren"
zu weihen. Die Mahnung zur Besonnenheit war vielleicht einigen allzu phantastischen
Ergüssen gegenüber nicht unberechtigt; Graf Zeppelin selbst war nicht der Mann,
auf den solche „Vorschußlorbeeren" irgendwelche Wirkung ausüben konnten. Das
fühlte jeder heraus, daß der siebzigjährige, der nun doch nach langer, mühseliger
Arbeit, nach so vielen Enttäuschungen und Opfern endlich die wohlverdienten
Triumphe feierte, keinen Augenblick sein eignes Werk überschätzte, sondern mit uner¬
schütterlicher Ruhe beständig beobachtend und bessernd, alles bedenkend und nichts
überstürzend sein Ziel verfolgte. Schon einmal war ihm das Ergebnis langwieriger
Arbeit durch einen Sturm vernichtet worden. Damals hatte er noch keine andern Bundes¬
genossen und Stützen, als die er in der eignen Brust fand. Ungebeugt nahm er
die scheinbar Verlorne Arbeit wieder auf; das Unglück war ihm nur eine Erfahrung
mehr, ein Mittel, um zum Nutzen der Sache zu lernen. Ein Mann, der einem
Mißerfolg gegenüber, der jeden andern unter den damaligen Umständen weit mehr
niedergeschmettert und vielleicht dauernd entmutigt hätte, eine solche Zähigkeit be¬
wies, wird nach Überwindung des ersten erschütternden Eindrucks, den ein jähes
Mißgeschick in solchem Augenblick auf jedes menschliche Gemüt notwendig ausüben
muß, das seelische Gleichgewicht gewiß nicht verlieren und sich sehr schnell darüber
klar sein, daß dieses Mißgeschick durchaus kein Mißerfolg war, daß die Kata¬
strophe von Echterdingen nichts von dem schon Errichteten, Geleisteten und Bewiesnen
ernstlich in Frage stellt. Graf Zeppelin hat bei starkem Gegenwind eine glückliche
und sichre Fahrt ans vorher geplanten Wege von bisher nicht dagewesner Dauer
— auch bei Nacht! — gemacht und ist zweimal unter Verhältnissen gelandet, unter
denen diese Möglichkeit bisher von sachverständigen Beurteilern stark bezweifelt oder
sogar direkt bestritten wurde. Alles, was man bisher von dem Grafen Zeppelin
unmittelbar nach der Katastrophe gehört hat, bestätigt, daß er sich wiederum als
Held und als der rechte Mann für sein Werk bewährt hat. Es war natürlich,
daß die erste Kunde von der Vernichtung des Luftschiffs vor allem das Mitgefühl
für die herbe Enttäuschung, die der kühne Erfinder erlitten hatte, wachrief. War
doch kaum das bange Entsetzen überwunden, das die ersten unvollständigen Gerüchte
und Nachrichten von der Vernichtung des Luftschiffs durch einen Unglücksfall bei
den meisten hervorrufen mußten, als man noch nicht wußte, wie weit die Teil¬
nehmer der Fahrt dadurch mitbetroffen waren. Aber besser als diese Bekundungen
der Teilnahme trafen den Kern der Lage und ihres Helden solche Worte, wie sie
in dem Telegramm des Reichskanzlers an den Grafen Zeppelin enthalten waren.
„Wer sein Leben an eine große Idee setzt, den können solche Schläge nicht ent¬
mutigen. Die Erfahrungen bei diesem Unglück werden Sie Ihrem Ziel nur näher
bringen." So tröstete Fürst Bülow den Schwergeprüften, und sicherlich war dies
ganz im Sinne dessen, an den diese Worte gerichtet waren.
Und nun hat es nur eine Regung im ganzen Reich gegeben. Überall öffnen
sich die Hände zu einer Nationalspende, die es ermöglichen wird, daß in kurzer
Zeit ein neues Luftschiff ersteht und die große Aufgabe hoffentlich mit bessern«
Glück löst. Die Haltung des deutschen Volks angesichts dieser Katastrophe ist auch
von politischer Bedeutung und gewiß lehrreich für alle, die sich nnter dem Ein¬
druck der nicht immer erhebenden Alltagserfahrungen über manche Seiten unsers
Volkscharakters täusche» lassen. Übrigens hat auch das Ausland fast durchweg in
würdiger Weise seiner Teilnahme an diesen Ereignissen Ausdruck gegeben. Wenn
einige französische Blätter aus gewohnheitsmäßigen, zur kindischen Manie ge-
wordnen Deutschenhaß und aus gekränkter Nationaleitelkeit auch jetzt wieder einen
gehässigen Ton angeschlagen haben, so braucht uns das nicht zu kümmern; es wird
eine Zeit kommen, wo sich auch diese Blätter ihrer Haltung ernstlich schämen werden.
Sie werden dann begreifen, wie klein und töricht es ist, große Triumphe des
menschlichen Geistes mit dem Maßstabe nationaler Empfindlichkeiten zu messen.
In der auswärtigen Politik ist die Türkei jetzt der Angelpunkt geworden.
Man erwartet mit Spannung die Entwicklung des Verfassungslebens im Staate
des Kalifen. Bis jetzt kann man den Jungtürken, die dieser Bewegung das Ge¬
präge gegeben haben, nur das Zeugnis ausstellen, daß sie maßvoll vorgegangen
sind. Und auch der Sultan hat die Lage mit der Klugheit erfaßt, die man nach
seinem oft bewährten staatsmännischen Sinn und nach seiner reichen Erfahrung von
ihm erwarten durfte. Die Wirkung der Ereignisse besteht zunächst darin, daß sie
den Reformeifer der zunächst interessierten und besonders um Mazedonien bemühten
auswärtigen Mächte zu eiuer abwartenden Haltung zwingen. Darin zeigt sich zu¬
gleich, daß Deutschland und sein Vertreter am Goldner Horn dem Sultan einen
guten Rat gegeben haben, indem sie seit langer Zeit darauf hinwiesen, daß die
Pforte ihr eignes Interesse und das Interesse der mit ihr friedlich und ohne
Nebenabsichten verbundnen Mächte am besten wahrnehme, wenn sie die Initiative
zu aufrichtigen und notwendigen Reformen ergreife. Das weiß man in der Türkei
sehr wohl, und deshalb ist es unbeschreiblich lächerlich, wenn von einigen Seiten
versucht wird, auch der Verfnssungsbewegung in der Türkei einen deutschfeindlicheil
Anstrich zu geben, unter dem Vorwande, daß Deutschland die absolutistische Richtung
unterstützt habe. Die Versuche dieser Art sind kläglich mißglückt; sie haben dazu
gedient, erst recht die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß die englische Politik
bis jetzt keine besonders glückliche Rolle im Orient gespielt hat. England hat in
Mazedonien seine ursprüngliche Absicht eiuer selbständigen Reformaktion aufgeben
müssen und im wesentlichen Rußland das Feld überlassen. Jetzt bereitet ihm die
Verfassungsbewegung eine neue Verlegenheit. Die englische Politik kann sich nach
ihren Überlieferungen den freiheitlichen Bestrebungen in der Türkei nicht entgegen¬
stellen, und doch zieht diese Bewegung ein Land in Mitleidenschaft, wo sie den
Engländern recht unbequem wird, nämlich Ägypten. Deshalb fordert die Lage be¬
sondre Vorsicht und Geschicklichkeit, und man empfindet nur allzu deutlich, das;
Deutschland jetzt in einer günstigern Stellung im nahen Orient ist. Übrigens ent¬
steht auch für Österreich-Ungarn eine schwierige Frage wegen der Verhältnisse in
Bosnien. Die okkupierten Provinzen werden jetzt auch eine Verfassung erhalten
müssen, und die österreichisch-ungarische Regierung sieht mit einiger Besorgnis den
Erfahrungen entgegen, die ihr diese Neuerung bringen muß. So hat die Lage
in mancher Beziehung ein andres Gesicht erhalten. Aber die europäischen Mächte
scheinen durchweg den Wunsch zu haben, sich in Frieden zu verständigen. Hoffentlich
werden auch die Begegnungen, die König Eduard mit Kaiser Wilhelm in Cronberg
und mit Kaiser Franz Joseph in Ischl haben wird, zur Klärung und Beruhigung
b
Die belgische Regierung hat soeben
ein neues „Graubuch herausgegeben, das den Briefwechsel zwischen ihr und der
englischen Regierung sowie jeuer der Vereinigten Staate» von Amerika enthält. Aus
dieser höchst interessanten Veröffentlichung, die von der belgischen Presse einstimmig
anerkennend besprochen wird, geht hervor, daß England und die Vereinigten Staaten
von Amerika die Reformen vollständig billigen, die die belgische Regierung im
Kongostaat einzuführen beabsichtigt. Sir Edward Grey erklärt außerdem, daß in
England der Eindruck der letzten diplomatischen Korrespondenzen vortrefflich gewesen,
und daß die Situation sehr geklärt sei durch die von der belgischen Regierung
beabsichtigten Reformen und durch die Art, wie diese angekündigt wurden.
Dem Wunsche Englands, bestimmte Erklärungen zu erhalten, entspricht Belgien,
indem es ein ausführliches Programm darlegt.
Für den Fall einer Meinungsverschiedenheit nach der Übernahme des Kongo¬
staates will Belgien jeden Schiedgerichtsvertrag annehmen, der sicherstellt, daß sich
die getroffnen Entscheidungen nicht ausschließlich auf deu Kongostaat, sondern auf alle
Mächt
Die Universität Jena beging in diesen Tagen die Jubel¬
feier ihres 350 jährigen Bestandes, und alle die, die längere oder kürzere Zeit in
dem lieben Saalathen studierenshalber hatten weilen dürfen, nannten sich gerade
jetzt mit geheimem Stolze wieder „alte Jenenser". Die studentische» Erinnerungen
sind ja auch sonst in uusern wissenschaftlich gebildeten Kreisen in der Regel die
liebsten aus der fröhlichen Jugendzeit, es hat aber doch seine besondern Gründe,
warum gerade die alten Jenenser dem „lieben närrischen Nest" Goethes so warm
ihre Treue bewahren. Eine jede deutsche Universität hat ihre besondre Eigenart,
gewissermaßen eiuen persönlichen Charakter. Die geschichtliche Überlieferung, die, je
alter sie ist, mit der Entwicklung des nationalen Geisteslebens um so inniger zu¬
sammenhängt, und das besondre Lokalkolorit, das sich ans landschaftlichen, volks¬
eigentümlichen, politischen und wirtschaftlichen Elementen zusammensetzt, haben ihren
Anteil daran. In einer sehr trüben Zeit, nach der Schlacht bei Mühlberg und dem
ersten spaltenden Schlag gegen die deutsche Reformationsbewegung entstanden, hat
die Universität Jena durch manche Wechsel- und drangvolle Zeiträume eiuen ehren¬
haften Ruf bewahrt, stets kam das akademische Leben in der Eigentümlichkeit, die
der jedesmalige Zeitgeist mit sich brachte, zu hoher Blüte, die wechselnde» Erscheinungen
des nationalen Niedergangs und des Wiedererwachens des deutschen Volkstums bis
zur Gründung des neuen Reichs spiegelten sich besonders deutlich wider im Leben
und Treibe» der kleinen Universitätsstadt, anscheinend gerade begünstigt durch die
Vielherrschaft der kleinfürstlichen Erhalter, die der Entwicklung eines politischen
Partikularismus nicht förderlich war. Das reizvolle Saaltal, ein gutmütiges, vom
Studententum wirtschaftlich abhängiges und ihm treu ergebnes Bürgertum, wohl¬
wollende Behörden, die nur selten und dann noch mit Nachsicht in die freie Ent¬
faltung der Akademie eingriffen, dafür aber zu alleu Zeiten beflissen waren,
hervorragende Lehrkräfte zu gewinnen, haben zusammengewirkt, um der Universität
Jena einen populären Ruf zu erwerben, der dem der genannteste» deutschen
Schwesterakademien Heidelberg, Bonn, Leipzig, Göttingen mindestens nicht nachsteht.
Sieben den zahlreichen Festartikeln und Erinnerungsbildern,^ die in den Blättern je
nach Geschmack und Laune dem alten Musensitz gerecht zu werden suchen, ist bei
Engen Diederichs in Jena unter dem Titel „Das alte Jena und seine
Universität" eine Jubilänmsausgabe zur Universitätsfeier von Ernst Borkowsly
(237 Seiten mit 107 Abbildungen, broschiert 4 Mark, gebunden 5 Mark) erschienen, die
als sorgfältige kulturgeschichtliche Arbeit in einer Reihe von sprachlich vollendeten und
künstlerisch wohlgegliederten Bildern die verschiednen Entwicklungsstufen der thürin¬
gischen Universitätsstadt schildert. „Was Jena ist, ist es durch seine Universität.
Keine andre Stadt kann das von sich sagen." Dieser Gedanke, mit dem das Werk
beginnt, beherrscht die gesamte Darstellung, die eine innige Liebe und Verehrung
der Alma, iNÄtsi' durchtränkt, ohne aber je der geschichtlichen Genauigkeit Abbruch
zu tun. Von der vor Gründung der Universität historisch unbedeutenden Landstadt
Jena ausgehend, folgt die Geschichte der nnter so schwierigen Zeitumständen durch¬
geführten Errichtung der neuen Pflegcstä'ete der evangelischen Theologie dnrch Johann
Friedrich und seine Söhne. Sie nimmt an dem Verfall des folgenden Zeitraums
teil, bis Ende des siebzehnten Jahrhunderts Mathematik und Naturwissenschaften
frischen Geist in die verknöcherte Gelehrsamkeit einführen und wieder eine Jahr¬
hundert später die deutsche Philosophie unter Kants Schülern und Nachfolger»
Reinhold, Fichte und Schelling eine neue Morgenröte über Jena aufgehn läßt.
Dazu gesellt sich die klassische Periode der persönlichen Einwirkung Karl Augusts,
Schillers und Goethes und der Einfluß des Kreises der Romantiker. Aber alles
bricht zusammen mit Deutschlands tiefster Erniedrigung, die die Schlacht von Jena
einleitet. Die Not des Vaterlands zeitigt aus dem Samen, den große Geister in die
Herzen der Jugend gesäet haben, eine goldne nationale Frucht; als der König von
Preußen den Ruf an sein Volk erlassen hat, zieht die ganze Landsmannschaft
Vandalia nach Breslau zum Lützowschen Freikorps, andre folgen später dem Rufe
des Vaterlands. Die Studenten kommen aus Frankreich als Männer heim und be¬
ginnen, das studentische Leben mit vaterländischer Gesinnung zu erfüllen. Jena war
dabei „der denkende Kopf und das treibende Herz", hier wurde die deutsche Burschen¬
schaft gegründet mit den Farben der Vandalia schwarz-rot-gold, da sie am meisten
für die Begründung getan hatte. Heraldische Unkenntnis und die nachmalige Ver¬
folgung der burschenschaftlichen Ideen unter dem Drucke der Heiligen Allianz ließ
lange Zeit hindurch die verpöntem Farben für die des alten deutschen Reichsbanners
gelten. Das dreihundertjährige Jubiläum der Universität siel noch in die Zeit der
Machtlosigkeit unter dem Deutschen Bund, aber das 350jährige Jubiläum steht im
Zeichen des neuen Deutschen Kaiserreichs, für dessen Vorbereitung in der Seele des
Volks gerade die Universität Jena Bedeutendes geleistet hat. Das Werk Borkowskys,
von dem übrigens die Grenzboten vor kurzem (Heft 11 und 13) die „Frühlings¬
tage der Romantik in Jena" gebracht haben, ist eine reiche und lautere Quelle für
die Geschichte dieses interessanten Werdegangs und verdient weit über den Kreis
d
Unsre Leser kennen ohne Zweifel die schönen
Aufsätze, in denen Friedrich Paulsen einerseits den katholischen Philosophen
Willmnnn, den Freiherrn von Hertling und die Enzyklika ?asosncli, andrerseits
Haeckels Welträtsel kritisiert. Ihre volle Wirkung werden diese Arbeiten erst jetzt
erreichen, wo sie uns der Verfasser unter dem Titel: knilosopnia militans.
Gegen Klerikalismus und Naturalismus (Berlin, Reuter und Reichard, 1908)
gesammelt vorlegt. Da ich sie als bekannt voraussetze, brauche ich ihren Inhalt
nicht zu skizzieren. Ich möchte nur die Aufmerksamkeit auf zwei Stellen seiner
nach rechts gerichteten Polemik lenken: auf den (freilich schon oft geführten) Nach¬
weis, daß es eben das Prinzip des Katholizismus (vielmehr des Ultramontanismus)
ist, was die von den gebildeten Katholiken selbst so lebhaft beklagte Rückständigkeit
Verschuldet, und auf die vortreffliche Beleuchtung des neusten vatikanischen Feld-
Zugs gegen die moderne wissenschaftliche Forschung. Der Papst täusche sich in
verhängnisvoller Weise, wenn er die Reformbestrebungen katholischer Geistlichen
und Laien auf Neuerungssucht, Eitelkeit und ähnliche kleinliche Motive zurückführe.
Sie gingen aus wahrer und tiefer Herzensangst und Gewissensnot hervor: aus
dem Schmerz und der Scham über die ultramontane Veräußerlichung der Religion
und deren Ausartung in wüsten Aberglauben, aus der wissenschaftlichen Überzeugung
von der Unhaltbarkeit des starren Jnspirationsglaubens, aus der Betrübnis darüber,
ausgeschlossen zu sein vom geistigen und politischen Leben der Nation. Für das
Verhalten des Staates gegenüber etwaigen Angriffen der Bischöfe auf die akademische
Lehrfreiheit stellt Paulsen die richtigen Grundsätze auf. Was Haeckel betrifft/ so
bedauert er wie wir, daß dieser sich nicht auf sein Fach beschränke, worin er aus¬
gezeichnetes leiste, sondern mit unzulänglicher Ausrüstung in andre wissenschaftliche
Gebiete einbreche, in denen er sich nur Blamagen hole. Paulsen prüft natürlich
vor allem Haeckels „Philosophie" und weist ihm u. a. nach, daß er von Spinoza,
auf den er sich beruft, und von Kant, gegen den er Polemisiert, keine Ahnung hat.
Eine Stelle scheint mir jedoch bedenklich zu sein. Ganz richtig meint Paulsen,
Haeckel habe mit seinen „Welträtseln" den Ultraniontanen eine neue Waffe geliefert,
da sie sagen würden: hier sieht man, wohin die freie Forschung und die protestantische
Philosophie führen! Aber er macht dem Naturalismus Konzessionen, die den
gläubigen Christen, nicht bloß den katholischen, zu denselben Schlußfolgerungen
berechtigen. Er zählt Seite 153 die Prinzipien auf, in denen er mit Haeckel
übereinstimmt, und schreibt unter anderm: „Ich glaube auch nicht an eine besondre
unsterbliche Seelensubstanz, . . . noch glaube ich, daß überhaupt die Welt einmal
von einem menschenähnlichen Einzelwesen in ähnlicher Art wie ein Produkt mensch¬
licher Kunst hervorgebracht worden ist: in der physischen Welt gilt es, ausschließlich
aus physischen Kräften zu erklären, ohne Einmischung über- oder außerphysischer
Wesen und Kräfte." Und er weist als unhaltbar die Ansicht Wasmanns zurück,
wonach die Entwicklungslehre nur für die Tierwelt und allenfalls für den Leib
des Menschen gelten soll, nicht aber für seine Seele, die eine unmittelbare Schöpfung
Gottes sei. Nicht Haeckels Prinzipien bekämpfe er, sondern nur die daraus ge¬
zognen Folgerungen. Mir scheinen diese Folgerungen so unvermeidlich zu sein,
daß man ihnen nur durch die Ablehnung der Prinzipien entgehn kann, zu denen
sich Paulsen in den angeführten Sätzen bekennt. Und dieser selbst sieht sich ge¬
nötigt, jenen Prinzipien abzusagen, um die daraus gezognen praktischen Folgerungen
wirksam bekämpfen zu können. Zugleich mit der kliilosoxki» rutilans hat er
(in demselben Verlag) unter dem Titel Moderne Erziehung und geschlechtliche Sittlich¬
keit" eine Reihe vortrefflicher Aufsätze herausgegeben, in denen er die heute be¬
liebten Angriffe auf die Schule und die Lehrer zurückweist, die Verhätschelung und
sittliche Verweichlichung der Jugend und die Erziehungsreformer vom Schlage der
Ellen Key und Ludwig Gurlitts energisch bekämpft und die — wenigstens in der
Literatur, wenn auch glücklicherweise noch nicht im Leben — eingerissene sittliche
Verwilderung beklagt. Diese nun führt er auf den in der Welt- und Lebens¬
anschauung herrschenden Naturalismus zurück. „Ist der Mensch nichts als ein
System Von Naturtrieben, darin allen übrigen Lebewesen gleichend, so ist in der
Tat nicht abzusehen, was für eine andre Bestimmung das Leben haben sollte als
die Befriedigung aller Triebe." Was in aller Welt kann denn der Mensch, wenn
er nicht ein bloßes System von Naturtrieben und nicht allen übrigen Lebewesen
gleich sein soll, sonst noch sein, als ein aus einem tierischen Leibe und einer un¬
sterblichen, biologisch nicht zu erklärenden Seele zusammengesetztes Wesen, für das
er von den alten Philosophen und von den christlichen Theologen, aber auch noch
von Kant gehalten worden ist? Wenn Paulsen nicht auf den Kampf gegen Haeckel
und die Erotiker verzichten will, wird er eben in Beziehung auf die zwei oben ange¬
füh
Unter dem Titel Der Sinn des Lebens hat Jo¬
hannes Höffner drei durch einen reichen und mannigfaltigen Stimmungsgehalt
ausgezeichnete Novellen vereinigt: Das Moor — Ein Brief — Der Berg der
Reue (Berlin, Fontane und Co., 1908).
Es sind stark anregende Geschichten, und ihr Ton klingt nach. Ich habe,
während ich las, immerfort über das Gelesene hinausdenken und neben dem Weg,
den mich der Dichter führte, noch nach einem andern, eignen Wege, den Menschen
und Dingen, die das Buch füllen, nahezukommen, suchen müssen, und als ich das
Buch aus der Hand legte, da lag es vor meinem Auge wie ein Wolkenbild in
verschwimmenden Konturen: das Geheimnis des Lebens, dessen Sinn wir, glauben
wir ihn auch einen Augenblick gefunden zu haben, immer von neuem suchen müssen.
Die Personenschilderung bringt viel von feiner Seelenkunde und offenbart besondres
Verständnis für das, was im Dämmergruude des menschlichen Bewußtseins lange
gehalten und gebunden verborgen liegt, aber sich eines Tages loslöst, und un¬
heimlich emporsteigend, die ganze Seele überduukelt. Sehr schön ist vielfach das Weben
und Leben der Natur in die Welt der menschlichen Dinge hineingezogen. Die
zweite Erzählung bringt auch helle Bilder von grünen Matten, schäumenden
Wassern und rauschenden Wäldern, die Grundstimmung aber, die über allen Er¬
zählungen liegt, tritt doch am kräftigsten in der ersten Erzählung hervor: die
Moorlandschaft rin der weichen, verschleierten Luft über dem dunkeln Wasser,
geheimnisvoll wie die Menschenseele selbst. „Die Ernster, die Philosophen und
melancholisch Veranlagten, so heißt es in dieser Novelle, gehn noch immer ins
Moor und beobachten das wunderbare, bauende, schaffende Leben in dem klaren
und doch so unheimlich dunkeln Wasser und sinnen über die Geheimnisse nach, die
seit Jahrtausenden dort unten verborgen liegen, und die sie doch ebensowenig er¬
gründen können wie das Geheimnis der Menschheit und ihres Lebens."
Das deutsche Volkslied von Otto Böckel (Elwert, Marburg). Vor kurzem
erst konnten die Grenzboten ein Werk desselben Verfassers empfehlen, seine Psycho¬
logie des Volkslieds. Sein neues Buch stellt sich als die vierte, gänzlich neu ge¬
staltete Ausgabe vou A. F. C. Vilmars Handbüchlein für Freunde des deutschen
Volkslieds vor. Auf dem Fundament des ursprünglichen Werkes ist in der
Tat ein ganz neues Haus aufgebaut und das Schönste und Eigenartigste der
deutschen Volksdichtung darin untergebracht worden. Der Verfasser behandelt zu¬
nächst ausführlich Art und Werden des Volkslieds, wie er es schon in seiner
Psychologie des Volkslieds getan hat. und läßt dann das Volkslied selbst an uns
vorüberziehn. Mythische Volkslieder, Volkslieder mit geschichtlichem Hintergrund,
Legenden und Balladen und das eigentlich lyrische Volkslied, wir lernen es kennen
und hören seinen feinen Klang. Wir können auch dieses Buch jedem Freunde der
me ähnliche Bedeutung, wie sie im Osten dem Suezkanal für
das britische Weltreich zufällt, haben im Westen in Kanada die
transozeanischen Eisenbahnen. Wie der Kanal das Mittelländische
Meer mit dem Indischen Ozean verbindet, so bildet die Pazifische
Bahn eine Verbindung des Atlantischen mit dem Stillen Ozean;
dabei ist diese großartige Verbindungslinie, vom britischen Standpunkt aus be¬
trachtet, weit sicherer als der Suezkanal, da sie ausschließlich britischer Besitz ist.
Die Gründe, die seinerzeit zum Bau der Pazifischen Bahn geführt haben,
sind nicht allzusehr verschieden von denen, die Lord Beaconsfield für die Er¬
werbung der Suezkanalaktien dem britischen Parlament auseinandersetzte. Es
waren in beiden Fällen zuvörderst Gesichtspunkte der Reichspolitik, die dem
Interesse des britischen Weltreichs galten, maßgebend.
Sir John Macdonald führte damals aus: „Ich empfehle dieses große
Unternehmen nicht aus finanziellen Gründen, obwohl ich glaube, daß seine
Zukunft finanziell gesichert ist, sondern aus ernsten Gründen staatlicher Politik,
da diese Eisenbahn nach ihrer Fertigstellung den Westen und den Osten des
kanadischen Herrschaftsgebiets miteinander verbindet, da sie einen vorwiegenden
Anteil um Handel mit China und Japan sicherstellt, und da sie den un¬
gestörte» Durchzug britischer Truppen für den Fall einer Sperrung der Mittel¬
meerstraße durch Feinde Großbritanniens gewährleistet."
Hat sich auch die Flottenstärkc Englands, seit diese Worte gesprochen
wurden, im Verhältnis zu der der andern europäischen Mächte annähernd
verdreifacht, und ist auch die Vorherrschaft Großbritanniens im Mittelmeer
Zurzeit unbestritten, so hat sich doch die Wahrheit dieser Worte erprobt. Die
herrschende Stellung der kanadischen Pazifikbahn ist ein Triumph der Staats¬
kunst über kurzsichtige Sparsamkeit. Als der zwischen der kanadischen Negierung
und dem zur finanziellen Unterstützung der neuen Eisenbahn gebildeten Syndikat
abgeschlossene Vertrag im Jahre 1880 veröffentlicht wurde, stieß er von allen
Seiten auf den heftigsten Widerstand. Dieselben Beweisgründe, die Gladstone
gegen den Ankauf der Suezkanalaktien ins Feld führte, wurden von neuem
hervorgeholt gegen diese Vereinigung der Regierung mit einigen Kapitalisten,
die den Zweck hatte, ein Unternehmen zu ermöglichen, das doch schließlich für
den Staat und für die Öffentlichkeit gleich wertvoll wurde.
Sir John Macdonald und seine Freunde blieben fest. Die Gesellschaft
erhielt eine Geldunterstützung von 100 Millionen Mark und ein Zugeständnis
an Land von 10 Millionen Hektar. Zwei Abschnitte der Linie, die westliche
von Kamloops nach Vancouver in einer Ausdehnung von 345 Kilometer und
die Seenstrecke vom Lake Superior bis Winnipeg in einer Länge von 653 Kilo¬
metern wurden von der Negierung erbaut und der Gesellschaft umsonst über¬
geben. Durch dieses Zusammenwirken staatlicher Tätigkeit mit privater Unter¬
nehmungslust wurde es möglich, alle Hindernisse zu überwinden.
Heute verbindet die kanadische Pazifikbahn bei ihrer Durchquerung des
ganzen nordamerikanischen Weltteils von Weltmeer zu Weltmeer Montreal
im Osten mit Vancouver an der Küste Britisch-Kolnmbiens, zwei Städte, die
rund 4650 Kilometer voneinander entfernt sind. Die Entfernung von der
Mirte Englands nach Japan, China und den Küsten des Stillen Ozeans ist
auf diesem Wege um 1600 bis 2000 Kilometer geringer als auf irgend¬
einem andern.
Die gesamte Lauge der Bahnlinie betrügt 14600 Kilometer; beinahe
500 Kilometer sind in den harten Felsen gehauen. In viereinhalb Jahren wurde
die Bahn hergestellt mit einer Durchschnittsleistung von vier Kilometern im
Tage. Der letzte Schienennagel wurde am 7. November 1885 eingeschlagen,
und am 28. Juni 1886 konnte die Bahnlinie dem allgemeinen Verkehr von
Ozean zu Ozean übergeben werden, sechs Jahre nach der Unterzeichnung des
Vertrags und somit fünf Jahre früher, als in dem Vertrag festgesetzt
worden war.
Seit der Eröffnung hat die kanadische Pazifische Eisenbahn eine fast un-
unterbrochne Blütezeit aufzuweisen. Mit Ausnahme der Jahre 1894 bis 1896,
die einen finanziellen Tiefstand über den ganzen amerikanischen Kontinent
brachten, konnten sämtliche Verbindlichkeiten ans den Einnahmen gedeckt werden.
Im Jahre 1886 betrug die Dividende auf die gewöhnlichen Aktien 3 vom
Hundert; heute können 6 vom Hundert bezahlt werden. Das mit dem
30. Juni 1906 endigende Jahr hat beispiellos günstig abgeschlossen; nach
Deckung sämtlicher Unkosten konnte eine Summe von 33^ Millionen Mark
gutgeschrieben werden. Aus dieser Summe beschloß dann eine Versammlung
des Direktoriums eine besondre Dividende von 1 vom Hundert auszubezahlen,
sodaß also die Dividende im ganzen 7 vom Hundert betrug. Die Aktien
standen am 29. Dezember 1906 ans 200^.
Die Gesellschaft besitzt noch immer eine Fläche von beinahe 7 Millionen
Hektar, die einen Wert von über 600 Millionen Mark darstellt, und hat außerdem
an der Bahnlinie entlang zahlreiche Hotels, die einen jährlich steigenden
Nutzen abwerfen. Die gewöhnlichen Aktien, die im Jahre 1899 unter Pari
standen, hatten am 29. Dezember 1906 eine Höhe von 200^ erreicht und
können ihren Besitzern eine Dividende von über 10 Prozent einbringen. Anfangs
ein Schmerzenskind der Regierung, hat sich die kanadische Pazifikbahn durch
ein Zusammentreffen patriotischen Eifers, privater Bemühungen und kluger
Verwaltungstätigkeit das Vertrauen des Publikums erworben und gehört heute
zu den wertvollsten Besitztümern des britischen Reiches.
Inzwischen sind nun auch zwei andre Gesellschaften dem Beispiel der
Pazifikbahn gefolgt, ohne jedoch mit ihren wohldurchdachten Plänen für weitere
transkontinentale Eisenbahnverbindungen mit jener anders als auf dem Gebiete
der Postbeförderung in Wettbewerb zu treten, da sie Gebiete durchziehen, die
bis jetzt so gut wie nicht von Eisenbahnen berührt werden. Es handelt sich
um die Pazifische große Hauptbahn ((Ä-ma IrunK?a<zill<z) und um die kanadische
Nordbahn (LaiuMs-u Uortllorv).
Die neue Grand Trunklinie nimmt ihren Anfang in der Nähe von
Moncton an der Südküste des Se. Lorenzgolfs, durchschreitet zunächst Quebec
»ut dann die Provinz Ontario bis Winnipeg, von wo sie in nordwestlicher
Richtung durch Edmonton und weiterhin über den Uellow Headpaß in den
Rocky Mountains zu ihrem Endpunkt am Stillen Ozean in Prince Rupert
(40 Kilometer südlich von Port Simpson und etwa 80 Kilometer nördlich von
Vancouver) gelangt. Mit Ausnahme von Winnipeg ist diese neue Linie von
der kanadischen Pazifikbahn durchschnittlich etwa 300 Kilometer entfernt. Die
Gesamtkosten dieser Bahn belaufen sich auf gegen 510 Millionen Mark. Die
staatliche Regierung hat es auf sich genommen, den östlichen Teil vom At¬
lantischen Ozean bis Winnipeg zu bauen, während die Gesellschaft den west¬
lichen Teil von hier bis zur pazifischen Küste herstellt. Es wird zurzeit auf
der ganzen Linie gearbeitet, und man hofft, den Verkehr von Ozean zu Ozean
im Jahre 1911 aufnehmen zu können. Nach ihrer Vollendung wird die öst¬
liche Strecke der Kompagnie für die Dauer von fünfzig Jahren pachtweise
überlassen. Für die ersten sieben Jahre braucht die Kompagnie keine Pacht
zu bezahlen, für die übrigen dreiundvierzig Jahre jedoch hat sie die Herstellungs¬
kosten mit 3 vom Hundert zu verzinsen. Auch für den Bau der westlichen
Strecke gewährt die staatliche Regierung der Gesellschaft eine finanzielle Unter¬
stützung. Die Negierung der Provinz Ontario hat der Gesellschaft 270000
Hektar bewilligt mit der Bedingung, daß sie eine Zweiglinie nach der Spitze
des Lake Superior bauen muß.
Jokohama ist gegen 670 Kilometer näher bei Prince Rupert als bei
Vancouver, die Landstrecke von Quebec nach Prince Rupert etliche 350 Kilo¬
meter länger mit der Grand Trunklinie als die Strecke der Pazifikbahu nach
Vancouver. Somit verkürzt sich die Reise von London nach Jokohmna auf
der Linie Quebec-Prince Rupert um etwa 230 Kilometer gegen die Strecke
Quebec-Vancouver.
Nach Fertigstellung der Hauptlinie von Ozean zu Ozean sollen dann auch
Zweiglinien nach Dawson in der Provinz Anton und nach Fort Churchill an
der Hudson-Bay errichtet werden. Das gesamte Netz dieser neuen Bahn wird
dann eine Länge von rund 8300 Kilometer haben.
Auch die kanadische Nordbahngesellschaft ist mit Eifer am Werk. Ihre
Linie beginnt mit einer Strecke von Port Arthur am Westende des Lake Superior
bei Winnipeg. Zwei Abschnitte dieser Strecke wurden im Jahre 1906 fertig¬
gestellt, die eine von Winnipeg bis Edmonton in der neuen Provinz Alberta,
die andre von Winnipeg bis Prince Albert in Saskatschewan. Es besteht
ferner die Absicht, die Linie von Edmonton nach der Küste weiterzuführen,
und außerdem ist eine Verbindungsstrecke vom Se. Lorcnzgolf nach Port Arthur
im Bau, wodurch dann eine dritte durchlaufende Verbindungslinie zwischen
dem Atlantischen und dem Pazifischen Ozean zustande käme. Auch besteht die
Absicht, die Hudson-Bay mit der Hauptlinie durch Zweigbahnen zu verbinden,
deren eine von Prince Albert nach Fort Churchill, die andre von Toronto nach
James Bay am äußerstem Südende der Hudson-Bay geführt werden soll. Das
Gesamtnetz dieser Bahn hat eine Länge von 6300 Kilometer.
Die Durchführung dieses Planes wird für die jährlich zunehmende Ge¬
treideausfuhr aus den Nordwestprovinzen einen neuen Weg eröffne«. Zunächst
muß die gesamte Getreideausfuhr dank der ungünstigen Lage der Mcmitoba-
secn, die in einer nordsüdlichen Ausdehnung von beinahe 500 Kilometern
quer zur Verkehrsstraße von Westen nach Osten liegen, südlich vou den Seen
durch Winnipeg geführt werden, wo nach und nach der Verkehr immer mehr
ins Stocken gerät.
Welche ungeheure Mengen von Getreide hier produziert werden, und
welche günstige Aussichten für die Zukunft vorhanden sind, zeigt die offizielle Mit¬
teilung aus dem Jahre 1905, wonach die Provinzen Manitoba, Saskatschewan
und Alberta, in denen weniger als 10 vom Hundert des Grund und Bodens
bebaut ist, im Jahre 1905 eine Ernte von annähernd 95 Millionen Scheffel
Weizen ertragen haben.
Daß solche Mengen eine glatte Durchfuhr zunächst nicht möglich machen,
leuchtet ein; es ist deshalb eine baldige Erleichterung durch Eröffnung neuer
Verkehrswege nötig, und diese wird am besten erreicht durch die Herstellung
von Verbindungen mit der Hudson-Bay, die während vier Monaten im Jahre
eisfrei ist.
Schließlich liegt noch ein weiterer Plan für eine Eisenbahnverbindung
von Ozean zu Ozean vor. Der Transkanadischcn Eisenbahngesellschaft wurde
im Jahre 1895 ein Vorrecht für eine nördliche Linie von Quebec uach Port
Simpson erteilt. Diese Linie würde etwa 130 Kilometer südlich von der
Hudson-Bay, nach der eine Zweiglinie abgezweigt werden soll, vorbeiführen
und dann nördlich vom Winnipegsee durch die öden Seenflächen in den nörd¬
lichen Teilen der Provinzen Alberta und Saskatschewcm bis nach der Westküste
geführt werden. Dieser Plan ist jedoch noch nicht über die einleitenden
Schritte hinausgediehen.
Mit berechtigtem Stolz schaut Kanada auf die bedeutenden Fortschritte
seiner Verkehrseinrichtungen. Den kanadischen Staatsmännern schwebt als
Ziel für die Zukunft vor, dereinst den Handel mit China und Japan in großem
Maßstabe durch ihr Land zu leiten. Züge mit Reisenden, mit Getreide und
Mehl sehen sie in endloser Reihe nach der Westküste rollen, um von dort be¬
laden mit neuen Reisenden, mit Tee und Seide zurückzukehren und so die Ver¬
bindung mit allen Teilen der zivilisierten Welt zu vermitteln.
Für das britische Weltreich aber haben die großen Eisenbahnlinien von
Ozean zu Ozean nicht nnr eine dem Handel und Verkehr zugute kommende
Bedeutung; sie sind ebenso wie der Suezkanal eine Anlage von hoher stra¬
tegischer Wichtigkeit. Ein so ungeheures Gebiet wie das britische Weltreich
kann nur geleitet und vor allem geschützt werden, wenn zahlreiche, sicher ar¬
beitende Verkehrswege zur Verfügung stehn, die es ermöglichen, auch so un¬
geheure Entfernungen in der kürzesten Zeit zurückzulegen. Jede Förderung des
Weltverkehrs auf britischen Boden oder in britischen Einflußgebiet bedeutet
zugleich eine Stärkung des britischen Weltreichs, jede Neuschaffung oder Ver¬
besserung von Wclthandclsstraßen durch die Kolonien aber eine Stärkung
des Rcichsgedcmkens, des imperialistischen Prinzips.
> cum es dem Werte oder der Wirkung eines bedeutenden Buches
schaden würde, wenn erst längere Zeit nach seinem Erscheinen
weitere Kreise auf das Werk hingewiesen werden, so müßte sich
der Verfasser eines Versäumnisses gegenüber Rems „Japan"
I schuldig bekennen. Ein besseres Zeugnis für den hohen Wert
des Buches wird es indes sein, wenn ich erst nach einem Jahre möglichst
umsichtiger Vorbereitung es wage, an dieses Buch einige Bemerkungen über
gewisse Fragen der Japanforschung anzuknüpfen.
Eine kritische Besprechung des Werkes, die auf mancherlei Einzelfragen
eingehn müßte, wird hier nicht erwartet werden. Besonders für ethno¬
graphische und sprachwissenschaftliche Probleme, die auf dem Boden Japans
ungemein verwickelt und noch vielfach strittig sind, dürfte hier nicht der Ort
sein. Auch auf manches gehaltvolle Kapitel des Werkes kann hier nur hin¬
gewiesen werden. Dem Verfasser steht es nicht zu, Gebiete der Forschung
zu betreten, die außerhalb seines wissenschaftlichen Bildungsbereichs liegen.
Und schwerlich wird sich ein Gelehrter finden, der aus eignem Vermögen den
ganzen Umfang der hier geleisteten Arbeit zu prüfen vermöchte. Ich kann
in der Tat die Besprechung von Rems „Japan" nur mit dem Ausdruck der
größten Bewunderung für den Reichtum des hier Gebotnen einleiten. Natur
und Volkstum Japans sind hier nach allen Seiten hin dargestellt, wie es
nur nach eindringendster, langjähriger Arbeit und bei einer erstaunlichen Viel¬
seitigkeit des Könnens möglich ist. Auf irgendeinem Gebiet wird sich wohl
jeder Leser des Buches dem Verfasser gegenüber als Lernender bekennen
müssen. Denn es ist eine Leistung von ungewöhnlicher Größe, die hier in der
fast gleichmäßigen Durchdringung und Bewältigung der verschiedensten Wissens¬
gebiete vorliegt. Der erste Band führt den Sondertitel „Natur und Volk
des Mikadoreiches". Der erste Teil behandelt die physische Geographie des
Landes. Die Schilderung des geologischen Aufbaus bildet dabei die Voraus¬
setzung für die physikalische Beschreibung („Physiographie"). Ein besonders
intensives Studium zeigen die Abschnitte über das Klima, die Flora und
Fauna der japanischen Inseln. Schon die Bewältigung dieser Stoffe ist eine
achtunggebietende Leistung, aber hier redet immer noch der Geograph. Im
zweiten Abschnitt aber, der das japanische Volk behandelt, betritt Professor
Nein die Gebiete der Geschichte, der Anthropologie und der Ethnographie
und wendet sich in diesem Zusammenhange auch den Fragen der Sprach¬
wissenschaft, der Literatur- und Religionsgeschichte zu. Gewiß lassen sich hier
im einzelnen Einwände erheben, das kann aber nichts an dem Urteil ändern,
daß sich der Geograph in diese Gebiete mit umfassender Literaturkenntnis
und feinem Verständnis eingearbeitet hat. Er darf dafür des Dankes seiner
historisch und philologisch interessierten Leser wie der wenigen Japanforscher in
Europa sicher sein.
Bei alledem bedeutet dieser erste Band nur die Vorbereitung für den
zweiten Band, dessen erste Auflage 1836 erschienen ist, und dem man ebenso
wie dem ersten eine zweite Auflage wünschen möchte. Denn das Schwer¬
gewicht des Werkes liegt im zweiten Bande. In den Jahren 1874 und 187ö
hatte Rein im Auftrage des preußischen Handelsministeriums Japan bereist,
um die ökonomischen Verhältnisse des Landes, seine Industrie und seinen
Handel zu studieren. Nein hat nicht nur lange wissenschaftliche Studien dieser
Reise vorangehn lassen, sondern erst nach elf Jahren der Arbeit legte er mit
dem zweiten Bande seines Werkes (1886) ihren Ertrag vor. Von sach¬
kundiger Seite wurde das Werk, besonders aber der zweite Band, als die
weitaus bedeutendste Arbeit über Japan anerkannt, gleich wertvoll durch die
Fülle des wissenschaftlichen wie des praktischen Materials. Es ist gewiß das
beste, durch Vielseitigkeit und gründliche Sachkunde ausgezeichnete Werk, das
wir über Japan besitzen. Die zweite, vielfach umgearbeitete und bereicherte
Auflage des ersten Bandes kam ganz zur rechten Zeit, als sich durch die
Politischen Ereignisse mit der stark erregten Aufmerksamkeit auf Japan zugleich
das Gefühl dafür verschärfte, daß wir vom Wesen seines Volkes, von seiner
Geschichte und den im Lande liegenden Kräften doch noch wenig wissen. Bei
den vielfach recht unangenehmen Überraschungen, die das aufstrebende Volk
seinem ältern Lehrmeister Europa bereitet hat, wird eine bessere Orientierung
über Japan von vielen schon als praktisches Bedürfnis empfunden. Die
Urteile über Japan gehn noch weit auseinander — nicht nur in der Tages¬
presse, sondern auch in der wissenschaftlichen Literatur. Und wie die besten
Kenner Japans in Europa sich sehr verschieden stellen, so auch die bedeutendsten
Staatsmänner des heutigen China. Neben Japanerfreunden stehn unter den
Vizekönigen scharfe Gegner des japanischen Einflusses in China, darunter
Politisch hochbegabte, weitschauende Männer. Auf der einen Seite hat sich
der feinsinnige Dichter Lefcadio Hearn ganz in die japanische Psyche versenkt
und ist in ihr Wesen so völlig eingedrungen, daß er — ein großer Künstler —
Wohl das Tiefste und Feinste des fremden Geistes wiederzugeben vermocht hat.
Daneben aber hat C. Spielmann seinen „Weckruf an die europäischen Kon¬
tinentalen" erhoben und die Steigerung der „gelben Gefahr" im Auftreten der
Japaner als besonders bedrohlich hingestellt. Und die praktischen Kenner des
japanischen Lebens — Missionare wie Kaufleute — lassen uns den Japaner
durchaus nicht immer im angenehmsten Lichte erscheinen. Gewiß ist es hier
noch schwieriger als in ähnlichen Fällen, zu einem sichern Urteil siiw ira
et swäio zu kommen. Und je mehr die verschiednen, sich oft widersprechenden
Eigenschaften des japanischen Wesens für uns hervortreten, um so behutsamer
und zurückhaltender wird man im Urteil sein. Vorläufig gilt es noch aus
den allgemeinen Kulturverhältnissen, aus den ethnologischen und historischen
Bedingungen das für uns sehr fremdartige Wesen dieses Volkstums wissen¬
schaftlich verstehn zu lernen. Und eben dafür ist Rems großes Werk durch
einen zweifachen Vorzug von höchstem Werte: es vereinigt in sich die wissen¬
schaftliche, allseitige Durchdringung des Gegenstandes mit praktischem Ver¬
ständnis für die Realitäten des japanischen Lebens, für den ganzen Wirklich¬
keitsgehalt in den Zuständen wie in den Leistungen des Volkes.
Manche Erscheinungen des japanischen Wesens, die trotz aller Rassen¬
mischung fest gefügte Einheitlichkeit des Volkes, der hochgesteigerte nationale
Sinn, die außerordentliche Tapferkeit und der Freiheitssinn bei nahezu unbe¬
grenzter Unterordnung des Individuums unter die Stammesgemeinschaft, dies
^>le mancher andre Zug mag teilweise auf den erzieherischen Einfluß der
insularen Natur des Landes zurückgehn. Die Anschauung, daß sich Japan
bis zu seiner Europäisierung gänzlich gegen die Außenwelt abgeschlossen habe,
ist freilich nicht haltbar. Zu Korea und zu China haben früh Beziehungen
bestanden.
Für diesen kulturgeschichtlich bestimmenden Zusammenhang haben wir
schon in dem Namen „Japan" ein merkwürdiges Zeugnis. Aus sehr ver-
schiednen, teilweise recht entlegnen Quellen läßt sich eine Geschichte des Namens
gewinnen. Wir können vier Namen des Landes nachweisen. Die Chinesen — die
„Ethnographie der fremden Völker" von Ma Tuan-lin (13. Jahrhundert) ist die
wertvolle Quelle — bezeichnen die Japaner mit Mg,. Bei den arabischen
Geographen heißt das Land 'W^KwaK. Marco Polo nannte es AipanFu,
woraus unser Japan entstanden ist. Die herrschend gewordne Bezeichnung ist
Mxcm oder Ninon. Nur dieser Name ist aus dem Japanischen zu erklären;
er ist zusammengesetzt aus nioni — Sonne und Kor — Ursprung, bedeutet
also „Sonnenaufgang". Schon daraus ergibt sich, daß diese Benennung nicht
im Lande selbst ihren Ursprung haben kann. Nur für ein westlich liegendes
Gebiet kann Japan das „Land des Sonnenaufgangs" sein. Die Geschichte
des Namens ist mit Hilfe einer Angabe des Annalenwerkes „Nihongi" von
Haas aufgeklärt worden. Er ist zuerst 621 in Korea nachweisbar. Damals
veranstaltete der koreanische Priester Weji eine Totenfeier für den japanischen
Prinzen Shötoku-taishi, den eigentlichen Begründer des Buddhismus in Japan,
der zugleich sein Schüler gewesen war. Dabei bezeichnete Weji Japan als
„Land der aufgehenden Sonne". Das muß ein absichtlicher Ersatz für das
gebräuchliche chinesische Wa, sein. Dieses Wort wird nämlich mit einem
chinesischen Zeichen geschrieben, das „Sklave" bedeutet. Darüber scheint Weji
den Prinzen aufgeklärt zu haben; denn dieser brauchte selbst die Bezeichnung
Nipon in einem Briefe, den er wahrscheinlich 607 an den chinesischen
Kaiser richtete. Die Benennung bei den Arabern ist durch den
größten Kenner der arabischen Geographen, durch de Goeje in Leiden, auf
Japan gedeutet worden. Die Araber sind freilich nach ausdrücklicher Angabe
eines arabischen Geographen niemals selbst nach Japan gelangt, wohl aber
gab es auf Korea vereinzelte arabische Ansiedler. Der arabische Seeverkehr
war seit 700 an der südchinesischen Küste recht lebhaft. Schon um 700 war
Canton als Handelshafen geöffnet; bereits 758 bestand hier eine große
arabische und persische Kolonie, die 795 nach Kambodscha auswanderte. Im
neunten Jahrhundert trieben die Araber lebhaften Seehandel nach der süd¬
chinesischen Stadt Khanfu. Offenbar durch chinesische Kaufleute haben sie
etwas über Japan erfahren, und aus dem südchinesischen Sprachgebiet ist
auch der arabische Name MaKvglc zu erklären. Er zeigt noch den ältern
Ausland, der bei Marco Polo schon abgefallen ist; denn das Wort ist
zusammengesetzt aus dem Volksnamen ^Va und dem altchinesischen IcuoK
„Land", bedeutet also einfach „Land der Wa". Dieser Name ist auch ins
Japanische übergegangen in der Form Wakoku. Was die Araber über Japan
melden, ist recht interessant; die Sagen von dem ungeheuern Goldreichtum des
Landes vernahm noch Marco Polo. Nur eine Nachricht ist ganz seltsam. Un¬
zweifelhaft melden arabische Quellen, daß von „Wakwak" aus im Jahre 945
ein Zug nach Ostafrika unternommen wurde. Vergeblich suchte de Goeje in
japanischen Quellen nach einem Berichte über dies höchst merkwürdige Unter¬
nehmen. Es hat sich indes herausgestellt, daß unter dem „Wakwak des
Südens" Madagaskar zu verstehn ist.
Am bekanntesten ist das AipaiiKu des Marco Polo (1295), wie die
richtige Form lautet, die in den Handschriften vielfach entstellt ist. Hier ist
zunächst nach der venezianischen Aussprache seiner Zeit „Zi" als „Dschi" zu
sprechen. Dann ergibt sich die chinesische Benennung DsolM-xsu-Kuo, „Land
des Sonnenaufgangs". Hier ist Kuo dasselbe Wort, das uns in seiner ältern
Form KuoK in Wa-tuot begegnet ist. So bekunden schon die verschiednen
Landesnamen einen Verkehr Japans mit Korea und dem nördlichen China
wie mit Südchina, wo Japan in den Gesichtskreis der Araber trat. Von
hier aus haben die Portugiesen als die ersten Europäer 1542 das Land selbst,
wie es scheint zuerst zufällig, erreicht.
Ein Problem von besondrer Schwierigkeit ist die ethnographische Stellung
der Japaner. Die geschichtliche Überlieferung der Japaner über die älteste
Zeit ist nicht nur sagenhaft — aus der Sage lassen sich oft historische Er¬
kenntnisse gewinnen —, sondern vor allem künstlich zurechtgemachte Legende.
Die Sprache weist die Japaner zweifellos der altaischen Sprachfamilie zu.
Aber unfraglich verdeckt die sprachliche Einheit hier sehr verschiedenartige
ethnographische Bestandteile. In langjährigen, sehr sorgsamen anthropologischen
Untersuchungen ist der Mediziner Dr. E. Baelz aus Stuttgart, Professor an
der Universität Tokyo, zu dem Ergebnis gelangt, daß die Japaner, anthro¬
pologisch betrachtet, ein Mischvolk sind. Vielleicht ist der eine Zug der Sage
zu verwerten, daß die Stämme aus der südlichen Insel Kyushu nach dem
Norden vorgedrungen sind. Daß eine Invasion von Süden her erfolgt ist,
ergibt sich ans der Verdrängung der Urbewohner, der Ainu, nach dem äußersten
Norden. Sie saßen ursprünglich auch im Süden, wie ihre Spuren auf den
Liu-lin-Inseln zeigen. Die entscheidenden Ergebnisse über die Anthropologie
der Japaner, wie sie Baelz gewonnen hat, übernimmt auch Rein. Baelz
unterscheidet drei Rassentypen: die Ainu, die als Urbewohner Japans zu be¬
trachten sind, die Mandschukoreaner, die von Korea aus durch die kalte Polar¬
strömung an die Südwestspitze der größten Insel getrieben wurden, und die
Malaien, die von der nordwärts gehenden Äquatorialströmung über die
Philippinen, Formosa, Linkiu nach der südlichen Insel Kyushu geführt wurden.
Der Hauptarm dieser Strömung berührt die Provinz Hyuga, und gerade
hierher verlegt die japanische Überlieferung die Gründung des Reiches durch
den ersten Kaiser.
Der Volkscharakter der Japaner ist eine der merkwürdigsten Erscheinungen,
in denen sich das geistige und moralische Wesen des Menschen bekundet. Durch
die Jnselnatur des Landes wie durch die politische Unabhängigkeit, die dieses
tapfere Volk immer zu behaupten gewußt hat, ist ihm ein geschlossener, ein¬
heitlicher und zäh behaupteter Nationalcharakter aufgeprägt worden. Die
Elemente aber, aus denen er sich aufbaut, stehn scheinbar im schroffsten
Widerspruche. So ist das Problem der japanischen Volksseele neuerdings
mehrfach und in sehr entgegengesetzter Weise erörtert worden. Munzingers Wort
„Jeder Japaner ist ein Rätsel" spricht am besten die Schwierigkeit aus, die der
Erfassung und gerechten Würdigung des japanischen Volksgeistes entgegensteht.
Rein hat eine recht günstige Meinung auf Grund seiner Neiseerfah-
rungen über die Japaner gewonnen, betont aber ihren Mangel an Stetig¬
keit und Ausdauer, der ganz im Gegensatz zum chinesischen Charakter steht.
Eine sehr scharfe Kritik' hat ten Kate (im „Globus" Band 82) an den
Japanern geübt. Auch er verkennt nicht, daß die Charakteristik eines Volkes
oder gar einer Nasse eine ungemein schwierige Aufgabe ist, um so schwieriger,
je ferner uns das fremde Volk steht, und je weniger wir von seiner Geschichte
wirklich wissen. Als Fehler der Nasse bezeichnet ten Kate Mangel an Wahr¬
heitsliebe, an Tiefe des Geistes- und Gemütslebens und die Unfähigkeit, ab¬
strakte Begriffe zu fassen. Den Japaner insbesondre charakterisiere der Mangel
an Individualität, die Suggestibilitüt, die Unstetigkeit und die mangelnde Aus¬
dauer, wozu als moderne Fehler grenzenlose Eitelkeit und Jingoismus kommen.
In ihrer Kultur sind die Japaner ausschließlich fremden Vorbildern, zumal
dem chinesischen, gefolgt. Als Individuum ist der Japaner ein wenig persön¬
lich ausgeprägter Charakter, weshalb er eben fremden Anregungen leicht zu¬
gänglich ist. Die individuellen Unterschiede sind hier körperlich wie geistig
geringer als bei irgendeiner andern Rasse. Die Charakteristik der Javanen,
wie sie Kohlbrugge (1900) gegeben hat, solle auch für die Japaner gelten:
sie sind „gute Reproduktionsmaschinen, ein treuer photographischer Apparat,
oft mit Kunstsinn begabt, aber ohne Initiative, ohne schöpferische Gedanken".
Mit diesen von keinerlei Vorurteilen befangnen, von scharfer Beobachtung
zeugenden Urteilen will ten Kate durchaus sachlich sprechen. Auch andre
Forscher geben zu, daß in ihnen manches Richtige liegt. Vielleicht aber ergibt
ihre verallgemeinernde und formelhafte Darstellung doch uicht ein Bild, das
dem wirklichen Leben entspräche. Einen höchst beachtenswerten Widerspruch hat
vor allem Baelz erhoben (im „Globus" Band 84). Er hat den wertvollen
Gedanken hingestellt, daß man den heutigen Japaner nicht als wahren
Repräsentanten der Volksseele betrachten dürfe. Er ist eine Übergangs¬
erscheinung zwischen zwei heterogenen Zivilisationen und Weltanschauungen.
Daß sich die Geister noch wenig orientiert haben, zeigen manche japanischen
Urteile über die europäische Kultur, wie sie uns etwa in dem an sich nicht
gerade wertvollen Buche „Unser Vaterland Japan" begegnen. Man darf
vielleicht überhaupt nicht ein psychologisches Bild in der Weise entwerfen, wie
es ten Kate tut. Wenn man alle, auch wirklich vorhandnen Mängel in der
Beanlagung eines Volkes gruppiert und nun diese in ihrer Wirkung be¬
trachtet, so entsteht ein verschobnes Bild. Es pflegen sich überall Licht- und
Schattenseiten zu entsprechen. Was nach der einen Seite hin als Mangel
gelten kann, mag bei andrer Ansicht als Vorzug wirken. In hohem Grade
scheint die Individualität im japanischen Leben zurückzutreten. Aber ist sie
vom Standpunkt des nationalen Daseins aus ein Vorzug? Nationen, die
eine reiche Entfaltung des individuellen Wesens erreicht haben, wie Inder
und Perser, Griechen und Italiener, haben dadurch eine eminente Bereicherung
und Verfeinerung ihrer geistigen und künstlerischen Kultur gewonnen; aber
die politische Energie und die moralische Festigkeit der gesellschaftlichen
Ordnung haben zugleich oft verhängnisvolle Einbußen erlitten. Nicht in der
Kultur der Persönlichkeit, sondern im Bestände der Familie und des Staates
sieht der Japaner den höchsten Wert seines Daseins. Was ihm an Indi¬
vidualität mangelt, ersetzt er durch die unbedingte Hingabe für die höhern
Formen der Lebensgemeinschaft. Die Geschichte Japans ist vielfach kaum
verständlich ohne die Geringschätzung des eignen Lebens im Vergleich zur
Ehre der Familie oder des Stammes. Das ist die Wurzel der Tapferkeit,
die das Volk als Ganzes auszeichnet.
Herzlosigkeit und Stumpfsinn nennt ten Kate als Grundzüge des japanischen
Wesens. Das erste ist vielfach richtig, die Japaner sind mindestens ebenso
grausam wie die Chinesen. Seit der ältesten Zeit ist die japanische Ge¬
schichte reich an Fällen, wo Heimtücke und Grausamkeit mit der größten
Gelassenheit geübt werden. Auch Kaisern legt die Überlieferung eine Reihe
empörender Greueltaten zur Last. Nachod hat in seiner „Geschichte von
Japan" I, Seite 393 f. diese Neigung zur Grausamkeit mit einer erschreckenden
Fülle von Beispielen bewiesen und betont, daß auch mit dem Buddhismus
dieser bedenkliche Zug im Volkscharakter keineswegs verwischt worden ist.
Aber wir wollen auch hier gerecht urteilen, indem wir bedenken, daß Grausam¬
keit leider ein Grundzug der menschlichen Natur überhaupt ist, den die Zivili¬
sation und die Angst vor den Konsequenzen nur verhüllen. Bei günstiger
Gelegenheit bricht sie auch bei verfeinerter Kultur wieder hervor. In Ostasien
sind die Dinge noch weniger von der maskierenden Kultur verhüllt.
Stumpfsinn scheint den Völkern der mongolischen Rasse schon im physischen
Sinne des Worts eigen zu sein; die Chinesen haben, wie man hänfig sagt,
überhaupt keine Nerven. Und sicher ist auch die Physische Erregbarkeit und
Sensibilität hier weit geringer als beim Europäer. Aber gerade der Japaner
ist von allen Ostasiaten der sensibelste. Er ist sehr empfindlich, reizbar und
ehrgeizig; leicht ist er für das Neue begeistert; in der Dichtung spricht trotz
aller konventionellen Stilisierung und trotz der für uns seltsamen Technik doch
ein feines Empfinden zumal für das Kleine und Zarte. Die Malerei und
das Kunsthandwerk verraten dieselben Wesenszüge. Auf dieser leichten Erreg¬
barkeit und Beweglichkeit mag vor allem der fröhliche Leichtsinn und die
heitere Lebensauffassung beruhen, die dem Japaner in hohem Maße eigen
sind. Sie gehören noch zu den glücklichen Völkern, denen die Einspannung
in den maschinenartigen Ablauf der europäischen und uoch mehr der ameri¬
kanischen Arbeitsweise unbekannt ist.
Ein Zug des Charakters wird sich uicht leugnen lassen: Wahrheitsliebe
und Offenherzigkeit sind wenig ausgebildet. Hier hat Rein das überraschende
Urteil gefüllt, daß der Japaner „zutraulich" sei. Im ganzen sind alle
Orientalen dem Fremden gegenüber verschlossen. Munzinger nennt die Japaner
„Meister in der Verstellungskunst". Er geht nie gerade auf ein Ziel, lügt
zwar nicht offenkundig, sagt aber auch nie geradeaus die Wahrheit. Unzu-
verlässigkeit ist ein Hauptzug im Wesen des Japaners, der es freilich sehr
liebenswürdig durch eine Höflichkeit verdeckt, die ihm Gewohnheit ist. Weit
weniger als der Europäer äußert er auch seine Affekte.
In seinem innersten Wesen ist der Japaner von der übernommnen euro¬
päischen Kultur völlig unberührt geblieben. Sie ist ihm wesentlich ein tech¬
nisches Hilfsmittel zur Durchführung seiner Machtansprüche, kein Wert seines
innern Daseins. ,,Japan hat die fremde, überlegne Kultur des Westens nicht
erlebt, wohl aber erlernt", urteilt Wachs. (Schlaglichter auf Ostasien und
den Pacific, 1901.) Die Masse des Volkes ist von der europäischen Kultur
kaum beeinflußt worden. Die leitenden Kreise haben sie übernommen und
nachgeahmt, nicht aus Verständnis für ihren Wert, auch ohne Sympathie für
sie, aber aus Zwang im Interesse ihrer praktischen Bestrebungen. Am tiefsten
hat wiederum Lefcadio Hearn diese Hergange durchschaut, wenn er die Auf¬
nahme der westlichen Kultur auffaßt als ein freiwilliges und wohlüberlegtes
nachgebe», wie es der Berufsathlet etwa zu üben weiß, in einem großen
politischen, mit den geistigen Mitteln der Zivilisation geführten Ringkampf.
i cum Nietzsche, den der ungestillte Durst «ach Anerkennung krank
und toll gemacht hat, das bei gesunden Sinnen erlebt hätte!
Natürlich konnte er es so nicht erleben, da es ja eben sein
! tragisches Ende ist, was ihm den großen Erfolg verschafft: seinen
> Namen in aller Mund, seine Bücher in alle Hände gebracht,
ein paar Millionen jungen Leuten den Kopf verdreht, die Journalistik mit
seinen Schlagwörtern bereichert, eine ganze Literatur hervorgerufen, ein
Nietzschearchiv begründet und seine schwärmerischen Jünger dermaßen erhitzt
hat, daß sie einander gegenseitig in die Haare geraten. So prozessiert jetzt
Peter Gast (diesen Namen hat Nietzsche dem Musiker Heinrich Köselitz gegeben)
gegen Carl Albrecht Bernoulli und gegen Eugen Diederichs in Jena, bei
dem jener soeben den ersten Band seines Werkes: Franz Overbeck und
Friedrich Nietzsche, eine Freundschaft, herausgegeben hat. Gast hat eine
gerichtliche Verfügung erstritten, nach der die Veröffentlichung seiner Briefe
im zweiten Bande des genannten Werkes bei zweitaufend Mark Strafe unter¬
sagt wird, und die Berufung vou Bernoulli und Diederichs ist verworfen
worden. Der erste Band muß ein gutes Buch genannt werden. Er enthält
wichtige Beiträge zur Kenntnis der problemereichen Persönlichkeit des Dichter-
Philosophen, verständige Urteile über seine Werke und führt uns in den Kreis
bedeutender Menschen ein, die sich um ihn gesammelt haben. Einem von
ihnen, dem Titelhelden des Buches, hat in der Jugend ein Mann nahe ge¬
standen, der manchem alten Grenzbvtenleser mehr wert sein mag als der ganze
Nietzschekreis; darum wollen wir dessen Verhältnis zu Overbeck vornehmen,
ehe wir diesen als den treusten Freund Nietzsches betrachten.
Franz Overbeck schien durch seine Abstammung zum Kosmopoliten be¬
stimmt. Sein Großvater war ein nach England ausgewanderter Frankfurter.
Sein Vater, ein Kaufmann, der eine heimliche Liebe zu den Wissenschaften
hegte, siedelte, ohne seine britische Staatsbürgerschaft aufzugeben, nach Ru߬
land über und heiratete eine Französin, die Franz in einem Pariser Internat
erziehen ließ. Als seine Mutter dann ihren Wohnsitz nach Dresden verlegte
^ der Vater betrieb noch einige Jahre in Petersburg sein Geschäft —, fing
Franz, der fertig englisch, französisch und russisch sprach, erst an, auch deutsch
zu lernen. Er besuchte die Dresdner Kreuzschule und hörte 1851 als siebzehn¬
jähriger den drei Jahre ältern Heinrich von Treitschke als ?rinn8 omnium
beim Schlußakt ein selbstverfnßtes deutsches Gedicht vortragen. Doch kam es
damals noch zu keinem persönlichen Verkehr, sondern erst ein paar Jahre
später in Leipzig, wo Overbeck Theologie studierte und Treitschke Geschichte
dozierte; sie wurden vertraute Freunde und gingen viel miteinander spazieren.
„Wie lebhaft wir uus damals unterhielten, erzählt Overbeck, kamen wir doch
nicht recht vorwärts infolge der gerade damals so jammervoll zunehmenden
Taubheit Treitschkes, die zu bestündigem Stehenbleiben nötigte, anfangs um
noch in seine Ohrmuschel, dann in immer bedenklicher in ihrer Schallkraft sich
steigernde Metallrohre den schon sehr bald mehr oder weniger staatsgefährlich
werdenden Inhalt unsrer Gespräche hineinzurufen." Dazu, schreibt Bernoulli,
»gesellten sich fröhliche Wandrungen in den deutschen Mittelgebirgen und von
1861 bis 1863 die gemeinsamen Mittagsmahlzeiten samt darauffolgenden
schwarzen Kaffee, wo die beiden mehr Lauscher hatten, als einem sächsischen
Generalssohne und einem angehenden Gottesmanne in Sachsen bequem war".
Der „Gottesmann" war eine kühle, ruhige, von Seelenkämpfen freie Natur.
Er würde vielleicht, meint der Verfasser, als Nachzügler des Rationalismus
wi wackerer Landpfarrer geworden sein und seine Bauern gelehrt haben, ihren
Kohl rationell zu bauen. Aber Treitschke flößte ihm „das Gift der Kritik"
ein. Dieser gestand ihm einmal, daß er einen ganzen Karfreitag zur Lektüre
eines Buches von David Friedrich Strauß verwandt und sich gefreut habe,
daß es noch einen deutschen Mann gebe, der den Mut seiner Meinung habe.
Im Jahre 1863 trennten sie sich; Treitschke ging nach Freiburg, Overbeck
habilitierte sich in Jena. Aber sie blieben in lebhaftem schriftlichen Verkehr.
Treitschkes Briefe werden nicht abgedruckt, nur einige von Overbeck. Dieser
verkehrte in Jena mit Ernst Abbe, Georg Ebers, Karl Hase und dem Zoo¬
logen Alfred Dohrn und las über das Neue Testament und über altere
Kirchengeschichte. In seinem Bekanntenkreise wie in seiner Tätigkeit fühlte er
sich so wohl, daß er gern immer als Privatdozent in Jena geblieben wäre,
wenn das die äußern Umstünde erlaubt Hütten. Die Korrespondenz mit
Treitschke, der den Kosmopoliten zu einem guten deutschen Patrioten gemacht
hat, wird natürlich schon gleich im nächsten Jahre hochpolitisch. Was gäbe
es auch, schreibt Overbeck im Januar 1864, „auf der ganzen Welt für ein
trostloseres Geschäft, als ein Gothaer sein! Du sprachst manchmal von einem
Unstern, der über dem preußischen Staate walte. Daran hat man wohl noch
nie so denken können wie bei der gegenwärtigen wahnsinnigen Verbindung
mit Österreich. Dieser Selbstmord hätte einen weit leidenschaftlichem Sturm
in der Kammer erregen müssen. Nun scheint nach den neusten Nachrichten
die preußische Armee in Holstein eine solche Last von Unpopularität auf
Preußen zu häufen, daß es die Frage ist, ob sie wird jemals wieder weg¬
gewälzt werden können. Du sahest schon in deinem Briefe das Schlimmste
voraus und gabst für jetzt die Hoffnung für uns auf. Seitdem ist, weniges
ausgenommen, alles, selbst das Unerwartetste, zur Bestärkung dieser schwarzen
Voraussicht geschehen. Es ist schwer, bei solchen Zeitläufen stillen Studien
treu zu bleiben." Im November meldet er, die theologische Fakultät habe
sich vom Kurator breitschlagen lassen und in eine vakante Stelle einen Erlanger
Orthodoxen berufen. Dieser erwies sich bei seinem Erscheinen auch noch als
ein persönlich unangenehmes Individuum und wurde bald nach Bonn weiter¬
befördert. Am 9. Dezember dankt er für den ersten Band der Historischen
und Politischen Aufsätze, den ihm Treitschke übersandt hatte. Er stimmt
diesem in allem bei, meint aber, es werde ein schweres Stück Arbeit sein,
das Volk von der Notwendigkeit der preußischen Spitze zu überzeugen. „Daß
diese und die Einheit von Deutschland im Verhältnis von Mittel und Zweck
stehn, das wollen so viele leider nicht einsehen. Hier will zuletzt immer noch
der Partikularismus sich behaupten, wäre es auch nur in der Gestalt eines
unklaren Dusels. Wer aber nur irgend für Gründe offen ist und ernsten
Patriotismus hat, der muß durch deine Arbeit von der traurigen Verirrung
für Österreich oder ein annoch unbekanntes Geburtsland des deutschen Kaiser¬
reichs bekehrt und für Preußen gewonnen werden, und zwar, für Preußen
zu stimmen gerade so wie du, das heißt unbedingt. Denn das freilich hört
man oft genug, man wolle sich Preußen gefallen lassen, wenn es nur liberal
regiert würde, womit aber so gut wie alles, was man zugegeben hat, wieder
zurückgenommen ist." Als Beweis für die Bosheit des Partikularismus führt
er an, daß die sächsischen Truppen gegen Preußen verhetzt würden. Man
schaffe sie, jede Berührung mit preußischem Gebiet meidend, auf lächerlichen
Umwegen heim, wahrscheinlich Besorgnis heuchelnd, sie möchten auf preußischen
Stationen insultiert werden. Bismarcks Politik, findet er im Februar 1865,
sei bisher energisch und geschickt gewesen, fange aber an, die Gefahr eines
europäischen Krieges heraufzubeschwören, und die Art, wie er den Kampf
gegen den Landtag wieder aufnehme, sei geradezu frevelhaft. Nun stehe das
Schwerste, die Auseinandersetzung mit Österreich, bevor. Aus den Herzog¬
tümern dürfe Preußen natürlich uicht mehr hinaus. Treitschke hatte zum
Besten vou Schleswig-Holstein einen Zyklus von Vorträgen über Washington
gehalten. Aus der Zeitung erführe Overbeck, daß sein Freund damit auch in
Paris aufgetreten sei. Dadurch habe er es wahrscheinlich mit dem Kaiserreich
verdorben. Er, Overbeck, habe ein Exemplar des Buches von Treitschke an
seinen Bruder nach Havre geschickt, das sei beim französischen Zollamt als
gefährlich avisiert worden, und es habe den Bruder viel Mühe gekostet, in
seinen Besitz zu gelangen. Am 23. Oktober schreibt er, die Art, wie manche
Liberale vom Augustcnburger und seinem Rechte redeten, sei geradezu schimpflich.
Schlimm sei es, daß alle Hoffnung allein auf Bismarck beruhe, denn auch
dieser scheine ihm nur eine bornierte und dabei gefährlich abenteuerliche
Parteipolitik zu treiben. Wenigstens sollte man ihr die Schärfe nehmen, sich
kleinlicher vexatorischcr Maßregeln enthalten. Das Gegenteil geschehe; man
mache viel böses Blut, rege irregehende Leidenschaft aufs neue auf. Solange
die Herzogtümerfrage noch schwebe, sei Bismarck freilich unentbehrlich; doch
sobald diese, sei es auch glücklich, d. h. durch die Annexion gelöst sei, müsse
die liberale Partei zur schärfsten Opposition übergehn. Bismarck spiele
va bÄNiiuö, schreibt er am 18. Juni 1866; Preußens Geschick liege in der
Hand eines Abenteurers, der nur ein unzweideutiges Talent besitze, „geist¬
reich impertinente Depeschen zu schreiben". (So ist ja wohl Bismarck damals
auch von so manchem beurteilt worden, der seinem Beruf uach ein kompetenterer
Richter war als dieser Theologieprofessor.) Doch — sie möchten sehen, wie
sie es treiben — jetzt, wo die Entscheidung gefallen, sei sein ganzes Herz mit
den Waffen Preußens. An die Rolle Sachsens bei diesem Kampfe dürfe er
gar nicht denken. „Und dieses kindische Vertrauen in eine Politik, deren
Zweideutigkeit handgreiflich und klassisch bezeugt war am Vorabend der Ent¬
scheidung! Könnte ich uns doch schon zur Annexion gratulieren!" Er ist
natürlich zunächst um seine Familie in Dresden besorgt.
In der Nationalzeitung hat er am 30. Juni gelesen, daß seinem Freunde
Treitschke und Roggenbach in Baden Gefahr drohe. Er schwebt in Sorge
um jenen und bittet um kurze Nachricht. Schon am 17. Juli kann er zur
Verlobung Treitschkes und zu seiner Berufung nach Preußen gratulieren.
Was die Annexion der okkupierten Staaten betreffe, so möge er an den
entsetzlichen Unverstand, den ihre Wiederherstellung bedeuten würde, gar nicht
denken. „Schon durch Langensalza und, die Preisgebung der sächsischen Armee
an Österreich haben diese Krantfürsten ihr Recht verwirkt." Am meisten setzt
ihn die Haltung des Volkes in Kurhessen in Erstaunen, wo bestimmt eine
andre zu erwarten gewesen sei. Das Urteil des Volkes sei eben überall ver¬
wirrt worden durch seine liberalen Wortführer und durch „den schillernden
Charakter der preußischen Politik, die aus einem vor noch nicht langer Zeit
verkündeten Kampfe des mit Österreich verbündeten Preußens gegen die
Revolution urplötzlich zu einem Kampfe gegen Österreich im Bunde mit der
Revolution geworden" sei. Die Besorgnisse für den Liberalismus seien töricht.
Unmittelbare Früchte allerdings dürfe sich dieser nicht versprechen vom Kriege,
dazu sei er viel zu unschuldig an ihm, aber die Reaktion, die zurzeit viel
zu tief in ihr Gegenteil verstrickt sei, könne er nicht zugute kommen. Treitschke
hat ihn zur Mitarbeit an den von ihm begründeten Preußischen Jahrbüchern
eingeladen; Overbeck würde dem Freunde gern behilflich sein, es fehle ihm
jedoch augenblicklich an Zeit und an einem passenden Thema. Am 8. Sep¬
tember kommt er auf die Annexion Sachsens zurück; keines der kleinen
deutschen Territorien habe es dringender nötig, „von sich selbst erlöst zu
werden". Er bedauert, daß es den Liberalen in der Kammer so schwer werde,
den rechten Ton zu finden. Über manches Unerquickliche seiner Lage müsse
dem Liberalismus die Freude an dem Siege der guten Sache hinweghelfen
und die Einsicht, daß sich ihm die Gelegenheit darbiete, sich eine politische
Bedeutung zu erringen, wie er sie noch nie besessen habe. „Wie konnte der
Gedanke, die Indemnität zu verweigern, noch so ernstliche Vertretung finden?
Namentlich Greises Rede macht einen vertrockneten Eindruck." Im Dezember
beteuert er, wie sehr er sich danach sehnt, an einem und demselben Orte mit
dem Freunde wirken zu können. Aber solange dieser in Preußen lebe, sei
darauf keine Aussicht, ein kritischer Theolog komme dort nicht an; die letzten
Berufungen, darunter die des oben erwähnten Erlangers, seien geradezu haar¬
sträubend. Im Juni 1867 meldet er, daß ein Ruf nach Gießen an ihn er¬
gangen sei als außerordentlicher Professor und Universitätsprediger. Er hat
ihn schon darum abgelehnt, weil sich das Predigtamt mit der Arbeitslast, die
dem Dozenten obliege, nicht vertrage. Er habe zwei ihm noch neue Vor¬
lesungen übernommen. Zu dem Privatum über den Nömerbrief habe sich
freilich nur ein Zuhörer gemeldet, den er in seine Wohnung kommen lasse,
es sei ein biederer Schweizer. Mit Treitschke ist er nach einem Briefe vom
16. Juni 1869 in der Beurteilung der Heidelberger liberalen Theologen ein¬
verstanden, an deuen beide manches auszusetzen finden. „Welchen vernünftigen
Zweck sie mit dem neulich in Worms in Szene gesetzten Protest verfolgt
haben, ist mir gänzlich verborgen. Die römische Einladung Mus der Neunte
war so naiv gewesen, die Protestanten zu seinem Konzil und zur Rückkehr in
die katholische Kirche einzuladenj versteht sich doch vom katholischen Stand-
Punkt ebensosehr von selbst wie von unserm der Papierkorb dafür."
Gegen Ende des Jahres wird er nach Basel berufen und entschließt sich
hanptsüchlich mit Rücksicht auf seine Eltern, dem Rufe zu folgen. Treitschke
gratuliere und schreibt: „Natürlich mußt du gehen, lieber Junge." In der
akademischen Laufbahn komme alles darauf an, daß die Kugel ins Rollen
gerate; seiner liebenswürdigen Persönlichkeit werde es vielleicht gelingen, trotz
seinem Radikalismus sogar mit den Baseler Pfaffen auszukommen. Ein Stier
von Uri brauche er nicht zu werden; er kriege ja nicht einmal das schäbige
republikanische Bürgerrecht. Er müsse die Sache ansehen wie eine mehr¬
jährige Reise; am Ende lasse sich auch von der schweizer Art, die bei aller
Engherzigkeit gruudtüchtig sei, manches lernen; Basels Umgebung sei herrlich,
und Jakob Burckhardt ein trefflicher Kollege. Am 8. Mürz 1870 dankt
Overbeck für den zweiten Band der Historischen und politischen Aufsätze; „ob
auch ein kühler Monarchist und unüberwindlich antipathisch gegen den Krieg
gestimmt, habe ich doch namentlich, auch was du über diese Dinge sagst, mit
herzlicher Zustimmung gelesen". Nach Ostern vollzieht er seinen Umzug; an
Pfingsten treffen sich die Freunde und erlaben sich an einer Fußwandrung
durch das Elsaß. Aber das Freundschaftsband wird von da an gelockert.
Das Verhältnis war ein sehr inniges gewesen. „Treitschke, der schon weiter
war, und zwar mehr als nur um die drei Jahre, die er älter war, machte
damals in allen Stücken Overbeck zum Vertrauten seines Herzens. Seine
Aussprache in den Briefen ist menschlich vor vollkommner Abrundung.
Weit entfernt davon, etwa nur vor einem aufmerksamen Zuhörer die Fülle
seiner politischen Ansichten abzuwandeln, eröffnet er ihm sein gesamtes per¬
sönlichstes Innenleben. Erst herrscht noch gänzlich die burschikose Derbheit
studentischer Sitten vor. Dann aber klingt das große Leben hinein, gesteigert
durch die nationale Ahnung. Was den germanischen Mann erfüllt, die Liebe
zu seinem Lande, die Liebe zum Weibe, die getäuschte und die befriedigte,
die Liebe zur eignen Volksart und die Lust zum Kampf um sie, das spricht
Treitschke dem Freunde aus. In gutmütigen Übermut redet er ihn an:
Lieber Kleiner! oder: Du frommer Pfaff. Er nennt ihn eine menschlich
freiere Natur als Lipsius; an ihm hafte nichts von jenem theologischen Ge¬
schmäckchen, das jener nicht ganz verleugnen könne. Er bewundert Overbecks
»unmenschliche Güte«, die auch das Unmögliche möglich mache; er ist gerührt
von der Sorge des »lieben Kleinen« um ihn, von der ihm Moritz Busch be¬
achtet. Mit diesem waren beide befreundet.j In stolzer Erwartung spricht
er von der Möglichkeit, das neu zusammentretende Parlament des Nord¬
deutschen Bundes werde ihn sich in Berlin zu seiner Verfügung halten oder
die Annexion des Nautenlcmdes seine Versetzung nach Leipzig herbeiführen.
Der jungen Gattin führte er den »kleinen Jencnserpfaffen« als das leuchtende
Vorbild des besten Menschen zu Gemüte und wünscht ihm, er möchte bald
selbst erleben, was die Ehe sei: ein stilles, sicheres Glück und zugleich eine
fortwährende Schule der Selbsterkenntnis; man müsse sehr klug mit seiner
Zeit hauszuhalten wissen, wenn man zugleich tüchtig arbeiten und einer ge¬
liebten Frau etwas sein wolle." Indes, für Overbeck hatte diese Jugend-
frenndschaft ihren Zweck erfüllt. Am Ende seines Lebens urteilt er: „Treitschke
hat mich, ich muß es wohl sagen, ins Leben eingeführt — das habe ich ihm
nie vergessen; mein Führer im Leben ist er im gewissen Sinne nie gewesen,
bleiben konnte er es auf keinen Fall." Zweierlei stellte sich seit 1870 zwischen
sie. Schon 1866 wollte Overbeck weit gründlicher, als der Freund es tre,
das Unglück gewürdigt wissen, daß ihre gemeinsamen beiden Ziele, Einheit
und Freiheit, auseinanderfielen. Und nach 1870 wurde er sich bewußt, die
Nationalität dürfe nicht zum unbedingten und alleinigen Wertmesser erhoben
werden. Die Begeisterung für das Reich kühlte sich ihm in dem Maße ab,
als die Aussicht ans baldige Verwirklichung des Kultnrideals schwand. Dazu
kann Overbeck war durch Treitschke zum Freigeist geworden. Ende 1870
nun bekennt ihm dieser, an seinem jüngern Bruder Rainer, der im Kriege
den Heldentod gestorben, habe ihn besonders dessen unerschütterliche anspruch¬
lose Frömmigkeit gerührt. Im Verlauf der letzten Jahre und nun gar im
Kriege habe er erst die Bedeutung der Religion versteh« gelernt. Das hätte
nun Overbeck noch nicht gestört. Aber daß Treitschke von seiner wieder¬
gewonnenen Religiosität sein Denken beeinflussen ließ, konnte er nicht ver¬
tragen; der Gegensatz von Glauben und Wissen war ihm wissenschaftlicher
Grundbegriff; öffentliche Aussöhnungs- und Überbrückungsversuche stießen ihn
ab. „Mit dem Tage, da sich Treitschke, nunmehr der unbestritten erste aka¬
demische Rhetor Deutschlands, «zx vatllöclrg. zum Christentum bekannte, war
es um sein Einverständnis mit Overbeck geschehen." Wie wunderlich, daß ein
Professor der christlichen Theologie das öffentliche Bekenntnis zum Christentum
anstößig finden kann!
Überdies fand Overbeck Ersatz für den Jugendfreund in Nietzsche. Doch
wurde der Verkehr nicht etwa abgebrochen. Treitsche hat Overbeck öfter be¬
sucht, obgleich er zürnte, daß, wie er meinte, Nietzsche ihr schönes Verhältnis
getrübt habe. Overbeck unternahm es sogar, die beiden miteinander zusammen¬
zubringen, ein Versuch, der nur einer solchen „Fricdensseele" einfallen konnte,
wie denn auch nur eine solche, meint Bernoulli, es fertig bringen konnte, um
der Freundschaft mit zwei so entgegengesetzten Geistern gleichzeitig festhalten
zu wollen. In einem Briefe vom 23. Juni 1871 lobt er Nietzsche als den
ersten Philologen, der ihm begegnet sei, mit dem man als NichtPhilologe
über das Altertum reden könne. Er sei überhaupt ein ganz ungewöhnlich
begabter Mensch und ebenso liebenswürdig wie geistvoll. Auf Overbecks
Vorschlag wolle Nietzsche den Preußischen Jahrbüchern demnächst ein Manu¬
skript „Musik und Tragödie" einsenden. Treitschke scheint das Manuskript
»ach gcnommner Einsicht abgelehnt zu haben. Am 21. Dezember 1871
schreibt Overbeck, er sei jetzt ordentlicher Professor und habe demnach erreicht,
was er viele Jahre lang mit einer Gelassenheit, die ihn jetzt selbst wundre,
für unerreichbar gehalten habe. Die Wogen des kirchlichen Kampfes gingen
hoch in der Stadt. Er sei in der Übeln und zugleich glücklichen Lage, zu
keiner der drei einander befehdenden Parteien zu gehören. „Die pietistische
und die vermittelnde erheben an mich keine Ansprüche! der Reformer säbelnd
mich dagegen bisweilen zu erwehren und bin nun wohl mit ihnen ziemlich
auseinander. Wissenschaftlich bin ich viel radikaler als diese Leute, praktisch
fassen sie die Dinge an fast ohne Ahnung von ihrem schweren Ernst und
machen sich eine Religion von bequemen Phrasen zurecht." Eingelebt habe
er sich nud fühle sich dem Orte „unauslöschlich" dankbar für den wissen¬
schaftlichen Frieden, den er ihm gewähre. Das Liebste sei ihm sein Verkehr
mit Nietzsche. „Gleich nach Neujahr erscheint der dir schon bekannte frag¬
mentarische Aufsatz zur vollständigen Abhandlung ergänzt: Die Geburt der
Tragödie aus dem Geiste der Musik. Er wird auch dir gleich zugehn. Ich
kann nicht alles mitmachen, am wenigsten was darin über die Wagnersche
Oper zu lesen steht, aber überzeugt bin ich, daß die Arbeit eine der gedanken¬
reichsten und tiefsinnigsten ist, die wir in Deutschland seit Jahrzehnten auf
dem Gebiet der Ästhetik gelesen." Im Juli 1872 vernehmen wir: „Hier
wirst du, wenn du im August kommst, leider niemand finden, da mit Ende
der Woche alles ausfliegt. Höchstens Nietzsche wird hier sein. Es tut mir
leid, daß ich ihm nichts besseres und überhaupt nichts von deinen Eindrücken
melden konnte, wenn ich auch begreife, daß dir mancherlei in seiner Schrift
nicht recht, wo nicht abstoßend gewesen ist. sTreitschkes Urteil scheint demnach
so ausgefallen zu sein, daß es Overbeck Nietzsche gegenüber gar nicht zu er¬
wähnen wagte.j Sie hat unleugbar etwas Exzessives." Wilamowitz-Möllen-
dorf habe alles als reinen Wahnsinn behandelt, und das sei nun bis jetzt die
einzige öffentliche Kundgebung über das Buch. Eine solche Behandlung könne
Nietzsches Neigung zum Extravaganten nur steigern, „solange das Gegen¬
gewicht ernster Beachtung, selbst ernsten Widerspruchs, der zum Teil meiner
Ansicht nach nicht fehlen kann, vermißt wird". Anfang März 1873 schreibt
er: seine Osterfeier solle in zwei oder drei mit Treitschke zu verlebenden
Tagen bestehn; dieser scheint ihn also alljährlich mindestens einmal, wo nicht
öfter, besucht zu haben. Die übrige freie Zeit wolle er auf die Ausarbeitung
eines theologischen Bekenntnisses verwenden, zu dem er sich gedrängt fühle —
„nicht durch Strauß, dessen Werk j»Der alte und der neue Glaube« war ein
Paar Monate vorher erschienenj ich für wenig förderlich halte, abgesehen von
seiner Ehrlichkeit — aber durch eine weit geistvollere Broschüre von Lagarde
über Staat, Religion und Kirche." Am 1. September 1873 schreibt er:
„Heut werden dir wohl Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtungen zugegangen
sein. In seinem Namen schicke ich ihnen die Meldung nach, daß er ihnen
gern ein paar Worte an dich zur Begleitung mitgegeben hätte, wenn ihm
nicht noch alles Schreiben verboten wäre." Das seit drei Monaten ihn
plagende Augenübel habe anfangs so bedenklich geschienen, daß der Arzt
strenge Maßregeln für notwendig erachtet habe. Das Buch habe Nietzsche
einem Freunde, Referendar von Gersdorff, diktiert. „Ich kann dir gar nicht
sagen, wie sehr ich mich freue, eine allgemeine von Tag zu Tag fast steigende
und vorzüglich unsre Universitäten drückende deutsche Not mit so feuriger und
ernster Beredsamkeit ausgesprochen zu wissen, und will auch manches Über¬
scharfe gern in den Kauf nehmen." Fatal sei nur, daß jetzt gerade der so
hart angenommne Strauß schwer krank daniederliege, so schwer, daß er nichts
Gedrucktes mehr zu sehe» bekomme, und darin liege allerdings eine Beruhigung.
Am 23. Oktober desselben Jahres äußert er ernstliche Besorgnis um Treitschkes
Meinung über Nietzsches Streitschrift und über seine eigne. Über diese habe
er des Freundes Schlußurteil noch nicht und über Nietzsches noch gar kein
Urteil. „Um unsrer Freundschaft willen habe ich niemanden unter allen,
denen ich meine Schrift zugesandt, um dessen Meinung es mir so zu tun
wäre, wie um die deine, und auch mit den Anschauungen des Nietzschischen
Buches fühle ich mich, wie ich dir sagte, solidarisch." Er könne sich Treitschkes
Schweigen gar nicht erklären. Darauf hat sich nun Treitschke endlich aus¬
gesprochen. Am 14. November schreibt Overbeck: „Allerdings habe ich keine
Zeit zu langen Briefen, du noch weniger dazu, sie zu lesen. Doch drängt
es mich seit deinem letzten Briefe unwiderstehlich zu einer Antwort. Mit dir
habe ich unvergeßliche Jahre wie mit keinem andern Menschen geteilt, du bist
mein erster wahrer Freund gewesen, hast als der ältere, erfahrenere und soviel
herzhafter angelegte mir zuerst einige Zuversicht zu mir selbst gegeben, und
dir werde ich von allem, was ich bin, denke und tue, immer ein Stück ver¬
danken. Entschuldige damit die Unruhe, in die mich dein Schweigen versetzte,
und heute, daß ich noch nicht zufrieden bin und noch weiter nach Verständigung
Verlangen, heftiges Verlangen trage. Es handelt sich dabei nicht um Recht¬
haberei. Hätte ich die Macht, andern zu geben, was ich ihnen wünsche, so
wären es nicht meine Meinungen, die ich ihnen gäbe, sondern die Läßlichkeit,
mit der ich jede andre ertrage. Mich treibt wirklich nur der Drang der
Freundschaft, daß ich das meine tue, damit wir uns über jede Meinung
hinaus nach wie vor von Herzen versteh»." Treitschke hat sich in seinem
Briefe abfällig über Schopenhauer geäußert. Overbeck glaubt zu wissen, daß
Treitschke zwar ein Gläubiger, aber kein Apologet des Optimismus sei. Dieser
und der Pessimismus seien beide gleicher Ruchlosigkeit fähig, aber beide seien
auch fruchtbar. Er für seine Person halte den Pessimismus für fruchtbarer;
doch um beider Streit zu entscheiden, „fehlen menschlicher Erkenntnis alle
Mittel, und so wird denn im Handumdrehn ein Pfaffengezänk daraus."
Schon dieser laute Streit könne ja einem die Lust benehmen, sich mit Schopen¬
hauer einzulassen, und für diesen den Freund gewinnen, das wolle er über-
Haupt nicht. Wenn er sich Treitschkes Urteil widersetze, so geschehe es in der
Überzeugung, daß sich dieser damit einem ungeheuern Stück Menschenleben
verschließe; kennte er Schopenhauer, so würde er auch als Gegner anders
über ihn urteile». Was Treitschke gesagt hat, geht aus folgendem hervor.
Daß Schopenhauer „keinen Sinn für Staat und Geschichte hatte, teilt er nur
mit einigen der größten seiner Zunft, und auch den Staat kann man ja
jedenfalls zu ernst nehmen. Daß seine Philosophie in ihren Bekennern nie
etwas andres erzeugt als unfruchtbaren Hochmut und ruchlosen Pessimismus,
dagegen habe ich meine unzweifelhafteste Erfahrung. Nicht, daß ich daran
dächte, alle »Schopeuhauerianer« gegen dich zu vertreten — außer Schopen¬
hauer selbst sind die Schopenhaueriauer die größten Steine des Anstoßes für
seine Sache —, aber ich kenne Menschen ssoll wohl heißen: einen Menschen,
nämlich Nietzschej von ungewöhnlicher Herzensgüte und von seltner Kindlich¬
keit und Treuherzigkeit der Gesinnung, die sich unbedingt zu Schopenhauer
bekennen und sich nicht zu fassen wüßten, wen» sie hörten, daß seine Philo¬
sophie »das Göttliche im Menschen erstickte«, oder daß ihr »die ganze Welt
der Liebe« verschlossen sei." Über Overbecks Schrift muß Treitschke geschrieben
haben, sie sei im Schmollwinkel verfaßt. Overbeck legt dar, daß er zum
Schmollen nicht die mindeste Ursache habe. Er sei mit seiner Lage voll¬
kommen zufrieden. „Auch in die Bescheidenheit meiner Subsistcnzmittcl füge
ich mich gern; was daran zur Behaglichkeit und meiner Stellung überhaupt
zum Glänze fehlt, werde ich immer für den wohlfeilen Preis meiner Freiheit
halten und darüber, daß es mir vorenthalten wird, niemandem grollen, in
der Überzeugung, daß ich hierzu ebensoviel tue wie der üble Wille andrer."
Mit dem Zustande unsrer heutigen Bildung in Deutschland, den beide, Nietzsche
und Overbeck, beklagt und als gelenkte Barbarei charakterisiert haben, sei im
Grnnde genommen niemand zufrieden. Treitschke berufe sich gegen Nietzsche,
der nur rede, auf sich selber. „Was hast denn du seinerzeit mehr getan, als
du den Partikularismus bekämpftest. jTreitschkes Reden war doch insofern
Tun, als es die Politik Vismarcks förderte.! Auch meinst du, Nietzsche ver¬
fehle den Ton. er verstimme, du hättest mit unliebsamen Wahrheiten doch
den Leser nach dir gezogen. seinerzeit ist dies mit manchen guten sächsischen
und andern Partikularisten ganz gewiß nicht der Fall gewesen, und sächsische
Beispiele wüßte ich genug." Daß auf einer Seite, wo man einer Schrift
wie der von Nietzsche gegenüber nichts als Verstimmung empfinde, alles in
Ordnung sei, lasse er sich nicht einreden. „Aber du bist doch ein Mann, der
allezeit an der frischen Tat Freude hat, sie menschlich zu beurteilen weiß, und
mag dir dies und jenes daran nicht eben behagen, mit geradem Blick das
Bedeutende zu erkennen, sich nicht so leicht hindern läßt." Nietzsche» habe er
natürlich Treitschkes Brief nicht gezeigt, ihm nur das allgemeinste mitgeteilt,
das freilich die Abneigung verrate. Jener lasse ihn bestens grüßen und meine,
im Reiche der Gedanken sei für mancherlei Platz.
Hat alles nichts geholfen, Treitschkes instinktiver Widerwillen gegen den
Überkritiker war nicht zu überwinden. In einem andern Briefe aus derselben
Zeit tadelt es Overbeck, daß sich Treitschke von Schmoller habe ein Glaubens¬
bekenntnis abfordern lassen. (In dem Streit beider über die soziale Frage.)
Was den Kulturkampf betrifft, so beweise dieser nur, wie tief der Protestanten-
stolz gesunken sei. „Ich sollte meinen, es wäre für uns wichtiger, daß sich
der preußische Staat zumal, und nun der deutsche ein für allemal, die Lust
vergeh» ließe, Pfasfenpolitik zu treiben, als was der Papst tut und laßt."
Sollte Overbeck unter Pfasfenpolitik jede Regelung kirchlicher Angelegenheiten
durch die Staatsgesetzgebung verstanden haben, so müßte man doch entgegnen,
daß sich solche nun einmal nicht umgehn läßt und nnr eine falsche zu tadeln
ist, wie die der siebziger Jahre es war. Gleich allen in Beziehung auf
Religion radikalen denkt er gering von Lotze. Sich noch schärfer gegen
Treitschkes Haltung in religiösen Fragen auszusprechen, veranlaßt ihn einige
Jahre später der Antisemitismus. Als Freund, schreibt er am 19. De¬
zember 1880, „spreche ich ein herzliches clissentio aus. Nicht um mit dir
über die Judeufmge zu disputieren — könnte ich doch mit gutem Gewissen
nicht bestreiten, daß es unter den Juden ruppige Gesellen gibt, und ist mir
dein eigentlicher Standpunkt in der Sache nicht recht klar, da du weder zu
den Antisemiten gehörst noch ihr Gegner bist. . . . Allein du bist der Verfasser
des »Worts über das Judentum«". Treitschke habe damit Öl auf die Wogen
eines häßlichen Streites gießen wollen; Öl habe er freilich gegossen, aber
nicht aufs Wasser, sondern ins Feuer. Es tue ihm leid, daß dieses Wort
Treitschke in Unannehmlichkeiten verwickle, aber zu verwundern sei das nicht.
„Peinlicher noch, und um ganz offen zu reden, da ich es einmal tue, ab¬
stoßender ist mir ein andrer Ton, der ans deinen letzten Veröffentlichungen
immer unverzagter heransklingt, ich meine den »christlichen«. Hier nun zu¬
nächst kein Mißverständnis! Ich meine nicht ein persönliches Gefühl; ein
solches achte ich bei jedermann, der es besitzt, im höchsten Grade, sodaß es
anzutasten auch bei dir, meinem Freunde, mir nicht in den Sinn kommt. Ich
meine den öffentlichen Gebrauch, den du im politischen Streit von diesem
Gefühl machst, und in dem ich dir immer mehr die alte, bei dir nnr immer
besonders werte Scheu verloren gehn sehe, Fragen der Religion in den Streit
der Politik hereinzuziehen. Nur gegen diesen Verlust drücke ich meinen
Widerwillen aus, weil ich allerdings für diesen Respekt nicht habe, und ins¬
besondre auch der Meinung bin, ein Mann mit deiner Vergangenheit setze
sich bei deiner heutigen Redeweise der Frage aus, welchen Beruf er habe,
mit seinem Christentum so herauszutreten. Entschuldige meine Grobheit, es
handelt sich hier um einen Punkt, bei dem ich keinen Spaß verstehe, und
wenn du willst, unverträglich bin. Ich habe in meinem Leben Veranlassung
gehabt, mir alle Vermischung radikaler kirchlicher Tendenzen mit politischen
vom Leibe zu halten, und habe so getan, ganz gewiß nicht, weil ich an
konservativer Mengerei derart größern Gefallen hätte." Ja, wenn alle „Frei¬
geister" von Overbecks Art wären, sich jeder politischen Agitation, jeder
öffentlichen Beleidigung der religiösen Empfindungen andrer enthielten, dann
dürfte man sich auch die „Mengerei" der Konservativen verbitten. Wenn
aber „freisinnige" Blätter, die vielfach von jüdischen Federn bedient werden,
fast täglich die religiösen Gefühle der gläubigen Christen beider Konfessionen
verletzen (ich erinnere mich, daß vor etwa zwanzig Jahren, als einmal im
Berliner Rathause eine kirchliche Versammlung abgehalten worden war, ein
solches Blatt die Frechheit hatte, zu sagen, das Rathaus müsse jetzt desinfiziert
werden); wenn die Führer der Freisinnigen bei den Wahlen die Losung aus¬
geben: gegen Pfciffeu und Junker, wenn Organisationen gegründet werden
zu dem Zweck, unter dem Volke den Atheismus zu verbreiten, von dem viele
Politiker glauben, daß er nicht allein die Gemüter arm mache, sondern als
Volksglaube auch die bürgerliche Ordnung gefährde, dann bleibt doch den
Beschimpften und Bedrohten gar nichts andres übrig, als sich ebenfalls zu
ihrem eignen Schutz und zu dem der bürgerlichen Ordnung auf religiöser
Grundlage politisch zu organisieren. Ob der eben erwähnte Brief dem frennd-
schnftlicheu Verkehr der beiden Männer ein Ende gemacht hat, ist ans dein Buche
nicht
s ist eine wohlbekannte Tatsache, daß sich seit dem deutsch-fran-
zösischen Kriege von 1870/71 in der Verteilung der Bevölkerung
Deutschlands ganz außerordentliche Veränderungen vollzogen
haben. Die Gesamtzahl der in Deutschland lebenden Menschen
hat sich stetig vermehrt und ist in den 34 Jahren von 1871 bis
1905 von 41 Millionen bis auf mehr denn 60^ Millionen angewachsen, das
heißt sie hat um fast 50 Prozent (genauer 47,6 Prozent) zugenommen. Gehen
wir um weitere 34 Jahre zurück bis zum Jahre 1837, so finden wir auf
demselben Gebiete, das heute von Deutschland eingenommen wird, 31^ Millionen.
Das besagt, daß in diesem Zeitraum die Zunahme nur 30 Prozent betragen hat,
also wesentlich weniger als in der langen Friedensperiode der Gegenwart.
Wichtiger aber als diese starke Gesamtzunahme ist das unverhültnismüßige
Anwachsen der großstädtischen Bevölkerung gegenüber der der kleinen Städte
und des flachen Landes. Im Jahre 1871 lebten von 41 Millionen 2 Millionen
in den Großstädten von je über 1V0000 Einwohnern, also 4,8 Prozent. Damals
wurden überhaupt nur 8 Großstädte gezählt. Jetzt (1905) gibt es deren 41
mit insgesamt 11^ Millionen Menschen, also 18,9 Prozent, mehr als ein
Sechstel der gesamten Bevölkerung. Wollen wir dieses Anwachsen der gro߬
städtischen Bevölkerung prozentual ausdrücken, so würden wir zu dem erstaun¬
lichen Resultat kommen, daß die in den Städten von mehr als 100000 Einwohnern
lebende Volksmenge seit 1871 um 430 Prozent gewachsen ist, das heißt neunmal
so rasch als die Gesamtmenge der Bewohner Deutschlands.
Man muß aber bei diesen Zahlen Wohl bedenken, daß sie sich nicht nur
aus der Vermehrung der schon vorhandnen Großstädte zusammensetzt, sondern
auch aus den Gesamtzahlen der Städte, die allmählich in die Rubrik der
Großstädte hineingewachsen sind. Das sind seit 1900: Rixdorf, Schöneberg,
Duisburg, Bochum, Karlsruhe, Planen i. V., Wiesbaden und Gelsenkirchen.
Dazu wird man jetzt, seit den? Juli 1907 noch Erfurt zählen müssen, das am
1. Dezember 1905 schon die Zahl von 98847 Einwohnern erreicht hatte. Und
auch diese jüngsten ans der Familie der Großstädte sind nicht alle in stetigem
normalen Wachstum zu dem geworden, was sie heute sind, sondern teilweise
durch Aufnahme benachbarter Gemeinden, die früher Anspruch darauf erhoben,
selbständig gezählt zu werden. So ist Duisburg von 92730 im Jahre 1900
auf 192227 gewachsen durch Einverleibung der Nachbarorte Meiderich und
Nuhrort, von denen der erste 1900 allein 33 684, der zweite 12407 Einwohner
zählte. Ähnliches gilt von Gelsenkirchen, wo 1900 erst 36937, 1905 aber
146 742 Einwohner gezählt wurden.
Von Interesse ist es nun, zu untersuchen, welchen natürlichen Bedingtlugen
die einzelnen Großstädte ihre besondre Blüte verdanken. Wenn es anch höchst
mißlich ist, einer Stadt aus ihrer Lage im Reich und aus ihren besondern
Bodenverhältnissen die Zukunft zu prophezeie», so sind wir doch berechtigt,
nachträglich, wenn wir den Effekt vor uns sehn, die Umstünde herauszusuchen,
die sich so außerordentlich günstig für das Wachstum der Siedlungen erwiesen
haben. Natürlich soll man dabei nicht vergessen, daß sehr häufig zufällige
Ursachen mit von maßgebenden Einfluß waren, die gerade der einen Stadt den
Vorzug gaben vor andern nahe benachbarten an sich gleich günstig liegenden.
Man beachte nur das Wachstum von Essen (65000 im Jahre 1885, 231396
im Jahre 1905), das lediglich der ungeheuer anschwellenden Bedeutung der
Kruppschen Werke zuzuschreiben ist. Jedenfalls kann dieses persönliche Element
aber nur dort in Erscheinung treten, wo es einen durch rein geographische
Begünstigung wohl vorbereitete» Boden findet. So würde es wohl beim besten
Willen für Krupp unmöglich gewesen sein, so Gewaltiges zu schassen in einer
Stadt wie etwa Tilsit, die weitab von den großen Kohlen- und Eisenschätzen
des Ruhrkohlengebicts für alles andre eher als für ein industrielles Riesen¬
werk geeignet ist.
Wir behandeln zuerst die kleinere Gruppe der Seehandelsstädte und lassen
ihnen später eine Besprechung der andern Städte folgen.
Von den 41 Großstädten Deutschlands sind sieben am Meer gelegen, darunter
der eine Hafenplatz Hamburg, der seiner volkswirtschaftlichen Bedeutung nach
mit den allerbedeutendsteu Plätzen der Erde überhaupt zu konkurrieren vermag.
An Große des Umsatzes wird Hamburg mir von London, Newyork und Hong¬
kong iibertrosfen. In weitem Abstand erst folgen Bremerhavcu, Bremen, Stettin
oder gar die andern Ostseehäfen.
Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, wie groß der Unterschied ist,
der Deutschlands Seehandel »och von dem Englands trennt. Der Seeverkehr
im Jahre 1904 wies für Hamburg insgesamt 18950000 Registertonnen auf,
läßt diese Stadt also unter den „Niescuverkehrshäfeu" der Welt mit mehr als
10000000 Registertonnen Umsatz obenan erscheinen, während Bremerhaven mit
rund 3200000 Registertonnen eben zur Reihe der „Großverkehrshäfen" und
Bremen mit 2450000 Registertonnen gar nur zu den „Mittelverkehrshüfen"
it bis 3 Millionen Registertonnen Umsatz) gehört. Von den Ostseehäfen ist
Stettin mit 3130000 Registertonnen zu vergleichen mit Bremerhaven. Rostock
mit 1710000 Registertonne», Nenfahrwasser (Danzig) mit rund 1400000 Re¬
gistertonne», Kiel mit 1150000 Registertonnen stehn weit zurück. Demgegenüber
verfügte Großbritannien nach dem Verkehr des Jahres 1901 über drei „Riesen¬
verkehrshäfen": London, Liverpool, Cardiff, sowie über vier „Großverkehrs-
häfen": Newcastle, Hull, Southampton, Glasgow, und eine große Zahl
»Mittelverkehrshüfen": Manchester, Swansea, Newport, Bristol, Dover,
Grimsby, Middlesborvugh. Sunderlnnd, Blyth, Leith, Grangemouth, Kirkcaldy.
(Eckert, Grundriß der Handclsgeographie, Band I.)
Was ist es nun, das Hamburg unter den dentschen Seehäfen so besonders
miszeichnet? Das ist erstens vor den Städten an den Ostseeküsten die Lage
an der weltoffnen Nordsee und vor Bremen die Lage an der Elbe. Die
Straße des Weltverkehrs ist heute der offne Ozean, und während einst Hamburg
überhaupt erst gewissermaßen als Filiale von Lübeck, das eines Stapelplatzes
um der Nordsee bedürfte, Bedeutung gewann, hat später Lübeck nur von der
Vermittlung des Hamburger Handels leben können. Und heute gewinnt es den
Anschein, als ob Lübeck trotz aller Bemühungen seiner opferwilligen Bevölkerung
kumm je wieder zu rechter großer Blüte gelangen sollte. Kiel, das durch den
Nordostseekanal am nächsten noch mit der Nordsee verbunden ist, zeigt gegenüber
der alten Hansastadt an der Trave einen gewaltigen Aufschwung, und es wird
für Lübeck nicht leicht werden, den Vorsprung, den Kiel einmal erworben hat,
wieder auszugleichen.
Vor allem wichtig aber für Hamburg ist sein Strom, die Elbe. Auch Bremen
liegt an einer größern Wasserstraße, aber deren Wert ist minimal im Vergleich
mit dem der Elbe. Weither aus Südosten kommt dieser Strom und verbindet
die reichen Gebiete Sachsens (des Königreichs und der Provinz) und Branden¬
burgs mit seiner Riesenstadt Berlin mit der Nordsee. Und nicht genug damit.
Ein gutes Kanalsystem leitet auch Schlesiens Güter in das Elbgebiet. Als
der erste größere Kanal wurde von Kurfürst Friedrich Wilhelm 1662 bis 1668
der Friedrich-Wilhelm-Kanal zwischen der Oder nahe bei Frankfurt und der
Spree gebaut, zweihundert Jahre später 1887 bis 1891 wurde er erneut,
umgebaut und wesentlich erweitert, sodaß heute auch Schiffe von 600 Tonnen")
anf ihm verkehren tonnen. Natürlich ist das ein Nachteil für Stettin, dem
dadurch ein großes Gebiet wenigstens zum ' Teil entzogen wird. Aber
andrerseits ist auch Stettin dnrch den Finowkanal eng mit dem Havelgebiet
verbunden und dadurch zum Vorhafen von Berlin geworden. Der Nhintanal,
der Havelländische Hauptkanal, der Pläner Kanal und mehrere kleinere Anlagen
erhöhen noch die Verkehrsfähigkeit in dem Gebiete zwischen Oder und Elbe,
sodaß heute das ganze märkische Wasserstraßennetz 1342 Kilometer beträgt.
Dazu kommt nnn noch als eignes Gebiet der Elbe eine Strecke von 1668 Kilo¬
metern in Deutschland und der Nordostseekanal mit 93 Kilometern. Sonach kann
für das ganze Elbgebiet eine Fahrstraßenlünge von 3108 Kilometern angegeben
werden. Demgegenüber verfügt das Wesergebiet mir über 1016 Kilometer.
Aber diese Zahlen allein geben von der Schissbarkeit der Wasserwege noch
kein vollkommnes Bild. Wir müssen dazu noch berücksichtigen, daß die Tiefe
der fahrbaren Rinne sehr verschiedenartig ist. In den statistischen Jahrbüchern
sind uns für die einzelnen Flüsse und Kanäle die Kilometerzahlen für die
zusammenhängenden Strecken angegeben, auf denen die Fahrrinne eine bestimmte
Mindesttiefe bei Mittlerin Wasserstand hat. Von Bedeutung für einen lebhafter»
Wasserverkehr sind wesentlich die Strecken von 1^ Meter und mehr Fahrtiefe.
Diese belaufen sich im Elbgebiet auf 2453,9 Kilometer, das sind 79 Prozent
der ganzen überhaupt schiffbaren Strecke, im Wesergebiet dagegen nnr anf
528,8 Kilometer, d. h. 52 Prozent. Dieses ungünstige Verhältnis ist der
Grund dafür, daß zunächst für die Weser ein großartiges Projekt ausgearbeitet
worden ist, durch mächtige Talsperren in den Tälern der Eder und der Dienet
gleichmäßig tiefes Wasser zu schaffen.
Nun kommt natürlich von dem großen Verkehr auf diesen Bümenwasscr-
linien nur ein kleiner Bruchteil den großen Seehäfen zugute, immerhin ist
der Wert, den die Handelsstädte selbst diesem Verkehr beilegen, sehr beträchtlich.
Heil doch zum Beispiel der in Bremen ansässige norddeutsche Lloyd von sich
ans für 600000 Mark in Münden einen großen Umschlagsplatz errichtet, der
dazu dienen soll, die Weserschiffahrt zu heben. Für das Jahr 1900 hat man
festgestellt, daß auf dem Elbstrom allein der Verkehr so groß war, als ob
2605 Millionen Tonnen je 1 Kilometer befördert würden, auf der Weser
entsprechend 128 Millionen Tonnenkilometer. Und für Hamburg finde ich an¬
gegeben, daß 1904 2323000 Tonnen stromaufwärts in 13882 Schiffen und
1964600 Tonnen stromabwärts in 16297 Schiffen angekommen sind.
Die günstige Verbindung nach rückwärts schafft aber noch keine große
Scchcmdelsstadt, dazu gehört vor allein auch ein Hafen, der imstande ist, sogar
die größten Schiffe aufzunehmen. Und das ist bei Hamburg der Fall. Tief
drinnen im Lande liegend, ist ursprünglich Hamburg wohl befähigt gewesen,
die Ozeanschiffe, die noch klein waren im Vergleich zu den heutigen Kolossen
des Weltverkehrs, alle in seinem Bannkreis zu empfangen. Aber als all¬
mählich die Maße der Schiffe immer mehr und mehr wuchsen, mußte sich
notwendig auch zeigen, daß die lange Flnßstrecke denn doch ein schweres
Hindernis bedeutete. Und um so höher ist die Tntkraft und der Mut der
Bevölkerung einzuschätzen, die es unternahm, den langen Weg von der Mündung
bis mitten in die Stadt, 108 Kilometer, so zu vertiefen, daß auch die größten
Schiffe sie wenigstens mit der Flut zurücklegen könnten. Das ist auch, aller¬
dings unter großem Kostenaufwand, gelungen.
Eine der frühesten Arbeiten waren die Durchstiche durch Flußinseln, über
die schon aus dem sechzehnten Jahrhundert berichtet wird (1550 Durchstich des
Graudeswärders, 1570 Durchstich im Spadeulünder Busch, 1600 Durchstich des
Neuen Grabens durch den Grasbrook usw.), zu den jüngsten Arbeiten gehört
neben großen Baggerungen die Anlage von quer in den Fluß hineinragenden
Dämmen. Durch sie wird die eigentliche Stromrinne, in der das meiste Wasser
fließt, verengert, die Geschwindigkeit und Gewalt des strömenden Wassers wird
erhöht, und die Kraft, mit der die Schlammteilchen des Bodens fortgetrieben
werden, wird stärker. Es können sich nicht neue Sedimente niederschlagen, und
das Bett selbst wird mehr und mehr erodiert.
Damit ist erreicht worden, daß hente die Fahrrinne für Schiffe von
7^2 Meter Tiefgang jederzeit passiert werden kann, und daß größere Schiffe,
so die Riesendampfer der H^I^6 (Hnmburg-Amerikanische Paketfahrt-Aktien-
Gesellschaft), zur Zeit der Flut bis in das Herz von Hamburg gelangen können.
Ein mächtiger Hafen ist in der vollkommensten Weise gerüstet, das rasche Auf-
und Einladen dieser Kolosse zu ermöglichen. Zu diesem Zweck sind Eisenbahnen
direkt auf die Kais geführt und die Schienen 1^ bis 1 Meter vom Wasser
entfernt angelegt worden. Mächtige Krame befördern nunmehr die Waren, die,
sagen wir, aus Südamerika kommen, mit einem Schwung in die Wagen, die
sie weiterhin bis in den äußersten Winkel des Reichs führen. Es dürfte noch
erinnerlich sein, daß sich einst das gigantische englische Schiff Great Eastern wesent¬
lich dadurch als verfehlt erwies, daß die großen Häfen im allgemeinen nicht
in der Lage waren, den Riesenbau aufzunehmen oder die ungeheure Waren¬
menge, die in ihm aufgespeichert war, schnell genug zu löschen. Der Great
Eastern, der 1857 bis 1858 gebaut wurde, war für seine Zeit verfrüht, heute
wird er erreicht und sogar übertroffen von den modernen Passagierdampfern.
Sein Naumgchalt belief sich auf 18916 Registertonnen, von den beiden neue»
Dampfern der hat Amerika 23500 und Kaiserin Auguste Viktoria
25000 Registertonnen. Diese großen Anlagen im eigentlichen Hamburg selbst
lassen den Außenhafen Cuxhaven fast überflüssig erscheinen, und tatsächlich hat
Cuxhaven auch nur einen sehr geringen Verkehr aufzuweisen: im Jahre 1904
angekommn« Schiffe 422, ausgefahren 386. Auch Bremen hat sich bemüht,
den Bedürfnissen des Weltverkehrs entgegenzukommen, aber obgleich seine Ent¬
fernung vom Meer (von Bremcrhaven) nur 70 Kilometer beträgt, ist entsprechend
der geringern Wasserführung der Weser die Tiefe der Fahrrinne heute nur
erst Meter.
Die verschiedne Zugänglichkeit der Häfen prägt sich deutlich in folgenden
Zahlen aus. Im Jahre 1904 fuhren ein in
Die zweite Rubrik setzt sich natürlich aus Zahlen der verschiedensten Größen¬
klassen zusammen — die deutsche Handelsflotte hat Schiffe von weniger als
30 Tonnen neben solchen von mehr als 10000 Tonnen Raumgehalt. Be¬
sonders lehrreich ist aber die dritte Reihe, denn hier tritt deutlich hervor, wie
in den Außenhäfen Cuxhaven und Bremcrhaven die Niesendampfer der großen
Schiffahrtsgesellschaften besonders stark vertreten sind, während in Altona und
Geeftemünde die Zahl der kleinern und kleinsten Schiffe ausschlaggebend ist.
Schon oben ist auf die Wechselbeziehung zwischen Hamburg und Lübeck
hingewiesen worden. Für Lübeck liegen heute die Verhältnisse ganz besonders
ungünstig. Der Stadt Lübeck ist nicht allein durch die Verschiebung des
Haupthandels nach der Nordsee ihre Bedeutung geschmälert worden, Stettin
und Kiel haben ihr auch das Einflußgebiet in der Ostsee beschränkt. Während
der Einfluß Hamburgs durch Elbe, Havel, Spree und den Oder-Spreekanal
bis weit nach Thüringen, Böhmen und Schlesien reicht, hat Lübeck hinter sich
nur die kleine Trave. Schleswig-Holstein ebenso wie Mecklenburg besitzen ihre
eignen Häfen, sind also wesentlich unabhängig von Lübeck, und das reiche
Brandenburg ist durch den Finowknnal der Stettiner Domäne zugewiesen, durch
die Havel der Hamburger Domäne, So bleibt für Lübeck wenig Raum.
Trotzdem hat es keine Kosten gescheut, seinen Handel zu heben. In den
Jahren 1895 bis 1900 wurde der Elbe-Travekanal gebaut, zu dem Preußen
72/2 Millionen Mark beisteuerte, Lübeck insgesamt rund 25 Millionen Mark.
Dadurch ist den Waren, die nach Lübeck kommen, die Möglichkeit geboten, die
Elbe noch weit hinauf zu benutzen. seinen rechte» Wert wird dieser Kanal
aber erst dann gewinnen, wenn die Verbindung zwischen dem Rhein-Weser-
shstem mit dem Oder-Elbcsystcm hergestellt ist. Vorläufig ist freilich dieses
alte Projekt des „Mittellandkanals" zurückgetreten hinter dem getrennten
Ausbau der beiden Einzelgebiete Rhein-Weser und Oder-Elbe. Wenn etwa
einst der bis heute bewilligte Kanal vom Rhein bis Hannover weitergeführt
wird bis zur Elbe, dann werden nicht allein ostelbisches Getreide und ober-
schlesische Erze ihren Weg in das rheinische Industriegebiet finden, sondern auch
schwedische Erze und umgekehrt rheinische Jndnstriecrzengnisse in die Ostsce-
länder Schweden, Rußland. Heute kommt der Verdienst aus dem Verkehr
zwischen Rhein und Schwede» zum Beispiel nach Emden und nach Bremen.
Die verhältnismäßig geringe Zunahme Lübecks neben Kiel und Rostock
tritt besonders deutlich hervor, wenn wir die Zahlen der ein- und auslaufenden
Schiffe verschiedner Jahre miteinander vergleichen. Es liefen
Rostock-Warnemünde hat in den letzten Jahren noch eine besondre
Förderung dadurch erfahren, daß durch die Trajcktvcrbindnng mit Gjedser ans
Falster der internationale Verkehr von Berlin nach Kopenhagen hierüber ge¬
leitet wurde. Für Kiel ist die ausgezeichnete Beschaffenheit seines gewaltigen
und tiefen Hafenbeckens in der langen Föhrde von besonderm Nutzen: die
Tiefe betrügt bis nahe in den innersten Winkel 10 Meter. Dazu kommen die
großen Werften im Anschluß an den Kriegshafen und der Nordostseekanal.
Der Verkehr auf diesem ist nach Ausweis des Statistischen Jahrbuchs in be¬
ständigem Wachsen. Er belief sich
Bemerkenswert ist hier die große Zunahme der Ramnmaßzcihl, die sich mehr
als verdreifacht hat, während die Schisfszcchl nur um etwa 60 Prozent zu¬
genommen hat. Die Einnahmen aus den Kanalabgaben sind entsprechend von
883639 Mark im Jahre 1896 auf 2374906 Mark im Jahre 1904 und
2574340 Mark im Jahre 1905 gewachsen. Diese reichen allerdings uicht
entfernt aus, die Zinsen des aufgewandten Kapitals von 156 Millionen
Mark zu decken. Der Hauptwert des Kanals liegt eben in seiner ungeheuern
militärischen Bedeutung, die einen solchen Zinsverlust wohl begründet er¬
scheinen läßt.
Die Zahl der ein- und auslaufenden Schiffe betrug in
Am seeligsten ist die Zunahme in Stettin, das sich auf eine sichere und stetig
an Bedeutung zunehmende Kundschaft stützen kann durch seine Beziehung zu
Berlin. Ju der Zeit von 1895 bis 1905 hat es mehrere Vororte einverleibt
und dadurch den starken Sprung in der Einwohnerzahl gemacht, der aus der
Tabelle auf S. 381 hervortritt. Danzig und Königsberg sind bei dem geringen
Hinterland, über das sie verfügen, wesentlich ungünstiger daran. Es kommen
für beide Städte in der Hauptsache nur die deutschen Provinzen in Betracht,
da der Verkehr mit Nußland einmal durch die wechselnden Zollverhältnisse stark
beeinflußt wird, dann aber auch durch die genüge Sorgfalt, die Rußland ans
den Ausbau seiner Wasserstraßen verwandt hat. So ist die Weichsel wohl bis
Thorn aufwärts teilweise reguliert und als Verkehrsstraße von Wert, weiterhin
auf russischem Gebiet befindet sie sich im Zustand äußerster Verwahrlosung.
In Thorn sind daher 1904 auch nur 509 Schiffe zu Berg nach Rußland
durchgegangen und 600 zu Tal aus Rußland angekommen. Das würde je
zwei bis drei Schiffe pro Tag bedeuten, wenn wir annehmen, daß der Strom
etwa 200 Tage im Jahre befahrbar ist. Denn hier in den östlichsten Gebieten
Deutschlands äußert sich das kältere Klima schon als ganz wesentlich be¬
stimmender Faktor.
Die Zufahrtsstraßen zu beiden Häfen sind nicht ungünstig. Danzig liegt
nicht eigentlich an der Weichsel, sondern an der Mvttlau, deren Unterlauf aber
durch einen toten Arm mit der Weichsel verbunden ist. Zeitweilig floß die
Weichsel an Danzig vorbei uach Neufnhrwasscr, 1840 aber fand jener Durch¬
bruch statt, infolgedessen sie hente bei Nenfähr in das Meer ausmündet. Der
ältere Weichsclarm ist durch einen Damm fast völlig von der Hauptmünduug
abgeschlossen und dient als Holzhasen. In Neufahrwasser ist die Tiefe 7 Meter,
in der Stadt selbst dagegen nur 4 bis 5 Meter, aber seit 1899 ist ein Frcibezirk
geschaffen worden, dessen Hafen 6 Meter Tiefe hat, und in dem sich große Speicher
zur Aufnahme von Mehl und Getreide befinden. Königsberg, das tief im
innersten Winkel des rasch versandender Frischer Haffs liegt, ist durch einen
6 Meter tiefen „Seekanal" mit dem Meere verbunden worden. Ihm kommt
noch neben dem Pregel, der bis Jnsterburg schiffbar ist, das Memelgebiet zu¬
gute durch den „Großen Friedrichsgraben", einender ältesten deutschen Kanüle
zwischen der Gilge, einem Nebenfluß der Memel, und der Deine, einem Nebenfluß
des Pregel (gebaut 1688 bis 1697). Beide Häfen sind als Festungen von
großer strategischer Bedeutung und bieten als solche den besondern Vorteil, daß
sie nur durch eine gemeinsame Aktion der Flotte und des Landheeres völlig
abgesperrt werden konnten. Mehr als die andern deutschen Häfen zeigen sie ein
doppeltes Gesicht und haben ihren Charakter nicht nnr vom Meere, sondern fast
in noch höherm Maße vom Lande, wo sie die Hauptstädte ihrer Provinzen sind.
l le Baukunst ist die materiellste aller Künste. Wenn Dichter und
Musiker frei und ungehindert ihre Empfindungen gestalten dürfen,
wenn sich der Maler allein durch die Grenzen der künstlichen
Farben, der Plastiker durch die Natur seines Materials ein¬
geengt sieht, so ist der Baukünstler neben allen diesen Beschrän¬
kungen anf Schritt und Tritt gebunden durch das unerbittliche
Naturgesetz der Schwerkraft. Aber der menschliche Geist hat Schiverkraft, Wärme,
Magnetismus und Elektrizität auszunützen gelernt und ist rastlos tätig, seiner
Erfindungsgabe neue Bahnen zu erschließen. Mit berechtigtem Stolz schauen
wir auf die Erfolge unsrer Ingenieure und Techniker. Aber der Künstler
will ja nicht ausnützen; nicht wie ein Krämer, sondern wie ein Krieger geht er
dahin, als ein offner Gegner tritt er vor seine große Feindin, die Schwer¬
kraft, er Null sie überwinden. Räume will er schassen von mächtigen
Dimensionen, Räume, die von einem gewaltigen Bogen überspannt sind, in
den Himmel ragende Recken will er gestalten als Zeichen seines Stolzes. Es
ist in der Vankunst ein ewiges Ringen mit dem Stofflichen und dem Natur¬
gesetze, aber gerade in diesem Ringen liegt vielleicht ein Grund ihrer Schön¬
heit; denn wie das Menschenleben ein fortdauernder, titanenhafter Kampf mit
dem Schicksal und mit allen Mächten der Finsternis ist, so ergreift unsre
Seele der Anblick solchen Ringens mit erschütternder Gewalt; wir fühlen hier
etwas uus verwandtes, allzu menschliches. Liegt hier nicht ein Grund dafür,
daß uns oft jene Werke am meisten ergreifen, in denen das Können des
Künstlers nicht restlos in seinem Wollen ausging, in denen wir also den
Kampf am deutlichsten wahrnehmen? Steht dn eine schlichte, armselige Dorf-
kirche, ihre Wangen sind narbig, ihr Haar zerzaust; mühsam stützt sie sich
uns die sich schräg anstemmenden, klobigen Pfeiler. Wir hören deutlich die
Zwiesprache: Ich habe Bange, sagt die altersschwache Mauer; ich will dich
stütze,,, lehne dich uns mich, sagt der starke, allzu kräftige Pfeiler. Wir denken
an den biedern Meister, der dieses bescheidne Werk in Tagen voller Arbeit
und Nächten voller Sorgen im Kampfe mit seiner Feindin schuf — und wir
fühlen die uns verwandte Seele. Ja es gibt viele Fachleute, die die Frühzeit
einer Stilperiode, in der sich die Konstruktion oft noch tappend und suchend
Zeigt, über die spätere, reifere Zeit stellen. Aber so komisch es sein würde,
wenn man das Jünglingsalter schöner als das Mannesalter nennen wollte,
w irrig scheint mir dieser Standpunkt gegenüber dem Baustil zu sein. Wir
haben selbst in der Neuzeit ein Kindheitsalter eines neuen Stils hinter uns,
Vielleicht, daß wir alle bald die Einsicht bekommen, daß das Jünglings- und
das Mannesalter des modernen Eisen- lind Eisenbetonstils schöner, reifer,
ästhetischer sein wird als jenes.
Aber welche Ansicht man auch vertreten mag. das wird jeder zugeben
müssen, daß man nämlich erst richtig konstruieren muß, ehe man daran gehn
kann, baukünstlerisch zu schaffen, daß ferner jeder neue Baustil mit einem
neuen konstruktiven Gedanken einsetzte (darum bezeichnet man ja mich das
Rokoko nicht als Baustil, sondern als Dekorationsstil), daß wir uns demnach
einer neuen Konstruktion in Eisen nicht schämen, sondern freuen sollen. Kein
Stil ohne Wahrheitsliebe — und wo wäre mehr Wahrheit als in der Kon¬
struktion? Nun ist Konstruktion allein, wie schon betont, noch nicht Stil, es
muß zu dem Gedanken noch das künstlerische Gestaltungsvermögen hinzutreten,
aber die Konstruktion spricht ein zu bedeutendes Wort, als daß man es über¬
hören könnte. Durch die ganze Baugeschichte von den alten Indern bis in
die neuste Zeit zieht sich eine Entwicklung der Baukonstruktionen wie ein roter
Fade», und es wäre eine anregende und nützliche Aufgabe, eine Geschichte der
Baukonstruktionen zu schreiben.
Das folgende erhebt nicht den Anspruch, auch nur annähernd erschöpfend
zu sein, es will nur interessante Blicke in Vergangenheit und Zukunft tun;
es will nur dartun, inwieweit die alten Baukünstler das Gefühl für Kon¬
struktion leitete und welche Folgerungen sich für uns daraus ergeben.
Das am meisten in die Augen springende Gesetz der Statik ist das Gesetz
der Druckfestigkeit. In den schrägen Wänden der Tempel, Pyramiden und
Mastabas der Ägypter, in der schrägen Linie der Obelisken und Säulen¬
schäfte kommt dieses Gesetz klar zum Ausdruck. Je tiefer ein Stein in dein
Gebäude liegt, desto größer ist die tragende Last, die oberste Schicht trägt am
wenigsten, nämlich das Dach oder unter Umständen sogar gar nichts, und die
unterste Schicht muß den ganzen Druck der Mauer aufnehmen! Da nun aber
die Tragfähigkeit bei gleichem Material überall gleich ist, so ergibt sich, daß
die Schichten um so breiter werden müssen, je tiefer sie liegen. In der Durch¬
führung dieses Grundsatzes war mau konsequent bis ins einzelne. Die Wände
wurden möglichst wenig durchbrochen, ein Portal und mehrere kleine Türen,
aber keine Fenster. Man hatte ja Fenster in diesem hellen Lande nicht so
nötig wie bei uns, aber konstruktive Gründe mögen mitgewirkt haben. Aus
diesen Gründen ergibt sich der außerordentlich strenge, massenhafte Charakter
der ägyptischen Bauanlagen.
Die Decke wurde, wie auch später bei den Griechen, als Kassettendecke
gebildet, indem kreuzweis gelegte Steinbalken die abschließenden Steinplatten
trugen. Ein an beiden Enden unterstützter Steinbalken wird auf Biegung
beansprucht, für Stein das ungünstigste, was man sich denken kann, während
Holz und Eisen mich in dieser Beziehung ergiebig sind. Mau kann aber trotz
besserer Einsicht diesen Konstruktionsfehler an vielen modernerei? Bauten wieder
finden; die Folge ist dann, trotz angewandter Hilfsmittel, wie Eisen und Ent-
lastungsbogen, gar zu leicht ein Bruch des Steines. Die Alten kannten noch
nichts besseres, für sie ergab sich jedenfalls die Notwendigkeit, die unter¬
stützenden Säulen sehr eng (etwa vier Meter) zu stellen, wodurch der Raum
natürlich an Übersichtlichkeit und Großzügigkeit einbüßte.
Die spätern Werke der Ägypter haben nicht mehr die mächtige Aus¬
dehnung, dafür ist die Ausbildung im einzelnen so, daß eine Beeinflussung
der griechischen Kunst offenbar ist. Der Grieche, der die Konstruktions-
elemente der Ägypter übernahm, änderte nur in formaler Hinsicht, seine Kon¬
struktion beschränkt sich auf die Errungenschaften der ältern Kultur. Auf die
Verjüngung der Mauer verzichtete er zwar, aber wir fühlen den Ausklang
jener Verjüngung in der überaus vorsichtigen Schrügstellung der Säulen des
ringsum von Säulen getragnen Peripteros. Es ist nämlich durch genaue
Messungen erwiesen, daß der Grieche jene Stützen nicht einfach senkrecht
stellte, sondern eine Wenigkeit nach innen geneigt, wodurch das ganze Bau¬
werk wohl an Elastizität des Aussehens gewinnen mag. Aber wie in der
lotrecht abfallenden Wand, so verläßt der Grieche auch in der Stütze das von
der ältern Kultur überkommne Gesetz der Druckfestigkeit. In jedem Hügel
Hütte der Grieche jeues ältere Gesetz bestätigt finden können, aber das Haupt-
studium der Hellenen war ja der Mensch und seine Gestalt. Da mochte er
denn sehen, daß die Säulen dieser vorzüglichen Schöpfung der Natur sich nach
unten verjüngten, daß überhaupt der Körper des Mannes zumal eine fort¬
laufende Verjüngung nach unten ist, und wie immer der Mensch seine anderswo
hergenommnen Begriffe auf die Baukunst verpflanzt, so schloß nun der Grieche
gewissermaßen einen Kompromiß zwischen der konventionellen ältern Auf¬
fassung und seiner neuern Naturbeobachtung. Eine Klasse von griechischen
Stützen behält noch die einfache ägyptische Verjüngung, die andern aber zeigen
eine Verjüngung nach oben und eine Einziehung nach unten, so den Doppel¬
sinn der Kräfte, Streben und Lasten, d. h. die Einspannung der Stütze be¬
tonend und zugleich, sicherlich ganz unbewußt, auf ein neues Gesetz der Statik,
die Knickfestigkeit, hinüberleitend. Hätte er nämlich seine Stütze nach diesem
Gesetz gebildet, so müßte sie genau in der Mitte am stärksten sein; aber aus
Gründen des formalen Gefühls verlegt er diese Anschwellung, Entasis, in
etwa ein Drittel der Süulenhöhe. In bezug auf die Überdeckung eines Raumes
versagte die konstruktive Tüchtigkeit des griechischen Volkes auf der Halbinsel,
und so blieb es denn vorderhand noch bei dem möglichst schmalen, durch viele
Stützen unübersichtlich gemachten Raum. Die größten an den Propyläen in
Athen vorkommenden Deckenbalken sind nach Durm 5,43 Meter lang.
Da machte nun der Römer einen kühnen Schritt vorwärts, er, der in
formaler Feinheit so weit hinter dem Griechen zurückbleibt, bildet ein neues
Konstruktionselement aus: das Tonnen-, das Kreuz- und das Kuppelgewölbe.
Woher den Römern dieser neue Gedanke kam, ist eine vielumstrittne Frage,
die hier nicht untersucht werden kann, sowohl die Bauwerke der alten Etrusker
zeigen, wenn auch bescheiden, Anfänge einer Wölbtechnik, als auch die der
Assyrer und Babylonier. Hier, wo der Backstein das Baumaterial hergeben
mußte, kam man notgedrungen frühzeitig zu dieser genialen Konstruktion;
man hat Wölbungen im Halbkreise und im Spitzbogen (!) von zwei Meter
Spannung gefunden. Jene Männer haben aus der Not eine Tugend ge¬
macht. Immerhin ist es interessant, in den Bauten Syriens aus einer
spätern Zeit (z. B. Basilika zu Tafkha) gewissermaßen einen Übergang von
der ägyptisch-griechischen Kassettendecke zur Wölbung zu sehen. Hier sind
nämlich die alten Steinbalken, die auf Biegung beansprucht wurden, durch
Rundbogen von etwa 7 Meter Spannung ersetzt, sodaß man wenigstens in
der Vreitencmsdehnung von Stützen unabhängiger wurde. Etwas ähnliches,
aber in anderm konstruktiven Sinne, finden wir ja später in altchristlicher
Zeit in der Basilika Santa Pmssede in Rom.
Der Fortschritt, der hier gemacht wurde, liegt aber darin, daß man bei
der Uberwölbüng einer Wandöffnuug sowohl als anch bei der Überdeckung
eines Raumes nicht mehr den Stein auf Biegung beansprucht, sondern von
nun ab seine beste Fähigkeit, nämlich die Druckfestigkeit, ausnützt. Durch
diese Konstruktionselemente war man nun eigentlich unbeschränkter Herr des
Raumes, wenigstens theoretisch, geworden; denn falls nur die Lehrgerüste
stark genug konstruiert waren und die Wände, die den Druck dieser Gewölbe
aufnehmen mußte«, standhielten, konnte man bis ins Unermeßliche in der
Weite der zu überdeckenden Räume gehn. Und noch ein weiterer Vorteil
ergab sich: hatte man ehedem mit vieler Gefahr die schweren, unhandlicher
Steinbalken versetzen müssen, so konnte man nun mit dem allcrlcichtesten
Material von der Welt, dem Backstein (später sogar mit hohlen Töpfen), ein
Mosaik bildend, die mächtigen Räume einwölben. Tatsächlich sind denn auch
von den Römern in der prachtliebenden Kaiserzeit wahre, oft unübertroffne
Musterbeispiele ausgeführt worden. Als Beispiel eiues Tonnengewölbes möge
das in dem Tempel der Venus und Roma angeführt werden, das eine
Spannung von 11 Metern bei einer Höhe von 26 Metern erreicht. Die
Kreuzgewölbe des sogenannten Friedenstempels messen 25 Meter bei einer
Scheitelhöhe von 35 Metern, und endlich das Kuppelgewölbe des Pantheons
hat eiuen Durchmesser von 43 Metern bei einer Scheitelhöhe von 40 Metern.
„Keine äußern Strebepfeiler oder Stützen im Innern tragen die Halbkugel
der Gewölbehalle, die in ihrer gewaltigen Weite die fünf Schiffe des Kölner
Domes zu fassen vermöchte." Man muß sich solche Dimensionen einmal an
einem Gebäude der Stadt, am besten in der Kirche, abschreiten, und man
denke sich dann den Raum dazu, so wird man den kühnen, stolzen Wagemut
des römischen Baugeistes ermessen. Hat doch selbst die Kuppel von Se. Peter
in Rom nur 42,5 Meter Spannung bei einer allerdings gewaltigen Scheitel¬
höhe von 103 Metern und die der Hagia Sophia in Konstantinopel nur
31 Meter bei einer Höhe von etwa 60 Metern.
Wer kann sich angesichts solches Ringens der Einsicht verschließen, daß
hier der konstruktive Gedanke stilgestaltend wirkte? Wo bleibt hier die Frage
uach dem Ornament, der Dekoration, ob stilisiert, ob naturalistisch, ob klassisch
oder bandwurmartig, das ist hier einerlei. Die Architektur ist eine Raum¬
kunst, und der Raumgestaltung liegen konstruktive Gedanken zugrunde. Das
Ornamentale kommt erst in zehnter Linie. Wenn man die Sache so ansieht,
dann ist allerdings, als ob man auf einem hohen Berge stünde, und weit,
lveit unten, da lügen verschwommen und kaum erkennbar die Kleinlichkeiten
der Welt — oder um es anders zu sagen, es ist, als ob die Unterschiede und
Abschnitte der Baugeschichte verschwänden, und nur ein einziger großer Ge¬
danke, ein ewiger harter Kampf durch diese ganze Welt ginge. Die größten
Geister haben die Errungenschaften mit starker Hand zusammengefaßt, und was
in jahrhundertelangem Ringen unklar aufgeleimt war, das hat dann in ihnen
seine Vollendung gefeiert.
Doch sehen wir, wie sich der konstruktive Geist weiter betätigt. Hatten
die römischen Imperatoren in ihren Baudenkmalen ein Ideal für alle Zeiten,
was Weiträumigkeit betrifft, aufgestellt, so hatten diese Bauten doch einen
Mangel, sie zeigten Wandstürken, die man nur mit dem Ausdruck „klotzig"
bezeichnen kann. Der Tempel der Venus und Roma hat solche von rund
4 Metern, das Pantheon solche von rund 6,50 Metern. In dem Friedens¬
tempel ist eine gewisse Verstrebung der Kreuzgewölbe durch Tonnen angestrebt.
Auf die großartige Entwicklung der Wölbetechnik in Kleinasien und Byzanz
näher einzugehn, würde zu weit führen, nur das sei bemerkt, daß die Ver-
Strebung der Kuppel der Hcigia Sophia durch Halbkuppeln und Kreuzgewölbe
wiederum die Zusammenfassung und das Ergebnis aus jahrhundertelangen
Versuchen ist.
Nun aber trügt germanischer Geist auch sein Scherflein bei. Zwar fehlt
diesen nordischen Bauten die Breite der südländischen, in der Höhenentwicklung
jedoch sind auch sie recht stattlich. Es ist, als ob diese nordischen Menschen
ihre himmelanstrebende Sehnsucht in die aufwürtsstrebeudeu Linien ihrer
Bauten hineinschreiben wollten, während die irdisch fühlenden Menschen
eines warmen, paradiesischen Landes breite Behaglichkeit und ruhige Klarheit
anstreben.
Was hat nun aber der mittelalterliche germanische Baugeist geleistet? Er
übernahm jene alten römischen Konstruktionselemente der drei Gewölbearten:
das Tonnengewölbe erwies sich bald als untauglich, es hat eigentlich nur in
der französisch-romanischen Baukunst, die in engrer Beziehung zur altrömischen
Kunst steht als die deutsche, Verwendung gefunden; das Kuppelgewölbe konnte
man bei der basilikalen Anlage der Kirchen schlecht verwenden, auch dieses trifft
man in der französisch-romanischen Baukunst an; ganz anders das Kreuzgewölbe.
Mit richtigem Gefühl hatte man in Deutschland das konstruktiv Wertvollste
erkannt, denn während das Tonnengewölbe die Last der Decke gleichmäßig auf
den darunter liegenden Mauerkörper übertrüge, wodurch sich also eine große
Masse der Wand, eine Verschwendung an Material ergibt, überträgt ja das
Kreuzgewölbe diese Last auf vier Punkte. Hatte man diese genügend unter¬
stützt, so brauchte man die übrigen Wandflächen nur ganz dünn, vorhangartig
auszuführen. Es hat einige Jahrhunderte gedauert, che man diese Tatsache in
ihrer ganzen Folgenschwere erkannte. In der Zeit bis zum Beginn des drei¬
zehnten Jahrhunderts wagte man noch nicht geringere Wandstärken auszuführen,
wie beispielsweise am Mainzer Dom bei einer Gewölbespannung von 16 Metern,
2,50 Meter, und trotz dieser Mauerstärke getraute man sich nnr kleine Wand¬
öffnungen anzulegen. Wer weiß, wie viel schlechte Erfahrungen man gemacht
hatte! Immerhin deuten die Lisenen der Außenwände, ein altes ravennatisches
Motiv, schon auf einen neuen aufkeimenden Baugedanken hin. Doch die
romanische Baukunst hat einen zweiten Schritt vorwärts getan: das ist das
Rippengewölbe. Während nämlich die scharfgratigen Gewölbe der Römer, ohne
sogenannten Stich, d. i. ohne Erhöhung des Gewölbescheitels über die Scheitel
der Gurtbögen, nur auf einer vollen Einschulung der ganzen Unterseite aus¬
geführt werden konnten, erkannte man nun die Grate als die eigentlich tragenden
Teile. Es ergab sich hieraus die neue Form: hervortretende stärkere Grate,
sogenannte Rippen, dazwischen schwächere, womöglich in sich verspannte Kappen.
Aber trotz dieser Errungenschaften wollte der Baugeist nicht ruhn, er nahm
den Kampf mit der Schwerkraft von neuem auf. Diese unheimliche Kraft drängte
ihm wohl die Wände seiner Gewölbe trotz ihrer Stärke auseinander, deshalb
kam man zuerst in Frankreich auf neue fruchtbare Konstruktionsgedanken, die
sofort neue Formen im Gefolge hatten. Durch Berührung mit dem Orient auf
den Kreuzzügen hatte man den Spitzbogen kennen gelernt. In naiver Neuerungs-
lust fand dieser zuerst rein dekorativ nun auch in der Heimat Verwendung, und
man erkannte gewiß bald den Vorteil des Spitzbogens über den Rundbogen,
d- i- geringrer Seitenschub. Und noch ein zweiter, weit mehr in die Augen
springender Vorteil ergab sich: man konnte mit Hilfe des Spitzbogens nun auch
"lie rechteckigen Grundrißformen überspannen, während man früher an die
quadratische gebunden war. Und nun begann man auch jene oben angedeutete
Konstruktion der Unterstützung der vier Fußpunkte des Kreuzgewölbes folge¬
richtig durchzudenken. Dies geschah auch zuerst in unserm westlichen Nachbar¬
land« seit der Mitte des zwölften Jahrhunderts. Jene vier Fußpunkte wurden
durch Streben und Strebebogen gestützt, und die übrig bleibende Wandfläche
konnte nun ganz dünn, im Kölner Dom bei einer Mittelschiffbreite von 15 Metern,
90 Zentimeter ausgeführt und noch dazu in ihrer ganzen Breite als Fenster
ausgenutzt werden. Das Auge kann nun in diesem logisch durchdachten gotischen
Raume die Schwerkraft in allen ihren Wirkungen, in allen ihren Bahnen ver¬
folgen, von dem höchsten Punkte des Gewölbescheitels durch die Gewölberippen,
Strebebogen, Strebepfeiler bis hinunter in das Fundament.
Diese Entwicklungsbahn war abgeschlossen, hier gab es kein Weitergehn.
Aber der unstete Geist des Menschen und der irdischer gerichtete Sinn späterer
Zeiten war nicht zufrieden mit dieser Leistung. Es wurde ihm bald zu eng in
jenen langen korridorähnlichen Hallen; Freiheit wollte er, nicht mehr den
mystischen Zauber einer in allen Farben schimmernden, weihrauchgeschwüngerten,
gotischen Pfeilerhalle, sein Ideal wurde nun, sowohl in Italien, wo der Bau¬
geist seit dem vierzehnten Jahrhundert mit neuer Kraft erwachte, als auch in
den nordischen Ländern, die weite, einräumige, übersichtliche Halle. Das Kreuz¬
gewölbe wurde trotz seiner Vorteile verlassen, und die Tonne sowohl als auch
die Kuppel traten an ihre Stelle. Aber man hatte doch seit der Zeit der Römer
etwas gelernt, man wußte die Schwerkraft besser zu leiten als jene Alten.
Eine Reihe sogenannter Stichkappen, kleiner quergelegter Tonnen mußte den
Druck des großen Tonnengewölbes auf bestimmte Punkte übertragen helfen,
und für die Kuppel, die bei den Römern ja auch noch gleichmäßig auf der
Mauer lastete, hatte man schon in altchristlicher Zeit durch eine gewisse Kom¬
bination des Kreuzgewölbes mit der Kuppel eine neue Form erfunden, die die
Weiträumigkeit der Kuppel mit der konstruktiven Beschaffenheit des Kreuz¬
gewölbes verband. Man stellte nämlich unter der Kuppel im Quadrat vier
mächtige Bogen auf und füllte die dadurch entstehenden dreieckigen Lücken zwischen
diesen Bogen und dem untern Kuppelkranz, die sogenannten Zwickel oder auch
Pendantifs mit Mauerwerk aus. Im übrigen suchte man sich so gut es eben
ging mit den überkommnen Formen der antiken Kunst: Nischen, Blendbogen usf.
in der Ersparung von Baumaterial zu helfen, nicht allein, um damit an Kosten
zu sparen, sondern weil es eben der höchste Triumph des Baukünstlers ist,
über die Schwere mit einem möglichst geringen Aufwands an Kraft zu siegen.
In unserm Vaterlande haben wir auch bedeutende Zeugen dieses neuen Bau¬
bestrebens, Weiträumigkeit mit konstruktiver Tüchtigkeit zu paaren: als Beispiel
für eine Tonne den Dom in Salzburg mit einer Spannung von 13 Metern, für
eine Kuppel die Frauenkirche in Dresden von Georg Bür mit einer Spannung
von 23 Metern.
Seit jeuer Zeit hat man noch manchen neuen Baugedanken hinzugetragen
(das elliptische Tonnengewölbe, das Spiegelgewölbe), aber keiner war doch so
epochemachend wie die Verwendung des Eisens als Baumaterial! Eine Um¬
wälzung hat sich hier vollzogen und vollzieht sich noch vor unsern Augen, die
mit Recht so manchem Kopfschütteln bei ängstlichen Gemütern begegnet. Was
ist griechische Steinbalkendecke, was Tonne, was Kreuz-, was Kuppelgewölbe?
Es ist alles vergessen, es verschwindet alles, wenn wir uns diesen neuen
Konstruktionen zuwenden. Mit wieviel Aufwand an Zeit, Geld und Material
wurden jene alten Bauwerke aufgeführt, und mit welcher Leichtigkeit und
Schnelligkeit spannen sich unsre modernen eisernen Hallen, die noch dazu jene
ältern an Spannweite übertreffen, denn der Frankfurter Bahnhof mißt bei¬
spielsweise 56 Meter und der Hamburger Hauptbahnhof 72 Meter Spannung.
Dieselben Spannungen können wir heute ohne jede Schwierigkeit, ja fast ohne
jedes Gerüst, wenigstens in dem frühern Sinne, in der Bauweise des Eisen¬
betons ausführen. Wir stehn hier am Anfang einer mächtigen Entwicklung: wo
die Alten stillstehn mußten in ihrer Konstruktion, da müssen wir notgedrungen
mit Hilfe dieser neuen Erfindungen weiter. Hier kann nicht, hier muß ein
neuer Stil wachsen, und er ist im Werden. Ja wir haben vielleicht schon die
Kindheit dieses Stils hinter uns. Das technische, konstruktive Vermögen ist
jedenfalls in kurzer Zeit außerordentlich gestiegen, und wenn wir nur die
Begeisterung, die Zentralisation und den Glauben der Alten Hütten, wir könnten
einen Turm zu Babel bauen, der allen seinen Vorgängern Hohn spräche. Aber
unser Gott ist der Verkehr, und ihm erbauen wir seine Tempel. Wenn dann
nach fünfhundert Jahren die Gelehrten die Eisenbanden des zwanzigsten Jahr¬
hunderts würdigen wollen, so werden sie wahrscheinlich ebenso verblüfft dastehn
wie wir heute bei der Würdigung der griechischen Kunst. „Schlank und leicht
wie aus dem Nichts entsprungen" steht dann der fertige Baustil da; denn die
blutdürstigen Kinder dieser Rasse von Bauten fressen ja ihre eignen Väter
und Mütter. Wir, die wir so glücklich sind, diese Entwicklung mitzuerleben,
sind leider oft so unglücklich, sie nicht zu sehn. Doch hat man zum Glück die
Hoffnung wohl aufgegeben, daß sich aus den alten vergangnen Bauformen
durch irgendeinen Hokospokus plötzlich ein neuer Baustil gebären ließe. Wenn wir
heute in gewissem Sinne auch schon eine neue Formensprache haben, so ver¬
danken wir dies an letzter Stelle ja doch dem Einflüsse der neuen Konstruktionen.
Es wäre komisch, wenn man irgend etwas Bestimmtes prophezeien wollte, genug,
daß wir uns der Stelle bewußt werden, an der wir stehn, daß wir das Erbe
erkennen, das uns unsre Väter hinterlassen haben, und den Fortschritt, den uns
unsre neue Zeit brachte. Die Konsequenz daraus aber wird sein, daß wir
versuchen — auch die Architekten —, mehr und mehr in die Konstruktionen und
statischen Verhältnisse der Eisen- und Eisenbetonbauten einzudringen, ^.rs sins
soisntig, nidil sse.
uliane kam ihm so merkwürdig menschlich nahe — aus ihrer fernen,
verschlossenen Höhe. Ein feines und reizvolles Geheimnis hatte sich
ihm in einem flüchtigen Blick offenbart. Und er war kein Einbrecher.
Er tat ihr kein schändliches Unrecht. Er empfand ein tiefes, unbe¬
kanntes Glück in dem Bewußtsein, daß er dieses Geheimnis besaß und
bewahrte. Als sei etwas von ihrem Wesen, etwas unsagbares und
zartes, mimosenhaftes und heiliges seiner zuverlässigen Obhut anvertraut worden.
Als sie sich auf der Veranda blicken ließ, durchströmte ihn eine solche Wärme,
daß ihm selber ganz bange wurde.
Sie führte ihn in die kühle, schattenerfüllte Eßstube, vor dem Boudoir der
Mutter. Hier stand der schimmernd weiße Tisch mit zwei Gedecken einander gegen¬
über. In der Mitte dazwischen eine Glaskanne mit Rotwein.
Sie müssen mit dem fürlieb nehmen, was ich habe. Ich wirtschafte hier ja ganz
für mich, und ich bedarf so wenig. Bitte schön! Marthe war besorgt, daß es zu
wenig sein möchte, deshalb hat sie diese warme Suppe angerichtet — Sie sollen sich
aber nicht damit quälen, wenn Sie sie zu heiß finden an einem Tag wie heute!
Er segnete im stillen die brave Marthe, nicht zum geringsten für den mächtigen
Teller Suppe, weswegen das Fräulein auf sie schalt.
Führen gnädiges Fräulein den Haushalt?
Ja, ich habe es tun müssen, seit meine Mutter starb.
Und doch haben Sie Zeit gefunden, die Arbeiten Ihres Herrn Vaters zu
verfolgen?
Ach ja, ich habe ihm ja fast von Kindheit an schon als eine Art Sekretär zur
Hand gehn müssen, und nun kann Vater mich nicht entbehren.
Aber ich glaubte verstanden zu haben, daß Herr Professor Hage mehrere
Töchter hat . . .?
Freilich. Wir sind unser drei.
Und Ihre Schwestern haben vielleicht einen andern Wirkungskreis?
Sie lächelte wie beim Gedanken an kleine Kinder.
Ach nein, die haben keinen Wirkungskreis. Gottlob! Die beiden kleinen Mädchen
haben wie die Schmetterlinge durchs Leben flattern dürfen. Sie sind die Lieblinge
hier im Hause. Und das sind sie eigentlich von Geburt an gewesen. Sie kamen
als Vaters und Mutters Trost zur Welt, nachdem uns mein einziger Bruder ge¬
nommen worden war. Sie sind nämlich Zwillinge, unsre kleinen Mädchen.
Und noch nicht erwachsen?
Ja, erwachsen muß man sie nennen, wenigstens den Jahren nach. Aber als
glückliche Kinder dürfen sie noch spielend durchs Leben flattern. Ihr Vater kann
nicht ohne sie sein, und nun sind sie also mit ihm an der See, in dem freien,
fröhlichen Sommerleben.
Es ist vielleicht unbescheiden von mir — aber wäre es nicht natürlich, wenn
die Lasten ein wenig verteilt würden?
Sie dürfen es nicht Lasten nennen, Herr Opseth! Es ist ein Segen von Gott,
wenn man einen Platz auszufüllen hat. Und ich bin von Kindheit an daran ge¬
wöhnt. Und die kleinen Mädchen werden schon früh genug ihre Lasten auf ihren
zarten Schultern zu tragen haben.
Und wenn Sie nun nach Rom gehn, werden gnädiges Fräulein Ruhe be¬
kommen. Die Sekretärstellung nehme ich Ihnen ja ab, und . . .
Ich freue mich so innig darauf, wieder nach Rom zu kommen. Wir haben
früher ja zwei Jahre dort gewohnt, bis zu dem Jahre, wo Mutter krank wurde.
Es ist ein herrliches und veredelndes Leben, das man in der Ewigen Stadt führt
mit all ihrer Kunst und ihren Denkmälern. Aber eine eigentliche Ruhe wird es
nicht für mich. Wir führen ja unsern eignen Haushalt da unten, und Vater wird
mich immer um sich haben wollen, selbst wenn er Ihren kundigen Beistand hat.
Er hat sich nun einmal an seine Arbeitsweise gewöhnt. Aber Sie müssen sich
wirklich versorgen — es kommen keine Gerichte weiter.
Sie leben also auch in Rom mit eignem Haushalt?
Ja, Vater mag es nicht anders. Es ist ja auch das Gemütlichste für uns alle.
Aber recht schwer für Sie?
Ach ja, aber man muß doch schon allein dafür dankbar sein, daß man nur
da unten leben darf!
Als Nachtisch nach dem Beefsteak kam Zwieback mit Milch. Und als er vom
Tische aufstand, war Haut Opseth so ungefähr gerade halb gesättigt.
Draußen ans der Veranda setzten sie sich in weiche Stühle, und das Mädchen
Marthe brachte ihnen Kaffee.
Leben Ihre Eltern noch, Herr Opseth?
Mein Vater starb, als ich noch ein kleiner Junge war, aber Mutter lebt noch.
Oben im Nordland?
Ja, Mutter sitzt daheim und kommt sicher niemals von dort weg.
Ist es lange her, seit Sie Ihre Mutter nicht gesehen haben?
Ich bin jeden Sommer bei ihr dort oben gewesen.
Aber diesen Sommer also nicht?
Nein, in diesem Jahre uicht.
Sie haben Ihre Mutter wohl sehr lieb?
Das war zu viel für Haut Opseth. Er mußte schleunigst sein großes Taschen¬
tuch herausziehen und die Nase sehr geräuschvoll putzen.
Mutter ist eine liebe Frau! sagte er.
Dann schreiben Sie einander Wohl häufig?
Ach ja. Aber Mutter ist jetzt alt und nicht — ja, sie ist eine einfache Fischer¬
frau und gerade nicht — sehr gelehrt. Aber dann ist der Pfarrer daheim so gut ...
Also Sie haben einen gute» Pfarrer da oben.
Einen ungewöhnlichen Mann, ja. Ohne Pastor Darre wäre ich wohl nicht
weit gekommen. Und die Frau auch.
Die Pfarrersfrau?
Sie ist so überaus musikalisch. Sie pflegte die Musik sehr unter der
Jugend daheim. Und dann war sie so herzensgut gegen mich — ich hatte eben
als Lehrer angefangen — und spielte viel für mich allein. Dadurch kam ich zuerst
ins Pfarrhaus.
Sie lieben Musik, Herr Opseth?
Ach jn, das ist wohl das Schönste, was ich kenne.
Musik ist etwas Herrliches. Eine Jakobsleiter, sagt Vater, zwischen Himmel
und Erde.
Ja, hier im Hause gibt es wohl Musik genug, denke ich mir.
Wir sind ja sozusagen und Musik groß geworden. Unsre Mutter lebte in der
Musik.
Sie spielen wohl alle?
Ja, das tun wir. Die kleine Madel spielt Violine, und Karo, meine andre
Schwester, singt. Ich selbst spiele Klavier. Dann haben wir unsre musikalischen
Abende.
Sie würden mir Wohl nicht ein wenig Vorspielen?
Gern, wenn es Ihnen Vergnügen macht.
Sie nahm die Decke von dem großen Flügel drinnen im Salon und begann.
Haut Opseth saß in einem der weichen Lehnstühle, ganz versunken in den Genuß.
Als es sich herausstellte, daß er sowohl Beethoven als auch Bach und Mendelssohn
sehr gut kannte, ging sie in ihrem Repertoire weiter, Stück für Stück . . .
Und die Nachmittagsstunden schwanden dahin.
Da mußte sie aufhören. Sie wollte noch eine kranke alte Dame besuchen.
Als er wieder in der Bibliothek saß, konnte er nicht arbeiten. Es sanfte ihm
im Kopf von der Musik und allen ihren anmutigen Reden.
Er packte zusammen und verließ das leere Haus.
Leise vor sich hinlächelnd ging er durch die Straßen. Noch war ein guter
Monat von Professor Hages Ferien übrig. Und so wie es jetzt angefangen hatte,
wurden es herrliche Tage! . . .
Da war nur eins, was einen Mißklang in seinen wonnevollen Gedanken gab,
sich gleichsam störend hineindrängte: sie spielte mit großer Tüchtigkeit, ja mit ganz
außerordentlicher! Aber nicht wirklich — schön! Fast ein wenig hart oder trocken.
Auch nicht ganz sicher im Takt. Ihm war das mehrmals aufgefallen.
Sonderbar — so ungewöhnlich musikalisch, wie sie war!
Selten verlief ein Abend ohne Gäste in Professor Hages Villa vor der Porta
Pia. Heute waren es zwei junge Gelehrte, Herr von Wenz aus Stuttgart und
Monsieur Benjamin Courtes aus Paris. Außerdem natürlich Haut Opseth.
Herr von Wenz war zum erstenmal da, Monsieur Courtes hingegen gehörte
zu dem festen und meinem Kreis in der Villa. Er hatte heute abend den Deutschen
eingeführt.
Es war heiß hergegangen, wie immer, wenn Monsieur Courtes zugegen war
und nicht viele andre da waren. Monsieur Benjamin Courtes war aus der Nor-
mandie und Germanist von Fach und mit Leidenschaft — »6«zrmain t'urisux«. Er
betete Tacitus an und ließ an sämtlichen französischen Historikern kein gutes Haar.
Sein großes Thema war die entscheidende Bedeutung der Normannen für die Kultur
Frankreichs, jn der ganzen modernen Welt. Und er hatte heute wie immer — in
einer sprudelnden Mischung von Französisch, Deutsch und norwegisch — Weltgericht
über die ganze wissenschaftliche Götterwelt gehalten.
Jetzt, um Mitternacht, gingen sie alle drei in dem seinen, kühlenden Staub¬
regen nach Hause. Die Luft war schwül vom Scirokko und trug ganz den Charakter
einer Frühlingsnacht, obwohl man erst Mitte Februar war. Herr von Wenz wohnte
im Hotel Minerva unten am Pantheon. Haut Opseths Logis lag in der Nähe,
in der Via della Stelletta. Monsieur Courtes wohnte ganz oben am Kapitol,
schloß sich ihnen aber an — hauptsächlich, um eine anerkennende Bemerkung des
Herrn von Wenz über Fühlet de Coulanges zu morden und zu zermalmen, dann
aber, um seine unbegrenzte Bewunderung für Professor Hage, sein Wesen, seine
Leistungen, sein Haus, sein Heim und seine Töchter auszuschütten.
Herr von Wenz räumte ihm bereitwillig ein, daß er nicht enttäuscht worden
sei, trotz der begeisterten Beschreibungen, die ihm sein französischer Freund vorher
gemacht hatte.
Reizende Häuslichkeit! Wundervolles Familienleben!
Monsieur Courtes hob die edle Bescheidenheit des großen Gelehrten hervor:
wie er niemals ein entscheidendes Urteil oder eine ausgesprochne Ansicht über die
einschlägigen Fragen äußerte, weil sie außerhalb seines Faches lagen, weil er ja
klassischer Heitere oder Römer war, er, Professor Hage, dessen Wissen gerade hier
enorm war, ausreichend für fünfzehn gewöhnliche Germanisten! Hier wie eigentlich
überall! Das war ja überhaupt das Phänomenale bei diesem Manne, daß, wo er
sich äußerte, man in allen Fächern, nach allen Seiten hin seiner vornehmen, har¬
monischen Denkart begegnete. So auch in seiner Häuslichkeit! Wie hatte er es
nicht verstanden, sich sogar hier in der Fremde, in einem gemieteten Hause ein
würdiges, ein persönliches Milieu zu schaffen! Und dann diese jungen Damen!
Dieses Bukett von den cillerseltensten Blumen — Geist, Grazie und weibliche Schönheit,
so frei und natürlich sich entfaltend, aufgewachsen in dem heimischen Erdboden!
Die beiden muntern Zwillingschwestern, vor allem aber Mademoiselle Juliane! Diese
Ruhe, dieser Ernst und dabei dieser Liebreiz! Blond und stolz wie eine Thusnelda,
Ararats Dans wie eine Jarlstochter. Er hatte sie zum erstenmal im Herbst auf
dem großen Fest bei dem bayrischen Gesandten gesehen, und sie schritt durch die
Säle, um eines Hauptes Länge höher als alle die andern Damen des Festes mit¬
samt ihren Toiletten, ihren Diamanten und ihrer Schminke! Eine Vornehmheit,
eine stolze Hoheit, die — ab., mon visu! — die einen Rittersmann begeistern
mußte, sich in den Sattel zu schwingen!
Gewiß! Natürlich! Einverstanden! fiel ihm Herr von Wenz in die Rede.
Haut Opseth schritt schweigend neben den beiden her.
Herr von Weih wurde in sein Hotel eingelassen. Monsieur Courtes begleitete
Haut Opseth zurück nach der Via Stelletta, sich noch immerwährend über Fräulein
Juliane ergebend.
Endlich trennten sie sich an der Haustür. Haut Opseth hatte den Schlüssel
in die Tür gesteckt.
Aber er ging nicht hinein. Er lauschte den Schritten des Franzosen. Dann
zog er den Schlüssel heraus und bog schnell um die Ecke, ging auf den kleinen
Platz und in die Trattoria Sora Nina hinein, die zu dieser späten Stunde noch
offen und erleuchtet war.
Die dicke Wirtin saß wie gewöhnlich hinter dem Tisch und schlief. Er setzte
sich an seinen Tisch, und nach Verlauf von wenigen Minuten brachte ihm Giulio
mit seinem stark gegen die Müdigkeit ankämpfenden, liebenswürdigen Gruß einen
gehäuften Teller voll Minestrone.
Das Gewöhnliche? fragte Giulio, indem er lächelnd die Speise hinsetzte.
Ja, danke!
Er hatte diese vorzügliche Minestrone entdeckt, eine dicke Suppe mit Stücken
geräucherten Fleisches, Weißen Bohnen, Zwiebeln und noch allerlei darin. Das
schmeckte so heimatlich und sättigte so herrlich für eine äußerst geringe Bezahlung.
Es war ein wahres Glück dies mit der Sora Nina, die bis gegen Morgen auf
war, und der Minestrone und einem Viertel Liter wohlschmeckenden Frascatiweins
dazu. Es war ihm unmöglich, von den beiden Mahlzeiten satt zu werden, die er
täglich bei dem Professor aß; er konnte doch nicht an dem feinen Tische sitzen und
schlingen wie ein Scheunendrescher!
Die gewöhnliche Gesellschaft war in der entgegengesetzten Ecke versammelt —
eine Anzahl Kellner aus dem feinen Cafe am Korso, die Karten spielten und
Wein tranken. Aber heute abend ließ er sich nicht mit ihnen ein, beantwortete
nur ihre freundlichen Grüße, verzehrte seine Suppe, bezahlte Giulio und ging.
Bei der Haustür angekommen, zündete er seinen Wachsstock an und stieg
langsam die endlosen Treppen hinan. Die Sandsteinstufen waren holprig und ge¬
wölbt und wurden höher, je schmaler und steiler die Treppe wurde, je weiter er
hinaufkam.
Endlich war er ganz oben bei Signor Ccirnevallinis Tür. Sie war mit fünf
verschiednen Schlössern verschlossen. Erst jetzt, nach Verlauf von Monaten, wagte
es der alte Carnevallini, zu Bett zu gehn und es seinem Mieter zu überlassen,
selbst hinter sich abzuschließen. Überhaupt hatte das einsame Ehepaar in großer
Unruhe gelebt von dem Tage an, wo Professor Hage sie in eigner, hoher Person
beredet hatte, ihre Kammer an seinen Sekretär zu vermieten.
Aber nachdem die Alten einem galonierten Diener nach dem andern auf¬
schließen mußten, die bald vom Direktor der Villa Medici, bald vom bayrischen
Gesandten beim Papst, aus dem Palazzo Cnffarelli usw. kamen und sämtlich Karten
und Einladungen für ihren Mieter überbrachten, beruhigten sie sich allmählich. Und
nun waren die Freundschaft und das Vertrauen unbegrenzt.
Drinnen in dem engen, tiefen Zimmer, wo das Bett fast die ganze Breite
des Raumes einnahm, zündete er seine qualmende Petroleumlampe an. Auf dem
kleinen Tisch lag die Mcippe geschlossen. Die Feder darauf mit dicker, eingetrockneter
Tintenkruste. Die Tintenflasche war grau von Staub.
Er setzte sich hin und blätterte in den Papieren. Es war eine Woche her,
seit er sie zuletzt gesehen hatte. Ein paar dichtbeschriebne Bogen lagen da. Aber
daneben nur ein Stoß von Zetteln mit Bleistiftnotizen, niedergekritzelte Sätze, Zahlen,
Daten, Zitate. Unverkennbare Zeugnisse von Überdruß und Müdigkeit.
Er stützte beide Ellenbogen auf den Stoß und legte den Kopf in die Hände.
Ach nein, es sah jammervoll mit ihm aus.
Nichts tat er, zu nichts hatte er Lust. Dieser herrliche Anlauf mit brennendem
Eifer und mit Lust begonnen, im Glänze stolzer Träume, wie wollte er nicht den
Professor hiermit überraschen und erfreuen! Seine Empfehlung und Unterstützung
erlangen, die Arbeit als Doktordissertation einreichen, seine wissenschaftliche Lauf¬
bahn damit begründen.
Und nun lag es hier wie ein Haufen Lumpen!
Und er selber ging gesund und stark umher, mitten in dem lebenden Rom,
überschüttet mit Güte und Wohlwollen — der reine Taugenichts. Seelenkrank und
elend und oft des Ganzen so überdrüssig, daß er sich nur heimsehnte, heim zur
Mutter in ihrem Stübchen im Fischerdorf. Wie ein kleines Kind!
Er drehte sich im Stuhl herum. Zu Füßen des Bettes, gerade vor ihm,
stand das Staatsmöbel der Kammer, ein Kleiderschrank mit einem mächtigen
Spiegel in der Tür. Er sah sich selbst darin, den ganzen Mann, wie er im
Lampenlicht dasaß.
Unwillkürlich mußte er lächeln — in all seiner Schwermut: wollte er nach
Hause in der Mutter Stübchen, so mußte er aber erst die Kleider wechseln.
Einen so feinen Mann hatte die Mutter ihr lebelang nicht gesehen! Hellgraue
Beinkleider, ein langer, schwarzer Rock mit seidnem Futter, Weiße Weste, blanke
Schuhe und dünne Strümpfe! Sie würde ihn nicht wieder erkannt haben, die
Locken gestutzt und auf der Seite gescheitelt, den Bart beschnitten und nach der
letzten Mode vom Barbier frisiert!
Die beiden ausgelassenen jungen Mädchen, Fräulein Madel und Fräulein Karo,
hatten ihn herumgezerrt vom Schneider zum Schuhmacher und in alle möglichen
feinen Läden, hatten ihn behandelt wie einen Jungen, ihm Handschuhe angezogen,
jede sich mit einer Hand abmühend, waren mit ihm zum Haarschneider auf dem
Korso gegangen, hatten ihn belehrt und bedrängt, bis er sich ergab und zu dem
Haarkünstler hineinging, während die beiden draußen stehn blieben und drei Viertel¬
stunden auf ihn warteten.
Nun, da sehen wir ja! Als ob ich nicht gewußt hätte, daß Sie der schönste
Mann in ganz Norwegen sind!
Nein, ich hab es zuerst gesagt, behauptete Madel.
Aber ich bin am verliebtesten in Sie, darauf können Sie sich verlassen! Wir
sind auf alle Fälle viel verliebter in Sie als Juliane!
Ja nun finde ich aber wirklich, daß Sie uns auch etwas beachten können!
Fangen Sie nur gefälligst an, uns ein wenig den Hof zu machen!
Und werden Sie nun um Gottes willen nicht zu eingebildet, Haut, denn
das ist ja gerade der Charme bei Ihnen, wissen Sie, daß Sie so naiv und
dumm sind.
Daß Sie ganz einfach nicht ahnen, wie schön Sie sind!
Ja, die tummelten ihn, wie sie wollten. Er wußte nicht, ob er über sie weinen
oder lachen sollte, so wie sie jeden Tag nach Tische ihr Spiel mit ihm trieben —
um die Zeit war es immer am schlimmsten, wenn der Professor schlief. Sie
lachten und schwabbelten wie die Drossel in der Eberesche, schwänzelten und schar¬
wenzelten um ihn herum, hatten bald dies, bald das — und spielten mit ihm wie
mit einer Puppe.
Und wenn er mit ihnen ausgehn sollte in die feinen internationalen Gesell¬
schaften, dann exerzierten sie ihn ein und spielten Komödie mit ihm mit Ver¬
beugungen und Kratzfüßen und feiner Konversation. Und mitten in der Gesell¬
schaft, während er Angst schwitzte, um alle Schwierigkeiten bei Tische oder auch
sonst zu überwinden, konnte ihm wohl die eine von ihnen eine schreckliche Bemerkung
auf norwegisch zuschleudern, sodaß er nicht wußte, wohin vor Lachen oder Entsetzen.
Entzückend waren sie beide und herzensgut, das war gewiß. Aber Respekt
hatten sie vor nichts. Auf Schwester Juliane pfiffen sie, wenn ihnen die einmal
eine Ermahnung zukommen ließ. Aber sogar ihren Vater behandelten sie auf eine
haarsträubend respektwidrige Art und Weise. Und wenn es die kleinen Mädchen
waren, fand sich der Professor in alles. So streng und ernst er mit der ältesten
Tochter verkehrte, so schwach war er gegen die Zwillinge.
Und gerade das hatte in der allerersten Zeit hier unten eine Art schweigenden
Übereinkommens zwischen ihm und Fräulein Juliane gezeitigt, eine Fortsetzung
des schönen Monats daheim im Gartenhaus, daß er mit ehrerbietigem Mitgefühl
verstand, sich ihr, die sie gewissermaßen im Schatten lebte, nützlich zu machen. Auf
ihr lagen alle Pflichten, und sie erfüllte sie still und geduldig. Die Vergnügungen
gehörten den andern; natürlich auch schon aus dem Grunde, weil ihre tiefe und
ernste Natur keine besondre Freude an dergleichen Lustigkeit und Tand empfand.
In der allerersten Zeit. Es mochten wohl vierzehn Tage gewesen sein, seit dem
ersten Abend, als er in seiner Einsamkeit angereiht gekommen war, und sie sich gleich
seiner angenommen und ihm znrechtgeholfen hatte. Sie hatten damals so manches
erquickliche Gespräch geführt, und in den Freistunden hatte sie ihn auf interessanten
Wandrungen in der Stadt, in Kirchen und Ruinen begleitet.
In der allerersten Zeit. Dann bekam er ja mehr zu tun. Der Professor
legte mehr und mehr Beschlag auf ihn; und als er dann später plötzlich seine ge¬
heime Abhandlung in Angriff nahm, da war er ganz wie begraben. Und doch,
das war nicht der Grund!
Aber in des Professors Haus wurde es lebhafter, je weiter der Herbst vor¬
schritt und sich die Zahl der Reisenden mehrte, von daheim aus Norwegen, aus
Dänemark, aus Deutschland. Rings umher in der Stadt begannen die Gesellschaften,
und an den Mittwochabenden bei Hages waren die Zimmer gedrängt voll. Aber
auch sust an jedem Abend erschienen Freunde und Kollegen. Und Fräulein Julianes
Hausfrauenpflichten wurden natürlich schwerer.
Und doch war es auch das nicht!
Sie hatte ja diese merkwürdige Fähigkeit, alles fertig zu bekommen und
trotzdem immer Zeit zu haben, immer im Zimmer zu sein, sobald jemand da war.
Und sie nahm voller Interesse an allem teil. Aber für ihn hatte sie nie mehr
einen Augenblick übrig. Sie entglitt ihm mehr und mehr. Sanft und freund¬
lich war sie gegen ihn, aber sein Herz litt, denn nun war nichts mehr zwischen
ihnen, nichts mehr hatten sie gemeinsam.
(Fortsetzung folgt)
Die Mvnarchenbegegnuugen der letzten Woche haben Anlaß zu mancherlei
Kommentaren gegeben, darunter auch zu solchen, die auf das kurze Gedächtnis der
modernen zeitunglesenden Welt spekulieren. Man nimmt die Miene an, als habe
mau vorher unter schwer herabhängenden Gewitterwolken gestanden, aus deuen jeden
Augenblick der Blitz herniederfahren könne, während jetzt plötzlich das ganze Gewölk
durch einen erlösenden Windstoß verjagt sei und der blaue Himmel wolkenlos über
uns lache. Zu den Superlativen, die wir dieser Tage in manchen Schilderungen
der Lage reichlich verwandt gesehen haben, vermögen wir uns nun freilich nicht
aufzuschwingen. Gerade weil wir die landläufigen Vorstellungen von der „Ein-
kreisungspolitik" König Eduards niemals geteilt haben — weil wir uns nie vor¬
stellen konnten, daß ein großes Weltreich mit einer Verfassung, wie sie England
hat, seine Politik durch seinen König nach einem offenbar törichten, von persönlicher
Rcmküue eingegebnen System führen lassen sollte — weil wir wußten, daß König
Eduard als der kluge Staatsmann, der er jedenfalls ist, niemals die ihm bei uns
vielfach angedichtete Politik treiben konnte —, darum vermögen wir auch nicht
daran zu glauben, daß die Monarchenbegegnungen in Cronberg und Ischl das
Antlitz der Weltlage wesentlich verändert haben. Trotzdem verzeichnen wir die
Zusammenkunft, besonders die in Cronberg, mit Genugtuung als ein erfreuliches
Symptom, als eine Bestätigung von Verhältnissen, die den Eingeweihten zwar nicht
unbekannt und neu waren, deren öffentliche Bekundung jedoch zurzeit wertvoll genug
ist. Es ist bekannt genug, daß die persönlichen Beziehungen zwischen König Eduard
und Kaiser Wilhelm eine Zeit lang viel zu wünschen übrig ließen, indessen diese
Verstimmungen liegen geraume Zeit hinter uns, und die jetzige Zusammenkunft in
Cronberg hatte doch schon einige Vorläufer gehabt. Aber es besteht in der öffent¬
lichen Meinung die Neigung fort, gewisse Spannungen, die in der auswärtigen
Lage von Zeit zu Zeit entstehn, mit persönlichen Verstimmungen in Verbindung
zu bringen, und deshalb läßt sich nicht leugnen, daß schon die einfache Bekundung,
daß zwischen den Herrschern zweier großer Reiche persönlich herzliche Beziehungen
bestehn, einen gewissen Wert hat. Auch darf man nicht übersehen, daß das nahe
verwandtschaftliche Verhältnis zwischen Kaiser und König immerhin eine gewisse
Rolle spielt, da das Unterbleiben einer Begegnung leicht eine andre Deutung
hervorruft, als man sie der Lage geben würde, wenn solche verwandtschaftlichen
Beziehungen nicht bestünden. Endlich sind die Monarchenbegegnungen ein positives
Zeugnis dafür, daß Schwierigkeit«», die eine persönliche Aussprache der Herrscher
nicht wünschenswert erscheinen lassen könnten, zurzeit nicht vorhanden sind. Denn
es wäre leicht gewesen, die Zusammenkunft zu vermeiden, wenn irgendwelche
politischen Gründe dagegen gesprochen hätten. So aber konnte die Anregung von
König Eduard ausgehn, und Kaiser Wilhelm änderte bereitwillig seine Reisc-
dispositionen.
Was den Wunsch König Eduards betrifft, mit seinem kaiserlichen Neffen zu¬
sammenzutreffen, so will es uns scheinen, als ob es die natürliche Folgerung aus
der Tätigkeit ist, die der König in den letzten Jahren entfaltet hat. Diese Tätig¬
keit ging dahin, durch persönlichen Einfluß die Politik Englands im Sinne einer
neuen Orientierung zu unterstützen, die durch die veränderte Weltlage notwendig
geworden war. Die englische Politik mußte dabei eine Reihe von Verständigungs-
ccktionen unternehmen, die den Eindruck erwecken konnten und tatsächlich erweckt
haben, als solle Deutschland gewissermaßen aus den Entscheidungen der europäischen
Politik ausgeschaltet werden. Kundige englische Staatsmänner, darunter gewiß der
König selbst, mußten wissen, daß eine solche Ausschaltung Deutschlands weder
möglich noch im englischen Interesse sei. Es konnte ihnen ferner nicht entgehn,
daß sie, um an ihre nächsten Ziele zu gelangen, gewissen deutschfeindlichen
Strömungen in verschiednen Ländern Nahrung zugeführt hatten, daß aber das
Überhandnehmen dieser Strömungen nur dahin führen konnte, England selbst in
Verlegenheiten zu bringen, ihm die Herrschaft über die Situation in verschiednen
wichtigen Fragen wieder ans der Hand zu nehmen und unberechenbare Ver¬
wicklungen herbeizuführen, die alles mühsam Gewonnene wieder in Frage stellten.
Für die englische Politik war es in ihrem eignen Interesse die höchste Zeit, die
Gefahr einer programmwidrigen Spannung zwischen Deutschland und England zu
beseitigen, und da es dem König Eduard nicht unbekannt sein kann, daß er bei
uns als der alleinige sxiriws rsotor der Politik Großbritanniens gilt — oft aller¬
dings in einem Sinne, der für den Kenner englischer Verhältnisse etwas Komisches
hat —, so war die von ihm persönlich ausgehende Anregung einer Begegnung
mit dem Kaiser und im Anschluß daran die Ankündigung eines Besuches in Berlin
im nächsten Winter ein geschickt gewähltes Mittel, um die Bemühungen für eine
Verminderung der seit der Ankündigung der Revaler Reise und Falliercs Besuch
in London scheinbar wieder verstärkten Spannung zwischen England und Deutsch¬
land einzuleiten.
In Wirklichkeit ist dieses Nachlassen der Spannung in der europäischen Lage
schon ohne Zutun des englischen Herrschers vorher eingetreten. Wie wir früher
auseinandergesetzt haben, hatte die englisch-russische Verständigung in Sachen der
mazedonischen Frage und des nahen Orients überhaupt mancherlei Besorgnisse
hervorgerufen, weil sich reichliche Konfliktstoffe darin bergen. Nun erwies es sich
freilich sehr bald, daß es nicht Englands Absicht war, die Dinge auf die Spitze
zu treiben, daß vielmehr Sir Edward Greys Vorschläge nur Mittel zum Zweck
gewesen waren, nämlich einmal, um einheimischen Strömungen, die sich für Freiheit
und Reformen in der Türkei begeisterten, gefällig zu sein, sodann, um mit Ru߬
land in nähere Fühlung zu kommen und die Abschwenkung Englands von der
alten traditionellen Meerengenpolitik und der frühern Interessensolidarität mit der
Türkei augenfällig zu machen. Die Verfassungsbewegung in der Türkei hat dann
allen beteiligten Mächten die willkommne Handhabe gegeben, sich vorläufig zurück¬
zuziehen. Jetzt kann die Türkei zunächst einmal selbst zeigen, was sie mit Hilfe
der neuen freiheitlichen Staatsform zu leisten vermag; die europäischen Mächte
sehen aus einiger Entfernung zu. Das ist der gegebne Augenblick, wo die all¬
gemeine Stimmung nach Beruhigung und Klärung verlangt, und das ist auch in
Cronberg zum Ausdruck gekommen. Als ein Volk, das immer aufrichtig gesonnen
ist, friedlich seinen Weg zu gehn, wenn es in Frieden gelassen wird, freuen wir
Deutschen uns dieser Wendung, ohne sie zu überschätzen.
Es kann vielleicht auffallen, daß die englische Presse die Begegnung ihres
Königs mit unserm Kaiser besonders gefeiert und ihr eine Bedeutung beigelegt hat,
die wir nicht ganz darin zu erkennen vermögen, so befriedigt und erfreut wir auch
darüber sein mögen. Ein Teil dieser englischen Begeisterung ist vielleicht auf eine
Art von Gewohnheit zurückzuführen. Es entspricht einem Herkommen, bei solchen
Gelegenheiten den Mund etwas voller zu nehmen, als es in gewöhnlichen Zeit¬
läuften zu geschehen pflegt. Nebenbei scheint es jedoch, als ob der Wunsch nach
einer Annäherung an Deutschland und einer Beseitigung der von Zeit zu Zeit
wiederkehrenden Empfindlichkeiten, Gehässigkeiten und Anfälle von Mißtrauen in
England an Umfang gewonnen hätte. Wir sind auch der Meinung, daß eine
solche Entwicklung nicht ausbleiben kann. Viel ist in den letzten Jahren geschehn,
um die beiden Völker einander näher zu führen, sodaß sie sich besser kennen lernen,
und es sind bereits sichtbare Wirkungen davon festzustellen. Freilich bleibt immer
noch ein großer Rest von Vorurteilen zu überwinden. Und hierbei scheint es, als
ob man neuerdings in England auf einem uicht ganz richtigen Wege ist. Gegen¬
stand des Mißtrauens ist für die Engländer nach wie vor in erster Linie der Bau
der deutschen Kriegsflotte. Man bildet sich nun einmal ein, Deutschland ver¬
größere seine Flotte im Hinblick auf die Möglichkeit eines Konflikts mit der britischen
Seemacht und Weltstellung. Und deshalb knüpft sich der Gedanke einer deutsch¬
englischen Annäherung immer wieder an die Vorstellung, Deutschland müsse zur
Beseitigung der britischen Beklemmungen dadurch beitragen, daß es sich den Vor¬
schlag einer vertragsmäßigen gegenseitigen Abrüstung zur See zugänglich zeige.
Wir bauen aber gar keine Flotte gegen England, sondern wir bauen sie, um unsre
Kriegsrüstung zur See in Einklang zu bringen mit der Entwicklung unsrer Handels¬
flotte und dem Wert und Umfang unsrer überseeischen Interessen. Da sich diese
Interessen ganz unabhängig von unsern Beziehungen zu England entwickelt haben,
so können wir auch nicht die Maßregeln, die wir zum Schutz unsers Handels und
unsrer überseeischen Beziehungen für notwendig halten, einer einzelnen auswärtigen
Macht zuliebe einschränken, und auch in einer Beschränkung der Seerüstungen Englands
würde nichts liegen, was uns als Entgelt für unsern Verzicht erscheinen könnte.
Wir unsrerseits rechnen vielmehr so sehr rin der relativ unveränderten Macht¬
stellung Englands zur See auch in Zukunft, daß wir gar nichts dagegen haben,
wenn England für jedes deutsche Kriegsschiff, das neugebaut wird, zwei neue
englische auf Stapel legt. Wir können das nicht ändern und erkennen grundsätzlich
an, daß England für seine Sicherheit tut, was es vermag und für gut hält. Aber
wir können von dem gleichen Recht für uns nicht abgehn.
Einen tiefen Eindruck hat im Auslande unstreitig die Bewegung hervorgerufen,
die durch das Unglück des Grafen Zeppelin verursacht worden ist. Die National¬
spende, die ins Werk gesetzt worden ist, nimmt ihren erfreulichen Fortgang und
zeigt, wie eine nationale Sache mit einem Schlage alle Zwietracht und Kleinlichkeit
bei uns hinwegfegt, wenn der rechte Anstoß gegeben ist. Das ist eine Beobachtung,
die mancher mißgünstigen Spekulation unsrer Feinde einen argen Stoß versetzt hat.
Man hat sich in letzter Zeit wieder viel mit der sozialdemokratischen Partei
beschäftigt, weil zwei große süddeutsche Landesorganisationen, in Bayern und Baden,
in einer wichtigen grundsätzlichen Frage, der Budgetbewilligung, den Weisungen der
Gesamtleitung der Partei und dem bisher stets geübten Brauch entgegengehandelt
haben. In Baden zuerst haben die Sozialdemokraten bei der Schlußabstimmung das
Budget in seiner Gesamtheit bewilligt, und in Bayern haben sie dasselbe getan,
noch dazu einschließlich des Etats für das Heer. Diese unerhörte Ketzerei hat
natürlich den ganzen Zorn der Parteileitung und des Zentralorgans der Partei
erregt. Daraus schließen viele, daß es auf dem bevorstehenden Parteitage in Nürnberg
wieder eine so gepfefferte und gesalzne Auseinandersetzung geben wird wie einst in
Dresden. Wir können es abwarten. Eine extreme Partei, die ihre größte Kraft aus
der völligen Verneinung alles Bestehenden gezogen hat, wird, solange sie im Stadium
des Wachstums ist, leicht derartigen Schwankungen unterliegen. Die bloße Verneinung
verträgt auf die Dauer kein Mensch. Wenn die Umstände danach sind, wird ihn
der Trieb, sich irgendwie positiv zu betätigen, mächtig erfassen. In Süddeutschland
ist man überhaupt nicht geneigt, Gegensätze, über die man sich vielleicht mit großer
Leidenschaft und Hitze streitet, in der praktischen Ausführung tragischer zu nehmen,
als unbedingt nötig ist. Es ist eine alte Erfahrung, daß, wenn es in Norddeutsch-
land hauptsächlich rote Sozialdemokraten gibt, es in Bayern auch weiß-blaue und
in Baden rot-gelbe gibt. Daraus Schlüsse auf den Charakter der Führung der
Partei, auf die Möglichkeit einer Mauserung oder gar Spaltung ziehn zu wollen,
scheint uns verfrüht. Denn vorläufig sehn wir noch keine rechte Veranlassung für
die Erwartung, daß der extreme, intransigente Charakter der Partei mit ihrer gänzlich
ablehnenden Haltung gegenüber dem ganzen bürgerlichen Staats- und Gesellschafts¬
leben fallen gelassen werden sollte. Diese Methode hat ihre Kraft, die Massen
hinzureißen, noch nicht erschöpft. Das wissen die um Bebel ganz genan, und sie
werden fortfahren, den Revisionismus mit aller Wucht ihres demagogischen Pathos
niederzuhalten. Aber wir glauben nicht einmal, daß sie das Dresdner Schauspiel
wiederholen werden. Die Rechnung wurde damals ein bißchen zu hoch. Gewiß
wird auch für die Sozialdemokratie, wie für jede politische Utopie, einmal die Stunde
schlagen, wo weder der Fanatismus eines Bebel noch revisionistische Kompromisse
mit radikal-bürgerlichen Anschauungen den innern Zusammenbruch aufhalten können.
Aber dieser Zusammenbruch hängt nicht so sehr davon ab, daß die Massen eines
Tages aus dem Taumel ihrer Parteihoffnungen mit mehr oder weniger Katzenjammer
erwachen, als davon, daß die bürgerlichen Parteien in positiver sozialer Arbeit die
moderne Gesellschaft so ausbauen, daß sie auch für den gewerblichen Arbeiter wohn¬
liche Räume bietet. Denn der Arbeiter hat auch heute noch trotz vieler segensreichen
sozialen Einrichtungen das Gefühl, daß er in dem heutigen Staats- und Gesell¬
schaftsbau nicht recht zu Hause ist. Solange das so ist, werden die unangenehmen
Erfahrungen, die er im sozialdemokratischen Parteileben macht, immer nur halbe
Wirkungen ausüben. Erst wenn der Arbeiter innerhalb des modernen Staats und
seiner Einrichtungen Raum für die Betätigung seines Klassenbewußtseins findet,
wird er für das Utopische der sozialdemokratischen Theorie überhaupt erst sehend
werden.
Dernburgs Fahrt nach Südwest geht jetzt nicht mehr in dem Maße
unter dem Ausschluß der Öffentlichkeit vor sich wie während seines Aufenthalts in
Britisch-Südafrika. Was wir jetzt erfahren, hat einigermaßen Hand und Fuß,
während man bei den frühern brockenweisen Nachrichten, die uns der Draht und
die englische Presse vermittelte, immer das fatale Gefühl hatte, auf einen Unsinn
hereinzufallen. Immerhin ging aus allem mit hinreichender Deutlichkeit hervor, daß
Dernburg mit dem Gedanken einer deutsch-englischen Interessengemeinschaft
in Südafrika, die zunächst in einem Anschluß der gegenseitigen Eisenbahnen einen
praktischen Ausdruck finden sollte, keine Gegenliebe gefunden hat. Darüber können
wir uns trösten und ruhig abwarten, denn die Sache hat für uns weiter keine
Eile. Vorläufig haben wir mit dem wirtschaftlichen Ausbau unsrer Kolonie genug
zu tun. Trotz aller offiziellen Liebenswürdigkeit scheint von englischer Seite doch die
Informationsreise unsers Kolonialsekretärs mit tiefem Mißtrauen verfolgt worden
zu sein. Es ist komisch, die sonst so nüchternen und praktischen Engländer verlieren
sofort die Besinnung und bekommen die wunderlichsten Einfälle, wenn sie die ge-
fürchtete deutsche Konkurrenz von ferne wittern. Da hat sich Dernburg anscheinend
mit einigen maßgebenden Persönlichkeiten des neuen holländisch-burischen Regimes
gut unterhalten und ist nebenbei auch aus eine so hochpolitische Sache wie die
Frage der Abtretung der Walfischbai zu sprechen gekommen. Sofort findet es der
Standard auffällig, daß Dernburgs Besuch in Britisch-Südafrika ausgerechnet mit
der Einrichtung holländischer Regierungen in drei britisch-südafrikanischen Kolonien
zusammenfalle, und Dernburg hinreichend verdächtig, daß er eigens nach Südafrika
gekommen sei, um mit dem holländischen Element in Südafrika zum Schaden der
britischen Interessen Fühlung zu gewinnen. Auf solche Hundstagsphantasien näher
einzugehn, können wir uns um so mehr sparen, als wir den einzig richtigen Stand¬
punkt der deutschen Politik in Südafrika in den letzten Nummern schon präzisiert
haben. Item: wir denken nicht daran, uns durch engere Attachierung an das
holländische Element in Südafrika eine Rute aufzubinden. Wir betrachten unser
Verhältnis zu Südafrika als eine rein wirtschaftliche Frage, und die Engländer
werden gut tun, uns gegenüber dasselbe zu tun, so werden sich die gemeinsamen
Interessen leicht finden.
Nun aber doch noch ein paar Worte über die unerfreuliche Ursache dieses
Seitensprungs in die hohe Politik, die Walfischbai, die nachgerade ein ebenso un¬
entbehrliches Requisit der Hundstage geworden ist wie die Seeschlange. Hand aufs
Herz: in England hat man von allem Anfang an, das ist klar, den Besitz der
Walfischbai als eine bewußte Provokation gegen Deutschland betrachtet, als einen
netten Pfahl im Fleische der deutschen Kolonie, sonst würde man dort nicht mit
solcher Zähigkeit an diesem für England im Grunde unbequemen und teuern Besitz
festhalten und sofort empört aufschreien, wenn eine Abtretung auch nur angedeutet
wird. Wohlverstanden, wir empfinden diese Provokation nicht als solche, sie ist
ein Versuch am untauglichen Objekt. Aber warum soll mau den Engländern nicht
dieses unschuldige Vergnügen lassen? Wir brauchen die Walfischbai ja nicht. Für
uns ist sie nur ein kleiner Schönheitsfehler auf der Karte, genau wie die Roastbeef-,
die Plumpudding- (wenigstens dem Namen nach echt englische) Inseln an unsrer
Küste. Jedenfalls denken wir nicht daran, uns die Beseitigung dieses Schönheits¬
fehlers Geld kosten zu lassen. Das können wir in Südwest vorläufig anderweit
besser gebrauchen.
Mittlerweile ist Dernburg in Deutschsüdwest angekommen, und wir wollen
ihm dorthin folgen. Seine erste Großtat dort war die feierliche Eröffnung der
Eisenbahn von Lüderitzbucht nach Keetmannshoop, die von der bewährten
kolonialen Eisenbahnbaufirma Lenz & Co. pünktlich fertiggestellt und dem Verkehr
übergeben worden ist. Von Kennern, die sie schon gesehen haben, wird versichert,
daß wir ans diese Bahn stolz sein können. Die Baufirma hat dafür gesorgt, daß
der Verkehr schon recht lebhaft pulsiert, und daß er sofort die notwendigen Hilfs¬
mittel, Unterkunftsräume, Lagerräume und dergleichen in gefälliger praktischer Auf¬
machung, und was in Südwest besonders wichtig ist, Wasser in genügender Menge
vorfindet. Der Besiedlung steht also nichts mehr im Wege, und wenn es sich die
Regierung nun angelegen sein läßt, daß den Ansiedlungslustigen tatkräftige Unter¬
stützung zuteil wird, so ist zu hoffen, daß sich nun auch der so schwer heimgesuchte
südliche Teil der Kolonie in gesunder Weise entwickeln wird. Wie es scheint, ist
neuerdings nun auch dafür gesorgt worden, daß nur noch deutsche Ansiedler zu¬
gelassen werden. Der Wetterwinkel der Kolonie freilich, der äußerste Süden, ist
vorläufig noch mit Vorsicht zu behandeln. Es fehlt dort noch an der notwendigen
Sicherheit. Mit dem im Gang befindlichen Ausbau der Bahn nach Süden, See-
Heim-Kalkfontein-Warmbad, wird sich aber wohl eine scharfe Kontrolle der Grenze,
namentlich auch des Oranjeflusses ermöglichen lassen. Dazu ist aber notwendig,
daß die Schutztruppe uicht allzusehr verringert wird, solange nicht die neugebildete,
nur 700 Mann starke Landespolizei Verstärkt ist. Was falsche Sparsamkeit hinterher
kosten kann, dafür ist uns die soeben eröffnete Eisenbahn Lüderitzbucht-Keetmanns-
hoop ein warnendes Exempel. Hätte der Reichstag diese Bahn ein Jahr früher
bewilligt, so hätte uns der Aufstand beiläufig 30 Millionen weniger gekostet, ab¬
gesehen von den vielen Menschenleben. Dem Reichstage zur Beachtung und
Dcmachachtung!
Inzwischen hat uns Dernburg eine freudige Überraschung bereitet und eine
Hoffnung erfüllt, der wir in der letzten Rundschau Ausdruck gegeben hatte». Er
hat in der Eiugebvrnenpolitik einen andern Standpunkt eingenommen, indem
er die von uns mehrfach besprochnen Lindcquistschen Eingebvrnenverordnungcu be¬
stätigt hat. Dn er vor kurzem noch ihre Milderung oder Aufhebung für notwendig
hielt, so hat er sich also eines Bessern besonnen und wird damit in Südwest volle
Zustimmung finden. Es ist Wohl anzunehmen, daß die unsympathischen Zustände,
die durch die verkehrte englische Eingebornenpolitik in Südafrika geschaffen worden
sind, auch Dernburg zum Bewußtsein gekommen sind und ihm gezeigt haben, wohin
wir steuern. Wir können nnr hoffen, daß diese Erkenntnis den Staatssekretär
vollends auf den einzig richtigen Standpunkt hinüberleiten wird, daß wir zwar
für das Wohlergehn der Eingebornen die nötigen gesetzlichen Garantien schaffen
müssen, für ihre gesundheitliche und kulturelle Hebung, daß wir sie schützen müssen
vor Ausbeutung und schlechter Behandlung, daß wir aber anderseits, entsprechend
dem Charakter und der Weltanschauung des Negers, den Eingebornen mit fester
Hand das Bewußtsein beibringen müssen, daß wir die Herren sind, und daß unbe¬
dingte Anpassung an unsre Wünsche auch zu ihrem eignen Besten ist. Für Süd¬
west soll diese Politik maßgebend sein, und hoffentlich wird sich auch in der Ver¬
waltung der andern Kolonien die Änderung in den Anschauungen des Staats¬
sekretärs geltend machen. Namentlich mochten wir sie für Ostafrika wünsche».
Auch sonst läßt sich der Besuch Deruburgs in Südwest recht vorteilhaft für
die Kolonie an. Die Selbstverwaltung ist ganz nach den Wünschen des
Gvnvcrnementsrats genehmigt worden, und hoffentlich bleibt es dabei, damit unsre
Landsleute nnbehemmt durch allzu große Lasten über die nächsten Übergangsjahre
wegkommen. In Swakvpmnnd und Lüderitzbncht wird jetzt eine Handelskammer,
in Windhuk eine Landwirtschaftskammer ins Leben gerufen, daneben ein Krcdit-
institnt, das hoffentlich die Negierung recht leistungsfähig gestaltet.
Überhaupt gehts in Südwest recht hübsch vorwärts. Auch die Ovambofrngc
geht ihrer Lösung entgegen, und es ist begründete Hoffnung vorhanden, daß schon
in der nächsten Zeit an die Erschließung dieses reichen Gebiets gegangen werden kann.
Bekanntlich teilen wir uns dank der früher üblich gewesuen verständnislosen kolonialen
Abgrenzungspolitik mit den Portugiesen in das Ovamboland. Die Portugiesen
hatten nun in den letzten Jahren viel unter Unruhen im Ovamboland zu leiden.
Nach mehrfachen empfindlichen Schlappen gelang es ihnen nun im verflossenen
Jahre, die Ovnmbos endgiltig niederzuwerfen und- auch die am Kampf mit den
Portugiesen beteiligt gewesnen deutschen Ovambos derart einzuschüchtern, daß sich
diese plötzlich auf den früher angenommnen deutschen Schutz besannen und in
Windhuk unsre Hilfe gegen die Portugiesen erbaten, die ihnen natürlich bereit¬
willigst zugesagt wurde, denn einerseits sind die Portugiesen sehr zufrieden, wenn
wir endlich das deutsche Ovamboland militärisch besetzen, andrerseits hatten wir
schon lange peinlich empfunden, daß das Ovamboland nur auf dem Papier uns
gehörte. Die Sache hatte aber einen Haken. Zwischen unsrer nördlichen Station
Nnmutoni und den hilfesuchenden Ovambostämmen saß ein uns feindlicher Ovambo-
hänptling, der alte Nechale, der nicht mittun wollte und drohte, eine größere
Truppenabteilung feindlich zu empfangen. Da uus nun an einem neuen „Orlog"
gar nichts liegen kann, um so weniger als die Ovambos, die sich als Sachsen-
gäuger fortgesetzt in großer Zahl zur Arbeit am Bahnbau und in den Kupferminen
meldeten, als Arbeiter jetzt unentbehrlicher als je sind, so machte man in Windhuk
gute Miene zum bösen Spiel und beschränkte sich darauf, den bekannten Haupt¬
mann Franke, eine Respektsperson bei den Eingebornen, in kleiner Begleitung zu
den Ovmubos zu sende». Kaum war dieser dort angekommen, so starb gerade
zur rechten Zeit unser Feind Nechale, und sein deutschfreundlicher Bruder kam ans
Ruder. Nun hatte Franke gewonnenes Spiel und verständigte sich unschwer mit
den fünf deutschen Ovambvhäupilingen, die sich bedingungslos unterwarfen. Jetzt
heißt es, das Eisen schmieden, solange es heiß ist, und schleunigst Militnrstntioncn
anlegen. Sind wir erst im Lande, so werden sich die Ovmnbos, durchweg fleißige
seßhafte Ackerbauer, ohne weiteres mit unsrer Herrschaft abfinden. Sie werden
als vernünftige, wirtschaftlich tätige Menschen bald ihren Vorteil merken, wenn sie
von der seitherigen despotischen Gewalt ihrer Häuptlinge nach und nach befreit
werden. Und für die Wirtschaft unsrer Kolonie bedeutet das Ovambolcmd einen
sehr wertvollen Zuwachs.
Von den andern Kolonien ist im Augenblick nicht viel zu sagen. In
Kamerun ist eine Kopfsteuer für die Eingebornen, soweit sie durchführbar ist, ein¬
geführt worden. Diese Steuerform hat im Gegensatz zur Hütteusteuer, wie wir
sie in Ostafrika haben, den Vorteil, daß durch sie die erwerbsfähigen Individuen
in größerm Umfange zur Besteuerung herangezogen werden können. Sie wirkt
also gerechter als die Hüttensteuer, die eigentlich nur die Familienväter, nicht die
»uverheiratetcu jungen Leute erfaßt.
Ju Togo soll die bereits bestehende Kopfsteuer progressiv ausgestaltet werde».
Farbige Hcmdluugsgehilfeu, die mehr verdienen als Arbeiter, sollen entsprechend
stärker herangezogen werden. Wir werden darauf in nächster Zeit eingehender
zurückkommen.
Alles tu allem genommen hat also der letzte Monat aus kolonialen Gebiete
In Form einer Novelle,
die ihren Stoff ans dem mittlern, zu höherer Bildung strebenden Beamtenstande nimmt,
schildert Rudolf Hannor, der als protestantischer Pfarrer in einem konfessionell
gemischten Gebiete Süddeutschlands die Verhältnisse genau kennen gelernt hat, den
Gegensatz der Konfessionen in seiner Wirkung auf persönliche Lebensbeziehungen,
auf Familie und Beruf.*) Es ist gewiß ein Wagnis, diese Verhältnisse zur Grund¬
lage einer Dichtung zu machen. Alle Kunst jedoch, die echt ist, wurzelt ini mensch¬
lichen Erleben. Gewiß hat mich die Dichtung das Recht, die unsre Zeit bewegenden
religiösen und kirchlichen Fragen zu behandeln, sofern sie nur Kunst bleibt, d. h. die
das Leben erfüllenden Erscheinungen in einem Bilde objektiviert. Gewiß ist dann
das Werk durch Zcitströmnngen bestimmt und vielleicht auch begrenzt; aber dadurch
allein hat es Lebensblut; eine sich von allen Lebensbeziehungen loslösende Kunst
wird niemals lebensfähig sein. Das genannte Buch ist gewiß nicht ohne eine fühlbare
Tendenz; aber das Streben nach der Objektivität des Kunstwerks ist ihm nach¬
zurühmen. Die Gegensätze kommen in ihrem Wesen beide zu voller Geltung. Freilich
spricht das Buch deutlich aus, daß es zwischen ihnen keinen Ausgleich gibt. Wertvoll ist,
daß hierbei nicht die Lehre und kirchliche Praxis, sondern die katholische Frömmig¬
keit als die das Leben bestimmende Macht geschildert Wird. Auf ihr Verständnis
kommt es in der Tat an, wenn man dem Katholizismus gerecht werden will, was
nicht immer leicht ist.
In den letzten Jahren hat die theologische Wissenschaft mehrfach versucht, das
Wesen der historischen Formen des Christentums nicht von ihren Dogmen und Sym¬
bolen aus, sondern von der sich im gesamten Leben darstellenden Frömmigkeit ans zu
Würdigen. Das will auch diese Dichtung. Der Weg ist richtig: aber die Aufgabe ist
zu schwierig, als daß sie in jedem Zuge künstlerisch bewältigt sein könnte. Vielleicht
gewinnen wir immer mehr die Anschauung, daß ein Ausgleich der bestehenden Gegen¬
sätze nicht dadurch möglich ist, daß wir uus auf den Boden abstrakter Allgemeinheiten
zurückziehen, daß vielmehr jeder, der überhaupt Religion hat, sie in einer geschicht¬
lichen Form — mag sie auch eine Schranke sein — leben muß und dieses Recht auch
dein andern zugestehe. Es ist ein Zeichen für das ehrliche künstlerische Wollen des
Verfassers, daß aus dem Buche kaum zu ersehen ist, in welchem Lager er steht.
Dus gibt ihm das Recht, ein sei schwer zu behaudeludcs Thema zu wählen, das
e
Freunde der Tierwelt seien auf eine Serie von zier¬
lichen Büchlein aufmerksam gemacht, die bei Gownns >K Gray, Leb. in London
»ut Glasgow erscheinen und deren Vertrieb für Deutschland die Verlagsbuchhand¬
lung W. Welcher in Leipzig übernommen hat. Wir meinen die Serie (Zov^n«'«
!^den-c>. KooKs, von der uns die Nummern 1 (WM dirais n,t Iromv), 6 <MosK-
VAtsr ti-zluzs), 10 (I^iis in tuo ^utarotio), 11 ikspt.no in'v) und 17 (lZi'ni«in
wcluulliüs) vorliegen. Jedes dieser Bändchen enthält 64 musterhaft in Autotypie
reproduzierter photographischer Aufnahmen von Tieren in ihrer natürlichen Um¬
gebung und gleichsam in ihrer Häuslichkeit, Aufnahme», die ein glänzendes Zeugnis
dafür ablegen, daß sich die Engländer auf das Weidwerk mit der Kamera nicht
minder gut verstehn wie unser Schillings, nud die, da sie meist uuter günstigern
Verhältnissen zustande gekommen sind als die bekannten Photographien unsers
deutscheu Forschers, zum großen Teile bei aller Naturwnhrhcit auch noch eine ge¬
wisse künstlerische Abrundung zeigen und infolgedessen bildmcißigcr wirken. Da ist
zum Beispiel gleich die erste Aufnahme in Vital bli'as s,t, Ironuz, ein Nest der
Singdrossel ini Brombeergestrüpp, ein echtes, bis in alle Einzelheiten mit minutiöser
Schärfe durchgeführtes Stilleben, während sieben junge Fitislanbscinger, auf einer
Ranke sitzend und der Fütterung harrend, wie ein lebender Feston wirken. Be¬
sonders reich sind die Klippen der englischen und der nordischen.Küsten mit ihrem
Vogelleben vertreten. Da sehen wir ganze Kolonien von Tölpeln, Möwen und
Lummen bei der Nahrungaufnahme, beim Brutgeschäft oder in der Ausübung ihrer
Schwimmkünste.
Bei den 1?rczsllvat<zr Kslros ist der Schwerpunkt natürlich weniger auf die
Umgebung und die charakteristische» Bewegungen als auf die individuellen Eigen-
tümlichkeiten der einzelnen Fische gelegt, und man muß gesteh», daß die Photo¬
graphen die rein technische» Schwierigkeiten, die jede Aufnahme von Objekte» im
Wasser bietet, »lit großem Geschick überwunden haben. Bilder des Hechtes, des
Sonnenfisches, der verschiednen Karpfeunrten, des Katzenwelses und des Schlamm¬
beißers sind zum Beispiel wahre Meisterwerke.
Dus Bändchen I,ils iir dirs ^nen-vllo bietet einen Teil der Photvgraphischcn
Ausbeute der in den Jahren 1902 bis 1904 uuteruvmmuen Südpolarexpeditiou
der „Scotia". Hier siud es rede» deu Robben besonders die Scharben und
Pinguine, die durch die zum Teil drastisch-komischen Stellungen der einzelnen
Individuen und die Kopfzahl ihrer Kolonie» die Aufmerksamkeit des Beschauers
""f sich lenken.
Was wir von den Süßwasserfischen gesagt haben, trifft auch bet dem Bändchen
LöMs Mg Auch hier sind die verschiednen Panzerechsen, Schildkröten.
Eidechsen und Schlangen, die natürlich meist i» ihren Ruhestellungen aufgenommen
sind, von einer Schärfe und Genauigkeit des Details, daß man die Struktur der
Hund, die Anordnung der Panzerschuppen oder der Schildplatten auf das genaueste
studieren kann und bei den Eidechsen und Schlangen beinahe die Farbe zu erkennen
vermeint.
Für uns Deutsche ist das Bändchen Lritisti mammals besonders interessant
und lehrreich, weil es uns nicht nnr die kleinern und kleinsten Sängetiere, wie die
verschiednen Mäuse und Spitzmäuse, deren intimeres Leben sich dein Auge meist
entzieht, sehr ausführlich vorführt, sondern weil es uns auch zeigt, was die Eng-
länder an jagdbaren Wild besitzen und — nicht besitzen. So fehlt ihnen das
Schwarzwild vollständig, und daß in dem Büchlein keine einzige Aufnahme von
Rehwild vorkommt, scheint zu beweisen, daß Heinrich Lanbe, der Weidmann unter
den Dichtern des „Jungen Deutschlands", trotz aller gegenteiligen Behauptungen
der Naturgeschichten recht hat, wenn er in seinem „Jagdbrevier" sagt:
Die beiden Aufnahmen von Rotwild sind nicht in freier Wildbahn, sonder» im
Gatter gemacht; der stärkste Hirsch darunter ist ein Zehnender, der sich mit unsern
Nomintenern freilich nicht messen kann. Das Damwild, das in England durchaus
Parkwild ist, ist merkwürdigerweise aus weiter Ferne aufgenommen, offenbar zu einer
ungünstigen Zeit, denn es ist kein geweihter Hirsch darunter zu erkennen. Desto
glücklicher sind ein paar Damkälber, einige Junghasen und Jungfüchse vor dem
Bau wiedergegeben, während vier allerdings in einem engen Zwinger gemachte
Aufnahme von Dachsen diese Tiere in recht charakteristischen Stellungen veran¬
schaulichen. Allerliebst sind die Jgelpvrträts, darunter das einer fechskvpfigcn
Familie, das Geschlecht der Marder dagegen ist mit zwei Aufnahmen eines ein
totes Kaninchen annehmenden Wiesels und der eines Fischotters etwas dürftig ver¬
treten. Vielleicht läßt sich eine neue Auflage des Büchleins um die Bilder des
Edelmarders und des Iltis bereichern, die beide in Großbritannien überall heimisch
sind, während der Steinmarder unsers Wissens nnr in Schottland vorkommt.
Jedes der schmucken Bändchen enthält einen kurzen beschreibenden Text, der
das Wissenswerteste über die Lebensart der einzelnen abgebildeten Tiere mitteilt.
^sMIieti >8t es IKi-e pi-ivstsscke
oss Lie rsucnen, öder wenn Lie neur fut Ouslität »Is sul ^usststtunx
AeKen uncl Iceine I^use nahen, Lorken 2U Jnsulen, alle teuer uncl
ciesnslb xut ersckeinen, in V^irlclicKIceit öder nur we^en cleg clsrsuk
runeno!en livrer volles viel Icostsn, so entscnlisüsn Lie hier tur
„L^lSM ^iSiKum"
Lslern ^leiKum-Lixaretten: Keine /msswttunx, nur (Zuslitst:
N?. 3 4 5 K 8 10
preis:4 5 6 8 10 ?fg. -las 8em-l«.
! s ist sicherlich nicht ganz ohne Bedeutung, daß heute genau nach
fünfzig Jahren, seitdem die englische Regierung die Herrschaft
von Indien übernommen hat, noch immer keine zuversichtliche
Ruhe im Lande herrscht, und daß noch immer Fanatismus und
Fatalismus die Veranlassung zu schweren und blutigen Kämpfen
geben. Denn diese Gründe allein haben in den Monaten April und Mai
dieses Jahres den Zakka Khels und den Mohmands die Waffen in die Hand
gedrückt und sie zu hinterlistigen Überfüllen auf die britischen Truppen ver¬
anlaßt. Freilich sind ihre Angriffe dank der Maßnahmen Lord Kitcheners,
des jetzigen Oberkommandierenden in Indien, und der Entschlossenheit und der
Wachsamkeit der unter dem General Willcocks stehenden ersten Infanterie¬
division mit blutigen Köpfen abgewiesen worden. Aber die englische Presse
befürchtet wohl nicht mit Unrecht, daß mit dieser siegreichen Abwehr ein
dauernder Friede in den nordwestlichen Grenzbezirken noch lange nicht erreicht
sei, ja daß die bisherigen Kämpfe vielleicht nur Vorpostengefechte gewesen
sind, wenn es dem Emir von Afghanistan nicht gelingen sollte, Herr seiner
Untertanen zu bleiben und weitere Ausschreitungen zu verhindern. Diese
Möglichkeit falle natürlich weg, wenn Habibullah gar selbst hinter diesem Auf¬
ruhr gesteckt haben sollte und aus Unzufriedenheit über das englisch-russische
Abkommen vom 31. August 1907 seinen nächstjüngern Bruder Nasrullah Khan
habe walten lassen, der sich als Oberbefehlshaber des afghanischen Heeres
hohen Ansehens im ganzen Lande erfreut und daher die Vorstöße der Zakka
Khels und Mohmands gegen die Grenzpässe an der Kabulstraße sehr wohl
unterstützen konnte.
Im vorliegenden Falle waren übrigens die englischen Kommandeure und
Grenzbeamten. durch die Ereignisse vergangner Tage gewarnt. Vor elf Jahren
(1897), als sich die Mohmands zum letztenmale erhoben, strömten ihnen auch
Afghanen in Menge, zum Teil sogar in Uniform zu. Im ganzen afghanischen
Grenzgebiete wurde damals offen der Krieg gegen die Engländer gepredigt,
und Flöße wurden bereit gehalten, um die Zuzügler scharenweise über den
Kabulfluß zu setzen. Die diesmal ruhig gebliebner Afridistämme beteiligten
sich damals äußerst lebhaft an der Bewegung. Die wichtige Stellung bei
Lcmdikhotal im Khaibarpasse, wurde 1897 von den durch Afghanen verstärkten
Grenzstämmen genommen und geplündert, und die Engländer räumten den
Paß, worin sich nur einzelne Besatzungen der aus den örtlichen Bergbewohnern
rekrutierten Irregulären behaupteten. Es bedürfte eines größern Feldzugs
unter Sir Bindon Blood, bis sich der damalige Emir Abdurrahman veranlaßt
sah, seinen Einfluß in der afghanischen Grenzprovinz nachdrücklich geltend zu
machen, und die Leiter der Bewegung es dann auch für angezeigt erachteten,
um Frieden zu bitten.
Diesmal ist die Sache entschieden anders verlaufen, denn die beiden
größern Heerhaufen, die durch den Khaibcirpaß ans das Lcmdikhotal zu und
durch das obere Bazartal in der Richtung auf Ab Musdschid vorgedrungen
waren, fanden die englischen Truppen, wie wir schon kurz erwähnt haben,
nicht nur auf der Hut, sondern auch vollständig triegs- und marschbereit und
auf dem Platze, noch ehe die Eindringlinge den kleinsten Vorteil errungen
oder von benachbarten Grenzstümmen Verstärkungen herangezogen hatten.
Aber nicht allein an den Grenzen hat die englische Herrschaft in Indien
fortgesetzt mit Unruhen zu kämpfen, sondern auch im Innern flackert eigentlich
ohne Unterbrechung unter einer scheinbar stillen Oberfläche Aufruhr und Unbot-
mäßigkeit. Erst die im Mai dieses Jahres entdeckte Verschwörung von Kalkutta,
die hauptsächlich der Beseitigung des gefürchteten Oberkommandierenden Lord
Kitchcner gelten sollte, ist ein schlagender Beweis dafür und eine neue Mahnung
an die Regierung, jederzeit auf der Hut zu sein und die Augen nach allen
Richtungen offen zu halten. Anfänglich glaubte mau, der Sitz des Verschwörer¬
herdes sei ausschließlich Bengalen, das sich seit der im Mai 1907 aus Ver¬
waltungsrücksichten notwendig gewordnen Teilung in zwei Provinzen wieder¬
holt in Gärung gezeigt hat. Aber bei der erst kürzlich abgeschlossenen
Untersuchung hat sich herausgestellt, daß sich die Empörung nicht auf Bengalen
beschränkt hat, sondern sich vielmehr über ganz Indien bis an die Nordwest¬
grenze erstreckte, mit Ausnahme des Gebiets der Radschputen und einiger ruhiger
kleiner Staaten, wie unter andern Travancore, sodciß die Möglichkeit des
Zusammenhangs der Unruhen im Innern und in den Gegenden des Kabul¬
flusses sehr wohl vorhanden ist. Vermutlich ist aber in Bengalen nicht einmal
der Schwerpunkt der allgemeinen Erbitterung zu suchen gewesen, sondern die
Mahrattenstcmten, vor allem Gwalior und Indore waren die Anstifter und die
Brahminen in Puna die ursprünglichen Führer. Es erklärt sich das dadurch,
daß die harten, streitbaren und mutigen Mahratten an sich zu solcher Leitung
eher das Zeug haben als die zwar geistig sehr begabten, aber körperlich
schwachen und weichen Bewohner Bengalens. Außerdem aber glimmt im
Mahrattcnlande unter der Asche viel alter und frischer dynastischer und persön¬
licher Groll und Haß gegen die englische Herrschaft und die Gesamtheit aller
militärischen Einrichtungen, sodaß sich, um nur ein Beispiel anzuführen, Lord
Curzon während des letzten Besuchs des Prinzen von Wales in Indien gezwungen
sah, den Maharadscha von Indore wegen seiner Uubvtmüßigkeit abzusetzen.
Es hieße aber angesichts aller dieser noch nicht ganz überwundnen
Schwierigkeiten die Lage vollkommen verkennen, wollte man etwa aussprechen,
daß Großbritannien in dem halben Jahrhundert seiner Herrschaft über Indien
die Hände in den Schoß gelegt und der Entwicklung der Dinge im Innern
und an den Grenzen untätig gegenübergestanden habe. Gerade das Gegenteil
ist der Fall, und wer, wie Lord Roberts, eine Geschichte über die fünfzigjährige
britische Herrschaft in Indien schreiben will, wird einräumen müssen, daß sich
die politischen und militärischen Maßnahmen in stetem Fortschritt bewegt haben
und in den meisten Fällen von kluger Einsicht und zielbewußter Energie ge¬
leitet gewesen sind. Auf dem Gebiete der Politik bildet der für Indien so
überaus wichtige englisch-russische Vertrag vom August vorigen Jahres, den
wir schon vorhin kurz erwähnt haben, gewissermaßen einen Abschluß. Ver¬
pflichtet sich zwar die englische Negierung darin, die politische Lage in Af¬
ghanistan unangetastet zu lassen und ihren Einfluß nur in friedlichem Sinne
zu betätigen, so bedeutet doch die Abmachung, daß das Emirat außerhalb der
russischen Jnteressenspäre liege und die gegen die britische Majestät im Vertrage
vom 21. März 1905 übernommnen Verpflichtungen zu erfüllen habe, in Wirk¬
lichkeit nichts andres als das Zugeständnis, daß in Kabul England die meist¬
begünstigte Macht sein soll, und daß die Selbständigkeit Habibullahs vor dem
Throne König Eduards ihren Halt findet. Ebenso bildet in militärischer Hin¬
sicht die langjährige, verdienstvolle Arbeit Lord Kitcheners einen Schlußstein
in den sich seit 1858 abmühenden Bestrebungen der englischen Regierung, aus
den verwickelten und schwierigen Heereseinrichtnngen eine gesunde und brauch¬
bare Organisation zu machen. Das war ganz gewiß keine leichte Aufgabe,
wenn man den Weg zurückschaut, den die britisch-indische Armee seit fünfzig
Jahren gegangen ist. Damals hatte das Heer die ansehnliche Stärke von
350538 Mann, von denen 311038 Mann eingeborne und 39500 englische
Truppen waren. Sie alle standen in den Diensten der Ostindischen Kompagnie,
die aufgelöst wurde, als Königin Viktoria die Herrschaft von Indien antrat.
In diesem Augenblick wurden die europäischen Truppen, so wie sie waren,
von der neuen Regierung übernommen, die eingebornen Truppen dagegen, die
sich während des Aufstnndes zum Teil als wenig zuverlässig erwiesen hatten,
sollten zunächst einer gründlichen Reorganisation unterzogen werden. Sie be¬
gann mit der Auflösung einer ganzen Anzahl von Infanterieregimentern und
der gesamten Artillerie mit Ausnahme der Grenztruppen im Punjab. der Ge-
birgsbatterieu in Bombay und der zum Haidarabadkontingent gehörenden Feld-
batterien. Auch bei der Kavallerie wurden einige Einheiten eingezogen. In¬
folge dieser Verminderungen hatte die eingeborne Armee im Jahre 1864 nur
noch eine Stärke von 140000 Mann. Umgekehrt erachtete man eine Ver¬
stärkung der britischen Truppen für notwendig und brachte sie auf den Stand
von 65000 Mann. Zu derselben Zeit wurden für diese Truppenteile die
gleichen Bestimmungen über ihre Ablösung und Entsendung erlassen, wie
sie für alle übrigen Bestandteile des Reiches schon festgesetzt waren. Auch
wurde ausgesprochen, daß jene Kontingente während ihres Aufenthalts in
Indien der dortigen Negierung unterstehn, an die dort geltenden Vorschriften
gebunden sein und von den indischen Behörden ihre Geldkompetenzen erhalten
sollten. Nicht unbedeutende Schwierigkeiten bildete damals die Frage der
Offizierergänzung. Sie fand ihre Lösung durch Errichtung je eines Stabs¬
korps in jeder der Präsidentschaften von Bengalen, Madras und Bombay, in
die das indische Reich nach der Übernahme von der Ostindischen Kompagnie
eingeteilt worden war, und die jede ihr eignes Heer aus englisch-indischen
Truppen hatte. Der Eintritt in diese Stabskorps stand Offizieren sowohl
der britischen wie der eingebornen Truppen frei; ihre Ernennung erfolgte durch
die englische Heeresverwaltung, und ihre Beförderung regelte sich nach dem
Dienstalter. Die nächsten Jahre wurden dazu benutzt, die für die Armee neu¬
geschaffnem Verhältnisse immer mehr zu befestigen, die Bewaffnung und Aus¬
rüstung zu verbessern, einheitliche reglementarische Bestimmungen zu erlassen,
das Trainwesen zu reorganisieren und für die Nemontieruug des Heeres neue
Grundsätze aufzustellen. Die Lehren und Ersahrungen des afghanischen Krieges
von 1878 bis 1880 gaben dafür mancherlei wertvolle Anregung.
Als aber im Jahre 1885 Lord Roberts den Oberbefehl über die Armee
in Indien übernahm, da stellte sich heraus, daß trotz aller Arbeit doch noch
sehr viel an der Vollkommenheit der Heeresorganisation fehlte. Namentlich
die Verteilung der Armee auf die drei selbständigen Präsidentschaften machte
sich als ein empfindlicher Nachteil bemerkbar. Auch die Stärke des Heeres
erwies sich als unzureichend, als ein Teil davon mobil gemacht werden mußte
und an der Nordwestgrenze zusammengezogen wurde, damit es bei der Hand
sei, wenn die zwischen Nußland und Afghanistan entstandnen Zwistigkeiten ein
Eingreifen oder den Schutz der eignen Landesgrenzen notwendig machen sollten.
Die Folge dieser tatsächlichen Feststellungen war, daß die Armee im Jahre 1887
auf 226694 Mann gebracht wurde, von denen 73602 Mann dem britischen
und 153092 den eingebornen Kontingenten angehörten. Die Auflösung der
drei Präsidentschaftsheere gelang damals noch uicht, nur die getrennten Stabs¬
korps zerfielen und wurden im Jahre 1891 auf Lord Roberts Betreiben durch
ein einziges indisches Stabskorps ersetzt. Weitere Verdienste des Höchst¬
kommandierenden waren, daß er die Grundlage zur Bildung eines General¬
stabs für die englisch-indische Armee schuf, und daß er eine abermalige Ver¬
besserung der Jnfanteriebewaffnung durchsetzte, indem die eingebornen Truppen
für das Snidergewehr das Henry-Martinigewehr, die britischen an Stelle des
Enfield- das Lee-Metfordgewehr erhielten.
Nachdem Lord Roberts im Jahre 1893 das militärische Oberkommando
in Indien niedergelegt hatte und in die Heimat zurückgekehrt war, wurde es
immer schwieriger, vom Sitze der Regierung in Kalkutta aus die in den drei
Präsidentschaften verzettelten Truppen einheitlich zu befehligen und nach
übereinstimmenden Grundsätzen auszubilden. Insbesondre galt dies von den
eingebornen Truppen der Präsidentschaften von Bombay und Madras, weil
ein großer Teil dieser Einheiten außerhalb der Territorien, zu denen sie ge¬
hörten, untergebracht war, und sie dadurch nur schwer durch Befehle erreicht
werden konnten. Und was das dritte Prüsidentschaftsgebiet in Bengalen an¬
langte, so war es so ausgedehnt, daß selbst innerhalb seiner Grenzen von einem
Einfluß der obersten Kommandogewalt kaum noch die Rede sein konnte. Um
diesen unhaltbaren Zuständen ein Ende zu machen, entschloß sich die Regierung
im Jahre 1895, eine neue Gliederung des Heeres vorzunehmen, die selbständigen
Armeegruppen in den Präsidentschaften abzuschaffen und sie durch vier terri¬
toriale Kommandobezirke von Bengalen, Punjab, Madras und Bombay zu
ersetzen. An die Spitze jedes Bezirks trat ein Generalleutnant, dem ein eigner
Stab und die dazugehörenden Verwaltungsbehörden an die Seite gesetzt
wurden. Der wichtigste dieser Bezirke war der des Punjab, da zu ihm die
Nordwestgrenze gehörte, die natürlich fortgesetzt unter militärischer Beobachtung
stehn mußte.
War durch diese Neneinteilnng der Armee auf dem Wege zur Bildung
eines einheitlichen Heeres ein bedeutsamer Schritt vorwärts getan, so haftete
auch dieser Organisation immer noch der Fehler und das Hemmnis an, daß
es für die Gesamtheit der Truppen keinen höhern Verband gab als den der
Brigade. Warum sich die Zentralregierung nicht schon damals entschließen
konnte, die Regimenter und Brigaden wenigstens zu Divisionen zusammen¬
zufassen, ist nicht recht erklärlich. Der einzige Grund scheint gewesen zu sein,
daß man sich vor den Schwierigkeiten und den Kosten scheute, die mit einer
solchen Neuerung und engern Versammlung der weit auseinander dislozierten
Truppenteile verbunden sein mußte. Jedenfalls lagen die Dinge so, als im
November 1902 Lord Kitchencr das Oberkommando über die englisch-indischen
Truppen übernahm. Er fand eine Armee von 232111 Mann vor, von
denen 74170 dem englischen Kontingent angehörten und 157941 Eingeborne
waren. Außerdem war uoch eine Reserve an eingebornen Truppen vorhanden,
die auf rund 25000 Mann angegeben wird. Die Einteilung des Heeres
bestand in fünf Kommandobezirken, nachdem Buma vom Madrasbezirk aus
Zweckmäßigkeitsgründen abgetrennt und in einen selbständigen Bezirk um¬
gewandelt worden war.
Lord Kitchener, der in dem Rufe eines vorzüglichen Offiziers von großen
Fähigkeiten, klarem Blick und Verstände und von seltner Energie steht, sich
auch als Organisator schon einen Namen gemacht hatte, begann seine neue
Tätigkeit nicht etwa damit, daß er sofort eine Umwälzung aller militärischen
Verhältnisse vornahm oder mit Schäden aufräumte, die ihm schon durch Be¬
obachtung aus der Ferne bekannt geworden waren. Erst nachdem er siebzehn
. Monate im Lande geweilt und sich durch eigne Anschauung von dem Stande
der Dinge überzeugt hatte, begann er sein Werk. Der wesentlichste Grund¬
satz war ihm dabei zunächst die Zusammenfassung der verschiednen Waffen¬
gattungen in höhere Einheiten — Armeekorps und Divisionen —, die jede
aus allen Waffen zusammengesetzt sein sollten, um dadurch zu einer einheit¬
lichen Friedensausbildung zu kommen und eine bessere Kriegsbereitschaft der
ihm unterstellten Armee zu erreichen. Dazu kam es dem Kommandierenden
nicht darauf an, ob, wie es früher der Fall gewesen war, eine Jnfanterie-
brigade immer aus zwei britischen und zwei eingebornen Bataillonen gebildet
wurde; er hatte nichts dagegen, daß vier britische Bataillone oder drei ein-
geborne Bataillone und ein englisches in einem Brigadeverbande standen.
Auf dieser Grundlage hat sich dann im Laufe des Jahres 1905 die Gliederung
des englisch-indischen Heeres in drei Armeekorps und zehn Divisionen sowie
in drei selbständige Greuzbrigaden entwickelt. Zum Nordkorps gehörten die
1. Division (Peshawar), die 2. (Rawalpindi) und die 3. (Lahors) sowie die
drei Grenzbrigaden von Kosak, Rcmnu und Derajat, zum Westkorps die
4. Division (Quella), die 5. (Mhow) und die 6. (Poona), dazu die Besatzung
von Aden, zum Ostkorps die 7. Division (Meerut) und die 8. (Luckuow); dem
Oberkommando unmittelbar unterstellt waren die 9. Division (Sekunderabad)
und die 10. (Burma). Jede der zehn Divisionen setzt sich aus drei Jnfanterie-
und einer Kavalleriebrigade, aus den dazu gehörenden Bestandteilen an Ar¬
tillerie, Pionieren, Train und Sanitätstruppen sowie aus einer bestimmten
Zahl von Garnisontruppen zusammen, die den Polizeidienst im Bereiche des
Divisionsbezirks zu übernehmen haben.
Inzwischen muß aber Lord Kitchener wohl erkannt haben, daß auch dieser
Organisation des Heeres noch mancherlei Fehler anhafteten, und daß vor
allen Dingen auch für die Verhältnisse in Indien der Armeekorpsverband
nicht die zweckmäßigste Form sei. Er entschied sich deshalb im vorigen Jahre
abermals für einen neuen Einteilungsplau der Armeen und begründete ihn in
einer sehr bemerkenswerten Rede vor dem indischen Rat, wobei er hervorhob,
daß die allgemein verbreitete Nachricht falsch sei, es werde damit die Ver¬
legung eines großen Teils des englisch-indischen Heeres an die Nordwest¬
grenze oder die Versammlung der Truppen in großen Standlagern geplant.
Die Neuorganisation hat sich nun in der Weise vollzogen, daß seit dem
7. Juni 1907 die Einteilung des Heeres in drei Korpsbezirke aufgegeben
worden ist. An ihre Stelle sind zwei Armeen, eine Nord- und eine
Südarm ec, getreten, die je einem General mit entsprechendem Stäbe unter¬
stellt sind. Bei der Nordarmee sind die 1., 2.. 3., 7. und 8. Division sowie
die drei selbständigen Grcnzbrigadcn eingeteilt, bei der Südarmee die 4., 5.,
6., 9. und 10. Division sowie die Besatzung von Aden. Die Standorte der
Divisionen sind dieselben geblieben, wie sie seit 1905 festgesetzt waren. Die
neuen Armeeführer haben die einheitliche Ausbildung der ihnen unterstellten
Divisionen zu überwachen und sind dem Höchstkommandierendcn für die Kriegs¬
tüchtigkeit sämtlicher Truppenteile verantwortlich. Zugleich ist die gesamte
Verwaltungstätigkeit von den seitherigen Korpskommandos auf die Divisionen
übergegangen, die in diesen Fragen selbständig mit dem Armeeoberkommando ver¬
kehren. Natürlich ist der Übergang in alle diese neuen Verhältnisse, wie sie
sich seit der Übernahme des Armeeoberkommandos durch Lord Kitchener all¬
mählich entwickelt haben, heute noch nicht abgeschlossen. Dazu gehört Zeit
und viel Geld. Auch haben die Meinungsverschiedenheiten des Höchst¬
kommandierenden mit dem vorigen Vizekönig von Indien, Lord Curzon, über
die Abgrenzung der beiderseitigen Befugnisse die Durchführung der Reformen
aufgehalten. Bisher war der Vizekönig eigentlich der unumschränkte Herrscher
auch in allen militärischen Dingen gewesen. Unter solchen Umstünden aber
wollte Lord Kitchener nicht im Amte bleiben. Infolge des Streites, der
darüber entstand, nahm Lord Curzon seinen Abschied. Der jetzige Vizekönig,
Lord Minto, hat zwar auch wie sein Vorgänger die oberste Gewalt über die
indische Armee, aber der oberste militärische Vorgesetzte ist der Oberkommau-
dierende. Zugleich mit dieser endgiltigen Festsetzung wurden auch die Ver¬
waltungsfragen beim Heere neu geregelt. Es ruht jetzt die militärische
Geschäftsführung in den Hunden des Armeedepartements einerseits und des
Departements für militärische Verpflegung andrerseits. Jenes untersteht inner¬
halb der Gesamtregierung dem Oberkommando, dieses dem von ihm unab¬
hängigen „militärischen Mitgliede" der Regierung.
Inzwischen hat die Kitchenersche Heeresreorganisation, wie wir schon ein¬
gangs kurz gesagt haben, in die Prüfung auf ihre Zweckmäßigkeit in der
Praxis eintreten müssen. Bei der frühern Einteilung und Verteilung des
Heeres wäre es gar nicht denkbar gewesen, daß ein Expeditionskorps so schnell,
wie es zuletzt gegen die Zakka Khels und Mohmands der Fall gewesen war, hätte
mobil gemacht werden können. Denn wenn sich früher die Notwendigkeit der
Mobilmachung auch nur einer kleinen Streitmacht ergeben hatte, so wurden
ihre einzelnen Bestandteile den verschiedenartigsten Garnisonen entnommen und
nach einem Versammlungspuukte gebracht, wo sie unter den Befehl eines aä
Kop ernannten Kommandanten und Stabes gestellt wurden. In diesem Falle
genügte der einfache Befehl an die 1. Division in Peshawar, sofort gegen die
Aufrührer vorzugehn und sie zu bestrafen. Und so schnell erfolgte die Aus¬
uno Durchführung dieser Order, daß die Zakka Khels schon zur Ordnung ge¬
bracht waren, ehe ihnen die Mohmands zu Hilfe kommen konnten. Die
1- Division unter General Willcocks setzt sich aus drei Jnfanteriebrigaden zu¬
sammen. Davon besteht die erste oder Pcshawarbrigade aus einem englischen
Bataillon (1. Bataillon des Warwickshire-Regiments), dem 53. Silb-Regiment
(früher 3. Sils-Regiment), dem 59. Seirbe-Schützcnregiment (früher C. Punjab-
Jnfanterieregiment) und einem Bataillon des 5. Gurkah-Regiments sowie der
Gebirgsbatterie Ur. 3, die ebenfalls eine englische Truppe (Ko^in (Zarriscm
^rtillsr^) ist. Die zweite oder Nowscherbrigade setzt sich ans einem schottischen
Bataillon (L6g.kortIi-KiZdlWc1srs) und drei indischen Regimentern (28. Punjab-,
54. und 45. Silb-Regiment und der Gebirgsbatterie Ur. 22) zusammen. Die
dritte oder Reservebrigade, Kommandant Brigadiergcneral H. B. Wallis, ent¬
hält ein irisches Bataillon (Nunswi- l^usilwr«), das 55. indische Regiment
(I.oKs Rillsr), zwei Gurkahbatailloue und die 23. Gebirgsbatterie. Zur Ver¬
fügung des Stabes, zur Aufrechterhaltung der Verbindungslinien und für
technische Zwecke dienen zwei Schwadronen des 37. indischen Lancerregiments,
das 25. Punjab- und das 23. Silb-Pionierregiment und die 6. Kompagnie
des 1. Sappeur- und Mineurregiments, ebenfalls eine indische Truppe. Von
diesen Truppen haben in erster Linie die 1. und 2. Brigade an den Kämpfen
im Gebiet des Kabulflusfes, insbesondre am Khapakpaß und bei Aura Kliu
(22. Mai) teilgenommen, während die 3. Brigade zur Wahrnehmung des Polizei¬
dienstes in Peshawar vom Khaibarpaß nach Haus zurückgekehrt ist. Die
Truppen haben sich ohne Ausnahme bei außerordentlicher Hitze, unter großem
Wassermangel und in schwierigen Geländeverhältnissen sehr tapfer geschlagen
und nicht unbedeutende Verluste erlitten. Trotzdem wird von sachkundiger
Seite die Frage aufgeworfen, ob die Znsammensetzung der 1. Division mit
dem geringen Bestände an regulären britischen Truppen zweckmäßig ist, und
ob es sich hier, wo es sich um besonders schwieriges Grenzgebiet und die nie
aufhörende Möglichkeit von Unruhen handelt, nicht empfehlen dürfte, die ein-
gebornen Kontingente durch die Elite englischer Regimenter zu ersetzen. Diese
Frage gibt Veranlassung, sich mit der eingebornen Armee, die ja zum Bestände
des Heeres in Indien gehört, etwas näher zu beschäftigen. Das System der
Anwerbung ist dasselbe wie in England. Eine allgemeine Aushebung findet
nicht statt und ist auch in Indien nicht notwendig, da die kriegerischen Stämme
des Landes tatsächlich keinen andern Beruf kennen als das Waffenhandwerk.
Da jedoch die Besoldung der Unteroffiziere und Gemeinen nicht sehr hoch ist,
erklärt es sich, daß sich die Rekruten vielfach aus sehr gemischten Elementen
zusammensetzen. Natürlich gibt es Ausnahmen, so zum Beispiel bei den aus
Rajpnts zusammengesetzten Regimentern und ebenso bei den Silb-Regimentern
aus dem Punjab.
Die Sikhs oder reformierte Hindus haben alle kriegerischen Eigenschaften,
und die Jndier sowohl als ihre europäischen Kameraden haben allen Grund,
stolz aus sie zu sein. Zwei weitere Kasten im Punjab, die Jaks und die
Dogras, sind ebenfalls wegen ihrer Soldatentugenden berühmt. Ein andrer
kriegerischer Stamm im Punjab bewohnt den nordwestlichen Teil des Landes
und nennt sich Pathans. Sie sind jetzt ihrem Glauben nach Mohammedaner.
Die Gnrkahs von Nepal, dem einzigen unabhängigen Staate in Indien, haben
sich, trotzdem daß sie durchschnittlich unter Normalgröße bleiben, als tapfere
und zähe Soldaten im Gebirgskriege bewährt. Europäische Offiziere, die
Gurkah-Regimentern zugeteilt wurden, rühmen diese Leute sehr. Ihrer Ab¬
stammung nach sind sie Hinduleute, und die Regierung von Nepal, die mit der
indischen Negierung einen Vertrag geschlossen hat, gestattet einer beschränkten An¬
zahl ihrer Untertanen, unter britischer Verwaltung Kriegsdienste zu nehmen.
Der gute Ruf der berühmten, loyalen Purubia-Regimenter ist ebenfalls
Wohl bekannt. Diese Truppe, die zur Kaste der Brahminen gehört, rekrutiert
sich aus Oudh und hat das seltne Vorrecht, die Leibgarde des Vizekönigs von
Indien zu bilden. Alles ausgesuchte Leute, über sechs Fuß groß, machen sie
in ihren malerischen Uniformen einen imponierender Eindruck; sie waren es
auch, die inmitten des wilden Aufruhrs von Pudh fest und treu zur britischen
Fahne hielten. Während darum nach dein Aufstande fast alle Sepoy-Regimenter
aus dem Armeeverbande entlassen wurden, überschüttete man die Purubias mit
militärischen Auszeichnun gen.
Außer den Rajputs, Sikhs, Pathans, Jets, Gurkahs, Purubias und
andern hindostanischen Stämmen, die den Kern der Regimenter Nordindiens
bilden, gibt es noch in Südindien eine Anzahl namhafter Völkerschaften, die
als tapfer bekannt sind und ebenfalls zur Rekrutierung herangezogen werden.
Es sind dies die Maharattas. die Nairs und Coregs von der Malabarküste
und die Naidus und Rettich aus dein Madrasbezirk. Auch die Mohammedaner
im Süden stellen zahlreiche und brauchbare Leute für die Armee.
Im Körperbau und in physischer Kraft reichen die südlichen Jndier, in¬
folge klimatischer Verhältnisse, nicht ganz an ihre Stammesgenossen im Norden
heran, und diese Ungleichheit tritt besonders hervor, sobald es sich um Expe¬
ditionen gegen Greuzstämme im nördlichern kältern Klima handelt.
Man darf wohl sagen, daß die Eingebornenarmee heute ein zuver¬
lässigeres Werkzeug in den Händen der Engländer in Indien ist als vor fünfzig
Jahren. Daher wird mit ihr uuter allen Verhältnissen ernstlich zu rechnen
sein, um so mehr, als sie ja die ansehnliche Stärke von 158343 Mann
vorstellt. Diese sind in 140 Jnfanteriebataillonen, 40 Kavallerieregimentern,
10 Gebirgsbatterien, 1 Grenzschutz-Fußartilleriekompagnie, 26 Sappeur- und
Mineurkompcignien, 5 Minenkompagnien und 1 Eisenbahnkompagnie unter¬
gebracht.
Demgegenüber erreicht das britische Heer nach dem Etat von 1908/09
nnr einen Stand von 76155 Manu, die sich auf 52 Jnfantcriebataillone,
9 Kavallerieregimenter, 45 fahrende und 11 reitende Batterien und auf 36 Fu߬
artilleriekompagnien ^) verteilen.
Infolge des russisch-englischen Vertrags war ein Teil der britisch-indischen
Staatsmänner bemüht gewesen, die Militärlasten für Indien zu verringern.
Aber Lord Kitchener ist diesen Absichten im Rat des Vizekönigs zu Kalkutta
mit Entschiedenheit und mit Erfolg entgegengetreten. Der Vertrag, so legte
er dar, habe wohl die Luft gereinigt; die Einflüsse, die das gute Einvernehmen
zu stören trachteten, seien aber nicht aufgehoben, auch ans andern Richtungen
seien Kräfte gegen Indien tätig; die Militärbehörde sei deshalb gezwungen,
von ihrer Wachsamkeit und der Schlagfertigkeit des Heeres nicht das mindeste
aufzugeben.
us den voraufgegangnen Ausführungen wird vielleicht auch der
Leser den Eindruck gewonnen haben, wie sehr die Ostmark, in¬
sonderheit das Gebiet der Ansiedlungskommission, im Zeichen des
Übergangs steht. Ich möchte hinzufügen, daß der Reisende, der
!die frühern Zustünde gekannt und in den frühern Verhältnissen
gelebt hat, sich eines gewissen wehmütigen Gefühls nicht erwehren kann, wenn
er durch die alten Gehöfte führt, wenn er sich manch eines braven Mannes
erinnert, der dort hart gearbeitet und gegen die täglich schwieriger werdenden
Verhältnisse mit außerordentlicher Hingabe gekämpft hat. Wieviel größer muß
dieses Gefühl auf die konservativen Gutsbesitzerkreise wirken, die seit Menschen-
altern dort auf ihrer Scholle saßen — Stützen des Staates —, häufig die
einzigen Vertreter deutscher Kultur im weiten Umkreise. Solche Männer muß
man gehört haben, um begreifen zu können, welche aufklärende Arbeit notwendig
ist, ehe es gelingen kann, sie geschlossen auf die Seite der preußischen Ost¬
markenpolitik zu bringen. In diesem Punkte aber hat die Regierung zu wenig
getan. Gegenwärtig scheint sie deshalb auf dem besten Wege zu sein, vor der
Idee, den Großgrundbesitz erhalten zu müssen, zu kapitulieren.
Maßgebend für eine solche Auffassung ist die neuerliche Gepflogenheit der
Ansiedlungskommission, die Nestgüter, das sind die Gehöfte mit den oft schlo߬
artigen Gntshäusern und alten Parks, nicht mehr für Zwecke der Ansiedlungs¬
kommission zu verwenden, sondern ans ihnen „kreistagfähige" Güter zu machen.
Für diese letzte Wendung der Siedlungspolitik sind verschiedne Gründe vor¬
handen, deren wichtigere ich hier vortragen möchte.
Zu Beginn der Siedlungstätigkeit war es üblich, die Gutshöfe ebenso zu
zerlegen wie das Ackerland, ohne Rücksicht auf den Wert der Gebäude, Parks
und sonstiger Anlagen. Durch dies Vorgehen wurden Kulturgüter zerstört,
die kein Geldeswert ersetzen konnte. Die Ansiedler schlugen die alten Bäume
nieder, hier und da mußten wertvolle Gebäude abgetragen werden. Gegen
dies Vorgehen stellten sich sehr bald entschiedne Widerstände in nationalen
Kreisen ein. Die Ansiedlungskommission unter ihrem ersten Präsidenten von
Wittenburg begriff ihren Fehler und ging nun eine Zeit lang mit bewundrungs-
würdiger Erfindergabe daran, jene schönsten Denkmäler einer untergehenden
Epoche für deu Dienst des Gemeinwohls zu erhalten. Hier wurden Parks zu
Gemeindeanlagen, dort zu Arbeiterkolonien, an dritter Stelle zu Lehrzwecken
eingerichtet. Gntshäuser verwandeln sich in Kirchen, Schulen, Krankenhäuser;
kleinere von ihnen werden Gemeinde- und Gasthäuser. Die schönste und zugleich
wertvollste Bestimmung aber fand von allen das Gehöft von Neu-Zedlitz im
Kreise Witkowo. Ihm sollen später noch einige besondre Seiten gewidmet
werden.
Alle an einer gesunden Entwicklung der Ostmark interessierten Kreise waren
befriedigt. Da wurde es plötzlich offenbar, daß mit dem Verschwinden der
großen Güter auch die dem Landrnt meist gefügigen Gutsbesitzer aus deu
Kreistagen verschwanden; da aber gerade während der ersten Dekade der Tätig¬
keit der Ansiedluugsbchörde sehr viele Deutsche ausfielen, waren Kreistage mit
einer freisinnig-polnischen Mehrheit entstanden. Die Lage für unsre Ostmarkcn-
Politik wurde dadurch sehr schwierig. Man vergegenwärtige sich: Landräte,
Konservative und Freisinnige erklärten in einem bestimmten Augenblick, die An¬
siedlungskommission polonisierc die Kreistage! Wie diese von der Regierung
vorausgesehene, aus den Verhältnissen hervorgegangne ganz natürliche Er¬
scheinung im politischen Kampf gegen die Ansiedlungskommission ausgenutzt
wurde, braucht nicht auseinandergesetzt zu werden. Genug, die Regierung sah
sich unter dem Ansturm ihrer Kritiker genötigt, das Prinzip, möglichst zahl¬
reiche deutsche Familien in die Ostmark zu ziehen, zu durchbrechen, um deutsche
„kreistagfähigc" Güter zu erhalten.
Auf diesen — wir wollen hier gleich bemerken, gefährlichen — Weg stieß
sie noch eine andre Erscheinung.
Mit dem Verschwinden der Gutsbesitzer verschwindet eine soziale Ober¬
schicht, die zwar immer sehr dünn und auch recht ungleichartig war, aber doch
gegenüber den andern sozialen Schichten eine merkliche und für die Allgemein¬
heit meist wohltuende Autorität ausübte. Neben dieser Schicht trat die länd¬
liche Intelligenz, besonders in politischer Beziehung, in den Hintergrund.
Pfarrer, Lehrer, Ärzte konnten nur Einfluß haben, wenn sie sich in erster Linie
mit dein Großgrundbesitzer gut stellten. Das ist nun in den durch die An¬
siedlungskommission besiedelten Gegenden mit einem Schlage anders geworden.
Seit dem Abgange der Gutsbesitzer fühlen sich die Pastoren und Lehrer nicht
nur als bevorzugte oberste Schicht, sondern auch als die leitenden Träger
Polnischer Ideen. In manchen Orten übt dieser Eintritt neuer geistiger Ele¬
mente auch ans die Entwicklung der Dinge einen wohltuender Einfluß ans.
Wir haben stellenweise für eine Betätigung in der Ostmark ganz hervorragend
geeignete Pastoren und Lehrer. Das sind jene uneigennützigen, bescheidnen
und unermüdlichen Männer, von denen man nirgends hört und sieht, weil sie
nie und nirgends einen Anlaß zu Reibungen und Beschwerden geben. Sie
betrachten sich wohl als Trüger großer politischer Aufgaben, aber durchaus zu¬
treffend nur als Organe eines höhern Willens, als Werkzeuge der verantwort¬
lichen Beamten in der Provinz. Durch solche Forderung soll das politische
Selbstbetätigungsrecht der politisch reifen Kreise durchaus uicht verkümmert
werden. Denn es gibt auch in den in der Ostmark gebotnen Grenzen genug
Spielraum für kritische und ehrgeizige Naturen. Hätten wir lauter solche
Geistliche und Lehrer in der Ostmark, dann stünde manches besser, und manches
könnte unterlassen werden. Aber neben ihnen gibt es eine große Zahl von
Leuten, die ihre Aufgaben auf andern Gebieten suchen. Besonders unter den
Dorflehrern macht sich eine gewisse Sucht zu glänzen, zu „repräsentieren" be¬
merkbar, die häufig genug nicht im Einklang mit den Einkünften des Einzelnen
steht. Die Ansiedlungskommission hat dieser Neigung ungewollt neuen Boden
gegeben, auf der einen Seite durch eine zu große Weitläufigkeit der Wohn¬
häuser und auf der andern durch zu knappe Zuteilung von Gartenland und
Feld an die Lehrer. Meines Erachtens sollten die Dorflehrer so reich mit
Land ausgestattet sein, daß sie daran je nach ihrem persönlichen Fleiß materiellen
Nutzen haben können. Damit wäre die wichtigste Ursache für die Sucht zu
glänzen, Überfluß an Zeit, beseitigt. Dann würden sich auch genügend Inter¬
essen einstellen, die den Dorflehrer mit den angesiedelten Bauern verbinden,
und der könnte als Gemüse-, Obst-, Blumen- und Bienenzüchter den Bauern
mit gutem Beispiel und als Erzieher der Jugend auf diesem Gebiet vorangehn.
Die Lehrer könnten bei cingetretner Interessengemeinschaft mit den Bauern auch
überall wertvolle Mitglieder der Genossenschaften werde». Das ist leider bisher
nicht der Fall. Gerade unter deu Lehrern, die anfänglich von den Behörden
vielfach als politische Vertrauensmänner verwandt wurden, gibt es gegenwärtig
zahlreiche nörgelnde Elemente, die der Ansiedlungspolitik direkt und indirekt
Steine in den Weg rollen, wo sie nur immer können. Nicht ganz so uner¬
freulich sieht es unter der Landgeistlichkeit aus, sobald mau sich daran erinnert,
daß nicht das Gewöhnliche, Alltägliche von sich reden macht, sondern das
Außergewöhnliche. Immerhin gibt es recht zahlreiche Ausnahmen, denen wir
in der Ostmark nicht gern begegnen. In der Besetzung der Pfarren hat die
Ansiedlungskommission wohl gegenüber dem Konsistorium nicht durchgehends
die Rückenfestigkeit bewiesen, die wünschenswert gewesen wäre. Wie weit solches
mit der Organisation der Behörden zusammenhängt, will ich hier nicht unter¬
suchen. Zweifellos sind die Widerstünde nicht derart unüberwindlich, daß die
Regierung bei der Besetzung von Pfarren nicht so verfahren könnte, wie es den
großen Zielen in der Ostmark dienlich wäre. Wir brauchen in der Ostmark
keine Philosophen uuter den Pastoren, wir brauchen nationalgesinnte Sozial¬
politiker, die mit gesundem Menschenverstand die Bedürfnisse der Bevölkerung
zu erfassen versteh«. Wir brauchen Laudpastoren im wahrsten Sinne des Worts,
wie es die polnischen zum größten Teil siud. Streitbare aufgeklärte Männer
gehören in die Ostmark. Statt dessen haben wir leider viel zu viel Geistliche,
die sich inmitten der alten Gutsparke Gelehrtenheime aufschlagen, in denen sie
vielleicht der Entwicklung der evangelischen Kirche manchen nützlichen Gedanken
hinzufügen, in denen sie sich aber ihrer nächsten, wichtigern Aufgaben am
eignen Amtsort entfremden. Der Pastor muß die aus allen Teilen des Reichs
zusammenströmenden Ansiedler zu Gemeinden zusammenschmieden. Dieser Auf¬
gaben und Gegensätze sollten sich alle Teile, die mit der Besetzung von Pfarren
zu tun haben, immer bewußt bleiben.
Schließlich steht die Ansiedlungskommission noch unter dem Druck einer
weitern Schwierigkeit: der Sorge um den Offizierersatz. In der agrarischen
Ostmark, wo, wie wir gezeigt haben, kein Industrie- und nur ein gering ent¬
wickelter Handelsstand vorhanden ist, bildeten von jeher die Großgrundbesitzer
das hauptsächliche Reservoir für den Offizierersatz des stehenden Heeres. Mit
dem Wegfall der Großgrundbesitzer verschwindet das Reservoir, und die Armee
bleibt auf die Beamtcnsöhne angewiesen. Nun sollen die Restgüter jenes
Reservoir von neuem herstellen. Für mich ist diese Erscheinung nur ein neuer
Beweis für die Notwendigkeit einer Verringerung des Offizierkorps und einer
Zweiteilung des Unteroffizierkorps. Unsre gesamte wirtschaftliche Organisation
und mit ihr im Zusammenhang die seit der Heeresreform von 1858 vor sich
gegcmgne Verwischung und Verschiebung unsrer sozialen Schichten drängt dazu.
Der Ofsizierersatz kann sich längst nicht mehr nach den alten Prinzipien voll¬
ziehen, die uns die Siege von 1864, 1866, 1870/71 gebracht haben. Keine
Teilreform kann diese Entwicklung aufhalten, wohl aber kauu sie uns zur
Stagnation und dadurch zur Katastrophe führen. In der obersten Heeres-
leitung wird sogar die Notwendigkeit einer Zweiteilung des Offizierkorps längst
dadurch anerkannt, daß jedes Jahr zahlreiche Vorpatentierungen von solchen
Offizieren stattfinden, die geeignet erscheinen, einmal als Trnppenführer ver¬
wandt zu werden. Wir müssen zu dem bis in die siebziger Jahre hinein
geltenden Prinzip zurückkehren, daß der Unteroffizier in der Kaserne, der
Offizier im Gelände und auf dem Schießstande die Ausbildung des Mannes
leitet. Alsdann brauchten wir nicht soviel Offiziere und würden die genügende
Anzahl von tüchtigen Unteroffizieren bekommen.
Unter den angedeuteten Verhältnissen ist es nur verständlich, daß sich
innerhalb der politischen Kreise in der Ostmark zwei scharfe Gegnerschaften
um die „kreistagfühigen" Nestgüter gebildet haben. Für diesen Typus
treten die Lcmdrüte, gegen ihn tritt die Mehrzahl der Beamten der An¬
siedlungskommission auf. Ich bekenne mich in diesem Punkte als Parteigänger
der Ansiedlungskommission.
Die wichtigsten Gründe für diesen Standpunkt liegen auf nationalem und
wirtschaftlichem Gebiet. Ein Nestgut von 1000 Morgen kann 20 bis 30 und
mehr deutsche Bauernfamilien, die zusammen mindestens 120 bis 180 Köpfe
zählen, aufnehmen und demgemäß gefestigter deutscher Besitz bleiben. Auf
einem Nestgnt kann aber nur ein kreistagfähiger Gutsbesitzer existieren, dessen
politische Gesinnung sehr bald anders werden kann, als es der Regierung
zusagt, dessen Söhne, wenn er solche hat, aus gesundheitlichen und gesellschaft¬
lichen Gründen durchaus nicht Soldat und Offizier zu werden brauche». Statt
dessen gebraucht ein in guter Kultur stehendes Gut von 1000 Morgen sicher
während der sieben Sommermonate mindestens hundert Landarbeiter neben
mindestens 6 bis 8 ständigen Arbeiterfamilien nebst deren Kostgängern. Wo
Rüben angebaut werden, steigt die Zahl der Arbeiter wesentlich. In Posen
sind diese Arbeitskräfte selbst ans den Gütern der Ansiedlungskommission wie
auch auf den königlichen Domänen durchgehends Polen. Mit diesen Polen
muß im Interesse der Wirtschaft polnisch gesprochen werden. Ein in dieser
Richtung durch die Ansiedlungskommission erlassenes Verbot ist undurchführbar.
Das polnische Idiom bleibt somit in einem Landesteil, aus dem es unter Auf¬
wendung der größten Opfer verdrängt werden soll. Die ans dem kreistag-
sähigen Nestgnt beschäftigten polnischen Arbeiter werden ihre Einkäufe in der
Stadt wohl ausschließlich bei polnischen Kaufleuten besorgen und somit den
wirtschaftlichen Kampf in der Stadt zugunsten der Polen beeinflussen. Die
„kreistagfähigen" Nestgüter schaffen oder erhalten somit bestimmt Vorteile
für die Polen, wogegen der von ihnen erwartete Nutzen nicht durchaus einzu¬
treffen braucht. Den Verehrern der Nestgüteridee möchte ich noch eine andre
Frage vorlegen: Glauben Sie, daß sich die Landarbeiterfrage immer von Polen
und Galizien aus regeln lassen wird? Bei der sich in Nußland anbahnenden
Stimmung erscheint es heute nicht mehr ausgeschlossen, daß Rußland die An-
siedlung polnischer Bauern in seinen neun Westgouveruements gestattet. Dann
aber müssen wir damit rechnen, daß das Angebot von polnischen Arbeitskräften
um mindestens 150000 Menschen zurückgeht. (Vgl. „Die Zukunft Polens",
Bd. I, S. 125, 147, 225 bis 239 und 244.*) Was dann? Dann stehn wir
mit unsern landwirtschaftlichen Großbetrieben wieder auf dein Stande von 1886,
und die Negierung und das Land würden genötigt sein, alles das an
politischer Unruhe zweimal durchzumachen, was mit einemmal Hütte erledigt
werden können.
Nun darf die prinzipielle Gegnerschaft gegen den Verkauf von Land zu
Großbetrieben nicht zu einer Verneinung des von den Landräten vertretnen
politischen Bedürfnisses führen. Das Bedürfnis nach deutschen Kreistagen ist
so dringend, daß seine Nichtbefriedigung dazu führen könnte, das deutsche
Kulturwerk in der Ostmark zu gefährden. Aber wir dürfen nicht vergessen,
daß die kritische Zusammensetzung der Kreistage ausschließlich ein Erzeugnis
aus Übergangsverhültnissen ist. Es kommt sonnt nicht darauf an, sich heute
schon mit einer Maßregel für lange Zeit festzulegen, sondern ausschließlich
darauf, einen Übergang zu finden ohne Preisgabe wesentlicher Interessen,
Als eine Preisgabe wesentlicher Interessen muß aber der Verkauf von teuer
erworbnen Boden der Ansiedlungskommission an Großgrundbesitzer betrachtet
werden.
Gibt es nun gar keinen Ausweg ans dem Dilemma? Zunächst sollte die
Ansiedlungskommission, wo solches irgendwie möglich ist, aufhören, ganze deutsche
Güter zu kaufen. Dagegen sollte sie danach trachten, große deutsche Güter bis
zur zulässigen Grenze zu verkleinern. Alls dem erworbnen Boden sollen durch¬
einander Bauern mit verschieden großen Mitteln und Arbeiter angesiedelt
werden, vor allen Dingen Bauern, da die Regelung der Arbeiterfrage Zeit
hat, nicht aber die Umsetzung von Bauern. Die Ansiedlungskommission sollte
hierbei mit den kleinsten Landzipfeln zufrieden sein, die ihr die Besitzer über¬
lassen wollen. Nur muß es möglich sein, 3 bis 4 deutsche Familien zusammen
zu setzen. Bei solchen Teilkaufen wird dann die Ansiedlungskommission auch
den Weg finden, die von ihr als notwendig anerkannten Meliorationen durch¬
zuführen. Ich bin mir bewußt, daß mein Vorschlag hauptsächlich wegen der
im Osten vorhandnen psychologischen Verhältnisse unannehmbar erscheint. Darum
möchte ich auf die wiederholt geforderte aufklärende Propaganda und auf das
von der deutschen Mittclstaudskasse betriebue Entschuldungsverfahren hinweisen,
als auf die wirksamsten Mittel, deutsche Besitzer im eignen Interesse zur Ver¬
kleinerung ihrer Güter zu veranlassen. Sollten sich meinen Vorschlägen wirklich
unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenstellen, was ich nicht glaube, dann
könnte auf zweierlei Art geholfen werden. Das idealste wäre meines Trachtens
die Einfügung einer durch die Neuordnung der Verhältnisse bedingten Zusatz-
bestimmuug zur Kreistagordnnng. Diese Bestimmung hätte dahin zu zielen,
daß die von der Ansiedlungskommission erworbnen Güter solange „kreistag¬
fähig" bleiben dürfen, so lange die Ansiedlungskommission Besitzerin des Nest-
gntes ist ohne Rücksicht auf dessen Größe. Eine solche Bestimmung würde
abgesehen von dem politischen Zweck auch den Vorteil haben, daß die Ver¬
wendung der Restgüter mehr unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse
stattfände, und daß später der Ansiedlungskommission ein größerer Spielraum
bei der Verwendung gelassen werden könnte. Sollten es die Parteiverhältnisse
in Preußen nicht möglich machen, eine entsprechende Klausel in das Gesetz
hineinzubringen, dann müßte die Ansiedlungskommission die Möglichkeit haben,
die Nestgüter in kreistagfähiger Größe so lange zu erhalten, bis es die poli¬
tischen Verhältnisse ebenso wie die auf dem Arbeitsmarkt erlauben, das Nest¬
gut an Großgrundbesitzer zu verkaufen oder anderweitig zu verwenden. In der
Zwischenzeit könnte das Nestgut entweder für Rechnung der Ansiedlungs¬
kommission oder von Pächtern verwaltet werden. Solche Pächter könnten
tüchtige Verwalter der Ansiedlungskommission sein. Freilich werden dadurch
die polnischen Arbeiter nicht sofort überflüssig. Denn die einmal vorhandnen
Wirtschaftsbedingungen lassen sich nicht innerhalb vierundzwanzig Stunden
ändern. Aber das ist auch kein großes Unglück. Das Unglück tritt erst ein,
wenn sich die Ansiedlungskommission aller Rechte am Boden und damit aller
Einwirkung auf den neuen Bewirtschafter begeben hat. Der Pächter kann nach
einer bestimmten Reihe von Jahren gezwungen werden, deutsche Arbeitskräfte
bei sich zu verwenden, wenn sich diese erst aus dem Überschuß der angesiedelten
deutschen Bevölkerung gebildet haben werden. Der Besitzer braucht dagegen
nnr kaufmännische Rücksichten gelten zu lassen. Schließlich darf die Möglich¬
keit nicht außer acht gelassen werden, daß dank den Fortschritten des An-
siedlungswerks eine Neuausgabe der Kreisordnung für Posen und Westpreußen
in absehbarer Zeit doch zur Notwendigkeit wird. Die Ostmark befindet sich,
das kann nicht oft genug unterstrichen werden, in einem Übergangsstadium.
In einer solchen Phase laufen aber häufig genug die richtigen Wege scheinbar
direkt vom erstrebten Ziele weg. Für uns lautet einstweilen die Frage, ob
man die polnischen Arbeiter noch bewußt für gewisse Zeit in Kauf nehmen soll
mit der heutigen Kreisordnung, oder ob man die Kreisordnung aufgibt zugunsten
nationaler Grundsätze.*) Das Grundprinzip aber muß bleiben: wenn die An-
siedlungskommission einmal von ihr erworbnes Land wieder aus der Hand gibt,
dann nur unter der Bedingung, daß auf diesem Lande ausschließlich deutsche
Hände Arbeit finden.
l u den schwierigsten Problemen, die Japan der Forschung stellt,
gehört die Religion und ihre Stellung im Leben des Volkes.
Nicht nur religionsgeschichtlich sind hier die Dinge ungewöhnlich
schwierig, recht weit gehn auch noch die Ansichten über die religiöse
I Anlage der Japaner auseinander. Es gehört schon eine sehr
tiefe Kenntnis der Volksseele dazu, um über die religiöse Anlage eines Volkes
urteilen zu können. Es ist sicher falsch, die religiöse Anlage des Japaners
nach den Aussagen von Japanern selbst zu beurteilen, die sich vielfach als
religionslos bezeichnen. Es fehlt aber nicht an Urteilen? die auf eindringendem
Verständnis des japanischen Wesens ruhen und sich durch volle Unbefangenheit
auszeichnen. „Den Japanern fehlt nicht der Zug zur Religion, obgleich das
Volk vom praktischen Materialismus des Erwerbs und vom theoretischen
Materialismus der Gelehrten beherrscht ist." So sagt der Missionar Schiller
in der in Tokio erscheinenden Zeitschrift „Wahrheit". Besonders zutreffend
ist Munzingers auf langjähriger Erfahrung begründetes Urteil: „Der Japaner
ist gewiß religiös, so gewiß als die Religion in dem Geistesleben eines jeden
Volkes einen Bestandteil und zwar einen Hauptbestandteil bildet; aber für die
Geisteshöhen und — -tiefen der Religion ist er weit weniger empfänglich als der
Arier." Zu den Völkern von hervorragender religiöser — und philosophischer —
Anlage gehören die Japaner ebensowenig wie die Chinesen. Es fehlt ihnen das
Gefühl für die Hintergründe des Daseins, sie sind dem metaphysischen Denken
durchaus abgeneigt, und vollends ist für alles Mystische, ohne das kein höchstes
religiöses Bewußtsein leben kann, im mongolischen Geiste kein Raum. Die
religiöse Toleranz, wie sie Tschinghiz-eben und seine Nachfolger übten, wie sie
meist auch von der chinesischen und der japanischen Regierung geübt wurde,
beruht zum großen Teil auf Indifferenz oder auf praktischen Zwecken. Ver¬
folgung der Christen in Ostasien hat immer außerreligiöse Ursachen gehabt.
Dem oben angeführten Urteile Munzingers hat der beste Kenner des religiösen
Lebens in Japan, der Pfarrer der deutsch-evangelischen Gemeinde in Tokio,
D. Hans Haas, ausdrücklich zugestimmt. In seinem soeben erschienenen Buche
„Japans Zukunftsreligion" (Berlin, 1907) hat er die wertvollsten Auf¬
schlüsse über die Bewegungen und Spannungen gegeben, die das geistige und
religiöse Leben des modernen Japan erfüllen und vielfach an das Christen¬
tum in Japan anknüpfen. Schon der Widerstand der alten japanischen
Religionsgebilde, so wenig sie länger in die moderne Zeit passen, zeigt doch,
daß sich die nationale Religion noch lebenskräftig fühlt und nicht ohne Kampf
das Feld räumen will. Vor allem bildet der Buddhismus in Japan eine
wirkliche Macht, und seine Vertreter behaupten seine Überlegenheit über das
Christentum, wie die dort mitgeteilte, recht interessante Kritik des Christentums
von dem Japaner Arm Haknseki aus dem Jahre 1715 zeigt. Was er sagt,
entspricht nach Astons Urteil genau der Stellung des gebildeten Japaners
der Gegenwart. Die tiefsten Einblicke in das geistige Wesen des Japaners
hat jedoch Lefcadio Hearn gewonnen, gewiß der feinsinnigste Kenner der japa¬
nischen Volksseele und vielleicht der kenntnisreichste Schilderer des Volkslebens.
In seinem Buche .laxan, an attsmxt at interpretation (London, 1904) hat er
in sehr feinen Bemerkungen dargelegt, daß die eigentliche Religion des Japaners
in der Ahncnverehrung liegt, deren erweiterte Gestalt die nationale und staat¬
liche Gesinnung ist. Das Geschlecht, der Stamm und endlich der Staat werden
darin zu Objekten des religiösen Bewußtseins und damit zu den wirksamsten
Werten des Daseins. Darin liegt das Wesen des „Shintoismus". Die
Ahnenoerehrung ist hier in der Tat die einzige dauernde Grundlage aller ge¬
sellschaftlichen Einheit und Sicherheit von der Familie an aufsteigend bis zum
nationalen Einheitsstaat. Es ist deshalb begreiflich, daß seit der Erneuerung
der Monarchie (1868) national-religiöse Nestaurationsversuchc unternommen
wurden, die den reinen Shintoismus herzustellen unternahmen. In der Ver¬
götterung des Kaisers gipfelte dieser inzwischen schon cmfgegebne Versuch.
Auch in der Religionsgeschichte Japans besteht noch vielfach mancherlei
Unklarheit. Die Bearbeitungen in den verbreiteten Darstellungen der allge-
gemeinen Religionsgeschichte sind sehr fehlerhaft und ergeben ein falsches Bild.
Neben W. E. Griffs ('IInz rsllsicmZ ok ^xan, 2. Aufl., Newyork, 1895),
E. M. salvo (in Murrays Hauädoolc lor Irs-völlors in ^apim, 2. Aufl.) und
W. G. Aston hat sich ein deutscher Gelehrter, Karl Florenz, durch die Er¬
schließung der altjapanischer Annalcnwerke die größten Verdienste auch um
die Religionsgeschichte erworben. Nur einige häufig veruommne Begriffe der
japanischen Religionsgeschichte mögen hier erläutert werden.
Bekannt ist die Bezeichnung „Shintoismus" für die japanische Volks¬
religion, deren Wesen in der Ahnenverehrung besteht. Das Wort Shin-to
selbst ist die wörtliche chinesische Übersetzung der einheimischen Bezeichnung und
bedeutet „Weg der Götter", wobei „Weg" nach chinesischem Sprachgebrauch
für „Lehre" steht. Die Annahme, daß diese Religion Menschenopfer gekannt
habe, ist nicht erwiesen. Möglich ist, daß in der ältesten Zeit mit Vornehmen
auch ihre Diener begraben wurden. Jedenfalls ist diese Sitte in Korea erst
503 n. Chr. durch ein königliches Edikt aufgehoben worden. Was die Kultur
anlangt, ist Korea in vielem das Vorbild Japans gewesen.
Neben die heimische Religion ist dnrch den alten Zusammenhang mit
Korea der Buddhismus getreten. Im Jahre 552 wurden buddhistische Bücher
und Bilder, wahrscheinlich chinesische Texte und Malereien, aus Korea an den
japanischen Kaiser geschickt. Aber trotz der kaiserlichen Begünstigung ist der
Buddhismus nur unter sehr starkem Widerstreben des Volkes durchgedrungen,
erst im achten Jahrhundert sind ihm die Massen zugefallen. Dabei blieb die
nationale Religion durchaus bestehn; der Buddhismus nahm sie in sich auf
und wurde von ihr vielfach beeinflußt. Eine Blütezeit scheint der Buddhismus
im zwölften und im dreizehnten Jahrhundert erlebt zu haben; 1252 wurde
die berühmte große Buddhastatue in Kamakura errichtet.
Erst seit der Einführung des Buddhismus beginnt auch die chinesische
Ethik, wie sie durch Konfuzius ihre klassische Gestalt erhalten hat, in Japan
einzudringen. Im Mittelalter freilich scheint die konfuzianische Philosophie
wenig hervorgetreten zu sein. Seit dem Anfang des siebzehnten Jahrhunderts
wird sie wirksam und beherrscht für die Zeit der Tolu-gawci (1693 bis 1868)
fast ausschließlich das Denken der Gebildeten. Erst mit dem Ende des mittel¬
alterlichen Japan, mit dem Untergang der Feudalstaaten, verliert sie ihre
Grundlage im realen Leben, obwohl sie in den moralischen Anschauungen noch
mannigfach fortwirkt.
Im Zusammenhange mit der konfuzianischen Ethik ist auch die chinesische
Philosophie nach Japan gelangt, in Anlehnung an das chinesische Denken,
das seinerseits wiederum von der indischen Philosophie befruchtet ist, hat sich
die Philosophie in Japan entwickelt. Ihre Vorbilder waren die chinesischen
Philosophen Chu-tsi (1130 bis 1200) und Wang Yang ming (1472 bis 1528).
Mit dem buddhistischen Priester und spätern Konfuzicmer Iamazaki Anzai
(1618 bis 1682) tritt wohl der erste Japaner, der ein eigenartiger Denker
war, in die Geschichte der Philosophie ein. Auch sonst fehlt es im siebzehnten
und im achtzehnten Jahrhundert nicht an japanischen Philosophen, denen eine
gewisse Selbständigkeit des Denkens nicht abzusprechen ist; der bedeutendste
von ihnen ist wohl Chusai (1794 bis 1837). Bekanntlich betreiben die modernen
Japaner eifrig das Studium der deutschen Philosophie; zumal das Kcmt-
stndium hat eine Pflegestätte in einer japanischen Kantgesellschaft gefunden.
Immerhin ist die spekulative Begabung der Japaner gering; sie sind hier wie
überall sorgsame Arbeiter, die nach der erlernten Methode produzieren. Die
Schriften von Kato Hiroyuki zum Beispiel, dem ehemaligen Rektor der Uni¬
versität Tokio, sind oberflächliche und mittelmüßige Leistungen, die aus popu¬
lären und oft minderwertigen deutschen und englischen Büchern kompiliert sind.
Im wesentlichen neigt der japanische Geist zum Empirismus. Auch die Stellung
der gebildeten Japaner, namentlich der politischen leitenden Persönlichkeiten,
scheint vielfach durch den Wert der Religion als eines Mittels zum Zweck
der moralischen Volksdisziplin geleitet zu sein. Daß die alten Religionsformen
entartet und vielfach zersetzt sind, bezeugen die Japaner oft selbst. Seltsam
ist, mit wie rein intellektualistischen Mitteln sie vielfach eine Reform erreichen
zu können meinen. So erklärt ein japanischer Religionsphilosoph, daß eine
geistige Hebung der Priesterschaft dem Buddhismus zu neuem Leben verhelfen
werde. Zumal die pädagogischen Kreise sind rein intellektualistisch gerichtet..
Die japanische Regierung untersagt in der Staatsschule jeden Religionsunter¬
richt, an dessen Stelle eine allgemeine moralische Unterweisung tritt. Die
gegenwärtigen religiösen Verhältnisse zeigen zwar noch einen bei den Gebildeten
vorherrschenden Skeptizismus gegenüber den positiven Formen der Religion;
über die prinzipiell antireligiöse Strömung geht zurück. Vorläufig bestehn in
Japan noch die größten Gegensätze. Im ersten Teile seines Buches „Japans
Zukunftsreligion" hat Hans Haas diese Verhältnisse vortrefflich geschildert.
Das kleine, aber gehaltvolle Buch verdient die weiteste Beachtung und möge
dem Leser das hier Angedeutete ergänzen. Die Wandlung, die sich im reli¬
giösen Bewußtsein der Japaner in der letzten Zeit vollzogen hat, kann durch
nichts besser veranschaulicht werden als durch den Wandel, der in der Über¬
zeugung einer hervorragenden Persönlichkeit, des bekannten Staatsmannes
Marquis Jto, eingetreten ist. Wir entnehmen beide Äußerungen dem genannten
Buche von Haas. Vor Jahren äußerte Jto — und damit befand er sich
nach Munzingers Urteil in voller Übereinstimmung mit allen gebildeten
Japanern — folgendes: „Ich betrachte die Religion als ganz unnötig für das
Leben eines Volkes. Wissenschaft steht hoch über dem Aberglauben, und was
ist jede Religion, sei es Buddhismus, sei es Christentum, anders als Aber¬
glaube und deshalb eine Quelle der Schwäche für ein Volk? Ich beklage die
Tendenz zum Freidenkertum und Atheismus, die in Japan fast allgemein
herrscht, durchaus nicht, denn ich erblicke darin keine Gefahr für die Nation."
Inzwischen hat Japan die Gefahr einer religionslosen Volkserziehung ge¬
legentlich erkannt; trotz alles Skeptizismus gilt für Japan, was Plinius von
der ebenso skeptischen römischen Kaiserzeit sagt: ^sÄäug, as also auakstio est —
„Die Frage nach dem Wesen des Göttlichen kommt nicht zur Ruhe." In den
extremsten Ausführungen bekundet sich neuerdings in Japan nicht selten das
Geheimnis der religiösen Anlage im Menschen. Marquis Jto hat mit vielen
seines Volkes seine Überzeugung gewandelt, wenn er kürzlich geäußert hat:
„Die einzige wahre Zivilisation ist die, die auf christlichen Prinzipien ruht;
und da nun einmal Japan auf diesen Prinzipien allein eine zivilisierte Nation
bleiben kann, so werden die Hauptfaktoren in der Entwicklung Japans in Zu¬
kunft die Männer sein, die eine christliche Erziehung empfangen." Gewiß geht
dieses Urteil in nichts voll religiösem Verständnis aus, sondern ist durch politisch¬
kulturelle Motive bestimmt. Aber es enthüllt doch eine neue Würdigung der
religiösen Kräfte als einer im Volksleben wirksamen Macht. Auch darauf hat
schon ein Japaner nachdrücklich hingewiesen, daß europäische Staatsmänner
wie Bismarck und andre in ihrem religiösen Glauben den festen Halt für ihr
Handeln hatten. „Bieten Männer, fragt er, die kein Bewußtsein ihrer Ver¬
antwortlichkeit vor Gott haben, wirklich hinreichende Garantien, um mit der
Vertretung der wichtigsten Interessen ihres Landes betraut zu werden?" In
solchen Äußerungen scheint sich eine neue Gestaltung des japanischen Geistes¬
lebens vorzubereiten.
Noch eine Seite aus Reinh Buch würde zu mancherlei Mitteilungen von
allgemeinem Interesse Anlaß geben, wenn hier dazu Raum wäre. Rein hat
seinem Werke einen Abriß der japanischen Geschichte eingefügt. Hier freilich
sind die Dinge von Grund aus neu zu gestalten. Die Darstellung der ältern
Zeit beschränkt sich auf eine Aufzählung der kriegerischen Ereignisse und der
Negcntenhäuser; die wirtschaftliche, rechtliche und geistige Entwicklung tritt zurück.
Es ist nicht möglich, die wirkliche Geschichte Japans im Schema und mit dem
Material der japanischen Überlieferung zu erkennen. Die Mythologie umhüllt
die Anfänge, die historische Legende hat sehr erfinderisch gewaltet, und die
Japaner haben sich mit ihr eine Reihe von Taten zugeschrieben, an denen
kaum ein wahres Wort ist. Für die Urzeit müssen die archäologischen Funde
nähere Auskunft geben. Aus der schriftlosen Zeit werden wir kaum historische
Ereignisse kennen; man kann nicht — wie es Rein tut — mit dem alten
Kaiser Jimmu-Tenno die Geschichte beginnen lassen. Ebenso ist die berühmte
Eroberung Koreas durch die Kaiserin Jingo ganz ins Reich der Sage zu
verweisen. Schriftliche Überlieferung besitzt Japan erst seit dem Beginn des
fünften Jahrhunderts u. Chr., als die Schreibkunst aus Korea gebracht wurde.
Bessere Einblicke haben wir durch K. Florenz in die gesellschaftliche und recht¬
liche Gestaltung des alten Japan gewonnen; auch die Bedeutung der großen
Politischen Umwälzungen und Reformen, die schon das alte Japan erlebt hat,
erforderte eindringende Beachtung. Natürlich liefern auch die japanischen Annalen-
Werke Kojiki (712 n. Chr.) und Nihongi (720) wertvolles Material für die
Erkenntnis der ältern Kultur. Aber die historische Tradition bedarf immer
der Prüfung an der Hand koreanischer und chinesischer Berichte. Mit seiner
ausgezeichneten „Geschichte von Japan" hat Nachod den Weg betreten, der
allein zum Ziele führt.
Der erste Europäer, der den Namen Japan vernahm, war bekanntlich
der Venezianer Marco Polo, der um 1270 am Hofe des Mongolen Chan
Kubilai zu Peking weilte. Was er von Japan zu berichten weiß, sind viel¬
fach dieselben Fabeleien, die die Chinesen den arabischen Kaufleuten in Canton
aufgebunden haben. Aber er hat die historische Tatsache überliefert, daß
Kubilai, wahrscheinlich durch das Gerücht von dem Goldreichtum Japans ge¬
lockt, durch mehrere Expeditionen das Land zu unterwerfen suchte. Er soll
auch eine große Flotte ausgesandt haben, die wahrscheinlich durch Stürme in
dem gefährlichen Gelben Meere zugrunde ging. Mit der wilden, kriegerischen
Art der Japaner scheinen die Mongolen bekannt geworden zu sein. Die historische
Forschung kann die ältesten Berichte über Japan niemals ohne kritische Sichtung
hinnehmen, sie geben vielfach rein sagenhaftes wieder. Das wurde erst anders,
als die Europäer selbst Japan erreichten. Es waren die Portugiesen, die
nach der Eroberung Malakkas durch den gewaltigen Affonso dÄlbuqnerque
(1511) bei Canton an der südchinesischen Küste landeten (1517). Etwas später
— seit 1523 — wagten sie sich nordwärts nach Ring-Po, das längst lebhaften
Verkehr mit Japan hatte. Hier hat sich wohl der „erfindungsreiche Odysseus"
aus dem edeln Stamme der Lusiaden aufgehalten, der als erster Europäer
nach Japan gelangt sein will: Fernao Mendez Pinto. Wir wissen durch einen
Brief dieses Abenteurers, daß 1542 in Siam drei portugiesische Matrosen
desertiert sind, die auf eine chinesische Dschunke flüchteten und durch einen
Sturm nach Japan verschlagen wurden. Pinto behauptet, selbst einer jener
drei gewesen zu sein. Das ist sicher nicht wahr, wenig später aber ist er tat¬
sächlich dort gewesen. Sein merkwürdiges Buch, das er nach seiner Rückkehr
nach Portugal abfaßte, und das lange nach seinem Tode in Lissabon erschien
(1614), ist von Richthofen als „ein Meer von Lügen" bezeichnet worden. Es
läßt sich nicht leugnen, daß Pinto eine sehr zweifelhafte Größe ist. Rein steht
ihm mit zuviel Vertrauen gegenüber. Trotzdem bietet es Berichte, so die
Mitteilungen über Japan, in denen Interessantes und Richtiges vorliegt. Jeden¬
falls bietet das Buch ein ungemein lebendiges Zeit- und Sittenbild ans der
großen Zeit der portugiesischen Kolonisation. Ein Urteil über den Bericht
Plutos ist erst möglich geworden, seitdem Ch. Ayres in seinem vortrefflichen
Buche „Fernao Mendez Pinto" (Lissabon, 1904) das ganze authentische Material
vorgelegt hat, vor allem die in Lissabon erhaltnen Briefe der Jesuiten ans den
Jahren 1644 bis 1669 nebst allen Schreiben von Pinto selbst.
Fruchtbar und für die wissenschaftliche Erkenntnis von dauerndem Wert
war ein Ereignis, das ebenfalls mit der portugiesischen Kolonisation zusammen¬
hängt; von Goa aus ging der begeisterte Missionar Franziskus .Laverins 1549
nach Japan, wo er sieben Jahre wirkte. In seinen Briefen haben wir wertvolle
Quellen, wie überhaupt die Berichte spanischer und portugiesischer Missionare
ausgezeichnete Quellen über das mittelalterliche Japan sind. Durch K'averius
sind auch die ersten Japaner nach Europa gelangt. Anscheinend war es ein
flüchtig gewordner Adlicher, namens Anjiro, nebst zwei Begleitern. Sie sind
in Goa getauft worden und starben in Sevilla und in Rom.
Durch die Berührung mit europäischen Seefahrern wurde der Verkehr im
Osten Asiens gesteigert. Die japanische Negierung unterstützte zunächst die
Hnndelsschiffahrt. Es ist ein Irrtum, wenn vielfach behauptet wird, Japan
habe sich abweisend Verhalten. Noch der Shogun Jeyasu hat um 1615 die
sogenannten „roten Stempel" verliehen, mit denen das Recht zu überseeischen
Fahrten gewährt war. Wir erfahren, daß 1619 ein japanisches Schiff in
Acapulco lag. Im Jahre 1609 erhielten die Holländer einen Handelspaß,
und 1613 beginnt der Handel Englands mit Japan. Nach 1636 wird fremden
Schiffen der Verkehr in Hirado und Nagasaki freigelassen. Das war freilich
schon eine Beschränkung.
Die Portugiesen hatten sich in Japan ebenso wie in China Übergriffe zu¬
schulden kommen lasten, die das berechtigte Mißtrauen der Regierung er¬
regten. Mit der Vertreibung der Portugiesen (1639) und der Hinrichtung des
portugiesischen Gesandten (1640) erfolgte die Abschließung nach außen. Es
war dies zugleich der Untergang der Anfänge des Christentums in Japan, das
blutig ausgerottet wurde. Nur die Holländer behaupteten durch kluges und
vorsichtiges Verhalten eine Station auf der kleinen Insel Desima im Hafen
von Nagasaki, wodurch sie immerhin einen wertvollen Vorzug genossen. Die
Beziehungen zu den Holländern gestalteten sich durchaus freundlich. Erst
mit dem Werke Engelbert Kämpfers aus Lemgo, der um 1690 von Siam
aus als Arzt mit einer holländischen Gesandtschaft nach Japan kam, erhielt
Europa wieder (1712) auf eigner Anschauung beruhende Kunde vom Lande
und Volke Japans. Als Arzt hatte Kämpfer freundschaftlichen Verkehr mit
gebildeten Japanern. Das achtzehnte Jahrhundert bringt wertvolle Nachrichten
durch die Ausdehnung der Russen nach dem Stillen Ozean. Vor allem brachten
der Schwede K. P. Thunberg (1770 bis 1779 in Japan) und der Finnländer
Lcixmcin (1792) wertvolle Erkenntnisse über Klima und Pflanzenleben Japans;
durch Laxmcm wurde die Insel Jesv in ihreiu landschaftlichen Charakter be¬
kannt. Am spätesten, aber mit dem größten und glänzendsten Werke der
alten Japanliteratur sind die Deutschen auf dem Schauplatz erschienen, mit
P. F. von Siebolds „Nippon, Archiv zur Beschreibung von Japan und dessen
Neben- und Schutzländern". Er landete 1823 in Nagasaki. Ihm ist das
seltne Geschick zuteil geworden, in Japan noch das volle Mittelalter des
Feudalstciatcs und des Ritterstandes kennen zu lernen und zugleich die nach
1860 beginnende Uniwandlung in den modernen Staat zu verfolge». Auch
Siebolds Werk ist heute in vielem veraltet, namentlich in seinem historischen
Teil. Aber für die Kenntnis des mittelalterlichen Japan haben diese euro¬
päischen Berichte noch heute den Wert hervorragender Quellen. Für die
Kenntnis des modernen Japan freilich muß man sich an die neuesten Arbeiten
wenden, von denen manche hier genannt worden sind.
>n diesen: Aufsatz über die moderne Ballade möchte ich auf das
Wesen dieser poetischen Form, über das schon so viel gestritten
worden ist, nicht eingehen, dagegen kurz ausführen, daß meines
Trachtens Balladenkunst in jedem Falle Sülkunst ist. Der Stil
!der Ballade ist zunächst durch die Tradition gegeben, er geht
zurück auf das Volkslied; er ist nicht allein in den äußern poetischen Formen
zu suchen, sondern in der Sprache selbst und weiter nicht nur in der prägnanten,
gedrungnen, suggestiv und unmittelbar wirkenden Fassung der Vorstellungen,
sondern in dem mystisch-realistischen Wesen der Vorstellungen schon selbst.
Die Ballade geht in fernster Entwicklung zurück auf deu Mythus, auf die
Naturanschauung der Germanen; sie ist in diesem Sinne Weltauschaunngs-
gedicht, instinktiv gewonnene Naturpoesie, die Kunst des germanischen Menschen.
In dieser Form und in diesem Charakter wurde sie uns noch von Bürger,
Goethe, Heine, Mörike, der Droste, Kopisch gegeben. Brentano und Achin
von Arnim kommen diesem Wesen sehr nahe, doch sie sind, an sich bedeutend
und gewiß genial, schon zu legendär und romantisch persönlich, nicht mehr
typisch balladesk genug. Weiter ist die Ballade Heldenballade, sie ist auch
als solche durchaus Stilkunst. Hier erkennt man deutlich verschiedne Volks¬
stile, die von der Kunstballade weiter fortgebildet worden sind: den deutschen
Stil der lichten liedhaften Ballade oder Romanze, die sich aus dem Volksliede
des Mittelalters herausgebildet hat und Sagen und Historien, auch Vorgänge
des Lebens und menschliche Schicksale besingt. Ihre Meister sind die schwäbischen
Dichter: Uhlcind, Kerner, Schwab an der Spitze, auch Simrock, Geibel u. a.
sind zu nennen. Weiter stehn uns deutlich erkennbar in Stil und Struktur
gleichsam vor Augen: die Schottenballade, die dänische und nordische Helden¬
ballade, die Dithmarschenballade. Als ihre Meister können gelten: wiederum
Uhland, ferner Stmchwitz, Fontane und Liliencron. Endlich ist die Ballade
jedem persönlichen Stile geöffnet. Als solche wird sie Kuustballade im be¬
sondern Sinne. Ihre Meister sind Schiller und Konrad Ferdinand Meyer.
Auch Freiligrath wäre hier zu nennen; ferner Hebbel und Keller, in deren
Balladen sich in eigenartigster Weise Volksstil und persönliche Art mischen.
Mit Ausnahme Lilicncrons und vielleicht der jungen Dichterin Agnes
Miegel reicht keiner der modernen Balladendichter an die ältern Meister
heran. Kein moderner Dichter hat es vermocht, der Ballade neue Wege zu
weisen, eine originale persönliche Balladenkunst zu schassen oder die alte
Tradition durch eine ursprüngliche und geniale dichterische Kraft zu erneuern,
sodaß der herrliche Typus der Bürgcrschen und Goethescher Ballade in neuen
lebendigen Gebilden erschien. Ich vermisse gerade eine vollwertige Neu¬
belebung der ältesten und echtesten Ballade, der Naturballade, durch die
moderne Kunst. Züge davon siudet man nur dann und wann in modernen
Gedichten. Ich vermisse ferner eine Entwicklung der Ballade auf einem Ge¬
biete, auf dem sie vielleicht ganz Neues leisten könnte, auf dem sozialen Gebiete.
Auch hier nur Ansätze: soziale Vorgänge in sauberer Darstellung und epischer
Behandlung — keine Balladen.
Und trotzdem rührt es sich überall und ist emsig am Werke, seit Jahren
redet man von der modernen Ballade. Und in der Tat: es gibt begabte
Balladendichter uuter den Modernen, in diesem Sinne kann man von einer
modernen Ballade sprechen. Aber diese Dichter sind nur die Schüler genialer
Meister, sie haben gewisse Typen der Ballade, von denen ich schon sprach,
weiter fortgebildet, insbesondre den Typus der nordischen Heldenballade, den
der Fischerballade, der melodischen Nitterromanze (nach romanischen Motiven
und Stilarten) usw. Ich finde viele geistvolle Züge, viele poetische und
psychologische Feinheiten in diesen Balladen; aber ich vermisse die große hin¬
reißende Kraft, Wucht, Spannung und Einfachheit in Motiv und Wort, in
Sinn und Bild. Der Stil der nordischen Ballade ist hier und dort trotz aller
Schönheit schon in Manier entartet.
Die Balladen Liliencrons") übertreffen jedenfalls an Urwüchsigkeit und
Frische alle übrigen. Darin liegt ihr Vorzug und ihr Mangel; denn infolge
des lyrischen Arabeskenwerks, das an sich bei diesem Dichter ja immer
originell und meist hochpoetisch wirkt, fehlt es den Balladen bisweilen an
Straffheit in der Komposition. An andern Stellen ist der Dichter wieder zu
knapp und sprunghaft. Doch das sind Schönheitsfehler, die den Balladen
andrerseits einen eignen Ton und Stil verleihen. Ein farbiges, buntes Leben,
ein Gewimmel von Gestalten und Figuren herrscht in Liliencrons Balladen,
immer aber spricht die Natur, Moor, Heide oder Wald wie mit lebendiger
Sprache und Seele in die Ereignisse hinein. Eine flache, breite, niederdeutsche
Stimmung wird dadurch in den Gedichten erreicht, deren Inhalt sich selten
um einen festen Kern, eine Idee, eine Tat von besondrer Art gruppiert,
vielmehr eine einfach realistische, aber äußerst lebendige, kriegerische Begeben¬
heit ist. Es sind Episoden- und Anekdotenballaden, keine Sagen- und eigent¬
liche Natur- (mystische) Balladen. Das gilt hauptsächlich von des Dichters
nordischen Balladen, den Dänen- und Dithmarschenballaden. Man kann diese
nordischen Lokalballaden neben Fontanes märkische und der Droste westfälische
stellen. Von ihnen nenne ich: König Ragnar Lodbrog, Die Kapelle zum
finstern Stern, König Abels Tod, Herzog Knut der Erlauchte, vor allem aber
Peter Lyugg. Hervorgehoben seien aber auch Liliencrons Balladen andern
Inhalts, so zum Beispiel die herrlichen großzügigen Darstellungen: Der schwer¬
mütige König, Der Heidebrand und Das Gewehr im Baum. Auch in ihnen
herrscht die Knappheit und der hinreißende Stil der deutscheu Ballade, eine
suggestive Anschaulichkeit und Liniengeradheit, eine spannende, Sprunghafte
Fortführung und Steigerung der Handlung, auch in ihnen lebt deutsches
Naturempsinden in hohem Maße und ein genialer, urwüchsiger Humor.
Neben Liliencron wird ein jüngerer Dichter häufig als hervorragender
Bnlladensänger genannt: Börries von Münchhausen.*) Ich kann seiner
Kunst meine Achtung nicht versagen, meine aber doch, daß sie überschätzt wird.
Zunächst: Münchhausen ist viel strenger und straffer in seinein Stil als
Liliencron, seine Balladen sind kunstvoll aufgebaut und durchaus echt im Tone,
suggestiv in der Wirkung; aber ich vermisse in diesen von der Kraft einer
hvchgestimmten und temperamentvollen Sprache belebten schönen Gebilden doch
die Originalität und Tiefe in Motiv und auch im Stil. An Strachwitz, den
vom Dichter wohl am meisten verehrten Meister, reicht Münchhausen uicht
heran. Dessen bewuudrnngswürdige lichtvolle Einfachheit ist ihm versagt.
Vortrefflich gelingt ihm der derbe Ton der Bauern und alter Soldaten.
Seine Balladen aus der yannoverschen Adelsgeschichte sind wohl seine besten.
Wie gesagt, ich will die Einheit seines Stils wohl anerkennen; aber hier wird
Stil und Zucht auch schon des öftern Manier, und die Balladenphrase tönt
grell in den ewigen Schwerterschlag, in das Trommeln und Trompeten hinein.
Münchhausens Ballade ist auf äußere Wirkung berechnet. Psychologische Ver¬
tiefung würde ihr zum Vorteil sein. Daß der Dichter dies vielleicht selbst
erkannt hat, beweist er dnrch ein paar anders und stiller geartete Balladen,
die ich zu seinen besten rechne, ich meine Der Todspieler und Dreigesprüch.
Von einem so begabten Balladendichter möchte ich mir für die Zukunft noch
mehr versprechen. Darum dieser höchste Maßstab.
Ähnlicher Art ist Lulu von Strauß und Torney, eine gewiß begabte
und unermüdlich an sich arbeitende Dichterin. Eine respektable Leistung ist
ihre letzte Sammlung: „Neue Balladen und Lieder"*). Der Prozeß, den ich
bei Münchhausen schilderte, wiederholt sich auch hier. Bei aller Kraft und
Phantasie, Feinheit und Subtilität der Sprache wirkt diese oft gewaltsam
balladesk, sodaß man sich wundert, daß soviel Kunstgefühl diese Überspannungen
nicht zu vermeiden vermochte. Doch auch hier findet man neben Manier und
Epigonenhaftem so viel Ernstes, Tüchtiges und Feines, auch Starkes, daß man
das Lob nicht vergessen darf. Die Fischerballade wiegt vor. Mannigfaltiger
an Motiven und reicher an Seele ist dieses Buch als das des Freiherrn
von Münchhausen. An der Fülle der Worte leidet die prächtige Seeräuber¬
ballade Das Wiegenlied, etwas sentimental genrehaft wirkt Der Seefahrer,
doch bietet das Gedicht viele eigenartige Motive und Partien. Ich erwähne
noch Chronik und Die Tulipan.
Auch A. K. T. Tielo liebt noch die allzu starken Worte, die überplastischen
Bilder, die von Dekorationen beladnen Szenerien. Ihm kommt zustatten der
reiche Sagenschatz seiner Heimat Litauen. Sein Buch „Klänge aus Litauen"**),
überreich an Stimmungen und Gestalten, birgt doch auch eine Reihe frisch
empfundner Balladen und balladesker Stimmungen. In solchen Gedichten
erscheinen, um die Mystik der landschaftlichen Motive, die psychologischen
Zusammenhange zu vertiefen, sogar die alten Heidengötter Preußens selbst,
gespensterhaft, und ich muß gesteh», Tielo verwendet diese Mittel oft mit
vieler Kunst.
Ganz andrer Art ist Agnes Miegel. Sie hat in ihren Versen jenes
elementare Wesen, das, undefinierbar, doch deutlich fühlbar, meines Trachtens
das Signum des gebornen Dichters, des berufnen Lyrikers ist. Ihre Verse
haben den mystisch-poetischen Zug in Stimmung und Ausdruck, Inhalt und
Wort, zum Beispiel mit dem Volksmärchen, mit Goethes Balladen, mit den
feinsten Poesien der Romantiker (Brentano, Eichendorff) gemeinsam. Ihre
Poesien erinnern bald an die Art des Dünen Jacobsen, bald an Storm.
Beeinflußt wurde die Dichterin deutlich auch durch Eichendorff. Das Buch
„Balladen und Lieder"*"*) enthält fünf Meisterstücke echter Balladenkunst:
Schöne Agnete, Das Märchen von der schönen Mete, Die Mär vom Ritter
Manuel, Lady Gwen und Rembrandt. Andre sind interessant, wie Die
Domina, Die Braut, Heinrich von Planen, Maria Antoinette, OKkvalier N-rant,
und würden in jeder andern Sammlung eine auffallende Zierde bilden, hier
nehmen sie schon die zweite Stelle ein.
Ihr am nächsten kommt Irene Forbes-Mosse in einigen Balladen, die
sich zerstreut in ihren Gedichtsammlungen*) finden. Doch ist hier die Romantik
fast schon auf die Spitze getrieben, die zarte Kunst der Worte und Nuancen,
der mitschwingenden Töne erinnert bisweilen bedenklich an den Wortkultus
moderner Ästheten. Frische Empfindung müßte in diese holdselige Arabesken¬
lyrik hineingeblasen werden, bevor sie in filigranartiger Feinheit und Vor¬
nehmheit erstarrt. Eines schätze ich jedoch auch besonders an den Versen der
Forbes-Mosse: das Anklingen volkstümlicher Wendungen und Worte, die die
Dichterin intuitio findet.
Zu den begabten jungem Balladendichtern zähle ich Willrath Dreesen
und Georg Ruseler. Dreesen ist entschieden von Liliencron beeinflußt. Seine
Dithmarschenballaden Laka trszsg, liessim**) verraten deutlich das Vorbild.
Jedenfalls ist die Farbe noch etwas dick aufgetragen, die Gefahr der Über¬
treibung, der Stildegeneration hat auch Dreesen nicht ganz vermieden. Die
Dithmarschen- und Friesenballade ist ja, recht verstanden, ein Naturprodukt.
Die ihr zugrunde liegenden Begebenheiten sind willkürlich entstanden und ge¬
worden, wie die Regungen, Stimmungen und Leidenschaften der Menschenseele
entstehn, man weiß nicht wie und woher. In dem Willkürlichen, dem sprung¬
hafter und Wirren der Dithmarschen- und Friesengeschichte kommt ja auch die
Menschennatur in ungeschminkter Ursprünglichkeit zum Ausdruck. Jähe Leiden¬
schaft, Zorn, Rache, Tapferkeit, Treue und Untreue, Trotz, Selbstbewußtsein,
alle Tugenden und Untugenden — nicht der diplomatische Verstand, höchstens
bäuerliche Schlauheit — schufen die Geschichte und die Poesie dieser Land¬
schaften. Als beste Stücke der Sammlung Dreesens erwähne ich Aylt Ayldesna,
Der letzte Dienst, Otte ten Broks Tod und Dirk Tysling. Interessant
werden die einzelnen Dichtungen auch dadurch, daß jeder die betreffende
Chronikstelle, die der dichterischen Bearbeitung zugrunde liegt, im alten Texte
vorangestellt wird.
Dreesens Balladen sind vorzugsweise historische; man könnte sie heroische
Chronikballaden nennen. Ruseler, der sein Buch „Der Wunderhorn, Nieder¬
sächsisch-friesische Balladen"***) nennt, geht ebenfalls von Überlieferungen
aus, doch von sagen- und märchenhaften. Sein Gebiet ist mannigfaltiger.
Seine Motive sind zumeist mystisch-psychologische. Die unheimlichen Natur¬
geister des Heidentums treiben in seinen Dichtungen ihr bedeutsames Wesen.
Ich muß gestehn, daß er die echte Balladenstimmung in manchen Gedichten
getroffen hat, zum Beispiel in der Ballade Das Gewissen. Von ähnlich
starker Wirkung sind die Balladen: Spökenkerlshus und Die Herzogin und
der Page. Wie gesagt, diese Treffsicherheit in der Wiedergabe des Un¬
heimlichen, Baumenten, Ahnungsvollen weist auf eine ursprüngliche Begabung
des Dichters für die echte Ballade hin. Daß er auch die schwankhafte
komische Ballade pflegt, ist nur ein gutes Zeichen mehr für ihn. Fast alle
Balladendichter von Bedeutung, Goethe, Bürger, Mörike, Heine, Kopisch u. ni.,
liebten es, ein Motiv scherzhaft zu schürzen. Geht doch auf diese Stimmung
die souveräne tragische Ironie eines Shakespeare zurück, dessen Tragödien
ebenfalls gewaltigen Balladen zu vergleichen sind. Freilich die Ironie in
der Ballade zeigt sich am feinsten in den Nuancen des Stils und der
Schilderung.
Von jüngern begabten Balladendichtern des nordwestlichen Deutschlands
ist insbesondre noch der dnrch sein schön ausgestattetes Buch „Hamburg"*) so
bekannt gewordne Gerhard Seeliger zu nennen. In den Gedichten dieser
Sammlung spiegelt sich die eigentümliche Geschichte Hamburgs — von der
Gründung der Stadt bis zur letzten Cholerapest — in bunt bewegten, oft
drastischen Bildern. Daß einiges deplaziert wirkt, einiges unreif und unbedeutend,
andres langatmig und gequält, findet seine Erklärung in der Anlage des
Sammelwerks, das ja die Stadt Hamburg möglichst umständlich verherrlichen
sollte. Am besten gelungen scheinen mir die ersten Gedichte des Buches zu sein,
die heldenhafte Vorgänge, zum Beispiel die Seekriege Hamburgs, feiern. Die
der Geschichte und dem historischen Anekdotenschatz der alten Hansastadt ent-
nommnen niederdeutschen Motive verlangten natürlich auch eine entsprechende
volkstümlich gehaltne Behandlung. Seeliger zeigt Talent für diesen kernigen
deutschen Ton, den er oft mit Glück trifft. Zuweilen vermag auch er sich nicht
vor Übertreibungen zu hüten, sodaß manche Wendung gekünstelt volkstümlich
oder zu stark wirkt. Ich hebe hervor die Ballade: Der Kinderbischof, von den
Seemanns- und Piratenballaden Klaus Störtebecker und den lustigen Bäcker¬
ausstand.
Als Hamburger Balladendichter können auch Gustav Falke und Otto
Ernst genannt werden. Dieser insbesondre hat ein paar Fischer- und Schisfer-
balladen gedichtet, die zwar nicht zu den feinsten Stücken ihrer Art gehören,
in denen jedoch der Balladenton getroffen ist. Falke hat vielfach durch eine
farbige und plastische balladenartige Stimmung seine lyrischen Gedichte, nament¬
lich die kleinen Naturallegorien vertieft. Einige epische Balladen im Volkstone
findet man in seinen letzten Gedichtsammlungen.
Einen balladesken Ton schlägt auch Bierbaum in einigen lyrischen und
allegorischen Gedichten an, freilich, echte Balladen gelingen diesem wenig naiven
Dichter nicht. Ähnliches läßt sich von einigen österreichischen Dichtern sagen,
deren lyrische Begabung doch nicht hinreicht, Balladen von echter impulsiver
Wirkung zu schaffen. Ich habe zum Beispiel die genremäßige pointierte Lyrik
von Hugo Salus im Auge. Hugo von Hofmannsthal nennt ein Gedicht
Ballade des äußeren Lebens, aber das ist nur eine geistreiche unpassende Be¬
zeichnung für ein subjektives reslexionüres Gedicht; doch andre Gedichte von
ihm erinnern an Romanzen. Auch eines jttngern österreichischen Dichters sei
an dieser Stelle gedacht. Oskar Wieners „Balladen und schwanke" sind echt
österreichische Ware, immer voll Duft und Farbe und von zierlicher, eleganter
Plastik, aber ohne eigentlichen epischen Gehalt.
Auch Richard Dehmel hat einige soziale Balladen von Bedeutung ge¬
dichtet; einen Zyklus an sich hochbcdeutsamer subjektiver Dichtungen „Zwei
Menschen" nennt er übrigens recht willkürlich einen „Roman in Romanzen".
Hiermit sind die Balladendichter der jüngern Generation, der sogenannten
„Moderne" wohl alle gekennzeichnet oder wenigstens erwähnt. Selbstverständ¬
lich findet man in neuern Balladenanthologien noch diesen und jenen andern
Dichter vertreten. Ich verweise zum Beispiel auf die in ihrem Inhalt fein ab¬
gestimmte, doch wenig originelle Sammlung von Ferdinand Avenarius „Balladen¬
buch"*), in die nach der persönlichen Richtung des Herausgebers auch einige
moderne Balladen aufgenommen worden sind.
Der „Neue deutsche Balladeuschatz"**), der als das Resultat eines Preis¬
ansschreibens jüngst erschien, gibt, obwohl die begabtesten Balladendichter der
Gegenwart nur zum geringen Teil in ihm vertreten sind, doch einen Überblick
über jüngste Bestrebungen. Ich habe schon angedeutet, daß diese Entwicklung
nicht reich an neuen Keimen ist, sondern sich bemüht, die alte Balladentradition
wieder aufzunehmen. Diese Tradition spiegelt sich in dieser Sammlung. Es
sind einige Balladen darunter, die Können verraten. Mir sind aufgefallen
Wilhelm Brandes (Die Jüdin von Worms), Hermann Löns (Jeduch), Wilhelm
Michels (Die Heimfahrt), Ellen Elisabeth Petersen (Torten Oxe), Theodor
Nehtwisch (Spichern), Theodor von Rommel (Patrouillenritt), Seeliger (Der
Görger), Ernst Weber (Heligo), Ernst Zahn (Die Brücke).
Einen modernen Dichter, den ich für einen der begabtesten und originalsten
halte, habe ich bisher nicht erwähnt. Ich meine den Schweizer Carl
Spitteler.""^) Er nimmt auch als Balladendichter eine ganz isolierte Stellung
ein. Seine Balladen sind eigentlich Allegorien, aber Allegorien voll Leben,
Geist und Empfindung, voll tiefen: Sinn und feiner Poesie, voll Humor und
Satire. Ich habe an andrer Stelle über ihn geschrieben: Seine Sprache ist von
jener blühenden Kraft und Schönheit, die den Poesien seiner großen Landsleute
K. F. Meyer und Keller, an deren Balladen die seinen auch oft erinnern, eigen
ist. Dieser feine und kluge Ironiker, dieser gemütvolle Symboliker überragt an
gedanklicher Originalität und Tiefe, an Phantasiereichtum und Gestaltungskraft
die meisten der so schnell zu Ruf und Ruhm gelangten jüngern Poeten.
Mit Absicht habe ich in diesem Aufsatz die jüngere Generation vorangestellt
und eingehend charakterisiert. Auch die ältere Generation der Dichter der Gegen¬
wart weist charaktervolle Balladendichter auf. Der bedeutendste unter den ältern
und lebenden Valladendichtern ist jedenfalls Felix Dahn, dessen großzügige
und nach englischen und nordischen Motiven und Stilen gedichtete Balladen
freilich in der Kunst des Worts und der suggestiven, psychologischen Vertiefung
nicht an Fontanes stofflich ähnlich gehaltene Balladen heranreichen; bekannt
sind seine schwungvollen Gotenballaden. Paul Heyse vor allem hat künstlerisch
sehr hoch zu bewertende, geistvolle Balladen gedichtet, wie Telemachos und
Das Fest der Alten. Von durchaus eigner Art sind als Balladendichter Heinrich
von Ueber (Der arme Sünder und Landsknechts- und Soldatenballaden) und
Arthur Fitger, dessen fein nuancierte, sprachlich abgetönte und anschaulich
wirkende Kunstballaden zu den besten der letzthin geschaffnen gehören. Martin
Greif hat neben kleinern fast liedhaften Balladen, wie Die wilden Frauen von
Untersberg und Der Gewordene, einige sinnschöne, poesievolle Romanzen, wie
Held Reinhold, Prinzessin Rhodopis und Das klagende Lied gedichtet. Der
äußerst fruchtbare Heinrich Vierordt, dessen humorvolle, fein ziselierte
italienische Stimmungen mir lieber sind als alles andre von ihm, hat immerhin
neben vielen Durchschnittsballaden einige bemerkenswerte Stücke wie Der Hexen¬
geiger und Der Clown geliefert, während Ernst von Wildenbruch als
Balladendichter hauptsächlich durch das temperamentvolle Hexenlied bekannt
geworden ist. Seine schönste Ballade ist meines Erachtens König Haralds
Rosse. Von Dichterinnen seien in diesem Zusammenhange endlich erwähnt die
als Persönlichkeit stark empfindende und phantasievolle Alberta von Putt-
kamer und die für die Ballade besonders befähigte Alice von Gaudy.
in 16. Mai 1904 zwei Uhr nachmittags lief das Kalk, das mich
von Lemnos herübergetragen hatte, kräftig auf den weißen Strand
am Pyrgos von Jmbros.*) Nach anfänglicher Windstille hatte eine
lebhafte Tramontana uns die 25 Kilometer schließlich in sechs Stunden
durcheilen lassen. Der Gegensatz der Insel, die ich kannte, und der
beiden andern, die ich zunächst kennen lernen wollte, trat schon in
diesen Stunden klar zutage. Lemnos schwamm hinter mir wie ein Blatt, in das
einige Stecknadeln ganz tief hineingesteckt sind, Jmbros stellt sich als ein Gewirr
höherer Berge dar, die teils rundlich, meist kegelförmig abgeschlossen sind; zur
Linken aber traute zwischen beiden der Berg von Samothrcike und barg sein Haupt
in weißlichen Wolken. Stück für Stück verschwand er hinter dem Westkap von
Jmbros, denn wir segelten nach Südwesten. Mehr und mehr wurde dort ein mit
Ackern bedeckter langer Hang erkennbar. Dessen Rand, Pholas genannt, verliert
sich stellenweise allmählich unter die Oberfläche des Meeres; größtenteils aber ist
die weiche Masse (Flyschscmdstein), die ihn bildet, schroff abgerissen. Wir sausten
schon unter diesem Steilhang dahin; oben ein Kirchlein, ein Hirt, weidende Ziegen,
unten große und kleine abgestürzte Steinbrocken. Dauernd büßt das Land hier
gegen das gefräßige Meer ein. Philostrat von Lemnos (zweites Jahrhundert n. Chr.)
erzählt, bei einem solchen Einstürze sei das Grab eines Riesen freigelegt worden,
dessen gewaltige Knochen er gesehen habe. Wir schießen schon über die Stelle
hinweg, die längst im Meeresgrunde ruht. Dicht beim Landeplatze Naulochos be¬
finde sie sich, sagt er, und das ist sicherlich Pyrgos, der einzige Punkt der West-
und Südküste, an dem man sicher landen kann. Ein echt griechischer Küstenplatz:
ein landfest gewordnes Jnselchen von mäßiger Erhebung, mit einem Kicsstrand
nach Westen und Osten. Ein paar Häuschen stehn auf dem flachen Verbindungs¬
stück mit dem Lande; am Rande der Höhe die Ruine eines mittelalterlichen Turmes,
der Rest einer Befestigung, der der Stelle den modernen Namen gegeben hat,
oben ein Kirchlein der heiligen Anna. A. Conze sah es im Jahre 1857 in
Trümmern; 1860 wurde es erneuert, und zwar, wie die metrische Inschrift meldet,
von einem Lemnier. Philostrat meint ebenfalls, wenn er auch aus Lemnos stamme,
halte er doch auch Jmbros für seine Heimat. Beides ist bezeichnend für die nahe
Verwandtschaft der beiden Inseln, die sich trotz der Verschiedenheit im Äußern
geologisch erweisen läßt, die in der Geschichte dauernd erhalten geblieben ist; fast
zum Schaden für Jmbros, das hinter der an Mitteln und Menschen reichern Schwester
sür uns oft zu sehr verschwindet.
Der Zöllner war ein alter Türke, der nicht Griechisch sprach, und weil er
kein Trinkgeld bekam, trotz allerhöchster Empfehlungsschreiben darauf bestand, einen
Blick in die Koffer zu werfen. Zwei der drei Hütten sind natürlich Cafes, und
der Wirt des einen sprach etwas Englisch; er wird es in der Jugend als Matrose
gelernt haben und derselbe sein, den Franz von Löser 1876 erwähnt.
Jmbros besteht wie Lemnos aus zwei ungleichen Hälften; die westliche ist so,
wie sie sich vom Meere darstellt: ein Durcheinander von Bergen, die bis 500 Meter
hoch sind, noch Wald tragen oder mit hohem Buschwerk bedeckt und nur als Weide
brauchbar sind. Besonders unzugänglich ist der äußerste Westen; „Geisterburg"
(Daimonokastro) wird er genannt. Bebaut ist nur jener weite Hang, der vom
Strand nach Osten und Nordosten aufsteigt zur alten Burg (Palaivkastro) auf
einem Bergkegel, der mir schon vom Meere aus gezeigt worden war, und zum
einzigen Dorfe im Westteil nördlich davon, Skiuudi. Dorthin führt vom Pyrgos
ein Pfad bergauf über die schmale flachere Küste, dann zwischen Bergen, die aus
jungvulkanischen Gesteinen aufgebaut sind und nach Lemnos zunächst gewaltig hoch
erscheinen. Paradiesisch schön erschien ebenso das Wasser, das hier und da in der
Tiefe rauschte, und das Grün der Dornen, des Oleanders und der Ölbciume.
Einzelne Gehöfte, Hütten und Kapellen, in deren Langwände Fenster gebrochen
sind, zeugten von Menschen, wenn wir auch keine sahen. Ich hatte reichlich Zeit
zu solchen Beobachtungen, denn die einzigen Reit- und Packtiere, die wir unten
gefunden hatten, waren ein paar Eselchen, die sich von zwei Kindern recht gemäch¬
lich in zwei Stunden hinaustreiben ließen.
Oben eine neue angenehme Enttäuschung. nette frische Menschen traten uns
in dem großen Dorfe — es wird auf 2500 Einwohner geschätzt — entgegen;
zum Teil lebten sie freilich nur wenige Sommermonate hier und hatten ihre Ge¬
schäfte in Alexandrien. Während man Kaffee und Limonade trank, wurde beim
ehemaligen Lehrer Georgios, einem wohlhabenden Manne, ein Zimmer gereinigt
und Essen bereitet. Fische und große Langusten hatten wir am Strande für billiges
Geld gekauft. Manches Hausfraueüherz mag bei uns heutzutage höher schlagen,
wenn es hört, daß zwei Pfund Hammelfleisch dort mit 24 Pfennigen, ein zwei-
pfündiger Fisch mit 40 Pfennigen bezahlt werden. Auch der Wem der Jusel
schmeckt sehr viel besser als der lemnische. Kurz der erste Eindruck war erfreulich,
und er hat Vorgehalte». Jmbros ist landschaftlich schön, und die Jmbrioten sind
wegen ihrer Gastlichkeit berühmt. Ich habe ans keiner Insel so viele liebenswürdige
Menschen kennen gelernt wie hier und gleich ideale Gastfreundschaft nur noch auf
Samothrake genossen. Es ist, als ob auf diesen beiden Inseln, die kein Dampfer,
kein Telegraph berührt, auch die Sitten unberührter geblieben seien. Wer weiß
aber, ob die Photographien von der Insel, mit denen ich meinen Dank bezeugen
wollte, je in die Hände der Freunde gekommen sind.
Skinudi ist der Gesamtname für drei Siedlungen (Chalakas, Wnnari, Hagia
Helene), von denen das erste jedenfalls das älteste und so geschickt hinter einen
Berg, auf den Nordhang des Madaras, gelegt ist, daß es vom Meere unsichtbar
bleibt. Die beiden andern Teile liegen tiefer jenseits eines tiefen Einschnitts und
siud voneinander selbst wieder getrennt. Sicherheit gegen Seeräuber war bei allen
Dorfanlageu auf den Inseln die Hauptsache, Bequemlichkeit im Verkehr durchaus
Nebensache; weit und steil sind die Wege zum Ackerland. Ein paar antike Grab¬
steine hatte einst ein Erzbischof in die Kirche S. Marina im Dorfe zusammen¬
bringen lassen. Sie gleichen den attischem, wie denn die beiden Juseln seit dem
sechsten Jahrhundert v. Chr. bis an das Ende des zweiten Jahrhunderts n. Chr.
fast ununterbrochen in athenischen Besitz gewesen sind. Aber einige Steine waren
doch an andrer Stelle geblieben; auf der Suche uach ihnen lernte ich in zwei starken
Tagesansflügen die weitere Umgebung kennen. Eine feste antike Ansiedlung hat es
auf dieser Seite der Jusel nie gegeben; vielleicht schon einen Turm am Lnndcplatz.
Sonst standen vereinzelt Gebäude und Gehöfte, von denen aus die Felder bestellt
wurden; im Winter und in Kriegsnot zog man in die ummauerte Stadt im Nordosten,
die mit der Insel eines Namens war. Deshalb werden im Westen mich nur Grab¬
steine, einfache Beigaben für die Toten, Münzen, Grenz- und Hypothekensteine ge¬
funden. Deu ärmlichen, durch Seeraub verängstigten Menschen des Mittelalters bot
aber auch hier eine Bergspitze völlige Sicherheit. Dreiviertel Stunden südwestlich von
Skinndi ragt jenes Palaivkcistro, von Süden und Osten fast unersteiglich, uach
Norden und Westen durch hohe Mauern geschützt. Aufrecht steht nur noch ein starker
Ruudturm mit geböschten Wänden in der Nordwestecke. Sonst ist die Höhe, aus
der mächtige Klippen und Felsblöcke aufragen, übersät mit mehr oder weniger be--
saueren Steinen; die Baulichkeiten, die ans dem Gestein des Ortes und schlechtem
Mörtel schlecht zusammengesetzt waren, haben sich wieder in ihre Bestandteile auf¬
gelöst. Sicher seit dem griechischen Freiheitskriege, wahrscheinlich wohl schon eher
zogen die Bewohner von der unzugänglichen Höhe hinter deu Madnras; die drei
Kapellen, in denen frühere Reisende Inschriften kopierten, sind jetzt ebenfalls
zusammengesunken. Von dem vergehenden Menschenwerke wird der Blick auf die
ewige Natur gelenkt.
Drüben im Südosten taucht Mytilene (Lesbos) auf, nördlich davon die Troas
bis zum Jda, vor ihr ein dünner Streifen mit einem spitzen Berg im Norden, das
ist Tenedos. Fast genau schließt die thrakische Chersonnes an, und von ihr aus schwingt
sich die höhere thrakische Küste um deu nördlichen Horizont bis zum ragenden
Abschluß, dem Kegel des Athos, und umspannt dieses „weiße Meer", wie die
Griechen es nennen, mit Smnothrake, Thasos, Lemnos und Jmbros. Auf die
Dardanellen, die heißbegehrte Pforte dieses Meeres, zieht manch langer Schweif
dunkeln Rauches, manch Helles Pünktchen eines Segels.
Vorsichtig geht es über das Geröll nach Norden und nach Osten herum zum
Ackerland hinab. Viele Kirchlein werden durchsucht — es sollen 350 auf Jmbros
stehn —; dieses hat sogar eine hölzerne Vorhalle auf alten Säulen, jenes steht
stattlich neben einem kleinern ältern Bau (ganz wie im Altertum mancher Tempel),
in vielen reden byzantinische Architekturteile von bessern Zeiten, aber nur eine
antike Inschrift findet sich auf der Treppe eines Gehöfts. Dort, wo das Land
am fruchtbarsten ist, fehlt nicht ein Besitztum des Athosklosters Lawra; das Metochi
ist dem heiligen Georg geweiht. In ihm fand ich freundliche Aufnahme vor der
Rückkehr in das Dorf.
Schön grün ist der Nordrand der Westhttlfte und reich an starken Quellen,
an denen auf dieser Insel auch sonst kein Mangel herrscht. Zwischen Fichten und
unter Felswänden zieht sich der Weg hin, oft dicht am Abgrund, nicht selten
wenige Zentimeter breit; Stämme sind über ihn gefallen, Zweige neigen sich tief
herab; aber man darf seinem Maultier viel Vertrauen schenken. Später eröffneten
sich Einblicke in die Bergwelt um den Hagios Elias, den höchsten Gipfel
(597 Meter). Hoch oben in einer tiefen grünen Schlucht fällt starkes Wasser
einige Meter hinab, trieb weiter unten einst jetzt verfallne Mühlen und braust
dann unter uns hin. Harzig ist die Luft; Blumen sprießen; Vögel singen. Hinauf
geht es zu einem kleinen Kloster Hagios Nikolaos und noch höher zu dem der
Panagia, die beide unter dem Erzbischof stehn und deshalb nur einen weltlichen
Verwalter haben. Dieses ist noch unbedeutender als jenes, aber die Kapelle der
Gottesmutter liegt prächtig hoch über dem glatten, glänzenden Meere auf einer
Quelle wie so viele; im Fußboden der Kirche kann man schöpfen; ältere Gebälkteile
und Weihegaben von Händen, Füßen und Augen, die aus Blech geschnitten sind,
lassen auf alte und moderne Verehrung an dieser Stätte schließen. Mich lockte
el» antiker Grabstein, der die Altarplatte bildet. Nichts dergleichen gab es bei
dem vorher nicht beachteten Nikolaos; bei ihm lagerten wir uns unter mächtigen
zahmen Kastanien am rauschenden Bach zu einem fröhlichen Mahl, zu dem auch
Freunde aus dem Dorfe gekommen waren. Auf dem weitern Rückweg wurde es
drückend heiß, als der Seewind uns nicht mehr traf, und die Freunde verloren
sich allmählich, um lange nach uns im Dorf einzutreffen. Am Morgen war ein
Kalk von den Dardanellen gekommen, und ein Reisender hatte auch mir Briefe
mitgebracht. Es war eine Ironie des Zufalls, daß ich später auf der deutschen
Post in Konstantinopel ebensoviele oder ich darf sagen so wenige Postsachen ver¬
mißte wie vorher während dieser Odyssee, als das meiste mir durch Gelegenheit
zukam.
Ein zehnstündiger Ritt führte mich am folgenden Tage in die östliche Hälfte
der Insel. Eine große, ziemlich flache, von Bergen umkränzte Ebene bildet ihr
Hauptstück, und der einzige dauernd Wasser führende Fluß dieser Inseln ist das
Belebende. Er hat die Ebene zum Teil aufgeschüttet und seinen Lauf in ihr öfter
geändert. Dieser „Große Fluß" i^e/ni/os ?ro-5et^os), von den attischen Ansiedlern
Ilissos geheißen, entspringt nahe der Paßhöhe westlich von Skinudi und empfängt
starke Zuflüsse von Norden her vom Hagios Elias. Ein breiter Fahrweg soll von
Skinudi zu dem etwa ebenso volkreichen Hauptort im Osten Panagia, dem Sitz
des Kaimakam, führen. Jnschallah! Die Gemeinde baut ihn nämlich; im April
oder Mai sechs Tage und sechs im August muß jeder daran arbeiten oder ent-
sprechende Arbeit bezahlen, aber was verfällt inzwischen nicht wieder dem Winter¬
regen! Und wer wird die Brücken bauen, die auch auf dem kurzen fertigen Stück
natürlich fehlen.
Eine Stunde weit folgen wir dem direkten Pfade nach Panagia, dann geht
das Gepäck weiter in dem gutangebauten Tale, das im Osten durch zwei höhere
Berge, den von Hagios Theodoros (im Norden) und die zweigipflige Arassia (im
Süden) abgeschlossen erscheint; zwischen ihnen bricht der Große Fluß hindurch in
die Ebene. Ich ziehe nordöstlich durch dichtes Gebüsch, in dem die Dornen über¬
wiegen, bergan. Der Hagios Elias bleibt links; zuerst zeigt er sich als Spitze,
dann als breiter Rücken, dessen Seiten tief eingefurcht sind, ganz kahl, prächtig
gefärbt. Mein Ziel ist das Dorf Agridia, das sich hoch unter der starrenden
zerrissenen Kuppe des Hagios Demetrios (572 Meter) ausbreitet, der dem Hagios
Elias östlich benachbart ist. In das Cafe" bringen die Leute wie gewöhnlich alles,
was sie an wirklichen oder angeblichen Antiken und Merkwürdigkeiten besitzen:
Münzen, Schwefelkies von der Nordwestseite des Berges, einige Seiten eines Heftes
„Geschichte von Jmbros" von einem Einheimischen aus den vierziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts; A. Conze sah es 1857 flüchtig auf Samothrake, dann
nicht wieder; mir gelang es später, noch ein vollständiges Exemplar in meinen
Besitz zu bringen. Neben unkritischen Notizen über Geographie und Geschichte
birgt es ganz wertvolle Angaben über die Insel, wie sie nur ein Einheimischer
sammeln kann.
Der Hagios Demetrios fällt gen Norden zuerst steil, dann allmählich in das
Meer. Auf der Senkung steht wieder ein Kloster gleichen Namens mit dem Berge;
es ist abgabefrei, da seine Einkünfte dem Kloster auf dem Sinai zufließen. Sie
werden nicht ganz unbedeutend sein; zwischen Felsblöcken und Gestrüpp findet man
sich dorthin, aber dann blickt man erstaunt auf eine üppig grüne Oase mit Wein-
und Kornfeldern und Gärten; unter hohen Bäumen birgt sich das Kirchlein. Neben
ihm wurden die Fundamente eines viel ältern freigelegt, und vielleicht verdrängte
der Heilige hier einst den ältesten Hauptgott der Insel, den Dämon der Fruchtbar¬
keit der Weiden und Herden, den die Griechen später Hermes nannten. Sein
alter Name steckt noch heute im Namen der Insel, sein Bild mit dem Phallos
setzten die Jmbrier dauernd auf ihre Münzen. Drüben hebt sich scheinbar ganz
nahe, einer Insel der Toten gleich, Samothrake.
In heißer Glut, die nicht wie sonst gewöhnlich durch Seewind gemildert ist,
wenden wir uns südöstlich der Durchbruchstelle des Großen Flusses zu. Auf einem
der schmalen gelben Streifen, den Wegen, die um den Berg gelegt sind, geht es
hoch am Hagios Theodoros hin. dann um seine schmale Südseite nach Osten
herum. Ein weites Panorama öffnet sich: eine große wohlangebaute, von vier
Dörfern umlagerte Ebene tut sich auf. Die Dörfer sind Hagios Theodoros am
Westrand, in dem „zufällig" einmal wieder ein Kirchenfest gefeiert wird, gegenüber
im Osten Panagia, das aus drei gesonderten Teilen (Panagia, Ewlambiu, Phranki)
besteht, nördlich davon oben am Hagios Athanasios, der die Nordostecke der Insel
einnimmt, Glyky, weiterhin ein kleines Kloster des Hagios Taxiarchis, das zu
Kutlumusi auf dem Athos gehört, und am Meere nahe bei der Mündung des
Flusses Kastro an der Stätte der antiken einzigen Stadt. In unserm Gesichts¬
kreis leben die meisten der Bewohner der Insel, deren Zahl in einem neuern
statistischen Werk mit 13000 zu hoch angegeben sein wird; aus der Insel schätzte
man 8000. Aber auf jeden Fall sind darunter nur etwa 140 Türken; anders
als auf Lemnos findet man hier, auf Samothrake und Thnsos nur türkische Be¬
amte. Wegen der Altertümer hätte ich Hagios Theodoros kaum zu besuchen
brauchen, aber ich traf dort einen Matrosen, der bis in die Ostsee gekommen war,
meine Vaterstadt gesehen hatte und Bilder und Andenken aus aller Herren Ländern
mit Stolz vorwies. Er hatte eben geheiratet und wollte bald wieder hinaus; auf
Jmbros werden am thrcikischen Meere die besten Seeleute geboren, und wer etwas
besitzt, hat es in der Fremde erworben.
(Schluß folgt)
E?sMUath abwesend saß er da und betrachtete sich im Spiegel. Mein
Gottl Fein genug in Kleidern, das war er, daran mangelte es
nicht. Ein häßlicher Mensch war er auch nicht, das konnte er ruhig
selbst sagen.
Aber was half das alles!
Fräulein Madel hatte damit angefangen, daß sie ihn nicht „Herr
Opseth" nennen wollte. Die Schwester folgte sofort ihrem Beispiel. Und nun hieß er
nur „Herr Haut", im Hause wie auch außerhalb. Wohin er kam, wurde er als
Herr Kandidat Haut vorgestellt. Alle Einladungen waren an Herrn Haut ge¬
richtet, und wenn er antwortete, so mußte er doch ebenso unterschreiben. Um so
mehr als ihm der Professor geradezu geraten hatte, das ein wenig ländliche
„Opseth" fallen zu lassen.
Aber was half das alles!
Er war und blieb der Bauernjunge, der er von Geburt an gewesen war. Und je
mehr er sich aufputzen ließ, je feiner er wurde, um so tiefer fühlte er es nur.
Er klagte natürlich nicht darüber, daß er nicht fein genug war. Ach «ein,
zum Streber war er nicht geschaffen. Aber es war trotzdem hart. . . .
Man wurde doch niemals klug ans dieser Welt!
Hier hatte er, so alt er war, sich selbst schmählich betrogen!
Er hatte ganz einfach ihre Freundlichkeit nicht vertragen können. Er hatte sich
selbst mehr und mehr aus den Augen verloren, so allmählich und unmerklich war
es zugegangen, wie von einer tückischen Macht war er tiefer und tiefer in seine
Liebe zu ihr hiueingelockt worden, hatte so sicher in seinen eignen innern Gedanken
und all der Wärme des Herzens gelebt. Und weil ihn dies selber ausfüllte, ja
eiuen überwältigenden Reichtum über seinen ganzen Sinn ausgegossen hatte, so
kannte er keinen andern Gedanken, als daß dieses auch für sie Lebenswert haben
müsse. So weit war er gekommen, daß er sich in Hoffnung und Träumen als der
gesehn hatte, der sich ihr einmal anbieten durfte.
Ein Glück, daß er erwacht war, ehe es zu spät geworden war!
Wie er heute abend den französischen Gelehrten von ihr als „1a Zrancls clarns"
in den vornehmen Sälen hatte reden hören, war es auf einmal still abgetan ge¬
wesen. Sie war dort — und er saß hier.
Und es war gut, daß es endlich geschah.
Er hatte es solange gefühlt. Die Wahrheit hatte an seine Tür gepocht, aber
er hatte nicht hören wollen, hatte nicht den Mut gehabt zu öffnen.
Dieser Franzose war schuld daran.
Ach ja, er war schuld daran!
—--Ach, wenn es doch nicht so weh täte! Wenn es doch nicht so bitter,
bitter weh telle! sodaß er im Elend zusammenbrach und meinte, es gäbe für ihn
keinen andern Weg im Leben als in die Heimat zurück, zur Mutter in das Stübchen
im Fischerdorf.
Denn das war ja so einfach, so selbstverständlich natürlich.
Monsieur Benjamin Courtes-Frankreichs ganzer Glanz schillerte und strahlte
aus seinem Wesen! Und vom ersten Augenblick an hatten sich ihre Wangen gerötet.
Es war so natürlich — so ganz selbstverständlich.
Er kämpfte dagegen an — es war so feige — er wollte nicht! Aber die
Tränen perlten ihm aus den Augen, tropften auf die weiße Weste Ach mein Gott!
Ach mein Gott ja! Weinen durfte er doch wohl hier in der Einsamkeit! Und er
faltete die Hände über dem Kopf und murmelte den Psalm Davids vor sich hin,
den die Mutter daheim in der alten Bibel las:
Nach dir, Herr, verlanget mich. Mein Gott, ich hoffe auf dich. Laß mich nicht
zuschanden werden, daß sich meine Feinde nicht freuen über mich____ Der Herr
ist gut und fromm, darum unterweiset er die Sünder auf dem Wege. Er leitet
die Elenden recht und lehret die Elenden seinen Weg. Wende dich zu mir und
sei mir gnädig, denn ich bin einsam und elend____
Er hatte lange da gesessen. Die Lampe wollte verlöschen; es war kein Petroleum
mehr darin, und er blies sie aus. Durch das Fenster dämmerte der Tag. Er
öffnete und trat auf das flache Dach hinaus.
Der Regen hatte aufgehört. Unten von der Straße herauf tönte das Plätschern
einer einsamen Fontäne. Dem grauenden Tageslicht entgegen stiegen Türme und
Zinnen, krümmte sich das Kuppeldach des Pantheon. Die Httuserdächer lagen aber
noch in dunkelm Chaos. Rom schlief noch.
In der Ferne fielen einige dumpfe Glockenschläge.
An dem eisernen Geländer blieb er stehn.
— Die „Elenden" stand da. „Lehre die Elenden deinen Weg!"
Wunderbar, wunderbar! Als sei er so still an die Hand genommen und auf
„seinen Weg" zurückgeführt worden — von dem er abgewichen war!
Er war auf Abwegen gewesen von dem Tage an, wo er hierher gekommen
war. Sein ganzes Sinnen war mit Gedanken und Bestrebungen beschäftigt gewesen,
die nichts gemein hatten mit dem, was rechtmäßig und einzig und allein das seine
war. Er hatte nach gaukelndem Blendwerk gestrebt, und seine Seele war erfüllt
gewesen von falschem Sehnen und Hoffen. Und wie er nun auf das elendeste zu¬
sammengesunken war unter seiner Schande und gerechten Enttäuschung —- gerade jetzt
lag seine Arbeit vor ihm, ernsterfüllt wie die ewige Stadt selber in dieser Morgen¬
stunde; das Glockengeläute da draußen klang wie ein mahnendes Rufen: er hatte
ja seinen Weg zu wandern, den schweren Weg der Wissenschaft, aus dem lag das
Ziel seines Lebens, dort lag der heilige Beruf, der, für den er dem Schöpfer in
der Tiefe seiner Seele dankbar war.
Er wollte nicht fernerhin treulos und unzuverlässig sein!
Die Stadt Rom hatte das große archäologische Ereignis auf dem Forum mit
einem festlichen Vormittag auf dem Kapitol gefeiert. Rang und Gelehrsamkeit strömten
in der strahlenden Aprilsonne auf die breite Freitreppe Michelangelos heraus.
Das Fest war beendet, und Rang und Weisheit wollten jetzt nach Hause, um zu
frühstücken und zu ruhen nach dreistündiger offizieller römischer Suada.
Über den Platz hinweg wurden klingende Namen gerufen, und die Equipagen
rollten herbei.
Professor Hage trat auf die Treppe heraus, in einem Kreise lachender Herren.
Mit nordischer Unverfrorenheit und der ihm eignen Offenheit hatte er seinem
nächsten Kollegen ein Zitat von Horaz zugeflüstert, das gerade nicht übertrieben
höflich gegen den süßlich modernen römischen Senat war. Sein gemieteter Zwei¬
spänner fuhr vor, und er verabschiedete sich in einer muntern kleinen Ovation.
Aber Professor Hage war den Hügel noch nicht weit hinuntergekommen, als
sich sein schönes, lächelndes Gesicht in ernste Falten legte. Er gab dem Kutscher
deu Befehl, abzubiegen und nach der Porta San Giovanni zu fahren, knöpfte den
Rock fest über seinen Orden und Bändern zu und lehnte sich in den Wagen zurück.
Am Kolosseum vorbei und über den langen Hügel bei San Elemente rollte
die schwere Karosse und endlich hinaus auf den königlichen Platz vor dem Lateran
und San Giovanni, wo die breite Landschaft der Campagna außerhalb der alten
Stadtmauern dalag wie ein wogendes Meer.
Mitten vor dem Tor blieben die Pferde stehn.
Der Professor hatte in seiner tiefen Versonnenheit nichts gesehn oder wahr¬
genommen. Jetzt fuhr er auf, sah sich um und rief: ^.parti, g,og,uti!
Und der Wagen rasselte durch das Torgewölbe.
Professor Hage sah nach der Uhr. Vor einer kleinen Osteria ließ er den
Kutscher halten, winkte dem Wirt und verlangte einen halben Liter Wein und ein
Stück Brot. Der Kutscher bekam auch sein Glas, und im Wagen sitzend verzehrte
der Professor sein Brot, während er am Wein nippte.
Der Kutscher murmelte einen Fluch, als er den Befehl erhielt, den langen
und schlechten Weg um die Mauer herum — und nach Hause zu fahren. Aber
der Professor gab dem entzückten Wirt eine Lira, zündete sich eine Zigarre an und
lehnte sich gemächlich in den Wagen zurück.
Und der Wagen humpelte dahin unter den alten Mauern.
... Es war dem Professor Hage etwas zugestoßen. Er war in eine sonderbare
Unruhe geraten. Und er empfand das Bedürfnis, sich Zeit zu lassen, ehe er nach
Hause kam, die Sache für sich ins klare zu bringen und sich zu beruhigen. Es
war dies eine Unruhe, wie er sie seit vielen Jahren nicht gespürt hatte, die er
aber doch sehr wohl kannte aus jenen Zeiten in seinem Leben, wo er sich nicht
so sicher und obenauf gefühlt hatte wie jetzt, wo er uoch kämpfte und stritt. Und
er haßte diese Erinnerung, er haßte diese Unruhe! Seine Kiefer schmerzten ihn,
so hatte er die Zähne zusammengebissen.
Der alte deutsche Professor, der Nestor unter den römischen Historikern, war
heute während des „Festes" auf ihn zu gekommen und hatte mit ihm über ihre
viele Jahre zurückliegende Streitfrage — die Etrusker in Rom — geredet:
Und nun nehmen Sie den Kampf wieder auf?
New, daran hatte Professor Hage niemals gedacht. Er seinerseits hatte das
letzte Wort in dem Streit gesprochen, und er stand fest auf seinem Standpunkt.
So? und ich hatte den bestimmten Eindruck, daß Sie dahinter stünden.
Dahinter . . .?
Hinter Ihrem jungen, talentvollen Sekretär!
Hinter meinem Sekretär?
Ja, es taucht eine neue Kraft in der Wissenschaft auf. Es ist so erfreulich
zu sehen, daß jemand nach uns kommt.
Ja, es ist erfreulich, außerordentlich erfreulich. Aber daß Sie meinen lieben
jungen Freund und Schüler in Verbindung mit unserm alten Streit nennen . . .?
Wissen Sie denn nicht, daß der junge Haut die Frage aufgenommen hat —?
Nein — ja — ja, natürlich gewissermaßen . . .
Geben Sie acht, mein lieber Hage, geben Sie acht! Der junge Mann macht
uns den Garaus mit den Etruskern!
Nun, so schlimm . . .
Sie werden zweifelsohne viel Ehre von diesem Schüler haben. Der kleine
Einblick, den er mir in seine Behandlung und Auffassung dieser Frage gegeben
hat, deutet auf Talent und Originalität. Ich fürchte, wir werden uns einigen
müssen in unserm Streit, das heißt, der junge Mann wird uns beide besiegen!
Nun, so schlimm wird es Wohl nicht werden . . .
Also Sie hegen keine Furcht in bezug auf sich selbst! Nein nein! Mir will
es scheinen, als habe er Wege gefunden, die uns beiden Alten umgehn.
Er hat sich Ihnen gegenüber also ausgesprochen . . .?
Ja, es kam ganz zufällig. Da ist ja allerlei, wonach er einen so alten
Gräber wie mich fragen kann . . .! Seine beste Hilfe hat er ja näher bei der
Hand, lieber Professor.
Nun ja — man — hin — man stellt sich ja natürlich einem Schüler zur
Disposition.
Selbstverständlich, und ich denke, Sie werden Freude an ihm erleben. Wenn
er seine Arbeit nur fertig bringt! — — -—
Professor Hage blies den Rauch in die Lust. Es beruhigte ihn, ein wenig
zu haben, worauf er beißen konnte, und wenn es auch nur eine Zigarre war.
Ob der alte Fuchs ihm seine Bestürzung und Überraschung bei der Mit¬
teilung angemerkt und mit Schadenfreude seinem Entzücken über „die neue Kraft
in der Wissenschaft" Ausdruck verliehen hatte, ob ein feindlicher Triumph durch
die lächelnde Gemütlichkeit hindurchdrang, das war ja in Wirklichkeit eine unter¬
geordnete Frage. Ihre Bedeutung konnte sie ja freilich haben. So weit es
anging, mußte ja der Schein eines freundschaftlichen Zusammenarbeitens zwischen
Lehrer und Schüler gewahrt werden. Wenn er nur ein klein wenig vorbereitet
gewesen wäre! Aber das half nun nichts. Das war ja das Nebensächliche.
Aber dieser Haut Opseth!
Professor Hage kam spät zum Frühstück nach Hause.
Madel und Karo hatten gegessen und waren schon auf und davon. Sie wollten
mit einer Schar Skandinavier einen Ausflug nach Albano und Neue machen. Aber
Fräulein Juliane und Haut Opseth warteten.
Der Professor war strahlender Laune und erzählte von dem Fest auf dem
Kapital. Er aß mit gewaltigem Appetit und stieß mit den beiden an:
Euer Wohl, meine Getreuen! Ich habe es heute wirklich verdient, allein bei
Tische zu sitzen!
Beim Obst sah er plötzlich nach der Uhr, und aus dem Nebenzimmer holte
er einen Eisenbahnfahrplan.
Ich habe einen Gedanken! Einen brillanten Gedanken, meine Freunde. Ganz
recht, der Zug nach Frciscati geht nicht vor vier Uhr. Dann seid ihr um fünf
da. Heute wird nicht gearbeitet. Ihr beide fahrt nach Frciscati und nehmt dann
einen Wagen nach Rocca ti Papa. Von dort geht ihr den schönen Weg durch
den Wald nach Nemi, wo ihr die andern Galgenstricke überrascht. Ihr über¬
nachtet da mit ihnen und kehrt morgen früh entweder mit ihnen nach Frascati
zurück oder geht um den See nach Genzano und Albano. Dann seid ihr morgen
mit dem Nachmittagszuge wieder zu Hause.
Fräulein Juliane protestierte. Vater könne nicht allein sein. Auch Haut war
der Ansicht, daß es zu viel sei, aber der Professor blieb dabei. Es würde ihm
gerade ein Genuß sein, einmal allein zu sein. Er wollte heute abend außer Hause
essen, und er habe ja Mädchen und Diener zur Verfügung.
Und ich will euch etwas sagen, meine treuen Freunde! Ich schulde euch
einen freien Tag, ein Vergnügen. Ich bin nicht umsichtig genug, ich nutze euch
zu sehr aus, jeden auf seine Weise. Ach nein, kein Widerspruch! Es ist so, wie
ich sage. Wenn ich selbst mitten in der Arbeit stecke, vergesse ich so leicht die,
die ich gebrauche. Ach ja, ach ja, deine selige Mutter, Juliane, die hätte ein
Liedchen davon singen können. Aber so bin ich nun einmal. Meine beste Zer¬
streuung, mein größtes Vergnügen ist stets meine Arbeit gewesen. Und dann ist
man Egoist und blind, und ehe man sichs versieht, ist man hart und unfreundlich,
ohne es zu wollen.
Fräulein Juliane trocknete ihre Augen.
Und was Sie betrifft, mein lieber Haut, so glaube ich, in den letzten Monaten
bemerkt zu haben, daß Sie gar nicht gut aussehen, so gesund und stark und jung,
wie Sie sind. Sie gehen zu arg ius Geschirr. Sie arbeiten zu viel, haben zu
wenig Zerstreuung. Wir sind doch in Rom, und jung ist man nur einmal im
Leben! Italiens Sonne bescheint uns, damit wir uns daran erwärmen. Sie
dürfen nicht ins Winterland heimkehren und Reue empfinden, daß Sie die Sonnen¬
tage nicht ausgenutzt haben. Sie müssen zugreifen, junger Freund! Ja, ja, das
ist natürlich meine Schuld; aber von nun und für die Zeit, die wir noch zusammen
sind, wollen wir uns anders einrichten. Sie sollen Ihre Stunden frei haben für
die Freude und die Jngend!
Eine halbe Stunde später stand Professor Hage am Fenster und sah die
beiden über den Platz gehn. Die Aprilsonne glühte, und er ließ die Jalousie
wieder herab. Er versuchte, seinen gewohnten Mittagschlummer zu halten. Aber
ob es nun zu spät geworden war, oder ob ihn die Wärme trotz aller herab¬
gelassenen Jalousien und aller geöffneten Türen plagte, es wollte ihm nicht ge¬
lingen. Und der Professor schlenderte in Hemdsärmeln durch die leeren Zimmer.
Sehr lange.
Dann kleidete er sich an, nahm seinen Hut und seinen großen, hellgrauen
Sonnenschirm, ging hinaus und weckte einen der schlafenden Droschkenkutscher auf
dem Platz.
Via della Stelletta!
Und fort ging es, der Stadt zu.
Bei Ur. 16 in der Via Stelletta stieg er aus. Der Kutscher brauchte nicht zu
warten. Und er kletterte die unendlichen Treppen hinauf, blieb stehn und schöpfte
Atem auf den Absätzen und stand endlich ganz oben vor Carnevallinis ver¬
schlossener Tür.
Der alte Carnevallini erging sich in einem Schwall von Entzücken und ver¬
neigte sich zur Erde, als er it xrotsssors sah; verzweifelt jammerte er darüber,
daß it MArstario leider nicht zu Hause sei. Der Professor beruhigte ihn; der
Sekretär habe heute einen freien Tag und sei in die Albaner Berge hinausgefahren.
Er wolle nur einen Bescheid auf den Tisch des jungen Mannes legen, für morgen,
wenn er wieder käme.
Unter Dienern und Kratzfüßen führte ihn Carnevallini in Hauks Zimmer.
Der Professor bat, ihn allein zu lassen — er würde die Schreibutensilien schon finden
und würde die Tür sicher wieder hinter sich abschließen.
Auf Haut Opseths Tisch lag seine Mappe, sorgfältig mit schwarzen wollenen
Bändern verschlossen. Rings umher in Haufen lagen Bücher und lose Papiere.
Professor Hage öffnete die Mappe, und vor ihm lag der in Reinschrift geschriebne
Anfang einer Abhandlung. Er durchblätterte die Papiere schnell. Es waren viele
enggeschriebne Bogen. Und er band die Mappe wieder zusammen, nahm sie unter
den Arm und ging.
Der alte Carnevallini machte seine Diener und Kratzfüße und schloß dann alle
seine Riegel und Schlösser hinter ihm zu.
Professor Hage ging über den Campo Marzio, durch die enge Winkelgasse
und in die Trattoria Bucci, wo der alte Benedetto ihm mit ungeheurer Über¬
raschung und überströmender Ehrerbietung und Freude entgegenkam.
Der Professor bat, man möge ihm eine Flasche von dem alten Monte
Mario nach oben hinauf in das letzte Zimmer bringen, und der Wirt flog von
bannen.
Oben in dem hintersten Kabinett, am Ende verschiedner sich kreuzender
Gänge und Korridore mit Oberlicht und einer schmalen Balkontür, die nach einem
Hofraum hin offen stand, in der tiefen Stille des Nachmittags, die über dem
ganzen Hanse lag, öffnete der Professor Haut Opseths Mappe und las seine Ab¬
handlung.
Seite für Seite. Immer mehr wurde er gefesselt. Zuweilen schüttelte er den
Kopf und las noch einmal, murmelte einen Widerspruch oder nickte Beifall.
Als das Manuskript zu Ende war, sah er sich unwillkürlich in der Mappe
nach einer Fortsetzung um. Er versank in Betrachtungen . . .
Ja, hier sind Wege gefunden — die uns beide umgehn!
Plötzlich fuhr er auf, schenkte sich ein Glas aus der Flasche ein und leerte
es in einem Zuge. Er fühlte, daß ihm der Kopf heiß wurde. Und in aufrechter
Haltung blieb er auf dem Stuhl sitzen, während er mit den Fingern hart auf den
Tisch und das Manuskript trommelte.
Endlich knotete er die Bänder der Mappe sorgfältig zusammen, erhob sich
und ging. Unten in dem Gang fand er Benedetto, bezahlte und ging zu der
Via Stelletta zurück, lief die Treppen hinauf, ohne auch mir einmal anzuhalten,
und klingelte Carnevallini heraus.
Er habe einen falschen Bescheid hinterlassen.
Er wurde wieder in Haut Opseths Zimmer hineingelassen. Hier legte er die
Mappe genau auf denselben Platz, hinterließ seine Visitenkarte und ging.
Professor Hage wanderte zu Fuß den langen Weg um die Piazza del Popolo,
den Monte Pincio und nach Hause.
Endlich saß er an seinem Arbeitstisch und schrieb:
Ich glaube, daß ich mit Ablauf dieses Semesters auf das Stipendium zur
Bestreitung meiner Ausgaben für einen Sekretär verzichten muß. Es wird dies
freilich ein nicht geringes Opfer für mich sein. Aber namentlich mit Rücksicht
auf den im vergangnen Jahre von dir geäußerten Wunsch, ein junger Student
deines Faches möchte das Stipendium erhalten, bin ich mir klar darüber geworden,
daß ich mich mit diesen zwei Semestern begnügen muß. Du wirst mir vielleicht
die Rechtfertigung widerfahren lassen, einzuräumen, daß ich mich in der Ent¬
scheidung dieser Sache seinerzeit nicht von persönlichem Interesse leiten ließ. Der
junge Mann, dem das Stipendium bisher zugute gekommen ist, hat sich durch
Ernst und Fleiß der ihm erwiesnen Auszeichnung verdient gemacht. Es ist darum
auch meine Absicht, wenn ich es irgendwie ermöglichen kann, ihn noch den nächsten
Winter hier zu behalten.
Ich bitte, von der umstehenden Mitteilung mit Diskretion Gebrauch zu
(Fortsetzung folgt)
Alljährlich um diese Jahreszeit finden zwei politische Veranstaltungen statt,
die mehr als alle andern die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen pflegen.
Es handelt sich dabei um die beiden Bewegungen, die der stetigen Entwicklung
unsrer Staats- und Gesellschaftsordnung in nationalem Sinne meist als hemmende
und ablenkende Kräfte entgegentreten, und die darum ihrem innersten Wesen nach
als Widersacher unsrer nationalen Politik von uns erkannt werden. Sozial¬
demokratie und Ultrcimontanismus sind die beiden entschiedensten und gefährlichsten
Verneinungen jeder positiven Betätigung des deutschen Volksgeistes. Als organisierte
Parteien stehn sie eben jetzt in schroffer Feindschaft dem gegenwärtigen Kurs der
Reichspolitik gegenüber, die sich bemüht, alle übrigen Parteiunterschiede möglichst
zurücktreten zu lassen, wo es gilt, sozialdemokrntische und ultramontane Einflüsse
fernzuhalten. Deshalb sind die Veranstaltungen dieser beiden Gegner unsrer
nationalen Politik als Grundlage für die Beurteilung der Parteiverhältnisse von
besondrer Wichtigkeit.
Während der sozialdemokrntische Parteitag in Nürnberg noch bevorsteht, liegt
die Hauptveranstaltung des Mtramontcmismus schon hinter uns. Kann man aber
die Generalversammlung der deutschen Katholiken in Düsseldorf mit Recht so kenn¬
zeichnen? Es wird von vielen Seiten eifrig, ja leidenschaftlich bestritten werden,
daß der Katholikentag eine ultramontane Veranstaltung ist, und wenn man ganz
gerecht sein will, so wird man hervorheben müssen, daß allerdings vieles, was ans
den deutschen Katholikentagen nach Betätigung drängt, nur zu Unrecht mit der
Erkennungsmarke „ultramontan" versehen werden kann. Als Ultramontanismus
bezeichnen wir kurz den Inbegriff aller der Bestrebungen, die den universalen
Charakter der katholischen Kirche und ihre Macht über die Geister und Gewissen
zu weltlichen, politischen Machtzwecken mißbrauchen »vollen. Keineswegs aber ent¬
springt alles, was auf den Katholikentagen Geist und Phantasie der Teilnehmer
beschäftigt, diesem Bestreben. Unverkennbar tritt bei der Mehrzahl der Teilnehmer
das aufrichtige Bedürfnis hervor, ein Bekenntnis abzulegen, Zeugnis zu gebe» von
einer Weltanschauung, in der ihnen das Heil und die Wahrheit liegt, und die sie
zu Verteidigen und durchzusetzen haben gegen gefährliche Irrtümer und feindliche
Gewalten. Das Bedürfnis, in einer Zeit der Kämpfe und Zweifel die Einheit
und Festigkeit des Bekenntnisses zu bekunden, in dem Festhalten der vielan-
gefochtuen religiösen Ideale immer neue Begeisterung aus der Gemeinschaft mit
Gleichgesinnten zu schupfen, darf auch von Andersgläubigen niemals gering ge¬
schätzt werden. Als großartige Kundgebung einheitlichen Geistes innerhalb der
deutschen katholischen Welt werden die Katholikentage immer anerkannt werden
müssen.
Aber das ist freilich nur die eine Seite der Sache. Die demonstrative Be¬
tonung der kirchlichen Wahrheit aus Laienmund entspricht eigentlich gar nicht dem
katholischen Bedürfnis. Wir haben bei andrer Gelegenheit erlebt, daß dergleichen
recht unbequem empfunden wurde. Man kann sich nicht vorstellen, daß etwa in
Frankreich ein Katholikentag abgehalten werden konnte, obwohl es doch in Frank¬
reich genug treue Bekenner und Anhänger des katholischen Glaubens gibt, die der
Kirchengemeinschaft nicht nur äußerlich augehören und gewiß nicht weniger als ihre
deutschen Glaubensgenossen das Bedürfnis haben, ihren Glauben und ihre Welt¬
anschauung gegen Modernisten, Freimaurer und sonstige Kirchenfeinde zu verteidigen.
Man braucht sich das nur zu vergegenwärtigen, um zu versteh», daß bei aller
Ehrlichkeit und Wärme der Überzeugung, die wir bei der Mehrheit der Teilnehmer
an den deutschen Katholikentagen gern voraussetzen, der eigentliche Zweck dieser
Veranstaltungen ein andrer ist als die bloße Sammlung der Gläubigen unter der
Fahne des Bekenntnisses zur Stärkung des religiösen Lebens und zur Befestigung der
Glaubenstreue. Nicht der innere Gewinn, den die kirchliche Gemeinschaft daraus
ziehen könnte, sondern die äußere Bekundung der Einheit und Geschlossenheit der
katholischen Interessen ist die Hauptsache. Die Katholikentage sind Koutroll-
versammlnngen einer äußern Gemeinschaft, die allerdings ans einer innern Einheit
der Weltanschauung und der religiösen Überzeugungen beruht, die sich aber bei
dieser Gelegenheit vor allem als eine Macht im öffentlichen Leben darstellen und den
außerhalb stehenden zum Bewußtsein bringen soll. Der katholische Deutsche soll
dadurch daran erinnert werden, daß er an jede Frage von öffentlicher Bedeutung,
die ihm mir begegnen mag, von einem andern Standpunkt aus herantritt als sein
nichtkatholischer Landsmann. Diese Tendenz wird nicht immer bestimmt aus¬
gesprochen, oft nicht einmal bewußt empfunden; einsichtige, tiefer religiös empfindende
Naturen warnen sogar davor und sprechen Mahnworte eines duldsamer, echt christ¬
lichen Geistes. Aber der natürliche Zug der versammelten Massen ist stärker als
das duldsame und friedfertige Bestreben dieser einzelnen. Die letzte, entscheidende
Wirkung ist doch innere Absonderung, die Unterordnung aller weltlichen Interessen,
alles dessen, was sonst die Nation vereinigen müßte, unter das konfessionelle Be¬
wußtsein. Und in den so vorbereiteten Boden säen nun jedesmal die Zentrums¬
führer, die Vorkämpfer des politischen Katholizismus, den Samen ihrer Partei¬
anschauungen; denn sie wissen immer eine Form zu finden, in der sie diesen Zweck
erreichen, auch wenn keine der brennenden politischen Tagesfragen, keine der An¬
gelegenheiten, die das Zentrum in den politischen Körperschaften in Angriff genommen
hat, auf den Katholikentagen direkt erörtert wird. Hier ist die rechte Stimmung
dafür, um den gläubig begeisterten Vertretern des katholischen Deutschlands die
Überzeugung einzuprägen, daß jeder rechte Katholik politisch ein Zentrumsmann
sein müsse. So werden die deutschen Katholikentage in der Tat regelmäßig zu
Zentrumsparaden und politischen Kundgebungen, so wenig es mich im Sinne vieler
Teilnehmer liegen mag. und so sehr diese auch bemüht sein mögen, diesen Charakter
der Veranstaltungen zu verwischen.
Auch in Düsseldorf ist keine Ausnahme gemacht worden. Die Kampfstellung,
in die das Zentrum seit der Reichstagsauflösung vom 13. Dezember 1906 gedrängt
worden ist, ließ sich trotz aller Vorsicht nicht verleugnen, und die herkömmliche Be¬
handlung der heikeln Fragen, in denen zwischen der Auffassung des Ultramontanis-
mus und der des modernen Staates ein unlösbarer Widerspruch besteht, zeigte
auch diesmal wie immer, daß hier nicht einmal das Bedürfnis eines Ausgleichs
empfunden wird. Solange das so ist, und solange ans dieser Seite das Dogma
einer kirchlichen Gemeinschaft als weltliches Gesetz von universaler Geltung über
die nationalen und staatlichen Interessen gestellt wird, so lange wird man die
Katholikentage in ihren wesentlichen Wirkungen als ultramontane Kundgebungen
hinstellen dürfen. Imi übrigen hatte man es leicht, diesmal die eigentlichen Tages¬
fragen politischer Natur zurücktreten zu lassen. Denn die Frage des Modernismus
und die Stellungnahme zur Lno^olioa, ?aoisosnÄi stand beherrschend im Vorder¬
grunde. Diesen Fragen gegenüber konnte man die Einmütigkeit des Katholiken¬
tages, ohne viel Aufsehen zu erregen, so stark betonen, daß die sogenannte „national¬
katholische" Bewegung, d. h. der seit anderthalb Jahren mit größerm Ernst und
Nachdruck unternommne Versuch, den deutschen Katholizismus von dem politischen
Parteijoch des Zentrunis zu befreien, darüber ganz in der Versenkung verschwand.
Die Zentrumspresfe sorgt schon zur Genüge dafür, daß die Nationalkatholiken,
obwohl unter ihnen Leute sind, die in Glaubensfragen die strengsten und eifrigsten
Söhne ihrer Kirche sind, mit Modernisten und Neformkatholiken in einen Topf
geworfen werden. Also auch auf diesem Wege zieht das Zentrum den besten Ge¬
winn ein.
Immer mehr häufen sich jetzt in der Presse die Betrachtungen über die
Reichsfinanzreform und die Stellung der Parteien zu den mutmaßlichen Vor¬
schlägen der Verbündeten Regierungen. Natürlich bewegen sich diese Erörterungen
noch in allgemeinen Kritiken der bis jetzt nur in unbestimmten Umrissen bekannten
Grundzüge der Reform. Man gewinnt aber doch den erfreulichen Eindruck, daß
die Bereitwilligkeit zur Mitarbeit an dem großen Werk weiter verbreitet ist, als
man anfangs annehmen konnte.
Nun gibt es freilich auch eben jetzt wieder erbitterte Auseinandersetzungen
über die Frage, ob die Fortsetzung der Blockpolitik überhaupt noch möglich sein
wird. Das hat der unglückselige „Fall Schücking", den wir bereits besprochen
haben, zuwege gebracht. Diese hochsommerlichen „Fälle", die wir fast jedes Jahr
zu verzeichne« haben, pflegen die Eigentümlichkeit zu haben, daß sie Dimensionen
annehmen, die mit ihrer ursprünglichen wirklichen Bedeutung in keinem richtigen
Verhältnis stehn. Aber damit müßten nachgerade die Leute zu rechnen versteh»,
die durch ihre Entschließungen den „Fall" herbeiführen. Der Regierungspräsident
von Schleswig hat der Staatsregierung eine böse Suppe eingebrockt. Und das
Schlimme ist, daß nach der Meinung der zuständigen Behörden das gegen den
Bürgermeister von Husum anhängig gemachte Disziplinarverfahren nicht eingestellt
werden kann, sondern seinen ordnungsmäßigen Lauf nehmen muß. Die Folge davon ist,
daß sich die Sache noch einige Zeit hinschleppen wird und recht viel Schaden damit
gestiftet werden kann. Eine gewisse Umständlichkeit werden wir ja bei dem bureau¬
kratischen Geschäftsverkehr der Behörden ohnehin nicht los. Sie macht sich natürlich
bei Angelegenheiten von politischer Bedeutung, wobei die telegraphisch unterrichteten
Zeitungen einen großen Vorsprung haben, oft recht unbequem bemerkbar. In dein
Augenblick, wo der Minister den ersten Vortrag des Dezernenten entgegennimmt,
um zu erwägen, was geschehn soll, hat der Zeitungsleser vielleicht schon drei
oder vier Artikel vor Augen gehabt, worin mit mehr oder weniger Ungestüm und
Erregung ein sofortiges Eingreifen verlangt wird. Er denkt nicht daran, daß oft auch
für den Minister die Veranlassung, etwas Besondres zu tun und der Sache eine
mehr als gewöhnliche Aufmerksamkeit zu widmen, erst durch den Eindruck gegeben
wird, den er über die Wirkung des Geschehnen aus der Presse gewinnt. So sind
auch in dem vorliegenden Falle die ersten Äußerungen, die einen Rückschluß auf
die Stellungnahme der maßgebenden politischen Stellen gestatten, später erfolgt, als
die Ungeduld der gekränkten Parteien erwartete. Auch noch manches andre kam
dazu. Ein bekanntes Sprichwort sagt: „Ein Unglück kommt selten allein." Man
ist oft genng versucht, das Wort zu erweitern: „Auch eine Dummheit wird selten
allein gemacht." Es genügte nicht, daß sich ein höherer Verwaltungsbeamter so von
allen guten Göttern verlassen zeigte, daß er einen politischen Schritt unternahm,
der von allen unbefangnen Beurteilern nur als ein Faustschlag in das Antlitz
der offiziellen Reichspolitik gedeutet werden konnte; die mit der Untersuchung betraute
Kommission mußte auch noch durch ihre Requisition an ein auswärtiges Amtsgericht
die Veranlassung gebe«, daß dieses Gericht im Übereifer ein Zeugniszwangsverfahren
gegen eine angesehene Zeitungsredaktion einleitete, also wiederum einen Schritt tat,
der geradezu darauf berechnet schien, die Erbitterung in liberalen Kreisen zu schüren,
außerdem aber auch im Zusammenhang des ganzen Verfahrens beinahe wie eine
Verhöhnung des Reichskanzlers aussah. Denn Fürst Bülow hat bekanntlich noch
vor gar nicht langer Zeit alles, was in seiner Macht stand, getan, um das unzeit¬
gemäße, gehässige und unwürdige Zwangsverfahren zur Durchbrechung des allgemein
als Bedürfnis anerkannten Redaktionsgeheimnisses wenigstens zu mildern und zu
einer Seltenheit zu machen. Und nun diese augenfällige, sachlich dnrch nichts ge¬
rechtfertigte Anwendung des Zeugniszwangsverfahrens gerade in einer Sache, die
ohnehin schon den Charakter einer Rebellion gegen die Politik des Reichskanzlers
hatte! In Wirklichkeit ist es freilich von dem schuldigen Beamten schwerlich so ge¬
meint gewesen, aber das kann ihn nicht von dem Vorwurf freispreche», mit einer
sträflichen Verständnislosigkeit und einer Nichtachtung der einfachsten Grundsätze der
Regierungspolitik gehandelt zu haben, die einem politischen Beamten nicht passieren
durfte. Wie jetzt bekannt wird, hat der Regierungspräsident einen Urlaub ange¬
treten, nachdem schon vorher der Mißgriff des Zeugniszwangsverfahrens gegen den
Redakteur der Frankfurter Zeitung rückgängig gemacht worden ist. Man darf also
wohl hoffen, daß der Ministerpräsident und der Minister des Innern auch weiterhin
das Nötige tun werden, um die Autorität der Regierungspolitik gegen ihre eignen
politischen Beamten, die die Lage entweder wirklich nicht verstehn oder nicht ver¬
steh« wollen, zu schützen. Denn so unbedeutend der Fall Schücking an sich sein
mag, er ist doch jetzt der Prüfstein geworden, ob die Regierung den ernsten Willen
hat, eiuen frischern Luftzug durch die Räume der preußischen Staatsverwaltung zu
leiten, in denen jetzt vielfach die Luft vollkommen sinnlos gewordner Traditionen weht.
Es ist noch nicht einmal ein Jahrzehnt her, als eine Anzahl politischer Beamten
in Preußen, die als solche ihre Pflicht in keiner Weise verletzt hatten, gemaßregelt
wurde, weil sie als Abgeordnete, wie es ihr gutes Recht war, in einer wirtschaft¬
lichen Frage gegen die Negierung gestimmt hatten. Wir wollen gewiß nicht eine
Wiederholung eines solchen Falles empfehlen, aber die scharfe Auffassung der da¬
maligen Zeit sticht seltsam ab gegen die jetzt geübte übergroße Zurückhaltung gegen¬
über einer vielleicht folgenschweren Ungeschicklichkeit eines politischen Beamten, die
er direkt im Bereich seiner Amtstätigkeit begangen hat. Deshalb ist ein energisches
Durchgreifen des Ministerpräsidenten zur Wiederherstellung des Vertrauens und
zur Verhütung von Wiederholungen eine Notwendigkeit geworden.
Von
wissenschaftlicher Seite wird uns geschrieben: Mit wachsendem Erstaunen sieht man
in der konservativen, sonst gut nationalen Presse einen leidenschaftlichen Kampf
gegen einen der wichtigsten Teile der kommenden Reichsfinanzreform, gegen das
Projekt einer Besteuerung der Deszendentencrbschaften führen. Nun ist sehr wohl
zu versteh», daß der ländliche Grundbesitz der Erbschaftssteuer mit einer gewissen
Sorge gegenübersteht, da er sie zweifellos nicht so leicht tragen kann wie das
mobile Kapital, das nur einen Teil einfach abzulösen und wegzugeben braucht, und
es wäre sehr zu wünschen, daß auf diese Besonderheiten in den Gesetzen des
nächsten Winters Rücksicht genommen würde. Ganz unverständlich ist dagegen die
gegen die Erbschaftssteuer ins Feld geführte Verletzung des germanischen Volks¬
empfindens, und es läge eine große Gefahr darin, wenn sich dieser Aberglaube
festnistete.
Ist es an sich schon unwahrscheinlich, daß eine Steuer, die in Hamburg,
Bremen, England, Skandinavien besteht, gerade mit dem germanischen Empfinden
in Widerspruch stehn soll, so bedarf es doch nur einer Erinnerung an die Grund¬
sätze des deutschen Privatrechts, um sich zu vergegenwärtigen, daß die Besteuerung
des Vermögensverkehrs von Todes wegen, und zwar auch gegenüber Abkömmlingen
des Erblassers, durchaus nichts neues und unerhörtes ist, sondern daß gerade der
ländliche Grundbesitz, gleichviel welchen Umfangs, schon seit dem frühen Mittel¬
alter recht bedeutenden Abgaben unterworfen war, die bei dem Übergang eines
Grundstücks von seinem bisherigen Besitzer auf den Erben fällig wurden. Wenn
man sie bisher mit unsrer heutigen Erbschnftsbesteuerung nicht in Beziehung gesetzt
hat, so mag der Grund hierfür sein, daß die Abgaben nicht unter dem Namen
einer Erbschaftssteuer erhoben wurden, sondern unter allen möglichen, lokal ver-
schiednen Bezeichnungen auftauchen, praktisch tut das aber nichts zur Sache. Denn
auf die Tatsache, nicht auf den Namen kommt es hier an.
Schon nach altgermanischein Recht wurde den Erben eines Grundstücks die
Leistung recht beträchtlicher Abgaben zugemutet. Bekanntlich gehörte die über¬
wiegende Mehrheit alles Grundbesitzes seit dem frühen Mittelalter dem Lehens¬
verbande an, ein Zustand, der bis zur Aufhebung oder Modifizierung aller Lehen
im Anfang und um die Mitte des vorigen Jahrhunderts währte. Nun hatte das
partikulare Lehenrecht der meisten deutschen Territorialstaaten einen Rechtssatz aus¬
gebildet, wonach in jedem Falle eines Besitzwechsels, sonach vor allem auch beim
Erbgang, seitens des neuen ErWerbers des Lehens an den Lehensherrn eine Ab¬
gabe, gewöhnlich Lehenware oder Laudemium genannt, zu entrichten war, die ur¬
sprünglich als ein Zeichen der Ergebenheit und Dienstbarkeit oder auch als Ent¬
schädigung für die vom Lehensherrn übernommne Schutzpflicht gelten sollte, später
aber mehr und mehr den Charakter einer Einnahmequelle für den Lehensherrn
annahm. Dem Lnndemium waren die eidlichen Herren, die den Großgrundbesitz
repräsentierten, sowohl wie die hörigen Bauern, die ein kleines Gut in Afterleihe
besaßen, unterworfen. In dieser Beziehung machte nicht einmal das Mittelalter,
die Zeit der feudalen Ständegliedernng, einen Unterschied zugunsten der Mächtigen
und Großen des Landes. In den meisten partikularen Lehenrechten, in fast allen
Gauen Deutschlands, finden wir das Laudemium, mag es nun Handlohn, Ehrschatz,
An- und Abteil, Lehenware oder anders heißen, und es ist ein sicheres Zeichen,
daß das Rechtsbewußtsein des deutschen Volkes darin etwas selbstverständliches
und notwendiges gesehen hat. Speziell in der Mark Brandenburg hat sich das
Lcmdeminm, die Leheuware, als eine der uralten, von den adlichen Vasallen an
den Landesherrn zu entrichtenden Lehenbeden entwickelt, von denen man die erste
Spur in einem Vergleiche vom Jahre 1279 antrifft, den Johann, Otto und
Konrad, Markgrafen zu Brandenburg, mit den Bürgern zu Stendal wegen ihrer
Lehengüter geschlossen haben. Wohl ist es in manchen Territorien den großen
Vasallen des Landes gewöhnlich unter Ausnützung einer Notlage des Lehensherrn
gelungen, die Verpflichtung zur Entrichtung des Laudemiums abzuschütteln, aber
das waren doch nur Ausnahmen von der Regel; Tatsache ist, daß die Leistung
des Laudemiums bis zum Zusnmmeubruch des Lehensstaates im Anfang des neun¬
zehnten Jahrhunderts eine der wichtigsten Vasallenpflichten war. Dies galt ins¬
besondre auch von deu großen vom Kaiser verliehenen Reichs- und Thronlehen,
für deren Verleihung hohe Laudemieu an das Reichshofratskollegium zu ent¬
richten waren. Wenn sich eine derartige Einrichtung viele Jahrhunderte gehalten
hat, so wird die Erwägung, der sie ihr Entstehen verdankt, nicht ganz verfehlt
sein. Und diese Erwägung gilt tatsächlich noch heute. Wenn im Mittelalter der
Lehensherr den Lehensmann schützte und dafür eine Abgabe erhob, wer schützt
heute den Vermögenden, wenn nicht der Staat? Könnte der Besitz ohne den
ständigen tatkräftigen Schutz des Staates gedeihen? Ist dieser aber in die Pflichten
des Lehensherrn eingetreten, so mag er auch dessen Ansprüche für sich geltend
machen!
Übrigens zeigt sich eine gewisse Analogie zwischen dem alten Laudemium und
der modernen Erbschaftsbesteuerung auch in der unterschiedlichen Behandlung der
Erbschaften nach dem Grade der Verwandtschaften. Das deutsche Privatrecht unter¬
schied zwischen dem lauclsmium, minus, der eigentlichen Lehenware, die von jedem
neuen Übernehmer des Lehens, mochte dieser nun Abkömmling oder bloßer Seiten¬
verwandter des letzten Lehensinhabers sein, erhoben wurde, und dem lanclsinium,
niÄjns, das außerdem noch in höhern Beträgen auf entferntem Verwandten lag,
während solche, die sx x^olu se xroviclcmtia, niaioruin suceedierteu, hiervon befreit
waren. Was die Höhe des Laudemiums anlangt, so war die Lehentaxe fast überall
gesetzlich festgelegt und schwankte je nach der Größe des Lehens. Die Suecessions-
lehenware dagegen berechnete sich als ein Vielfaches des Preises, der bei der letzten
Veräußerung für das Gut erlangt worden war, und betrug in der Regel nicht
weniger als fünf vom Hundert dieser Summe, stieg aber nach manchen Rechten
oder kraft besondrer Vereinbarung bis auf zehn vom Hundert des Verkaufswerts
und darüber.
Man sieht also eine Zweiteilung der gelegentlich des Erbgangs zu erhebenden
Abgabe; ein gewisser Satz wurde von jedem Erben erhoben, und dazu kam ein
höherer Satz, der nur auf Seiteuverwandte und fernstehende Dritte, wenn sie Erben
wurden, zur Anwendung kam. Es ist dies der nämliche Gedanke, den die englische
Erbschaftssteuer seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts scheinbar originell, in
Wirklichkeit aber nur in Nachahmung der alte» deutschrechtlichen Institution ver¬
wirklicht hat, in Gestalt der ihr heute noch eigentümlichen Zweiteilung in ost-M
eine^, die von allen Nachlassen erhoben wird, und Isxaox auel suoossZicm not^, die
die Erbansälle besteuert und sie nach dem Verwandtschaftsgrade abstuft.
Was speziell Preußen betrifft, so liegen hier die Zeiten, wo noch Laudemien
zu entrichten waren, so kurz zurück, daß man sich mit Recht wundern kann, wie die
geschilderten Verhältnisse gerade in den zunächst davon betroffnen Kreisen nnter den
ländlichen Grundbesitzern so schnell in Vergessenheit geraten konnten. Die Be¬
stimmungen des preußischen Landrechts, das das Recht der Laudemien für bäuerliche
Erbzinsgüter ausführlich regelt, haben bis zu dem bekannten Gesetze von 1850
betreffend die Ablösung der Reallasten und die Regulierung der gutsherrlichen und
bäuerlichen Verhältnisse in Kraft gestanden.
Es ergibt sich also, daß frühere Zeiten versuchsweise gegenüber dem ländlichen
Grundbesitz eine recht ausgiebige Erbschaftsbcsteuerung, und zwar auch der Deszendenten
gekannt haben, ohne daß dadurch die Familienbande gelockert oder das Verhältnis
zwischen Eltern und Kindern gefährdet worden wäre. Vielleicht unterziehn an der
Hand solcher historischen Erwägungen die, die in der Ausdehnung der Erbschafts¬
steuer auf Deszendenten eine Bedrohung des germanischen Volksbewußtseins und
Familiensinnes sehn, ihre Anschauungen noch einer Revision, ehe sie sich völlig ab¬
lehnend verhalten.
Der
Glaube an nationale Aufgaben kann in einem Volke nicht durch Feuer und Schwert,
sondern nur durch Verkündigung und Lehre verbreitet werden. Nicht der Kampf
gegen die Ungläubigen, sondern die Überzeugung und Gewinnung der Ungläubigen,
nicht die Verwüstung, sondern die Bebauung des Neulands, das die dem nationalen
Gedanken fremden Volksteile darstellen, kann die. Aufgabe der Bekenner des
Glaubens an die weltpolitische Mission des deutschen Volkes sein. Neuland, Neu-
volk für den nationalen Gedanken zu gewinnen war die Aufgabe, die sich der
Bayrische Landesverband des Flottenvereins stellte und in stiller, erst in Jahr¬
zehnten lohnender Arbeit zu lösen suchte. In dieser Tätigkeit wurde er durch
eine Richtung innerhalb des Gesamtvereins gestört, die sich vom Parteikämpfe
nicht fernhielt und so die innere nationale Mission in Bayern, die auf den un¬
politischen Charakter des Vereins gegründet war, vieler ihrer tätigsten Arbeiter,
aktiver und inaktiver Offiziere, und ihres Erfolgs zu berauben drohte. Der
Bayrische Landesverband mußte sich gegen diese Richtung wenden, wenn er nicht
sein einziges Kolonisations- und Missionsgebiet und seine besten Pioniere und
Missionare verlieren wollte. Es lag ihm fern, seine besondre Art, nationales Neu-
volk zu gewinnen, dem Gesamtverein aufzudrängen. Er forderte nur, daß die
Leitung des Vereins eine mittlere Linie einhielte, die dem bayrischen Teil der
großen deutschen Missionsanstalt auf seinem besondern Arbeitsgebiet nicht das Ver¬
trauen der Bekehrungsobjekte nähme. Aus dieser Forderung, die sich auf die
Satzungen des Vereins stützte, entsprangen die Meinungsverschiedenheiten, die,
durch persönliche Streitigkeiten vergiftet, den Verein krank machen. Die Kölner,
Kasseler, Danziger Heilungsversuche waren vergeblich, nirgends fand der Verein
Heilung.
Die Geschichte dieser Krankheit ist im Reichsspiegel in der Auffassung des
frühern Präsidiums dargestellt worden, von einem Politiker, dessen maßvollen,
scharf- und weitsichtigen Urteilen ich sonst im Innersten zustimme. Ich bin der
Redaktion der Grenzboten dankbar, daß sie mir gestattet hat, das, was ich zur
Beseitigung von Irrtümern und damit von Krankheitsursachen sagen kann, hier im
Kreise der besten Deutschen, deu diese beste Kanzel Deutschlands um sich vereinigt,
vorzutragen.
Der Grundirrtum, worin die Gegner des Bayrischen Landesverbands be¬
fangen sind, ist der Glaube, daß dieser Verband unter dem Einflüsse des Zentrums
stehe. Der Herr Verfasser des Reichsspicgels hat selbst im fünften Heft des laufenden
Jahrgangs der Grenzboten diesen Vorwurf, der sich in dem bösen Worte Zentrums¬
hörigkeit äußerte, gemildert, indem er von der Zentrumsfürchtigkeit der bayrischen
Flottenvereiusleitung sprach. Diese Zentrumsfürchtigkeit ist nichts als die Achtung
vor dem Bekehrungsobjekt. Wir Bayern wollen nicht die Möglichkeit verlieren,
dach taktvolles Lehren und Werben in unserm einzigen Missions- und Kolonisations¬
gebiet, in den Massen der Zentrnmswähler, national empfindendes Neuvolk zu
gewinnen. Nicht alle Zentrumswähler sind der Partei in allen Stücken seeleneigen,
und man muß, wenn man nicht an der Zukunft Deutschlands verzweifeln will,
zugeben, daß national gesinnte Zentrumswähler und Zentrumsabgeordnete, die im
Auftrag ihrer Wähler und aus eignem Antrieb an der Rüstung Deutschlands für
seine weltpolitischen Aufgaben mitarbeiten, ebensowenig ausgeschlossen sind wie
tapfre, pflichttreue Zentrumswähler im blauen Rock vor dem Feind als Reservisten
und Landwehrmänner.
Wir Bayern kämpfen für den unpolitischen Charakter des Vereins, weil wir
die aktiven Offiziere nicht aus unserm Verbände verlieren wollen, die zu unsern
tüchtigsten Pionieren und Missionaren bei der Nationalisierung Bayerns gehören.
Die Nationalisierung Bayerns war und ist das hohe Ziel des Bayrischen Landes¬
verbands. Der Ausdruck mag manchem bayrischen Ohr verletzend klingen. Ich
halte ihn aufrecht. Bayern bedarf der Nationalisierung. Man stößt in Bayern,
besonders beim bayrischen Stamm immer noch auf eine gewisse Abneigung gegen
andre Stämme, zuweilen sogar auf Überhebung. Der Verschmelzungsprozeß des
letzten Einigungskriegs war zu kurz. Auch andre deutsche Stämme bedürfen der
Nationalisierung in Form eindringlicher Belehrung über die berechtigten Besonder¬
heiten der Bruderstämme und über ihre nationalen Verdienste. Ich erinnere an
die oberflächlichen Urteile über Bayerns Anteil am Kriege gegen Frankreich, die
vor einigen Jahren in den Kriegserinnerungen norddeutscher Gelehrte-.-, und Offi¬
ziere laut geworden sind. Ein Organ des Flottenvereins, das so zielbewußt an
der spät lohnenden Nationalisierung seines Stammes arbeitet wie der Bayrische
Landesverband, verdient Unterstützung, mag diese Unterstützung auch nur darin
bestehn, daß man jede Störung seiner dem Wohle des Gesamtvaterlandes dienenden
Arbeit vermeidet.
Den Vorwurf des Schleichkampfes, den der -Herr Verfasser des Neichsspiegels
im 29. Heft der Grenzboten ausspricht und durch die Erneuerung des Vorwurfs
der Zentrumshörigkcit erschwert, verdient der Bayrische Landesverband nicht. Der
Herr Verfasser irrt, wenn er den abschlägigen Bescheid, den Fürst Salm vom
Kaiser auf seiue Bitte um Jmmediatvortrag der Flottenvereinssachen erhalten haben
soll, und den einer treuen Gefolgschaft schmerzlichen Verlust des bisherigen
Präsidiunis an dieser Stelle folgendermaßen begründet: „Es war zu befürchten,
daß es politischen Ränlespinnern, die den Verein gern unter bestimmte Partei¬
einflüsse bringen möchten, wiederum gelingen könnte, das Ohr fürstlicher Protektoren
des Vereins zu gewinnen und so auch an einer Stelle ihren Willen durchzusetzen,
der gegenüber das Präsidium unter allen Umständen machtlos ist. . . . Noch ehe
die Entscheidung gefallen war, veranstaltete der Bayrische Landesverband eine
Delegiertenversammluug, wobei die scheinbar loyale Zurückhaltung, die die Bayern
in Danzig beobachtet hatten, eine seltsame Beleuchtung erfuhr." Der Zusammen¬
hang, in den hier die Ablehnung der Bitte des Fürsten Salm mit der bayrischen
Delegierteuversammlung gebracht wird, ist durch den Gang der Ereignisse aus-
geschlossen. Die Entscheidung war schon gefallen, bevor die Verhandlungen der
Delegiertenversammluug bekannt sein konnten. Die Äußerungen des Regierungs¬
rath von Braun, die auf das Schicksal der Bitte des Fürsten Salm Einfluß gehabt
haben sollen, sind im Reichsspiegel unrichtig wiedergegeben. Herr von Braun er¬
klärte, daß die Bayern den Fürsten Salm nicht für die geeignete Persönlichkeit
zur Leitung des Vereins halten, aber er sagte nicht, „daß sie seiner Wahl nur
zugestimmt hätten, weil sie erwarteten, daß er die Wahl nicht annehmen werde".
Nach dem mir vorliegenden Wortlaut seines Referats lautete die Äußerung: „Wir
halten den genannten Herrn nach den bekannten Vorgängen des letzten Jahres
nicht für die geeignete Persönlichkeit zur Leitung des Vereins und konnten uns
deshalb auch nicht entschließen, ihm unsre Stimmen zu geben. Wir glaubten aber
im Interesse der Erhaltung der Einigkeit im Vereine auf die ausdrückliche Geltend-
machung dieser Bedenken verzichten zu können, weil wir entschlossen waren, alle
persönlichen Verstimmungen zurückzudrängen, und erwarten dürfen, daß durch die
Zusammensetzung des neue» Präsidiums eine Wiederholung der frühern Fehler
ausgeschlossen bleibt, und daß der Verein der in dem Telegramm des Prinzen
Heinrich nusgesprochueu Mahnung folgend nnter der neuen Leitung bestrebt sein
wird, in stiller, einmütiger Arbeit das deutsche Volk von der Notwendigkeit
der Förderung eines nationalen Werkes aufklärend zu überzeugen." Auch der
Satz: „Als ferner in der Versammlung auf die Danziger Resolution hingewiesen
wurde, erklärte Herr von Braun mit bemerkenswerten Zynismus, daß Resolutionen
keine bindende Bedeutung hätten", beruht auf ungenauer Information des Herrn
Verfassers. Herr von Braun besprach die Danziger Resolution vom juristischen
Standpunkt aus und sagte wörtlich folgendes: „An sich präjudiziert die Bezeichnung
des Vereins als »national-Politisch« der Frage in keiner Weise, ob der Verein
rechtlich als ein politischer zu betrachten ist. Denn für diese Frage ist in erster
Linie entscheidend, was der Zweck des Vereins nach seinen Satzungen ist. Da der
Vereinszweck, wie bereits erwähnt, nach gesetzlicher Vorschrift nur mit Zustimmung
aller Mitglieder geändert werden kann, und zwar uur durch eine Satzungs¬
änderung, uicht durch eine einfache Resolution, die ohne jede Förmlichkeit jederzeit
wieder aufgehoben werden könnte, ist die Resolution für die Frage uach dem Zwecke
des Vereins rechtlich belanglos." Diesem Wortlaut gegenüber kann der Vorwurf
des Zynismus nicht aufrecht erhalten werden.
Ich glaube bisher bei der Berichtigung der Irrtümer, die dem Herrn Ver¬
fasser des Neichsspiegels untergelaufen sind, nicht in den Fehler verletzender Bitter¬
keit versallen zu sein, der für manche norddeutsche Äußerungen über den Bayrischen
Landesverband charakteristisch ist. Auch glaube ich mich durch die Studien, Ge¬
danken und Wünsche, die ich in den Grenzboten veröffentlichen durfte, gegen den
Verdacht süddeutscher Einseitigkeit und bajuwarischen Stammesdünkels gesichert zu
haben. Ich bitte darum um Vertrauen bei der Zurückweisung des Vorwurfs der
Zentrumshörigkeit, der gegen den Bayrischen Landesverband neuerdings erhoben
worden ist. Dieser Vorwurf beruht auf ungenügender Kenntnis von Verhältnissen
und Personen, die mir seit Jahren vertraut sind.
Der Kampf des Bayrischen Landesverbands um den unpolitischen Charakter
des Vereins war zunächst von dem Gedanken geleitet, Angehörige aller politischen
Parteien für den Flottengedanken zu gewinnen. Was konnte es nützen, nur die
Anhänger einer politischen Richtung, die ohnehin schon von der Notwendigkeit
einer starken Wehrmacht zur See überzeugt waren, in einen: Verein zu sammeln?
Auf das weite Gebiet des ganzen Volkes mußte die Missionstätigkeit ausgedehnt
werden, sie dürfte nicht vor sozialen, fraktionellen oder konfessionellen Schlagbäumen
halt machen. Erfolgreich konnte sie nur sein, wenn sie keine rudern Fragen poli¬
tischer Natur und ihrer Lehre verquickte. Ein Missionar des Nationalbewußtseins,
der Anhänger verschiedner politischer Richtungen für eine gemeinsame nationale
Sache gewinnen will, darf sich doch nicht in die Hörigkeit der einen oder der
andern politischen Partei begeben. Wo ist auch nur der Schatte» eines Beweises
erbracht worden, daß der Bayrische Landesverband das getan hätte?
Dann aber war der Kampf des bayrischen Verbandes um den unpolitischen
Charakter des Vereins ein Kampf um seine beste Kraft, seine aktiven und passiven
Mitglieder ans dem Osfizierstcmde. Das klingt übertrieben militärfromm. Aber
der Bayrische Landesverband weiß, was er tut, wenn er sich seine ritterlichen
Missionare zu erhalten sucht.
In Bayern ist der Offizierstand ein ungemein wohltätig wirkender Vermittler
zwischen allen Gesellschaftsschichten und Berufsarten. Er wirkt aber nicht nur als
intcrsozialer Vermittler, sondern er ist auch das mächtigste interkonfessionelle Element
in der Gesellschaft und im Volke. Es besteht kein Zwiespalt zwischen dem Offizier-
korps und den verschiednen Schichten der Zivilbevölkerung. Wäre der Simplicissimus
nicht so vorsichtig gewesen, sein Offizierklischee nur sehr selten mit bayrischen Farben
auszumalen, so wäre seine Verhöhnungskampagne gegen das Heer in Bayern sehr
bald auf Widerstand oder lähmende Gleichgiltigkeit gestoßen. Endlich ist das Offizier-
korps in Bayern der vertrauteste Vertreter des nationalen Gedankens und der
opferwilligste Förderer nationaler Bestrebungen. Kein nationaler Verein kann die
auch ans vielen Wenig sich ergebende Finanzkraft der Offiziere, keiner ihre in allen
Bevölkerungsschichten wirksame Legitimationskraft, keiner ihre durch Geschäfts- und
Umgangsgewandtheit gestützte, durch Opfermut und körperliche Ausdauer gesteigerte
Werbekraft entbehren. Vom Leutnant bis zum General der Artillerie waren zu
meiner Zeit — in den ersten sieben Jahren des Bayrischen Landesverbandes — bayrische
Offiziere bei der Organisation des Flottenvereins tätig. In meinem frühern Ge¬
schäftsbereiche gründete und verwaltete ein Leutnant die Flottenvereinsgruppe in
einer großen Garnison. Aktive Generale und solche, die ihr Tagewerk schon in den
Einigungskriegen getan und als Krieger oder Diplomaten am Bau des Reiches
mitgeholfen hatten, arbeiteten als Vorsitzende von Orts- und Kreisgruppen mit
jungen Militär- oder Ziviladjutanten freudig an dem friedlichen Einigungs- und
Erziehungswerke des Flottenvereins. Als ich in Dillingen, einem Schüler- und
Soldatenstädtchen an der Donau, im Jahre 1899 die erste Ortsgruppe des Flotten¬
vereins in Bayern gründete, stützte ich mich ans die freudige, tatkräftige Mitarbeit
des Landwehrbezirkskommandeurs und der Offiziere des zweiten bayrischen Chevau-
legersregiments. Ich dehnte mit ihrer Hilfe die Organisation über Nordschwaben
und benachbarte Landesteile aus. Der Landwehrbezirkskommandeur stellte auf seine»
Dienstreisen an vielen Orten Kader des Vereins auf, so auch einen katholischen
Pfarrer als Vorstand einer Ortsgruppe, und die Chevaulegersoffiziere unterstützten
unsre Tätigkeit außerhalb Dillingens durch ihre Beiträge, in Dillingen selbst durch
rege Teilnahme am Vereinsleben und an der Vereinsarbeit. An einem Vortrags¬
abend saßen die Reiteroffiziere und die meist dem geistlichen Stande angehörigen
Professoren des Lyzeums nebeneinander vor unserm Redner, dem Marinepfarrer
Heims.
Ich sah damals und später in meiner siebenjährigen Tätigkeit als Schriftführer
des Landesverbandes soviel grüne Reiter im Dienste des Flottenvereins — die
Chevaulegersoffiziere im Ausschuß meiner Ortsgruppe, einen Oberleutnant der
Bamberger Kaiserulanen als Schrift- und Geschäftsführer an der Spitze des ober¬
fränkischen Kreisausschusses, den frühern ersten Vorsitzenden, jetzigen Ehrenvorsitzenden,
die jetzigen Vorsitzenden —, daß ich in meiner Monographie über die preußische
Artillerie ini Dienste des Küstenrettungswesens die Sympathie, die den Hauptmann
Trost, den verdienten Förderer des Küstenrettungswesens, als Adjutanten der zweiten
Preußischen Artilleriebrigade zu den Rossen Poseidons zog, mit der verglich, die die
bayrischen Reiteroffiziere zur Förderung des Flottengedankens veranlaßte. Ich sagte
an jener Stelle, daß in Bayern die Flottenidee im letzten Jahrzehnt bei keiner
Waffe so freudige, tatkräftige Förderung gefunden habe wie bei der Kavallerie. Die
dankbare Erinnerung an die Mitarbeit des Dillinger Landwehrbczirkskomniandenrs und
meine Bewundrung für die Arbeit eines Oberleutnants, eines Hauptmanns, eines
Mcijors und eines Obersten der Infanterie und eines Generals der Artillerie, die
als Verbreiter des Flottengedankens und als Leiter von Ortsgruppen und Kreis¬
verbänden alle Arbeitskraft und Arbeitsfreude, die ihnen der heiße Tag eines
arbeitsvollen Lebens übrig ließ, dem Flottenvereiu widmeten, nötigen mich, die beiden
andern Waffen in ihrer Arbeit für die Flottenidee neben, nicht hinter die Kavallerie
zu stellen: bayrische Offiziere aller Waffen haben dem Flottengedanken und damit
der innern nationalen Kolonisation in Bayern wertvolle Pionierdienste geleistet. Das
Paradoxon, daß die Landwaffe «Zo/^, die Kavallerie, bei der Verbreitung des
Flottengedankens in erster Linie tätig war, bleibt doch bestehn.
So haben in Bayern Kavallerie-, Infanterie- und Artillerieoffiziere in Form
von Ortsgruppen des Flottenvereins Schulen zur nationalen Erziehung, Kolonien
des Nationalbewußtseins gegründet. So hat der Flottenvereiu in Bayern an der
nationalen politischen Erziehung des Volkes gearbeitet und damit seit seinem Bestehn
die Forderung erfüllt, die Carl Negenborn im 40. und 41. Heft des Jahrgangs 1907
der Grenzboten ausgesprochen hat. Es liegt eine gewisse Tragik darin, daß die bay¬
rischen Baterlandsfreunde in ihrer unscheinbaren und doch unschätzbaren Arbeit von
Gesinnungsgenossen gestört werden. Was in ihren Pflanzstätten des Nationalgefühls
aus ihrer Saat aufwächst, ist mehr als ein Adressensturm und mehr sogar als eine
flvttenfreundliche Reichstagsmajorität — es ist ein Teil der Kraft, die in den Befreiungs¬
kriegen vor allem das preußische Volk, aber auch die übrigen deutschen Stämme
beseelt hat, die Ferdinande von Schmettau trieb, das einzige Gold, das ihr eigen
war, ihr schönes blondes Haar, für das Vaterland zu opfern, die Schill und Hofer
in den Kampf führte und die Elf von Wesel und den Einen von Braunau, Palm,
bis zum bittern Ende aufrecht erhielt. Ich wiederhole in diesem Satze Worte, die
ich am 7. Juni 1906 an dieser Stelle gesprochen habe. Es gilt wieder, ungerechte
Vorwürfe von der gleichen treuen Arbeit abzuwehren.
Ein Mann und seine Gefolgschaft sieht im Flottenverein eine Kampforgani¬
sation — wir Bayern sehn darin, gestützt auf die Satzungen, eine Schule zur
nationalen Erziehung des deutschen Volkes. Wir Bayern haben, gestützt auf die
Satzungen, um unsre Saat, die Deutschland, nicht nur Bayern ernten wird, und
um einen Teil unsrer beste» Arbeiter, die Offiziere, gekämpft, hartnäckig gekämpft,
nicht aus Eigensinn, nicht um bayrische SoÄerinteressen zu fördern, sondern aus
Sorge um die Zukunft des Vaterlands.
Diesmal spricht man unsern Namen nicht mit dem Rheinbundciccent aus, gegen
den wir uns im Jahre 1906 wehren mußten, diesmal erneuert man den Vorwurf
der Zentrumshörigkeit. In bittern Sätzen. „Wenn die bayrischen Treibereien im
Flottenverein fortdauern, wird damit eine jetzt noch mühsam zurückgedrängte Stimmung
gefördert, die im nationalen Interesse tief bedauerlich ist. Nicht die Festigkeit des
Reichs, wohl aber das Vertrauen der besten nationalen Kreise wird erschüttert,
wenn der Eindruck bestätigt erscheint, daß Richtungen, die in der Reichspolitik
glücklich zurückgedrängt sind, gleichwohl ihren Willen durchsetzen, wenn es ihnen
gelingt, in dem Gewände bayrischer Wünsche — womöglich unter Benutzung dynastischer
Empfindlichkeiten — wieder zu erscheinen----Diese verheißungsvoller Anfänge (einer
politischen Erziehung des deutschen Volks) sind durch Machenschaften einer Partei,
die es verstanden hat, ihren Anteil an der Sache geschickt zu verbergen und dafür
behördliche Rechthaberei und dynastische Empfindlichkeit auf ihre Seite zu bringen,
schwer bedroht, wenn es nicht gelingt, den Kurs des Flottenvereins von der bayrischen
Minderheit unabhängig zu erhalten."
Als ich vor einigen Jahren durch meinen Kampf gegen die Pornographie
gewissen Unternehmungen und Doktrinen lästig wurde, erhob ein Schriftsteller, den
ich gar nicht bekämpft hatte, mit dem ich seinerzeit demselben nativnalliberalen
Verein angehörte, Ludwig Thoma, gegen mich den Vorwurf der Zentrumshörig¬
keit. Der Schuß ging fehl: ich hatte mich im Verlaufe jener Kämpfe öffentlich zu
dem Gedanken der Los-Vou-Rom-Bewegung bekannt. Ähnlich zentrnmshörig wie
ich sind auch die übrigen frühern und jetzigen Mitglieder des Vorstands des Bayrischen
Landesverbands. Weder von bewußter noch von unbewußter Zcntrnmshörigkeit kann
die Rede sein. Der Vorstand des Bayrischen Landesverbands ist geistig denn doch
zu reif und zu rege, und es gibt unter seinen Mitgliedern, wenn man der Wach¬
samkeit der übrigen nicht trauen sollte, zu viel Altdeutsche, als daß er, ohne es zu
merken, zum Werkzeug eiuer Partei werden könnte, „die es versteht, ihren Anteil um
der Sache geschickt zu verbergen".
Zum Schluß noch eine Frage: War es denn der Bayrische Landesverband
allein, der für die Erhaltung des unpolitischen Charakters des Flottenvereins ein¬
getreten ist, hat nur er die Übeln Folgen der Verbindung politischer Dinge mit
der Vereinstätigkeit empfunden? Ich erinnere mich, wie damals, als die Geschäfts¬
leitung des Flvttenvereins in den Wahlkampf eingriff, der Vorstand eines andern
großen Verbandes resigniert klagte: Die Früchte jahrelanger Arbeit sind vernichtet.
Wir müssen wieder von vorn anfangen.
Leider hat der Bayrische Landesverband die gleiche Erfahrung gemacht.
Ich hoffe, mein Zeugnis wird wenigstens in den Angen des politisch reifen
Kreises der Grenzbotcnleser den Bayrischen Landesverband von dem Vorwurf des
Ränkcspinnens und der Zentrumshörigkeit entlasten. Es spricht hier zwar mir ein
Bayer sür die Bayern, aber ich weiß es und habe es schon, so gut ich konnte,
bewiesen: kein Bayer fühlt für die norddeutschen Brüder wärmer als ich. Sie
dürfen mir vertrauen.
Der soeben erschienene vierte Band von Meyers
Kleinem Konversationslexikon (siebente Auslage in sechs Bänden, Kielbauk bis Nord-
kaual) ist außerordentlich reichhaltig. Unter den alle Ansprüche befriedigenden
technischen Artikeln mögen „Kinematograph", „Kupferstich" und „Motorwagen"
— alle natürlich ausreichend illustriert — hervorgehoben werden. Von den ncitur-
wisseuschaftlichen nennen wir „Koniferen" wegen der auch ästhetisch anmutenden
vortrefflichen Bildertafel II, „Mensch" wegen der Tafel, die der „Gestalt des
Menschen" gewidmet ist, und „Mineralien" wegen der Fundstätteukarte. Von sozialen
Erscheinungen sind besonders die Krankenpflege, die Krankenversicherung und das
Kriegssanitätswesen reichlich bedacht. Die deutschen Kolonien, kolonialen Erwerbs-
gesellschaften, die Kolonialbahnen, Kolonialtruppen, das Kolonialrecht werden mit
der ihrer heutigen Bedeutung entsprechenden Gründlichkeit behandelt. Die Artikel
über Städte wie Köln. Konstantinopel, Leipzig, London sind mit Plänen ausge¬
stattet. Die Objektivität und Unparteilichkeit in konfessioneller Beziehung bewährt
sich in den Artikeln „Kirche" und „Luther". Jener ist mit einer sehr dankens¬
werten, vier Seiten füllenden Zeittafel versehen. Statt des Satzes (S. 15, Sy. 2):
„Karl der Große nutzte die Kirche für seine Zwecke" würde ich geschrieben haben:
er verwandte die Kulturmittel der Kirche zur Erziehung seiner Völker und zur
Organisation seines Staates und erhöhte mit seinen politischen Machtmitteln das
A
s ist nur begreiflich, daß die Weltreise der amerikanischen Flotte
nach wie vor in allen Teilen der Erde mit der größten Auf¬
merksamkeit verfolgt wird. So ist es nicht nur auf dem ersten
Teile der Fahrt der Fall gewesen, der in San Franzisko seinen
Abschluß gefunden hatte, sondern dieses Interesse äußert sich
vielleicht in noch höherm Maße jetzt, nachdem kürzlich der zweite Abschnitt dieser
denkwürdigen Reise begonnen hat, wobei die Hawaiinseln und Samoa aufgesucht
wurde», und nachdem am 9. August der erste eigenartige Zwischenakt mit dem bis
zum 5. September währenden Aufenthalt des Geschwaders in Australien, in
Auckland, Sydney und Melbourne stattgefunden hat. Die vierzehntägige Pause
wird nun allenthalben in der Presse dazu benutzt, Rückblicke und Ausblicke zu
tun und die Erfahrungen und Beobachtungen chronologisch aneinanderzureihen,
die zuerst Admiral Evans und dann sein Nachfolger im Amt als Flottenchef,
Konteradmiral Sperrt), auf den verschiedensten Gebieten bisher gesammelt
haben, und die von lehrreichen Interesse erscheinen. Da wird vor allen
Dingen hervorgehoben, daß bis jetzt die Reise unter der pünktlichsten Jnnc-
haltung des Programms verlaufen ist, und daß namentlich das erste große
Marschziel, San Franzisko, genau zu dem festgesetzten Zeitpunkte erreicht
wurde. Wenn anch diese Tatsache von der amerikanischen Presse mit etwas
rellamehafter Überschwenglichkeit gepriesen und in den Vordergrund gestellt
wird und darüber in Vergessenheit gerät, daß das ganze Unternehmen unter
den denkbar günstigsten Verhältnissen bis in alle Einzelheiten vorbereitet
werden konnte, so wie es nur im tiefsten Frieden möglich ist, so muß doch
unumwunden anerkannt werden, daß Material und Personal gutes geleistet
und allen Anforderungen entsprochen haben. Andernfalls würde es dem Ge¬
schwaderchef schwerlich gelungen sein, mit den sechzehn Schlachtschiffen, die
doch nicht alle gleichwertig sind, ohne irgendwelchen Schaden zu nehmen
oder durch unfreiwillige Aufenthalte zurückgehalten zu werden, die erste Haupt¬
etappe in San Franzisko an der kalifornischen Küste zu erreichen. Maschinen
und Kessel haben zu diesem Erfolge zunächst beigetragen; sie haben ans allen
Einheiten fehlerlos funktioniert, sind gut ausprobiert gewesen, wurden unter¬
wegs in brauchbarem Stand erhalten und konnten dank der Tüchtigkeit der
Mannschaft ihr Bestes hergeben,, als ihnen zu guter Letzt ein kleines Mehr
an Leistungsfähigkeit abverlangt werden mußte.
Es ist nun viel darüber gestritten worden und wird noch jetzt mit derselben
Lebhaftigkeit kritisiert, ob und in welchem Umfange wohl der Troß, den
Admiral Evans mit sich geführt hat, an diesen günstigen Ergebnissen beteiligt
gewesen ist, und inwieweit sich daraus Erfahrungen für den Krieg herleiten
lassen. An Troßschiffen führt das Geschwader mit sich ein Werkstätten-, ein
Wasser- und ein Lazarettschiff, zwei Proviantschiffe und dazu siebenunddreißig
Kohlendampfer, vou denen neun Eigentum der Kriegsmarine, die übrigen ge¬
chartert sind. Von diesen Schiffen ist das interessanteste wohl das Werk¬
stättenschiff, weil es mit Fragen in Verbindung steht, die gegenwärtig fast in
allen Mariner diskutiert werden, aber noch nicht endgiltig gelöst sind. Es
handelt sich um die Aufgaben, die einem solchen Schiff zufallen, und in welcher
Weise es dementsprechend eingerichtet sein soll. Am zutreffendsten läßt sich
wohl das Werkstättenschiff als ein Bindeglied zwischen Werft und Bord¬
reparaturstelle bezeichnen, weshalb es so eingerichtet sein muß, daß es die
subtilen Arbeiten, zum Beispiel an elektrischen Maschinen, Befchlsübcrmittlungs-
apparaten, Geschützen usw., ausführen kann. Unsers Wissens ist nur die eng¬
lische Marine mit zwei diesen Bedingungen voll entsprechenden Schiffen, dem
Cyclops und der Assistance, ausgerüstet, während die Amerikaner trotz der
mit dem Vulkan im Kriege gegen Spanien gemachten Erfahrungen noch kein
mustergiltiges Schiff dieser Art haben. Wenigstens kann dafür der Panther,
den jetzt das Geschwader nach dem Stillen Ozean mit sich führt, nicht ange¬
sehen werden, denn er ist nur ein umgebautes älteres Handelsschiff von Mittlerin
Deplacement und deshalb schon nach seinen Größenverhältnissen nicht für seine
Bestimmungen ausreichend. Auch die beiden Proviantschiffe Culgoa und
Glacier, die der Flotte beigegeben sind, gehören der Handelsmarine an und
sind älterer Bauart. Aber hier sind die beiden großen Gefrierrüume auf jedem
Schiff und die darum gelegnen Kühlrünme praktisch und modern gebaut, sodaß
Million Pfund Fleisch und große Vorräte an Trockenproviant in ihnen
Aufnahme finden können. Sehr reich ausgestattet ist die amerikanische Kriegs¬
marine mit eignen Kohlendampfern, und sie wird in dieser Hinsicht selbst von
der englischen Flotte nicht erreicht. Von den fünfzehn vorhandnen Schiffen dieser
Art begleiten, wie schon gesagt, neun das sich auf der Reise befindende Ge¬
schwader; sie können 26400 Tonnen laden, während die gecharterten acht-
undzwanzig Kohlenschiffe nach den einzelnen Stationen, an denen unterwegs
halt gemacht wurde, zusammen 150901 Tonnen gebracht haben. Der Grund,
warum die Amerikaner gerade der Frage der Kohlenversorgung schon im
Frieden so hohen Wert beigelegt haben, ist vornehmlich in der weiten Ent-
fernung der atlantischen von der pazifischen Küste zu suchen. Sie sagen sich,
daß bei etwaigen kriegerischen Verwicklungen eine schnelle Bereitstellung ihrer
Seestreitkräfte im Stillen Ozean, so wie sie heute verteilt sind, bevor der
Panamakanal fertig ist, so gut wie ausgeschlossen erscheinen muß, wenn nicht
für auskömmlichen Bedarf an Kohlen in sachgemäßer Weise Vorsorgen getroffen
sind. Dafür werden allerdings sogar die erwähnten fünfzehn Kohlendampfer
nicht ausreichen und anch die diesmal dazu gemieteten achtundzwanzig Fahr¬
zeuge nicht, sondern ein viel größerer Troß solcher Schiffe würde bei einem
Kriegsmarsch die Flotte von einem Ozean zum andern begleiten müssen.
Darüber sind sich wohl auch die amerikanischen Marinebehörden nicht im un¬
klaren, ebensowenig was die übrigen Begleitschiffe anlangt, die schon der Zahl
nach für den Mobilmachungsfall auch nicht annähernd den Anforderungen
entsprechen. Allein an Lazarettschiffen werden eins für je sechs bis acht große
Schiffe gerechnet. Aber als Friedensversuch stellt sich die Beigabe der ver-
schiednen Troßschiffe zweifelsohne als sehr lehrreich hin, dazu angetan, auch
andern Mariner Winke zu geben, was auf diesen im großen und ganzen wenig
entwickelten Gebieten noch nachzuholen ist.
Außer mit diesen Betrachtungen beschäftigt sich namentlich die amerikanische
Presse mit den Ergebnissen der vierzehntägiger Schießübungen, die das Ge¬
schwader in der Magdalenenbucht abgehalten hat. Die Hauptsache dabei ist,
daß sich die Etagentürmc ausgezeichnet bewährt haben sollen, namentlich auch
dann, wenn zugleich mit den 20,3-Zentimeter-Geschützen in den obern und den
30,5-Zentimeter-Geschützen in den untern Türmen geschossen wurde. Diese
Nachricht findet um so mehr Beachtung, als man in neuerer Zeit auch in
Fachkreisen Amerikas zu der Erkenntnis gekommen ist, daß die supöiivipossÄ
turrvts mehr Nachteile als Vorteile haben. Jene werden hauptsächlich in der
Hochlegnng so schwerer Gewichte gefunden, sodann in der Gefahr, daß durch
einen einzigen unglücklichen Treffer alle vier Geschütze eines Turmes außer
Gefecht gesetzt werden können. Übrigens ist die amerikanische Marine die
einzige, die diese Bauten ausweist, wohl der angeführten nachteiligen Umstände
wegen. Sie fanden zunächst auf dem Kearsarge und der Kentucky Aufstellung,
sind aber für die Neubauten der Vermont-, Mississippi-, Michigan- und
Delawareklasse nicht mehr vorgesehen. Was sonst die Berichte über die
günstigen Schießresultate, namentlich die hohen Treffprozente enthalten, läßt
sich natürlich weder kontrollieren noch einwandfrei beurteilen, da alle nähern
Angaben über Entfernungen, Größe und Beschaffenheit der Ziele sowie über
die Witternngsverhültnisse fehlen.
Von einem sehr interessanten Versuch ist noch zu sprechen, den Admiral
Evans in San Franzisko unternommen hat. Er ließ nämlich unter mög¬
lichster Beschleunigung durch zehn Panzer und sechs geschützte Kreuzer sechzehn
Torpedobootszerstörer nach der Magdalenenbucht und zurück schleppen, zu dem
Zweck, um festzustellen, ob die Zerstörer von den großen Schiffen auf lange
Strecken nachgeführt werden können, ohne daß dadurch deren Geschwindigkeit
und Seetüchtigkeit wesentlich beeinträchtigt würde. Der gewöhnliche Kohlen¬
vorrat der Torpedoboote reicht nur für eine Seereise von 2000 Meilen aus;
unter eignem Dampf würden deshalb die kleinen Fahrzeuge nicht einmal
Honolulu, geschweige denn Manila erreicht haben können, ohne unterwegs
von Kohlendampfern mit Vorrat versehen zu werden. Und die Kohlen¬
einnahme auf hoher See stellt sich erklärlicherweise gerade für Torpedofahr¬
zeuge besonders schwierig. Im Schlepptau der großen Schiffe dagegen würde
ihr Kohlenvorrat vollkommen genügen, und die Kreuzer hätten dann ihren
Bedarf in Honolulu ergänzen können. Dem Vernehmen nach haben die Er¬
probungen zu einem durchaus befriedigenden Ergebnis geführt, sodaß in der
Tat ein Teil der Zerstörer nach der obigen Transportweise den Weg von
San Franzisko nach den Hawaiinseln zurückgelegt hat.
Mehr noch aber als für alle diese Einzelheiten der Übungsfahrt des
atlantischen Geschwaders hat sich die öffentliche Meinung für den Bericht des
Admirals Evans interessiert, der an den Mariuesekrctär gerichtet ist und die
Gefechtseigenschaften und dergleichen der ihm unterstellten Schlachtschiffe be¬
handelt. Dieser Bericht verdient um so mehr Beachtung, als schon lange,
bevor Einzelheiten daraus bekannt wurden, von Fachleuten sowohl wie von
weniger berufnen Stellen aus allerhand Mitteilungen über die nachteilige
Beschaffenheit der nach dem Stillen Ozean entsandten Schlachtschiffe verbreitet
wurden. Diese Ausstreuungen fanden namentlich in Laienkreisen viel Glauben
und dienten als Basis für die Verbreitung der Ansicht im Lande, daß die
großen amerikanischen Schiffsbauten, was ihren militärischen Wert anlangt,
den Anforderungen nicht genügten und weit hinter denen andrer Mariner
zurückstünden. In dieser Hinsicht hat Evans Bericht aufklärend und beruhigend
gewirkt, denn wenn er auch aufdeckte, was verbesferungsfähig ist, so räumt
er doch mit den Hiobsposten auf, die den wertvollsten Bestand der ameri¬
kanischen Flotte als nahezu kriegsuntüchtige Waffe hingestellt haben. Man
kann auch sicherlich nicht den Einwand erheben, daß der Bericht nicht sorg¬
fältig genug verfaßt sei, denn der Flottenchef schickt ihm voraus, daß mehr
als zweihundert Offiziere Mitarbeiter gewesen sind. Jeder Offizier vom
Kommandanten abwärts, die Ingenieure, Zahlmeister, Ärzte, kurz alle, die
mit der Fahrt und der Gefechtsbrauchbarkeit der Schiffe zu tun hatten, be¬
kamen eine lange Reihe von Fragen zur Beantwortung. Diese Antworten
wurden nach ihrer Prüfung durch den Kommandanten nach dem Flaggschiff
geschickt und hier zunächst dem Schiffskonstrukteur Richard Robinson übergeben,
der vier Tage vor der Abfahrt der Schlachtschiffflotte von Hampton Noads zum
Connecticut abkommandiert worden war, um die erste Berichterstattung über
die schiffstechnischen Erfahrungen während der Fahrt zu übernehmen. Mr. Ro¬
binson hat dann die ihm übergebnen Berichte aller Schiffe bearbeitet und
daraus ein Urteil zusammengestellt, das von Admiral Evans nachgeprüft und
mit einigen Änderungen und Zusätzen versehen worden ist. Es geht über den
Rahmen dieser Betrachtung hinaus, wollten wir die Urteile und Ansichten
des damaligen Geschwaderchefs hier w extenso wiedergeben. Aber die Wichtig¬
keit der berührten Fragen und die hohe Autorität des amerikanischen Admirals
lassen es doch geboten erscheinen, daß wir wenigstens die Sätze hier anführen,
die die Panzerung betreffen, um die besonders viel gestritten worden ist, weil
bis jetzt der genaue Text nicht vorlag: „Nach den Zahlen zu urteilen, so
sagt der Admiral, die in verschiednen Antworten von Offizieren in Kommando¬
stellen enthalten sind, scheint es, daß ein besserer Schutz gewonnen würde,
wenn die Pauzergürtel ursprünglich 6 Zoll bis 1 Fuß höher gelegt worden
wären, und zwar uuter der Voraussetzung, daß der Kommandant vor einem
Gefecht genügend Wasser in das Schiff einlaufen läßt, um den Gürtel bis
ungefähr 18 Zoll von der Wasserlinie zu bringen. Aber auch das ist eine
offne Frage, denn es ist bemerkt worden, daß selbst bei schwerer Ladung und
in ruhiger bis mäßig bewegter See. wodurch diese Fahrt bisher begünstigt
worden ist, alle die Schiffe häufig ihren ganzen Gürtel und ihre Boden-
beplattnng vollständig bloßgelegt haben. Man muß sich vergegenwärtigen, daß
selbst eine fünf- bis sechszöllige Granate (von denen eine große Anzahl vorhanden
sein würde) schwere Schäden verursachen könnte, wenn sie unterhalb des Gürtels
treffen würde, während andernfalls das Schiff an der Wasserlinie selbst
bei ganz untergetauchten Pauzergürtel infolge des Kasemattpanzers und der
Kohlen gegen alle mit Ausnahme der schwersten Geschosse gesichert ist. Tat¬
sache ist, daß unter den Bedingungen, unter denen eine Seeschlacht aus¬
gefochten werden könnte, ein Gürtel von acht Fuß Breite für sich allein be¬
trachtet und einerlei, ob er nun etwas höher oder tiefer liegt, zu schmal ist,
den gewünschten Schutz zu gewähren. Wie bekannt, ist bei den neusten
Schiffen diese Frage von geringrer Wichtigkeit, da der Zitadellpanzer nur
einen Zoll dünner ist als der der Wasserlinie, und hinsichtlich dieser schon ge¬
bauten Schiffe ist man der Ansicht, daß, wenn die achterm Brücken entfernt
und alle Gewichte, die beim Ausbruch eines Krieges ans Land gebracht
werden, in Rechnung gezogen werden, das Schiff sich um 6 bis 12 Zoll aus
dem Wasser heben wird, was nach der bestehenden Auffassung das höchste
wünschenswerte Maß ist."
Dem Bericht des Admirals Evans ist noch ein Anhang von Marine-
kvnstrukteur N. H. Robinson über das Flaggschiff Connecticut beigefügt, worin
es unter anderen heißt: „Was die vielerörterte Frage der Lage des Panzcr-
gürtels betrifft, so sind die Wetter- und Seebedingungen dieser Fahrt außer¬
ordentlich gut gewesen, aber selbst unter diesen Bedingungen wurde der untere
Rand des Panzergürtels verschiedner Schiffe infolge des Schlingerns und
Stampfens häufig sichtbar. Es scheint, daß der Pauzergürtel jedenfalls nicht
zu tief hinabreicht; eine Verletzung unterhalb des Gürtels würde viel gefähr¬
licher sein als eine solche oberhalb davon, und eine Granate jeden Kalibers
kann Schaden verursachen, wenn der untere Rand des Pcmzergürtcls bloß-
gelegt ist. Es hat sich gezeigt, daß die Ladebedingungen verschiedner Schiffe
der Flotte ungewöhnlich waren, indem zum Beispiel das Reservespeisewasser
von 30 Tonnen in verschiednen Schiffen entgegen den Vorschriften bis zu
800 Tonnen betrug, dazu kommen ungewöhnlich viele Nescrveteile, Übungs¬
munition usw. Es läßt sich kaun: leugnen, daß es wünschenswert ist, einen
möglichst breiten und dicken Panzergttrtel zu beiden. Dazu scheint ein Gürtel,
der in der Höhe des untern Randes des jetzigen Gürtels beginnt, und der eine
möglichst große Breite und Dicke erhält sowie genügenden Schutz der Türme
und Geschützstellungen gewährleistet, ein zweckmäßiger Ausweg zu sein."
Der erwähnte Bericht des Admirals Evans ist das letzte Werk seiner
aktiven Diensttütigkeit gewesen. Sicherlich zu seinem eignen Bedauern, aber
nicht weniger auch zum Leidwesen der Regierung, die es gern gesehen hätte,
daß der verdienstvolle Geschwaderchef die mit so gutem Erfolg eingeleitete
und bis an einen wichtigen Abschnitt geführte Fahrt bis zum Schluß geleitet
haben würde. Aber Gesundheitsrücksichten haben durch diese Wünsche und
Hoffnungen einen Strich gemacht, sodaß Konteradmiral Sperrt) für den zweiten
Teil der Reise den Oberbefehl übernehmen mußte. Es standen für die Fort¬
setzung zwei Wege zur Wahl. Der eine führte über die Kohlenstationen Sitka,
Dules Harbor und Kiska nach dem Norden Ostasiens, der andre über die
Hawaiinselu und Guam nach den Philippinen. Die erste, die nördliche der
beiden Etappenstraßen, kam schließlich nicht näher in Betracht, erstens weil
die hier vorhandnen Kohlenstationen nur für den Kreuzerkrieg eingerichtet
sind, und dann weil ihre Benutzung für den Fall eines etwaigen Konflikts
mit Japan so gut wie gar nicht in Betracht kommen kann. Die Möglichkeit
eines solchen Konflikts wird zwar von allen amtlichen Stellen fortgesetzt in
Abrede gestellt, wie sie ja auch natürlich nicht die offizielle Veranlassung zu
der Übuugsfahrt gegeben hat. Aber das wird wenigstens stillschweigend zu¬
gegeben, daß auf dem Rückwege nach der Heimat die Route eingeschlagen und
die großen Stützpunkte aufgesucht werden sollen, die, wenn einmal der Stille
Ozean der Kriegsschauplatz sein sollte, dann die gegebne Richtung und die
wertvollsten Hilfsstationen sein werden. So hat man am 6. Juli die Fahrt
von San Franzisko nach Honolulu angetreten und hier einen zehntägigen
Aufenthalt genommen, um die schou in der Ausführung begriffnen Befestigungen
und die Pläne für die neuen Anlagen eingehend zu besichtigen. Die Gunst
der Lage hatte die Union schon vor Jahren veranlaßt, die Gruppe der Hawai-
inseln militärisch so stark zu schützen, daß sie sich nach Vollendung der Be¬
festigungen auch ohne Flottenhilfe mit Erfolg gegen feindliche Unternehmungen
verteidigen können. Zuerst war mit den Werken zum unmittelbaren Schutz
der Landeshauptstadt begonnen worden, und sie sind heute so weit vor¬
geschritten, daß die völlige Fertigstellung noch im Laufe dieses Jahres er¬
wartet wird. Alsdann soll mit dem Ausbau von Pearl Harbor als Flotten-
basis ersten Ranges begonnen werden, nachdem das Repräsentantenhaus die
dafür notwendigen Mittel im Etat von 1908/09 bewilligt hat. Die natür¬
lichen Bedingungen für ein solches Unternehmen sind außerordentlich günstig.
Der Hafen hat eine durchschnittliche Tiefe von sechzig Fuß und umfaßt eine
Wasserfläche von zehn Quadratmeilen; er ist groß genug, sämtliche Flotten
der Welt aufzunehmen. Bis auf eine verhältnismäßig schmale Öffnung von
allen Seiten von Höhenzügen umgeben, bietet er geradezu ein ideales Gelände
für moderne Befestigungsanlagen. Schiffe, die unter dem Schutze der Höhen¬
züge liegen, können von der See aus nicht gesichtet werden, und die Höhen
sind so steil, daß die Heranschaffung schwerer Geschütze von der Landseite
aus als ausgeschlossen angesehen werden kann, und überdies sind sie so hoch,
daß der Hafen wirksam nicht beschossen werden kann. Auf diese Weise werden
also die Hawaiinseln in absehbarer Zeit ein vor der pazifischen Küste Nord¬
amerikas vorgeschobnes starkes Bollwerk werden, mit dem Amerika um so mehr
rechnen kann, sowohl für die Defensive als auch für die Offensive, als die
Entfernung von San Franzisko nur 3895 Kilometer betrügt, während Joko-
hama 9121 Kilometer, also nahezu dreimal so weit entfernt ist.
Für die Weiterreise des Pazifikgeschwadcrs auf dem Wege nach der
Heimat war von Honolulu aus zunächst der direkte Weg nach den Philippinen,
dem zweiten großen Stützpunkt der Union im Stillen Ozean, ausersehn. Da
kam die Einladung der australischen Negierung zu einem Abstecher nach Sydney
und Melbourne dazwischen, der Admiral Sperry, wie wir eingangs gesehn
haben, Folge geleistet hat. Der Empfang, den die Amerikaner in den großen
Häfen des Commonwealth gefunden haben, hat den höchsten Erwartungen ent¬
sprochen, und in begeisterten Begrüßnngswvrten feiern die Behörden und die
Presse hüben wie drüben die Begegnung der befreundeten Nationen. „Kein
andrer Staatenbund der Welt, so äußerte sich der australische Premierminister
A. Deakin, hat mit dem amerikanischen so viele gemeinsame Züge wie die
Commonwealth von Australien, und ich zweifle, daß man zwei andre Völker
finden kann, die in engerer Berührung miteinander stehn oder imstande wären,
mehr Nutzen zu ziehn als wir aus Maßnahmen, die die gegenseitigen Beziehungen
noch immer enger gestalten könnten." Und die Washington Times schrieb dazu
in bemerkenswerter Weise: „Die Fahrt nach-Australien wird beiden, Japan
sowohl wie England, eine Lehre sein. Sie wird wesentlich dazu beitragen, den
Frieden im Stillen Ozean auf Jahre hinaus zu sichern, weil sie dartun wird,
wie stark die Bande sind, die die neuen angelsächsischen Nationen am Rande
dieses Ozeans miteinander verbinden."
Nach dein australischen Zwischenspiel wird die Flotte wieder nordwärts
dampfen und durch die Torresstraße nach den Philippinen fahren, wo sie
Manila um die Mitte des September erreicht. Es folgt hier ein etwa sechs¬
wöchiger Aufenthalt zum abermaligen Abhalten von Schießübungen, für
Nekognosziernngsfahrten und vor allem zur genauen Erkunden aller der Anlagen
und Projekte, die von der Regierung im Einverständnis mit dem Parlament für
Befestigungen auf den Philippinen entworfen und angenommen worden sind.
Trotz aller Friedensbestrcbnngen und -Versicherungen will die Union auf alle
Fälle vorbereitet und gerüstet sein und unter keinen Umstünden den wertvollen
Jnselarchipel freiwillig preisgeben, wie es namentlich in der japanischen Presse,
wohl um einen Fühler auszustrecken, verbreitet worden war. Der kürzlich gefaßte
Beschluß des Kongresses, Manila zu einer der stärksten Festungen in ganz
Asien zu machen, und die Bewilligung von 23 Millionen Mark für diese
Bauten sind die Antwort auf die Hoffnungen der nun wohl schwer enttäuschten
Söhne aus dem Reiche der aufgehenden Sonne. Mit der Aufstellung der Pläne
für die Befestigung der Philippinen sind die obersten Marine- und Militär¬
behörden in Washington in gemeinsamen Sitzungen seit einem halben Jahre
unablässig beschäftigt gewesen. Es bestand zuerst bei deu Marinefachmännern
der Plan, die Subigbai, die etwas weiter nördlich als Manila liegt und einen
ausgezeichneten Hafen bildet, zur Hauptflotteubasis für die Philippinen aus¬
zubauen. Die militärischen Sachverständigen machten jedoch geltend, daß die
Verteidigung der Subigbai gegen einen Angriff von der Landseite her beinahe
unmöglich sein und unter Umständen eine Truppenmacht von 100000 Mann
erfordern könnte. Daraufhin wurde dieser Plan aufgegeben, und es wurde
beschlossen, Manila zum Hauptquartier des starken Geschwaders umzubauen,
das die Vereinigten Staaten künftig ständig in den ostasiatischen Gewässern
unterhalten wollen.
Der Kernpunkt der Befestigung der Bucht von Manila wird die außer¬
ordentlich günstig gelegne Corregidvrinsel sein. Sie liegt in beherrschender
Stellung gerade in der Mitte der Einfahrt zu der großen Bucht zwischen Cavite
auf der einen und der Vataanhalbinsel auf der andern Seite.
Hinter ihr liegt noch eine Anzahl kleinerer Inseln, die Cabello-, Carabao-
und Fraileinseln, die ebenfalls mit starken Verteidigungswerken versehn werden.
Diese Werke zusammen beherrschen die Einfahrt in die Bai vollkommen auch
dem stärksten Geschwader gegenüber.
Die Corregidvrinsel soll sechs Batterien zehnzölliger Geschütze erhalten;
die gebirgige Natur der Insel gestattet, die Batterien 500 Fuß über dem
Meeresspiegel anzulegen, was deren Angriffskraft noch bedeutend erhöht. Auf
der Küste der Insel werden Werften, Kasernen, Magazine und Lazarette er¬
richtet. Die Magazine werden mit den Batterien durch eine elektrische Bahn
verbunden. Es ist schon bestimmt, daß die 25. Küstenartilleriekompagnie, die
sich gegenwärtig in Fort Monroe (Virginien) befindet, die Besatzung der
Corregidorforts bilden wird; ihre Ausreise nach Manila ist auf den 6. April
nächsten Jahres festgesetzt.
Auch die kleinern Forts, zu denen die erwähnten innerhalb der Bucht
liegenden Jnselchen umgestaltet werden sollen, werden rin zehnzölligen Ge¬
schützen ausgerüstet; sie erhalten ferner kleinere Batterien von Schnellfeuer-
geschützen zum Angriff auf Torpedoboote, die etwa versuchen sollten, die Einfahrt
in den Hafen zu erzwingen.
An allen geeigneten Punkten werden mächtige Scheinwerferposten errichtet,
die es ermöglichen, jeden Punkt der Hafeneinfahrt nach Bedarf tageshell zu
beleuchten. Das riesige Schwimmdock Dewey, das imstande ist, die Schlacht¬
schiffe der Marine zur Reparatur aufzunehmen, wird von seinem jetzigen
Standort in der Subigbai ebenfalls nach Manila gebracht werden. Das
Marinearsenal in der Stadt Cavite an der Bucht südlich von Manila wird
vergrößert und dem neusten Stande der Technik entsprechend mit allen Hilfs¬
mitteln ausgerüstet werden, sodaß dort künftig alle Reparaturen, die für eine
Flotte von zahlreichen großen Schiffen möglicherweise notwendig werden, aus¬
geführt werden können.
Ein Hauptvorzug der Bucht von Manila gegenüber der Subigbai ist, wie
schon erwähnt worden ist, der, daß die Verteidigung gegen einen Angriff von
der Landseite her weit leichter zu bewerkstelligen ist. Hinter Manila erstreckt
sich ein verhältnismäßig schmaler Lcmdstreifeu, der mit einer Reihe starker Forts
besetzt wird, zum Baysee (der Lagune de Bay), einem großen, sich weit ins
Landesinnere erstreckenden Binnensee, auf dem eine Anzahl kleiner Kanonen¬
boote stationiert werden soll. Weitere natürliche Unterstützungsmittel für die
Verteidigung Manilas bildet die sumpfige Natur des Geländes zwischen der
Stadt und dem See; dieses ist außerdem mit sehr dichtem Unterholz bestanden,
das dem Vordringen einer starken feindlichen Truppenmacht von der Landseite
her große Schwierigkeiten in den Weg legt.
Es wird allerdings nicht verhindert werden können — das gibt man in
offiziellen Kreisen zu —, daß die Japaner unter Umständen eine Truppenmacht
von 100000 Mann auf der Halbinsel Luzon landen können, um sie zum Angriff
auf Manila vorzuschicken. Die jetzt in Angriff genommnen Befestigungswerke
sind aber so geplant, daß sie diese Möglichkeit in Rechnung ziehn, und die
Amerikaner glauben, daß sogar eine sehr starke japanische Armee mit Unter¬
stützung durch die Flotte von der Seeseite her, wenn die neue Seefeste erst
fertig dasteht, nicht imstande sein werde, Manila zu erobern. Besonders dann
nicht, wenn erst die Absicht ausgeführt sein wird, ein stündiges Philippinen¬
geschwader zu organisieren. Dieses soll nach den heutigen Plänen bestehn aus
den vier Linienschiffen Kentucky, Illinois, Alabama und Kearsarge, die augen¬
blicklich die vierte Division des auf der Übung begriffnen Geschwaders bilden,
sowie aus den vier größten modernen Panzerkreuzern Washington, Tennessee,
South Dacota und California. Für den Oberbefehl dieses Geschwaders ist der
Nachfolger von Admiral Evans, Konteradmiral Sperrt), in Aussicht genommen.
Schon daraus geht hervor, daß dieser neue Verband nicht sofort ins Leben
gerufen werden kann. Vielleicht aber tritt er zusammen, wenn nach der vorhin
bekannt gegebnen Reiseroute des Übungsgeschwaders auf dem Rückwege von
Nokohama und Amoy der Hafen von Manila zum zweitenmal angelaufen wird.
Zu diesem Zeitpunkt werden ja alle großen Aufgaben der Ozeanfahrt erfüllt
sein, und Admiral Sperry könnte hier wohl für den letzten Teil der Reise den
Oberbefehl ohne Bedenken einem jüngern Führer überlassen, um am Orte seiner
spätern Tätigkeit zurückzubleiben und das wichtige Kommando seiner neuen
Stellung zu übernehmen. In diesem Augenblick tritt dann auch die Lösung
der Frage ein, die, man möchte sagen, schon gegenwärtig in aller Leute Munde
ist und von den verschiedensten Standpunkten aus beurteilt wird: bleibt die jetzt
auf der Fahrt begriffne Flotte im Stillen Ozean? Es sind ja viele, deren
Ansicht dahin geht, die Regierung in Washington werde das starke Geschwader
von jetzt achtzehn Schlachtschiffen in stündiger Bereitschaft an der kalifornischen
Küste belassen, wolle aber diesen Entschluß erst im letzten Augenblick bekannt
geben, um nicht vor dem Besuch in Japan Beunruhigung oder gar Mißstimmung
zu erwecken. Andre sind entgegengesetzter Meinung und glauben, daß mit der
erwähnten Neubildung des Philippinengeschwaders die Union im gegenwärtigen
Augenblick den wichtigern Weg gehe, als durch dauernde Stationierung der
ganzen großen Flotte in den Gewässern des Pazifik. Wir stehn auf dem letzten
Standpunkt. Auf der Hand liegt ja, daß, wenn es die politische Lage erheischen
sollte, die Regierung besser daran tun würde, das Geschwader an Ort und Stelle
zu belassen, als es vielleicht bald nach erfolgter Rückkehr nach Hampton Roads
abermals die dreimonatige Reise von einem Ozean zum andern antreten zu
lassen. Aber von Gewitterwolken am politischen Horizont in Ostasien kann in
diesem Augenblick ernsthaft nicht die Rede sein, allein schon aus dem Grunde,
weil Japan, was immer auch dagegen gesagt werden mag, den Frieden
dringend nötig hat, um sich von den schweren Wunden, die ihm der Krieg
mit Rußland trotz aller Siege geschlagen hat, wieder aufzurichten und seine
Finanzen in Ordnung zu bringen, nachdem wider Erwarten die russische Kriegs¬
entschädigung ausgeblieben ist. Ein neuer Krieg, mit wem es auch sei, würde
gegenwärtig in Japan höchst unpopulär sein. Also die politischen Verhältnisse
können die amerikanische Regierung heute nicht abhalten, das Gros ihrer
Seestreitkräfte zunächst einmal heimzubeordern. Dann soll sie es aber auch tun,
denn die Mehrzahl der Schiffe, insbesondre die ältern, werden nach dieser Reise
um die Welt einer gründlichen, zum Teil vielleicht sehr langwierigen Aus¬
besserung in den Heimatshüfen der atlantischen Küste unterzogen werden müssen.
Das könnte an der Westküste überhaupt nicht geschehn, und da sollte die Tat¬
sache, daß weder Bremerton noch San Franzisko noch Portland oder San
Diego, die einzigen vier Stützpunkte, die hier liegen, heute noch keine genügenden
Werften und Dockanlagen zur Ausführung großer Arbeiten haben, mitbestimmend
für den Entschluß sein, bis auf weiteres keinem zahlreichen Geschwader in diesen
Gewässern stündigen Aufenthalt anzuweisen. Anders werden ja die Dinge
liegen, wenn erst die geplanten Neuanlagen und Erweiterungsbauten, besonders
in Bremerton und San Franzisko ausgeführt sein werden. Und noch ein weiterer
Fortschritt wird getan sein, wenn der Ausbau der Flotte mehr gefördert ist,
wenn der Michigan und South Carolina, die beiden Neubauten vom Delawaretyp
und die in diesem Jahre bewilligten beiden Schlachtschiffe Alces und Honduras,
die unter größter Beschleunigung gebaut werden sollen, in Dienst gestellt sein
werden. Dann ist ja so viel modernes Material an größten Schiffen vorhanden,
daß nicht nur ein großes, selbständiges atlantisches Geschwader, sondern auch
eine eigne pazifische Flotte vom größten Umfange ohne Schwierigkeiten ge¬
bildet werden kann. Und dieses wird in den erweiterten und befestigten Häfen
nicht nur an der Westküste, sondern auch auf den Hawaii- und Philippinen¬
inseln Reparatur- und Zufluchtsstätten in ausreichendem Maße finden.
Aber auch wenn wir den nach unsrer Ansicht höchst unwahrscheinlichen
Fall annehmen wollen, daß sich die politische Lage nach der Rückkehr der
Flotte von ihrer Weltreise etwa zuspitzen sollte, liegt keinerlei Grund zu Be¬
sorgnissen für die Regierung vor. Denn inzwischen ist ja eine neue atlantische
Flotte aus dem bisherigen Bestände durch den Zuwachs von drei Linienschiffen,
zwei Panzerkreuzern und vielen kleinern Schiffen entstanden, die sofort die
Ausreise von Hampton Roads aus nach dem Stillen Ozean antreten könnte
und voraussichtlich kriegsbereiter sein würde als die nahezu ein Jahr ununter¬
brochen unterwegs und in Dienst gewesnen Schiffe der Großen Ozeanflotte,
wenn man sie an der Westküste stationiert hätte.
Nach diesem kurzen militärisch-politischen Exkurse noch einmal zurück zu
der heimreiseuden Flotte, die von Manila aus nach Japan gehn wird und
damit die letzte und wichtigste große Etappe ihrer Reise erreicht. Der Besuch
soll nicht nur dafür gelten, sondern darf nach unsrer Ansicht auch als Beweis
dafür angesehn werden, daß es augenblicklich keine diplomatische Streitfrage
mehr zwischen den Kabinetten von Tokio und Washington gibt. Schon seit
die japanische Regierung zu Beginn des Jahres neue Paßvorschriften er¬
lassen und die Auswandrung nach Kanada und Mexiko überhaupt untersagt
hatte, war ein merkbarer Umschwung in der Stimmung der öffentlichen Meinung
in ganz Amerika zu erkennen gewesen. Und als dann zahlenmäßig von den
amtlichen Stellen nachgewiesen werden konnte, daß in der Tat die japanische
Einwandrung gegenüber dem Vorjahre fast um den dritten Teil zurückgegangen
war, da fand die Einladung an die amerikanische Flotte zum Besuche Jokohamas
überall im Lande freudige Aufnahme und lebhafte Unterstützung, die mit zu
ihrer Annahme geführt haben. Ob die Japaner nur aus Klugheit so gehandelt
haben, unter dem Drucke einer unvermeidlichen Notwendigkeit, weil ihnen
Australien mit einer gleichen Einladung zuvorgekommen war, wie die einen
meinen, oder ob die Neugierde, die amerikanischen Schiffe kennen zu lernen,
wie andre behaupten, das Motiv gewesen ist, wollen wir hier nicht näher
untersuchen. Die Amerikaner werden sich ja wohl in dieser Hinsicht vollkommen
darüber klar sein, daß den Japanern viel daran liegen muß, einen Einblick in
die Schiffseinrichtungen usw. ihrer zum Besuch erscheinenden Gäste zu tun.
Und sie werden auf der Hut sein. Dafür spricht auch eine Verfügung, die
Admiral Sperrt) an die ihm unterstellten Geschwaderchefs angeblich schon er¬
lassen haben soll, des Inhalts, daß die Schiffe während ihres Aufenthalts in
den japanischen Häfen bereitwilligst den Besuchern gezeigt werden dürften, aber
„nur bis zu einem gewissen Grade", daß also zum Beispiel die Einrichtungen
für die Feuerleitung und Einzelheiten der Torpedoarmierung geheim zu
halten seien.
Der Aufenthalt an der Küste Japans ist insgesamt auf zwölf Tage be¬
rechnet. Danach folgt noch ein kurzer Abstecher nach Amoy, um auch einer
freundlichen Einladung der chinesischen Regierung zu entsprechen, und zurück
geht es nach Manila, um hier die letzten Vorbereitungen für die direkte Heim¬
reise zu treffen und die Schiffe auszuscheiden, die, wie wir vorhin berichtet
haben, das zukünftige Philippinengeschwader bilden werden. Auf dem letzten
Teile des Rückwegs sollen dann nur noch Colombo, Suez und Gibraltar auf¬
gesucht und am 22. Februar 1909 die atlantische Küste wieder erreicht werden.
Ein Besuch Englands, wie er in London lebhaft gewünscht wurde, unterbleibt
demnach. Als Grund wird angegeben, daß dann der Besuch auch andrer
europäischer Küstenländer nicht zu vermeiden gewesen wäre, wenn man nicht
hätte unhöflich sein wollen, wodurch aber die Flottenfahrt ins Ungemessene
hätte verlängert werden müssen.
Abgesehn von den vielen militärischen und politischen Erörterungen, die
an die Weltreise der amerikanischen Flotte zu knüpfen sind, und von denen
wir vorstehend ein knappes Bild gegeben haben, interessiert noch die Frage,
wie hoch sich wohl die Gesamtkosten dieses großartigen Unternehmens belaufen
werden. Die amtlichen Stellen in Washington haben hierauf erklärlicherweise
noch keine abschließende Antwort geben können. Aber der Hinweis, daß sich
für Kohlen allein der Anschlag auf etwa 21 Millionen Mark stelle, dürfte
genügen, um zu zeigen, daß die Schlußrechnung ganz gewaltige Summen
nennen wird.
ernoullis Buch*) enthält eine Menge hübscher Charakterskizzen.
Wir werden in Nietzsches bescheiden elegante, frauenhaft aus¬
gestattete und mit Blumenduft parfümierte Wohnung eingeführt
und dann in Jakob Burckhardts Studentenbude, wo man, auf
Bücherstößen hockend, bei schlechtem Tabak und schwerem Rotwein
über gelehrte Sachen urgemütlich disputiert. Wir werden mit dem liebenswürdigen
jungen Freiherrn von Gersdorff bekannt gemacht und mit der weniger angenehmen
Frau Nielsen. (Sie hatte, als begeisterte Jüngerin Nietzsches, diesen durch ihre
Briefe gewonnen und zu einer Zusammenkunft bestimmt. Nietzsche soll, als er
die häßliche und schmutzige Person erblickte, mit dem Ausruf: „Scheusal, du
hast mich betrogen!" ihr den Rücken gekehrt haben und weggelaufen sein.) Wir
erhalten einen Bericht über das widerlich endende Abenteuer mit dem Fräulein
Lou Salome, und wir werden in die Intimitäten des „Klosters der Freigeister"
eingeweiht. (Einer der Insassen dieses kurzlebigen Klosters erzählt unter anderm
von den Pifserari, die ans ihren Dudelsäcken „dem Muttergottesbilde gratis
eine Dankmesse pfeifen". Es ist unbillig von den Katholiken, daß sie darüber
zu lachen oder zu schimpfen Pflegen, wenn ein Protestant über Einzelheiten
des komplizierten katholischen Kultus falsch berichtet; aber was eine Messe,
musikalisch verstanden, ist, Hütte man in einem Kreise, der Richard Wagner
verehrte, also gewiß auch Bach und Beethoven kannte, wohl wissen können.)
Auch werden die Schriftsteller durchgenommen, denen Nietzsche Gedanken entlehnt
hat, um sie selbständig zu verarbeiten, oder von denen er sich hat anregen
lassen, und es werdeu dabei besonders ausführlich das berüchtigte Buch von
Max Stirner und Prometheus und Epimetheus von Karl Spitteler behandelt.
Beschränken wir uus auf Overbeck!
Als dieser nach Basel übersiedelte, besorgte ihm ein Kollege Quartier in dem
einem Herrn Baumann gehörenden Hause, in dem Nietzsche wohnte. In dieser
Baumannshöhle, wie sie es scherzend nannten, sind sie fünf Jahre beisammen
geblieben und haben täglich miteinander verkehrt. Dann bezog Nietzsche mit
seiner Schwester zusammen die obenerwähnte Wohnung, und Overbeck heiratete.
Dieser war ein sehr fleißiger und gewissenhafter Gelehrter. Seine Bibliothek
war reich an eignen Manuskripten, aus denen jedoch kein größeres gedrucktes
Werk gestaltet worden ist; so hat er lediglich für seinen Privatgebrauch deu
ganzen Clemens, den ganzen Tertullian, ein gutes Stück Origenes und manchen
andern Kirchenvater übersetzt. In einem Winkel seines Studierzimmers stand
ein Schränkchen mit vierundzwanzig Fächern, „das auf schon gänzlich vergilbten
Blättchen einen kleinen, selbst angelegten Thesaurus der neutestamentlichen und
der patristischen Gräzität enthielt____ Er hätte es sich schwerlich zum Lobe
angerechnet, nachgesagt zu bekommen, er brauche gar nicht mehr aufzuschlagen,
er zitiere auswendig. Er schlug vielmehr jedes einzelne mal nach." Nietzsche
hat, wie er einmal äußert, die Gelehrsamkeit dieses Freundes „mit Maulauf¬
sperren" angestaunt. „Trotzdem er nur sehr spärlich druckte und schließlich kein
einziges wirkliches Buch zurückließ, ist sein Wort in der Fachdiskussion als
erstes gehört worden; was ihm seinerzeit der im Aufstieg begriffne, von ihm
mit ehrlicher Hoffnung begrüßte Harnack an Anregung dankte, das dentet die
eine oder andre Fußnote der Dogmengeschichte eben noch von ungefähr an,
und so sind denn einige seiner fundamentalen Trouvaillen in den wissenschaft¬
lichen Schulsack des heutigen Theologen übergegangen." Seines Radikalismus
ist schon gedacht worden. „Einzig in Overbecks Auffassung finden wir den
Willen zur völligen Profanierung der in der bisherigen theologischen Gelehr¬
samkeit enthaltnen rein wissenschaftlichen Motive mit kühnem Mute und lückenlos
verkörpert." (Männer, die diese Auffassung teilen, müßten aus der theologischen
Fakultät ausscheiden und sich je nach ihrem Fach um einen Lehrstuhl der
Geschichte oder der orientalischen Sprachen oder der Philosophie bewerben.
Sollten sich einmal alle Theologen dazu bekennen, dann hätte sich die theologische
Fakultät aufzulösen.) Dieser ruhige und gründliche Gelehrte und gute Mensch
nun (als solchen hat ihn auch Nietzsche gepriesen) ist unter allen Freunden
des großen Aphoristikers, wie das in seiner Natur lag, der am wenigsten
enthusiastische und der am meisten kritische gewesen. „Overbeck liebte Nietzsche
so sehr, daß er jenem und sich selbst das letzte zumuten durfte. Er nahm
Nietzsche, wie er ihm erschien, vor sich auf die flache Hand und legte mit der
andern freien Hand unerbittlich die Sonde an." Schwärmer haben ihm das
sehr übel genommen. Aber von den schwärmenden Verehrern hat keiner bei dem
immer wunderlicher werdenden Nietzsche ausgehalten, nur Overbeck ist ihm bis
zuletzt treu geblieben. Und er hat die Echtheit seiner Freundschaft in einem
recht prosaischen, aber bei dem geringen Einkommen Nietzsches sehr wichtigen
Dienste bewährt: achtzehn Jahre lang, von 1379 bis 1897, hat er des ab¬
wesenden Freundes „Gelder verwaltet"; in dem zu diesem Zweck geführten
Kassenbuch finden sich auch die allerunbedeutendsten Einnahmen und Ausgaben
verzeichnet. Unablässig sorgt er für den schwer leidenden. In einem Briefe
vom 27. Dezember 1882 schreibt er an Rohde: „Eine Kapitalfrage wäre, ihm
einen Amanuensis zu schaffen, der ihm wieder tägliche Arbeit gestattete ser-
möglichtej; die Sache hat aber hundertfache Schwierigkeiten. Zudem braucht
er aber jetzt nichts mehr als freundschaftlichen Zuspruch und menschliche Teil¬
nahme." Overbeck war damals der einzige, der über den Aufenthalt des
Menschenscheuen, den innere Unruhe von einem Ort zum andern jagte, immer
unterrichtet war. Seine genaue Adresse, schreibt Overbeck an Rohde, dürfe er
ihm nicht mitteilen, weil er auf das strengste verpflichtet worden sei, sie geheim
zu halten. Einige Sätze aus dem, was Overbeck über ihre beiderseitige Freund¬
schaft aufgezeichnet hat!
„Wir sind zwei Gelehrtennaturen, die über sich hinaus wollen; nur so vermag
ich mir unsre innige Freundschaft zu erklären bei so enormer Ungleichheit ^er schreibt
Ungleichmäßigkeit, wie er denn überhaupt des Deutschen niemals vollkommen mächtig
geworden zu sein scheint^ — wobei ich mir über mein Zurückstehn gar keine Illusion
mache — und ebenso großem Unterschiede des Temperaments. Auch ist die Freund¬
schaft für keinen von beiden Teilen leicht geworden und doch für beide früh da
gewesen und durch viele Jahre beständig geblieben. Was jenes in gewissem Sinne
mühsame Entstehen betrifft, so weiß ich natürlich, wie viel ich an Nietzsches ganzem
Gebaren recht eigentlich zu überwinden hatte, und ebenso, wie leicht es doch schließlich
stets damit gegangen ist, sodaß die Empfindungen verletzenden Kontrastes und
innerster Anziehung fast immer nahezu simultan gewesen sind und jene Momente
der entfremdenden Kontrastempfindung bei mir stets so flüchtig waren, daß Freund¬
schaft der grundbaßartig sich behauptende Ton unsers Verhältnisses blieb. Auch ist
es meinerseits ein einzigesmcil dazu gekommen, daß ich gegen Nietzsche meine Stimme
erhob und ihm Mißvergnügen bekannte. Sonst gebe ich nur auf das schlichteste
meine Erfahrung wieder, wenn ich sage, daß unsre Freundschaft stets schattenlos
blieb. Mit dieser meiner Erfahrung glaube ich aber in der Hauptsache auch die
Nietzsches wiedergegeben zu haben---- Meine Freundschaft mit Nietzsche hat mit
der Zeit, ohne mein Zutun und gewissermaßen von selbst, den größten Nutzen aus
ihrer Verborgenheit gezogen. Ich bin im Verkehr mit Nietzsche schon sehr früh sein
aufrichtiger und leidenschaftlicher Freund, meinetwegen selbst Bewunderer geworden,
freilich niemals, so wenig wie sonst einer seiner Freunde, sein Adept. Auch bin ich
nie in die Lage gekommen, ihn vor irgend jemandem als meinen Freund zu ver¬
leugnen. Daß ich ihm innig befreundet war, das wußte von den mir Nahestehenden
jedermann. Aber wer bei meinen Lebzeiten und meinetwegen nichts davon gewußt
hat, ist das Publikum. Und auch schon darum — abgesehen noch von aller Ge¬
lassenheit meines Temperaments — konnte es mir gleichgiltig sein, als Nietzsche später
gegen seine Freunde mit solcher Maßlosigkeit öffentlich losznziehn begann, keinen von
uns nennend, doch mich jedenfalls nicht ausnehmend. Das brauchte mich nicht an-
zugehn, denn es zerstörte im Publikum nur etwas, was ohnehin für mich in diesem
gar nicht existierte. Ich ließ mir seine öffentliche Kritik unsrer Freundschaft bis
zuletzt gefallen. War diese doch überdies insofern materiell ganz begründet, als sie
mein mangelndes Adeptentum anklagte. Davon mochte das Publikum meinetwegen
hören, vom Rest meines persönlichen Verhältnisses zu Nietzsche wußte es bisher
überhaupt nichts, was ich als etwas Bestehendes vor ihm zu verteidigen gehabt
hätte. Meine Freundschaft mit Nietzsche! Ich weiß keine andre Beziehung für unser
Verhältnis und würde mich für verrückt halten, wenn ich dabei durch den Gedanken
an die Beziehung zwischen Meister und Schüler nur im entferntesten beirrt würde."
Sei er doch sieben Jahre älter gewesen als Nietzsche. Aber sie hätten bald ein
Zutrauen zueinander gefaßt, „das uns gegen alles, was uns noch die Zukunft
aneinander erleben ließ, sicherstellte. Dieses noch zu Erlebende war mit Rücksicht
auf mich für Nietzsche ungleich weniger als bei mir, nicht nur weil ich schon des
Alters wegen der Fertigere war, sondern auch weil der Ehrgeiz bis zum Defekt
bei mir mangelte, der in Nietzsche brannte, und dieser letzte Unterschied mag am
Ende das Schlimmste gewesen sein, was Nietzsche an mir als etwas für ihn zu
Überwindendes empfunden haben mag. Andrerseits hat es ihm der bezeichnete
Defekt wohl am leichtesten gemacht, jenes schon erwähnte Zutrauen zu mir ohne
für uns bedenklichen Verzug zu fassen. Mit mir, der ich neben ihm stets nur eine
sehr still aufwachsende Pflanze blieb, ist Nietzsche nie in die Lage gekommen, sich
im Besitz meiner Person durch irgendwelche Öffentlichkeit beschränkt zu fühlen. Nur
ich erlebte es, mich in den stillen Besitz seiner Person, dessen ich mich in den ersten
Jahren unsers Verkehrs erfreute, mit der Öffentlichkeit gewissermaßen teilen zu müssen,
als er zu eigentlichem und zwar, so langsam er ihm selbst zu schreiben schien, doch
frühem Ruhm gelangte."
Ausführlich spricht sich Overbeck über Nietzsches Atheismus aus. Nietzsche
habe gesagt: Gott ist tot, und das sei etwas andres als: Gott ist nicht. Das
zweite habe er nie gesagt. Kein vernünftiger Mensch sage das. Nietzsche habe
nur gemeint: wie immer es um Gottes Dasein stehn mag, es geht uns nichts
an. Wenn Nietzsche seine entschiedne Lossagung von der Religion als ein
Zerreißen von Ketten dargestellt habe, so sei das nur Einbildung gewesen.
»Ernstlich religiös ist er so wenig wie ich jemals gewesen, nur daß sich bei
mir der Konflikt mit der Religion, meinem ganzen, ungleich gelasseneren, meinet¬
wegen indolentern Temperament gemäß, weit ruhiger, meinetwegen uninteressanter
abgespielt hat." Es sei zwar Übertreibung, wenn Nietzsche in seiner letzten Zeit
schreibt: „Ich bin nicht eine Stunde meines Lebens Christ gewesen; ich betrachte
alles, was ich als Christentum gesehen habe, als eine verächtliche Zweideutig¬
keit des Wortes usw." So sei er sich in der letzten Periode seiner Auseinander¬
setzung mit dem Christentum erschienen; er rede darum auch hier subjektiv
durchaus wahr. Aber wenn er auch nie ein ernster Christ gewesen ist, ein
entschiedner Unchrist sei er doch erst nach und nach geworden. „Nietzsche hat
darum mit der Religion nichts zu tun, weil er mit der Kultur so viel zu tun
hat, die der viel weitere, die Religion als eine der menschlichen Kulturmüchte
in sich schließende Begriff ist. Nietzsche sieht bei seinem aufs Ganze der Kultur
gerichteten Blick auf das einzelne darin nicht, und eben darum auch auf die
Religion nicht, mag er scheinbar noch so viel sich mit ihr zu tun machen, von
ihr reden. Sie ist ihm an sich Nebensache, vollständig Nebensache und ist als
solche besonders hervorragend unter den vielen Einzelbegriffen der großen
Begriffskreise in der Welt, groß oder klein, nicht um Nietzsches willen, sondern
lediglich nach einer Schätzung, zu der man den Maßstab sonst woher, nicht von
Nietzsche, entnimmt. fUnklarlj Die Religion an und für sich übersieht Nietzsche,
sie geht ihn gar nichts an. Gerade weil Nietzsche, wie er schon oft genannt
worden ist, Kulturreformator ist (wie etwa Rousseau), ist er nur in so uneigent¬
lichen Sinne Religionsreformator. sJn gar keinem Sinne; auch die Kultur
hat er doch nur kritisiert, nicht reformiert.^ Die Kultur erkennt Nietzsche im Ringen
mit dem Nihilismus als ein Seiendes noch an, ganz und gar nicht die Religion,
zu deren Vernichtung half deren Vernichter!j er sich ausdrücklich bekennt."
Ergänzen wir diese Betrachtung noch mit der Bemerkung Bernoullis: „Von
sich aus hätte sich Nietzsche weder für noch wider die Religion in Kämpfe ver¬
strickt. Erst als er bei den andern die Religion als eine Hemmung für die ihm
wichtigen Botschaften vorfand, begann er in ihr etwas zu sehen, das ihm ein
Leid amene." Also weil er sich einbildete, die Religion sei es, die dem Eingang
seiner Predigt in die Herzen im Wege stehe (Einbildung war es jedenfalls,
denn unter den Personen, mit denen er verkehrte, wird es nicht viel gläubige
Christen gegeben haben), wurde er ein wütender Feind des ihm an sich gleich-
giltigen Christentums! Wenn Overbeck die Gleichgiltigkeit aus dem starken
Kulturinteresse Nietzsches ableitet, so hat er damit vollkommen recht. Statt
Kulturinteresse kann man auch Weltgeist im edeln Sinne des Wortes sagen.
Die Zahl der wahren und echten Christen, der Menschen, deren Herz ausgefüllt
ist mit dem Interesse für das Ewige, die Gott und nicht die Welt lieben, ist
eben zu alle» Zeiten sehr klein gewesen und wird immer sehr klein bleiben,
wie es Christus ausdrücklich vorausgesagt hat. Die Masse der sogenannten
Christen besteht aus Weltkindern. Aber man braucht als Weltkind noch kein
Unchrist oder gar ein entschiedner Feind des Christentums zu sein. Man kann
dessen providentielle Bestimmung, ja seine Göttlichkeit anerkennen und für
seine wohltätigen Wirkungen dankbar sein, und wenn man gewisse Schranken
respektiert, die Christus dem Denken, Wollen und Handeln gezogen hat, so ist
mau, wie ich es zu nennen pflege, ein Christ im weitern oder im weitesten
Sinne. Solche Christen sind auch Nietzsche und Overbeck gewesen, denn ihr
Leben, ihre Gesinnung ist von keinem unchristliche» Makel befleckt worden, und
wenn sich nnn Nietzsche durch eine leere Einbildung in leidenschaftliche Feind¬
schaft gegen das Christentum hat hineintreiben lassen, so liegt mich darin, wie
in seinem ganzen Leben, eine erschütternde Tragik. Er gehörte nämlich zu den
Menschen, die das Christentum brauchen. Ein Overbeck kann ganz gut ohne
Gott und Christus fertig werden. Drei Menschenklassen brauche» die Religion,
und Nietzsche gehörte allen dreien an. Erstens die Unglücklichen, und Nietzsche
war unglücklich: litt schwer an Leib und Seele. Zweitens die Leidenschaftlichen,
sich im Gleichgewicht zu erhalten, und Nietzsche brannte von Leidenschaft und
wurde von seiner Exzentrizität beständig aus dem Gleise geschleudert. Drittens
die Denker, die aufs Ganze gehn, denn diese bedürfen einer Zentralidce, wenn
sie der Wirrwarr der Erscheinungen, die sie zu umfassen, zu verbinden, zu ordnen
streben, nicht verrückt macheu soll. Wer sich in eine Spezialität versenkt und
darin sein Genüge findet, um all das, was sonst in der Welt vorgeht, sich
nicht kümmert, der bedarf, für sein Denken und Forschen wenigstens, keines
Gottes. Es war darum ein richtiger Gedanke, daß Rohde meinte, wenn sich
Nietzsche nur mit anhaltender Arbeit den Griechen zuwenden wollte, so könne
er vielleicht noch einmal gesund werden. Freilich nur ein halb wahrer Gedanke,
denn Nietzsche gehörte eben doch nicht zu den Naturen, die sich an eine
Spezialität zu binden vermögen. Er war der uuiversellste Mensch, der sich
denken läßt. Kein Ton konnte im Universum erklingen, der nicht eine Saite
seiner Seele zum Mitschwingen genötigt hätte. Diese Nesonanzfühigkeit habe
ihn bis zum Verbluten geschwächt, meint Bernoulli. Hat ihn zerrissen, wäre
ein passenderes Bild gewesen. Hütte er durch eine Zentralidee Harmonie in
den Reichtum seines Innern gebracht, so wäre er vorm Zerrissenwerden bewahrt
geblieben. (Unmittelbar darauf, was hier nebenbei noch angemerkt werden mag,
analysiert Bernoulli Nietzsches Psyche und schreibt daun: „Ein großer Mann
ist weder sentimental noch geistreich. Da Nietzsche beides in hohem Grade ist,
gilt es, die Fragmente seiner Größe aus den Trümmern des Zusammenbruchs
zu rette».") Nietzsche scheint gefühlt zu haben, wie notwendig ihm ein religiöser
Glaube war, und vielleicht ist es dieses gewesen, was ihn, weil es sein über¬
spanntes Selbstgefühl verletzen mußte, in solche Wut versetzt hat. Frau Overbeck,
eine Gesinnungsgenossin ihres Gatten, sagte Nietzsche einmal, die christliche
Religion könne ihr keinen Trost geben. „Ich wagte es auszusprechen: der
Gottesgedanke habe zu wenig realen Inhalt für mich. Er erwiderte gerührt:
»Das sagen Sie nur, um mir beizuspringen; geben Sie diesen Gedanken nie'
ans! Sie haben ihn sich selber unbewußt; denn so, wie Sie sind, und ich Sie
stets, auch jetzt wiederfinde, beherrscht ein großer Gedanke Ihr Leben. Dieser
Gedanke ist der Gottesgedanke.« Er schluckte mühevoll. Seine Züge waren
ganz aufgewühlt, um darauf steinerne Ruhe anzunehmen. »Ich habe ihn auf¬
gegeben; ich will Neues schaffen, ich will und darf nicht zurück. Ich werde
an meinen Leidenschaften zugrunde gehn; sie werfen mich hin und her; ich
falle fortwährend auseinander, aber es liegt mir nichts daran.«" Mit diesen
Worten hat Nietzsche eine sehr genaue und anschauliche Diagnose seines Zustandes
gegeben und zugleich das bezeichnet, was ihm fehlt: das Zusammenhaltende,
Gott. Die modernen Nervenärzte behaupten, verschrobnes Denken mache nicht
wahnsinnig; niemand werde geisteskrank, der nicht mit dem leiblichen Keim einer
Gehirnkrankheit auf die Welt gekommen sei. Vielleicht haben sie recht; vielleicht
ist alles abnorme Denken und Fühlen Symptom einer angebornen Gehirn-
krankheit. Aber würde ein Nervenarzt es wagen, seinem Sohne einen ver¬
schrobnen Kopf, der über bedeutendes Wissen verfügt, zum Erzieher zu geben
mit der Begründung: Meinem Jungen schadet das nichts, er hat ein gesundes
Gehirn? Jedenfalls scheint mir ein Mensch, der von sich gesteht, daß er seelisch
zerfalle, schon geisteskrank zu sein, wenn er es auch vielleicht uoch nicht im Sinne
der medizinischen Wissenschaft ist. Overbeck und Bernoulli gebrauchen viele
Wendungen, die ungefähr dieselbe Ansicht verraten. Freilich meint der zweite,
gerade Nietzsches Art zu denken sei eben sein Beruf gewesen. „Handeln wollen
und dabei noch suchen müssen, das ist Nietzsches Schicksal, darin liegt, wie sein
Untergang, so auch sein Aufgang beschlossen. Hätte er aufgehört zu suchen, er
hätte sich um sein bestes Teil gebracht. . .. Groß werden, mächtig werden
wollen half Philosoph^ hieße doch den Spuren der Vorgänger folgen, gleich
Schopenhauer und Kant und all den frühern sich nun auf den weltumspannenden
Ausdruck konzentrieren, sich hinsetzen und sich auf einen Plan festlegen, dann
Band um Band schreiben, die alle unter sich in ergänzender Beziehung zu stehn
hatten gleich Gliedern an einem lebendigen Leibe. Aber Nietzsche spürte: so
Philosoph zu sein, das vermochte er nicht; die volle Menschenwelt gleichmäßig,
harmonisch unverzerrt in seinem Jndividualspiegel auffangen, das konnte er
nicht. Und doch wollte er groß sein! Die Ausflucht, zu der er sich nun ent¬
schloß, war höchst verwegner, ja geradezu verzweifelter Natur. Nietzsche folgerte
uicht: ich kann es nicht, ich will es aber können, wo ein Wille ist, ist ein Weg.
Vielmehr folgerte er: ich kann es nicht, also will ich es nicht — und doch
wollte er hinauf und in die Größe empor. Den bis jetzt einzig als gangbar
bekannten Weg verschmähte er. Es blieb ihm also nur übrig, entweder klein
zu bleiben — das Unerträgliche! — oder ans eine ganz neue, von ihm zu
entdeckende Art groß zu werden — das Unerhörte! So entschloß er sich zu
dieser titanentrotzigen Vermessenheit, und es ist klar, daß man von da an nun
alles von ihm erwarten kann, nur nicht Planmäßigkeit, Harmonie, Ausruhen.
Der Krampf, die Zuckung, der gewaltsam übersteigerte Stoß — das allein
waren die Daseinsformen, in denen ein Leben sich noch abwickeln konnte wie
das eines war, das auf sich zu nehmen er sich entschlossen hatte." Kann Krampf
als ein Symptom von Gesundheit gelten? Als Übergang zur Krankheit scheint
Bernoulli diesen Zustand aufzufassen, wenn er schreibt: „Jetzt, hinterher wissen
wir um seinen Wahnsinn in seiner letzten Lebensdekade. Das verpflichtet uns
vor allem festzustellen, daß in den uns hier beschäftigenden zehn Jahren, in
denen sich sein Schicksal erfüllte, der Wahn an seinem Leben noch keinen aus¬
schlaggebenden Teil hatte, daß vielmehr diesem Leben in eminenter Weise ein
Sinn innewohnte." Demnach würde alles, was er nach dem Zarathustra noch
geschrieben hat, unter dem Einflüsse des Wahnsinns geschaffen sein. Und Overbeck
meint, Nietzsches Optimismus sei der eines Desperato gewesen. So ists. Er
war unglücklich und wollte sich mit Gewalt einreden, er sei glücklich. Die Welt
und das Leben waren ihm, wofür ja Overbeck genug Worte Nietzsches anführen
konnte, ein großer Ekel, und in solcher Stimmung zwang er sich, als Herold
der Lebensbejahung aufzutreten. Es war eben seine providentielle Bestimmung,
zu zeigen, daß gerade ein Mensch von tiefem und reichem Geiste ohne Gott
nicht glücklich werden kann (Goethe hat sich wohl in Italien einen alten Heiden
genannt aber niemals Gott geleugnet oder ohne Gott auskommen zu können
sich eingebildet), und daß er sich selbst belügt, wenn er das Leben zu lieben
behauptet. Sehr gut schreibt Overbeck: „Die Neukultivierung der Menschheit,
die er unternommen, ist nur unter dem Zeichen der Desperation zu entnehmen
szu verstehen?j; das beweist Nietzsche nicht am wenigsten eindringlich mit dem
Einfall, sich mit dem Übermenschen zu identifizieren, und der praktischen Durch¬
führung, die er ihm in seinem Leben gegeben hat. Er ist damit genau so weit
gekommen wie die moderne Theologie mit ihrer Apologie des Christentums,
nämlich den Beweis für ihre Theorie nur von der Zukunft zu erwarten, dn
man ihn mit seiner eignen Gegenwart nicht liefern kann. Die desperateste
Absurdität, die sich musterten läßt."
Vortrefflich ist auch die folgende Betrachtung: „Nietzsche war kein im eigent¬
lichen Sinne großer Mensch. Kein einziges seiner Talente, so reich begabt er
war, sicherte ihm an sich die Größe. (Es sei denn das ungewöhnlichste dieser
Talente, die Gabe der Seclencumlyse, die ihm denn auch selbst, da er sie vor¬
nehmlich an sich übte, so tödlich gefährlich wurde und ihn entseelte, lange ehe
er starb.) Selbst die Willensstärke war bei ihm nicht zu den exzessiven Dimen¬
sionen entwickelt, die das Grunderfordernis natürlicher menschlicher Größe ist.
Denn sich selbst zu behaupten und durchzusetzen, war ihm keineswegs überall
leicht, und er hat vielleicht jnicht vielleicht, sondern ganz gewißj den Willen zur
Macht mit solcher Beredsamkeit zum Ideal entwickelt, wie es nur einem
möglich war, dem dieses Ideal so sehr als solches vorschwebte und in ihm
selbst nicht eigentlich Fleisch geworden war." Kurz und deutlich ausgedrückt:
er liebte die Macht und feierte den Willen zur Macht deswegen so leiden¬
schaftlich, weil er seine eigne Ohnmacht so schmerzlich empfand. Interessant
ist Overbecks Bekenntnis, sein Glaube an Nietzsches „Echtheit" sei bei mehrern
Gelegenheiten auf harte Proben gestellt worden. Er hat sie jedoch bestanden.
Nicht ganz im Einklang mit dem oben angeführten schreibt er: „Dennoch und
alledem zum Trotz, so sehr es mir Bedenken neben anderm auch darüber zurück¬
gelassen hat, ob Nietzsche wirklich ein großer Mensch sein mag: was ich am
allerwenigsten bezweifeln kann, ist die Echtheit des Menschentums, das er dar¬
stellte. Er war alles eher als ein Schauspieler, so sehr es bisweilen danach
ausgesehen hat; und was in ihm sich dargestellt hat, ist vor allem erlebt worden.
Nietzsche hat sich allerdings sehr theatralisch entwickelt. Mit sich selbst spielend,
hat er sozusagen eine Kulisse nach der andern aus seinem Dekorationsmagazin
hervorgezogen, bis das ganze Schaustück dastand." Das habe es ihm schwer
gemacht, an Nietzsche nicht irre zu werden, aber den bedenklichen Erfahrungen
seien immer wieder erfreuliche gefolgt, und so habe er sich denn vor dem großen
Phänomen Nietzsche „gebeugt. Ich sage absichtlich gebeugt, denn mich über ihn
zu erheben, gerade diese Abgeschmacktheit hat mir stets unendlich fern gelegen,
nur daß ich sie nun auch als Abgeschmacktheit besser verstehe. Es Hütte mein
Verhältnis zu Nietzsche heillos verwickelt und mich selbst nur in heillose Ver¬
wirrung gestürzt, wenn ich ihr jemals erlegen wäre. Gerade in diesem Stück
waren aber Nietzsche und ich Antipoden: er hat bis zum Extravagcmtcn ans
sich gehalten, ich habe es mit mir stets entgegengesetzt getan, und eben damit
denke ich am allerwenigsten mich moralisch über ihn zu erheben. Ich glaube
hier nur der glücklichere Mensch gewesen zu sein, gewiß aber nicht der bessere
oder höhere." Darin ist ja nun, wie in vielem andern, der Heide Overbeck bloß
ein guter Christ, aber die christliche Bescheidenheit verbietet dem Vernünftigen
nicht, sich einem halb verrückten Genie eben im vernünftigen Denken und Handeln
überlegen zu fühlen; doch Hütte Overbeck, das ist ohne Zweifel der Sinn dieser
ganzen Auseinandersetzung, das Gefühl solcher Überlegenheit einmal merken
lassen, so würde Nietzsche auch mit ihm gebrochen haben. War Nietzsche mit
all seinem Schauspielern nach des Freundes Urteil doch eigentlich kein Schau¬
spieler, so war er wenigstens affektiert. „Nietzsches Vornehmheit wird oft an
ihm besonders gerühmt, und ich denke gewiß nicht daran, ihm diese Eigenschaft
abzusprechen. Dennoch bekenne ich als sein Freund und aus meinen Freund-
schaftseindrücken unbedenklich, daß neben ihr die Affektation des Vornehmen
eine der schwächsten, bedenklichsten Eigentümlichkeiten war." Nietzsches tragischer
Ausgang, das wollen wir aus Overbecks langen Erörterungen noch hervor¬
heben, sei kein Argument gegen seine geniale Begabung (natürlich nicht, gerade
das Genie gestaltet ja sehr leicht das Leben des damit Begabten tragisch), wenn
anch vielleicht für die Schranken dieser Begabung. „Nietzsche war ein Genie,
aber das Genie lag in seiner Begabung als Kritiker. Und dieser genialen
kritischen Begabung hat er die gefährlichste Anwendung gegeben, nämlich auf
sich, und damit in wahrhaft letaler Weise gegen sich." Was das Schicksal
seiner Schriften angehe, so sei an deren Mißerfolg in den relativ gesunden
Tagen des Verfassers außer ihrem eigentümlichen Charakter auch eine fabel¬
hafte Ungunst der Umstände schuld gewesen.
Overbecks Gattin, deren wir oben gedachten, hat nicht bloß oberflächlich
mit Nietzsche verkehrt, sondern ihm sehr nahe gestanden. Sie hat sich, darin
mit dem Gatten wetteifernd, alle erdenkliche Mühe gegeben, dem vielfach
leidenden sein Los zu erleichtern, namentlich dadurch, daß sie Übersetzungen
aus dem Französischen für ihn anfertigte. Denn Nietzsche beherrschte zwar die
alten Sprachen und konnte einen Brief in elegantem Latein schreiben, aber in
den neuern hatte er es nicht einmal so weit gebracht, daß er ein französisches
Buch ohne häufiges Nachschlagen im Lexikon hätte lesen können. Bernoulli
sieht darin einen Beweis für seine Genialität: Talent für lebende Sprachen
hätten vorzugsweise Kinder und Oberkellner. Eine dieser Übersetzungen (Stücke
aus Sainte-Beuve) ist anonym als Buch erschienen. Frau Overbeck hatte ihn
schon vor der Verheiratung, die sie in nähere Berührung mit ihm brachte,
kennen gelernt; damals war er ihr schulmeisterlich vorgekommen, dann wunderte
sie sich, ihn als Genie wiederzufinden. Aus ihren Aufzeichnungen mag noch
das folgende Persönliche mitgeteilt werden.
Nietzsche sah schlecht und erkannte knien jemand auf der Straße. So sah ich
ihn denn ^nurj das eine oder das andre mal wirklich kühn einherschreiten, sicherlich
nicht von kleinen Gedanken erfüllt. Der dauernde Verkehr erstreckte sich über die
Jahre 1876 bis 1879. Später, 1880 bis 1888, wohnte er mehrmals bei uns.
Leider durfte ich meine hausfraulichen Talente nur wenig vor ihm ausbreiten. Er
aß lieber für sich. War er auch stundenlang bei uns, so mochte er nichts genießen
als leichten Tee mit ein paar englischen Ccckes. Da saß er denn auf der Chaise¬
longue in meines Manns Stube oder auf einem gewissen Sessel in der Wohnstube,
mit dem Rücken auf den weißen Ofen zu, den Blick nach meinem ihm gegenüber¬
sitzenden Manne und auf dunkle Vorhänge zu gerichtet. Er selbst sprach leise, mit
wenig Gesten, so sprachen auch wir, allen Lärm innerhalb und außerhalb der Türen
vermeidend. Später, wenn er bei uus wohnte, befand er sich oft schlecht. Mußte
er zu Bett bleiben, so durften kräftige Brühen bereitet werden. Ging es aber gut,
so saßen wir fröhlich miteinander bei Tische, und es durfte ein gutes Gericht geben.
Auch an kleinen Wanderungen »ahn ich teil, hinaus nach demi Neubad oder zum
Heinrichsgarten an der Binningerstraße, wo Nietzsche höchst bescheiden eiiupiartiert
War ser scheint also nicht immer, wenn er Basel besuchte, bei Overbecks gewohnt
zu Habens und mit den einfachen Leuten im Hause gute Nachbarschaft hielt. In
den zwei kleinen Stuben hat er dann freilich so viel gelitten, daß es uns angst
und bange um ihn ward. So vertrauensvoll Nietzsche war, seinen kleinen Konfitüreu-
schrcmk schloß er doch immer ab; der Gedanke, es könnten ihm da gelegentlich vor-
hcmdne schmutzige Kinderhändchen oder größere darüber geraten, war ihm peinlich.
Wenn er unsern Tee lobte und trank, gedachte er auch oft der schönen frischen
Eier, die ihm der Heiurichsgarten lieferte. Nietzsche konnte in einer Weise dankbar
rühmen, daß einem das Herz weich wurde.
Nietzsches Denkarbeit hat die Frau sehr aufmerksam verfolgt und viel
Interessantes darüber aufgezeichnet. Unter anderen meint sie, nichts verwirre
bei Nietzsche so sehr wie sein Zwiespalt in Beziehung auf Historie und Leben.
Bald hebe er Realität und Leben auf den Schild und verwerfe die Historie,
bald fordere er historischen Sinn, und schließlich „verurteilt und erstickt dieser
lebensfreudigste aller Denker eben doch das Leben". Bernoullis Buch ist ein
Beitrag zur Kenntnis der bedeutenden und in der Geistesgeschichte des neun¬
zehnten Jahrhunderts Epoche machenden Persönlichkeit Nietzsches, der, zusammen
mit den hinterlassenen Werken des Dichterphilosophen, ein abschließendes Urteil
! el den großen Seehäfen ist es ausgesprochnermaszen der Handel,
der ihre Bedeutung bestimmt. Deu Glanz und den Einfluß, den
sie besitzen, hat ihnen der Warenaustausch vom Festlande über
das Meer verschafft, ihr Reichtum stammt aus dem Ozean. Wohl
Imag die Jndustie in vielen Fällen dem Handel zur Seite stehn,
der Schiffsbau beschäftigt einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung von Danzig
und Kiel, allerlei Industrien haben in Hamburg und Bremen festen Fuß gefaßt,
aber das Primäre war der Handel, und erst der Handel hat die Industrie
wachgerufen und großgezogen. Anders ist es mit den Städten des Binnen¬
landes. Sie sind herausgewachsen aus ihrer Umgebung und sind Produkte
ihrer Landschaft. Die Großindustrie kann nur fruchtbringend wirken, wenn die
von ihr erzeugten Waren durch deu Handel hinausgetragen werden in fremde
Länder, wo der Bedarf nach ihnen groß ist. Und der Handel wieder ist eng
verquickt mit dem Verkehr, er bedarf der Verkehrsmittel und wird nur dort
kräftig anwachsen können, wo sich leicht gangbare Straßen finden, die nach
vielen Richtungen hinausführen. Der Verkehr allein aber vermag heute einer
Stadt nicht mehr die Bedeutung zu verschaffen, die er ihr früher gab. Denn
heute jagt der Eisenbahn- und Binnenschiffahrtsverkehr ohne Aufenthalt durch,
und nur, wo sich ein Umschlag nötig macht vom Schiff auf die Bahn oder
umgekehrt, wächst die Stadt wesentlich durch den Verkehr an.
Wir dürfen uicht vergessen: in alten Zeiten gab der Besitz einer großen
wichtigen Brücke einer Stadt wie Ingolstadt oder wie Regensburg, Magde¬
burg und vielen andern an sich schon eine große Bedeutung. Heute sind
unter den vielen Brückenstädten, die am Rhein liegen, die zu besondrer Blüte
herangewachsen, die inmitten eines gewaltigen Jndustriebezirks liegen: Köln
und Düsseldorf. Wie viele andre sind sie an sich durch ihre Lage am Strom
schon begünstigt, die politische und die wirtschaftliche Entwicklung hat sie ins¬
besondre vor den andern zur höchsten Blüte aufsteigen lassen. Kreuz, Stendal,
Ülzen, Corbetha, Vebra, Regensburg sind Beispiele von Städten, in denen
sich wichtige Verkehrslinien kreuzen, deren Bevölkerungszahl aber und deren
weltwirtschaftliche Bedeutung gering geblieben ist. Sogar Regensburg, das
einst die reichste und mächtigste Stadt Süddeutschlands war, zählte 1905 nur
48412 Einwohner. Dafür ist Mannheim herangewachsen, weil hier die große
Rheinschiffahrt ihr Ende erreichte und die im Schiffsverkehr heraufbeförderten
Waren verteilt werden über das ganze bübische und württembergische Land.
Wenn durch die schou in Angriff genommne Regulierung des Rheins dieser
Strom bis nach Straßburg dem Großverkehr zugänglich gemacht sein wird,
wird Mannheim von seiner individuellen Vormachtstellung für den Handel
zurücktreten, aber es hat inzwischen schon eine so rege Industrie in seinen
Mauern ausgebildet und sich so viel Beziehungen nach dem östlichen und süd¬
östlichen Hinterkante gesichert, daß Karlsruhe, Rastatt, Straßburg seine ruhige,
stetige Weiterentwicklung nicht wesentlich mehr hemmen können. Und bezeichnend
ist es, daß das gegenüberliegende Ludwigshafen trotz der gleichen günstigen
Lage am Rhein weit hinter Mannheim zurückgeblieben ist, weil es zu der
abgelegnen bayrischen Pfalz gehörend nicht die gleichen Vorteile der Be¬
ziehungen über Land genießen konnte. In ähnlicher Weise sehen wir, wie
an der Donau selbst die Städte durchweg klein geblieben sind, während
München, Nürnberg und Stuttgart zu den Hauptmürkten Süddeutschlands
heranwuchsen. Sie sind wohl für Handel und Verkehr begünstigt, aber nicht
mehr als viele andre Orte; das, was ihre Macht steigerte, war teils eine
künstliche Zentralisiern»«, des Handels in den Residenzstädten, teils der rege
Handels- und gewerbtütige Geist ihrer Bewohner.
So ist es schwer, die Binnenstädte streng nach natürliche» Lebens¬
bedingungen zu rubrizieren. Einige: Chemnitz, Planen, Essen, Bochum,
Gelsenkirchen, Elberfeld, Barmeu, Dortmund, Duisburg, Krefeld, Aachen,
sind ausgesprochen Industriestädte; sie können hier zunächst ausgeschaltet und
für eine spätere Behandlung aufgespart werden. Andre: Frankfurt am Mai»
und Halle, sind wesentlich Handelsstädte, aber zum Beispiel in Leipzig sind
Handel und Industrie aufs engste miteinander verquickt, und häufig tritt dazu
noch das Element der künstlichen Zentralisierung der Residenzstadt: Dresden,
München, Karlsruhe, Straßburg, Posen u. a. Die deutschen Binnenstädte
haben alle ihre besondre Geschichte und sind durch mannigfache Wechselfälle
zu dem herangewachsen, was sie heute sind.
In alten Zeiten war der Rhein die Mittellinie des fränkischen Reiches,
an der sich Ost und West berührten, und damals war das Rheingebiet die
Zone, wo die großen Handelsemporien aufblühte«, die das ostrheinische Land
mit Galliens Kulturschützen bekannt machten. Heute ist die Elbe mit ihren
Nebenflüssen die eigentliche Mittellinie, und hier zwischen Elbe und Oder, im
Süden mehr westlich von der Elbe haben wir heute das Land, das zwischen dem
mehr nach Osteuropa zuneigenden Osten und dem atlantischen Westen ver¬
mittelt. Im Süden war in alter Zeit schon die bahrische Hochebene ein
Kulturgebiet für sich, das um die Alpen herum und über sie hinweg im engen
Zusammenhang mit dem Mittelländischen Meere stand und im Norden durch
die Donaulinie an Germanien angrenzte. Nach Osten offen durch das Wiener
Becken und die Ungarische Tiefebene, nach Westen durch die Schweiz und die
Burgundische Pforte ist Oberbayern zugleich eine wichtige westöstliche Ver¬
bindungsstraße. So finden wir aus der historischen Entwicklung heraus fünf
verschiedne, auch in ihrem landschaftlichen Charakter ungleiche Gebiete: 1. die
Rheinlinie, 2. das Elbe-Oberland, 3. das Land südlich von der Donau, 4. das
Zwischenland zwischen Rhein, Elbe und Donau, 5. das östliche Deutschland.
Längs der Rheinlinie liegen außer den rheinisch-westfälischen Industrie¬
städten
Im Elbe-Oberland beiden wir:
Das Land südlich von der Donau hat:
Zwischen Rhein, Elbe und Donau liegendie Städte:
Endlich habenwir imOsten zunennen:
Der Tmilnis und der Hunsrück zerlegen das Rheingebiet in zwei von¬
einander gänzlich verschiedne Teile: die durch ihre außerordentliche Fruchtbar¬
keit ausgezeichnete oberrheinische Tiefebene und die hochindnstrielle nieder¬
rheinische Tieflandbucht. Ju der ersten hat sich an alter Kulturstätte der
Zeutralpnnkt Straßburg entwickelt, in der letzten ebenfalls als Nachkomme
altrömischer Siedlung Köln und daneben durch den enormen Nmschlagverkehr
ans dem Rnhrkohlengebiet Düsseldorf und Duisburg-Ruhrort. Bezeichnend
für den verschiednen Charakter dieser zwei Landschaften ist es, daß Köln
seit 1885 prozentnell mehr als dreimal so rasch gewachsen ist als Straßburg.
Bezeichnend ist es ferner, daß der Schiffahrtsverkehr des Haupthnfens in der
oberrheinischen Tiefebene, Mannheim — Straßbnrg kommt gegenwärtig noch
kaum in Betracht —, tief unter Duisburg-Nuhrort steht. Es kamen nach
Mannheim vou unten herauf 8294- Schiffe mit zusammen 5943900 Tonnen
Tragfähigkeit, dazu von oben herunter 2539 Schiffe mit zusammen uur
351000 Tonnen Tragfähigkeit, dagegen gingen von Duisburg-Nuhrort ab¬
wärts 10781 Schiffe mit 3607000 Tonnen, aufwärts 6027 Schiffe mit
4681000 Tonnen Tragfähigkeit.
Dort wo sich das in sich ziemlich abgeschlossene oberrheinische Kultur¬
gebiet nach außen öffnet, waren von alters her die Städte wohl begünstigt
für Handel und Verkehr in Waren und Geld. Basel im Süden, Mainz und
Frankfurt am Main im Norden waren in der Zeit des langsamen Waren¬
verkehrs außerordentlich wichtige Handelsplätze, und diese einmal erworbne
Bedeutsamkeit hat nnter dem Einfluß lokalgeschichtlicher und weltgeschichtlicher
Zufälligkeiten den Grund gelegt für die heutige Größe. Heute ist Frankfurt,
in denkbar günstiger Lage an der äußersten Grenze der oberrheinischen Tief¬
ebene gegen Mitteldeutschland, weitaus die größte Stadt dieser Gegend. Früher
freilich war Mainz die erste Stadt, aber ihr Unglück war es, daß sie 1456
ihre Freiheit verlor und im Streit mit den Bischöfen ihre Kraft verbrauchte.
Und noch größer wird Frankfurts Bedeutung werden, wenn einst die Kanal-
Verbindung zwischen Rhein-Main und der Donau besser ausgebaut ist, als
es jetzt der Fall ist. Die 3621 Schiffe, die 1904 bis Frankfurt herauf
kamen, hatten eine Tragfähigkeit von 1383000 Tonnen, d. h. ini Durchschnitt
von 382 Tonnen, die 2506 Schiffe dagegen, die den Main von oben herab-
kamen, nur 176000 Tonnen, d.h. im Durchschnitt je 70 Tonnen. Das
südliche Basel ist in seiner Entwicklung wesentlich beeinflußt durch seine Zu¬
gehörigkeit zur Schweiz. In diesem Lande die am günstigsten gelegne Handels¬
stadt dort, wo die Straßen nach allen Richtungen hin ausstrahlen, würde es
sich gewiß weit glänzender entwickelt haben, wenn die Schweiz — was über
kurz oder lang doch einmal kommen wird — mit Dentschland einen Staat oder
wenigstens Zollverband bildete. Basel hatte 1905 erst 124000 Einwohner.
Das Elbe-Oberland wird zwar nicht durch Gebirgszüge so scharf in zwei
Teile geschieden wie das Rheingebiet, aber hier hat die politische Abgrenzung
zwei getrennte Landesgebiete geschaffen: im Norden die Provinz Brandenburg
mit der alle andern deutschen Städte weit überragenden Reichshauptstadt
Berlin und im Süden das reiche sächsische Industriegebiet, das seine Haupt¬
entwicklung entschieden westlich von der Elbe, zwischen Elbe und Saale zeigt.
Im Norden strahlt alles städtische Leben nach Berlin zusammen. Während aber
einerseits neben dieser Riesenstadt die andern weit zurückbleiben müssen, hat
sie andrerseits auch wieder in ihrer Umgebung gewissermaßen als Pflanzstüdte
aus ihrer überschüssigen Kraft heraus große Ansiedlungen wie Charlottenburg,
Rirdorf, Schöneberg, Spandau (70301), Potsdam (60924) immer mehr
wachsen lassen. Als Randstädte haben im Osten Frankfurt an der Oder, im
Westen Magdeburg heute nur noch verhältnismäßig geringe Bedeutung, da
der Verkehr an ihnen vorbeijagt. Daß Magdeburg immerhin noch einen
guten Fortschritt aufweist, verdankt es sowohl seiner alten geschichtlichen Be¬
deutung als auch der Elbe mit ihrem großen Verkehr, vor allem aber seiner
Lage inmitten des so ungemein fruchtbare» Rübenlandes, dessen Zentral-
stndt es ist.
Ganz andrer Art ist die Bedeutung von Leipzig, Halle, Dresden. Sachsen
als hochindustrielles Land in der Mitte des Reiches liegend, ist immer ein
Gebiet äußerst dichter und lebhaft haudeltreibender Bevölkerung gewesen, und
so hat sich trotz vielfache» Schwierigkeiten, trotz der scharfen Konkurrenz von
Halle und sogar von Berlin Leipzig seine hohe Bedeutung gewahrt. Buch¬
handel und manche Handelszweige (insbesondre Pelzwaren) haben in Leipzig
ihre Hcmptumsatzstütte, und sogar das vielfach bitter empfnndne Fehlen einer
Wasserverbindung mit der Elbe — seit dem Sommer 1907 ist das alte Projekt
eines Kanals nach der Saale wieder aufgenommen worden — haben ihr
Aufblühen nicht aufgehalten. Leipzig hat jetzt mehr als eine halbe Million
Einwohner. Die Vereinigung der großen wissenschaftlichen, künstlerischen und
juristischen Institute mit dem regen Handelsgetriebe und der lebhaften Industrie
geben dieser Großstadt ihren ganz eigenartigen und interessanten Charakter.
Für das westliche Sachsen und für Thüringen ist sie die Zentrale. In gleicher
Lage wie Leipzig und zugleich begünstigt durch die Saale und die Zugehörig¬
keit zu dem größern Preußen hat Halle, das sich in den letzten Jahrzehnten
des neunzehnten Jahrhunderts mächtig emporschwang, in dem Wettkampf hinter
Leipzig weit zurückbleiben müssen.
Dresden genießt mit Leipzig den Vorteil der Zugehörigkeit zu dem
Industrieland Sachsen, ja es hat im Plauenschen Grunde ganz in seiner Nähe
große Bodenschätze, die seiner Entwicklung beträchtlich nachhelfen könnten, es
hat außerdem in der Elbe Anteil an einer sehr wertvollen Verkehrsader, aber
es liegt am Ostrande des am dichtesten bevölkerten Gebiets: die Bevölkerungs¬
dichte in den Gebieten rechts von der Elbe*) war 1900 165, links von der
Elbe 285 (Dresden abgerechnet). Daß es trotzdem an Bevölkerungszahl mit
Leipzig gleichen Schritt halten kann, ja in den letzten fünf Jahren diese Stadt
sogar überflügelt hat, ist ein Zeichen dafür, wie sich hier Nachteile und Vor¬
teile ausgleichen. Der mehr thüringischen Lage Leipzigs setzt Dresden seine
Elbestraße entgegen, der Universität, dem Buchhandel und dem obersten Gericht
seine Residenz.
Auch für München ist die Eigenschaft als Residenz maßgebend; an wenig
Beispielen kann man so gut, wie an München, verfolgen, wie die Wechselfälle
der Geschichte einer an sich günstig gelegnen Stadt vor andern besondre Vor¬
teile gewähren können. Anfangs war die alte römische Grenzstadt Regens-
burg weitaus die wichtigste im Donauland. Im elften und im zwölften Jahr¬
hundert sah sie in ihren Mauern manche Kaiser weilen, und der Donauverkehr
förderte ihren Handel nach Südosteuropa. Aber ähnlich wie Mainz verbrauchte
Regensburg seine Kraft im Kampfe mit den Bischöfen, und zur Zeit des
schwäbischen Städtebundcs war Ulm die Führerin; diese Stadt wurde wieder
ant Ausgange des Mittelalters und am Beginne der Neuzeit von Augsburg
weit überflügelt. Augsburg hatte seine Blütezeit im sechzehnten Jahrhundert,
als das Haus der Fugger mit fabelhaften Reichtümern den Markt beherrschte
und mit seinen ungeheuern Bergwerksbesitzungen in Tirol, Steiermark und
Ungarn immer neue Reichtümer aufhäufte. Den Fuggern vor allen Dingen
verdankte damals Augsburg seinen Namen. In unsrer Zeit wächst es all¬
mählich wieder an und wird bei der nächsten Zählung sicher auch ohne die
Einverleibung der Vororte in die Reihe der Großstädte eingerückt sein. Im
neunzehnten Jahrhundert aber ist München herangewachsen, die Residenz der
Wittelsbacher. Schon im dreizehnten Jahrhundert als Stadt genannt, zeigt
sich ein starkes Aufblühen doch erst nach 1871, nach der Gründung des
Deutschen Reiches; jetzt werden über München alle Hauptlinien des Eisen¬
bahnverkehrs von West nach Ost und von Nord nach Süd geleitet. Die
Stadt, die einmal die erste ist, läßt neben sich eine andre nicht mehr auf¬
kommen.
Das Zwischengebiet, begrenzt im Osten von der Elbe und der Saale, im
Westen vom Rhein, im Norden vom Meer, im Süden von der Donau, ist
ausgezeichnet durch eine außerordentlich starke Zersplitterung des Bodens durch
die mannigfachen Gebirge und Höhenzüge des deutschen Mittelgebirgslandes.
Es ist der Abschnitt Deutschlands, wo ans engem Raum die meisten Klein¬
staaten durcheinander liegen und in frühern Zeiten noch in viel größerer
Zahl lagen. Das ist nicht bloß Zufall und geschichtlich bedingt, sondern
wesentlich begünstigt durch die Bodenverhältnisse. Und diese wiederum sind
äußerlich gekennzeichnet durch die mannigfach nach verschiednen Richtungen
abfließenden Wasseradern, die teils nach Süden zur Donau, teils uach Westen
zum Rhein, teils nach Norden mit Fulda und Werra zur Weser, teils nach
Osten zur Saale strömen.
Entsprechend dieser starken Gliederung des Bodens und dieser politischen
Zersplitterung ist auch die Entwicklung großer Städte nicht begünstigt, lind
so sind im eigentlichen Thüringen Weimar und Eisenach und Gotha klein ge¬
blieben, obgleich ihnen alle jene Vorteile in reichem Maße zufielen, die eine
Residenzstadt vor den andern herausheben. Es sind Residenzen kleiner Staaten,
die nicht in der Lage sind, jene Macht zu verleihen, die aus der Zugehörig¬
keit zum größern Königreiche folgt. Und auch Erfurt, das vielleicht um eine
Kleinigkeit noch günstiger gelegen ist am Südrande des fruchtbaren Thüringer
Beckens als jene, hat es erfahren, wie die Zugehörigkeit zum größern Staat
erst die rechte Blüte zur Entwicklung kommen läßt. Solange es noch kur-
mainzische Stadt war, blieb es klein und ging sogar unter dem Einfluß der
Neligionskämpfe wesentlich zurück. Erst Preußen, dem es am Anfang des
neunzehnten Jahrhunderts zufiel (1802), brachte ihm Freiheit und die Aus¬
dehnungsmöglichkeit. Im Jahre 1874 fielen die Festungswälle, die es bis
dahin einengten, und heute ist es als Hauptstadt eines Regierungsbezirks, als
Zentralort für den thüringischen Gartenbau durchaus die erste Stadt in weitem
Umkreis.
Und dasselbe Bild des kräftigen Aufschwungs unter dein Einfluß des
großen Staates zeigen die übrigen Großstädte des nördlich der Mainlinie ge¬
legnen Zwischenlandcs: Hannover hat Braunschweig, dem es einst nachstchn
nulßte, weit überflügelt, Wiesbaden als preußische Regiernngsstndt hat neben
Frankfurt seine Bevölkerungszahl die 100000 überschreiten sehen und das
großherzoglich hessische Mainz ebenso wie Darmstadt hinter sich gelassen, und
recht in der Mitte des vielgegliederten Landes vereinigt das preußische Kassel
allen Verkehr und Handel in seine Mauern. Und Preußen wirkt auch
weiterhin zugunsten seiner Städte: bis Hannover soll der projektierte Rhcin-
Weserkanal durchgeführt werden, preußische Fürsten und preußische Beamten
und Offiziere a. D. geben dem Badeort Wiesbaden seinen Glanz, hinter dem
das gleichermaßen idyllisch gelegne Baden-Baden weit zurückbleiben muß.
Viel einheitlicher ist die südliche Hülste des besprochnen Landes gebaut:
Bayern und Württemberg teilen sich in die schwäbisch-fränkische Stnfenlnnd-
schaft. Und deshalb sind es auch die zwei Städte Nürnberg und Stuttgart,
in denen sich das große wirtschaftliche Leben konzentriert. Die alte Reichs¬
stadt Nürnberg ist nicht so günstig gelegen wie Vamberg dort, wo Nednitz
und Main zusammenfließen. Aber die Arbeitskraft und der Handelsgeist der
freien Bevölkerung gaben ihr schon im Mittelalter einen weiten Vorsprung
vor der seit dem Jahre 1007 unter geistlicher Herrschaft stehenden Bischofs¬
stadt. Und auf dem alten Glänze ist das neue industriereiche Nürnberg er¬
wachsen. Hat auch unter dem Andrang der neuen Zeit manches Denkmal
der Vergangenheit fallen müssen, so soll man doch nicht vergessen, daß der
Geist und Schaffenstrieb der Gegenwart auch sein Recht hat. Wenn auch
heute noch manches unreif ist und viel Unschönes das Schöne aus vergangner
Zeit verdrängt hat, gerade in Nürnberg tritt dem Besucher neben der lebens¬
freudigen und kraftstrotzenden Wirksamkeit früherer Jahre die immer weiter
und weiter ausgreifende Energie der tätigen und dabei doch kunstsinnigen und
an alten Erinnerungen sich freuenden deutsche» Welt um die Wende des
neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts entgegen. Nürnberg ist heute schou
weit aus dem alten kraftvollen Mauerkranz herausgewachsen, und die Ver¬
einigung mit dem benachbarten Fürth ist nur eine Frage der Zeit. Aber
auch ohne diese Vereinigung hat es schou lauge Stuttgart wieder überholt,
dem es früher schou voranging, hinter dem es aber 1885 zurückstand.
Stuttgart ist seit 1320 Residenz der Grafen von Württemberg, aber erst
das neunzehnte Jahrhundert sah es als Hauptstadt des Königreichs stärker
anwachsen. Noch 1812 zählte es nur 28000 Einwohner, heute zählt es seit
der Vereinigung mit Cannstatt das neunfache dieser Zahl. Hier tritt das
industrielle Element etwas mehr zurück hinter dem handeltreibenden: der Buch¬
handel insbesondre spielt in Stuttgart eine große Rolle. Keine andre Stadt
in Württemberg kommt ihr nur entfernt nahe: Ulm an der Donau mit 51680,
Heilbronn mit 40026 Einwohnern sind weit zurückgeblieben, und so hat
Stuttgart als Zentralort eines gut besiedelten Landes (117,9 Menschen auf
einen Quadratkilometer) sicher noch eine bedeutende Zukunft vor sich.
Uns bleiben noch zwei Städte übrig zu kurzer Erörterung: Breslau und
Posen. Sie sind beide Zentralorte ihrer Provinzen, wie wir es soeben für
Stuttgart hervorgehoben haben, und in ihnen prägt sich deutlich der Einfluß
der verschieden dichten Bevölkerung aus. Schlesien mit einer durchschnittlichen
Einwohnerzahl vou 122,4 auf eiuen Quadratkilometer ist mehr als doppelt so
groß wie Württemberg und besitzt dabei Gebiete ganz außerordentlich lebhafter
Groß- und Kleinindustrie. Die Kohle«- und Metallschätze im Südosten an
der russische» Grenze sind unerschöpflich reich, an Menge des Materials reicher
als die des Ruhrgebiets, an Güte freilich zurückstehend. In Oberschlesien allein
ist mehr Kohle vorhanden als in ganz Großbritannien und Irland. Und die
Förderung des Jahres 1900 hatte den dreifachen Wert von der des König¬
reichs Sachsen (182569000 Mark gegen 60233000 Mary. Dazu kommt
nun im Waldenburger Revier in Niederschlesien eine Kohlenförderung, die
den Wert von 43821000 Mark erreichte. Ist es da ein Wunder, wenn die
einzige große Handels- und Industriestadt dieses Landes bis nahe an die
halbe Million herangewachsen ist? Schon jetzt ist die Oder eine wertvolle
Verkehrsstraße, noch weit größer wird ihr Wert fein, wenn die Regulierung
des Stromes in einigen Jahren vollendet sein wird.
Viel kleiner als Breslau ist Pose«. Kleiner ist ja anch das Land und
geringer die Bevölkerungsdichte (28970 Quadratkilometer mit je 68,6 Menschen
auf einen Quadratkilometer), ärmer ist auch das Land an Bodenschätzen: es
ist reines Ackerbangebiet. Aber trotzdem wächst die Stadt rasch an und hat
sich verdoppelt, während Breslau nur um etwas über die Hälfte wuchs. Heute
ist sie der Schauplatz schwerer nationaler Wirrnisse, und bei dem wilden Streben
der Polen nach einem freien selbständigen Reich ist nicht ausgeschlossen, daß
sich hier noch ernste Ereignisse in Zukunft abspielen werden. Wechselvvll ist
auch schon ihre Vergangenheit. Vom zehnten bis zum dreizehnten Jahrhundert
Residenz der Herrscher Polens blieb sie groß und bedeutend auch als die
Könige nach Warschau zogen, sank aber tief in jener Zeit, wo das ganze
Königreich unter der Verrottung seines Adels zusammenbrach. Die Stadt,
die im sechzehnten Jahrhundert 30000 Einwohner zählte, hatte 1795 mir
noch 8500. Daß sie jetzt wieder zu 137 000 angewachsen ist, ist ein Zeichen
der hohen Blüte, die das ganze Stubenleben im geeinten Deutschen Reiche, in
reinen Industriegebieten ebenso wie unter rein agrarischer Bevölkerung jetzt
durchmacht.
rei Essaysammlungen Lafmdio Hearns liegen nunmehr in guter
deutscher Übersetzung vor: „Kokoro", „Lotos" und „Jzumo".")
Nicht unwesentlich haben diese deutschen Ausgaben dazu beigetragen,
der Hearn-Gemeinde neue Anhänger zu werben. Zwar wird es
immer ein kleiner erlesner Kreis sein, der sich an diesen feinen,
tiefsinnigen Betrachtungen des Amerikaners mit der westöstlichen Seele erfreut.
Ihr intimer Reiz bleibt der Menge verschlossen; auch Stil und Stvffwahl
weisen darauf hin, daß sie ohne Rücksicht auf den Geschmack des großen
Publikums entstanden sind. Die starken Eindrücke der orientalischen lebens-
und farbenfreudigen Kultur, die deu der westlichen Heimat entfremdeten um¬
fingen, sobald er nur den Fuß auf japanischen Boden setzte, diese Eindrücke
drängten nach poetischer Gestaltung. Wir dürfen keine kühlwägenden, kritischen
Beobachtungen über Land und Leute in diesen Büchern suchen. Wenn der
sensitive Künstler dafür überhaupt jemals befähigt gewesen war, so verlor er
sein objektives Urteil in dem überwältigenden Glücksgefühl, zu Füßen des
schneeigen Fujigipfels nun endlich eine Heimat gefunden zu haben.
Eine Heimat bedeutete für ihn, was andre, nüchterne Menschen einen Ort
zum ungestörten Studieren und Träumen genannt hätten. Noch barg ja das
Japan, das Hearn liebte, und dessen Eigentümlichkeiten er immer eindringlicher
zu begreisen trachtete, eine Fülle jener mittelalterlichen Romantik, für die im
sausenden Getriebe Broadways kein Raum ist. Wenn auch die Haupthafen
Japans, die Zentralpunkte seines Verkehrs mit Europa schon viel von der
abendländischen Zivilisation übernommen hatten, so Mußte Hearn doch allerlei
entlegnere Schlupfwinkel zu finden, die von europäischen Einflüssen wenig oder
gar nicht berührt waren. Dort hat er dann das neue, reformierte Japan zu
vergessen gesucht, dessen vom politischen Standpunkt nur zu gerechtfertigtes
Streben er nie betrachten konnte, ohne in Gemeinschaft mit andern Kunst-
schwürmern das Verschwinden der rassecigentttmlichen Kultur zu bedauern. So
erfahren wir in diese» Büchern nur wenig von dem Leben der höhern Klassen,
weil diese ihrem Bildungsgang entsprechend schon mehr von den europäischen
Sitten, von der abendländischen Gedankenwelt beeinflußt sind. ,
Welche Ironie des Schicksals, daß Hearn selbst in seiner Eigenschaft als
Lehrer der englischen Sprache an der Mittelschule und an der Lehrerbildungs¬
anstalt zu Jzumo berufen war, an dieser Nivellierungsarbeit mitzuhelfen, die
der Ästhetiker, der Romantiker in ihm so tief beklagte.
Sein Aufsatz „Aus dem Tagebuche eines englischen Lehrers" gibt einen
interessanten Einblick in das japanische Schulwesen. Das gewichtige Pensum
des japanischen Erziehungssystems muß selbst in Parallele mit den hohen An¬
forderungen unsrer Gymnasien und Universitäten Achtung einflößen. Sieben
Jahre muß der japanische Schüler allein zur Erlernung seines dreifachen
Jdeogrammsystems verwenden, daneben wird er natürlich in der Geschichte und
Ethik seines Vaterlands unterrichtet, und nun erst komme» die übrigen Fächer,
die den Lehrgegenstünden unsrer Schulen entsprechen, und unter denen die
europäischen Sprachen an Schwierigkeit obenan stehn. Ist doch das Japanische
den abendländischen Idiomen so vollkommen ungleich, daß selbst der einfachste
japanische Satz weder dem Sinne noch der Form nach durch eine wörtliche
Übersetzung wiedergegeben werden kann. Dazu kommt, daß die Knaben bei
dieser großen geistigen Anstrengung nur sehr unzureichend ernährt werden, da
den Buddhisten die Fleischucihruug verboten ist. Auch ihre Kleidung schützt sie
nicht ausreichend vor der Unbill des japanischen Winters, und erst in den spätern
Jahren von Hearns Tätigkeit wurden Öfen in den Schulräumen eingeführt.
Die Folgen sind, daß eine große Anzahl von Schülern dieser spartanischen
Erziehung zum Opfer fallen, und — wie Hearn bedauernd hinzufügt — es
sind gerade die besten, die sich durch Überanstrengung Gehirnentzündungen und
hitzige Fieber zuziehn und meist daran sterben.
Das sind traurige Resultate für einen Lehrer, dem seine Zöglinge so ans
Herz gewachsen sind, daß er nur immer rühmenswertes von ihnen zu sagen weiß.
Welches Glück für Hearn den Romantiker, daß der Ort seiner Lehrtätigkeit das
sagenumwobne Jzumo ist, die Hauptstadt des alten heiligen Landes, wo noch
manche Tradition auf die Spuren der Götter deutet, deren Schreine und Tempel
im Schatten der Zedernwälder stehn. Hier tritt die buddhistische Religion all¬
gemach zurück hinter dem Shinto, dem uralten, nationalen Glauben, dessen
Götter die Ahnen der Geschlechter find, und dessen innerstes Wesen eine poetisch
verklärte Anbetung der Heimat ist. In diesen Gegenden sind noch die alten
Sitten lebendige die Beleuchtung der Friedhöfe und Straßen am Totenfest, wo
die abgeschiedncn Geister wiederkehren, und man ihnen durch die in bunten
Farben leuchtenden Papierlnternen einen Willtommsgrnß zu entbieten pflegt.
Am Abend des ersten Tages versammeln sich die Frauen des Dorfes zum
Tanz im Hofe eines uralten Tempels. In langer Reihe, angetan mit ihren
schönsten Gewändern ziehen sie heran, die größte führt, und kleine Mädchen
von zehn bis zwölf Jahren schließen die Prozession. Und min beginnt ein
phantastischer Tanz: ein Sichneigen und Beugen, ein sanftes Schwingen der
Arme, dem die weich nachflatternden, weiten Ärmel eine an fließende Wellen
erinnernde Armut leihen. Die Zuschauer verharren in tiefem Schweigen, nur
das Zirpen der Grillen, das leise Knirschen der Sandalen im losen Sande und
das leichte Händeklatschen der tanzenden Frauen unterbricht die Stille. Dann
hebt ein weicher Gesang an: „dein Auge gleichförmig wie Reisähren im Felde,
alle gleich in sommerliche Festgewänder gekleidet, hat sich die Tänzerschar ver¬
sammelt." Und demi Anblick des traumhaft schönen Bildes schweifen des zu¬
schauenden Fremdlings Gedanken zurück in die ferne Vergangenheit: „Jene, die
dort den jahrhundertelangen Schlaf schlafen, unter den grünen Steinen, wo die
weißen Laternen sind, und ihre Väter und ihrer Väter Väter und die un¬
bekannten Generationen vor ihnen, begraben auf Friedhöfen, die seit Tausenden
von Jahren vergessen sind, auch sie haben sicherlich auf ein Schauspiel wie
dieses geblickt. Ja, dieser vou den jungen Füßen aufgewirbelte Staub war
menschliches Leben und sang und lächelte ebenso unter demselben Mond »mit
wallenden Schritten und winkenden Händen«."
Da kündet ein tiefes, leises Dröhnen, der sonore Ton der Tempelglocke die
Mitternachtsstunde. Der Zauber ist gebrochen, die Runde löst sich, und nnter
leisem Lachen und Rufen verwandeln sich die Elfen in hübsche Dorfmüdchen,
die mit ihren Liebsten Schäkern — wie in unsrer westlichen Heimat auch.
Auch die Schiffer, die hinausfuhren auf Nimmerwiederkehr, werden beim
Totenfest nicht vergessen. Zierliche Gondeln mit Speisen und Lichtern und
zärtlichen Briefen an die Verstorbnen werden bereitet, und während der drei
Tage dieses Erinnerungsfestes sind Bäche, Flüsse und Häfen belebt von den
kleinen Fahrzeugen, die meerwürts treiben. Sie haben selten mehr als zwei
Fuß Länge, aber die Toten brauchen nicht viel Platz. Dennoch segeln sie bei
Windstille geraume Zeit; dann flimmert der Meeresspiegel von Lichtern, und
der Duft des Weihrauchs mischt sich mit der Scilzlnft des Ozeans.
Es ist viel darüber gestritten worden, wieviel von der poetischen Schönheit
dieser alten Volkssitten dem Reiz der Hearnschen Darstellung zuzurechnen ist.
Zweifellos sah er das Land und seine Bräuche mit dem Auge des Dichters.
Er schrieb all dies nieder, nachdem sich seine Vision des Künstlerischen von
dem abendländischen Schönheitsbegriff entwöhnt hatte. Die vielköpfigen, viel¬
händigen Götter verloren gar bald für ihn ihre monströse Häßlichkeit: „Wenn
jemand, der das Göttliche in allen Religionen fühlt, ihren Sinn erfaßt hat,
dann wird er erkennen, daß sie an eine höhere Schönheitsempfindung appellieren,
an die Empfindung moralischer Schönheit, und dies zwar mit einer Kraft, die
diejenigen, welche nichts von dem Orient und seinem Denken wissen, nicht be¬
greifen können."
Und später, als er auf einer Pilgerfahrt nach Enoshimci an der Straße
die halbzerbröckelte Bildsäule Koshius, des alten shintoistischen Wegegottes,
findet, sehen wir, daß ihm die fremde Gedankenwelt schon vertrauter geworden
ist: „Einen uralten Glauben nur aus den Arbeiten der Paläographen und
Archäologen gekannt und geliebt zu haben, als ein etwas von seiner eignen
Existenz entferntes, um dann nach Jahr und Tag plötzlich denselben Glauben
als einen Teil seiner menschlichen Umgebung zu finden; zu fühlen, daß seine
Mythologie, obgleich alternd, rings um einen lebt, heißt gleichsam den Traum
der Romantiker in sich verwirklichen, das Gefühl haben, über die Spanne
von zwanzig Jahrhunderten in das Leben einer glücklichern Welt zurück¬
versetzt zu sein. Denn diese wunderlichen Götter der Heerstraße und Götter
der Erde, diese moosumsponnenen und so wenig angebeteten Götter, sie leben
noch. In diesem kurzen Augenblick wenigstens bin ich wirklich in einer frühern
Welt, vielleicht in jener Epoche, wo der primitive Glaube ein wenig altmodisch
geworden ist und vor dem zersetzenden Einfluß einer neuen Philosophie zer¬
bröckelt. Und ich, ich fühle mich noch als Heide — liebe diese einfachen alten
Götter, diese Götter der Kindheit eines Volkes."
Es lassen sich viele solcher Stellen anführen, wo sich die dichterische Be¬
trachtung des Wesens der alten Gottheiten allmählich zu einer Art religiöser
Verehrung verdichtet. Zwar verschmolz Hearn den primitiven Glauben mit
einer neuen Philosophie. Er kam nach Japan als ein Jünger von Herbert
Spencers Evolutionstheorie und suchte sie später mittelst der buddhistischen
Karmalehre zu ergänzen. Hearn teilte nicht des englischen Philosophen Über¬
zeugung, daß die ewige Wirklichkeit uns für immer verborgen ist, daß nur
die vergänglichen irdischen Dinge unsrer Erkenntnis zugänglich sind. Hearn
glaubte, daß mit Hilfe der buddhistischen Lehre der Mensch immer tiefer in
die ewigen Geheimnisse eindringen könnte, deren einen Schlüssel er in dem
Wiedergeburtsglauben sah. Wohlverstanden, nicht die alte Seelenwanderungs¬
lehre, sondern ein bei jeder Geburt neues Verweben der alten Elemente, die
im vorangegangnen Leben die Bedingungen für das nächste geformt haben —
mit einem Wort das Karna des Buddhismus, wonach keine Tat ein end¬
liches Geschehen ist, sondern ihre Folge in der nächsten Wiedergeburt findet,
ob solche nun auf höherer oder niederer Stufe geschehe.
Das sonderbare Gefühl, das uns beim Anblick bestimmter Gegenden oder
als Folge unwillkürlicher Gedankenverbindungen überkommt, das Gefühl, als
hätten wir dieses oder jenes nicht zum erstenmale gesehen oder erfahren,
dentet Hearn in Übereinstimmung mit den buddhistischen Philosophen als un¬
klare Rückerinnerung an frühere Daseinsformen. Wenn dies Erinnern nicht
mehr unwillkürlich, sondern im Bereich unsers Willens sein wird, dann möchte
das Menschheitsrätsel seiner Lösung nahe sein. Diese Klarheit sah Hearn
als höchstes, erstrebenswürdigstes Ziel des menschlichen Fortschritts, und er
wenigstens hat an die Erfüllung in künftigen Jahrhunderten geglaubt.
Die Beschäftigung mit diesen tiefsinnigsten aller philosophischen Fragen
mag ihn oft weit von der Wirklichkeit abgelenkt haben, und wenn einige
europäische Forscher Japan die nüchternste aller Nationen genannt haben, so
ist in diesen Aufzeichnungen nicht viel davon zu merken. Andrerseits wird
es jetzt, bei unsrer verschwindend geringen Kenntnis des Orients schwer
halten, diese widersprechenden Behauptungen in befriedigender Weise nach¬
zuprüfen. Wahrscheinlich haben beide ihre Berechtigung; nur daß der Bor¬
wurf des ausgesprochen nüchternen Geschäftssinnes mehr das moderne, nach
europäischem Muster reformierte Japan trifft, von dem Hearn eben nichts wissen
wollte.
Seine Zuneigung gehörte unwandelbar dem alten Japan mit seinen
Kunstschätzen, seinen frommen Bräuchen und seinen poetischen Sagen und
Märchen, von denen er eine Auswahl unter dem Titel „Kwaidan"*) (Selt¬
same Erzählungen) zusammengestellt hat. Da wandert im Flockensturm die
Juli Onna, die Schneefrau mit dem weißen Gesicht und den furchtbaren
Augen, deren Hauch Tod bringt, und die sich doch eines sterblichen Jünglings
erbarmt und sich ihm liebend zu eigen gibt. Oder von schlanken Weiden
lösen sich Baumfrauen und teilen der Menschen Freud und Leid, bis die Axt
den lebendigen Stamm trifft, und der Scheinlcib in Luft dahinschwindet.
Wen muteteu diese Märchen nicht wunderlich vertraut an, wesensverwandt
mit unsers eignen Volkes Singen und Sagen von Wald- und Wasserfrauen?
Himawari, die Sonnenwärtswendende, nennen die Japaner die Sonnenblume,
und Hearn erinnert sich des uralten poetischen Gedankens der keltischen Rasse,
dem Thomas Moore das Versgewand lieh:
tds Lunklo-Mu' turn« um iisr Za<Z, vlisn ssts,
1'dis sAias look etat sels turvsä ^vdsR dö ross , . .
Auch von Hvrai, dem japanischen Paradies, das keines Menschen Fuß
betreten, wird uns erzählt: Auf einem alten Kakemono erscheint im unend¬
lichen Blau eine schimmernde Stadt mit geschwungnen Dächern und sichel¬
bekrönten Türmen. In alten Schriften heißt es von ihr, daß dort die Blumen
nimmer welken, und daß ihre Bewohner ohne Krankheit und Sünde leben.
Wer sie suchen will, muß gen Westen wandern. Wie geht es Wohl zu, daß
auch so viele arische Völker ihr Paradies im Westen suchen? Ob die sinkende
Sonne mit ihrer nachglühenden Farbenpracht dem Volksbewußtsein eiuen
phantastischen Begriff weit geöffneter Strahlenpforten unauslöschlich eingeprägt
hat? Oder gehen diese Konzeptioneil wirklich auf einen Urquell zurück, aus
dem Arier und Mongolen einst gemeinsam geschöpft haben? Das sind wohl
unlösbare Fragen. Aber die Verwandtschaft der Urgedanken in diesen Märchen
wird viel dazu beitragen, die fremdartigen Stoffe dem abendländischen Verständnis
-MW>es lese eifrig in Dr. Howards Buch „Moskitos", vom Stand¬
punkte des Selbstschutzes aus. Denn ich bin verfolgt von Mos¬
kitos. Es gibt mehrere Arten bei mir in der Nachbarschaft, aber
nur eine davon ist wahrhaft peinigend — ein winziges Ding wie
eine Nähnadel, über und über voll silberner Fleckchen und Streifen.
"?ein Stich ist so intensiv wie die Berührung eines glühenden
elektrischen Drahts, und sein bloßes Summen hat einen durchdringenden Ton,
der die Art des bevorstehenden Schmerzes ankündigt — in ähnlicher Weise,
wie ein besondrer Geruch einen bestimmten Geschmack hervorruft. Ich finde,
dieser Moskito ähnelt sehr dem Insekt, das Dr. Howard LtsZmnM kgsoig,tA
oder Onlsx kg-fondus nennt, und seine Lebensweise ist dieselbe wie die der
LtLMinM. Zum Beispiel fliegt er eher bei Tage als bei Nacht aus und wird
am lästigsten während des Nachmittags. Und dann habe ich entdeckt, daß er
vom buddhistischen Begräbnisplatz kommt — einem uralten Friedhof, der hinten
an meinen Garten grenzt.
In Dr. Howards Buch wird auseinandergesetzt, daß man, um die Um¬
gegend von Moskitos zu säubern, nur nötig hätte, in das stagnierende Wasser,
ihre Brutstätte, ein wenig Petroleum oder Kerosineöl zu gießen. Einmal
wöchentlich soll das Ol angewandt werden, „etwa eine Unze auf fünfzehn
Quadratfuß Wasseroberfläche, für jede kleinere Fläche eine entsprechend geringere
Menge" .... nun aber bitte ich, die Sachlage in meiner Nachbarschaft in Be¬
tracht zu ziehen!
Wie ich sagte, kommen meine Quälgeister vom buddhistischen Begräbnisplatz.
Beinahe vor jedem Grab des alten Friedhofs ist ein Wasserbehälter oder eine
Zisterne, mi^utains genannt. Meist ist diese 1ni6v.eg.1n6 einfach als ovale Ver¬
tiefung in die breite, den Denkstein tragende Basis eingemeißelt; doch vor kost¬
spieligen Gräbern, die keinen Wasserbehälter unten am Stein haben, ist ein
größeres Gefäß einzeln aufgestellt, das ans einem einzigen Felsblock ausgehauen
und und einem Familienwappen oder mit symbolischen Reliefs geschmückt ist.
Vor ein Grab der ärmsten Kaste, das keinen 1ni7.utg.1no hat, wird Wasser in
Bechern oder andern Gefäßen hingestellt, denn die Toten müssen Wasser haben.
Auch Blumen müssen ihnen dargebracht werden; vor jedem Grabe wirst du
ein paar Bambusbehälter oder andre Blumenschalen finden, die natürlich Wasser
enthalten. Auch ist auf dem Friedhof ein Brunnen, der die Gräber mit Wasser
versorgt. Wann immer Verwandte und Freunde die Grüfte besuchen, wird
frisches Wasser in die Behälter und Schalen gegossen. Aber da ein alter Be¬
gräbnisplatz dieser Art Tausende von ini^ut-im^ und Zehntauscnde von Blumen¬
schalen hat, so kann nicht in allen das Wasser täglich erneuert werden. Es
wird stagnierend und von allerlei Gewürm bevölkert. Die tiefern Gefäße trocknen
selten aus, denn der Regenfall in Tokio ist bedeutend genug, um sie neun
Monate im Jahr teilweise gefüllt zu halten.
In diesen Wasserbehältern und Blumenschalen werden meine Feinde ge¬
boren, zu Millionen schwärmen sie aus dem Wasser der Toten empor; und
nach der buddhistischen Lehre mögen viele von ihnen Wiedergeburten derselben
Toten sein, die durch die Irrungen ihrer frühern Leben dazu verurteilt sind,
^lui-lcstsu-AüIci oder bluttrinkende Pretas zu werdeu. Jedenfalls könnte die
Bösartigkeit des Lulsx rg,8oig.tu.8 den Verdacht rechtfertigen, daß eine verderbte
menschliche Seele in dieses klüglich summende Pünktchen von einem Körper ge¬
preßt worden wäre...
Um nun auf das Kerosineöl zurückzukommen, so kann man also an jeder Ört¬
lichkeit die Moskitos ausrotten, wenn man die Oberflüche aller stehenden Ge¬
wässer mit einer dünnen Schicht solchen Oich bedeckt. Die Larven sterben, so¬
bald sie auftauchen, um Luft zu schöpfen; und die ausgewachsnen Weibchen
gehen zugrunde, wenn sie sich dem Wasser nähern, um ihre Eier hinabzu¬
lassen. Dabei lese ich in Dr. Howards Buch, daß die Kosten für die Befreiung
einer fünfzigtausend Einwohner zählenden amerikanischen Stadt von der Moskito-
Plage dreihundert Mark nicht übersteigen....
Was man wohl sagen würde, wenn die Stadtverwaltung von Tokio, die
auf dem Gebiete wissenschaftlichen Fortschritts höchst angriffslustig vorgeht,
plötzlich den Befehl erteilte, daß alle Wasserflächen buddhistischer Begräbnis¬
plätze in regelmäßiger Wiederholung mit einem Überzug von Kerosineöl zu
versehen seien! Wie könnte die Religion, die das geringste Leben, sogar das
nicht sichtbare, zu vernichten verbietet, einen solchen Befehl gutheißen?' Würde
es kindlicher Pietät je im Traume einfallen, einer derartigen Anordnung zu
gehorchen? Und wenn man dann noch den Aufwand an Arbeit und Zeit er¬
wägt, der notwendig wäre, in die Millionen von 1ni2v.eg.rü6, in die zehnfachen
Millionen von Bambusbehältern auf den Friedhöfen von Tokio alle sieben
Tage Kerosineöl zu gießen! . . . Unmöglich! Um die Stadt von den Moskitos
zu befreien, wäre die Zerstörung der alten Begräbnisstätten notwendig; und
dies wäre gleichbedeutend mit der Vernichtung der buddhistischen Tempel, die
dazu gehören. Damit aber müßten so viele entzückende Gärten mit Lotoskelchen,
sanskritbeschriebnen Denkmälern, kühn geschwungnen Brücken, heiligen Hainen
und seltsam lächelnden Buddhas verschwinden! Somit würde die Ausrottung
des (Ällsx kÄ-semtus die Zerstörung des poetischen Ahnenkults herbeiführen —
und dies wäre wahrlich ein zu hoher Preis dafür! . . .
Und dann, wenn meine Zeit kommt, möchte ich gern auf einem buddhi¬
stischen Friedhof der alten Art bestattet werden, wo meine geisterhaften Ge¬
führten uralt wären und nichts nach den neuen Brüucheu, den Veränderungen
und Auflösungen des Neiji") fragten. Der alte Friedhof hinter meinem Garten
wäre just der rechte Ort. Dort ist alles voll Schönheit, einer überraschenden,
seltsamen Schönheit. Jedem Baun:, jedem Stein wurde seine Gestalt von einem
uralten Ideal verliehen, das in keines Lebenden Hirn mehr wohnt; selbst die
Schatten gehören nicht dieser Zeit, dieser Sonne an, sondern einer vergessenen
Welt, die nichts wußte von Dampf, Elektrizität, Magnetismus oder —
Kerosineöl! Auch im Dröhnen der großen Glocke schwingt ein seltsamer Ton;
der weckt Gefühle, so sonderbar fern von dem Teil in mir, der dem neun¬
zehnten Jahrhundert zugehört, daß mir die leisen, blinden Regungen Furcht
einflößen — eine köstliche Bangigkeit. Nie höre ich dieses wogende Klingen,
ohne daß mir ein Drängen, eine schüchterne Flugbewegung in den tiefsten
Tiefen meines Innern zum Bewußtsein kommt — ein Gefühl, wie wenn durch
die Finsternis von millionenfachen Toben und Wiedergeburten hindurch Er¬
innerungen das Licht zu erreichen strebten. Ich hoffe, in Hörweite dieser
Glocke zu bleiben..... Und in Anbetracht der Möglichkeit, zum Schicksal
eines ^iKi-Kötsu-Aalci verurteilt zu werden, möchte ich doch die Wahl haben,
in einem Bambusblumenbehälter oder in einem ini2utg,in6 wiedergeboren zu
werden, von wo ich sacht auffliegen möchte, mein feines, durchdringendes
Liedchen summen und einige Leute, die ich kenne, stechen.
egen drei Uhr, um folgenden Tage, kamen Fräulein Mathilde und
Karoline Hage, von der ganzen Reisegesellschaft bis an die Tür be¬
gleitet, von ihrem Ausflug nach Frascatt nach Hause.
Wie gewöhnlich berichteten sie, einander in die Rede fallend, dem
eben von seinem Mittagsschlaf erwachten Professor über ihre Reise¬
erlebnisse. Da waren tausenderlei ergötzliche Dinge zu erzählen. Am
schönsten war aber doch die Überraschung gewesen, als Juliane in höchsteigner
Person, von ihrem glücklichen Haut begleitet, in der Trattoria von Nemi zwischen
die jubelnde Gesellschaft getreten war.
Juliane als Attrappe —! Und der arme Haut auf dem Siedepunkt seiner
Gefühle!
Aber dann Monsieur Courtes! Auf dem ganzen Ausflug war er kümmerlich
auf Didi Scharfenbergs französische Konversation angewiesen gewesen, und dann
wie über ein plötzlich aufsteigendes Feuerwerk nußer sich vor Freude rief er:
„Mademoiselle Juliane!"
Und heute morgen hatte sich Courtes natürlich Juliane und Haut angeschlossen,
mif dem Rückweg über Genzcmo »ut Albano!
Haut war gerade nicht sehr entzückt, der Ärmste. Aber Juliane schritt zwischen
ihren beiden Kavalieren, rot wie eine aufgeblühte Rose, dahin.
Eine Stunde später kam Fräulein Juliane nach Hause, begleitet von Haut.
Der Professor empfing sie mit überströmender Freundlichkeit. Haut teilte er
mit, er habe ihm gestern einen Bescheid in seiner Wohnung hinterlassen, daß er
sich heute nur vom Archiv dispensieren solle, aber hinterher sei ihm dann einge¬
fallen, daß Haut ja natürlich Juliane nach Hause begleiten werde, und da habe er
denn seinen Bescheid zurückgenommen.
Späterhin am Nachmittag rief der Professor seine älteste Tochter zu sich herein.
Setz dich, mein Kind, sagte er. Ich möchte dich als die Verständigste und
Umsichtigste hier im Hause fragen, ob du in der letzten Zeit bemerkt hast, daß
unser lieber Freund Haut — förmlich abgefallen ist? Es will niir scheinen, als ob
er blaß und schmal geworden wäre. — Und auch seine Heiterkeit hat er eingebüßt.
Ja, was sagst du dazu, meine liebe Juliane?
Vater, du bist immer liebevoll und fürsorglich! antwortete Juliane, du magst
freilich Recht haben.
Dieser Ausflug sollte eine Ermunterung für ihn sein. Wir dürfen ja nicht
vergessen, daß wir gewissermaßen eine Verantwortung für den ungewöhnlich braven
und tüchtigen jungen Mann übernommen haben. Und da ich bemerkt zu haben
glaube, daß er sich besonders an dich angeschlossen hat — wohl weil du besonders
gut gegen ihn gewesen bist —
Aber nein, Vater —
Leugne es nicht, mein Kind, daß du eine ganz besondre Güte für unsern
hübschen jungeu Haut an den Tag gelegt hast —
Aber nein, Vater . . .
Nun, mein liebes Kind, leugne es nnr nicht, daß du ein besonders freundliches
Gefühl für unsern schönen Haut empfindest . . .!
— Aber nein, Vater. . .
Nun, wir Alten haben so unsern eignen Blick für die Jugend. Doch, wie
gesagt, unser Freund Haut scheint sich äußerst wohl in deiner Gesellschaft zu be¬
finden, da möchte ich dir denn meinen Wunsch mitteilen, daß du dich seiner von
nun an ein wenig annimmst. Dir ist es anch ganz gut, deine häuslichen Pflichten
etwas ruhen zu lassen, und ich bin wirklich nicht ohne Besorgnis wegen des
jungen Mannes. Ich will nicht zu große Lasten ans seine Schultern wälzen. Ihr
müßt euch ein wenig mit den andern jungen Leuten zerstreuen.
Die Temperatur da oben in dem großen, luftigen Schlafzimmer der Zwillinge
war ohne Zweifel ein Paar Grad höher als überall sonst.
Es war am siebzehnten Mai. Alle drei Feuster uach dem Garten hinaus
waren weit geöffnet. Aber die Sonnenwärme war noch erdrückend zu dieser Nach¬
mittagstunde, und die Florgardinen bewegten sich kaum im Zugwinde.
Es war am siebzehnten Mai, und Professor Hage gab heute abend sein lange
geplantes, großes Fest in der Villa an der Porta Pia.
Die Damen waren bei der Toilette. Fräulein Karos hellblaues und Fräulein
Mäetis rosaseidnes Kleid lagen je auf einem Bett ausgebreitet. Im übrigen glich
das ganze Zimmer einem weißen Schaum von Tüll und Flitter.
Ein lebhaftes Plaudern und Schwatzen über Farben und Schmuckgegenstände,
Gäste und Arrangements . . .
Das Wichtigste aber war vorläufig, daß man Schwester Juliane aus ihrer
Separatkajüte nebenan hereinbugsiert und in den Lehnstuhl vor dem Spiegel ge¬
nötigt hatte, wo sich Madel in wahrhaft souveräner Weise der Behandlung ihres
Haares widmete.
Ehe es soweit gekommen war, hatte es der größten Energie der Zwillinge
bedurft. Juliane hatte endlich nachgegeben und war im Triumph in ihrem Frisier¬
mantel vor den Spiegel geführt worden. Und mit dieser Nachgiebigkeit, die eigentlich
nur der Haarfrisur galt — dieser idiotischer Frisur 5 1» Jnstitutsvorsteherin! —,
hatte sich Fräulein Juliane dem Urteil der Schwestern anheimgegeben. Das
Witwenhaft graue Kleid war abgelegt worden, und das doch einigermaßen festliche
mittelblaue sollte seiue Stelle einnehmen. Von dem Spitzentuch, das noch von der
Mutter stammte, war keine Rede! Wenn die junge Dame zu züchtig war, konnte
sie ja ein paar Rosen in die Taille des Mittelblanen stecken!
Karo flog über die steinernen Fliesen hin und her, die Haarflut aufgelöst über
dem flatternden Badecape, und bemerkte:
Wenn man überhaupt von Hälsen und Nacken reden will, so ist Juliane einfach
ein Schwan gegen uns gewöhnliche Gänse!
Madel benutzte die Brennschere rücksichtslos, trotz des energischen Widerspruchs:
Vaters Geschmack! Bater, der nicht für zwei Schilling Geschmack hat!
Wie kannst du nur so reden, Madel! Juliane versuchte strenge zu sein, was
ihr aber schwer wurde, weil sie sich, den Kopf tief gebeugt unter Mäetis Bürsten,
in einer sehr gezwungnen Stellung befand.
Vaters Geschmack, der starb zugleich mit Mutter, das wissen wir doch alle!
Pfui, Madel!
Ich komme immer beinahe um vor Lachen, wenn die Leute von Professor
Hages „bekanntem" Geschmack reden!
Karo kroch ans das Ruhebett hinauf und bewunderte ihre hellblauen Beine
in den bronzefarbnen Schuhen.
Ach ja, sagte sie, was sollte Professor Hage wohl anfangen, wenn er nicht
seine „bekannten" Töchter hätte!
Es ist ein Jammer, geradezu ein Jammer! Dein herrliches Haar, wie du es dir
an den Kopf kleisterst! erklärte Madel und prüfte die Wirkung einer Locke am Ohr.
Der abscheuliche Fönns behauptet, alle Frauen hätten Kalbsbeine, berichtete Karo.
Das gehöre sogar zur Schönheit. Wenn sich die kapitolinische Venus aufrichtete —
Ach Karo, komm her, und halte dies mal, du kannst mir wirklich ein wenig helfen!
Karo sprang bereitwillig herbei und half.
Dn läßt dich doch nicht von Herrn Fönns von dergleichen unterhalten, Karo?
fragte Juliane.
Über die Venus auf dem Kapitol — nennst du das „dergleichen"?
Aber —
Ach das mit den Kalbsbeinen? Du kannst dich beruhigen, Mütterchen! Ich
hab ihm gründlich Bescheid gesagt und ihm die Versicherung gegeben, daß weder
du noch Madel oder ich auch nur eine Spur von Kalbsbeineu hätten, und ob er
es sich etwa herausnähme, etwas gegen unsre Schönheit einzuwenden!
Aber Karo!
So! rief Madel, um denke ich, sind wir fertig!
Die Zwillinge traten einen Schritt zurück und betrachteten Juliane. Dann
zupfte Madel hier ein wenig, und Karo dort ein wenig, die eine steckte einen
Kamm zurecht, die andre zog an einer Locke.
Jetzt bist du reizend!
Juliane besah sich selbst im Spiegel, und von da flog ihr Blick halb ängstlich
fragend zu Madel und Karo hinüber. Dabei hatte sie ein leises Erröten ans den
Wangen.
Wenn ihr nur nicht zuviel mit mir angestellt habt!
Plötzlich schlang Karo die Arme um ihren Hals: Ach, Julii, du bist so süß.
Und Madel lächelte, die hellen Tränen in den Augen.
Und nun wollen wir dir bei der Rüsche behilflich sein!
Juliane ging in ihr Zimmer, um das Mittelblaue anzuziehn.
Karo und Madel blieben stehn und lächelten einander zu.
Arme Julii! sagte Karo und trocknete sich die Augen.
Nein, wie herrlich für sie! fagte Madel und tat ebenso.
Ja, denk nur, wie herrlich!
Sie fingen an sich mit ihrer eignen Toilette zu beschäftige». Da hielt Madel
plötzlich inne und flüsterte: Aber weißt du, wer es weiß?
Nun?
Vater!
Va—ter?
Glaubst du etwa, daß er es nicht draußen in der Küche gesehn und Marietta
ausgehorcht hat!
Ja, dieser Vater! sagte Karo, der schnüffelt doch alles heraus! Aber — was
macht denn das?
Nein, was macht das! der Herzensvater!
Karo saß vor dem Spiegel und steckte die Haarflut auf.
Du, Madel, du!
Ja?
Ich kann mir den Gedanken an Haut nicht aus dem Sinn schlagen! der
Ärmste! Er tut mir so leid!
Der arme Haut! Aber du hast doch wohl niemals gedacht, daß daraus etwas
werden würde?
Ach, nein, natürlich nicht. Aber leid tun kann er einem darum doch!
Eine kleine Weile später stand Madel vor ihr: Ich will dir etwas sagen,
Karo, es ist gar nicht so ganz sicher, daß Haut einem leid tun muß, so im
innersten Herzen —
Wie meinst du das?
Ja, siehst du, es ist nicht so sicher, daß Juliane wirklich gut gegen ihn
sein würde.
Karo dachte nach.
Nein, dn magst Recht haben, sagte sie endlich, wenn sie ihn nicht schrecklich
lieb hätte.
Juliane kam mit ihrem Kleide zurück, und die Schwestern machten sich an die
Arbeit, sie hefteten und steckten an Taille und Rock, prüften und verwarfen — ja,
mühten sich mit ihr ub, als sei sie eine Braut, die sie schmückten.
Gegen Mittag war ein Strauß aus weißen, blauen und roten Blumen für
Fräulein Juliane gekommen. Und in dem Strauß steckte ein Billett, und der es
brachte, war Monsieur Benjamin Cvnrtes Diener.
Das Fest am siebzehnten Mai war eine alte Tradition in Professor Hages
Haus in Rom aus den frühern Jahren her. Es wurde nun wieder aufgenommen
mit dem ganzen Gewicht der Jahre, die inzwischen verstrichen waren, und mit allem,
Was sich in ihnen zugetragen hatte.
Im Eßzimmer und in dem großen Gnrtensaal saß man bei Tische — wie in
einen« Zelt draußen im Garten, denn alles, was geöffnet werden konnte, war offen.
Allerlei helle leichtbeschwingte Sommerinsekten uniflatterten die Kandelaber und hingen
über den langen Reihen von Köpfen an den Tischen entlang, jungen Köpfen und
alten Köpfen, blanken Schädeln und kunstfertig aufgetürmten Damenfrisnren mit
Federn, Blumen und blitzendem Gestein —, flatterten und spielten sorglos zwischen und
über dem noch gedämpften Brausen der Unterhaltung, dem Klirren von Silber und
Porzellan, dem Glitzern und Klingen von Kristall. Die von den vielen Menschen
und den vielen Lichtern erhitzte Luft war geschwängert von Duftwellen, die der
Rosenflor in den kauenden Abend da draußen im Garten entsandte.
In lautem Durcheinander mischten sich alle Sprachen, über den weißen Tisch¬
tüchern bewegte sich die bunte Pracht der seidnen Damenkleider und der Ordens-
härter der Herren, ihrer Sterne und weißen, gesteifter Hemden, und zwischen ihnen
streckten die Lohndiener ihre mit weißen baumwollner Handschuhen bekleideten Hände
aus und füllten die Gläser.
Plötzlich senkte sich eine liefe Stille über die beiden lichterstrahlenden Zimmer, als
der alte Nestor, noch vor dem Wirt oder sonst jemand, in der Türöffnung auftauchte
und gedämpft an sein Glas schlug. Die Veteranen in der Gesellschaft, die wußten,
um was es sich handelte, erhoben sich, und ein wenig verwundert folgten die andern
ihrem Beispiel. Mit diskreter Hoheit hielt der Nestor in tönendem Latein, in kurzen,
klassischen Sätzen eine Gedenkrede auf Frau Professor Hage.
Man leerte die Gläser. Professor Hage ging ans den Nestor zu und umarmte ihn.
Mit tiefem Ernst nahm man wieder Platz; viele von den Damen trockneten
die Augen.
Gott, wie schön das ist! flüsterte Didi Scharfenberg ihrem Tischnachbarn, Doktor
Fönns, an dem untersten Ende des letzten Tisches im Gartensaal zu.
Ja, weiß Gott, das ist schön, sagte Fönns. — Namentlich wenn man an die
arme Fran Hage und ihr kümmerliches Leben zurückdenkt.
Kumm...? Sie lebte doch in einer wahrhaft idealen Ehe — geliebt von
ihrem Mann . . . das habe ich doch alle sagen hören!
Haben Sie nie diese großen, alten Bäume gesehn, die dastehn und wachsen
und sich ausbreiten und Schatten werfen und alles aus der Erde herausfangen,
sodaß, was in ihrer Nähe steht . . .
Pfui! immer müssen Sie etwas boshaftes und häßliches sagen! Das wird
doch wohl niemand von Professor Hage sagen, daß er Schatten in seinem Heini
verbreitet. Sehn Sie nur Madel da oben an, hören Sie nur, wie ihr Lachen
klingt, wie sie den alten Minister an ihrer Seite seine ganze Feierlichkeit ver¬
gessen macht!
Die schönste von ihnen ist aber doch Fräulein Juliane.
Aber nein!
Das habe ich erst heute abend entdeckt. Sehn Sie sie nur dort am Ende der
Tafel mit dem alten Herrn Nestor. Übrigens um dem Abend in Nenn —
Ach ja, sie ist hübsch heute abend in ihrem Schmuck. Aber — hu — diese
kalten, starren Augen, so eine richtige selbstgefällige alte Jungfer!
Sie war geradezu wunderbar schön, als sie heute abend dastand und die
Gäste empfing. Und ganz jung!
Jung! Sie ist doch sicher über dreißig!
Keineswegs, sie ist noch nicht einmal dreißig! Und sie ist jetzt schöner als in
ihrer frühen Jugend.
Aber, lieber Herr Fönns, Sie sind ja ganz verliebt! Ich glaubte eigentlich,
daß Sie für Karo schwärmten!
Ich „schwärme" nur für Sie, mein gnädiges Fräulein, heute abend.
Die sehr gedrückte, ernste Stimmung nach der Rede des Nestors verzog sich,
und bald herrschte wieder eitel Freude an allen Tischen. Professor Hage hielt eine
große vorzügliche Festrede und trank unter allgemeiner Begeisterung auf das Wohl
seines fernen, kleinen, armen Heimatlandes.
Die überwiegende Mehrzahl der Gesellschaft bestand aus Leuten, die durch
ihre Arbeit wissenschaftlich, künstlerisch oder politisch mehr oder weniger beständig
an Rom geknüpft waren. Sie trafen hier in dem schönen und traditionellen römischen
Heim des Professor Hage in der Stimmung zusammen, die sich des Lebens und
des Zusammenlebens zwischen den „alten Römern" bemächtigt, wenn der durch¬
reisende Strom von Touristen Ende Mai die Ewige Stadt verlassen hat. Eine
Stimmung, die aus dem Bewußtsei» entsteht, daß man nun Ruhe im eignen Hanse
hat und sich miteinander und mit dem abgeben kann, was man über dem Kommen
und Gehn der Reisesaison und die ewig wechselnde Gesellschaft hinaus miteinander
gemein hat. Die Unterhaltungen wurden vertraulich und intim geführt, und die
wenigen Neuen und Nichldazugehörenden schwelgten in dem Bewußtsein, dem eigent¬
lichen und stets verlockenden Römerleben nether gerückt zu sein.
Und Professor Hage war ein vorzüglicher Wirt. Der schöne Mann bezauberte
alle, alt wie jung, mit seiner strahlenden Laune, seiner Liebenswürdigkeit und seiner
fürsorglichen Aufmerksamkeit gegen jeden einzelnen. Er war selbst völlig beeinflußt
vou der Freude, die er um sich her verbreitete, von den Farben, von den Lichtern,
von dem Fest. Geradezu meisterhaft leitete er die große, zum Teil hochvornehme
Gesellschaft ganz allmählich in eine echt künstlermäßige Atelierstimmung hinüber, er
hielt muntere Reden, bewegte sich lächelnd und scherzend an den Tischen in beiden
Zimmern entlang und veranlaßte die Jugend, unter Anführung von Karo und Madel,
zu singen. Als man sich endlich von Tische erhob, war man ganz in der Stimmung,
sich der überraschenden Arrangements im Garten zu freuen. Der dem Hause zunächst
liegende Teil sowie die Veranda waren zu einer ländlichen Osteria umgewandelt.
Lange Tische quer über den Rasen standen gedeckt mit Flaschen, Gläsern und mächtigen
mit Obst und Konfekt gefüllten tönernen Schüsseln. In den Bäumen hingen bunte
Osteriaschilder mit Angabe der Weinsorten und der Preise in Soldi per Mezzolitro,
und rings umher im Gebüsch und in den Seitenwegen waren kleine Tische angebracht.
Großen Beifall fand eine Lanbe, über der in großen Buchstaben „Bierhaus" prangte,
und wo ein Faß Münchner Bier von echten Seideln umgeben auf einem steinernen
Tische prangte. Rings umher hingen bunte Papierlampions, und auf den langen
Tischen zitterten die Lichter in den Kandelabern in der windstillen Abendluft.
Außerhalb des festlichen Lichtkreises streckte sich der große Garten dunkel und
dufterfüllt bis an die Mauern des benachbarten Parks heran. Drei Riesenpinien
stiegen hier auf wie Säulen, die auf mächtig breiten, schwarzen Kapitalen das Ge¬
wölbe des nächtlichen Himmels mit seiner ganzen Sternenpracht trugen.
Am Fuße der einen Pinie stand eine Bank. Und auf dieser Bank saß Haut
Opseth. Die drei schlanken Stämme standen frei da in einer schwachen Dämmerung,
die sich von der schwarzen Wand aus Rosen, Orangen und Lorbeersträuchern abhob.
Haut Opseth lehnte sich an die Pinie, das Gesicht aufwärts gewandt. Er hatte
das Siebengestirn und die Venus ausfindig gemacht und saß um da und starrte
so lange in die funkelnden Sternenaugen hinein, bis er in weiter, weiter Ferne die
See gegen den norwegischen Strand treiben hörte. Schwer und schwermütig fern,
wie sich das Himmelsgewölbe unendlich über ihm ausspannte.
In seinem tiefen Mißmut war er hier hinaus gegangen. Diese Stimmung
hatte ihn den ganzen Tag beherrscht, und dann war des Professors Rede hinzu¬
gekommen, und daß ihn Fräulein Juliane den ganzen Tag und den ganzen Abend
nicht eines Blicks gewürdigt hatte.
Und wie er hier in seiner Einsamkeit saß, kam sie an Benjamin Conrtes Arm
gegangen; er sah sie deutlich beide in dem schimmernden Licht, wie sie plötzlich die
Schritte hemmten, als sie hier ans der Lichtung heraustraten und in die dunkeln
Gänge zu den Rosen und Orangen zurückkehrten.
Sie war heute schöner als je zuvor.
Er beugte sich vornüber und barg den Kopf in den Händen.
Auf einmal fuhr er in die Höhe. Es raschelte plötzlich in dem dunkeln Gebüsch.
Und er sah sie herauskommen und an dem Buschwerk entlang eilen und an der
andern Seite wieder hinein verschwinden — dem Hause zu, allein.
Es wurde wieder still. Nur aus der Ferne hörte man das Summen der
Gesellschaft dadrinnen.
Haut Opseth saß eine Weile cmfmerksnm gespannt. Aber es blieb still. Und
er sank wieder in seinen Mißmut zurück.
Als er sich endlich aufrichtete und aufsah, stand da eine Gestalt mitten auf
dem offnen Platz.
Sitzen Sie hier, mein lieber Haut?
Er erhob sich, es war Professor Hage selbst.
Ein merkwürdiger Platz für ein Fest! sagte der Professor, übrigens freue ich
mich, daß ich Sie finde. Ich habe nach Ihnen gesucht.
Der Professor setzte sich ans die Bank.
Nehmen Sie Platz, ich habe Ihnen etwas zu sagen.
Haut setzte sich. Professor Hage wandte sich zu ihm und legte ihm die Hand
auf die Schulter.
Mein lieber, junger Freund, begann er warm und freundlich, ich verstehe es
ja so gut, daß Sie mißmutig und niedergeschlagen sind, ich habe Sie aufrichtig
bewundert in diesen Tagen, wie tapfer Sie Ihr Mißgeschick getragen haben. Haut
Opseth sah verwirrt fragend auf...
Ich habe das als erfreuliches Zeichen betrachtet, daß Sie meine Auffassung
zu der Ihren gemacht haben, als ich Ihnen sagte, daß dieses eine Unglück mit dem
Stipendium, das einem andern für das nächste Jahr gegeben worden ist, den Mut
eines Mannes nicht knicken darf. Sie sind ja noch keineswegs alt und haben noch
Zeit genug, ans ein Stipendium zu warten — oder auf einen andern Ausweg, der
es Ihnen möglich macht, fortzusetzen, was Sie hier begonnen haben.
Haut Opseth machte eine Bewegung, aber der Professor hielt ihn zurück: Ich
verstehe, ich verstehe! Das Schwerste für Sie oder doch auf alle Fälle das, um
was sich Ihre Gedanken zuerst gedreht haben, ist die Sorge für die nächste Zukunft
gewesen. Daß Sie, offen herausgesagt, vis-Ä-vis as risn stehn, wenn Sie nun nach
Hause kommen. Dieser Gedanke hat Sie gequält, nicht wahr?
Ach — ja — natürlich —
Nichts ist natürlicher. Aber sehn Sie, in dieser Beziehung bin ich so glücklich,
Sie beruhigen zu können, mein lieber Haut. Ja, ich hätte Ihnen schon vor zwei
Tagen diesen Trost spenden können. Aber ich wollte ihn für heute abend aufsparen.
Ich hatte mir ausgedacht, ihn als eine besondre Freude für Sie dem festlichen Tage
hinzuzufügen, mein lieber junger Freund. Die Sache ist nämlich die, daß ich von
meinem Freund, Rektor Aalbom, gebeten worden bin, ihm einen stellvertretenden
Lehrer auf alle Fälle für ein Jahr vom Anfang des neuen Schuljahrs an gerechnet
zu verschaffen. Sie erhalten das volle Gehalt und haben, wie mir Aalbom schreibt,
Gelegenheit zu nicht geringen Nebenverdiensten auf mancherlei Weise. Ich habe ihm
schon geschrieben, daß ich den passenden Mann gefunden habe, denn ich bin über¬
zeugt, daß Sie mit Freuden dieses verhältnismäßig vorteilhafte Angebot annehmen
werden.
Ich — ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Herr Professor ...
Es ist ziemlich hoch im Norden, aber Sie sind ja selbst Nordländer...
Ja, das ist gerade herrlich!
Hab ich mir auch gedacht, ja. Sie sind also zufrieden, Haut? In Anbetracht
der Umstände...
Sie sind nur zu gut gegen mich, Herr Professor!
Und dann wissen Sie, daß Sie zu jeder Zeit auf meinen Beistand rechnen
können, soweit meine Kräfte und mein geringer Einfluß reichen. Es ist keineswegs
ohne Bedeutung, wenn man sich als Pädagoge ausbildet. Ich habe die Sache ja
selber eine Reihe von Jahren praktisch geübt. Es sammelt und klärt und gibt
Form Form, wissen Sie!
Versteht sich!
Professor Hage blieb noch eine Weile schweigend sitzen. Dann wandte er sich
plötzlich an Haut und sagte gedämpft, vertraulich:
Denken Sie daran, daß Sie auf mich rechnen können. In allem, worin ich
Ihnen behilflich sein kann, als Stütze nach jeder Richtung hin. Ich habe Sie in
dieser Zeit als einen Charakter kennen gelernt, den ich hochschätze. Und ich habe
Sie lieb gewonnen, lieber, junger Freund. Sie können mich als Ihren — ja, sagen
wir, väterlichen Freund betrachten. Sollten Sie — hin — sollten Sie irgendeinen
Kummer haben — junge Leute haben ja so vieles, was sie bedrückt, Hoffnungen
und Sehnsucht —, dann denken Sie daran, daß Sie stets auf mich zählen können.
Professor Hage erhob sich und stand in der Dunkelheit vor ihm. Er streckte
seine Hand aus. Haut Opseth erhob sich und ergriff die Hand. Der Professor
drückte sie fest und sagte langsam und mit Nachdruck:
Es gilt hier im Leben, seine Ziele zu erreichen, welcher Art sie auch sein
mögen, das Glück für unser inneres und äußeres Dasein, es gilt auszuharren.
I'erKgvsrg,rdig. oimüa vinoit!
Er gab die Hand frei und entfernte sich.
Haut blieb lange voll Unruhe und Staunen stehn. Es war so unerwartet ge¬
kommen, so überwältigend---- Und die Schlußworte des Professors? ... Er beschloß,
zu der Gesellschaft zurückzukehren. Denn hierüber konnte er sich doch erst klar werden,
wenn er ganz allein war. Und es mußte ja auffallen, daß er sich so zurückzog!
Es saßen nur uoch ganz wenige an den Tischen im Garten. Die Gesellschaft
hatte sich in den Gartensaal begeben und stand zusammengedrängt vor den Türen
der Veranda. Haut Opseth drängte sich bis an die Türöffnung durch. Das Zimmer
war ausgeräumt, und das Klavier aus dem Boudoir hereingeholt. Fräulein Karo
stand am Instrument, strahlend in hellblauer Seide. Man rief nach Fräulein Juliane.
Und sie trat gerade in den freien Raum vor dem Klavier. Aller Augen waren ans
ihre hohe Gestalt gerichtet. Sie lächelte mit einem Zug von Verlegenheit. Ihr
Nacken beugte sich leicht. Aber ihre Wangen glühten, und es lag ein warmer Glanz
in den ein wenig starren und großen Augen. Sie nahm Platz und wechselte ein paar
Worte mit Karo. Dann begann sie mit einem kleinen Vorspiel.
Mein Gott! Sehn Sie doch nur den Franzosen an!
Haut Opseth wandte sich fragend nach Fönns um, der es ihm von hinten zu¬
geflüstert hatte.
Sehn Sie ihn doch nur an, diesen Monsieur Cvurtes! Ein ganz verteufelter
Kerl! So wie der sich anstellt! Sehn Sie ihn nicht da hinten an der Blumensäule!
Er starrt sie an, als wolle er sie mit Haut und Haar und mit Angen und Lächeln
verschlingen. Sehn Sie ihn doch nur an! Er sieht so ans, als wenn ihn die Sonne
der Gnade blende!
Und dann sang Karo:
(Fortsetzung folgt)
Wieder einmal ist Marokko in den Vordergrund der Ereignisse getreten. In
dem Thronstreit zwischen Abdul Asif und Mulei Hnfid ist die Entscheidung ge¬
fallen. Mulei Hafid ist Sieger geblieben. Damit ist die Herrschaft über das
scherifische Reich in eine Hand gekommen, die nach dem Urteil aller Kenner Wohl
imstande ist, geordnete und gesetzliche Zustände herbeizuführen und die stritte Aus¬
führung der Bestimmungen der Algecirasakte zu gewährleisten. Damit würde also
alles erfüllt sein, was die französische Politik nach den feierlichen Versicherungen
des Ministerpräsidenten Mmenceau und des Ministers des Auswärtigen Pichon
in der Kammer angestrebt hat. Man brauchte jetzt nur Mulei Hafid anzuerkennen,
und alles wäre in Ordnung. Der Friede in Marokko wäre wiederhergestellt,
die Franzosen erhielten ihre Genugtuung für ihre verletzte Waffenehre, und
man könnte daran gehn, die Polizei zu organisieren, wie es die Algecirasakte
vorschreibt.
Aber es scheint, als ob diese einfache Lösung in Frankreich auf große
Schwierigkeiten und Bedenken stößt. Und das ist begreiflich genug, denn sie würde
der französischen Marokkopolitik den Boden unter den Füßen wegziehen. Das
Problem für Frankreich besteht darin, im Prinzip und in der Theorie alles an¬
zuerkennen, was in Algeciras vereinbart worden ist, daneben aber dafür zu sorgen,
daß sich die Ereignisse in Marokko selbst so gestalten, daß die geordnete Ausführung
der Verträge eine Unmöglichkeit wird und Ehre und Interessen Frankreichs ein
andres Vorgehen fordern.
Wenn man davon ausgeht, daß die hohe Politik keine Tugendübung, sondern
ein harter Kampf um die Interessen der Völker ist, so wird man sich bei dem
Urteil, daß die beobachtete Taktik unmoralisch und unehrlich ist, nicht lange auf¬
halten dürfen. Gewiß fällt auch das ins Gewicht, falls die Aussicht besteht, daß
die Aufdeckung solcher Praktiken an geeigneter Stelle eine Entrüstung hervorruft, die
von den Gegnern als brauchbarer Faktor in die Rechnung ihrer eignen Politik
eingestellt werden kann. In dieser Beziehung brauchten die Franzosen wenig
Besorgnisse zu hegen. England hatte Marokko den Franzosen preisgegeben, und
es ist auch nach Unterzeichnung der Algecirasakte mit allem zufrieden, was die
Franzosen in Marokko tun, solange nur einigermaßen die Form der Vertrags¬
treue gewahrt wird. Spanien ist in Marokko mitinteressiert, weiß aber, daß es
seinen eignen Vorteil am besten wahrt, wenn es sich äußerlich nicht von Frank¬
reich und England trennt. Italien drückt als Mittelmeermacht, Rußland als
ami se sUiö beide Augen zu. Den andern Signatarmächten von Algeciras, mit
Ausnahme von Deutschland — und allenfalls Österreich-Ungarn, soweit ihm die
Aufrechterhaltung der Freundschaft mit Deutschland Rücksichten auferlegt —, ist die
Sache so gleichgiltig wie nur möglich. In die Unkosten einer Entrüstung über
Frankreichs Zweideutigkeit wird sich keine dieser Mächte stürzen.
Aber wenn auch nicht aus moralischen Erwägungen, so doch aus rein poli¬
tischer Klugheit mußten die Franzosen im eignen Interesse eine gewisse Vorsicht
beobachten und gewisse Rücksichten nehmen. Denn sie durften nicht darauf rechnen,
daß sich Deutschland durch irgendeine voreilige Handlung der Nervosität in der
Marokkofrage ins Unrecht setzen werde. Es blieben ihnen also nur zwei Wege,
wenn sie sich trotz Algeciras des marokkanischen Reichs bemächtigen wollten, ent¬
weder eine offne Provokation Deutschlands in der Annahme, daß auch der offne
Bruch der Algecirasakte von den andern Unterzeichnern nachsichtig übersehen werde»
würde, oder ein sehr vorsichtiges und überlegtes Spiel, das Deutschlands Protest
lahmlegte und es doch sanft und sicher aus Marokko hinausmanövrierte. Der erste
Weg enthielt doch ein zu starkes Risiko. Es hätte dazu die volle Entschlossenheit
gehört, von Frankreichs Seite einen Krieg zu entfesseln, der aller Wahrscheinlichkeit
nach ein Weltkrieg von unabsehbaren Dimensionen werden mußte. Frankreich ver¬
suchte es also auf die andre Art, hat aber das Spiel so plump und unvorsichtig
getrieben, daß es sich zunächst eine arge Schlappe geholt hat.
Der Thronstreit sollte der französischen Politik die Handhabe bieten, sich im
Lande festzusetzen, ohne den Vorwurf der Vertragsverletzung auf sich zu laden. Der
verschwenderische Schwächling Abdul Asif, der als anerkannter Sultan von Marokko
die Algecirasakte hatte rin unterzeichnen lassen, war durch die Notlage, in die er
durch die Aufstellung Mulei Hafids als Thronprätendent gekommen war, das ge¬
eignete Werkzeug für die französische Politik. Wenn es gelang, ihn in unauffälliger
Weise zu unterstützen, so konnte die Unsicherheit der Zustände nach Belieben ver¬
längert werden, und damit war der Vorwand für immer neue und immer aus¬
gedehntere kriegerische Expeditionen und für die fortdauernde Besetzung des Landes
gegeben. Es durfte nur die nachweisbare Unterstützung nicht den Umfang über¬
schreiten, der sich mit der Eigenschaft des Abdul Asif als des rechtmäßigen Sultans
rechtfertigen ließ. Verdankte Abdul Asif seinen Sieg im Thronstreit der franzö¬
sischen Unterstützung, war ferner die Beruhigung des Landes nur durch diese Unter¬
stützung möglich, dann war es auch leicht, den Sultan, dessen Unabhängigkeit ja
dnrch die Algecirasakte garantiert war, zu „freiwilligen" Zugeständnissen an die
Franzosen zu vermögen, denen gegenüber jede Berufung ans das internationale
Abkommen unwirksam war. Denn ein souveräner Herrscher kann natürlich neben
den übernommnen internationalen Pflichten, die er zu erfüllen hat, von seinen eignen
Rechten so viel an andre Stellen übertragen, als er nicht durch die Rücksicht auf
seine Stellung dem eignen Volke gegenüber daran gehindert wird. Diese Rücksicht
hätte wohl bei Abdul Asif keine Rolle gespielt. Die Souveränität des Sultans
von Marokko kann durch internationalen Vertrag nur so weit geschützt werden, als
die Erfüllung bestimmter internationaler Verpflichtungen davon abhängt oder als
sie von außen bedroht wird, nicht aber soweit sie, ohne jene Verpflichtungen zu
berühren, Gegenstand freiwilligen Verzichts wird.
Darauf hatten wohl die Franzosen gerechnet, als sie hofften, Abdul Asif so
weit unbemerkt unterstützen zu können, daß er formell wieder in den Besitz der
Gewalt kam. Sie glaubten dabei den Schein der Neutralität im Thronstreit auf¬
rechterhalten und ihre weitern militärischen Eingriffe damit begründen zu können,
daß die Fortschritte des Abdul Asif den Landfrieden noch nicht gesichert und ihnen,
den Franzosen, die beanspruchte Genugtuung und Entschädigung noch nicht gebracht
hätten.
Aber in dem ganzen Plane steckte ein grober Rechenfehler. Die ganze Be¬
völkerung von Marokko hatte sich in solchem Maße von Abdul Asif abgewandt
und war so sehr von Mißtrauen und Haß gegen die Franzosen erfüllt, daß diesen
eine wirklich ausreichende Unterstützung des Abdul Asif, ohne sich zu kompromit¬
tieren, unmöglich wurde. Sie gingen zwar bis an die äußerste Greuze dessen,
was mit Hilfe der Ableugnung offenkundiger und nachweisbarer Tatsachen nur
irgend möglich war. Aber es blieb bei der entschiednen Stimmung des ganzen
marokkanischen Volkes alles vergeblich. Es war nur noch der Weg übrig, durch
offne eingestandne Gewalttat der französischen Truppen Abdul Asif direkt nach
Marakesch zu führen. Diesen politischen Salto Mortale, der mit einemmale alle
Versicherungen der offiziellen französischen Politik Lügen gestraft hätte, wollte man
lieber doch nicht vollführen, und so half denn alles nichts, man mußte Abdul Asif
nun die letzte Entscheidung mit nur mangelhafter Hilfe suchen lassen. Damit
wurde der Sultan der unvermeidlichen Niederlage überliefert. Mulei Hafid war
unbestrittner Sieger, der wirkliche Vertrauensmann der Marokkaner, und seine
Ausrufung zum Sultan konnte von den Franzosen selbst unmittelbar unter ihren
Augen uicht mehr verhindert werden. Nun hatten die Franzosen zu allem Unglück
auch noch Mulei Hafid stets als Schützling Deutschlands hingestellt, offenbar in
der sichern Hoffnung, seine Niederlage herbeiführen und damit zugleich dem deutschen
Ansehen im Lande einen empfindlichen Schlag versetzen zu können. Um so schlimmer
rächte sich die falsche Einschätzung der Lage. Deutschland hatte wirkliche Neutra¬
lität beobachtet und nicht die geringste Handhabe geboten, seine Loyalität gegen¬
über der französischen Regierung anzuzweifeln — selbst die organisierten Lügeu-
fabriken in Marokko konnten kein Material dazu herbeischaffen —, trotzdem erreichte
dieser Mulei Hafid ohne fremde Unterstützung, was der von den Franzosen ge-
schobne und gestützte Abdul Asif trotz dieser Hilfe nicht erreichen konnte. Die
französische Marokkopolitik steht also nicht nur vor einer entschiednen Blamage,
sondern hat sich überdies in der Falle der eignen Arglist gefangen, da sie selbst
dafür gesorgt hat, daß der Erfolg ihres Gegners dem deutschen Ansehen zugute
kommt, während Deutschland selbst keinen Finger dazu zu rühren brauchte.
Frankreich ist nnn gezwungen, Mulei Hafid anzuerkennen, und muß sich auf
neue Mittel besinnen, um seine Pläne weiter zu verfolgen. Einstweilen scheint es,
als ob man durch kleine Intrigen die gemeinsame Anerkennung Mulei Hafids
durch die Siguatarmächte von Algeciras — denn um einen solchen Schritt, nicht
um ein vereinzeltes Vorgehen handelt es sich — möglichst verzögern wollte. Die
innern Schwierigkeiten in Marokko siud ja auch durch den Sieg Mulei Hafids
keineswegs beseitigt, wenn auch nach der rechtlichen Anschauung der Marokkaner
der tatsächliche Besitz der anerkannten Hauptstädte des Landes und die formelle
Ausrufung daselbst als ausreichende gesetzliche Unterlage der Herrschaft gilt, sodaß
Mulei Hafid auch ohne ausdrücklichen Verzicht seines entthronten Bruders tatsächlich
jetzt rechtmäßiger Sultan ist. Wie sich die Sache nun weiter entwickeln wird, ist
schwer vorauszusehen. Für unsre Politik bedeutet natürlich die Verlegenheit, die
sich die Franzosen selbst bereitet haben, keine Beseitigung der Schwierigkeiten, die
für uns in der Marokkofrage liegen. Man ist bereit, anzuerkennen, daß Frankreich
und Spanien auf Grund der besondern Stellung, die ihnen die Algecirasakte zu¬
weist, Mulei Hafid gewisse Bedingungen stellen, die natürlich auch vom Stand-
Punkt der deutschen Interessen innerhalb der durch die internationalen Verein¬
barungen umschriebnen Rechte zu prüfen sein werden. Aufgabe der Diplomatie
wird es aber auch sein, unnötige Verschleppungen und das weitre Hinhalten der
ungewissen Zustände zu verhindern.
Die Schwierigkeiten der Marokkofrage hängen selbstverständlich auch mit der
internationalen Lage zusammen, die noch auf lange hinaus ihren gegenwärtigen
Charakter behalten wird. Gewiß konnte der Besuch König Eduards in Cronberg
als ein Symptom für das Aufhören stärkerer Spannungen gelten, und von irgend¬
welchen besondern Gefahren für den Weltfrieden kann wohl jetzt nicht die Rede
sein, aber die Schwüle eines starken Mißtrauens lagert doch noch immer über der
politischen Stimmung der Völker. Wir dürfen jedoch niemals vergessen, daß wir
"is europäische Zentralmacht mit solchen Stimmungen immer zu rechnen haben
werden, und wenn unsre zentrale Lage uns auf der einen Seite mehr als jede
andre Macht auf einen friedfertigen Charakter unsrer aktiven Politik hinweist — weil
absichtlich von uns herbeigeführte Verwicklungen für uns leicht unberechenbar und
unabsehbar werden würden —, so ergibt sich aus dem gleichen Grunde auf der
andern Seite die Notwendigkeit, mehr als jedes andre Volk auf unsre Wehrkraft
bedacht zu sein. Die Furcht und das Mißtrauen, die wir dadurch leider unvermeid¬
licherweise andern einflößen, können wir nur durch die Lohalitat und Klugheit
unsrer Politik, durch die kühle Unbeirrt!)eit, mit der wir unsre berechtigten Interessen
wahrnehmen, zwar nicht beseitigen, Wohl aber ihrer akuten Wirkungen berauben.
schlechthin indiskutabel muß jedoch alles bleiben, was unsre Wehrkraft angeht. Bei
den wirklich politisch denkenden Leuten in England ist längst die Empfindung zur
Geltung gekommen, daß mau in der Tendenz, die Furcht vor Deutschland bei alle»
Verständigungen mit andern Mächten als Mittel zu verwenden und als Hebel an¬
zusetzen, zu weit gegangen ist und eben dadurch neue Konfliktstoffe geschaffen oder
wenigstens den schon vorhandnen neue Bedeutung gegeben hat. Nun glaubt man
einen besonders guten Schachzug zu tun, wenn man von englischer Seite die Realität
des Mißtrauens offen zugibt, zugleich aber auch den Wunsch zu erkennen gibt, die
verstimmenden Wirkungen der Politik, die man in Deutschland als „Einkreisungs¬
versuche" aufgefaßt hat, zu beseitigen. So hat Winston Churchill kürzlich in England
selbst für die Idee einer englisch-deutschen Annäherung Propaganda gemacht. Ein
andres Mitglied des Kabinetts, Lloyd George, hat Deutschland aufgesucht, um die
staatlichen sozialen Wohlfahrtseinrichtungen zu studieren, und ist, entzückt über die
freundschaftliche Aufnahme, die er gefunden hat, nach England zurückgekehrt. Wir
freuen uns dieser Annäherung, die wir für überaus nützlich halten, aber wenn immer
wieder der Gedanke damit in Verbindung gebracht wird, daß irgendwelche Verein-
barungen über beiderseitige Beschränkungen im Flottenbau zwischen Deutschland und
England getroffen werden könnten, so muß entschieden Widerspruch erhoben werden.
Es wird sicherlich keiner Verantwortlicher Stelle in Deutschland einfallen, auf solche
Vorschläge einzugehn.
König Eduard hat inzwischen von Marienbad aus das benachbarte Karlsbnd
aufgesucht, wo der französische Ministerpräsident Clämencecm zur Kur weilt, und
wo sich anch der russische Minister des Auswärtigen Jswolskij eingefunden hatte.
Die Zusammenkunft zwischen dem britischen Herrscher und den beiden Staatsmännern
Rußlands und Frankreichs ist in der deutschen Presse vernünftigerweise sehr kühl
aufgenommen worden, aber es ist bezeichnend, daß sich in England die Stimmen
mehren, die von der politischen Geschäftigkeit ihres Königs wenig erbaut sind. Die
Sache fängt in ihren Augen an, einen unkonstitutionellen Beigeschmack zu bekommen.
Nun hat diese Kritik freilich nicht allzuviel zu sagen, denn König Eduard ist ein
zu kluger Mann und Sir Edward Grey ein zu gewiegter Staatsmann, als daß
beide es verabsäumen sollten, im engsten Einvernehmen zu handeln, sodaß der
König in der Sache doch stets durch den Verantwortlicher Minister dem Parlament
gegenüber gedeckt ist. Aber man beginnt doch in England zu erkennen, daß ge¬
wisse Augenfälligkeiten in der Führung der auswärtigen Politik des Reichs nicht
den erwarteten Nutzen gebracht haben, und das dürfte für uns die Lehre in sich
schließen, in der Beurteilung der auswärtige» Fragen etwas weniger nervös zu
sein, als es unsre öffentliche Meinung in letzter Zeit mehrfach gewesen ist.
In der innern Politik gibt immer noch der Fall Schücking den Anhalt für
alle grundsätzlichen Auseinandersetzungen der Parteien. Neuerdings haben die
Konservativen eine parteioffiziöse Erklärung dazu erlassen, die sich zwar bemüht,
möglichste Zurückhaltung zu beobachten und künftigen Entscheidungen nicht vor-
zugreifen, aber doch ziemlich deutlich die Anschauung hervortreten läßt, daß die preu¬
ßische Regierung die Staatsautorttät muss Spiel setzen würde, wenn sie den Re¬
gierungspräsidenten von Schleswig desavouierte. Das wäre nun freilich eine
eigentümliche Begriffsverwirrung. Käme dieser Grundsatz in Aufnahme, dann läge
die Entscheidung, was dem Staate und seiner Autorität frommt, tatsächlich bei den
untergeordneten Behörden. Denn jedesmal müßten deren Anordnungen gutgeheißen
werden um der Stantsautorität Wille«, da diese Anordnungen doch in den aller-
seltensten Fällen von den Beamten zum Vergnügen, vielmehr in der Regel in der
besten Absicht, dem Staate zu dienen, getroffen werden. Wie man es aber mit den
altpreußisch-konservativen Begriffen von Staatsautorität vereinigen will, daß ein
politischer Beamter in einer reinpolitischen Angelegenheit einen Schritt tut, der den
Anschein einer offnen Opposition gegen die Grundsätze der offiziell verkündeten
Staatspolitik erwecken muß, das ist schwer verständlich. Nur dieser ganz allgemeine
Gesichtspunkt kommt in Betracht. Gegen den Regierungspräsidenten persönlich hat
niemand etwas, und die Persönlichkeit des Bürgermeisters Von Husum ist den
»leisten Menschen, die weder in Husum wohnen noch seine Parteifreunde sind,
höchst nebensächlich und gleichgiltig. Aber die Umstände haben den Fall zu einer
Probe gestaltet, ob nach den alten abgewirtschafteten Methoden weiter regiert, oder
ob eine wirkliche Blockpolitik getrieben werden soll, das heißt eine Politik, die den
verschiednen Parteien, wenn sie nicht — wie Ultramontane und Sozialdemokraten —
mit den letzten Gründen ihres Handelns außerhalb der Staatsordnung und deren
Interessen stehn, das Vertrauen schenkt, daß sie sich trotz verschiedner Grundsätze in
Politischen Spezialfragen doch zu allen wichtigen Entscheidungen auf dem Boden
der Verfassung und des nationalen Interesses zusammenfinden werden, eine Politik,
die diesem Vertrauen gemäß die Meinungen — auch wenn sie der Regierung in
stärkerer Kritik oder Opposition gegenüberstehn — nicht gängeln und bevormunden
darf, sonder» frei gewähren läßt. Diese letztere Politik ist offiziell verkündet worden,
folglich haben auch alle politischen Beamten die Verpflichtung, sie in ihren amt¬
lichen Handlungen zu vertreten. Das zum Ausdruck zu bringen, liegt im Interesse
der Staatsautorität.
Ein Jahr-und Lesebuch, unter Mitwirkung zahlreicher
Fachleute herausgegeben von Dr. Ernst von Halle, Professor an der Universität
und Technischen Hochschule Berlin. Wirklichem Admiralitätsrat. 2. Jahrgang 1907;
dritter Teil: Das Ausland. Berlin und Leipzig, B. G. Teubner, 1907, geheftet 5 Mark.
Für Mittel- und Südamerika hat auch im Jahre 1907 noch keine befriedigende
Arbeit erlangt werden können, und aus der Türkei hat der betreffende Mitarbeiter
keine neuen Zahlen zu ermitteln vermocht. Dagegen sind die deutschen Kolonien
aufgenommen worden. Daß man über diese zuverlässige Zahlen und Angaben findet,
erhöht den Wert des Bandes ganz bedeutend. Mit Rücksicht auf die bekannten
Äußerungen des Kolonialsekretärs Dernburg über die Eingebornenkulturen in Ost¬
afrika wird folgende Mitteilung aus dem Abschnitt „Togo" interessieren: „Zur
Förderung der Eingebornenkulturen, insbesondre des Baumwollenbaues, der in Togo
nie in großen Plantagen, sondern immer ^nur^ als Volkskultur möglich sein wird,
übernahm das Gouvernement die von dem wirtschaftlichen Ausschuß der Deutschen
Kolonialgesellschaft, dem Kolvnialwirtschaftlichen Komitee gegründete Ackerbauschule in
Nuatschä. Dort genießen, wobei sie noch eine Entlohnung erhalten, junge Eingeborne
landwirtschaftlichen praktischen Unterricht. Nach dem dnrch Prüfungen festgestellten
erfolgreichen Besuch der Schule werden ihnen Saatgut, Geräte und 8 Hektar Land
überwiesen, ohne daß sie weitere Verpflichtungen übernehmen." Über die Mineral-
schätze von Südwestafrika wird nach Erwähnung der Kupferlager bemerkt: „Wie es
mit Diamanten, Gold und Kohlen steht, wissen wir nicht, denn die geologische Unter¬
suchung der Kolonie ist noch sehr rückständig." Unter den Auslandstaaten sind die
beiden (außer Österreich) für uns wichtigsten zugleich die im Augenblick interessantesten.
Wir erfahren, daß die Lage von Handel und Gewerbe im Britischen Reiche im ganzen
befriedigend war, daß, wenngleich ein zugunsten der Trabes Unions erlaßues Gesetz
einige Unzufriedenheit erregte, die Regierung durch ihre Haltung und ihre Ma߬
nahmen das Vertrauen des Landes nicht verscherzt hat, daß der Einfuhrüberschuß
stetig abnimmt (er ist von 185,5 im Jahre 1902 auf 149 Millionen Pfund Sterling
im Jahre 1906 gefallen), und daß sich die dem Körnerbau gewidmete Fläche wieder
um 67000 Acres verringert hat (in England nur; in den Nebenländern nimmt die
Anbaufläche nicht ab). Als Ursache der Hauffe in den Vereinigten Staaten, der
mittlerweile ein gewaltiger Krach ein trauriges Ende bereitet hat, wird die beispiellos
reiche Ernte von 1906 angegeben; „der Wert der landwirtschaftlichen Produkte
erreichte die enorme Gesamthöhe von 6794 Millionen Dollars, eine Steigerung von
485 Millionen gegen das Vorjahr." Das Jahrbuch wird uun wohl bei allen
Behörden und Personen, die sich über volkswirtschaftliche Dinge unterrichten müssen
oder wollen, als unentbehrliches Nachschlagewerk eingeführt sein, sodaß sich die Be¬
stellung des dritten Jahrgangs, dessen ersten Band wir nächstens erwarten dürfen,
von selbst versteht. — Wie ich jetzt noch einmal die ersten zwei Teile durchblättere,
entdecke ich einen sehr unangenehmen Mangel: das ganze Werk enthält leine Spezialisierte
Statistik des deutscheu Auslandshandels. Sowohl im ersten, allgemeinen Teil wie
im zweiten (Deutschland) werden nur die Zahlen des Gesamtwerts der Ein- und
Ausfuhr des Deutschen Reichs angegeben; wer zum Beispiel Auskunft darüber haben
will, für wieviel Millionen Mark wir im Betriebsjahre importierte Lebensmittel
verbraucht haben, der sucht vergebens. Das Jahrbuch vermag demnach schon aus
diesem Grunde die bei Gustav Fischer in Jena erscheinende Volkswirtschaftliche
Ch
Fr. Nietzsche
sagt einmal, um einen Blick auf eine Stadt zu gewinnen und ihre Türme und
Häuser in ihren wahren Höhenverhältnissen gegeneinander abzuschätzen, sei es not¬
wendig, aus der Stadt herauszugehn und sie sich aus der Ferne anzuschauen. In
den Beziehungen, die Nietzsche dort diesem Grundsatz gibt, er redet von der
Beurteilung der Sittlichkeit, bestreiten wir seine Richtigkeit. Wenn er aber irgendwo
Geltung hat, dann gilt er im Gebiet der Geschichtswissenschaft. Nichts ist schwieriger
und undankbarer, als die Geschichte seiner eignen Zeit nach irgendeiner Hinsicht
schreiben zu wollen. Man gleicht dann wirklich dem, der in den Gassen und Gäßchen
der Stadt herumgeht, ohne den Plan der ganzen Anlage zu überblicken, durch das
kleine Haus dicht vor den Augen gehindert, den ferner liegenden Turm zu sehn,
und immer in falschen Größenschätzuugen befangen. Besser hat es der Beschauer,
der die Stadt von der Ferne sieht, das heißt auf die Zeit, die er beschreiben will,
als eine vergangne zurücksehn kaun. Wer aber seine eigne Zeit schon geschichtlich
richtig werten will, der muß wenigstens auf hoher Warte wohnen. Ist auch nicht
zu verlangen, daß er über der Stadt schwebe, so muß sein Standort doch schon
zu den höchsten Zinnen zählen, die über das Gewirr der niedern Dächer hinüber
einander grüßen.
Wenn man die Geschichte der neuern Theologie Fr. H. R. von Franks aus
seinem Nachlasse herausgab, so fühlte man sich zu diesem Schritte berechtigt, und
wohl kein Gegner hat dieses Recht bestritten, denn Frank bedeutet einen Höhepunkt
in der Entwicklung der deutschen Theologie, und er besaß die Weite und Schärfe
des Blicks, die ihn zur Beurteilung seiner Zeit berufen sein ließ. Drei Ausgaben
hatte seine „Geschichte der neuern Theologie" bisher erlebt, und nur ein Zusatz über
Frank selbst und seine Theologie war aus der bewährten und hierzu vorzugsweise
geeigneten Feder N. Seebergs hinzugekommen. An eine eigentliche Fortsetzung des
Unternehmens der Geschichte und Kritik der Theologie bis in die neuste Zeit hatte
man sich nicht gewagt. Und doch rief das Werk nach einem Fortsetzer, da sich seit
Franks Tode bedeutsame Wandlungen im Stande der theologischen Wissenschaft ereignet
haben. Es war eine Kühnheit, als sich R. H. Grützmacher*) mit junger und
frischer Hand an die liegengelassene Aufgabe machte. Und in der Tat fügt sich
der umfangreiche Zusatz (Seite 377 bis 532) dem Stamm des Werks würdig um.
Ja wir können vielleicht mit mehr Recht sagen, es ist nicht ein Zusatz, eine an¬
geleimte Ergänzung, sondern ein neuer Jahresschoß, den der alte Stamm getrieben
hat. Wir erkennen etwas vom geistigen Erbe Franks in der theologischen Grundlage
sowohl als in dem feinsinnigen Eingehn auf die Regungen der Zeit und die in
der heutigen Theologie lebenden Gedanken. Insbesondre sind wir dem Fortsetzer
dankbar dafür, daß er die alte Art, die vor einer Generation noch zur Rechten
wie zur Linken üblich war, in Ehren hält, nämlich klar und bestimmt die Worte
das sagen zu lassen, was sie wirklich sagen, und daß er nicht die Sprache dazu
benutzt, die letzten Gedanken zu verbergen. Die „Biegsamkeit der Begriffe" ist eine
verhängnisvolle Errungenschaft der neuern Theologie.
Die Behandlung der zeitgenössischen Theologie (in drei Abteilungen: 1. Die
ältere Nitschlsche Theologie. 2. Die religionsgeschichtliche Theologie. 3. Die positive
Theologie) dürfte hauptsächlich Theologe» interessieren, aber jedem, der einen Überblick
anstrebt über die Geistesmächte seiner Zeit und über das Kampffeld, auf dem sie
sich messen, muß die Lektüre der allgemeinen Einführung in die geistesgeschichtliche
und religiöse Situation einen hohen Genuß gewähren.
So weist der Verfasser als einen charakteristischen Zug der Zeit das mähliche
Schwinden des Materialismus auf, der die Geistesrichtung einer zurückliegenden
Generation maßgebend beeinflußte. Der echte theoretische Materialismus eines
Büchner und Moleschott ist nicht bloß von den geistig höchststehenden, sondern jetzt
mich schon von der Durchschnittsbildung aufgegeben worden. Nur durch Anleihen bei
idealistischen, ja sogar ethisch-religiösen Weltanschauungen vermag er sich noch einer
heutigen Jugend im Gewand eines Haeckelschen Monismus zu empfehlen. In Wirk¬
lichkeit handelt es sich nicht mehr um einen Geistesstrom, der die Zeit in seinem
Zuge fortreißt, sondern lediglich „um das Plätschern vou Gewässern in der Tiefe,
deren Quellen auf der Höhe längst versiegt sind". Der praktische Materialismus
mit seinem Grundsatz: „Lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot"
hat ja in jeder Zeit seine Vertreter gehabt, und sie fehlen unsrer Zeit keineswegs.
Aber er ist kein besonders hervorstechendes Merkmal gerade unsrer Zeit mehr, wie
man es in einer verflossenen Periode wohl behaupten konnte. Der individuelle
Eudämonismus, der nur ans Selbstgenießen dachte, ergänzt sich durch den sozialem
Man will nicht mehr nur selbst genießen, sondern andre sollen es auch. Das Volk,
die Nation soll groß und mächtig sein, und dies Streben steht dem Einzelnen
vielleicht höher als seine. Sonderinteressen. Die höchsten Güter sind nicht mehr
materieller Besitz und Genuß, sondern idealere Werte rücken wieder in ihr Recht
ein. Wenn man auch dem spezifischen Christentum vielleicht kühl und einer dogmatischen
Bindung ablehnend gegenübersteht, so geht doch ein tiefreligiöser Zug, eine Sehn¬
sucht nach Mystik durch unsre Zeit. Dem Volk materialisiert sich das geheimnisvoll
Mystische in Aberglauben und Zauberei, Spiritismus und Theosophie stehn im
Schwang. Die Gebildeten Pflegen eine religiös gestimmte Heldenverehrung oder
bilden sich Phantasiegestalten, wie den Zarathustra, zu denen sie sich kaum anders
stellen als vergangne Zeiten zu ihren Göttern, „deren geheimnisvoller Leitung sie
ihres Lebens Richtung unterstellen, und mit denen sie in demutsvoller Unterwerfung
wie mit gegenwärtigen Verkehren". Oder man sucht Anschluß an mittelalterliche
oder gar indische Mystik. So bereitet sich der Boden wieder, ans dem eine
Metaphysik als Saat aufgehn kann, nachdem im vorigen Jahrhundert gerade dieses
Feld brach lag, ja grausam zertreten und verwüstet erschien. Wenn man von einem
vorstechenden „Wirklichkeitssinn" unsrer Zeit reden will, so hat auch dieser ein andres
Gesicht, als ihm die aus einer vergangnen Periode stammende Terminologie zu geben
denkt. Für „wirklich" gilt heute nicht mehr blos; das mit Händen greifbare Stoff¬
liche, sondern zu ihm gehört auch das Psychische, Geistige, ja Mystische und Meta¬
physische, das man nach den für das jeweilige Gebiet zulässigen Methoden zu
behandeln beginnt.
Bis jetzt ließen wir uns den Begriff „modern" von den in einer frühern
Periode aufgewachsnen nach ihrer Weise bestimmen. Wir halten es für überaus
wichtig, daß hier ein mündig gewordnes Kind unsrer Zeit nach seinem Rechte greift,
das, was jetzt wirklich die Zeit bewegt, was in ihr neues gard und treibt, als
„Moderne" hinzustellen und jenen nachzuweisen, daß ihr Zopf, der ihnen noch hinten
hängt, eben nicht mehr modern ist. Diese Wahrheit ist die Fackel, mit der der Ver¬
fasser hineinleuchtet in unser Geistesleben und speziell in die Theologie. Das gibt
überraschende Beleuchtungseffekte und fordert von denen, die mit der Zeit angehn
wollen, eben neue Stellungnahme.
Wenn sich darum die besprochne Schrift auch zunächst an Theologen wendet
und ganz besonders jungen Theologen ein unentbehrlicher Wegweiser ist, so glauben
wir doch, daß sie allen, die eine höhere Bildung als das gewöhnliche Durchschnitts¬
niveau suchen, interessante Durchblicke und Überblicke bieten wird zur Beurteilung
und Charakteristik unsers gesamten Geisteslebens.
tuo Vfolima^v
Uhr rsuckt sie in Stier I^>su<tern, es Icein Nonopol Unze, uncl MSN
rsucnt sie in Stier lvreisen aler ösvöllcerunA. I^in öevveis cislür, <j»ü
ihre xroken Vor^üxe uncl Vorteile solort erlcsnnt uncl mit VerAnüg'en
xsnossen wer<jeu: alle Icöstlicns ?einrieit inres (lesclimsclces uncl ne»
rucnes uncl ilir msüi^er ?reif, <is usu Iceins ^usststtunx mit 2u
?sulen orsucnt. Le> list sie hier alle Welt erobert, — L>0
„Sälen ^IsiKum"!
Laien» ^leikum - Lixarettei»: Keine ^usststtunA, nur (juslitst:
U,-. 3 4 5 6 8 10
lie ^röte französische Republik hatte eine auffällige Neigung für
die Dreizahl. Die uralten Reichsbanner waren einfarbig gewesen,
die nach der sinnreichen Heraldik des Mittelalters gebildeten
Fürsten- und Adelsfahnen wiesen nie mehr als zwei Farben
! nebeneinander auf; die erste Republik dagegen faßte die Farben
des weißen Lilieubauners und die Stadtfarben von Paris in ein Fahnentuch
zusammen und schuf die „Trikolore". Das war etwas ganz neues, fand die
gebührende Beachtung und wurde ein Muster und zugleich der Gattungsname
für die Vcmner der nachher entstehenden europäischen Staatenbildungen. Belgien,
Griechenland, Italien und auch das neue Deutsche Reich haben moderne Trikoloren.
Die erste Republik erfand auch den Wahlspruch: Freiheit, Gleichheit, Brüder¬
lichkeit. Seit dieser Zeit ist der Dreiklang, der in ältern Devisen kaum vor¬
kommt, im politischen Leben Mode geworden und wurde oft durch eine überflüssige
Erweiterung mit einer gewissen Künstlichkeit erst geschaffen: Öffentlichkeit,
Mündlichkeit und Unmittelbarkeit des Gerichtsverfahrens, allgemeines, gleiches
und geheimes Wahlrecht. Hier fällt gleich auf, daß in dem einen Dreiklang
die Öffentlichkeit verlangt, im andern ausgeschlossen wird, obgleich ein Satz
so liberal klingt wie der andre. Der Liberalismus des vorigen Jahrhunderts
hatte sich auf dem Erbe der französischen Revolution aufgebaut und stellte sich
gern als den Inhaber und Bewahrer des politischen gesunden Menschenverstandes
hin. Seit er später noch die täuschenden Gemeinplätze der Freihandelslehre
Cobdens unter seine Fittiche genommen hatte, schien er es tatsächlich auch zu
sein. Die Gebildeten aller Länder huldigten ihm, und wer sich fernhielt, galt
einfach als Reaktionär. Der Liberalismus war in Wirklichkeit eine Macht
geworden, und seine Einflüsse aus damaliger Zeit machen sich noch jetzt in
nützlichem oder nachteiligem Sinne bemerkbar. Er säumte übrigens auch nicht,
sich alle Errungenschaften der Zeit gutzuschreiben, namentlich die gewaltigen
Fortschritte des Verkehrswesens. In dem damals allem wirtschaftlich entwickelten
und urteilsfähigen England warnten wohl vor mehr als vierzig Jahren schon
einzelne Kare Köpfe davor, die durch die Entwicklung des Verkehrs bedingten
Fortschritte als Folge politischer und wirtschaftlicher liberaler Grundsätze an-
zusehn, aber diese Einwände wurden vom Liberalismus und Cvbdenismus
einfach totgeschwiegen. Und doch waren sie stichhaltig, denn die Kulturfort¬
schritte des Verkehrs haben sich unter dem absolutistischen Rußland bei den
vor fünf Jahrzehnten noch barbarischen Turkmenen in Transkaspien ebenso
gezeigt wie in den mehr oder weniger liberal angehauchten Ländern, sie sind
eben Folgen der Maschinenzivilisation und haben mit liberalen Gedanken gar
nichts zu tun.
Der Zusammenbruch der Alleinherrschaft des Liberalismus ging eigentlich
von Deutschland aus, wo er nicht verstanden hatte, bei der größten politischen
Schöpfung der Neuzeit, der des Deutschen Reichs, die Führung in der Hand
zu behalten, sondern sich in doktrinärer Befangenheit schließlich in den tollsten
Partikularismus verrannt hatte. Der Sieger war der „Reaktionär" Bismarck,
und der Glaube an die liberale Unfehlbarkeit war dahin. Die neue Schöpfung
war ein genialer Kompromiß zwischen dem Althergebrachten und den politisch
verwendbaren Sätzen der liberalen Theorie, die einer praktischen Politik fähigen
Liberalen schlössen sich ihm an. Das Resultat davon war ein Jahrzehnt des
Überwiegens des praktischen Liberalismus in Deutschland, bis Rückfälle in die
alte liberale Theorie die Wirkung zum Teil wieder aufhoben. Der übrige deutsche
Liberalismus, den die starre Konsequenz der Führer noch vier Jahrzehnte bei
der alten Theorie „voll, ganz und unentwegt" festhielt, ist erst in der neusten
Zeit dem Beispiel der Nationalliberalen auf dem Wege zur praktischen Politik
gefolgt und ist bisher gut dabei gefahren. Dem sonst trefflich bewährten großen
Kompromiß von 1867 haften aber noch verschiedne Mängel an, die unausgesetzt
Stoff zu innern Streitigkeiten geben und eigentlich sämtlich auf gewisse liberale,
dem deutschen Wesen fremde Dreiklänge zurückzuführen sind. Denn es darf als
ausgemacht gelten, daß die Teile des Kompromisses nach der andern Richtung,
namentlich soweit sie sich mit dem Partikularismus berühren, durchaus un¬
schädlich geblieben sind. Auch alle Furcht vor dem monarchischen Absolutismus
hat sich als gegenstandslos erwiesen. Von allen diesen Seiten droht unserm
öffentlichen Leben uicht die geringste Gefahr. Der Deutsche Kaiser und die
deutschen Herzöge — wenn sie jetzt auch andre Namen haben —, die des Reichs
Heere führen, sind wieder da und in einer viel vollkommnern Reichstreue, als
sie selbst zur Hohenstaufenzeit bestand. Nach dieser Richtung hin ist der große
Kompromiß, die Reichsverfassung, tadelfrei. Die Wirklichkeit bleibt ja dem
Traume und der Sehnsucht immer etwas schuldig, aber wir bedürfen keiner
größern Einheit. Daß sie zusammenhält, dafür können wir die Weltlage und
die Weltpolitik sorgen lassen. Aus dem glühenden Empfinden unsrer Väter
ist ein politischer Begriff und eine wirkliche Macht, aus dem deutscheu Vater¬
lande das Deutsche Reich geworden, aber das echte deutsche Behagen, das jene trotz
des bloß erträumten Vaterlands besaßen, haben wir seit dem Umzüge in den
großen Neubau noch nicht wiedergefunden, und der Stolz und die Freude, jetzt
ein Deutscher zu sein, ersetzen es gar nicht. Es sind eben noch Einflüsse und
Mißbräuche vorhanden, die gerade den besten Deutschen das Behagen verleiden.
Da sind zunächst die Wahlrechtsfragen. Wir haben im Reiche das mit
dem Dreiklang „allgemein, gleich und geheim" behaftete Wahlrecht. Im Ver-
fassungsentwurf des Norddeutschen Bundes stand der Dreiklang noch nicht, das
„geheim" ist erst durch den nationalliberalen Antrag Fries hineingekommen.
Das so beschaffne Reichstagswahlrecht hat zuweilen überraschend günstige, meist
aber recht zweifelhafte Dienste getan und nur selten eine nationale Mehrheit
ergeben. Bismarck hat es, solange er „im Dienst" war, immer verteidigt, aber
keinen Zweifel darüber gelassen, daß es ihm nur Mittel zum Zweck gewesen
war. In seinen „Gedanken und Erinnerungen" stellt er das auch in den
Vordergrund, fügt aber unter anderm hinzu: „Ich habe nie gezweifelt, daß
das deutsche Volk, sobald es einsieht, daß das bestehende Wahlrecht eine schädliche
Institution sei, stark und klug genug sein werde, sich davon frei zu machen....
Außerdem halte ich noch heute das allgemeine Wahlrecht nicht bloß theoretisch,
sondern auch praktisch für ein berechtigtes Prinzip, sobald nur die Heimlichkeit
beseitigt wird, die außerdem einen Charakter hat, der mit den besten Eigen¬
schaften des germanischen Blutes in Widerspruch steht." Ob sich in dem von
Bismarck angegebnen Falle das deutsche Volk wirklich aus sich selbst, ohne
Revolution von oben, vom allgemeinen Wahlrecht freizumachen vermöchte,
erscheint sehr fraglich, dagegen besteht kein Zweifel darüber, daß die geheime
Wahl die am wenigsten sittlich berechtigte Seite des Reichstagswahlrechts ist.
Über die Öffentlichkeit der Wahl ist übrigens in diesen Blättern (Grenzboten 1908,
II, 66) so schätzenswertes ausgeführt worden, daß darauf einfach verwiesen
werden kann. Der Unverstand unsrer bestehenden Wahlrechte, des Reichstags¬
wahlrechts sowohl wie des preußischen Dreiklassenwahlrechts, liegt jedoch nicht
in dem ihnen zugrunde liegenden, an sich berechtigten Prinzip, sondern an der
bezirksweisen Vornahme der Wahlen. In diesen treten die Ungeheuerlichkeiten
und Lächerlichkeiten des allgemeinen wie des sogenannten Plutokratischen
Wahlsystems hervor, daß zum Beispiel Krupp mit jedem seiner Arbeiter, Virchow
mit seinein Stiefelputzer das mathematisch gleiche Wahlrecht hatte, oder daß
der deutsche Reichskanzler in der dritten Klasse wählte, wenn er zufällig in
einem reichen Wahlbezirk wohnte. Das beweist aber bloß, daß keins von beiden
ein wirklich gerechtes Wahlrecht ist, sondern unter Umständen das Neichstags-
wahlrecht ebenso wie das preußische Dreiklassenwahlsystem von einem Bismarck
als „ein widersinniges, elendes Wahlgesetz, welches alles Zusammengehörige
anseincinderreißt und Leute zusammenwürfelt, die nichts miteinander zu tun
haben", bezeichnet werden könnte.
Das Ideal, „alles Zusammengehörige" beieinander zu lassen, könnte
höchstens durch ein dem deutschen Herkommen entsprechendes Wahlgesetz nach
Berufen und Ständen erreicht werden, wobei das allgemeine und gleiche Wahl¬
recht gewahrt bliebe und die Geheimhaltung der Wahl als ziemlich nebensächlich
gelten könnte. Ob wir jemals dahin kommen werden, ist unter deu heutigen
Verhältnissen sehr zweifelhaft, und wir werden uns darum mit den vorhandnen
Wahlrechten behelfen müssen. Auffällig erscheint unter diesen Umständen nur,
daß sich ein großer Teil des Liberalismus neuerdings mächtig für die Ein¬
führung des Reichstagswahlrechts in den Einzelstaaten ins Zeug legte. Die
Bewegung dafür hat ihren hauptsächlichen Sitz in Süddeutschland, wo man
immer für das französische Freiheitsideal, das eigentlich nur auf allgemeine
Gleichheit hinausläuft, eine gewisse Neigung gehabt hat. Die Erfahrungen, die
bisher in den drei größern süddeutschen Staaten mit der Annäherung an das
Reichstagswahlrecht gemacht worden sind, sind jedoch für den Liberalismus
nichts weniger als ermutigend. Mit doppeltem Erstaunen mußte darum die
plötzliche entschiedn« Stellungnahme des norddeutschen Liberalismus für die
Einführung des Neichstagswcchlrechts in Preußen aufgenommen werden. In
Norddeutschland ist die Neigung dafür, außer in sozialdemokratischen Kreisen,
niemals groß gewesen, auch bei den letzten preußischen Abgeordnetenhauswahlen
hat sich nichts weniger als Begeisterung dafür gezeigt. Das Hütten sich die
Freisinnigen doch im voraus sagen müssen, ganz abgesehn davon, daß die
Einführung des Reichstagswahlrechts in Preußen nur ihnen nachteilig sein
kann, da die Mehrzahl der bisher freisinnigen Wahlkreise den Sozialdemokraten
zufallen müßte. Man steht da wirklich vor einem politischen Rätsel, um so mehr
da kurz vorher bei den Ncichstagswcchlen die Freisinnigen doch mit den übrigen
nationalen Parteien an dem Zurückdrängen der Sozialdemokratie so eifrig teil¬
genommen hatten, nun aber eine ausgesprochen sozialdemokratische Forderung
auf ihr Panier schrieben. Denn eine eigentlich freisinnige Forderung ist das
allgemeine Wahlrecht gar nicht, und im konstituierenden Norddeutschen Reichs¬
tage sprachen die Liberalen Weber, Gumbrecht, auch Tochter und Sybel
dagegen, weil sie sehr wohl die darin liegende Gefahr für das Bürgertum
erkannten. Die beiden ersten erklärten geradezu, die Vorlage sei gegen die
Liberalen, die durch die Massen, die damals noch köuigstreu waren, an die
Wand gedrückt werden sollten.
Seit jenen Tagen haben sich die Anschauungen wieder einmal geändert,
und das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht wurde unter das Rüstzeug
des Linksliberalismus aufgenommen. Der eigentliche Beweggrund dafür ist
aber schwer herauszufinden, wenn man ihn nicht in der Phrase: allgemein,
gleich und geheim suchen will. Würde das Reichstagswahlrecht in Preußen
eingeführt oder das preußische Wahlrecht in einem ähnlichen Sinne abgeändert,
so ginge den Liberalen die Mehrzahl ihrer bisherigen Landtagswahlkreise ver¬
loren. Das haben die letzten Abgeordnetenhauswahlen wieder bewiesen. Es
ist unter diesen Umständen schwer zu verstehn, wie auf dem vom neuen Na¬
tionalverein berufnen gesamtliberalen Kongreß Anfang Juli in München einer
der ersten Redner noch sagen konnte: „Wer nicht prinzipieller Pessimist ist,
wird doch trotz der letzten preußischen Landtagswahlen klar sein, daß es all¬
mählich vorwärts geht." Ein Blick in die führenden liberalen Blätter zeigt
auch, daß diese Auffassung dort nicht geteilt wird. Der Ausfall der preußischen
LandtagSwahlen hat deutlich gezeigt, daß dem Liberalismus nicht jener parla¬
mentarische Einfluß gesichert worden ist, auf den er sich nach seinem wirklichen
oder vermeintlichen Ideengehalt Anspruch zu erheben für berechtigt hält. Man
hatte sich ja vor den Wahlen vorgenommen, diesmal die konservativ-klerikale
Mehrheit zu brechen. Das war wohl ein sehr hochfliegender Plau, doch gegen
die ihm zugrunde liegenden Gedanken wäre an sich nichts einzuwenden, aber
er ist nicht gelungen, weil er nicht gelingen konnte. In den Entschnldigungs-
versuchen für den Mißerfolg war die liberale Presse einstimmig in der Be¬
hauptung, wegen der Öffentlichkeit der Wahl hätten sich die freisinnigen Be¬
amten vor den vorgesetzten Behörden, freisinnige Handwerker und Geschäfts¬
leute vor dem sozialdemokratischen Terrorismus gefürchtet. Damit mag es seine
Nichtigkeit haben, mit der Furcht der Beamten aber wohl kaum. Es gibt doch in
ganz Europa keine Negierung, die sich sorgsamer davor hütet, einen Druck auf
die ihr untergebnen Wühler auszuüben, wie die preußische, und Fürst Bülow
ist wohl der liberalste Staatsmann, den wir je gehabt haben. In den soge¬
nannten liberalen Ländern, in der französischen Republik, im freien England
und andern geht es bei der Beeinflussung der Beamten ganz anders zu.
Übrigens haben gerade die Nationalliberalen die größten Verluste erlitten, und
von einer Beeinflussung nationalliberaler Beamter kann doch wohl im Ernst
keine Rede sein.
Die Ursache des liberalen Wahlmißerfolgs liegt einfach darin, daß sich
die Liberalen mit der Volksströmung, die nach der Reichstagsauflösung ein¬
getreten war, und der sie selbst so erfreulichen Vorschub geleistet hatten, aus
veralteten Parteigewohnheiten wieder in Widerspruch gesetzt haben. In ihren
ewigen Wahlnvten, in denen sie schon seit Jahrzehnten nur in den Stich¬
wahlen durch Unterstützung von rechts oder links eine nennenswerte Anzahl
von Mandaten zu erlangen vermochten, hatten sie ganz übersehen, welche
Stimmung sich in den weitesten Kreisen des Bürgertums entwickelt hatte, das
nur auf den Ruf wartete: Wider die Sozialdemokratie! Von Eugen Richter
läßt sich behaupten, daß er am Ende seiner politischen Wirksamkeit zu dieser
Erkenntnis durchgedrungen war, von der Mehrzahl der übrigen Liberalen aber
nicht. Der Ruf: Wider die Sozialdemokratie! ging darum nicht von ihnen
aus, sondern von der Regierung, die auch damit den großen Erfolg bei den
Reichstagswahlen erreichte. Von der Mehrzahl der Liberalen wurde die
eigentlich treibende Kraft bei diesem Umschwung verkannt; man zählte nach
hergebrachter Weise mechanisch den Zuwachs an Stimmen und Mandaten und
schloß daraus auf einen großen Erfolg des Liberalismus. Das war ein
Irrtum, wie er bei den in enger Parteischablone befangnen Politikern vorzukommen
pflegt. Man hat es in weiten Kreisen des Liberalismus anch heute noch
nicht eingesehen, wie sehr ihm gerade das unausgesetzte Liebäugeln seiner
radikalen Gruppe mit der Sozialdemokratie in allen Schichten des Bürger¬
tums nachteilig ist. Dort hat man es als ein vollkommnes Abweichen von
der Haltung bei den Reichstagswahlen aufgefaßt, daß dieselben Männer, die
soeben noch die Sozialdemokratie mit nationalen Beweggründen bekämpft
hatten, jetzt beflissen waren, diesen zum Reichstagswahlrecht für den Landtag
zu verhelfen. Darauf beruht in der Hauptsache der Wahlmißerfolg der
Liberalen. Wäre man bei der Wahlparole für den Reichstag: Wider die
Sozialdemokratie! geblieben, so wäre nicht nur Moabit nicht den Sozial¬
demokraten zugefallen, sondern es wären unzweifelhaft auch noch einige andre
Berliner Wahlkreise erhalten geblieben. Mau konnte doch aber von den
nationalen Wählern, die bei der Neichstagswahl bereitwillig für die zum
erstenmal im nationalen Lager auftretenden Liberalen ihre Stimmen gegen
die vaterlandslose Partei abgegeben hatten, nicht erwarten, daß sie nnn für
Kandidaten eintreten sollten, die den Sozialdemokraten einen Erfolg verschaffen
wollten. Diese Wähler blieben einfach zu Hause.
Das haben aber auch viele Liberale getan, die ebenso wie andre bürger¬
liche Parteien unter dein von der Sozialdemokratie betriebnen Klassenkampfe
leiden und nicht verstehn, wie man dem aus angeblich liberalen Gründen
Vorschub leisten kann. Ihre Zahl ist wohl größer als die jener, die aus
Furcht vor den Vorgesetzten oder vor dem Terrorismus der Genossen nicht
an der liberalen Wahlurne erschienen sind. Den Nationalliberalen schrieb
das Hauptorgan der deutschen (nationalliberalen) Partei in Württemberg, der
Schwäbische Merkur, ins Stammbuch: „Für den unbefangnen Beobachter ist
längst in unsrer bürgerlichen Gesellschaft eine wachsende Strömung wahr¬
nehmbar, die von Nachsicht oder gar Paktieren mit der Sozialdemokratie ganz
und gar nichts mehr wissen will. Ein guter Teil des Erfolges der Kon¬
servativen und des Mißerfolgs der Nationalliberalen bei den preußischen
Wahlen ist auf Rechnung dieser Strömung zu setzen." Das ist es ja, worauf
die Grenzboten schon seit Jahren hingewiesen und gerade die Nationallibcralen
aufmerksam gemacht haben. Das schwäbische Blatt führt noch weiter aus,
daß gerade die nationallibcralen Verluste in Hannover nicht auf skrupellose
Agitation des Bauernbunds, sondern auf die Benutzung jener Strömung in
der Bevölkerung zurückzuführen sind, und schließt mit der Warnung: „Es
wird vielmehr darauf ankommen, wie die Nationalliberalen die bittere Lehre
beherzigen werden." Diese Warnung ist aber auf den gesamten deutschen
Liberalismus auszudehnen, denn wenn er auf den jetzt eingeschlagnen Bahnen
verharrt, wird er die ganze Bülowsche Blockpolitik auf die Dauer unmöglich
machen und schließlich von der Sozialdemokratie aufgezehrt werden. Man
täusche sich doch uicht über die wirkliche Volksstimmung. Die letzten Reichs¬
tagswahlen, die Wahlen zum preußischen Landtag und selbst die allgemeinen
Wahlen im deutschen Österreich haben dargetan, daß die Massen entweder
kirchlich, konservativ und national gesinnt oder auf der andern Seite sozial¬
demokratisch sind. Die liberale Schicht ist überall so dünn, daß sie sich fast
nirgends mehr aus eigner Kraft zu behaupten vermag. Jede fernere Täuschung
darüber führt zum Selbstmord der Partei.
Die großen Tage des deutschen Liberalismus weisen auf die Zeit zurück,
wo er als der alleinige Träger des deutschen Neichsgedankens galt. Als er
nach dem Frieden von Villafranca den Plan der Mehrheit des Frankfurter
Parlaments unter der Firma des Nationalvereins wieder aufgenommen hatte,
beherrschte er die öffentliche Meinung in Deutschland vollständig. Die Einigung
des deutscheu Vaterlands unter Preußens Führung, die politische Einheit und
Freiheit des deutschen Volkes, ein Reichsparlament auf dauerhafter nationaler
Grundlage waren die Ziele, für die die Liberalen die Unterstützung der
Massen und der Gebildeten, mit der einzigen Ausnahme der Partikularisten,
fanden. Der Irrtum, daß sie sich in Bismarck getäuscht hatten, wurde durch
die neu entstandne nationalliberale Partei wieder ausgeglichen. Die Wurzel
der Kraft des Liberalismus lag in der nationalen Idee, die andern Programm-
Punkte waren daneben nahezu bedeutungslos. Es läßt sich an der Geschichte
der Nationalliberalen wie an der des Linksliberalismus ganz genau nach¬
weisen, daß Verluste an Popularität wie bei den Wahlen in jedem Falle mit
dem Abweichen von der nationalen Idee, als deren Vertreter dem Volke zwei
Jahrzehnte hindurch der Altreichskanzler galt, unmittelbar zusammenhingen.
Nicht einmal die reiche politische Begabung Engen Richters vermochte den
Verfall aufzuhalten. Was durch die liberale Opposition der Reichspolitik
entfremdet wurde, fiel immer in die Hände der Sozialdemokratie, wie Bismarck
vorausgesagt hatte. Es ist hohe Zeit, daß sich der deutsche Liberalismus auf
die wahren Wurzeln seiner Kraft besinnt und wieder beginnt, den nationalen
Gedanken hochzuhalten. Dieser hat damit, ob in Preußen so oder anders
gewählt wird, eigentlich nichts zu tun. Das mag agitationslustigen Leuten
als eine günstige Gelegenheit für ihre Lieblingstätigkeit erscheinen, aber neben
den großen vaterländischen Fragen bleibt es doch nur eine Nebensache, die gar
nicht zur Eile drängt. Das preußische Wahlrecht ist für niemand ein Ideal,
und wenn Fürst Bülow daran bessern will, mag er es tun, aber daraus eine
Frage zu machen, die gewissermaßen für die zukünftige Reichspolitik ent¬
scheidend werden soll, war ein politischer Fehler. Die Wahlen haben die
Antwort darauf gegeben; das Kokettieren mit der Sozialdemokratie paßt dem
Bürgertum nicht mehr, es verlangt eine reinliche Scheidung zwischen Bürgertum
und Sozialdemokratie, wie sie von dieser längst eingeleitet worden ist.
Politiker pflegen aus den gemachten Fehlern zu lernen, nur Doktrinäre
haben das in ihrer Unfehlbarkeit nicht nötig. Den größten Feind hat der
Liberalismus in seinen demokratischen Neigungen, die ja für viele infolge
einer mehr als vier Jahrzehnte umfassenden Oppositionsstellung zur Haupt-
sache geworden waren, vielleicht in spätern Zeiten einmal wieder von Be¬
deutung werden können, bei der heutigen politischen Lage des Vaterlands
und der herrschenden Volksstimmung aber durchaus unangebracht sind. Die
Hoffnung auf neue Kräftigung der Partei durch das Eintreten für die Demo¬
kratisierung des preußischen Wahlrechts hat sich als ein Fehlgriff erwiesen,
dagegen steht die Tatsache fest, daß die Wiederaufnahme der alten nationalen
Idee den liberalen Parteien bei der Neichstagswahl einen nicht unbeträcht¬
lichen Aufschwung verliehen hat. Nichtige politische Schlüsse daraus zu ziehen
ist für den Unbefangnen nicht schwer. Die Mahnung Schillers: „Ans Vater¬
land, ans teure, schließ dich an, das halte fest mit deinem ganzen Herzen.
Hier sind die starken Wurzeln deiner Kraft", wird für alle Ewigkeit ihre
Geltung behalten, sie hat auch bei den Reichstagswahlen gegolten. „Die
Umwandlung aus einer Oppositionspartei in eine Partei der Mitarbeit vollzog
sich rasch, und nicht alle konnten folgen", sagte kürzlich der Abgeordnete
Dr. Pachnicke im „Tag" sehr richtig. Namentlich gilt dies, wie hier hinzu¬
gefügt werden mag, von der Mehrzahl der liberalen Presse bis weit in die
nationalliberalen Kreise hinein, die sich gar nicht loszumachen vermag von
der so lange Zeit geübten Gewohnheit des Nörgelns und meist einen Stand¬
punkt vertritt, der der Stellung der glücklich hinausbekomplimcntierten National¬
sozialen gleichkommt. Es wäre ein großer Irrtum, dahinter die öffentliche
Meinung zu suchen; das Bürgertum mag dieses sozialdemokratisiercnde Treiben
nicht und wird, wenn Kaiser und Kanzler wieder rufen, genau dieselbe Ant¬
wort geben wie bei den letzten Neichstcigswahlen. Seegeltuug, Flotte, Kolonien
sind in Volksschichten populär, denen man es kaum zugetraut Hütte — selbst
in sozialdemokratischen Kreisen. Von dieser wirklichen öffentlichen Meinung
steht freilich in den meisten Blättern nichts, die bleiben bei ihrer Mache,
wußten vor den Reichstagswahlen nichts davon und scheinen auch heute uoch
nichts davon zu merken. Man hat es in diesem Falle mit einer Art von
politischem Beharrungsvermögen zu tun, dem sich aber die Parteiführer nicht
hingeben dürfen. Der Fehlgriff in der Wahlrechtsfrage scheint ja auch auf
dieses Gebiet zu gehören.
Wie heute die Dinge liegen, bleibt dem gesamten Liberalismus nichts
übrig, als mit festem Entschluß auf den nationalen Boden zu treten und aus
der Stellungnahme bei den Neichstcigswahlen die Konsequenzen zu ziehen.
Das ist der einzige Boden, aus dem eine Partei noch Kraft gewinnen kann,
auf dem demokratischen Terrain grasen bloß noch Sozialdemokratie und
Zentrum mit wechselndem Erfolg. Auf nationaler Grundlage muß auch der
heiß erstrebte Zusammenschluß der liberalen Parteien erfolgen, sonst mag man
es vorläufig lieber bei dem bisherigen parlamentarischen Zusammengehen be¬
wenden lassen. Der Liberalismus muß auf die eigentliche Wurzel seiner
einstigen Kraft zurückgreifen und darf sich nicht auf Nebensachen versteifen,
die ja in der langjährigen Oppositionsstellung wohl als Hauptsachen erscheinen
mochten. Die gegenwärtige Volksstimmung will die Aufrechterhaltung der
Weltmachtstellung des Reichs und ist auch geneigt, die dafür nötigen Opfer
zu bringen. Damit läßt sich für eine geschickte Regierung, aber auch für
eine geschickte Parteileitung ein großer Schritt vorwärts tun. Aber dabei
muß man sich hüten, sich den Weg zur Mitarbeit dadurch zu verschließen,
daß man sich durch vorgefaßte Beschlüsse festlegt, wie es bei der Wahlrechts¬
frage der Fall war und jetzt wieder in Hinblick auf die Reichsfinanzreform
geschieht. Einer Partei, die sich ohne Vorbehalt für die aus der Lage des
Reichs sich ergebenden nationalen Forderungen einsetzt, werden auch in Zukunft
die Wähler nicht fehlen, wie die letzten Reichstagswahlen bewiesen haben,
und werden sie vor den Sozialdemokraten schützen, die doch die einzigen ernst
zu nehmenden Bewerber um die liberalen Mandate sind. Die Mehrheit des
deutscheu Volkes hat sich durch die jahrelang betricbne Flcischnothetze nicht
von ihrer nationalen Haltung abdrängen lassen und wird es auch wegen
Tabak- und Alkoholbesteuerung nicht tun, um so weniger nachdem ihr schon ein
großer Erfolg gegen die Sozialdemokratie gelungen ist. Aber der Liberalismus,
der noch immer die Sozialdemokratie als eine verwandte Partei betrachtet, hat
in Deutschland keine Zukunft.
ir glauben auf unsrer Reise durch Posen alle irgendwie über das
technische Gebiet hinausragenden Schwierigkeiten bemerkt zu haben,
die dem Kulturwerk in der Ostmark hemmend entgegenstehn. Der
wichtigern ist in den voraufgegangnen Ausführungen gedacht
worden — über die Grundfrage des Ansiedlungsproblems mochten
wir noch einen Gedanken aussprechen. Die Grundfrage aber ist der Kampf um
den Boden. Es handelt sich, wie wir gezeigt haben, nicht in erster Linie um
den polnischen Boden, sondern um den in der Kultur zurückgebliebnen, aus dem
erst durch die Verhältnisse teilweise polnischer Boden geworden ist. Durch das
sogenannte Enteignungsgesetz ist dieser Kampf in eine neue Phase getreten oder
sollte es wenigstens sein. Die Hauptaufgabe des Gesetzes liegt bekanntlich in
der Beseitigung einer wüsten Bodenspekulation, die von Deutschen und Polen
in gleichem Maße von den: Augenblick an betrieben wurde, wo der Staat mit
seinen Millionen Landküufer in der Ostmark zu werden begann. Ob das Gesetz
seine Aufgabe erfüllt, läßt sich heute.noch nicht erkennen. Infolgedessen steht
es den Gegnern des Gesetzes frei, an seiner Nützlichkeit zu zweifeln. Im Mai
dieses Jahres ging die Nachricht durch die Presse, die Bodenpreise hätten in
der Ostmark nachgelassen. Für diese Tatsache war aber ein natürlicher Grund
maßgebend, nicht das neue Gesetz. Denn zufälligerweise hat der Hauptkäufer in
den betreffenden Provinzen, die Ansiedlungskommission, schon seit dem Mürz
keinerlei nennenswerte Käufe ausgeführt. Ja die Kommission hatte sich sogar vor
mehreren Wochen ein ihr notwendiges Gut wegen einer Preisdifferenz von
20000 Mark entgehen lassen. Die Gründe für eine solche Politik habe ich leider
nicht in Erfahrung bringen können. Die Angabe, die Regierung zu Berlin habe
der Ansiedlungskommission den Landkauf untersagt, um auf die sinkende Tendenz
der Bodenpreise als auf eine Folge des neuen Gesetzes hinweisen zu können,
möchte ich nicht glauben, tue ihrer aber Erwähnung, um zu zeigen, mit welchen
Mitteln die Gegner unsrer Ostmarkenpolitik arbeiten, um sie zu diskreditieren.
Dagegen ist wahrscheinlich, daß man die durch die letzten Kämpfe erhitzten
Gemüter bei Deutschen und Polen beruhigen will. Die Polen ebenso wie ein
Teil der deutschen Bevölkerung hatten geglaubt, die Ansiedlungskommission
würde sofort nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes mit zahlreichen Enteignungen
beginnen, und allenthalben bereiteten sich die Polen auf entsprechende Prozesse
vor. Die Maßnahme der Regierung wäre durchaus zu billigen, wenn sie nicht
die Gefahr in sich trüge, das Ansiedlungswerk für geraume Zeit zum Stocken
zu bringen. Doch ist zu hoffen, daß die so gewonnene Zeit zu einer sorgfältigen
Vorbereitung des ersten Enteignungsprozesses ausgenutzt wird, wie es auf
polnischer Seite geschieht. Denn der erste Prozeß kann nicht mehr lange auf
sich warten lassen und wird von den Polen mit großer Zähigkeit und Ver¬
schlagenheit geführt werden, um der Welt das Schauspiel eines unerhörten
Martyriums vorzuspiegeln. Sein Verlauf dürfte außerdem in rechtlicher und
formaler Beziehung maßgebend für alle Nachfolger werden. Jedenfalls darf die
Zurückhaltung der Ansiedlungskommission nicht auf einen Mangel an Land¬
bedarf zurückgeführt werden. Die Nachfrage nach Grundstücken in der Ostmark
steigert sich mit jedem Jahre; wenn die Mittel der Ansiedlungskommission aus¬
reichten, und die Behörde alle Anwärter auf Rcntengüter aufnehmen wollte,
die sich melden, dann könnten jedes Jahr mehr als dreitausend Ansiedler allein
aus Deutschland angesetzt werden. Gegenwärtig, im Sommer 1903, verfügt die
Ansiedlungskommission über eine Landreserve von 50000 Hektar, also über eine
Fläche, die mit Leichtigkeit in einem Jahre verteilt werden kann. Die An¬
siedlungskommission muß also schon im bevorstehenden Herbst mit dem Boden¬
kauf beginnen. Sobald die Ansiedlungskommission aber wieder zu kaufen anfängt,
müssen auch ganz natürlich die Bodenpreise wieder in die Höhe schnellen. Die
durch die Konjunktur geschaffnen Preise aber werden auch auf dem Wege des
Enteignungsverfahrens gezahlt werden müssen, weil kein Richter im Lande zu
finden sein dürfte, der dem zu enteignenden Besitzer eine geringere Entschädigung
zuspräche, als wie sie durch deu Grundstückmarkt automatisch bestimmt wird.
Bor uns steht somit nach wie vor die Bodenspekulation als wichtigstes
Hemmnis für die deutsche Siedlungspolitik.
Unsre Frage lautet darum nach wie vor: Wie beseitigen wir die Boden¬
spekulation?
Ein direkter Kampf gegen diese ist bisher noch nirgends aufgenommen
worden. Wogegen volkswirtschaftliche Richtungen und Sozialpolitiker bisher
Stellung genommen haben, das war der sogenannte Bodenwucher, die künstliche
Verteuerung der Wohnungsmieten. Unter dem Begriff Bodenwuchcr verbirgt sich
jedoch nichts andres als eine rücksichtslosere vorwiegend in der Nähe städtischer
Siedlungen übliche Form der Bodenspekulation. Wir können daraus folgern, daß
die bisher mit Erfolg gegen den Bodcnwucher angewandten Mittel ihre Wirkung
auch gegen die einfachen Formen der Bodenspekulation ausüben werden. Der
Gedanke ist nicht neu. Wir finden ihn schon im preußischen Kreis- und Proviuzial-
abgabengesetz vom 23. April 1906 zum Ausdruck gebracht. In diesem Gesetz
kommt auch zum Ausdruck, daß man in Preußen durchaus geneigt ist, die von
den Bodenreformern für städtische Siedlungen empfohlnen Maßnahmen auf das
platte Land auszudehnen. Das wirksamste Mittel im Kampf gegen den Boden¬
wucher ist bisher, wie es scheint, die Wertzuwachssteuer. Sie wurde zum ersten¬
mal im Jahre 1904 in Frankfurt am Main nach zehnjährigen Kampf eingeführt.
Im Jahre 1905 folgten Köln und Gelsenkirchen, 1906 Dortmund und Essen.*)
Nach Dnmaschke^) haben bisher 350 preußische Stadt- und Landgemeinden die
Wertznwachssteuer bei sich eingeführt.
Die Wertzuwachssteuer bezweckt, durch eine entsprechende Besteuerung die
Wertsteigernng solcher Grundstücke für das allgemeine Wohl auszunutzen, die
ohne Zutun des Besitzers durch äußere Umstände und Verhältnisse automatisch
eintritt. Automatische Wertsteigerungen treten ein infolge Eröffnung neuer
industrieller und philanthropischer Anlagen, Eisenbahnen, Kanäle, die von dem
Staate, den Gemeinden oder sonstigen dritten Personen gebaut werden. Solche
automatischen Wcrtsteigerungeu sind auch in der Ostmark eingetreten, als der
preußische Staat mit seinen Millionen auf den Gütermarkt trat, um Laud für
deutsche Bauern zu erwerben. Die Umwandlung der großen Güter in bäuerliche
Betriebe war ebenso eine Kulturnotwendigkeit, wie es etwa die Anlage des
Mittellandkanals war. Es handelt sich in der Ostmark nicht darum, dem Staat
durch den Landerwerb neue Gewinnmöglichkeiten zu erschließen, wie es etwa bei
der Verstaatlichung von Bergwerken der Fall ist. Es handelt sich zunächst
darum, weiten Schichten der deutschen Bevölkerung, die zur Auswcmdrung ge¬
zwungen werden, gesunde soziale Lebensbedingungen zu schaffen. Das Haupt¬
motiv der preußischen Ansiedlungspolitik ist das Gemeinwohl. Alle andern
Fragen und Motive sind Beiwerk, das auf natürlichem und künstlichem Wege
in die Hauptfrage hineingetragen worden ist. Von diesem und nur vou diesem
Standpunkt aus muß die Lage auf dem Gütermarkt in der Ostmark betrachtet
werden, ohne Rücksicht auf die leider vorhandnen nationalen Gegensätze. Eine
solche Auffassung wird uns zu der Erkenntnis führen, daß auch in der Ostmark
die Wertzuwachssteuer ein gerechtes Mittel zum Ausgleich der anomalen Preise
abgäbe. Unsre Erkenntnis wird gestützt, wenn wir uns daran erinnern, daß nicht
die einfache Nachfrage die Preise in der Ostmark in die Höhe treibt. Die An-
siedlungskommission, die Kreise, die städtischen Gemeinden haben in den ver¬
gangnen zwanzig Jahren Eisenbahnen und Chausseen gebaut. Im Gefolge von
großen Gutsküufen stehn umfangreiche Regulierungen der Vorflut. So nimmt
die Generalkommission, nachdem sie die Mühle in Türe bei Ratel gekauft hat,
eine großartige Netzercgulierung vor, ohne von den Anliegern einen Pfennig
dafür zu nehmen. Die Vorteile dieser Anlagen kommen aber allen Teilen der
Bevölkerung ohne Rücksicht auf ihre Nationalität zugute und wirken obendrein
werterhöhend auf die Grundstücke. Hier könnte die Wertzuwachsstcuer den Staat
für seine Kulturleistungen wenn nicht voll, so doch teilweise entschädigen.
Ich denke dabei vor allen Dingen an die direkte Besteuerung, die bei dem
Eigentiimerwechsel eines Grundstücks in Tätigkeit zu treten hätte. Die Höhe der
Steuer müßte sich richten sowohl »ach der effektiven Größe des Wertzuwachses
wie nach der Zeit, wo sich solcher Zuwachs vollzogen hat, auch könnte sie
wesentlich höher sein als in städtischen Siedlungen. Mit Hilfe dieser Wert¬
zuwachssteuer wäre abgesehn von den großen Stenerertrügen in der Ostmark
zu erreichen:
1. Die allmähliche Festigung der Stetigkeit der Bvdenpreise, wodurch einer
ungesunden Belastung der Landwirtschaft vorgebeugt wird.
2. Die Verminderung von spekulativen Gutsküufen, was wieder eine größere
Ständigkeit des Besitzes zur Folge hätte.
3. Infolge der Zurückdrängung der Spekulation würden sich die Gutsbesitzer
veranlaßt sehn, ihre Einnahmen durch entsprechend ernstere Arbeit zu vergrößern,
was zu eiuer Vergrößerung der Intensität der Landwirtschaft führen muß.
4. Die Beruhigung auf dem Gütermarkt würde eine allmähliche Ver¬
ringerung der künstlich hochgetriebnen Bodenrenke herbeiführen, in deren Gefolge
wir ein Nachlassen aller Lebensmittelpreise und damit eine Verbilligung des
Lebens in den Städten erwarten dürfen.
Alle diese Folgeerscheinungen der Wertzuwachssteuer kämen allen Teilen
der Bevölkerung zugute ohne Rücksicht auf ihre Stellung zum preußischen Staat.
Infolgedessen verliert die Steuer vollständig den Stempel als nationales Kampf¬
mittel, daneben aber erhielte der preußische Staat und die Steuerzahler eine
scharfe Verteidigungswaffe gegen die Kreise in die Hand, die ihn mit Hilfe der
Bodenspekulation bekämpfen. Wir wissen, daß zu diesem Kreise Deutsche und
Polen in gleichem Maße gehören. Im Zusammenhang mit einer Wertzuwachs¬
steuer könnte auch das Euteignungsgesetz zu den? Werkzeug werden, als das
es gedacht war; die Wertzuwachssteuer würde auch verhindern, daß die Millionen
deutschen Geldes zu einem wesentlichen Teile ausschließlich den staatsfeindlichen
Kreisen zugute kommen, und Verkäufe deutscher Güter an Polen würden immer
seltner werden, weil die Preisdifferenz zwischen dem Gebot der Ansiedlungs-
kommission und der polnischen Bank leicht ausgeglichen werden könnte durch
eine entsprechende Berechnung der Höhe der Steuer. Wie hoch die Steuer fest¬
zusetzen wäre, ist Sache der Steuertechnik. Meines Ercichtens sollte sie sich
zwischen 30 und 90 Prozent des unverdienten Wertzuwachses bewegen. Für uns
ist gegenwärtig wichtiger, wer die Steuer erheben soll — der Staat oder die
Gemeinde.
Prinzipiell sollte eine Steuer, wie sie hier vorgeschlagen wird, von den
Gemeinden erhoben werden. Im Gebiete der Ostmark, insonderheit im Wirkungs¬
kreise der Ansiedlungskommission müßte sie der Staat erheben. Der Grund für
solche Auffassung ist einleuchtend. Durch die Ansiedlungspolitik hat sich der
Staat, wie wir gezeigt haben, in Widerspruch gesetzt zu einem sehr großen Teil
der Ostmarkenbevölkernng. Der Staat muß die Ostmarkenbevölkerung förmlich
zur Kultur zwingen. Er hat derselben Bevölkerung durch seine Millionen die
Möglichkeit gegeben, recht bedeutende Gewinne zu machen, ohne daß sie auch
nur einen Finger zu krümmen braucht. Im Gebiete der Ansiedlungskommission
herrscht eine Stimmung wie bei einer permanenten Lotterieziehung. Das Ge¬
winnlos zieht der, bei dem entweder die Ansiedlungskommission oder die polnische
Bank kauft, das große Los aber der, um dessen Besitz beide kämpfen. An
dieser Lotterie können sich natürlich nicht die großen besitzlosen Massen beteiligen,
sondern nur die besitzenden Klassen, die den Boden zu verkaufen haben. Aber
nur diese Besitzenden sind in jenen Stadt- und Kreisparlamenten vertreten, denen
durch das Gesetz vom 23. April 1906 das Recht eingeräumt wurde, die Wert¬
zuwachssteuer bei sich einzuführen. Von ihrem Recht aber haben nur verschwindend
wenig Gemeinden Gebrauch gemacht — ich kenne leine Landgemeinde in Posen.
Das ist natürlich. Diese Leute müßten sich ja ins eigne Fleisch schneiden, wollten
sie bei der heutigen Marktlage, die nun schon zehn bis fünfzehn Jahre andauert,
die Wertzuwachssteuer in ihren Gemeinden einführen. Es steht also nicht zu
erwarten, daß eine nennenswerte Zahl von Gemeinden in der Ostmark die
Steuer freiwillig einführen wird. Wo solches aber geschieht, würde der Steuer¬
ertrag wieder zu gleichen Teilen den staatsfeindlichen wie den staatstreuen
Kreisen zugute kommen, und der Staat könnte die Vorteile des Gesetzes nicht
voll ausnutzen. Die Überlassung der Wertzuwachssteuer an die städtischen Ge¬
meinden in der Ostmark gibt auch deshalb Anlaß zu Bedenken, weil, wie wir
gezeigt haben, eine wenn auch vorübergehende stärkere Polonisierung der Städte
zu erwarten und die Lage sehr wohl denkbar ist, daß gerade polnische Gemeinden,
in denen sich ein zahlreiches polnisches Proletariat angesammelt hat, in einer
gewissen Zeit Vorteile für die polnische Sache in der Durchführung der Wert¬
zuwachssteuer erkennen werden.
is das Winterweiß am Himmel in warmes Blau und auf der
Erde in Falb und Braun geschmolzen war und die Erde weich
wurde, klang in der Nähe der kleinen schwäbischen Stadt, in
der ich wohne, ein Spaten an einen Schildbuckel — junges
Eisen und altes grüßten sich über die Kluft der Jahrhunderte.
Der Schildbuckel lag schon lange dort, sechzig Zentimeter tief im Ackerboden,
der Schild, den er geschmückt und gefestigt hatte, war vermodert, und von
dem, den der Schild im Leben und im Tode gedeckt hatte, war nichts mehr
übrig als ein stattliches Skelett. Der Kampf um neues Land oder die Ver¬
teidigung der ererbten Scholle — Flurbereinigungsarbeiten — hatten, nach
dem Loch im Schädel zu schließen, den germanischen Krieger unter die Erde
gebracht, Flurbereiuigungsarbeiten, bei denen nur der Spaten, nicht das
Schwert geführt wurde, brachten ihn wieder zutage. Der Konservator des
städtischen Museums, der in seinem Institut unermüdlich Bilder aus der deutschen
Vergangenheit, leis, aber eindringlich sprechende Stilleben stellt, ließ den Toten
aus seinem Grabe heben, und die Einhericrreliauien gingen den Weg, den
der Kämpfer vor 1300 Jahren gegangen war, zurück: vom schläfernden Dunkel
zum weckenden Licht. Im Museum trat auch ich an die Bahre des Zurück¬
gekehrten. Lang liegt er da, fahl in fahler Erde, den Langschädel zur Seite
geneigt, das Schwert im rechten Arm, ein Wurfmesser an der linken Seite,
einen Holzkamm in einem flachen Futteral zu seinen Füßen. Es war wohl
ein Suche, nun grüßt seine Gebeine ein schmaler Streifen der bleichen
Frühlingssonne des Landes, das den Namen seines Stammes behalten hat.
Der Kamm diente ihm dazu, deu kriegerischen Schmuck seines Hauptes, den
roten oder blonden, hoch aufgebundnen Haarschopf zu ordnen. Er trug das
Haupt hoch unter seinen ragenden Stammesgenossen. Das Schwert an
seiner Rechten ist 88 Zentimeter lang und zweischneidig, eine Spatha.
Eine solche Waffe trug kein gemeiner Mann, sie verbürgt den Kriegeradel
ihres Trägers. War es nicht Balmung, Miming, Weisung, Rose gleich, eine
Sichel der Hilde war es gewiß. An der einen Langwand nicken von Tschakos
und Helmen Feder- und Haarbüsche, schwarz und weiß, auch rot wie Sueben-
schöpfe. Darüber Bilder von Kämpfen, in denen nicht mehr Spatha an
Spatha, sondern Pallasch an Pallasch klang: von den Schlachten bei Elchingen
und bei Austerlitz und vom Rückzug der Großen Armee. Am Fußende der
Bahre steht das Koller eines preußischen Kürassiers vom siebenten, von
Bismarcks Regiment, verblichnes Gelb auf verwetterten Weiß, zu Häupten
des Skeletts ein schwerer Kürassiersattel mit den gleichen Farben auf den
Packtaschen. Der Sonnenstrahl verläßt das Skelett und wandert über die
matten und brünierten Läufe ehrlicher Zündnadel-, Chassepot-, Werber- und
Mausergewehre, in deren Kreis sich eine unreine Waffe, ein Stutzen des
bayrischen Hiesels geschlichen hat, zu den Degen- und Säbelrosetten an der
andern Langwand. Die blitzen auf. Am hellsten ein Pappenheimerdegen und
ein preußischer Pallasch. So grüßt auch hier junges Eisen das alte. Und
späte Trophäen stehn in feierlicher Leichenparade um die schlichte Tannenholz¬
mulde, die die Neste des Germanen birgt.
Ist es die von kräftiger Nahrung zeugende Kraft, die aus dem Recken¬
skelett spricht, oder ist es die Ähnlichkeit, die diese in die Ackererde gebetteten
Gebeine trotz ihrer Stärke mit niedergetretnen Halmen haben — ich muß auf
einmal an das Hafermus denken, an Hebels schwäbisches Hafermus:
's Haber-Mueß wär ferig, iez assumed, ihr Chinder, und esset!
Betet i Aller Augen — und gelte mer ordeli Achtig,
aß ich nit am rueßigc Tüpfi 's Ermeli schwarz wird.
Der Suche hat sicher Habermus gegessen, seinen späten Enkeln ist diese Speise
fremd geworden. Von meinen nennundzwcinzig schwäbischen Untersekundanern
kennen sie nur fünf, und keiner liebt sie. Ich selbst habe das Mus in einer
schwäbischen Gesindestube in der Heimat meiner lieben verstorbnen Frau kennen
gelernt, als es noch ganz schwarzes Brot gab. Seitdem sind fünfzehn Jahre
vergangen, das Brot ist auf dem Lande immer weißer geworden, und das
Habermus ist fast vergessen. Als ich in diesem Winter Hebels Gedicht und
Schwinds Zeichnung dazu wiedersah, verlangte es mich nach einer eßbaren
Illustration des Gedichts und des Bildes, und meine Haushälterin ging aus,
Habermusmehl zu kaufen. Bei Bauern, Bäckern und Melbern bekam sie es
nicht, die Leute wußten zum Teil gar nichts davon, nur wenige erinnerten
sich, daß man ein solches Mus mit Schmalz Übergossen und mit Ochsenaugen,
gebacknen Eiern, garniert den Schnittern aufs Feld gebracht habe. Nun ging
sie unverdrossen von einer Mühle zur andern. In der Spitalmühle bekam
sie das Mehl, eigentlich ist es ein Grieß mit Kleie, nicht, auch in der Hasen¬
mühle nicht, in der Obern Mühle fand sie endlich das Gesuchte. Mau wunderte
sich über ihren Wunsch: Das haben ja nur Bauern gegessen, und die essen
es jetzt auch nicht mehr!
Das ist leider wahr. Die Bauern essen und trinken vieles nicht mehr,
was ihre Väter noch aßen und tranken, aber ein Fortschritt ist dieser Nahrungs¬
wechsel nicht.
Als die treue Seele von ihrer mühevollen Odyssee mit einem Säckchen
voll Habergrieß triumphierend heimkehrte, mußte ich an den weiten Weg denken,
den der Haber vom Felde bis zur Küche zurückzulegen hatte.
Voll mehligi Chörner
het er gschwankt und gseit: „Jez ischs mer «fange verleidet,
und i merk, mi Zit isch us, was thueni eitel do
zwische de Stupfel-Rüben und zwische de Grumbire-Stube?"
Druf ischs Vreni user und 's Efersinli und 's Plunni,
's het si scho a d' Finger gfrore z' morgen und z' öde;
endli isch er cho, und in der staubige Schure
hen sie'n droscht vo früeih um zwey bis z' oben um Vieri.
Druf isch's Müllers Esel cho, und hetten in d' Mühli
gholt, und wieder bracht, in chleini Chörnli vermähle,____
Aber nun erhob sich eine neue Not, als das Mus zum Abendessen probiert
werden sollte. Das Rezept gab mir ja Hebel:
und mit feister Milch vom iunge fleckige Chüeihli
hetten 's Müetterli g'abonde im Tüpfi —,
Zucker und Butter daran zu tun verstand ich selbst, aber woher die feiste
Milch nehmen? Der tägliche Vorrat war verbraucht, und so einfach, Wiesich
der Großstädter den Milchbezug auf dem Lande vorstellt, ist die Sache nicht.
Zwei Ställe liegen meiner Wohnung gegenüber, aus dem einen beziehe ich
mit andern Subskribenten meinen Milchvorrat. Über dieses Maß hinaus noch
einen Tropfen zu bekommen ist trotz dem guten Willen der Nachbarn schwer.
Die Leute behalten nur das Nötigste an Milch im Haus, den ganzen übrigen
Ertrag liefern sie in die Molkerei, und täglich sehe ich in den Abendstunden
die Nachbarschweizer mit den fahrbaren Milchknfen um die Ecke des Gymnasiums
verschwinden, das sich hinter den beiden Ställen erhebt. Also galt es nun
wieder einen halben Liter Milch zu suchen, irgendeinen, irgendwo, und willig
trat meine Haushälterin die neue Wanderung an, von Nachbar zu Nachbar,
von Stall zu Stall, von Bekannten zu Fremden, von Phüaken zu Kyklopen,
und brachte schließlich aus der Molkerei ein Quart Magermilch nach Hause,
den magern, blauen Rest aus einer Kanne. Sie konnte nun Hebels Rezept,
das feiste Milch vorschreibt, nicht anwenden, dennoch hat das mühsam er-
worbne Mus ihr und mir gemundet. Ju mir war aber seitdem eine Sorge
wach. Ich will es gern gestehn, sie war anfangs mit Futterneid gemischt.
Am Bahnhof sah ich Milchkarren ausladen. Sollte es denn in dem Städtchen
Milchhandlungen geben, die mir bis jetzt unbekannt geblieben sind? Die
Kannen hatten alle eine Adresse: die Molkerei. Jeden Morgen fährt an
meiner Wohnung ein Wagen vorbei, schwer mit Milchkarren beladen. Als
ich mich wunderte, daß dieser Milchstrom so spurlos versickern könne, belehrte
mich meine Haushälterin, daß das der Sammelwagen einer Molkerei sei, der
den Milchertrag der kleinen Ställe in der Umgegend abhole. So wird durch
die Sammelwagen der Molkereien die Gegend erkennest. Meine Haushälterin,
ein Kind der Gegend, hat die Entmilchung des Landes selbst beobachtet. Ich
wußte schon durch die Arbeiten des bayrischen Generalstabsarztes Dr. von Vogt,
daß sich mitten durch Bayern ein Gebiet höchster Kindersterblichkeit zieht, daß
dieses Zentralgebiet von der Donau so durchquert wird, daß der größere Teil
südlich, der kleinere nördlich davon liegt, daß Ulm die Westgrenze dieses
Gebietes markiert, daß ich also in der Zone höchster Kindersterblichkeit wohne.
Als ich im Jahre 1905 in München in Vogts Schrift über die wehrfähige
Jngend Bayerns den Satz las: „Am Lande wird nicht gestillt oder wenig,
und die Kuhmilch wird dem Lande durch Export in die Stadt gänzlich ent¬
zogen", machte nur der erste Teil des Satzes auf mich Eindruck. Inzwischen
habe ich die Verhältnisse auch dnrch die Schriften des Bezirksarztes Dr. Graßl
in Lindau kennen gelernt und freue mich, daß auch er wie Vogt deu Grund
der Abneigung der altbayrischen und schwäbischen Frauen gegen das Stillen
nicht nur in der Unwissenheit und in der Nachlässigkeit sieht, sondern auch
auf die schwere Arbeitslast hinweist, die gerade in Bayern ans den Schultern
der Frauen ruht: „Wenn die Amtsärzte von Beilngries und Parsberg schreiben,
daß die Bäuerinnen bis zu dem Augenblick, wo ihre schwere Stunde kommt,
schwer auf dem Felde arbeiten müssen und alsbald darauf wieder beginnen
müssen, um dem kärglichen Boden den nötigen Unterhalt abzugewinnen, so
läßt man den Stein, den man gegen sie erhoben hat, beschämt wieder fallen."
Das Bild ist trüb genug, aber ich rechnete, bis ich die Milchnot selbst kennen
lernte, immer damit, daß die Kinder, wenn ihnen auch die Muttermilch
fehle, doch den besten, nur in den ersten Lebensmonaten nicht genügenden
Ersatz für die Muttermilch und weiterhin die beste Jugendnahrnng in der
Kuhmilch Hütten. Als ich, durch die Milchströme, die ich täglich in die
Molkereien rinnen sah, und durch meine eigne Milchnot nachdenklich ge¬
macht, meine Haushälterin fragte, wie denn unter diesen Verhältnissen in
ihrer Heimat die kleinen Kinder ernährt und nach den ersten Lebensmonaten
weiter gestillt würden, erhielt ich einen erschreckenden Aufschluß: die Milch
spielt die geringste Rolle in der Ernährung dieser Kinder, der kleine Magen
und der kleine Mund werden durch einen Mohnkapselabsud, den man Klepper¬
tee nennt, still gemacht. Milcharm leben die Kinder, die diese Aufzucht
ertragen, weiter, milcharm leben auch die Erwachsnen. Kaffee, Bier, Schnaps
sind an die Stelle der feisten Milch getreten, die früher diese Schwaben nährte.
Eine der Molkereien aber, die dem Landvolke soviel Nahrung entziehen, mußte
zweihundert Schweine einstellen, um die durch Zentrifugen ganz entfetteten
Milchreste ihres Betriebs zu verwerten. Nun wußte ich, daß die Milchcms-
uützung auf deu Volkskörper wirkt wie jenes LlUAvör g. bi-mo, das nach
Bismarcks Wort der Sieger in einem künftigen deutschfranzösischen Kriege
gegen den Besiegten anwenden muß, um seine Existenz zu sichern.
Wie deutlich die sorgenvolle Frage nach der Zukunft unsrer Wehrkraft von
hellhörigen Menschen vernommen wird, wie sehr sie die Gemüter beschäftigt, be¬
weist eine Sendung, die mir in diesen Tagen von einem Münchner Kriminal-
Wachtmeister zuging. Als ich vor einigen Jahren in München die Porno¬
graphie, wohl eine der schwersten Gefahren, die unsre Wehrkraft in den Städten
bedrohen, zu bckümpfeu anfing, arbeitete ich mit dem Manne, der der Zensur¬
behörde zugeteilt war, zusammen und lernte seine tüchtige Art, die er auch
im Heere, als Feldwebel, bewährt hatte, schätzen. Dieser Mann schickte mir
mit dem lakonischer Zusatz: „Stimmt" folgenden Ausschnitt aus deu Münchner
Neuesten Nachrichten: „Weimar, 23. Januar. Auch in Sachsen-Weimcir beun¬
ruhigt man sich über eine gewisse Unterernährung der Landbevölkerung,
worüber man sich am Montag in der Sitzung des Ausschusses für den ersten
Verwaltungsbezirk aussprach. Veranlassung, an diese Sache heranzugehen,
war der Umstand, daß seit einigen Jahren die Molkereien, die im Hinter¬
gründe gewöhnlich Genossenschaften haben, wie Pilze aus der Erde schießen.
Es gibt im ganzen Bezirke fast keinen Ort mehr, der nicht seine Molkerei hat,
in welche die kleinen und großen Landwirte, selbst die kleinsten, die nur eine
oder zwei Kühe im Stalle haben, ihre Milch liefern. Die Sache ist natürlich
sehr bequem, man braucht wenig Leute zum Betrieb der Milchwirtschaft und
verdient an der sicher umgesetzten Milch rasch und ebenso sicher ein hübsches
Stück Geld. Hierbei wird aber folgendes übersehen: der Landwirt, dem früher
die durch seinen Fleiß erzeugten Landesprodukte in erster Linie und zum großen
Teil selbst zugute kamen, ihm und seinen Knechten und Mägden, trinkt heute
nur selten Milch und ißt noch seltener Butter, da er keine hat; er verkauft ja
jedes Tröpfchen Milch in die Molkerei. Gab es früher zum Frühstück eine
gesunde Milchsuppe, so gibt es heute »Kaffeebrühe«, wie sich ein Mitglied des
Bezirksausschusses drastisch ausdrückte. Die Folgen dieser verkehrten Wirt¬
schaftspolitik zeigen sich allenthalben da, wo man zu extrem die Molkereien
in den Vordergrund schiebt, z. B. in Hannover, das bekanntlich die meisten
Molkereien besitzt. Hier hat sich bereits ein Sinken der Militärtauglichen-
ziffer sichtbar gezeigt. Bei uns werden sich die Folgen vielleicht auch noch
zeigen. Man ist deshalb gesonnen, es zu verhindern, daß mehr Molkereien
entstehen, als dem Landesinteresse dienlich sind. Bis zur nächsten Bezirks¬
ausschußsitzung soll Material gesammelt und dann weiter über die Sache ge¬
sprochen werden." Die Notiz war mir seinerzeit entgangen, ich war dem
Wachtmeister dankbar für die Zusendung und den einsilbigen, aber von Teil¬
nahme und Verständnis zeugenden Zusatz. Ich fragte ihn, wie er auf die
Unterernährung des Landvolkes aufmerksam geworden sei. Er schrieb mir
folgendes: „Als ich nach einer Reihe von Jahren im vorigen Sommer wieder
einmal einen Besuch in meinem Geburtsdorfe in der Oberpfalz machte, fiel mir
vor allem auf, daß Kinder und junge Leute nicht die ihrem Alter entsprechende
Größe haben, sondern meist klein sind, kleiner teilweise als Stadtkinder. Die
Ursache dürfte wohl darin zu suchen sein, daß die meisten Bauern keine Milch
mehr im Hause haben. Ein spekulativer Kopf (anderswo sind es Genossen¬
schaften) hat eine Molkerei eröffnet. Die meisten Bauern liefern ihre ganze
Milch, den Liter zu siebeneinhalb Pfennig, dorthin. Die ausgezogne Milch
erhalten sie wieder zurück. Dadurch erhält selbst ein kleiner Anwesensbesitzer
oft bis zu fünfzig Mark im Monat. Will er Butter, so muß er sich das
Pfund zu 1,10 Mark kaufen. Dies geschieht natürlich selten. Ein Bekannter
von mir, ein Mittelfrankc, sagte, bei ihm zu Hause sei es gerade so, dort
kaufen sich die Bauern Palmin usw. Der Bauer hat Geld und geht ins
Wirtshaus. Daß er schlecht lebt, will ich nicht sagen. Aber für die Kiuder
ist kein Ersatz für die Milch da. Oft bemerkte ich, daß kleine Kinder, selbst
solche, die noch nicht einmal zur Schule gehn, täglich Bier und Kaffee trinken.
Solange ich zur Schule ging, habe ich täglich früh und abends Milch oder
Brodsuppe erhalten. Bier nie."
Die entfetteten Milchreste, die der Milchverkäufer von jener oberpfülzischen
Molkerei zurückerhält, sind nur als Schweine- und Geflügelfutter verwendbar.
Immerhin steigern sie den Gewinn. Anderwärts verwenden die Molkereien
diese Milchreste selbst zur Schweinefütterung, oder sie verkaufen den Liter davon
für drei Pfennig.
Praktische und theoretische Milchwirte, die mit aller Kraft die Rente der
Milchwirtschaft zu erhöhen und damit den Bestand so manches Bauernguts zu
sichern suchen, werden über den Gymnasialprofessor lächeln, der hier auf seine
dürftige Erfahrung und auf die Aussagen seiner Haushälterin und eines
Kriminalwachtmeisters gestützt eine Anklage gegen die moderne Ausnützung
des Milchertrags erhebt. Ich verstehe von der Bewirtschaftung eines Gutes,
von Nentencrhöhung, von Milch- und Land- und Geldwirtschaft gar nichts
und bin ganz zufrieden, daß mir die Ehrlichkeit meiner Haushälterin die Sorge
für mein Haus und andre Sorgen erleichtert. Sachkenntnis erhellt also meinen
Blick nicht, aber ich habe vielleicht doch das eine vor vielen Land- und Milch¬
wirten voraus, daß mir auch kein materielles Interesse den Blick trübt. Und
sicher wird mir auch mancher Landwirt zugestehn, daß ich früher als er mit
meinem Laienblick erkannt habe, wie die Landwirtschaft, ängstlich bemüht,
die Scylla der Leutenot zu vermeiden, in die Charybdis der Unterernährung
des Landvolks gerät. Aus dieser Unterernährung droht eine nationale Leute-
not zu erwachsen, die die Zukunft des ganzen Volkes gefährden würde. Dennoch
Hütte ich als Laie nicht gewagt, in dieser Sache zu sprechen, wenn ich nicht im
siebenten Heft des Organs des deutschen Vereins für ländliche Wohlfahrts¬
und Heimatpflege Angaben über die Folgen der Entmilchung des platten Landes
gelesen hätte, die aus der Feder eines sachkundigen Gelehrten stammen, auf
Forschungen von Ärzten und Nationalökonomen beruhen und meine eignen
Erfahrungen und Befürchtungen bestätigen und übertreffen. Ich schöpfe aus
dieser Quelle, die nicht nur lauter, sondern auch reich ist, folgende Angaben
zur Beleuchtung der Lage. Der Verfasser stellt nach Dr. W. Beukemcinns
Mitteilungen fest, daß seit 1890 der Milchverbrauch der Städte von 2870 Mil¬
lionen Liter im Jahre auf 5130 Millionen Liter im Jahre 1900 gestiegen ist
und in demselben Maße weiter wächst, daß jedoch die Zahl der Milchkühe in
diesem Jahrzehnt nur von 8700000 auf 9300000 gestiegen ist. Der Milch¬
verbrauch eines Städters ist von 1896 bis 1903 von 93 Liter auf 115 Liter
im Jahre gestiegen, der eines Bauern ist von 1890 bis 1900 von 115 Liter
auf weniger als 58 Liter gesunken. Durch die gesamte Milchproduktion von
19000 Millionen Liter im Jahre wird ein Erlös von 1700 Millionen Mark
erzielt. Eine Riesenrente! Aber meine Laiensvrge, daß es, vom Stand¬
punkte des Volkswohls betrachtet, zum größten Teil eine Trugrente ist, wird
durch die volkswirtschaftlichen Daten, die Dr. Kaup an diese Zahlen reiht,
bestätigt.
>le Reklame gehört zu den weniger schönen Erscheinungen des
heutigen Wirtschaftslebens. Aber alle Entrüstungsschreie der
ehrlichen Männer, der Menschen von gutem Geschmack und der
Ästheten können sie nicht beseitigen, denn sie ist keineswegs bloß
!ein Auswuchs, sondern ein wesentlicher Bestandteil unsrer Pro¬
duktionsordnung. Um sie loszuwerden, müßten wir entweder zur Haus¬
wirtschaft zurückkehren, in der die Mitglieder jedes Haushalts alles, was sie
brauchen, selbst erzeugen, oder zum Kommunistenstaat fortschreiten, in dem eine
Obrigkeit bestimmte, was und wieviel ein jeder gebrauchen und verbrauchen
darf und soll, dieses bestimmte Quantum von Verbrauchs- und Gebrauchs¬
gütern auf Staatsäckern, in Staatsbergwerken und Staatswerkstätten herstellen
und durch seine Beamten verteilen ließe. Solange wir aber das Privat¬
eigentum an den Produktionsmitteln und die freie Produktion haben, solange
die überwiegende Menge der Güter als Ware hergestellt wird — für unbe¬
kannte, zufällige, meist vom Produktionsorte entfernt wohnende Abnehmer
teils geerntet oder gegraben oder fabriziert wird, solange Geldkapitalien auf¬
gehäuft werden, die nur durch Produktion verwertet werden können, darum
bei fortschreitender Produktivität der Arbeit versuchen müssen, neue Bedürfnisse
zu wecken, da die alten mit immer weniger Arbeit und Kapital befriedigt
werden, so lange sind Veranstaltungen nicht zu entbehren, die Produzenten
und Konsumenten zusammenzubringen, die diesen anzeigen, wo sie finden, was
sie wünschen oder brauchen, die die Kauflust erregen und Käufer anziehen.
Mancher meint wohl: ja, die einfache Bekanntmachung ist notwendig, aber
nicht die marktschreierische Reklame; wer will aber die Grenze bestimmen, wo
die gut und geschickt stilisierte wahrheitsgetreue Anzeige aufhört und die
Marktschreierei, der Schwindel anfangen? Oder: das Nützliche und Notwendige
sowie alles, was Kulturwert hat, mag angekündigt werden, wenn es sich im
allgemeinen heutigen Lärm nicht anders Gehör verschaffen kann, auch mit
Pauken und Trompeten, aber dem Unnötigen und Schädlichen wenigstens
darf dieses Recht nicht zugestanden werden. Ja, wenn nur die Grenzen
zwischen diesen beiden Kategorien nicht ebenfalls flüssig wären! Der einzelne
Privatbesitzer kann sein Haus, sein Grundstück von Maueranschlägen rein er¬
halten, Gemeinden können sich der Verschandelung ihrer Architektur- und
Naturschönheiten erwehren, der Staat kann offenbaren Betrug und die Ver¬
lockungen zu Unsittlichkeiten strafen (wie schwierig auch dieses schon ist, be¬
weisen die Gerichtsverhandlungen), aber im großen und ganzen läßt sich an
dem viel beklagten Zustande nichts ändern; am gescheitesten ists, man sieht
sich ihn von der komischen Seite an, lacht darüber, wappnet sich mit Verstand
gegen Verlockungen und schützt sich so vor Hineinfallen. Das Anzeigen,
Zurschcmstellen und Reklamemachen ist, wie Paquet in seinem Buche*) ausführt,
in der heutigen Produktionsordnung nur der letzte Akt des Produktionsprozesses,
denn Güter, die unbekannt und darum unverkauft blieben, könnten gar nicht
produziert werden. Die mancherlei Ausstellungen sind nun eine wichtige Art
der Bekanntmachung, und Paquet, der die Ausstellungen zu Düsseldorf 1902,
Se. Louis 1904 und Liittich 1905 studiert hat, widmet ihnen dieses Buch,
weil zwar, wie er sagt, an beschreibenden Veröffentlichungen kein Mangel ist,
Arbeiten aber, die den Gegenstand grundsätzlich und theoretisch behandelten,
noch fehlen. So versucht er denn, „das Ausstellungswesen einmal nach Grund¬
sätzen, d. h. als Problem, seinem Gesamtumfange nach zu erfassen", es wissen¬
schaftlich zu behandeln.
In die Volkswirtschaft gliedert er es durch die oben skizzierte Auffassung
ein, und dnrch die Einführung eines neuen Elements der Wertbestimmung:
den altbekannten Elementen: Gebrauchswert, Arbeit und Seltenheit, gesellt er
den Schauwert zu. Es gibt Dinge, die überhaupt keinen andern Wert haben
als diesen: Juwelen, Schmucksachen legt keine Dame zu einem andern Zwecke
an, als um sie zur Schau zu stellen und durch diese Schaustellung die Blicke
auf ihre Person zu ziehen. Kleider haben zwar ihren Gebrauchswert, aber
schönes Aussehen erhöht ihren Wert in den Augen des Gebrauchers und
macht ihn geneigt, mehr dafür zu bezahlen. Licht und Feuer sind die ge¬
waltigen Dioskuren, die dem Menschen helfen, Gebieter der Erde zu werden,
aber im Feuerwerk dienen sie bloß der Schaulust, haben also bloß Schau-
wert. Ja selbst die unscheinbarsten Gebrauchsgegenstände und Werkzeuge, die
am wenigsten der Schaulust zu dienen bestimmt sind, und mit denen zu prunken
keinem Menschen einfällt, wie Stiefelbürsten, sie gewinnen in den Augen des
Käufers durch Sauberkeit und gefällige Form sowie durch geschmackvolle Auf¬
machung der Auslage. Auch die Ausstellungen wollen nichts andres, als
durch den Schauwert, den die ausgestellten Güter haben, Beschauer anziehen
und die Beschauer in Käufer verwandeln. Und so erörtert denn der Verfasser
im ersten Kapitel des ersten „Buches" den „wirtschaftlichen Wert der Sicht¬
barkeit und Erkennbarkeit der Güter", im zweiten „das Ausstellungsprinzip",
im dritten „die innere Organisation des Ansstellungswesens". Alles sehr
dankenswert, wenn sich nur der Verfasser nicht durch seine grundsätzliche
Wissenschaftlichkeit verpflichtet gefühlt hätte, as pg-rlsr uftg.xnMcin<z, wie
unsre westlichen Nachbarn das zu nennen pflegen. Ein Beispiel! Indem die
Ausstellung die Kauflust weckt, die verstärkte Nachfrage aber eine vermehrte
Produktion fordert und ermöglicht, wird das Ausstellen ein Produktionsmittel.
Und noch auf eine andre Weise fördert es die Produktion: es macht die Fort¬
schritte der Technik und der Formgebung den weitesten Kreisen bekannt; eine
Förderung, die zwar der Volkswirtschaft im ganzen oder vielmehr der Welt¬
wirtschaft zuteil wird, aber keineswegs jedem einzelnen Aussteller, ja nicht
einmal jedem einzelnen Lande nützt und darum von Fabrikanten und Völkern
mit gemischten Gefühlen betrachtet wird; denn jeder und jedes will zwar von
den andern profitieren, aber daß seine eignen Erfindungen und Verbesserungen
nachgeahmt werden, daran liegt ihm natürlich nichts. Ist demnach vom
Standpunkte des Volkes, der Landschaft, des Fabrikanten aus Förderung der
Produktion der Zweck der Ausstellung, so haben deren Unternehmer vor allem
die Rentabilität im Auge: sie wollen die Kosten gedeckt haben und womöglich
einen Überschuß erreichen. Darum stellen sie auch Schaugüter aus. die keine
Proben unsrer gegenwärtigen Gewerbtütigkeit sind, wie Erzeugnisse des alten
Kunsthandwerks, die ihnen von Privatbesitzern und Museen geliehen werden,
veranstalten Konzerte, lassen allerlei Jahrmarktklimbim auf dem Ausstellungs¬
platze zu, von dem sie außerdem Konzessionsgebühren ziehen, und Wahlen als
Ausstellungsort eine Stadt, die an sich schon Anziehungskraft auf Fremde
ausübt. Beide Zwecke nun unterstützen einander gegenseitig. Indem die auf
Reinertrag spekulierenden Unternehmer der Ausstellung deren Anziehungskraft
verstärken, führen sie den Fabrikanten Kunden zu, diese aber helfen durch
Zahlung von Beiträgen unter verschiednen Namen, und da sie doch auch
ihrerseits Besucher anziehen, das Unternehmen rentabel machen. Aus der
Darstellung dieses Gedcmkeugaugs bei Paquet gebe ich zur Charakterisierung
seiner Sprache zwei Sätze als Probe.
Indem den Ausgestellten wirtschaftlichen Güternj infolge der monopvlähnlichen
Wirkungen, die von der Gesamtveranstaltung ausgehn, als Teilen der Gesamt¬
veranstaltung auch deren höhere Besucherzahl zugute kommt, vermag dieser Um-
stund ihre Produktivität zu steigern, während andrerseits die in diesen Partial-
vernnstaltnngen enthaltnen, rentennhnlich wirkenden Momente der Gesamtveranstaltung
als solcher zufließen. Damit vermag also die Geltendmachung des Selbstinteresses
in bezug auf das Produktivitntsmomcnt die Beteiligung auch solcher als Teile oder
Gruppen innerhalb der Gesamtveranstaltung auftretender Eiuzelveraustaltungen unter
gleichzeitigem Verzicht auf deu Selbstempfang der von ihnen ausgeübten speziellen
Nentabilitätswirknngen zugunsten der Gesamtveranstaltuug zu verursachen.
Glücklicherweise macht der erste, im metaphysischen Stil geschriebne streng
wissenschaftliche Teil nnr etwa ein Siebentel des Ganzen aus. Die Fabrikanten
und Kaufleute mögen sich also von ihm nicht abschrecken lassen, sondern ihn
überschlagen; sowie Paquet zur Sache kommt, spricht er ungefähr wie ein
gewöhnlicher deutscher Christenmensch. Im zweiten „Buch" stellt er die vielerlei
Ausstellungsformcn des Handels dar: das Schaufenster, den „Ausstcllungs-
apparat der Großbetriebe im Kleinhandel" (im Warenhaus, im Ladenbetrieb
der Magazingenossenschaften, wobei des Verzichts auf Ausstellung in den
Verkaufsstellen der Konsumvereine gedacht wird), das Markt- und Meßwesen,
die Organisation der Reisenden, der Agenten, der Reklame, die Musterlager,
namentlich die Exportmustcrlager; hier erfahren wir nun allerlei Interessantes,
zum Beispiel über das von der Deutschen Exportbank in Berlin 1906 ein¬
gerichtete Musterlager und über das nach neunjährigen Bestehen cingegangne
„Mnsterlager thüringischer Erzeugnisse" in Weimar. Dieses Unternehmen
gliederte sich im Jahre 1900 in drei Firmen, indem neben der Zentralstelle
Weimar zwei Niederlassungen, eine in Sydney und eine in Johannesburg, ge¬
gründet wurden. Die Niederlage in Sydney arbeitete trotz gutem Absatz der
Waren und mehrfacher kleiner Zuschüsse (auch vom Reich) mit Unterbilanz,
weil die Provisionsznhlnng an das Musterlager vielfach umgangen wurde.
Die südafrikanische Niederlage aber krankte an dem Nbelstande, daß die Be¬
stellungen der Abnehmer der Bestätigung durch die englischen Stammhäuser
bedurften. Die Orders mußten über London gehn, blieben dort meist liegen,
und die Bestätigung blieb aus; „die genau spezialisierten Bestellungen dienten
noch obendrein der englischen Industrie als ein bequemes Jnformationsmittel
über die Muster, die den südafrikanischen und den australischen Konsum¬
gewohnheiten entsprachen." Nach den niedern Ansstellnngsformen werden
die höhern, die eigentlichen Ausstellungen, erörtert und dabei auch die nicht
für kaufmännische, sondern, wie Museen, für didaktische Zwecke bestimmten
nicht vergessen; diese unterscheiden sich bekanntlich von den industriellen und
landwirtschaftlichen Ausstellungen auch dadurch, daß sie Dauerinstitute sind,
und daß ihr Inhalt nicht wechselt.
Das dritte Buch erzählt die Geschichte der Ausstellungen im engern
Sinne des Worts. Als erste wird die Ausstellung genannt, die 1756 von
der Society ok ^res in London veranstaltet wurde. Sie beschränkte sich auf
Proben der Verbesserungen in der Tapeten-, Teppich- und Porzellanmanufaktur,
für die von der Gesellschaft Preise ausgesetzt waren. Im Jahre 1761 folgte
eine Ausstellung landwirtschaftlicher Geräte. In Paris hatten die Mitglieder
der ^saclswis as8 Lsgux L.re8 schon seit 1673 ihre Werke alljährlich im
Louvre ausgestellt; seit 1763 gesellten sich den Malern und Bildhauern die
Gobelin- und die Seidenweber sowie die Porzcllanfabrikanten bei. Eine
Ausstellung böhmischer Manufakturerzeugnisse veranstaltete 1791 Leopold der
Zweite im Klemcntinum zu Prag. Die Revolution machte den Luxus-
ausstelluugen im Louvre ein Ende. Sie wurden ersetzt durch die Exposition
xs'rioä'laus as8 proäuits et as 1'man8tris, die der Minister des Innern,
Fransois de Neufchäteau, durch seine an die Departementsbchörden gerichtete
Zirkularnote vom 21. August 1789 ankündigte, in der es unter anderen heißt:
1s8 ?rg.novis ont 6tonus I'IZuroxs xg.r ig. rg^laues 6s lsurs sxx1on3 ^usrrisrs,
ils äoivsnt 8'fig.riesr gves ig mßirie g.i<leur <lgn8 1a sgrriörs an eominsros et
ach gres as ig. xgix. Die erste dieser Ausstellungen war so schlecht besucht,
daß erst 1801 eine Wiederholung gewagt wurde, die aber so befriedigend
ausfiel, daß mau ihr gleich im nächsten Jahre wieder eine folgen ließ. Die
vierte veranstaltete Napoleon im Jahre 1806 auf der Esplanade des Invalides
als einen Teil der Feste, mit denen die Siege von Ulm und Austerlitz ge¬
feiert wurden; sie wurde von 1422 Ausstellern beschickt. Die folgende neue
Kriegsperiode war jedoch dem französischen Gewerbe so wenig günstig, daß
erst 1819 wieder eine Landesausstellung zustande kam. Ihr folgten die
Ausstellungen von 1323 und 1827; auf der letzten erschienen 1795 Aussteller.
In einem Bericht wird die Notwendigkeit und wohltätige Wirkung solcher
Ausstellungen aus dem Zustande der Gewerbe in der ihnen vorausgehenden
Zeit erklärt: Xotrs inäustris vtg.it restreints, Iss proesclss ütgisnt priniitiis,
Iss imo^fus mssgniques stgisrit psu rspgnäuss, Iss <zusl<mes rgrss inäustrisls
azul Iss wsttgisnt su usggs ötgient, iss invsntsurs se su ^g.rclgisnt Is sssrst;
<lust(zuo8-uns tgisgisut g. Isur kg-driog-lion 1'gvpIieg.ti0Q clss s^stsmss soono-
ini^usf inoomvlsts, vsnclgnt ^us Z'gutrvs, susors nroins kg.v0risss, rsstiüsnt
stgtionngirss äans I'emploi ach imo^hos routinisrs. Unter Ludlvig Philipp
fanden drei Landesausstelluugen statt; die letzte wurde uuter der zweiten
Republik 1849 veranstaltet. Den übrigen europäischen Staaten dienten diese
französischen Ausstellungen als Muster. Die erste deutsche veranstaltete
Napoleon, indem er sich 1811 in einem Saale des Regierungsgebäudes zu
Düsseldorf Erzeugnisse des Großhcrzogtums Berg vorlegen ließ. Die Kon¬
tinentalsperre ermunterte die kontinentale Industrie zu verstärkten Kraftan¬
strengungen und nötigte die Regierungen, auf Förderung der Gewerbe bedacht
zu sein. Württemberg folgte 1812, Bayern 1818 mit einer Landesausstellung.
Die Pariser Ausstellung von 1819 regte Preußen an, das sich aus seiner
Erschöpfung zu erholen begann; durch Kabinettsorder vom 9. Juni 1821
wurde verfügt, daß am 1. September 1822 in Berlin eine Landesausstellung
eröffnet werden und sechs Wochen dauern solle. Im Jahre 1824 wurde eine
zweite veranstaltet. „Der größte Teil der ausgestellten Erzeugnisse zeigte die
Gewerbe auf einer sehr niedrigen Stufe. Wie die vorhergehende, so kenn¬
zeichnete sich auch diese als eine rein gewerbepolizeiliche Maßnahme. Die
Norbereitungsarbeiten durchliefen einen langwierigen Instanzenweg. Wer die
Ausstellung beschicken wollte, mußte sich bei der Polizeibehörde seines Wohn¬
orts melden, wo ihm eine Reihe zum Teil unbequemer Fragen vorgelegt
wurde, die mehr abschreckten als zur Teilnahme ermunterten; die Polizei be¬
richtete ans Landratsamt, dieses an die Vezirksregierung, die das gesammelte
Material der Zentralstelle einschickte. Mit preußischer Sparsamkeit bemaß die
Regierung ihren Zuschuß so knapp wie möglich." Einem List, dessen Blick
alles erspähte, was die Gewerbe zu fördern geeignet schien, konnte der Nutzen
von Ausstellungen nicht entgehn. Im Herbst 1819 reiste er als Konsulent
des Deutschen.Handelsvereins nach Wien, um den Kaiser für seine Plane zu
gewinnen, und berichtete im Frühjahr 1820 in seinem „Organ für Handel
und Gewerbe", der Besuch des polytechnischen Instituts in Wien habe ihn
auf die Idee gebracht, daß Gcwerbeansstellungen während der Messen in
Leipzig und Frankfurt sehr wohltätig wirken würden. Da man den Aus¬
stellern nicht gut zumuten könne, nach Tragung der bedeutenden Kosten (sie
waren ja in jener eiseubahnlosen Zeit noch höher als heute) auch noch ihre
Ausstelluugsvbjekte, die als Muster- und Meisterwerke schwer verkäuflich sein
würden, zurückzuholen, so schlage er eine Lotterie vor, in der diese Gegen¬
stände auszuspielen wären; ihr Ertrag werde nicht allein die Aussteller ent¬
schädigen und die Kosten des Unternehmens decken, sondern auch die Mittel
zur Verteilung von Prämien gewähren. Ihm sekundierte in seinem Organ
Adam Müller, der damals österreichischer Generalkonsul und Gesandter an
den sächsischen Höfen war. Er schrieb unter anderen, es handle sich darum,
„die Erzeugnisse der deutschen Kunst, wie es bisher nicht geschehen konnte,
gleichsam in Masse der Industrie unsrer britischen und französischen Nachbarn
gegenüberzustellen, um Tausenden von Borurteilen, die dermalen herrschen,
entgegenzuwirken. Hierzu reichen die bloßen Messen von Frnnkfnrt und
Leipzig, ungeachtet ihrer unermeßlichen Sortimente, nicht hin. Dem Freunde
der deutschen Industrie ist es beim besten Willen nicht möglich, sich über das
auf deu Messen vorhandne und über die eigentlichen Fortschritte der Käufer f?j
M zu setzen. Es bedürfte eines kurzen Auszugs, einer Art von Index
aus den unübersehlichen Vorräten des Marktes; bei der gegenwärtigen Lage
der Sache muß er diese in den Läden der Ausschuitthändlcr suchen." In
Leipzig fand Lifts Idee keinen Anklang. Dresden veranstaltete seit 1824 in
Verbindung mit der Kunstausstellung auf der Brühlschen Terrasse alljährlich
eine GeWerbeausstellung, und im Jahre 1827 forderte die königliche Kommcrzicu-
deputation den Leipziger Rat auf, wegen Ausstellungen, die mit den Messen
zu verbinden wären, Vorschläge zu macheu. Die Kramcrmeistcr und Handels-
depntierten jedoch waren „der ohnmnßgeblichen Meinung, daß dergleichen
Ausstellungen zwar für Plätze, die der Messen entbehren, ein dienliches
Surrogat für den Zweck einiger Übersicht der industriellen Leistungen abgeben
können, daß aber an Orten, wo eine Messe die größte und vollständigste
Warenausstellung darbietet, es wenig helfen könne, dasselbe noch einmal
in uno6, doch nur unvollständig, an einem Orte beisammen zu haben". Erst
1833 verstand man sich zu einer Landesausstellung im Hause der Krämer¬
innung. In der Meßrclation wird über sie unter anderm gesagt: „Obgleich
die Masse der ausgestellten Erzeugnisse des inländischen Gewerbfleißes nicht
so groß war, als man erwartet Hütte, fand sich doch eine Auswahl vorzüg¬
licher Gegenstünde; und Inländer sowohl wie Fremde zollten den daraus
wahrzunehmenden Fortschritten der sächsischen Industrie den verdienten Beifall.
Manches vorzüglich Gelungne der neusten Leistungen wurde nicht ausgestellt,
weil man besorgte, es möchte zu früh bekannt und nachgeahmt werden, eine
Besorgnis, die wohl nicht ganz begründet erscheint, da es dem, der dergleichen
beabsichtigt, nicht schwer fallen kann, sich Muster solcher Artikel zu verschaffen,
sobald sie einmal in den Handel kommen." Der Zollverein übte vorläufig
keinen Einfluß; es blieb bei Landesausstellungen. Erst 1841 regte der
bayrische Bevollmächtigte im Zollverein periodische Ausstellungen des Zoll¬
vereinsgebiets an, die an verschiednen Orten abgehalten werden sollten. Die
erste kam 1842 in Mainz zustande. Ihr Erfolg wurde weit übertroffen von
dem der „Allgemeinen Ausstellung deutscher Gewerbeerzeugnisse", die 1844 in
Berlin stattfand. Der Staat übernahm die Kosten einschließlich des Hin- und
Rücktransports, soweit sie nicht durch die Einnahmen gedeckt würden. Anfangs
wurden die Fabrikanten wieder durch büreaukratische Fragerei abgeschreckt: sie
sollten den Behörden den gewöhnlichen Preis der auszustellenden Erzeugnisse
angeben und über Ausdehnung ihres Gewerbes, Arbeiterzahl, Ursprungsort
und Preis der Rohstoffe und Halbfabrikate berichten. Erst nachdem die
strengen Bedingungen gemildert waren, und der Staat die Kostendeckung ver¬
sprochen hatte, wurde die Beteiligung lebhafter. Es erschienen 2791 Aus¬
steller aus den Zollvereinsstaaten, 75 aus Österreich, 174 aus den übrigen
Bundesstaaten. Diese Ausstellung „führte zum erstenmale dem Publikum vor
Augen, was die Technik bedeutet, und was die Maschine vermag". Die An¬
ordnung war freilich recht mangelhaft. So erschien, heißt es in einem Be¬
richt der Vossischen Zeitung, „ein halbverborgnes Bündel Eisenstäbe in
industrieller Beziehung vielleicht als das wertvollste Stück der ganzen Aus¬
stellung. Es war mit Steinkohlen bereitetes Stabeisen, das für die Zoll¬
vereinsstaaten von der größten Wichtigkeit ist, weil es die einzige Grundlage
bildet, worauf wir bei unsrer Eisenindustrie dem industriellen England gegen¬
über noch fußen können". Im Jahre 1850 wurde Lifts — übrigens längst
vergessene — Idee insofern verwirklicht, als in der neuerbauten Zentralhalle
zu Leipzig zugleich mit der Frühjahrsmesse eine allgemeine deutsche Aus¬
stellung eröffnet wurde. Der Erfolg war mäßig. Die Meßbesucher ver¬
mochten sich für Ausstellungen so wenig zu begeistern wie die Leipziger. Die
Messe nimmt alle Arbeitskräfte in Anspruch, und eines neuen Angebotmittels
bedürfen die dort erscheinenden Fabrikanten nicht. „Auf der Michaelismesse
des Jahres 1830 zum Beispiel setzten die sächsischen Fabrikanten von ihren
baumwollner Strümpfen mit einemmale 13000 Kisten 5 100 Dutzend Paare
ab; auf der Michaelismesse 1834 erteilte ein einziges amerikanisches Handels¬
haus eine Bestellung von 6000 Dutzend Paar. Die Sollersche Schuhfabrik
in Erfurt verkaufte auf der Ostermesse 1835 Partien von 8000 bis 10000 Paar
Damenschuhen nach Südamerika. Bei solchen Ansätzen konnte den Fabrikanten
wenig daran liegen", außer der Messe auch noch eine von der Bureaukratie
veranstaltete Ausstellung zu beschicken.
So groß auch in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die
Zahl der Ausstellungen — viele Provinzialhauptstädt hielten solche ab —
sein mochte, das industrielle Hauptergebnis dieses Zeitraums kam auf keiner
zur Geltung. Wohl waren die Wirkungen der großen technischen Umwälzung
an der Fülle der ausgestellten Erzeugnisse zu sehen, „aber die Maschinen
selbst, die neuen Werkzeuge und damit auch das technologische Studium
schienen noch aus den Ausstcllungssälen verbannt, sei es, daß man Maschinen,
Apparate, Rohstoffe nicht für geeignet hielt, die Aufmerksamkeit der Besucher
zu fesseln, sei es, daß die bisherige formalistische Veranstaltungsweise der
Ausstellungen und das Anwachsen der Konkurrenz in der Industrie das Vor¬
urteil aufrecht erhielten, die Fabrikationsmethoden müßten als individuelle
Errungenschaften geheim gehalten werden".
Mit diesem Vorurteil hat die Londoner Weltausstellung von 1851 auf¬
geräumt, die der industriellen Entwicklung einen gewaltigen Stoß nach vor¬
wärts versetzte und auch das Ausstellnngswesen umgestaltete. Der Verfasser
hebt mit Recht als eine Ehre für die deutsche Nation hervor, daß die Idee
dazu von einem Deutschen, dem Prinzgemahl Albert, ausgegangen ist. Auf
der Ausstellung selbst freilich hat Deutschland, wie Lothar Bucher berichten
mußte, keine Ehre geerntet, aber eben darin lag ja der stärkste Antrieb, den
es von der Ausstellung empfing. Nur einige Kunstwerke, die großen Vasen
der Berliner Porzellanmanufaktur und Werke der königlichen Eisengießerei
„machten eine leidlich gute Figur. Aufsehen erregte ein mächtiges Stahlgußstück
von Krupp, das die von englischen Firmen ausgestellten Gußstücke weit übertraf;
auch erschien dort die erste Kruppsche Gußstahlkanonc als ein Modell, nach dem
das preußische Kriegsministerium bald darauf 2000 Stück bestellte." Es wäre,
schreibt der Verfasser, „dem britischen Weltreiche ein leichtes gewesen, mit
Ausschluß der fremden Nationen eine ansehnliche Ausstellung nur britischer
Erzeugnisse aus dem Mutterlands und seinen Kolonien zusammenzutragen.
Aber zu solchem Ausschluß lag kein Grund vor. Die englische Volkswirt¬
schaft konnte nur Gewinn erwarten, wenn die fremden Nationen, jede mit
ihren eigentümlichen Produkte», sich in London einfanden, um ihr Können
zu zeigen, die Überlegenheit der englischen Industrie zu bewundern und dem
englischen Handel neue Anknüpfungspunkte darzubieten." Die Ausstellung,
so lautete das Programm, „soll ein treues Zeugnis und ein lebendiges Bild
vom Stande der Entwicklung geben, zu dem das ganze Menschengeschlecht
gelangt ist, und einen Platz zur Umschau darbieten, von dem für alle Völker
ein Anreiz zum Weiterstreben ausgeht". In dieser Beziehung hat schon das
Ausstellungsgebäude, der Kristallpalast, mächtig gewirkt, indem er die Periode
der neuen Bauweise für Brücken und Hallen eröffnete.
Der Abschnitt über die Weltausstellungen ist natürlich der interessanteste
des Buches. Wir wollen daraus nur zweierlei hervorheben. Das eine ist
der finanzielle Gewinn, den ein Land einheimsen kann, wenn seine Welt¬
ausstellungen Zugkraft haben. Dem französischen Staate und der Stadt
Paris haben die ausländischen Besucher der Ausstellung von 1889 nach
Pciquets Berechnung 975 Millionen Franken zurückgelassen, von denen
935 Millionen als Reingewinn zu betrachten sind. Das war natürlich nur
möglich, weil Paris — Paris ist und seine Ausstellungen Weltjahrmärkte sind.
Die Schauwerte, die entweder von der Natur gespendet werden oder von einer
alten Kultur angehäuft sind, geben eben eine reichlich sprudelnde Rentenquelle
ab, die durch den Vorwand einer Weltausstellung veranlaßt werden kann,
noch stärker als gewöhnlich zu sprudeln. Und da Berlin über eine solche
Quelle nicht verfügt, handelt es weise, indem es das Risiko einer Weltaus¬
stellung scheut. Warum die Ausstellung von Se. Louis gelingen konnte,
obwohl diese Stadt in keiner Beziehung ein Kleinparis ist, erklärt Paquet
sehr gut aus den Eigentümlichkeiten des Landes. Den meisten Orten der dünn
bevölkerten Staaten in der Mitte und im Westen des ungeheuern Gebiets
fehlt es in dem Maße an Kulturgütern, daß die Anhäufung solcher an einem
nicht allzuschwer erreichbaren Punkte eine gewaltige Anziehungskraft ausüben
mußte. Diese Ausstellung hat darum in hohem Grade erziehend auf die
Hinterwäldler gewirkt, wie sie denn als Erziehungsmittel von ihnen begrüßt
worden war.
Das andre, auf das wir kurz hinweisen wollen, ist die Beteiligung der
Deutschen an den auf die Londoner folgenden Ausstellungen. Die Pariser
Ausstellung von 1855 wurde von 2175 deutschen Ausstellern besucht, die mit
befriedigenden Ergebnissen heimkehrten. Dasselbe gilt von der glanzvollen
Ausstellung des Jahres 1865. Als eine technische Errungenschaft, die zwei
Berliner Unternehmer von dort mitbrachten, nennt Paquet die Emailindustrie,
die bis dahin nur von den Franzosen gepflegt worden war, in der sie aber
schon auf der Wiener Ausstellung 1873 von den Deutschen übertroffen wurden.
An den Ausstellungen nach 1870 konnte sich Deutschland zunächst nicht be¬
teiligen, und als es endlich auf der von 1900 erschien — die Frage, ob man
sie beschicken solle, wurde von den Industriellen mit einem fast einstimmigen
entschiednen Ja beantwortet —, wurde es schlecht behandelt. „Der gesamten
deutschen Industrie war nur soviel Raum zugewiesen worden, wie das Gu߬
stahlwerk Friedrich Krupp in Essen allein beanspruchte." Aber die deutsche
Abteilung war sehr gut angeordnet und hatte sich eines vollen Erfolges zu
erfreuen. „Namentlich waren es die großen Kraftmaschinen und die großen
elektrischen Generatoren, die das Erstaunen des Auslands hervorriefen." Es
war gut für Deutschland, daß es in Paris erst erscheinen konnte, nachdem
eS an weniger sichtbaren Stellen Lehrgeld gezahlt hatte. Was es 1876 in
Philadelphia ausstellte (der Verfasser hat bei dieser Ausstellung das Jahr
anzugeben vergessen), hat Reulcaux mit der berüchtigten Marke „billig und
schlecht" gestempelt. Außerdem tadelte der Kritiker, daß an den ausgestellten
Kunstwerken keine andern Motive als tendenziös patriotische hervortraten. Ein
beschämendes Gefühl beschleicht uns, schreibt Reulcaux, „wenn wir in unsrer
Abteilung die bataillonweise aufmarschierenden Germanien, Bornssien, Kaiser,
Kronprinzen, Bismarcke, Moltken, Nooue betrachten, die in Porzellan, in
Biskuit, in Bronze, in Zink, in Eisen, in Ton, die gemalt, gestickt, gewirkt,
gedruckt, lithographiert, gewebt an allen Ecken und Enden uns begegnen.
Und nun in der Kunstabteilung gar zweimal Sedan! Und in der Maschinen¬
halle sind sieben Achtel des Raumes für Krupps Niesenkcmonen, die KillinZ
irmodinss, wie man sie genannt hat, hergegeben, die da zwischen all dem
friedlichen Werk, das die andern Nationen gesandt haben, wie eine Drohung
stehn!" Die Deutschamerikaner waren wütend. Mit Stolz hatten sie prophezeit,
ihr wiedergebornes Vaterland werde die andern Nationen in Schatten stellen,
und nun diese Enttäuschung! Die derbe Lektion hat gewirkt. Neuleaux
Anhänger strengten sich an, zu beweisen, was geleistet werden könne, wenn
man seine Weisungen beachte, und seine Gegner strengten sich an, ihn durch
die Tat zu widerlegen. Die deutsche Abteilung der australischen Ausstellungen
in Sydney und Melbourne 1879/80 organisierte Nelcaux als Reichskommissar.
Sein Urteil über den Erfolg lautete: „Deutschland beschickte beidemal gut,
teilweise ganz vorzüglich, und erzielte höchst bedeutende Erfolge für seinen
Warenaustausch mit dem neu erworbnen Markte, den wir uns denn auch
durch eine Dampferlinie mit kräftigem Zuge näher gerückt haben." Einen
glänzenden Erfolg erlangte Deutschland 1893 in Chicago; der schlechte Ein¬
druck, den es in Philadelphia gemacht hatte, wurde vollständig getilgt. Schon
auf der Ausstellung selbst wurden Verkäufe und Bestellungen in Höhe von
zusammen 4 bis 5 Millionen Mark abgeschlossen. Die Amerikaner waren
überrascht, so schöne Sachen zu sehen, und ihre Überraschung wurde noch durch
die Erkenntnis gesteigert, daß viele Artikel, die sie bisher zu höhern Preisen
als Erzeugnisse andrer Länder bezogen hatten, deutschen Ursprungs seien.
Der Neichszuschuß von 3600000 Mark hat sich gut verinteressiert. Nicht
weniger befriedigend in geschäftlicher Beziehung verlief die Ausstellung von
Se. Louis 1904, auf der besonders die alle andern Nationen übertreffenden
kunstgewerblichen, sozialpolitischen, statistischen und Unterrichtsabteilungcn großen
Eindruck machten.
Je mehr sich die Weltausstellungen, deren jede die Vorgängerin zu über¬
bieten strebt, ins grenzenlose ausdehnen, desto mehr schwindet ihre Bedeutung.
Zunächst, wie Paquet hervorhebt, als die eines Mittels, technische Neuerungen
zu verbreiten. Dafür gibt es bei der Ausbildung des heutigen Unterrichts-
Wesens, der Presse und des Weltverkehrs so viele andre Mittel, daß die von
der Konkurrenz zu rastlosem Fortschritte gepeitschten Unternehmer mit der
Aneignung neuer Erfindungen bis zur nächsten Weltausstellung zu warten
weder nötig noch Lust haben. Dasselbe wird wohl in geschäftlicher Beziehung
gelten, da der heutige Weltverkehr auch ohne Weltausstellungen die Pro¬
duzenten und Konsumenten aller Erdteile einander nahe bringt. Dagegen
dürften kleinere und darum weniger riskante Ausstellungen, die den neusten
Fortschritt eines Jndustriebezirks oder einer Spezialität veranschaulichen, auch
in Zukunft nützlich erscheinen. So hat die glänzend verlaufne Düsseldorfer
Ausstellung von 1902 die großartigen Leistungen der rheinisch-westfälischen
Eisenindustrie nicht allein dem Inlande sondern auch dem Auslande zur An¬
schauung gebracht, und hat die elektrotechnische Ausstellung zu Frankfurt am
Main 1901 durch das Experiment der Übertragung eines Teils der Kraft
der Lauffeuer Stromschnellen in diesem Zweige der Technik Epoche gemacht.
Geschäftlich hat diese Ausstellung den Teilnehmern für den Augenblick ge¬
schadet. Die Konsumenten von Elektrizität sagten sich nämlich: in diesem
Gebiete wird jetzt so viel neues erfunden, schreitet man so rasch und so stetig
fort, daß wir besser tun, wenn wir mit unsern Bestellungen noch ein paar
Jahre warten. Aus der Erörterung der Organisationsfragen und aus den
Kostenberechnungen in diesem Buche werdeu die Veranstalter zukünftiger
Ausstellungen Nutzen ziehen. Den landwirtschaftlichen Ausstellungen ist ein
besondrer Abschnitt gewidmet. Im letzten Kapitel wird unter anderm über
den gesetzlichen Schutz der Aussteller, die Versuche einer internationalen
Regelung des Ausstellungsweseus und die Einsetzung der „ständigen Aus¬
st
n Pcmagia war man auf mein Kommen vorbereitet; der griechische
Beistand des Vertreters des wegen Geisteskrankheit eben entfernten
Landrath (Kaimakam) zeigte sich, noch ehe ich meinen Besuch im bau¬
fälligen Konak — ein Neubau steht als Ruine daneben — gemacht
und meinen Kaffee dort getrunken hatte. Das Kaffeetrinken und
Zigarettenraucheu ist die Haupttätigkeit, die in einem solchen Re¬
gierungsgebäude geübt wird; hin und her läuft der schmierige griechische Kafetsis
und trägt zierlich den an ein paar Fäden aufgehängten Blechteller, auf dem die
kleinen Tassen stehn. Es war auch schon für meine Aufnahme in dem Hause eines
wohlhabenden Kaufmanns gesorgt worden. Neun Tage, länger als ich beabsichtigt
hatte, weil widrige Winde mich hielten, genoß ich bei diesen einfachen lichens-
würdigen Leuten unvergeßliche Gastfreundschaft. Einer deutschen Hausfrau würde
im Familienleben dieser Dorfbewohner manches auffallen: die Stellung der Frau,
die bet Tisch bedient, aber nicht mitißt; die primitive Art des Kochens, das im
Kamin der Stube vor sich geht, die auch als Wohn- und Schlafstube benutzt wird;
das Benehmen des Mannes, der ans dem Markt einkauft, neben der Frau und
dem kleinen Bedienemädchen (Sacharella, d, i. Zuckerchen hieß sie) vor dem Kamin
am Boden kauert, beim Kochen hilft und dafür sorgt, daß das schwache Feuer in
Gang bleibt. Mühsam genug wird es mit dem hier schon kostbaren Reisig oder
getrockneten Wurzeln von Sträuchern genährt; Holzkohlen kommen von Samvthrake
und kosten das Pfund sechs Pfennige, was uns vielleicht wenig erscheint. Größere
Speisen werden darum im Backofen des Dorfes gekocht. Der todmüde und hungrige
Gast aber muß unter diesen Umständen oft unendlich lange auf das Essen warten;
und es ist doch alles so gut gemeint. Große Wäsche gibt es deshalb auch nicht
im Hause; die größern Dörfer haben ein oder mehrere Waschhäuser, durch die ein
Bach geleitet ist, in denen Tröge zum Waschen und Herde zum Kochen stehn; bei
kleinen Dörfern spielt sich das alles an einem Brunnen ab. Ein großer Kreis
war es, der sich hier um mich bemühte; der französische Regiebeamte, ein paar
Kaufleute, der Gendarmerieoffizier, der von Erzerum kürzlich hierher versetzt war,
vor allem zwei Lehrer der höhern Schule, nicht zu vergessen mein Maultiertreiber
und sein Bruder. Die Gendarmerie, die ans allen diesen Inseln ihr Amt zu Fuß
ausübt — mir auf Lemnos ist sie beritten, wie die Athener schon dorthin regel¬
mäßig einen Hipparchen sandten —, hatten damals schwerern Dienst; tobte doch
drüben der mazedonische Aufstand, galt es doch den heimlichen Handel mit Schie߬
pulver und Patronen zu hindern; er blühte, trotzdem die Strafen hart waren und
man einmal alle, über fünfzig, Vertreter verdächtiger Dörfer festnahm. Der
Schmuggler ist an diesen zerrissenen Küsten und vor allem auf dem Meere fast
völlig sicher, da Seewacht von der Regierung kaum geübt wird.
Der Treiber aber und sein Bruder waren ein anziehend ungleiches Paar: der
eine ein ganz armer, lustiger Teufel, der ältere im Auslande, wer weiß wo und
wie, für diese Verhältnisse fabelhaft reich geworden. Er spielte denn auch eine
Rolle in der Gemeinde, und als der Bruder mich eines Tags auf die Höhe der
Arassia führte, erwartete er mich auf dreiviertel Höhe bei einem berühmten kalten
Quell mit seinen Kumpanen. Musik von Flöte, Geige und Zither erklang; ein
Hammel briet an einem abgehauenen jungen Baumstamm am offnen Feuer; Wein,
Schnaps (Masticha), Kaffee war in Fülle vorhanden. Immer lustiger wurde die
Gesellschaft; man schoß; die Fidel tönte; immer kühner sprangen oder drehten sie
sich in verschiednen — auch obszöner — Tänzen. Neben uns brauste die Quelle,
über uns rauschten die hohen Bäume; hinten herum der Fels und vorn die grüne
Ebene, das dunkelblaue Meer und darüber ein Heller wolkenloser Himmel. Sokrates
und Alkibiades würden sich hier wohlgefühlt haben; wir auch, und es war klug
gewesen, daß ich vorher die felsige Höhe über uns erklettert hatte. Reste mittel¬
alterlicher Befestigungen und eine Kapelle finden sich oben, und die Aussicht er¬
gänzt die vom Palaiokastro, das weit im Westen sichtbar wird. Man überschaut
von hier aus auch die flache südöstliche Landzunge bis zum Kap Kephalo, einer
verlandeten Insel wie der Pyrgos. Besucht habe ich sie nicht mit ihrer glänzenden
Salzlagune (Aliki), ihrer mittelalterlichen Turmruine und einem Ankerplatz lBalos),
der zu allen Zeiten von den Dardanellen her aufgesucht wurde, wenn der Nord-
vder Ostwind die Fahrt zum Haupthafen im Nordosten hinderte. Auch die ganze
Südseite mit ihren 300 bis 400 Meter hohen, mit Gestrüpp bedeckten, nur als
Weide benutzten Bergen ist von hier aus gut zu überschauen. Angebaut soll nur
etwa ein Achtel der Oberfläche von Jmbros sein; mehr ist es nie gewesen, daher
die alte Hauptgottheit, während Lemnos nach der getreidespendenden Erdgöttin
den Namen führt. Aber Jmbros besitzt noch ungehobne Schätze unter der Erde;
eine nicht benutzte Bleigrube ist vorhanden, und im Altertume ist nach einer In¬
schrift Bleiglanz, Schmirgel und andres gewonnen worden. In den sechziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts versuchte eine deutsche Gesellschaft westlich unter¬
halb der Arassia Braunkohlen zu fördern, aber das Unternehmen lohnte besonders
wegen der zu hohen Abfuhrkosten nicht und verfiel wieder.
Von meinem Standquartier in Panagia aus suchte ich in zahlreichen Aus¬
flügen das wieder, was frühere Reisende gefunden hatten, und fand neues dazu.
Die meiste Aufmerksamkeit forderte natürlich die antike Hauptstadt an der Küste,
das heutige Kastro; dorthin zog ich mehrfach und blieb auch einmal zur Nacht in
der Metropolts, denu der Erzbischof wohnt noch immer dort, wenn auch die Ne¬
gierung nach Panagia übersiedelte. Wie lange Menschen auf dieser Höhe zwischen
zwei Buchten, einer größern wenig geschützten westlichen, in die der Große Fluß
mündet (Hagios Nikolaos), und einer ungeschützten kleinen östlichen (Kardnmos),
wohnen, davon zeugen gut geschliffne Steinbeile, die ich mitgebracht habe. Daß
sich Bewohner auf Bewohner folgten, beweisen vorgriechische Terrakotten, altes und
junges Griechische, römische Altertümer und byzantinische, genuesische Festungs¬
mauern, türkische Grabsteine, neugriechisches, von dem die Metropolis von 1798
und ein Brunnen von 1812 trotz aller Formlosigkeit noch hochstehn.
Die Geschichte von Jmbros verkauft Parallel mit der von Lemnos. Um 447
erschienen auch hier ätherische Kolonisten und bauten um die erweiterte Stadt eine
starke schöne Mauer, die über der Steilküste am Meere hinlief und im Süden
auf halber Höhe des Abhanges unterhalb der untersten Mauer des heutigen
Dorfes. Die Buchten im Westen und Osten waren nicht mit eingeschlossen, aber
beherrscht; und in der westlichen wurde durch einen aus mächtigen Blöcken auf¬
getürmten Molo, der an die schroffen Klippen ansetzte, ein sichrer Hafen geschaffen.
Heute ist er welliger durch die Wellen als durch Menschenhand zerstört, und seine
Reste sind für dürftige unzulängliche Ersatzbauteu verbraucht worden. Ebenso ist
die Festungsmauer mit ihren Türmen für die späten kleinern Ersatzbauten zerstört
worden bis auf ein fünfzig Meter langes und ein bis zwei Meter hohes Stück
im Osten; sonst verraten nur die sorgfältig gearbeiteten Auflager und einzelne
Blöcke ihren Lauf. Davor werden nach Süden und Westen Gräber griechischer
und römischer Zeit gefunden. Die Lage der in Inschriften erwähnten Tempel und
des Rathauses würden vielleicht auch bei Ansgrnbungeu nicht mehr festzustellen sein,
aber eine Menge kleiner flaschenförmiger Zisternen im Fels läßt die Stätten von
Wohnhäusern erkennen. Wasser fehlte da oben völlig; nur unten am Kardamos-
hafen liefert eine Quelle brackiges Wasser. Da erwartet man eine Wasserleitung,
und sie hat, wie wir sehen werden, in guter Zeit uicht gefehlt. Manche schöne
alte Mauer steckt trotz aller Abränmung noch in der Erde, und die Lage des
Theaterplatzes steht fest. Deutsche Reisende wollen 1854 noch Reste von ihm ge¬
sehen haben; etwa in der Mitte der Südenceinte ist er noch heute im Terrain
erkennbar. Die Stadtmauer bildete den Hintergrund für das hier sicherlich nur zum
jeweiligen Spiel aus Holz aufgestellte Spielhaus; der Zuschauerraum, dessen Sitz¬
reihen nicht alle aus Stein aufgebaut gewesen sein werden, schaute nach Süden
auf die Ebene, die Kornkammer der Insel. In sie führte östlich neben dem Spiel¬
platz das Südtor hinaus, und ein Hnfentvr erweist ein Knick der Mauer im
Westen. Einst war dieser Hafen von Bedeutung für viele, die zum heiligen Samo-
thrake pilgerten, und für viele, die vou den Dardanellen nach Nordwest oder West
segelten, in römischer Zeit besonders für den Verkehr von Alexandreia Troas nach
den großen Straßen in Thrakien und Mazedonien hinüber; außer den einheimischen
Münzen werden keine andern so häufig auf Jmbros gefunden wie die dieser einst
blühenden Handelsstadt, die ein weidendes Pferd zeigen. Als Antiochos der Große
so hoffnungsreich gegen die Römer zog (192 v. Chr.), ankerte er hier, und als
Ovid im Jahre 9 n. Chr. so hoffnungsarm nach Tomi fuhr, berührte er auch
diesen Hafen. So mancher Seemann mag, ehe er sich auf das berüchtigte Meer
um Samothrake hinauswagte, hier dem Poseidon und später dem heiligen Nikolcios,
dessen Kirche sich neben ein paar Häusern an den schlechten Kai drängt, ein Ge¬
lübde für glückliche Rückkehr abgelegt haben. In spätrömischer Zeit war die Be¬
deutung des Hafens noch gestiegen. Die Mysterien drüben übten zwar kaum mehr
eine Anziehung in die Ferne, aber dafür' lag Jmbros nach der Erhebung von
Byzanz zur Reichshauptstadt einem Welthandelsweg nahe; gesteigerten Verkehr er¬
weisen die zahlreichen Münzen der Kaiser seit Konstantin, während die ältern
schwach vertreten sind. Die Stadt wuchs; man baute sich südlich unter dem un¬
bequemen Stadtberg auf dem alten Gräberfeld an. Reste von Kirchen und von
einer Befestigung sind von dieser erweiterten Stadt geblieben. Als aber die See
immer unsichrer wurde, ging man wieder auf die Höhe zurück, und die Stadt
Ancona begann in einer nicht näher zu bestimmenden Zeit, vielleicht im dreizehnten
Jahrhundert, den Bau einer Feste dort oben, wahrscheinlich um sich nahe den
Dardanellen als Rival von Genua und Venedig festzusetzen. Seestaaten hatten
schon seit dem Troischen Kriege um diese Einfahrt gekämpft. Der Bau wurde aber
nicht vollendet; die Rivalen waren jedenfalls stärker und hinderten ihn. Unfertig
war er noch, als im Jahre 1419 der Reisende Buondelmonti, der uns jenes sonst
nicht überlieferte Faktum mitteilt, Jmbros besuchte. Aber verteidigungsfähig muß
die Burg gewesen sein, denn sie war eine der wenigen gewesen, die sich gehalten
hatten, als 1395 die türkischen Korsaren die letzte Blüte an den Ufern des thrakischen
Meeres brachen. „Von Gott gerettet" war sie 1397 zum Erzbistum erhoben
worden, nachdem in Lemnos die alte Metropolis, der das Bistum Jmbros unter¬
standen hatte, in Asche gesunken war. Georgios, der erste Metropolit, nahm seinen
Sitz oder behielt ihn innerhalb der Feste; die griechischen Reste dieser ersten
Metropolis nennen die Leute heute Palati. Erst in den dreißiger und vierziger
Jahren des fünfzehnten Jahrhunderts, als das Festland ringsum längst in türkischen
Händen war, und Jmbros zu dem wenigen gehörte, was die byzantinischen Kaiser
noch ihr eigen nannten — mit voller Absicht haben sie diese strategisch wichtige
Insel nie den Gcittilusi oder sonstwem zu Lehen gegeben —, damals also wurde
das Kastro ausgebaut. Als 1444 der bekannte Reisende Cyriacus von Ancona hier
weilte, hatte sie der damalige griechische Statthalter Manuel Asanis schon an zwei
Stellen neugebaut, und von der Tätigkeit dieses Mannes, die durch den drohenden
Untergang des Reiches sicherlich gesteigert wurde, sprechen fünf zum Teil stattliche
Bauinschriften, deren eine im Südostturm noch an Ort und Stelle zu lesen ist.
Die Jahre 1439 und 1442 kommen auf ihnen vor; eine metrische scheint nach
einer Bemerkung des Cyriacus von ihm verfaßt zu sein. Er war wegen eines
Sturmes bei Kephalo gelandet und über die Hügel zur alten Stadt geritten. Ein
Jmbrier Kritobulos führte ihn dort sehr liebenswürdig; es ist derselbe, von dem eine
Geschichte Mohammeds des Zweiten auf uns gekommen ist. Cyriacus staunte über
die sicherlich noch eindrucksvollern Reste des mächtigen Hafendammes und der alten
Mauern. Ahnens Nachfolger — es gibt noch heute dort die Namen Asanakis und
Asanina wie Laskaris und Komninos — war Georgios Dromokates, ein Paläologe,
wie aus zwei Inschriften (eine von 1451) hervorgeht. Unter ihm wurde auch
Jmbros in die Katastrophe des Reiches verwickelt. Nach dem Fall von Konstantinopel
(1453) übergab Kritobulos die Insel feierlich dem Sultan, dessen Geschichte er
später schrieb, und dieser überließ sie vorläufig dem genuesischen Herren von Ainos
drüben am Festlande Pcilcimedes (1409 bis 1455) aus dem Geschlechte der Gattilusi.
Er besaß schon Samothrake und hinterließ alles seinem Sohne Dorino dem Zweiten
(1455 bis 1462). Dessen Statthalter Johannis Laskaris Rhontakinos, der auch
Samothrake verwaltete, nennt sich auf einem stattlichen Stein vom Jahre 1456;
es war Zeit gewesen, daß er sich dieses Denkmal schuf; noch in der ersten Hälfte
desselben Jahres wurde er von dem türkischen Feldherrn Jnnusbey verjagt. Nach
ruhmvollen Jahren, in denen jeuer Kritobulos, der früh, wie wir wissen, seinen
Frieden mit dem neuen Herrn gemacht hatte, Georgios Dromokates, der letzte
byzantinische Statthalter, die Venezianer, der Kardinallegat Scarampi und die
Rhodiser ihre Rollen spielen, erstürmten die Türken am 5. Juni 1470 endgiltig
das Kastro. Eine traurige Zeit begann. Die Festung verfiel. Neun vier- und
achteckige Turmruinen mit einzelnen Fetzen der Mauer ragen heute noch an der
Südseite auf; die andern Seiten sind wegen starken natürlichen Schutzes schwächer
gewesen. Hoch auf schwanker Leiter las ich an ihnen und an Häusern des Dorfes
Inschriften, deren weißer Marmor weithin leuchtet. Der Bewohner der Stätte
wurden immer weniger, da der Handel unbedeutend war. Sie diente auch als
Verbannungsort; zum Beispiel wurde der auf Karls des Zwölften Wunsch Ver¬
bannte Baltadschi Mehemed hierher geschickt. Das Kastro geriet allmählich so in
Verfall, daß man zuerst östlich unter ihm wohnte, wo Mauerreste sichtbar sind,
dann seit dem achtzehnten Jahrhundert südlich unter ihm, wo man vom Meere
nicht gesehen wurde. Dorthin > verlegte der Metropolit Neophytos der Erste
(1762 bis 1785) auch seinen Sitz, indem er neben der Kirche Hagia Marina ein
einfaches Haus errichtete. So bildete sich das heutige Dorf; die türkische Re¬
gierung kam nach Panagia, das so zum Zentrum der Insel wurde. Nikephoros
der Zweite (1793 bis 1825), offenbar der tatkräftigste der imbrischen Kirchenfürsten,
erweiterte die Metropolis zu ihrem heutigen Umfange; mehrfach kehrt an ihr die
Zahl 1793 wieder; nur die Kirche erfuhr noch 1838 eine Erneuerung. Von den
acht Stützen der Vorhalle werden sieben von antiken Säulen gebildet; im Boden
der Kirche, die eine gewölbte Holzdecke und ein ganz hübsch geschnittnes Templum
enthält, liegen abgetretne antike Inschriften in Menge. Südlich von der Kirche
dort, wo man in größern Verhältnissen im Westen einen Kreuzgang angelegt Hütte,
befindet sich ein kleiner umschlossener mit Sträuchern und Blumen bepflanzter Hof,
dann der zweistöckige kunstlose Hauptbau und ein großer Hof, der von Wirtschafts¬
gebäuden und einem verwilderten Garten umschlossen wird. Der Hauptbau enthält
unten nur Vorratsräume, oben große Flure, dunkle eckige Gänge und niedrige Räume.
In meinem Schlafzimmer sielen mir die kunstlosen Malereien eines namenlosen
imbrischen Meisters auf: unter der Decke hin ein Fries, der die Erinnerung an
die flüchtigsten pompejanischen Friese wachrief, Szenen des Lebens (eine Moschee,
ein Turm, Hirt, Jäger, Brücken, Brunnen, Reiter, Wasserträger) in Schwarzbraun,
Grün, Rot und Weiß; die Decke in Felder geteilt und darin Szenen der Bibel,
Petrus auf dem Meere zum Beispiel, und gerade über dem Bette die nackte
Potiphar. In dem kleinen Hof legte Nikephoros Glykas, der als Metropolit um
die Mitte des vorigen Jahrhunderts hier residierte, eine Altertumssammlung an,
Skulpturen und besonders Inschriften, von denen eine ganze Reihe wichtiger Stücke
von ihm veröffentlicht wurde. Er war ein begeisterter Altertumsfreund, grub auch
und wollte alle zerstreuten Antiken hier und in der Hagia Marina in Skinudi
vereinigen. Heute schimpfen die Eingebornen über diese Bestrebungen und sagen
ihm alles mögliche Schlechte nach; und die besten Stücke sind auch in der Tat
verschollen oder befinden sich in fremden Museen, zum Beispiel im Louvre. Ein
paar Kistchen mit Terrakotten, Skulpturen und Inschriften einer Sammlung fand
ich im Konak von Kastro auf Lemnos wieder; sie waren vor Jahren dorthin ge¬
langt, um nach Konstantinopel geschickt zu werden; ein imbrischer Grabstein lag am
Hafen dort. Aber dieses traurige Schicksal der Sammlung hat wohl nicht Glykas,
der später Metropolit von Lesbos wurde, verschuldet, sondern sein Nachfolger, der
kein Verständnis dafür hatte. Angeblich sind die meisten Sachen „gestohlen". Aber
trotzdem war die Metropolis ein bequemer Arbeitsplatz, denn überall in den Wänden,
im Boden und in den Höfen liegen noch alte Steine, und der Neffe des Erz-
bischofs förderte die Arbeit in verständnisvollster Weise. Den Metropoliten sah
ich wenig; man sagt ihm offenbar nicht ohne Grund nach, er liebe das Geld mehr,
als es selbst bei einem griechischen Kirchenherrn gewöhnlich sei, »ut noch mehr
den Wein. Schiffer und Fischer wohnen um die Metropolis. Die Frauen tragen
auch hier die langen weiten blauen Hosen, die über den Knöcheln zugebunden
sind, aber im Gesicht mit den großen Augen haben sie etwas Italienisches. Es
mag aber Zufall sein, daß ich gerade nur hier auf Kenntnis der italienischen
Sprache stieß.
Derselbe Erzbischof, der 1798 die heutige Metropolis schuf, sorgte auch für
gutes Trinkwasser, indem er an dem alten gen Süden laufenden Weg unterhalb
des Dorfes einen Brunnen erbaute, der noch nach ihm heißt. Hinter ihm steht
ein spätrömischer Sarkophag, und aufgebaut wurde er aus antiken Marmorblöcken,
von denen viele Inschriften tragen. Schon früher wurden mehrere kopiert; ich
fand andres, nachdem ich die eine Ecke hatte abreißen lassen. Ob sie wieder auf¬
gebaut wurde? Geld dazu ließ ich zurück; daß man nicht einst dort von Wandalismus
rede. Das Wasser kommt vom Hngios Athanasios im Südosten. Im Altertume
wurde die Stadt — damit komme ich auf früher Angedeutetes zurück — von
Südwesten her mit Trinkwasser versorgt, von dem Höhenzuge her, der heute
Diamala heißt und vom Berge von Hagios Theodoros nach Nordosten zieht. Es
liegt dort etwa vier Kilometer von Kastro, etwa halbwegs zwischen diesem Dorf
und Hagios Theodoros das größte Kloster der Insel, Hagios Konstantinos, wieder
Besitz von Lnwra. Ein von Zeit zu Zeit wechselnder Kalogeros steht der Wirt¬
schaft vor und verrichtet den Gottesdienst; ein jüngrer Bruder unterstützt ihn.
Breit liegt das Kloster auf einem niedrigen Hügel über der Ebene des Großen
Flusses, deren beste Stücke ihm gehören. Den einzigen vierrädrigen Erntewagen
sah ich hier auf diesen Inseln, aber dieses Jahr waren die Aussichten schlecht; es
regnete trotz aller Prozessionen um die Felder nicht. Lange Gebäude umziehen
einen weiten Hof, in dessen Mitte eine Kirche steht. Sie ist kunstlos außen und
innen, aber in der Mitte des Hauptschiffes steckt etwas im Boden, das als be¬
sonders heilig gilt, weil es bei Berührung den Wahnsinn heilt, und das ist — eine
antike Säule, in die zahlreiche Griechen und Römer ihre Namen geschnitten haben
als Eingeweihte in die Mysterien der Großen Götter von Samothrake. Diese
Säule und andre Inschriften sprechen dafür, daß etwa an der Stelle des Klosters
ein Heiligtum dieser Götter stand, eine alte Filiale der altgeheiligen Kultstätte dort
drüben. Auf ihren Nachfolger, den heiligen Konstantinos, der noch an sie geglaubt
hatte, vererbten sie auch den größten Ölgarten der Insel; er erstreckt sich vom
Kloster nach Norden bis an ein tiefeingerissenes Bachbett, dem das Wasser nie
ganz fehlt; es läuft zum Großen Flusse. Folgt man diesem Bett bis an die
Höhen der Diamala, so steht man plötzlich zwischen hohem Oleander und dichtem
Gestrüpp vor Mauern, deren Bedeutung bisher rätselhaft blieb. Eine starke Mauer
aus kolossale», wenig behauenen aber gut gefügten Blöcken ist quer über das hier
23 Meter breite Tal gezogen. Eine andre Mauer aus gutgeschnittnen Steinen
halt links (südlich) oben dem Erddruck noch stand; sie stößt rechtwinklig auf die
erste und zählte wohl nie mehr als zwölf Schichten gleich vier Metern an Höhe.
Auf der andern Talseite sind Reste einer ihr parallel ziehenden Mauer erhalten;
sie ist zerstört, weil man leichter an sie herankommen konnte. Das ist unzweifel¬
haft eine Talsperre; ein Bassin war geschaffen, in dem das Wasser aufgestaut
wurde, das jetzt unter Gestein und üppiger Vegetation nutzlos verrinnt, wahrend
die Ebene unten verschmachtet. Schreitet man dem Wasser 50 bis 60 Meter auf¬
wärts entgegen, so entdeckt man rechts oben ein rechteckiges Fundament. Auf ihm
stand einst ein kleines Bassin; von hier aus fand das Naß dreifache Verteilung:
es konnte direkt geschöpft werden, wie Massen von Gefäßscherben verraten; es floß
in Tonrohren zur Stadt, und der Druck genügte sicherlich, es von hier oben auf
den Stadtberg nicht nur in seine Nähe zu bringen; Neste der Leitung fand ich
hier und südwestlich unter dem Stadtberg in einem Gehöfte. Wenn noch mehr
Wasser vorhanden war, stürzte es über einen mächtigen mit Zentimeter dickem
Kalksinter bedeckten Ausgußstein, den ich fand, hinab in das große Bassin.
Von ihm aus konnte es im Falle der Not zur Bewässerung der Gärten und
Felder der Großen Götter verwandt werden. Seinen Ursprung nimmt es etwas
weiter aufwärts auf der Höhe der Dicunala aus ein paar starken Quellen, deren
Inhalt heute neben dem alten Bassin in die Tiefe verschwindet. Noxado nennt
man den Platz. Die neugriechische Sage läßt die Mauern von Riesen aus Steinen
von Samothrake errichtet sein. Ähnliche altgriechische Talsperren sind, soviel ich
weiß, noch nicht nachgewiesen worden; sie werden aber noch zu finden sein.
Am 26. Mai schien mir meine Aufgabe auf Jmbros erfüllt zu sein; erst am
29. erlaubte der Nordsturm die Ausfahrt aus dem alten Hafen.
^e-MWI^rinnen im Rauchsalon mittschiffs krachte und knarrte das Holzwerk,
klirrten die zitternden Lampenglocken. Die See war nicht sonderlich
schwer, aber unangenehm genug mit plötzlichen kurzen Sturzwellen,
von Zeit zu Zeit unterbrochen von einem Klatschen gegen die Schiffs¬
wand und einem Staubregen durch die offnen Luken. Die unmittel-
Ibare Nähe der Maschine mit ihrem Lärm und der Wärme machte
es unmöglich, die Türen offen zu lassen.
An dein einen der beiden Tische im Salon saßen drei Herren plaudernd bei¬
sammen. Ein Handlungsreisender und ein Rechtsanwalt aus Helgeland sowie ein
junger Mann, der ununterbrochen redete, während er die Reisemütze beständig hin
und her schob, bald in die Stirn und bald wieder in den Nacken, sie auf das Sofa
legte und sie gleich darauf wieder auf den Kopf setzte.
Sie hatten sich schon im Zug vou Christiania her getroffen und setzten nun
ihre Reise nordwärts mit dem Schnelldampfer fort.
Sowohl der Rechtsanwalt als auch der Geschäftsreisende saßen lächelnd da
und betrachteten den jungen Mann mit wohlwollendem Vergnügen und mit wirt-
licher Bewunderung. Er war nämlich ein verteufelter Kerl! Vierundzwanzig
Stunden lang hatte er nun die Unterhaltung mit Feuer und Eifer im Gange ge¬
halten und fast alle Themata zwischen Himmel und Erde behandelt. Es quoll
aus ihm heraus wie aus einem unerschöpflichen Wunderhorn, jede Wendung in der
Unterhaltung und jeder zufällige Gegenstand entlockte ihm Ansichten und Urteile.
Und das Gewinnende und Betörende bei diesem Gießbach von Worten war seine
eigne unmittelbare Freude daran. Bei all seinem jugendlichen Übermut, der alle
Themata und namentlich die höchsten behandelte wie ein Jongleur seine Kugeln,
legte er zugleich die gewinnendste Aufmerksamkeit für die Bemerkungen der beiden
andern an den Tag. Er konnte in der Unterhaltung an einen pfeilschnellen See¬
vogel in der Luft um sicher erinnern; wenn ihre Worte fielen, griff er sie schnell
und sicher auf wie der Blitz und führte sie zu sich hinauf in ein Licht von Humor
und in einen Strudel von Anekdoten aus aller Herren Ländern. Wenn er dasaß
und zuhörte, hatte er die Angewohnheit, den Kopf auf die Seite zu legen und
die, die sprachen, nur mit dem rechten Auge anzusehen; mit dem linken sah er an
seiner eignen Nasenwurzel hinunter. Auch dies erinnerte gewissermaßen an den
Blick eines Vogels. Mit Anmut und Natürlichkeit offenbarte er eine große Belesen¬
heit, eine Mannigfaltigkeit an Beobachtungen und Erlebnissen. Vor allem aber
leuchtete den Zuhörern seine Reisefreude entgegen. Und er war unglaublich viel
gereist, so jung er noch war, und auf die vergnüglichste Art und Weise mit un¬
glaublich wenig Geld und Gepäck.
An dem andern Tische, am entgegengesetzten Ende des Rauchsalons, saß ein
älterer Herr ganz allein. Aus seiner Reisetasche, die er um den Hals trug, hatte
er die verschiednen Teile einer langen Pfeife herausgenommen und sie zusammen¬
gesetzt. Auch den Tabak nahm er aus der Tasche, stopfte die Pfeife und paffte.
Es lag etwas Geistliches über seinem Aussehen. Er hatte deu Überrock an die
Wand gehängt und saß in langem, schwarzem Rock und weißem Schlips da. Über
die Knie breitete er sorgfältig eine jener Reisedecken, die schwarz auf der einen
und getigert auf der andern Seite sind. Sein Haar und sein gestützter Bart
waren fast weiß. Aber das Gesicht hatte eine jugendlich frische Farbe und noch
keine Runzeln. Ein wenig weitsichtig saß er da, denn er hielt die Zeitung, in der
er las, ein gutes Stück von sich.
Er legte jedoch das Blatt bald hin und verfiel in Gedanken. Das Schiff
neigte sich ein paarmal schnell hintereinander ziemlich stark auf die Seite, und der
alte Herr sah mit einem halb abwesenden, halb bekümmerten Blick durch die Luke.
Dann erhob er sich und ging hinaus. Es war das zweitemal, daß er so mit
diesem bekümmerten Blick hinausgegangen war. Er kehrte wieder zurück, setzte sich
hin und zündete seine Pfeife von neuem an. Dann legte er sie wieder hin und
verfiel in Sinnen. Es waren offenbar gute und angenehme Gedanken, denn er
lächelte und nickte vor sich hin und murmelte mehrmals halblaut:
Ja — ach ja — ja! Ja ja!
Dabei gestikulierte er mit der einen Hand, deren Finger er fächerförmig
spreizte. Die Unterhaltung an dem andern Tisch ging spurlos an ihm vorüber.
Aber der Rechtsanwalt hatte die andern Herren mehrmals verstohlen auf den Alten
und sein ergötzliches Benehmen aufmerksam gemacht. Als er zum drittenmal nach
ein paar besonders schweren Wellen hinausging, sagte der junge Mann:
Der alte Pastor ist gewiß seekrank!
Ach nein, das ist nicht der Grund, konnte der Geschäftsreisende berichtigen,
er geht nur hinunter und sieht sich nach seiner Tochter um; die ist anscheinend
nicht so ganz seefest.
Hat er eine Tochter hier?
Ja, die junge Dame mit dem Eiderdaunenbarett — von der Bahn.
Ist das seine Tochter?
Allem Anschein nach. Ich sah wenigstens, wie er sie am Bahnhof in Empfang
nahm — ein sehr rührendes Wiedersehen.
Reizendes Mädchen!
Der Alte kehrte zurück und benahm sich genau so wie vorhin, las eine kleine
Weile, legte die Zeitung abermals nieder, lächelte, streckte die gespreizten Finger
aus und nickte und murmelte vor sich hin.
Die drei Herren hatten angefangen, sich über Seekrankheit zu unterhalten.
Der Rechtsanwalt erzählte eine amüsante Geschichte von einer Dame, der Geschäfts¬
reisende hatte mehr als die meisten von Seekrankheit gesehen.
Und Sie? Sind Sie denn auf Ihren Reisen nie seekrank gewesen?
Nein, antwortete der junge Mann. Ich bin ein einzigesmal in meinem Leben
seekrank gewesen, und zwar an Land!
An Land —?
Ja, da ritt ich auf einem Kamel.
Und der junge Mann erzählte davon, wie er auf dem Kamel geritten hatte.
Und dadurch kam man auf das Thema Elefanten, und durch die Unterhaltung über
den Gebrauch und den Nutzen der Elefanten kam man auf Hannibals Zug über
die Alpen. Der Rechtsanwalt erinnerte sich Livius Schilderung von dem Übergang
der Elefanten über die Rhone. Der junge Mann setzte die Mütze fest in die Stirn:
Unsinn, sagte er, Hannibal war ein Humbug.
Jetzt mußte der historisch sehr belesene Geschäftsreisende ans das bestimmteste
protestieren. Der junge Mann hörte ihm ruhig bis zu Ende zu.
Nun ja, natürlich, sagte er, ein Genie, oder doch ans alle Fälle ein außer¬
ordentlicher Mann. Aber — enim! Er war ein semit, wissen Sie. Dieser
berühmte Zug über die Alpen, mein Gott, bewunderungswürdig, genial, über¬
wältigend in seiner Ausführung — aber als Plan! als Strategie! Das reine
Abenteuer, Wahnsinn! Ein Feuerwerk — oben in der Luft erstrahlend — und
dann full — erloschen, und nichts! Nein, Hannibal trug den Stempel seiner Rasse.
Eine glänzende Begabung, aber ohne Tiefe, ohne Idee — im Grunde wurzellos,
vaterlandslos — ein in die Ferne gezogner Weltenkolonist . . . also semit . . .
Nein nein nein! ertönte es plötzlich in einer sanften Mischung von Entsetzen
und Empörung von dem andern Tische her. Hier stand der alte geistliche Herr
aufgerichtet. Die Neisedecke war an die Erde geglitten, und er stand da, die beiden
Hände halberhoben, und alle zehn Finger gespreizt.
Sie müssen entschuldigen, daß ich mich in die Unterhaltung hineinmische. Aber
wenn Sie von der semitischen Nasse sagen, daß sie wurzellos und vaterlandslos
ist, da machen Sie sich eines sehr übereilten Anachronismus schuldig, da ziehen
Sie eine ganz unhaltbare und oberflächliche Parallele mit einem zufälligen, modernen
Phänomen.
An den Ufern von Babylon wir saßen und weineten,
Die Harfe am Weidenast schweigend hing,
Unser Denken in Zion waltete.
Sie hießen uns singen, die uns Knechtschaft gebracht.
Wie konnten wir singen Jehovas Gesang
Im heidnischen Land!
Vergoß ich Jerusalem, vergeß ich dein,
Meine verwelkte Rechte vergesse mein!
Den Tag, wo ich dein nicht gedenke,
Möge die Zunge am Gemmen mir kleben!
Der alte Herr hatte, wahrend er sprach, die eine Hand sinken lassen und
die andre erhoben, mit geschlossenen Fingern stand er da — ganz pathetisch, mild
vorwurfsvoll.
Der Geschäftsreisende und der Rechtsanwalt rissen vor Staunen den Mund
weit auf. Der junge Mann erhob sich mitten im Verse und riß die Mütze
vom Kopf.
Nach einer ganz kurzen Pause ließ der alte Herr die Hand sinken und fuhr
fort, während er mit dem Zeigefinger auf den Tisch klopfte:
Und wenn Sie dieser Rasse Tiefe und Ideen absprechen, da möchte ich Sie
doch daran erinnern, daß unter allen Märtyrern der ganzen Welt, die sich für
eine große Idee geopfert haben, vielleicht die größten und tragischsten der semi¬
tischen Nasse angehören. Der eine ist gerade der von Ihnen so wenig verstandne
Karthager, und der andre ist der Zimmermannssohn aus Nazareth in Galiläa. Ich
bitte Sie, zu entschuldigen, daß ich mir diese Bemerkung erlaubt habe.
Mit einem leichten Kopfnicken ging er am Sofa entlang und hinaus, wandte
sich aber in der Tür noch einmal um, holte seinen Hut und Rock, grüßte aber¬
mals und ging hinaus.
Der junge Mann beantwortete seinen Gruß mit einer tiefen Verbeugung, blieb
stehn und sah nach der Tür hinüber, die sich geschlossen hatte.
Sonderbarer alter Kauz! sagte der Rechtsanwalt.
Wüpp, stand er auf der Kanzel! sagte der Geschäftsreisende.
Der junge Mann setzte sich und sah geistesabwesend vor sich hin.
Haben Sie gesehen, wie schon er war?
Gleich darauf setzte er die Mütze fest in den Nacken und ging hinaus.
Er schlenderte über das Achterdeck. Man fuhr jetzt in Lee nach Stocksund
hinauf. Fest und ruhig glitt das Schiff durch die blanke See und die darüber-
liegende milde, stille Luft von fein perlgrauer Färbung.
Als er hinabging, begegnete er der Dame mit dem Eiderdaunenbarett und grüßte
im Vorübergehn. Er rief den Steward heran und fragte nach dem alten Herrn.
Er hat die Kabine O, das Fräulein hat Ur. 6.
Oben in der Fremdenliste fand er bei Kabine 0 Oberlehrer H. Haut, und bei
Ur. 6 Fräulein Berry Haut eingeschrieben.
Oberlehrer Haut? — Haut?
Er ging wieder ans Deck und sah Vater und Tochter oben auf dem Promenaden¬
deck. Sie standen Arm in Arm an der Reeling und sprachen lebhaft Miteinander.
Dann begannen sie da oben auf und nieder zu gehn, wobei er noch itnmer ihren
Arm in dem seinen hielt.
Der junge Mann ging die Treppe hinauf. In demselben Augenblick, als er
auf dem Promenadendeck erschien, sah ihn die junge Dame mit ein paar klugen
und strahlenden Augen unter starken Brauen an. Sie maß ihn mit unverhohlner
Verachtung und machte ein Gesicht, als sagte sie: Laban! zu ihm. Der Alte hatte
ihr offenbar die Episode von da unten erzählt.
Er ging auf die andre Seite des Decks hinüber, die offen und breit war wie ein
Tanzboden, und richtete es so ein, daß er ihnen auf halbem Wege begegnete.
Sie schenkten ihm beide keine Aufmerksamkeit, sie waren eifrig und lachend
mit ihren eignen Angelegenheiten beschäftigt.
Plötzlich schwenkte er zu ihnen hinüber und grüßte mit der Mütze:
Verzeihen Sie! sagte er. Ich bitte tausendmal um Verzeihung! Aber ich
kann es nicht lassen. Ihnen zu sagen, Herr Oberlehrer, daß ich mich der Flegelei
unten in der Rauchkajüte schweinemäßig schäme!
Der alte Herr sah mit einem drolligen Erstaunen auf. In seinen Augen
blitzte es schelmisch auf.
Nein nein nein, im Gegenteil — ich muß um Entschuldigung bitten . . .
Keineswegs! Aber ich muß Ihnen doch sagen, daß ich nicht so ein Idiot
bin! Aber wenn man so dasitzt und mit Leuten schwatzt, die von nichts eine
Ahnung haben, so, ja, dann wird man leicht so großmäulig und übermütig!
Der alte Herr lachte jetzt laut.
Und ich hatte ja keine Ahnung davon, daß ich da saß und mich vor Ober¬
lehrer Haut blamierte!
Der Alte sah ihn fragend an.
Ja, ich habe Ihren Namen in der Fremdenliste nachgeschlagen. Und wenn
ich mich schon vorher schämte, so wurde ich nun ganz beschämt, wie Sie sich
denken können.
Nein nein nein, dazu liegt doch wirklich gar kein Grund vor! ...
Ich habe Geschichtsunterricht bei dem Herrn Oberlehrer gehabt, und da . . .
Bei — bei — mir . . .? Nein, da irren Sie sicher!
Wir benutzten Heath Weltgeschichte in der Schule!
Das ist doch nicht möglich! In Ihrem Alter! Mein kleines Buch ist seit
vielen Jahren veraltet.
Aber wir hatten einen genialen Mann als Geschichtslehrer. Nämlich Rektor
Holst. Und der unterrichtete nach Ihrem Buch.
Nein wirklich! Sie haben Rektor Holst zum Lehrer gehabt! Ja, dann! Der
hat immer eine Vorliebe für mein Lehrbuch bezeugt. Holst — ja ja — den können
Sie mit Recht genial nennen! Ich kenne ihn!
Ja, das haben wir oft genug gehört!
Aber Sie müssen mir sagen, wie Sie heißen, mein junger Herr!
Ich heiße Bugge. Svend Bugge, vana. mass. seit dem vorigen Jahre.
El el! Das also sind Sie! Mit Auszeichnung! Ja, ich entsinne mich dessen
sehr wohl! Ich halte die Jugend immer im Auge, wissen Sie — sitze da und
spähe wie ein alter Rabe — ob nicht etwas auftauchen sollte!
Er schüttelte Svend Bugge warm und lange die Hand.
Das Fräulein hing am Arm ihres Vaters. Der empörte Blick, mit dem sie
den jungen Mann beehrt hatte, als er plötzlich angestiegen war, hatte einer mehr
und mehr sinnenden, lächelnden Beobachtung Platz gemacht.
Das ist meine Tochter Berry, die ich aus Drontheim geholt habe, direkt aus
Europien heimgekehrt.
Ich habe das gnädige Fräulein schon im Zug gesehen, begrüßte er sie.
Aber jetzt will ich nicht länger stören. Ich bitte noch einmal um Entschuldigung,
daß ich ...
Nein nein nein, reden Sie nicht so! Sie müssen mir von Rektor Holst
erzählen . . .
Sie wanderten zusammen auf dem Promenadendeck entlang. Svend Bugge
erzählte von Rektor Holst und seiner Schule — eine Sündflut von Geschichten —,
und der alte Oberlehrer amüsierte sich köstlich.
Aber hören Sie einmal, sagte er und sah nach der Uhr, es ist gerade eins.
Und das nennen wir seit alter Zeit an Bord des Nordlanddampfers die rechte
Portweinstunde. Was meinst du, Berry, zu einem Glas Portwein jetzt nach der
häßlichen See?
Herrlich, Vater!
Portwein und Gläser wurden in den Decksalon gebracht. Der Oberlehrer
strahlte vor Freude, schenkte die Glaser voll und stieß an, zuerst mit seiner heim¬
gekehrten Tochter, dann mit dem jungen Mann. Und als Svend Bugge mit dem
Fräulein in einen lebhaften Streit über Paris geriet, wo sie sich vier Monate mit
einem Onkel und einer Torte aufgehalten hatte, und das er kategorisch für ein
Schmuhloch erklärte, obwohl er dort nur acht Tage im Winter gewesen war, da
saß der Vater da und freute sich seiner Tochter rin unbeschreiblichem Stolz.
Schnell und schlagfertig parierte sie alle seine Paradoxen und flotten Verall¬
gemeinerungen und stellte dagegen ihre eignen Beobachtungen und Ansichten auf,
nicht ganz ohne Gereiztheit über seinen Ton, der ihr gegenüber ein wenig nonchalant
herablassend war. Und als man endlich an den Oberlehrer appellierte, kaute er
vergnügt auf seiner Pfeifenspitze und sagte lächelnd:
Ach ja, ich glaube wohl, daß man meiner Tochter Recht geben muß. Paris
ist »och immer der Brennpunkt der modernen Kultur.
Dann muß ich natürlich die Segel streichen. Ich habe heute ja schon Skandal
genug gemacht, folglich . . .
Mit Ihrem Hannibal hatten Sie wohl nicht viel Glück! neckte sie.
Aber nun nahm der Oberlehrer das Thema Hannibal wieder auf und begann
mit dem Zugeständnis, daß der Zug nach Italien allerdings streng beurteilt
werden könne. Und so nach und nach gab er eine sehr eingehende Schilderung
von Hannibal, dem zweiten Punischen Krieg, Rom und Karthago, sodnß Svend
Bugge dasaß und lauschte, das rechte Auge strahlend auf den Oberlehrer gerichtet,
mit dem linken seine Nasenwurzel betrachtend. Und nun war die Reihe an der
Tochter, stolz auf ihren Vater zu sein, während sie verstohlen triumphierend zu
dem jungen Mann hinübersah.
Ich habe dies — von der römischen Politik, von Cajus Flaminins — in
einer Zeitschrift gelesen, in einem alten Heft . . .
Oberlehrer Haut sagte nichts hierzu und zündete nur seine ausgegangne Pfeife
wieder an. Aber Berry richtete sich stramm auf und sah gespannt und eifrig zu
ihrem Vater hinüber:
Ja Vater, das ist natürlich deine Abhandlung gewesen!
Unsinn, Kind!
Über Cajus Flaminins . . .
Nein, sagte Svend Bugge, das war von jemand anders, ich entsinne mich
des Namens nicht mehr ...
Opseth? fragte Berry.
Ja, so hieß er, Opseth! Ganz recht!
Ha! Das war ja doch Vater! Berry war ganz heiß geworden — natür¬
lich — weil sie Recht hatte!
Svend Bugge verstand es nicht. Der Oberlehrer war rot geworden, schüttelte
den Kopf und lächelte:
Nun ja, es war ein kleiner Versuch aus meiner frühen Jugend. Und das
mit dem Namen hat seine Richtigkeit. Ich heiße nämlich eigentlich nach meiner
Heimat hier oben in Hclgeland Opseth.
Haben Sie denn nicht mehr darüber geschrieben? Die Sache fortgeführt?
Nein nein nein! Ich habe keine Gelegenheit dazu gehabt. Ach nein, es
wurde damals ack ave-i. gelegt.
So etwas verstehe ich nicht! sagte Svend Bugge mit Nachdruck, fast heraus¬
fordernd und doch mit einer so glühenden Sympathie, daß es nicht unhöflich klang.
Oberlehrer Haut sah mit einem sonderbaren Ausdruck vor sich hin und winkte
abwehrend mit der einen Hand.
Unsinn! Unsinn! sagte er. Und Svend Bugge schwieg verwundert, als Fräulein
Berry ihn Plötzlich kopfschüttelnd mit einem strengen Blick ansah. Dann gab sie
der Unterhaltung eine andre Wendung.
(Fortsetzung folgt)
Bei Beginn der jetzt vergangnen Woche erfuhr die Welt eine bedeutsame
Friedenskundgebung des Kaisers. Es wurde der Wortlaut der Rede veröffentlicht,
die er am 30. August, also gerade vor acht Tagen, bei dem Festmahl in Stra߬
burg am Tage nach der Parade über das XV. Armeekorps gehalten hatte. Ernster
und nachdrücklicher konnte kein Staatsoberhaupt nicht nur seinen Wunsch nach
Frieden, sondern auch seine innerste Überzeugung, daß der europäische Friede nicht
gefährdet ist, aussprechen. Der Kaiser begründete diese Überzeugung in einer
Steigerung, die wohl beachtet sein will. Er sieht eine Friedensbürgschaft in dem
Gewissen der Fürsten und Staatsmänner Europas. Nun wird man freilich sagen
müssen, daß dieses Gewissen das Gedeihen des Ganzen im Auge behalten muß und
deshalb niemals ausgeschlossen ist, daß das Interesse der Gesamtheit auf einem
Wege gewahrt werden muß, der den einzelnen schwere Opfer an Gut und Blut
auferlegt. Auch Kaiser Wilhelm der Erste hatte das starke Verantwortungsgefühl
vor Gott, das wohl als eine sichere Friedensbürgschaft gelten konnte, und mußte
doch dreimal den Entschluß zum Kriege fassen. Wenn aber heute der Deutsche
Kaiser angesichts einer konkreten politischen Loge mit solcher Zuversicht an das Ge¬
wissen seiner Mitfürsten appellieren kann, dann ist das mehr als eine vage Hoffnung
oder ein naives Zutrauen. Es ist darin ausgesprochen, daß die Lage nichts ent¬
hält, was das Risiko einer Friedensstörung rechtfertigen könnte. Immerhin ist
dies die schwächste Grundlage der Friedenszuversicht. Ein stärkerer Grund ist schou
das Bedürfnis der Völker selbst nach ruhiger Entwicklung und friedlichem Wett¬
bewerb. Aber das wichtigste ist die dritte Stufe dieser Steigerung: unsre Wehr¬
macht zu Wasser und zu Lande ist die beste Friedensbürgschaft. Wenn wir so
stark sind, daß jede fremde Macht und selbst Verbündete Mächte sich scheuen, uns
anzugreifen, so haben wir sicher und dauernd Frieden. Und mit diesem Hinweis
war zugleich Gelegenheit gegeben für die allein richtige Antwort auf alle Vor¬
schläge, die auf die vertragsmäßige Beschränkung unsrer Wehrmacht zugunsten einer
fremden Macht abzielen: „Stolz auf die unvergleichliche Mannszucht und Ehr¬
liebe seiner Wehrmacht ist Deutschland entschlossen, sie ohne Bedrohung andrer auch
ferner auf der Höhe zu erhalten und so auszubauen, wie es die eignen Interessen
erfordern, niemand zuliebe, niemand zuleide."
Im Ausland ließ mau dieser kraftvollen Friedenskundgebung im allgemeinen
Gerechtigkeit widerfahren. Ein etwas mißmutiges Echo gab es in einigen eng¬
lischen Blättern, denen es wider den Strich geht, zuzugeben, daß eine starke
Wehrmacht unter den Verhältnissen, wie sie in Deutschland besteht, nicht eine Be¬
drohung, sondern einen Schutz des Friedens bedeutet. Jetzt kam nun noch die
besondre Enttäuschung hinzu, daß die Abrüstungsidee auch in der Form einer be¬
sondern deutsch-englischen Verständigung bei uns keine Gegenliebe gefunden hatte.
Man hätte sich aber sagen müssen, daß die Idee einer allgemeinen internationalen
Rüstungsbeschränkung, die im vorigen Jahre im Haag erörtert und nicht an¬
genommen wurde, immer noch praktisch brauchbar und leichter ausführbar war als
eine Abmachung dieser Art zwischen Deutschland und England allein.
Unmittelbar nach der Straßburger Kaiserrede schien es einen Augenblick, als
ob sich nun doch wegen der Mnrvkkofrage der politische Himmel wieder bewölken
wollte. In der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung wurde bekannt gegeben, daß
Deutschland eine Note an die Signatarmächte der Algecirasnkte gerichtet habe,
worin eine möglichst baldige Anerkennung von Mulei Hafid angeregt wurde. Dieser
bedeutsame Schritt hat in der Presse unsrer nationalen Parteien entschiedne Billigung,
zum Teil sogar begeisterte Zustimmung gefunden, natürlich auch hier und da be¬
denkliche Kritik und scharfen Tadel — dies, wie bei uns üblich, auch in Blättern,
die vorher die passive Haltung der Regierung nicht genug tadeln konnten. Ganz
aus dem Häuschen aber war der größere Teil der Pariser Presse, die sich an der
empfindlichsten Stelle berührt fühlte. Man hat wohl gehofft, die unangenehme
Lage, in die man sich dnrch eine unvorsichtige und zweideutige Politik gebracht
hatte, einigermaßen dadurch auszugleichen, daß man die Sache hinzögerte, dadurch
Zeit gewann und vielleicht auch Mulei Hafid dahin brachte, zunächst mit Frankreich
allein zu verhandeln, Zugeständnisse zu machen nud mindestens Frankreich als den
Mandatar Europas in der Marokkofrage gelten zu lassen. In allen diesen
Hoffnungen sah man sich durch die deutsche Note zunächst getäuscht, und so schäumte
denn der Unwille und Ärger über das Vorgehen Deutschlands so stark auf, daß man
gar nicht zu bedenken schien, wie sehr man sich dadurch verriet. Die englische
Presse, die ja nun einmal die Verpflichtung übernommen hat, in der Marokkofrage
durchaus der Meinung Frankreichs zu sein, sekundierte den Franzosen nach Kräften.
Auch anderwärts hatte sich die Presse in eine ganz merkwürdige Auffassung von dem
Sinn und Zweck der deutschen Note hineingedacht. Man glaubte, Deutschland
wolle dadurch aus eigner Initiative für sich eine Entscheidung treffen, die nach der
Algecirasakte sämtlichen Signatarmächten gemeinschaftlich vorbehalten bleiben müßte.
Das ist natürlich der Sinn der deutschen Note durchaus nicht. Formell ist
sie keineswegs die Ankündigung der beabsichtigten Anerkennung Mulei Hafids, wie
es wohl in entstellenden Berichten und Besprechungen dargestellt worden ist. Sie
ist weiter nichts als ein Vorschlag an die Signatcirmächte der Algecirasakte, denen
es natürlich vorbehalten bleibt, sich über einen gemeinschaftlichen Beschluß zu einigen.
Solchen Vorschlag zu machen ist das gute Recht Deutschlands, so wie es ja auch
jeder andern Macht, die die Algecirasakte unterzeichnet hat, freisteht, auf der Grund¬
lage dieses Vertrags Anregungen zu geben und innerhalb der internationalen Ab¬
machungen ihre Interessen wahrzunehmen. Allerdings ist die Wahrnehmung dieses
Rechts in einem entscheidenden Moment sehr geeignet, die Absichten zu durchkreuzen,
die vielleicht eine Signatarmacht hegt, um sich eine Sonderstellung in der ganzen
Frage zu sichern. Das Aufbegehren der französischen Presse in dem Augenblick,
wo Deutschland von einem selbstverständlichen Recht in der Marokkofrage Gebrauch
macht, ist deshalb eine große Unklugheit und ein Zeichen schlechten Gewissens.
Man könnte es als ein Eingeständnis nehmen, daß Frankreich an vertragswidrige
Schritte in Marokko gedacht hat, um sich eine Stellung zu sichern, die ihm nach
der Algecirasakte nicht zukommt. Es ist aber durchaus nicht die alleinige Absicht
der deutschen Note gewesen, dies etwa festzustellen und das Vorhaben Frankreichs,
das die Frage der Anerkennung Mulei Hafids als angeblicher Mandatar Europas
im Namen der übrigen Mächte regeln zu wollen schien, zu durchkreuzen, sondern
der Schritt ist unternommen worden, weil die Interessen der deutschen Reichs¬
angehörigen in Marokko ihn forderten. Diese Interessen litten unsäglich durch die
ungeregelten Zustände, und das allein war Grund genug für die deutsche Ne¬
gierung, die Entscheidung im Thronstreit als Anlaß zu benutzen, um durch die An¬
erkennung des siegreichen Sultans wenigstens den Versuch zu einer Beschleunigung
der Beruhigung des Landes zu machen. Es ist ungewöhnlich naiv, wenn in aus¬
ländischen Preßstimmeu der deutscheu Regierung zugemutet wird, sie solle um der
französischen Marokkopläne willen alles unterlassen, was den für die deutschen
Interessen erwünschten Landfrieden in Marokko fördern könnte.
Einige Kritiker des deutscheu Vorgehens haben nun den Zeitpunkt bemängelt,
in dem Deutschland seinen Schritt unternommen hat. Nachdem die deutsche Regie¬
rung mit vollkommner Ruhe der bisherigen französischen Politik in Marokko zu¬
gesehen hatte, meinten sie, es solle wirklich den Franzosen ganz und gar überlassen
werden, als Mandatare der europäischen Mächte im scherifischen Reich zu schalten.
Man sah in der deutschen Note eine jener „Plötzlichkeiten", die man der Führung
der deutsche» Politik jetzt gern zum Vorwurf macht, und meinte verdrießlich, nun
habe man solange Zeit nichts getan, da hätte man auch noch länger warten
können. Es sei unklug gewesen, jetzt ohne Not die Verstimmung andrer Mächte
hervorzurufen. Das ist eine merkwürdige Auffassung. Solange der Throustreit in
Marokko noch nicht entschieden war, mußte Deutschland gewärtig sein, daß jede
Erklärung, die es zugunsten Mulei Hafids abgab, als eine Unfreundlichkeit gegen
Frankreich gedeutet wurde. Denn Frankreich hielt daran fest, daß Abdul Asif der
rechtmäßige Sultan sei, der die Algecircisakte unterschrieben habe, und konnte von
seinem Standpunkt aus behaupten, ,daß die Unterstützung eines Prätendenten die
Unruhstifter ermutige» müsse, von denen Frankreich zur Wahrung seiner Waffen¬
ehre Genugtuung fordern müsse. Daß aber Deutschland seinerseits gleichfalls Abdul
Asif unterstützte, war angesichts der in Marokko herrschenden Stimmung unmöglich,
wenn Deutschland überhaupt seine legitimen Handelsinteressen in einem unab¬
hängigen Marokko noch wahren wollte. Daher hatte es seine volle sachliche Be¬
rechtigung, daß Deutschland seinen Wunsch, Frankreich jedes mögliche Entgegen¬
kommen zu beweisen, durch die strengste Neutralität ausdrückte, solange die
Beruhigung des Landes wegen der noch schwebenden Entscheidung des Thron¬
streits ohnehin unmöglich war. Durch die nun gefallne Entscheidung aber schwand
jeder Grund, den deutschen Reichsangchörigen in Marokko die moralische Unter¬
stützung vorzuenthalten, die ihne» durch die Anerkennung der siegreichen Regie-
rungsgewalt in Marokko gewährt werden konnte. Dieser Schritt konnte uns auch
von Frankreich nicht verdacht werden, wenn seine Politik wirklich den Erklärungen
entsprach, die durch die diplomatischen Vertretungen Frankreichs und außerdem
öffentlich in der französischen Volksvertretung von den Ministern wiederholt abge¬
geben worden waren. Zum mindesten durften doch die Franzosen selbst uns nicht
tadeln, wenn wir die Erklärungen ihrer eignen Vertreter für ehrlich hielten und
danach handelten. Nach der tatsächlichen Beendigung des Thronstreits konnte aber
Deutschland auch gar nicht anders handeln, ohne zuzugeben, daß Frankreich ein
Vorzugsrecht habe, im Namen Europas darüber zu entscheiden, ob die Beruhigung
des Landes nahcgerückt sei oder nicht. Die deutsche Politik hat also durchaus
folgerichtig gehandelt, wenn sie sich zuerst dem französischen Vorgehen gegenüber
solange als möglich neutral und passiv verhielt, aus dem tatsächlichen Erfolge Mnlei
Hafids aber den Anlaß nahm, die ihr nach der Algecirasakte zustehende», unbe¬
strittenen Rechte im Sinne der eignen Interessen unbedenklich geltend zu machen.
Man darf übrigens wohl annehmen, daß die französische Regierung von der
Haltung ihrer Presse nicht sehr erbaut ist. Die kopflose und unkluge Entrüstung,
die bei dem unerwarteten und doch so natürlichen Schritt der deutschen Negierung
zum Vorschein kam, werden sich gewiegte Staatsmänner schwerlich zu eigen machen,
und ein Mann wie Herr Pichon wird den Vorteil erkennen, wenn Frankreich auf
dem Wege der Verständigung einen Ausweg aus den nächsten Unannehmlichkeiten
gewinnt, anstatt schon jetzt die Dinge auf die Spitze zu treiben.
In unsrer innern Politik spitzt sich das Interesse immer mehr auf die Frage
der Reichsfinanzreform zu, und man darf wohl sagen, daß die Überzeugung, es müsse
jetzt einmal ganze Arbeit gemacht werden, in allen Parteilagern immer mehr Boden
gewinnt. Auch darin ist sichtlich eine Klärung eingetreten, daß diese wichtige Frage,
wenn sie auch von jeder Partei möglichst nach ihren eignen Grundsätzen und Über¬
zeugungen zu lösen versucht wird, doch nicht mit andern Parteiinteressen verquickt
werden darf. Die Aufforderung, die eine Zeit laug mehr oder weniger laut in den
Vordergrund geschoben wurde, nämlich der Gedanke, die Reichsfinanzreform zum
Gegenstand eines politischen Kuhhandels zu machen, wird jetzt nur noch zaghaft
verteidigt, wo man erkannt hat, daß die Zukunft des Liberalismus von seiner
positiven Mitarbeit an deu großen nationalen Aufgabe» abhängt. Lebhafter ver¬
treten wird der Gedanke des Kuhhandels mir noch im Lager der liberalen Block¬
feinde, die auf dem Parteiprinzip als Selbstzweck bestehn, wie Shylock ans seinem
Schein. Freilich sind es Symptome, die einstweilen noch keine sichre Gewähr für
das Gelingen des großen Werkes geben. Denn noch ist der Inhalt der Reform
nicht der öffentlichen Kritik preisgegeben. Was aber bisher von einzelnen Be-
steueruugsplciueu bekannt geworden ist oder nach der ganzen Sachlage als voraus¬
sichtlicher Bestandteil des Reformwerks vermutet werde» kann, das ist in der Partei¬
presse im allgemeinen nach demselben Schema behandelt worden, das wir bei uns
zur Genüge kennen. Jeder findet, daß alle Stenerforderungen durchaus notwendig
sind, nur gerade die nicht, die den Interessentenkreis treffen, dem er selbst ange¬
hört oder nahesteht. Die Gefahr, daß die Reform wieder an denselben Hinder¬
nissen scheitern könnte wie früher, ist also noch immer nicht ganz gebannt. Wir
sind aber wenigstens darin einen Schritt weiter, daß die einsichtigen Liberalen doch
die Notwendigkeit zugeben, daß die stärkere Heranziehung des Massenverbrauchs,
soweit er nicht die notwendigen Lebensmittel betrifft, zur Besteuerung mindestens
einen Teil der Reichsfinanzrefvrm bildet. Hoffentlich beweist der Reichstag nun
auch die nötige Festigkeit gegen den Ansturm der Interessenten, der wie in allen
frühern Fällen nicht ausbleiben wird.
In der Sozialdemokratie tobt der heftige Zwist wegen der Budgetbewilliguug
weiter. Es scheint beinahe, als ob die „Genossen" kurz vor ihrem Parteitage diese
angenehme Motion notwendig brauchen, um die Erwartungen etwas höher zu
spannen. Was seit unsrer letzte» Besprechung dieser Vorgänge in dem heftig ge¬
führten Meiuuugsstreit zutage gekommen ist, hat uns nicht in der Auffassung zu
erschüttern vermocht, daß die bürgerlichen Parteien keine Ursache haben, diesen
Zwistigkeiten besondre Bedeutung beizulegen, wenngleich die Führer der Gewerk¬
schaftsbewegung diesmal etwas ernsthafter als sonst davon gesprochen haben, daß
der Riß nicht mehr zu verkleistern sei. Das ist eine gelegentliche Äußerung des
Unmuts, eine Befürchtung, die sich unter dem Eindruck bestimmter Umstände ein¬
mal ans die Lippen einiger Führer gedrängt hat. Man wird es aber nicht wieder
soweit kommen lassen wie einst in Dresden. In Nürnberg wird das nötige Öl
auf die erregten Woge» gegosse» werden; die nrteilslosen Masse», die sich nicht
von dem nachdenke» über Tatsachen, sonder» von der dunkeln Empfindung der
Jnteressensolidaritnt leiten lassen, werden wieder hinter den alten Führern hcrtrotten,
die für ihre Paschawirtschaft und Gesinnungstyrannei keine Befürchtungen zu hegen
brauchen, und dann werden die Herolde der Partei die unerschütterliche Einigkeit
des Proletariats in alle Winde hinausrufen und im Namen dieser Einigkeit die
bürgerlichen Propheten verhöhnen, die auf den alten Trick einmal wieder hinein¬
gefallen sind. Gewiß sollen wir alle diese Dinge aufmerksam verfolgen und studieren,
um in das Wesen dieser Bewegung immer tiefer einzudringen und daraus auf die
rechten Abwehrmaßregeln zu kommen, mit deren Hilfe wir die moderne Arbeiter¬
schaft allmählich wieder zu einem organischen Gliede der modernen Gesellschaft
machen können. Aber die Illusion, als ob sich die Sozialdemokratie ohne die ernste
soziale Arbeit der bürgerlichen Kreise an ihrem eignen Widersinn zugrunde richten
würde, könnten wir nachgerade fahren lassen.
Es war diesmal eigentlich nicht unsre Absicht, auf den Fall Schücking noch
einmal zurückzukommen, der jetzt uach der politischen Seite hin genügend erschöpft
sein dürfte. Aber die Deutsche Tageszeitung ist durch die Besprechung in unserm
letzten Neichsspiegel so sehr in Aufregung versetzt worden und hat so lebhaft nach
dem Profoß — in Gestalt der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung — gerufen,
daß wir doch noch ein paar Worte darüber sagen müssen, um nicht den Anschein
zu erwecken, als duckten wir uns wegen schlechten Gewissens. Die norddeutsche
Allgemeine Zeitung soll nach dem Wunsche der Deutschen Tageszeitung bescheinigen,
daß unser Artikel eine „Privatarbeit" war. Aber warum denn andre Leute be¬
mühen? Diese Bescheinigung geben wir gern selber. Es gibt freilich verschiedne
Arten von Privatarbeiten, und es kommt dabei auf die Unterlagen der ausge-
sprochnen Meinung an. Wir brauchen die Prüfung der Unterlagen nicht zu fürchten,
auch wenn wir in niemandes Auftrage handeln und uns das Recht der eignen
Meinung in jedem Falle vorbehalten. Soviel über den Versuch, uus mit dem gern
mißbrauchten Worte „offiziös" ins Bockshorn zu jagen! Was die Deutsche Tages¬
zeitung vor allem so gewaltig erregt hat, ist unsre Ansicht von dem Wesen der
Blockpolitik, und diese immerhin wichtige Frage veranlaßt uns hauptsächlich, auf
den Streit einzugehn. Die Entgegnung des genannten Blatts ans diesen Punkt
unsrer Ausführungen lautet:
„Die Blockpolitik ist weiter nichts als ein zeitweiliges Zusammenarbeiten
der konservativen und liberalen Parteien, um die Fortführung einer nationalen
Politik zu gewährleisten. Sie bedeutet durchaus nicht eine Abkehr von den
alten Regierungsgrundsätzen, sondern nur eine Abkehr von der bisher
innegehaltnen Negierungstaktik. Wer von der Blockpolitik erwartet und ihr
zumutet, daß sie mit den alten, bewährten Grundsätzen, die der Grenzbotenschreiber
alte, abgewirtschaftete Methoden nennt, brechen solle, der sprengt den Block. Wo
in aller Welt ist denn »offiziell verkündet« worden, daß die Blockpolitik bestimmt
sei, die Meinungen frei gewähren zu lassen, auch wenn sie sich in einer Form
äußern, die zugestandnermcißen für die Regierung als solche und viele Regierungs-
beamte in hohem Maße beleidigend ist? Wir haben Von einer offiziellen Ver¬
kündigung dieser neuen, seltsamen Grundsätze nicht das mindeste gehört. Die Durch¬
führung eines derartigen Grundsatzes würde auch durchaus nicht im Interesse der
Staatsautorität liegen, sondern zum Ruine dieser Autorität führen."
Darauf läßt sich vielerlei erwidern, aber wir wollen uus nicht wiederholen
und unnötig ausspinnen, was wir früher oft genug auseinandergesetzt haben. Nur
einige Punkte seien hervorgehoben.
Die Deutsche Tageszeitung unterscheidet Regierungsgrundsätze und Negierungs¬
taktik und gibt zu, daß die Blockpolitik in der Tat eine Abkehr von der frühern
Taktik bedeutet. Uns aber wirft sie vor, daß wir die alten Grundsätze „alte, ab-
gewirtschciftete Methoden" nennen. Mit Verlaub! Wir haben eben, wie ganz
richtig hervorgehoben wird, von „Methoden" gesprochen. Methoden sind aber
nicht Grundsähe, sondern eben das, was die Deutsche Tageszeitung „Taktik" nennt.
Die Sache stimmt also nicht. Wer einen Gegner so scharf angreift, daß er, wie
es im vorliegenden Falle geschieht, von „törichter Auffassung" spricht, sollte vor
oller Dingen selbst in der Darlegung der Streitpunkte genauer und klarer sein und
deutlicher sagen, was er unter Blockpolitik versteht. Es möge uns also die Frage
beantwortet werden, worin der Unterschied der heutigen Negierungstaktik von der
früher» besteht, wenn die alte Art der politischen Beamten, sich ausschließlich für
konservative Interessen einzusetzen und unbequeme Liberale durch Maßregelungen
zu eliminieren, beibehalten werden soll. So naiv wird doch niemand sein, auch
uur ein „zeitweiliges" Zusammenarbeiten der konservativen und liberalen Parteien
für möglich zu halten, wenn die Regierung die Erwartung, daß sie den kleinlichen
und engherzigen Polizeigeist früherer Zeiten gegenüber unbequemen Meinungs¬
äußerungen fallen lassen werde, als einen Bruch mit alten, bewährten Grundsätzen
empfinden sollte.
Wir übergehn die Blößen, die sich die Deutsche Tageszeitung in einem andern
Teil ihrer Entgegnung gibt, znni Beispiel die längst als unrichtig erwiesne Be¬
hauptung, daß der Regierungspräsident uur einer Weisung des Ministers gefolgt
sei, ferner, daß es sich um „Beleidigungen" der Negierung und vieler Regierungs¬
beamten gehandelt habe — gegen ein gerichtliches Einschreiten, wie es sich i»
solchem Falle gehört hätte, würde niemand etwas einzuwenden gehabt haben —,
wir wollen nur noch etwas darüber bemerken, daß die Deutsche Tageszeitung von
der Auffassung der Blockpolitik, wie wir sie formuliert haben, noch nie etwas
gehört haben will. Deshalb lassen wir hier noch einige Stellen aus der Rede des
Reichskanzlers Fürsten Bülow vom 30. November 1907 folgen. Darin hieß es:
„Das Zentrum bleibt zusammen, weil es sich immer wieder auf der
mittlern Linie findet, wo auch einander ursprünglich fernstehende Richtungen
sich in gemeinsamer Arbeit und Betätigung begegnen können. Die Blockparteien
können, wie ich glaube, lange nebeneinander marschieren, wenn sie dasselbe
tun."... „Die Schwierigkeiten bestehen vor allem darin, daß es Parteien nicht
leicht fällt, neue Straßen einzuschlagen, alte Wege zu verlassen, alte Tra¬
ditionen aufzugeben, namentlich wenn es Traditionen des Streites und des
Zankes siud, die uns Deutschen um einmal besonders teuer sind." Im weitern
Verlaufe der Rede begründete der Reichskanzler die Einbringung des neuen
Vcreinsgesetzes unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der Blockpolitik: „Es soll die
Vereinheitlichung ... des jetzt vielgestaltigen Rechtszustandes herbeigeführt werden
unter Beseitigung von polizeilichen Maßnahmen und unbequemen Hemmungen, für
die nach meiner Ansicht in der Entwicklung moderner Staaten kein
Bedürfnis und kein Raum mehr vorhanden ist." Und dann wiederum an
einer andern Stelle: „Die Blockpolitik verlangt ans der einen Seite den Verzicht
auf etwaige reaktionäre Anwandlungen, die mit konservativen Prinzipien
nichts zu tuu haben. Sie verlangt auf der andern Seite das Abkappen jener Blüten
des Asphaltliberalismus, die in den Strahlen der sozialdemokratischen Sonne gedeihen,
in dieser ungesunden Hitze aber bald verdorren. Ich glaube, daß solche Velleitäten
gegenüber den praktischen Aufgabe» des Tages nicht standhalten werden, es sei
denn, daß alle Lehren der Geschichte vergebens sind, daß die Söhne immer wieder
die Fehler und Dummheiten wiederholen müssen, die die Väter begangen haben." .. .
„Fürst Bismarck sagte mir einmal in einem Gespräch über die konservative Partei...
das geniale Wort: Agrarisch müssen die Konservativen bleiben; den tellurischen
Zug — so drückte sich Fürst Bismarck ans -— dürfen die Konservativen nicht auf¬
geben; im übrigen müssen die Konservativen recht modern sein und weitherzig,
wie sie es in England gewesen sind."
So der Reichskanzler in seiner offiziellen Erläuterung der Blockpolitik. Wir
überlassen es getrost der Entscheidung jedes denkenden Lesers, der unsre Ausführungen
im letzten Neichsspiegel gelesen hat, ob sie von den hier verkündeten Grundsätzen
abweichen, und ob ein Polnischer Beamter in ihrem Sinne handelt, der die Takt¬
losigkeiten eines unbedeutenden Kommunalbemnten so beurteilt und behandelt, wie es
i
Nachdem vier starke
Auflagen des Deutschen Wörterbuchs von Fr. L. K. Weigand jahrelang vergriffen
und Exemplare der letzten Auflage, die nur ein unveränderter Abdruck der dritten,
noch vou Weigand selbst besorgten, gewesen, mit Mühe antiquarisch zu dem unge¬
bührlich hohen Preise von 35 Mark zu beschaffen waren, tritt jetzt auf Grund sorg¬
fältigster Vorbereitung eine vollständig umgearbeitete fünfte Auflage in die Öffentlich¬
keit. Um dem altbewährten Wörterbuch für die Zukunft den Ruf unbedingter Zu¬
verlässigkeit und Mustergiltigkeit zu erhalten, mußten die Ergebnisse der neuern
Sprachforschung von berufnen Händen wirklicher Forscher für das Werk verwertet
werden. Vor allem mußte das Etymologische, wodurch sich Weigand gleich anfangs
vor allen Mitbewerbern hervorgetan hatte, nach den Anforderungen der neuern
Wissenschaft erneuert werden. Die Wortforschung hat seit Weigand einen ungeahnten
Aufschwung genommen, ebenso die Erforschung der verschiednen deutschen Mund¬
arten, sodaß sich jetzt die Zeitbestimmung des Auftretens der einzelnen Wörter, ihre
geographische Verbreitung und ihre Bedeutungsentwicklnng viel genauer als früher
augeben läßt. Drei Leipziger Sprachforscher, Professor Dr. Karl von Baster, ol'. Karl
Kant und Professor öl-. Hermann Hirt, habe» die Neubearbeitung übernommen und
erfolgreich fast zu Ende geführt. Die eigentliche Herausgabe ruht ans den starken
Schultern von Hermann Hirt. Der Gesnmtumfang wird etwa 150 Druckbogen in
Großlexikonformat betragen. Das Wörterbuch erscheint in zwölf Lieferungen zu je
zwölf Bogen zum Preise vou 1,60 Mark, sodaß der Bogen etwa 13 Pfennige, das
ganze Werk etwa 19 Mark kostet. Nach den zurzeit vorliegenden beiden ersten
Lieferungen verdient das Werk uneingeschränktes Lob und wärmste Empfehlung.
Es ist das beste Wörterbuch der deutschen Sprache, das in mäßigem Umfange ans
wissenschaftlicher Grundlage nicht nur den sprachgelehrten, sondern auch jedem höher
Gebildeten das Wissenswerte über den Wortschatz des neuhochdeutschen und seine
Geschichte bietet. Was Jakob Grimm vom großen Deutschen Wörterbuch vergebens
erhofft hat, laßt sich hier mit leichter Mühe verwirklichen, daß „bei den Leuten die
einfache Kost der heimischen Sprache Eingang findet", und daß „das Wörterbuch zum
Hausbedarf und mit Verlangen, oft rin Andacht gelesen wird". Auch Frauen können
an der Hand des neuen Weigand „ihr unverdorbnes Sprachgefühl üben". Es ist
erhebend, aus der Geschichte der einzelnen Wörter zu lernen, wie alle deutscheu
Stämme mitgearbeitet haben an der Begründung des Kunstwerks der neuhochdeutschen
Schriftsprache, in der lange vor der politischen Einheit die geistige erreicht war.
le bevorstehende Reichsfinanzreform, die allem Anschein nach das
wichtigste Ereignis in der Finanzgeschichte des Deutschen Reiches
werden dürfte, hält die Erörterung der Frage wach, wie für die
Folge die Ausgabe von Anleihen des Reiches und Preußens zu
behandeln und am besten der Markt dieser Anleihen zu schützen
wäre. Bei dieser Betrachtung sollen die Anleihen der andern Bundesstaaten nicht
berücksichtigt werden, da diese Staaten in der Regel unabhängig von den Ma߬
nahmen des Reiches und Preußens ihre Anleihen ausgeben, während die beiden
letzten fast immer gemeinsam den Kapitalmarkt in Anspruch zu nehmen pflegen.
Bei der Tatsache, daß die Kurse der Anleihen keine der Änderung des
Geldmarkts entsprechende Gestaltung erfahren haben — sie waren bei der
stärksten Anspannung des Marktes verhältnismäßig höher als zur Zeit der gegen¬
wärtigen Geldfülle —, erscheint es zunächst notwendig, festzustellen, wie sich die
Kurse der einzelnen Anleihen im Verhältnis zum Reichsbankdiskont und zu
der allgemeinen Lage des Geldmarkts entwickelt haben. So war zum Bei¬
spiel der Kurs der Z^prozentigen, 1907 fälligen Schatzanweisungen am
10. Oktober 1905 100.20 Prozent; der Neichsbankdiskont war damals
5 Prozent, der Privatdiskont 3'^ Prozent, und die Reichsbank war mit einem
Betrage von 268 Millionen Mark Noten in der Steuerpflicht. Zu demselben
Zeitpunkt notierten die
Am 10. Oktober 1906 notierten bei einem offiziellen Diskontsatz von 6 Prozent,
einem Privatsatz von 4^ Prozent und einer steuerpflichtigen Notenausgabe
der Rcichsbank von 398 Millionen Mark die
Am 10. Oktober 1907 waren bei einem Bankdiskontsatz von 5^ Prozent,
einem Privatsatz von 4»/^ Prozent und einer steuerpflichtigen Notenausgabe
der Neichsbank von 395327000 Mark folgende Kurse zu verzeichnen:
und selbst am 31. Dezember 1907 waren bei einem Neichsbankdiskont von
71/2 Prozent, einem Privatsatz von 6^ Prozent und einer steuerpflichtigen
Notenausgabe von 626 Millionen Mark die Kurse der genannten Papiere
98,75 Prozent, 93,60 Prozent, 82^ Prozent; seitdem haben wir eine überaus
günstige Entwicklung der Geldverhältnisse gehabt; trotzdem stehn gegenwärtig
bei einem Reichsbankdiskont von 4 Prozent, einem Privatsatz von 2^ Prozent
und bei einer steuerfreien Notenreserve der Neichsbank von etwa 180 Millionen
Mark (Ausweis vom 31. August)
nur die 3prozentigen Anleihen notieren etwas höher als am Schlüsse des
Vorjahres, nämlich 84 Prozent.
Daraus geht hervor, daß sich die Kursentwicklung unsrer Anleihen den
Sätzen des Geldmarkts nicht anpaßt. Am auffülligsten zeigt sich dies bei den
vierprozentigen Schatzscheinen mit fünfjähriger Laufzeit; denn während noch
im vorigen Jahre bei einem Reichsbankdiskont von 5^ Prozent 300 Millionen
Mark Schatzscheine sehr bedeutend überzeichnet wurden, ist jetzt bei einem
offiziellen Zinssatz von 4 Prozent und einem Privatdiskont von etwa 3 Prozent
die Aufnahmefähigkeit für die vier- und fünfjährigen Schatzscheine sehr viel
geringer. Der Kurs hält sich auf 99,60 Prozent, während am 12. Juni 1907
bei einem Neichsbankdiskont von 5^ Prozent und einem Privatsatz von
41/2 Prozent ein Höchstkurs von 100,70 Prozent zu verzeichnen war.
Seit dem Tiefstande der Kurse im Anfang dieses Jahres hat sich im
allgemeinen eine wesentliche Besserung des Anlagemarkts vollzogen. Deutsch¬
land hat durch seine Aufnahmefähigkeit für Staats-, Kommunal- und sonstige
Anleihen eine Kapitalkraft gezeigt, die in solcher Stärke nach der außergewöhn¬
lichen Geldkrisis des vorigen Jahres von niemand vorausgesehen werden konnte.
Seit dem 1. Januar 1908 wurden an der Berliner Börse eingeführt:
die zum allergrößten Teile von deutschen Kapitalisten gekauft wurden; denn
das Ausland beteiligte sich in Erwägung der zeitweiligen politischen Unsicher¬
heit und aus Furcht vor einer ungünstigen Gestaltung der deutschen Finanzen
mit Käufer nur in ganz geringem Maße. Konnte doch jeder ans fran¬
zösischen und englischen Zeitungen sehen, mit welchem Pessimismus man unsre
Finanzverhältnisse betrachtete. Bei der Unkenntnis, die im Auslande über
deutsche Angelegenheiten verbreitet ist, herrschte in London und Paris in weiten
Kreisen das Gefühl vor, als wenn nicht nur der deutsche Handel und die
deutsche Industrie, sondern auch das Reich und die Bundesstaaten vor unüber¬
windlichen Schwierigkeiten stünden.
Hieraus ergibt sich unbedingt die Folgerung: Es ist für die Dauer un¬
möglich, mit den Auleihemissivnen des Reiches und Preußens in gleicher
Weise wie in den letzten Jahren vorzugehn, wenn nicht unser Anleihekredit
aufs äußerste gefährdet und das Kapital auf lange Zeit vom Kauf deutscher
und preußischer Anleihen abgeschreckt werden soll. Aufgabe der Finanz¬
reform wird es darum auch sein, durch eine gesunde Ausgleichung des Budgets
fortlaufende Emissionen von Anleihen zur Deckung von Defizits zu ver¬
hindern.
Für die verschiednen Reichs- und Staatsverwaltungen wird es ja bei den
großen Ansprüchen, die an sie gestellt waren, außerordentlich schwer sein, sich
genügend Beschränkungen aufzuerlegen. Auch steht es fest, daß es keine besser
fundierten und konsolidierten Anleihen gibt als die des preußischen Staates
und des Reichs. Aber die Ansprüche beider (Preußen hat zum Beispiel die
großen Bedürfnisse der Eisenbahnen, die in andern Ländern, wie in England
und Frankreich, von den Eisenbahnen selbst getragen werden, als eigner Unter¬
nehmer zu leisten) müssen nach und nach befriedigt werden. Es ist notwendig,
sich der Aufnahmefähigkeit der Märkte und des Kapitals anzupassen. Haben
das Reich und der Staat dringende Geldbedürfnisse, so müssen diese meiner
Ansicht nach entsprechend den Gepflogenheiten Englands und Frankreichs durch
Ausgabe kurzfälliger Schatzwechsel gedeckt werden. Diese kurzfälligen Schatz¬
wechsel, die je nach den Dispositionen der Finanzverwaltungen 3, 6, 9 und
12 Monate laufen, können von den Banken als Wechsel in ihr Portefeuille
genommen und sehr wohl nach Bedarf bei Fälligkeit verlängert werden. Frankreich
hat eine schwebende Schuld von mehr als 1 Milliarde Franken aus Vorschüssen
und Bons alli Tresor; England hat zurzeit etwa 14^ Millionen Pfund Sterling
(rund 290 Millionen Mary ^rsg-sur^ bills im Umlauf — Anfang 1905 waren
es jedoch 28633000 Pfund Sterling — rund 572 Millionen Mark —, die
von den Banken der betreffenden Länder gern genommen werden. In England
werden diese Bills im Wege des „Tender" ausgegeben, das heißt, es werden
Kurs- beziehungsweise Zinsgebote auf die auszugebenden Beträge eingefordert.
In Deutschland konnte man es wohl mit einem ähnlichen Vorgehn versuchen,
obgleich ich nicht verkenne, daß wir in Dentschland nicht einen derartig großen
offnen Geldmarkt haben wie in London und in Paris, wo außer den Banken
mit einer großen Anzahl reicher Privatbankiers und andrer Privatfirmen zu
rechnen ist, die sich an dem „Tender" beteiligen. Meines Wissens sind in
Preußen augenblicklich gar keine solchen in Form von Wechseln (also ohne
Coupons) aufgestellten Schatzanweisungen im Umlauf. Das Reich, das vorüber¬
gehend einmal bis zu 350 Millionen Mark bei der Reichsbank und vielleicht
auch noch an andern Stellen begeben hatte, hat gegenwärtig die Neichsbank
mit etwa rund 102 Millionen Mark solcher Schatzanweisnngen in Anspruch
genommen. Mir erscheint es weit richtiger, derartige kurzfällige Schatzwcchsel
in erhöhtem Maße auszugeben, als den Markt mit Anleihen oder mit ver¬
zinslichen Schatzanweisungen von drei-, vier- und fünfjähriger Laufzeit zu über¬
schwemmen.
Es mag ja für die Leiter der Fincmzverwaltungen nicht sehr angenehm
sein, sich mit Schatzwechseln zu behelfen. Ich sehe aber gar keinen andern
Ausweg, wenn nicht die Schädigung des Anleihemarkts in Permanenz erklärt
werden soll. Preußen verfügt zurzeit über sehr bedeutende Mittel, die es offenbar
durch Rückzahlung der am 1. Oktober fülligen Schatzscheine nicht schwächen
will. Diese Politik ist vielleicht auch darauf zurückzuführen, daß für das nächste
Jahr mit Sicherheit für Eisenbahnen und zur Bestreitung sonstiger Zwecke mit
der Ausgabe eines großen Anleihebetrags zu rechnen ist. Trotzdem Hütte man
besser getan, zur Deckung der am 1. Oktober fälligen ^/yprozentigen mit
Coupons versehenen Schatzscheine kurzfristige Schatzwechsel auszugeben, anstatt
durch das Angebot des Umtausches in neue 4prozentige Schatzanweisungen mit
dreijähriger Lauffrist, die sich mit 4,20 Prozent verzinsen, einen neuen Druck
auf den Markt der Anleihen und besonders der verzinslichen Schatzanweisnngen
auszuüben. Denn bei einem Privatdiskont von 2°^ Prozent ist eine Verzinsung
von 41/5 Prozent für die dreijährigen Schatzanweisungen eine für Preußens
finanzielle Stellung überaus ungünstige Erscheinung, insbesondre anch wegen
ihrer nachteiligen Rückwirkung auf den Zinsfuß für ländliche und städtische
Hypothekenbeleihungen.
Die großen Banken und Bankfirmen Deutschlands können leichter Schatz¬
wechsel mit einer Umlauffrist von 6, 9 und 12 Monaten übernehmen, die ihre
Liquidität nicht beeinträchtigen, als sich dauernd mit Anleihen und mehrjährigen
Schatzanweisnngen belasten, deren Verküuflichkeit und Absatzfähigkeit in ernsten
Zeiten des Geldmarkts, wie wir gesehn haben, überaus begrenzt war. Ich
kann keinen Grund dafür einsehen, warum nicht durch die Etatsgesetze des
Reiches und Preußens die Beträge von Schatzwechseln, die die Finanzbehördeu
zur Deckung vorübergehender Bedürfnisse ausgeben dürfen, wesentlich erhöht
werden.
Neben der Schonung des Marktes unsrer Anleihen durch nicht zu häufige
und zu große Emissionen scheint mir der zweite Hauptfaktor für die bessere
Kursgestaltung darin zu liegen, daß der Börsenmarkt der Anleihen dauernd
nnter Kontrolle gehalten wird.
In England werden unabhängig von der Ausgabe neuer Anleihen fort¬
gesetzt Käufe von Konsols für den sinkir^ trina (Tilgungsfonds) getätigt; in
Frankreich wird der Markt der französischen Renten durch Ankäufe der Spar¬
kassen, die gesetzlich verpflichtet sind, ihre Gelder in französischer Rente anzu¬
legen, dauernd gestützt. In Deutschland und Preußen haben wir außer der
Preußischen Staatsbank (Seehandlung) keine Stelle, die bei Angebot im Markt
mit ihrer Intervention eingreift, wobei noch zu erwähnen ist, daß auch die
Seehandlung nur verhältnismäßig geringe Summen aufzunehmen vermag, um
sich nicht mit ihren Mitteln festzulegen.
Um die im Interesse des Marktes überaus notwendige Möglichkeit zu
wirkungsvollen Interventionen im gegebnen Moment zu schaffen, scheint mir
der einfachste Weg der zu sein, daß die Schuldentilgung nicht wie bisher durch
Kompensationen erfolgt, sondern durch wirkliche Ankäufe an der Börse vor sich
geht. Nach den gesetzlichen Bestimmungen hat Preußen jährlich mindestens
vom Hundert der jeweiligen Staatsschulden zu tilgen. Das Reich hat zur
Zeit vorhandner Überschüsse in den Jahren 1896 bis 1900 rund 143 Millionen
Mark getilgt. Nun betragen unter Zurechnung der in diesem Jahre begehren
Anleihen die Schulden Preußens rund 8"/^ Milliarden Mark, die des Reiches
rund 4^ Milliarden Mark; ^/^ Prozent Tilgung bedeuten also für Preußen
50 Millionen Mark, für das Reich 25 Millionen Mark, mithin könnten, wenn
die Schuldentilgung durch Ankauf im Markte erfolgt, jährlich insgesamt etwa
75 Millionen Mark aufgenommen werden. Geschehn die Ankäufe im richtigen
Augenblick, so würde man voraussichtlich durch sie dann schon ein Herunter¬
gehn der Kurse verhindern können.
Noch mehr wäre es wünschenswert, daß man durch die Durchführung
der Reichsfinanzreform in die Lage käme, die Tilgung auf mindestens 1 Prozent
zu erhöhen; dann würden zur Aufnahme und zur Tilgung von Anleihen durch
Rückkäufe im Markte etwa 90 Millionen Mark im Reiche und Preußen zur
Verfügung stehn. Gleichviel, ob entsprechende Auftrüge an urteilsfähige Privat¬
banken oder Privatbankiers gegeben werden, oder ob die Reichsbank und die
Seehandlung, denen man zu diesem Zweck ein beratendes Komitee aus Leitern
von Banken und aus den Kreisen von Privatbankiers zur Seite stellen könnte,
die Ankäufe direkt vornehmen, in jedem Falle würde dies dem Markte unsrer
Anleihen eine so kräftige Stütze gewähren, daß sich bald eine langsam steigende
Kursentwicklung einstellen würde. Unter allen Umständen aber würden scharfe
Kursrückgänge ohne jedweden äußern Anlaß, wie wir solche in den letzten
Jahren häufig und zumeist als eine Folge des sichrer- und käuferlosen Marktes
zu beobachten Gelegenheit hatten, mit Leichtigkeit vermieden werden können.
In England ist der Markt für Konsols so umfangreich, daß in der Regel
An- und Verkäufe von mehreren 100000 Pfund Sterling ohne nennenswerten
Einfluß auf den Kurs bleiben. In Paris werden mit einer Kursspannung
von nur 5 bis 10 Centimes Millionen von französischen Renten gehandelt.
In Berlin hat oft das Angebot von wenigen 100000 Mark genügt, um den
Kurs um Prozent und mehr zu werfen. Hat man aber, wie oben aus¬
geführt ist, jährlich zusammen 90 Millionen Mark von Anleihen des Reiches
und Preußens nach und nach zu kaufen, so würde man sicherlich ohne Schwierig¬
keiten den Markt befestigen können.
Je beständiger dann die Kurse bleiben, um so leichter wird man nachher
neue Anleihen ausgeben können; denn nichts hat die Kapitalisten und das
sparende Publikum mehr zurückgeschreckt, ihre Mittel in unsern Anleihen an¬
zulegen, als die Angst vor dem stetigen Rückgang der Kurse infolge der fort¬
gesetzten Schaffung neuer Emissionen.
Tritt eine Besserung der bisherigen Zustünde nicht ein, so ist zu be¬
fürchten, daß Inland und Ausland unsern erstklassiger Staatsanleihen gegen¬
über dauernd Zurückhaltung zeigen werden. Die Unbeliebtheit unsrer Anleihen,
die durch die Unbeständigkeit und durch den Rückgang ihrer Kurse hervorgerufen
wird, kann, von ganz außergewöhnlichen Verhältnissen abgesehen, nur verhindert
werden durch eine stetige Überwachung des Marktes und durch das Eingreifen
der kontrollierenden Stelle im richtigen Augenblick.
Für die Gesundung unsers Anleihemarktes ist es von der größten Wichtig¬
keit, daß bei der bevorstehenden Neichsfinanzreform ein Überschuß für Tilgungs¬
zwecke gefunden wird. Irgendwie nennenswerte Verluste infolge dieser, wir
wollen den Ausdruck gebrauchen: Amortisationsaufnahmen werden für das
Reich und Preußen nicht entstehn, im Gegenteil wird dadurch, daß die Be¬
gehung neuer Anleihen auf besserer Grundlage vor sich gehn kann, ein nicht zu
unterschätzender Mehrerlös und Ausgleich erreicht werden.
Ich möchte wiederholen: vermehrte und erhöhte Anwendung von Schatz¬
wechseln in der Fiucmzgebarung des Reiches und Preußens, keine neuen
Anleihen zur Deckung unproduktiver Ausgaben, planmäßige, durch das Budget
festgelegte Tilgung durch Ankäufe am Markte durch eine die Kursentwicklung
ständig überwachende Stelle halte ich für die Erfordernisse, die geeignet sind,
den Markt unsrer Anleihen zu beleben und deren Kursstand auf eine Höhe zu
bringen, die der politischen und finanziellen Machtstellung und der volkswirt¬
schaftlichen Kraft des Deutschen Reiches und Preußens entspricht.
binden soll
Damaskusin 1. September ist die Eisenbahn von Damaskus bis Medina
feierlich eingeweiht worden. Die Weiterführung bis Mekka ist
eine Frage der allernächsten Zukunft. Es handelt sich nur um
das Wann, nicht um das Ob. Das Zustandekommen der Strecke,
die die beiden dem Islam so heiligen Stätten miteinander ver-
— übrigens nur 450 Kilometer —, ist unbedingt gesichert. Von
bis Mudewwere, 572 Kilometer, ist der Betrieb schon im Früh¬
jahr 1906 eröffnet worden. Die 120 Kilometer lange Fortsetzung bis zur Oase
Tebuk wurde Ende 1906 dem Betrieb übergeben; am 1. September 1907
weitere 288 Kilometer bis El Ulci. Jetzt ist die 320 Kilometer lange Fort¬
setzung bis Medina in Betrieb gesetzt worden. Es wird keine anderthalb Jahre
mehr dauern, bis die fremden Pilger in Damaskus die Hedschasbahn besteigen
und sie nach 1750 Kilometer langer Fahrt in Mekka wieder verlassen können.
Diese 1750 Kilometer sind nahezu das Doppelte der Strecke Berlin-Basel;
diese mißt nur 887 Kilometer.
Obwohl beinahe die Hälfte der Hedschasbahn schon seit Ende 1906 in
Betrieb ist, sprechen wir heute von der Eröffnung der Bahn Damaskus-Medina.
Denn die Verbindung von Syrien zu Lande nach dem dnrch Muhammed dem
Islam für ewig geheiligten Städten Medina und Mekka ist der Lebensfaden
der Gesamtunternehmung. Von allen andern Eisenbcchnbauteu der Welt unter¬
scheidet sich diese dadurch, daß sie aus religiösen Gaben ohne Berücksichtigung
der wirtschaftlichen Rentabilität zustande gekommen ist. Die Hedschasbahn ist
die größte Leistung des Islam seit mehr als einem Jahrhundert; sie ist ein
Werk, auf das auch höherstehende Kulturvölker stolz sein würden. Wohl kann
es sich an Länge nicht messen mit den amerikanischen Pazifikeisenbahnen — diese
sind sämtlich in der Hoffnung auf einen bedeutenden Geldgewinn gebaut — noch
mit der südsibirischen Eisenbahn — hier kamen zu den für sich wohl unzu¬
länglichen wirtschaftlichen Interessen politisch-strategische hinzu, sodaß die Gro߬
macht Rußland ihren Kredit anstrengte, um die Gelder zu beschaffen. Die
genannten Bahnen hatten weite, mehr oder weniger fruchtbare Länder aufzu¬
schließen. Bei der Hedschasbahn fällt dieser Beweggrund so gut wie vollständig
weg. Von Fruchtbarkeit kann in der ganzen 1750 Kilometer langen Strecke
nur nahe südlich von Damaskus, bei dem vulkanischen Haurangebirge die Rede
sein. Der Hauran aber hatte schon eine Eisenbahnverbindung nach Halfa, auf
der er sein Getreide an die See bringen kann. Von allem, was weiter jenseits
liegt, ist ein auf Ergiebigkeit des Landes beruhender Verkehr von irgend
nennenswertem Umfange schlechterdings nicht zu erwarten. Die Erleichterung
der Pilgerfahrt sollte dem Riesenwerke die Daseinsberechtigung schaffen. Den
Blick nach Süden gewandt, standen die Gläubigen da und schufen durch
fromme Gaben die Eisenbahn.
Für uns Deutsche hat der Bahnbau ein »och höheres Interesse als für
andre Völker, weil neben dem türkischen Marschall Kiasnn Pascha ein Lands¬
mann von uns, Meißner Pascha, die Bahn gebaut hat, dieser als Oberingenieur.
Einem andern Deutschen, Anker Pascha, türkischem Divisionsgeneral und
preußischem Oberst a. D., verdanken wir eine ausgezeichnete Beschreibung des
ganzen Bahnbaus, seiner technischen, wirtschaftlichen, religiösen und finanziellen
Voraussetzungen. Der erste Teil reicht bis August 1906 und ist als Ergänzungs¬
heft Nummer 154 der Petermannschcn Mitteilungen, August 1906, erschienen.
Den zweiten Teil, abgeschlossen Dezember 1907, bringt das Ergnnzungsheft
Nummer 161 derselben Zeitschrift, erschienen am 25. Mai 1908. Der Gedanke,
die Eisenbahnverbindung zu schaffen, ging von Jsset Pascha aus, einem in
Damaskus gebornen Manne, der die Leiden und Entbehrungen der von
Damaskus zu Lande uach Mekka wallfahrenden Pilger, 5000 bis 6000 an der
Zahl, kannte. Die Kosten einer solchen Wandrung waren so hoch, daß sie vielen
Anhängern des Propheten die vorgeschriebne Reise unmöglich machten. Ans
Jsset Paschas Anregung griff der Sultan Abdul Hamid den Plan auf, durch
Anrufung der Opferwilligkeit des ganzen Islam das Kapital für den Bahn bau
zu gewinnen. Am 1. Mai 1900 erschien das Jrade des Sultans zum Beginn
des Bahnbaus, und sofort wurde mit den Vorbereitungen begonnen. Einige
wenige Staatseinnahmen wurden dem Baufonds überwiesen, im übrigen füllte
sich dieser allein durch freiwillige Spenden der ganzen mohammedanischen Welt.
Jährlich kamen etwa 7^ Millionen Mark zusammen. Bis zum August 1907
hatte man 58 Millionen Mark gesammelt. Nach Veznhlnng aller Ausgaben
hatte man an diesen: Termin noch 12 Millionen Mark verfügbar. Die Samm¬
lungen blieben ferner ertragreich, da man sah, daß wirklich etwas für das
Geld geschaffen wurde. Auch machte es große» Eindruck, daß sich keine der
vielen in Uuterschleifen geübten Hände an diesen heiligen Fonds wagte.
Die Schwierigkeiten des Bahnbaus waren aus viele» Gründe» außer¬
ordentlich groß. Reißende Ströme und Sümpfe waren allerdings nicht zu über¬
winden, woWabcr Schluchten z» überbrücken, Flngsandstrecken zu umgehn und
Abgründe hinunterzusteigcn. Alles und jedes Bahnbaumaterial, liegendes wie
rollendes, mußte vom Auslande herbeigeschafft werden; dazu auch die Stein¬
kohlen. Glücklicherweise hatte mau die Eisenbahn von der Hafenstadt Beirut
nach Damaskus schou zur Verfügung. Je weiter man nach Süden vordrang,
desto schwieriger war die Beschaffung des Wassers zur Speisung der Lokomotiven,
zur Tränkung der Menschen und Tiere. Auf weite Strecken hin mußte die
Eisenbahn selber für jeden Tropfen Wasser sorgen. Auch Nahrungsmittel waren
kaum zu haben. Dafür, daß ab und zu die Beduinen mit Hammelherben kamen,
mußte man in den Kauf nehmen, daß diese Wüstensohne in der Nähe der
Baustrecke lauerten, ob sich nicht einzelne Personen von ihren Abteilungen
entfernten; geschah dieses, so waren der tödliche Schuß und die nachfolgende
Ausplünderung sicher. Die Ausführung des Bahnbaus geschah hauptsächlich
durch türkische Eisenbahntruppen, was die Kosten verringerte. Die Mannschaften
wohnten dabei in Zeltlagern, die mit dem Fortschritt des Bahnbaus vor¬
geschoben wurden. Im Legen der Schwellen und Schienen hatten die Truppen
allmählich eine solche Fertigkeit, daß sie, nachdem die allerdings weit größern
Schwierigkeiten der Bettung überwunden waren, täglich zwei bis drei Kilometer
legen konnten. Wenn die Lokomotive hier und da eine der wenigen bewohnten
Gegenden erreichte, konnte man erkennen, wie sehr damit die Ehrfurcht vor dem
Sultan wuchs, der so etwas fertig gebracht hatte. Staunen und Bewunderung
machten sich auf urwüchsige Weise Luft.
Ins Jordantal konnte der Bahnban nicht hinabsteigen; es Hütte zum
Toten Meer geführt, das 396 Meter unter dem Meeresspiegel liegt. Man hätte
schon gleich wieder hinaufsteigen müssen; die nahe östlich vom Toten Meer
gelegne Station Katrana liegt schon 783 Meter über dem Meere. Das wäre
ein Aufstieg von 1277 Metern auf eine Strecke von 52 Kilometern Länge
gewesen. Von der Gegend weiter südlich geben die Anlerschen Bemerkungen
zu den einzelnen Stationen ein ergreifendes Bild. Natürlich hat man immer
noch die versprechendsten Punkte gewählt. Bei zwei Stationen, die 40 Kilo¬
meter voneinander entfernt liegen, heißt es: „Kein Wasser". Diese trostlosen
Worte kennzeichnen manche Station. An andern gibt es Zisternen, die aber
noch lauge nicht alle Jahre durch einen der seltnen Regengüsse gefüllt werden.
Bei Batn-u-Ghul (Bauch des Ungeheuers) heißt es: „Steiler Abstieg an
einer schroffen Berglehne. Prachtvolle Aussicht auf wild zerrissene Scinostein-
gcbirge mit auffallend schönen Farbeneffekten. Kein Wasser, anch seit vier
Jahren kein Regen,"
In alten Zeiten muß das Klima hier nicht so heiß und trocken, die
Gegend nicht so trostlos gewesen sein. Man stößt nicht selten auf Ruinen
größerer Städte, die jetzt völlig unbewohnt sind und keinen Ersatz gefunden
haben. Bei Maar bleibt die Bahn nur zwanzig Kilometer östlich von der
alten Nabatüerhauptstadt Petra, deren aus dem Felsen herausgehauene
Tempel und Paläste noch heute stehn. Terrainschwierigkeiten erlaubten der
Bahn uicht den kleinen Umweg, doch wird sie den Besuch dieser merkwürdigen
Stätte sehr erleichtern.
Nach diesen kurzen Mitteilungen wird man leicht ermessen, welche Leistung
unter solchen Umständen ein Bahnbau von 1750 Kilometern Länge ist. Der
Betrieb ist finanziell später gänzlich auf die Einnahmen aus der Beförderung
der Pilger angewiesen. Deren Zahl dürfte dann allerdings wesentlich größer
werden als bisher. In frühern Zeiten war Damaskus immer einer der Haupt¬
sammelpunkte des Nordens für Mekkakarawanen. Aus Kleinasien, Armenien,
aus dem nördlichen Persien und Turkestan kamen die Frommen hier zusammen.
Nach ihren langen Wcmdruugen machte auf sie die durch den Antilibanonsluß
Barada gebildete Oase von Damaskus einen bezaubernden Eindruck. Der
blühende arabische Stil nennt sie die Perle des Orients, die paradiesesduftende,
das Gefieder der Paradiesespfauen usw. Jetzt hat die Dampfschiffahrt der
Landwandruug viel Abbruch getan. Von allen Häfen Kleinasiens aus gehn
Dampfer nach Dschidda am Roten Meer, der Hafenstadt Mekkas, von wo es
nur noch 75 Kilometer bis zu dieser vielverehrten Stätte ist. Auch aus Syrien
gingen viele Pilger zu Schiff nach Dschidda. Selbst aus Damaskus reisten sie
mit der Bahn nach Beirut und von dort zu Schiff nach Dschidda. Da England
Herr der See ist, so stand es immer in seinem Belieben, die Pilgerfahrt zu
Schiff im Fall eines Konflikts mit dem Sultan zu verhindern. Jetzt wird allen
Anhängern des Propheten, die ans Europa, Kleinasien usw. zu seinem Grabe
wallfahrten wollen, der Eisenbahnweg offen stehn. Das ist für die Türkei sehr
wichtig, auch namentlich für das Ansetzn des Sultans von Stambul, der das
ermöglicht hat.
Ja man kann nicht bloß von Damaskus aus den Schienenweg benutzen.
Schon viel weiter nordwärts beginnt er. Die Zeit ist nicht mehr fern, wo man
ununterbrochene Eisenbahnverbindung von Konstantinopel, vielmehr von dem
gegenüberliegenden Haidar Pascha nach Mekka haben wird. Der größte Teil
ist schon fertig, ein weiterer Teil ist in Angriff genommen. Die von der Deutschen
Bank unternommne Anatolische Eisenbahn ist sowohl für die Bagdadbahn wie
für die Hedschasbcihn die Einleitung.
Fertig und längst im Betrieb ist die Hauptstrecke der Anatolischen Eisen¬
bahn von Haidar Pascha am Bosporus bis nach dem berühmten Taurns-
paß, den alle Völker gewandelt sind, die von Syrien und Mesopotamien nach
Kleinasien wollten oder umgekehrt. Von da über Adana, Aintab, Biredschik
(wo der Euphrat überbrückt wird) nach Mardin am Südrande des Taurus ist
der Bau kürzlich zwischen der Anatolischen Eisenbahn und der türkischen Re¬
gierung vereinbart worden; er ist im Gange. Die Weiterführung von Aintab
nach Osten ist ein Stück der Bagdadbahn. Nach Süden soll die Verbindung
zwischen Aintab und Aleppo hergestellt werden, eine Strecke von etwa hundert
Kilometern in der Luftlinie. Von Aleppo nach Damaskus ist die Eisenbahn
schon im Betriebe. Sie steigt von Norden zwischen Libanon und Antilibcinon
in die einst so blühende, dichtbewohnte, noch immer fruchtbare kölesyrische
Ebene, auf die der weiße Schneedom des Hermon herabschaut. Hier kommt
die sich schon seit längerer Zeit im Betrieb befindende Bahn Beirut—Damaskus
von Westen über den Libanon. Bei Najak mündet die soeben erwähnte Bahn
von Aleppo ein. Dann geht es ostwärts über den Antilibanon, an dessen
östlichem Fuße Damaskus liegt. In Damaskus beginnt die schon ihres reli¬
giösen Ursprungs wegen von allen andern Bahnen getrennte Hedschasbahn.
In ununterbrochner Fahrt trägt sie den Pilger schon jetzt nach Medina
(1300 Kilometer). Im Frühjahr 1910 dürfte Mekka erreicht werden, vielleicht
noch früher. Denn man hat sich jetzt endgiltig für die westliche der beiden
möglichen Routen entschieden, die bei Rabigh das Rote Meer berührt. Nach
Nabigh können alle Eisenbahnbaumaterialien zu Schiff gebracht werden. Von
hier aus soll zugleich nach beiden Seiten gebaut werden: nordwärts nach
Medina. südwärts nach Mekka. Da die Entfernung nur etwa 450 Kilometer
betrügt, so ist nach den bisherigen Erfahrungen der Ban in anderthalb Jahren
bequem zu vollenden.
Anker Pascha nimmt an, daß die Reise von Konstantinopel nach Mekka
in vier und einem halben Tage zurückzulegen sein wird. Er rechnet wie folgt:
Von dieser Riesenstrecke sind schon rund 2600 Kilometer fertig; der Nest
ist teils im Bau, teils beschlossene Sache. Über die nur 100 Kilometer lange
Strecke Aintab-Aleppo fehlt die Entscheidung. Doch bleibt nicht der geringste
Zweifel an ihrer baldigen Vollendung, da sie meist in fruchtbares Land fällt.
Einst stand diese Gegend in außerordentlicher Blüte: wir meinen die Zeit,
als das nahe Antiochien eine der reichsten und üppigsten Städte der Welt
war. Sodann fehlt noch das Endstück Medina-Mekka.
Auf Kleinasien hat die Anatolische Eisenbahn den denkbar wohltätigsten
Einfluß ausgeübt. Das Land wird aus seinem tausendjährigen Schlummer
erweckt. Der Arm des Staates wird wieder fühlbar, auch gegen räuberische
Paschas und bestechliche Kadis. Bürger und Bauer wagen wieder über ihren
unmittelbaren Bedarf hinaus zu produzieren, ohne zu fürchten, daß der
Steuerpüchter ihnen alles abpreßt, was nicht zur unmittelbarsten Erhaltung
des Lebens gehört. Die Seidenzucht kommt immer mehr empor. Die Aus¬
fuhr an Getreide, Vieh. Wolle, Fellen ist im Wachsen. Gleiche Erfolge kann
man nicht ohne weiteres von allen Teilen der Bahnverbindung nach Mekka
erwarten. Der Hauran (südlich von Damaskus) hat, wie wir erwähnt haben,
schon seit 1905 eine Eisenbahnverbindung nach Halfa. In diesem Berglande
wird eine Ernte gemacht, deren Wert man auf 68 Millionen Mark schätzt,
wovon allein 49 Millionen Mark auf Getreide kommen. Von da ab süd¬
wärts passiert die Hedschasbahn das Ostjordanland, das einst in hoher Kultur
stand. Der Aulersche Bericht stellt hier und da anbaufähigen Boden fest;
anderwärts aber wieder Wasserversorgung durch Zisternen. Große Hoffnungen
werden darauf also nicht zu setzen sein. Was südlich vom Toten Meere
liegt, ist, wie wir schon weiter oben an Stichproben dargelegt haben, bis auf
vereinzelte Oasen Wüste. Anker gibt in seiner zweiten Arbeit von einzelnen
solchen Oasen Abbildungen nach Photographien. Die Palmenwälder, die dort
in tiefen Terrainfalten Bodenfeuchtigkeit finden, sehen verführerisch ans. Leider
sind ihrer so wenige, daß sie nicht viel verschlage». Wenn wir sagen: der
Nest ist Wüste, so wird der kundige Leser nicht an bloßen Flugsand denken.
Völlige Vegctationslosigkeit ist nur strichweise vorhanden. Es fehlt nicht an
harten, zähen, entbehrungsfähigen Pflanzen, auch selbst nicht an grünen
Flächen. Die Tierwelt ist nicht ganz erstorben. Dem Menschen bietet solche
Gegend aber nur dann das Existenzminimum, wenn er Halt an Oasen, wenn
auch nur an Zistcrnenwcisscr hat.
Was aber außerordentlich schwer ins Gewicht fällt, das ist, daß die
Hedschasbahn in Verbindung mit den andern genannten Schienenwegen dem
Sultan endlich die Gelegenheit schafft, seine Autorität in Mekka zu kräftigen
und rasch durchzugreifen, wenn man sie bestreiten sollte. Wenn er in einer
Woche eine ausreichende Truppenmacht hinwerfen kann, unterbleiben auf¬
rührerische Bewegungen schon von selbst. Zwischen Arabern und Türken ist
trotz des gemeinsamen Bandes des Islam ein alter Gegensatz. Die Araber
fühlen sich als Landsleute des Propheten gleichsam als eine alte Aristokratie.
Die Türken sind die Eroberer. Sie sind sicher viel mehr dem europäischen
Einfluß ausgesetzt gewesen; sie tragen Hosen nach europäischer Art. Die Ein¬
wohner Jnnerarabiens haben sich der türkischen Herrschaft gänzlich entzogen.
Sie haben eine eigne Sekte gebildet, Wechabiten oder Wahabiten. An der
Südspitze Arabiens, im „glücklichen Arabien", Jemen, unzweifelhaft dem Salm
der Zeitgenossen Salomos, haben die Türken ihre Herrschaft eingebüßt. Die
Bewohner dieses fruchtbaren Landstriches stehn seit vielen Jahren in einem
gewissen Kriege mit türkischen Truppen, wobei diese jedoch keine Fortschritte
machen. Die Araber erfreuen sich der Sympathien der Engländer, deren
Besitztum Aden nahe daran grenzt. Den ganzen Süd- und Ostrand Arabiens
haben die Engländer schon inne. Als vor einigen Jahren der Sultan, um
einen Endpunkt für die Bagdadbahn am Persischen Golf zu gewinnen, die
beanspruchte Autorität über den Scheich von Kueit einziehen wollte, hielt
England seine Hand über diesen; er sei durch einen Vertrag in ein Schutz¬
verhältnis zu ihm getreten. Ägypten war einst ein in anerkannten Tribut¬
verhältnis zu der Türkei stehendes Land. Jetzt hat der Sultan dort nichts
mehr zu sagen.
Könnte er nicht derartiges auch von Mekka befürchten? Allerdings, er
ist der Kauf. Aber behält er das Ansehen eines Kalifen, wenn die Priester¬
schaft von Mekka diese seine Würde bestreitet? Sollte sie von den heiligen
Stätten aus mit Erfolg bestritten werden, so würde es im ganzen Islam
heißen: Allah hat dem Sultan vom Bosporus die Herrschaft über die
Gläubigen entzogen. Und dann würde seine Autorität überall aufs tiefste
erschüttert sein. In der letzten Zeit ist allerdings die Macht des obersten
Priesters von Mekka, des Grvßscherifs, stark zurückgegangen, aber eben weil
sich die türkische Macht befestigen konnte. Es liegen immer türkische Truppen
hier, denen sich auch die Priester fügen müssen. Der türkische Pascha ist die
oberste Gewalt. Für immer verbürgt ist das natürlich nicht. In den Jahr¬
hunderten der osmanischen Herrschaft hat man wiederholt um Mekka kämpfen
müssen. Im Jahre 1803 gelang es den Wahabiten, die heilige Stadt zu er¬
obern. Der Sultan mußte die Ägypter zu Hilfe rufen, nun aber blieben
diese bis 1841 in Mekka. Erst seitdem ist die Verwaltung des türkischen
Paschas unbestritten geblieben. Mit dem Rückgang der osmanischen Macht
in Europa könnten anch in Arabien neue Gefahren entstehn.
Zudem hat England seine Beziehungen zur Türkei vollständig verschoben.
Vom Ausgang der napoleonischen Kriege bis etwa 1890 war es anerkanntes
Evangelium, daß England den Sultan unterstützen müsse, damit nicht der
Bosporus und die Dardanellen in die Hände Rußlands kämen, das die ganze
Levante in Besitz nehmen zu wollen schien. Noch 1878 war Beaconsfield
auf dein Berliner Kongreß nahe daran, es wegen des von Jgnatiew abge¬
schlossene» Prälimiuarfriedeus von S. Stefano zum Kriege mit Rußland
kommen zu lassen. Seitdem hat die Londoner Politik die Türkei ganz fallen
lassen. Sie steht ihr offenbar übelwollend gegenüber. Wer weiß, ob nicht
Kombinationen denkbar sind, die England veranlassen, eine nach Unabhängig¬
keit ringende Priesterschaft von Mekka gerade so wohlwollend zu behandeln
wie die Araber von Jemen. Um so wichtiger wurde deshalb die Erbauung
der Mekkabcchu für den Sultan. Er mußte sie befördern, um sein Ansehen
als Kauf in der ganzen mohammedanischen Welt zu heben; er mußte die
Reise der Karawane von Damaskus uach Mekka erleichtern; er mußte sich
die Möglichkeit schaffen, auf dem für die englischen Schiffe unerreichbaren
Landwege Truppen auszusenden, um sich den Besitz der heiligen Stätten zu
sichern.
Es ist Tatsache, daß die englischen Blätter den Bau der Hedschasbahn
immer unfreundlich beurteilt haben. Wirtschaftlich ist die Unternehmung sicher
sehr angreifbar. Rentieren wird sie sich kaum, wenn man auch das ganze
Anlagekapital als tora xsräu abschreibt. Die bankerotte Türkei Hütte, so
sagen englische Blätter, das viele Geld lieber für nützlichere Zwecke ausgeben
sollen, an denen leider kein Mangel sei. Für die dem Bahnban zugrunde liegende
religiöse Regung äußern sie keine Empfindung. Die innere Kräftigung der
Türkei ist ihnen gleichgiltig, wenn nicht unerwünscht.
Über die Ursachen der Schwenkung Englands in seinen Beziehungen zur
Türkei ist viel geschrieben worden. Aufgeklärt scheint uns die Sache noch
keineswegs zu sein. Die Wandlung begann schon längst vor 1890. Ihr
erstes markantes Anzeichen war das Wort Gladstones von dem „unaussprech¬
lichen Türken". Gladstone war in der Opposition. Als Führer der Re¬
gierungspartei schloß Beacoussield noch 1878 den Vertrag ab, durch den die
Türkei die Insel Cypern an England verpachtete, wofür dieses die Ver¬
pflichtung übernahm, das osmanische Reich unversehrt zu erhalten. Cypern
hat niemals eine strategische Bedeutung erlangt. Schon beim Abschluß des
Vertrags sagte man, es sei kaum einzusehen, wie diese Insel dazu beitragen
könne, Nußland vom Bosporus oder vom Suezkanal fernzuhalten. Eine Be¬
festigung von nennenswerter Bedeutung hat England nicht ausgeführt. Der
bedeutsamste Umstand, der seitdem eingetreten ist, ist die Entstehung der eng¬
lischen Herrschaft in Ägypten und am Suezkanal, die 1904 durch den soge¬
nannten Marokkovertrag auch von Frankreich anerkannt worden ist. Man
sagt wohl: Seitdem England selbst Eigentümer des Snezkanals geworden ist,
braucht es die Türkei nicht mehr als Prellbock zur Abwehr russischer Er¬
oberungsgelüste. Wir werden sogleich darauf zurückkommen.
Wichtiger ist unstreitig, daß auch Nußland seine Beziehung zur Türkei
umgestaltet hat. Viele Jahre hatte es die Auflösung des osmanischen Reiches
in kleine christliche Staaten, die notwendigerweise Schutz bei der großen Macht
des Nordens suchen mußten, begünstigt. In den Jahren 1876 bis 1878
hatte es einen blutigen Krieg deshalb geführt. Es betrachtete sich wohl
als den Erben. Darüber scheint nun die Selbstündigmachung Bulgariens
durch Stambulow in ausgesprochnen Gegensatz gegen Rußland eine voll¬
ständige Änderung hervorgerufen zu haben. Alexander der Dritte wandte sich
indigniert von den Bulgaren ab. Ihm eröffnete sich mittlerweile eine viel
lockendere Aussicht. Das chinesische Reich schien rettungslosen Verfall über¬
antwortet zu sein. Konnte Rußland zu Lande dorthin kommen, so waren
schwerlich die englischen Schiffe in der Lage, eine großartige Ausbreitung des
russischen Handels, des russischen Einflusses zu hindern. Der Zar befahl den
Bau der südsibirischeu Eisenbahn. Wenn erst russische Regimenter mit der
Lokomotive bis jenseits des Amur befördert werden konnten, so war ein
Widerstand der Mandarinen im Tsung-ki-Iamen von Peking gegen russische
Wünsche kaum noch zu befürchten. Das war aber ein Ziel, dessen Erreichung
den Engländern im höchsten Grade unerwünscht sein mußte. Ihr wichtiger
chinesischer Handel stand auf dem Spiel. Damals fürchtete man auch noch
die Entwicklung der russischen Seemacht um Stillen Ozean. Wladiwostok
war schon stark befestigt, doch stand es unter dem großen Nachteil, daß es
ungefähr ein halbes Jahr durch Eis gesperrt war. Nun erschien Rußland
am Golf von Petschili. Es erbaute sich einen Handelshafen in Dalny und
einen starken Kriegshafen in Port Arthur. Je mehr das hervortrat, desto
mehr wurde die englische Politik von diesen Dingen beherrscht. Australien
und Westkanada wurden beunruhigt durch die Aussicht, daß eines Tages
russische Kreuzer vor ihren Häfen erscheinen und sie, sofern sie befestigt wären,
bombardieren könnten. Namentlich Australien verlangte von England einen
bessern Schutz durch eine beständig in jenen Gewässern zu stationierende
Flottenabteilung. Darauf ging England selbst unter Chamberlain und Balfour
nicht ein. Vielmehr bemühte es sich, Rußlands Aufmerksamkeit von dein
fernen Osten abzuziehen und wieder auf die europäische und asiatische Türkei
zu lenken. Es unterstützte die griechischen Forderungen, die Unabhängigkeits¬
bewegung in Kreta. Die Armenier versuchten, auf revolutionärem Wege ge¬
wisse Reformen durchzusetzen. Früher hatte sich England immer bemüht, die
Russen aus solchen Dingen fernzuhalten; jetzt gab es ihnen unter den Fuß,
sich einzumischen, um den Greueltaten der Kurden und der Baschibozuks gegen
die Armenier zu steuern. Aber nun wollte Rußland nicht; es wollte sich in
der Verfolgung seiner ostasiatischen Pläne nicht stören lassen. Rechte Hand,
linke Hand — alles vertauscht.
Wiederum vollzog sich ein vollständiger Umschwung der Dinge. Japan
war, ohne daß Europa diesen Umstand genügend gewürdigt hätte, zu einer
bedeutenden Militär- und Flottenmacht geworden. Es wollte sich die Entwicklung
der russischen Macht am Stillen Ozean, eine Vormundschaft über China nicht
gefallen lassen. Es griff zum Schwert und errang einen staunenswerten Sieg.
Rußland mußte auf jene ostasiatischen Pläne vollkommen verzichten. Es wurde
so schwer getroffen, daß es auf eine gewisse Zeit Zusammenstöße mit andern
Großmächten vermeiden mußte. Das war der Augenblick, wo England die
Sicherung seiner ägyptischen Erwerbung durchführen konnte.
Mit aller Schärfe trat nun der Mangel an Rücksicht gegen den alten
Schützling, die Türkei, hervor. Der Versuch auf Knall wurde durchkreuzt.
Ebenso der türkische Versuch, die Position von Akaba an der Sinaihalbinsel
zu verbessern. Die ewig unruhigen Mazedonier fanden an England einen
Fürsprecher für ihre Reformfordcruugen in Konstantinopel.
Man hätte denken sollen, mit der russischen Niederlage im fernen Osten
sei für England der Augenblick gekommen, um in seine frühere Schutzstellung
am Bosporus wieder einzurücken. Mußte es nicht erwarten, daß Rußland
seine Aufmerksamkeit, seine etwaigen expansiven Tendenzen dem vordem Orient
wieder zuwenden werde, sobald es sich kräftig genug dafür fühle? Konnte ihm
nicht der Gedanke kommen, daß die ehemals so lockenden Aussichten auf Bc-
crbung des kranken Mannes abermals verführerische Wirkungen haben möchten,
gewissermaßen als Ersatz für die Verlornen Chancen in Ostasien? Unzweifel¬
haft hat Rußland nichts getan, was einen derartigen Verdacht rechtfertigen
könnte. Doch war es früher nicht gerade englische Gewohnheit, bei Rußland
Zurückhaltung und guten Willen vorauszusetzen. Auch in dieser Beziehung
hat sich die englische Politik geändert. Schon das frühere konservative
Ministerium hat versucht, die Sorge um die britischen Interessen in Indien
dadurch loszuwerden, daß es mit den Russen ein bindendes Abkommen über
alle Differenzen träfe. Ein solcher Schritt lag ganz ans der Linie des Marokko¬
abkommens. Die jetzige liberale Negierung übernahm die auswärtige Politik
ihrer Vorgängerin und brachte das Abkommen mit Nußland vom Herbst 1907
zum Abschluß. Dieses stellt die Abhängigkeit Tibets nur von chinesischer Ober¬
hoheit fest und schließt russische Erwerbungsbestrebungen aus. Afghanistan
erkennt es als einen ausschließlich in die englische Interessensphäre fallenden
Tributürstacit an. Für Persien setzt es die Unabhängigkeit und Integrität
fest; zugleich überantwortet es den Norden, d. h. weitaus den fruchtbarsten
und bestbevölkerten Teil den Russen als Interessensphäre, den ganz überwiegend
dürren Südosten den Engländern; die Mitte, die wenigstens im Westen frucht-
bares Berggelände hat, bleibt unverteilt. Im britischen Oberhause hat dieses
Abkommen von berufnen Urteilern wie dem frühern auswärtigen Minister Lord
Lcmsdowne und dem frühern Vizctonig von Indien, Lord Curzon, die schärfste
Kritik erfahren. Ans ihren Reden geht hervor, daß ^ das alte Mißtrauen gegen
die meist so gefürchteten Nachbarn im Norden Indiens noch keineswegs ge¬
schwunden ist. Sie werfen Sir Edward Grey und seinen Kollegen vor, viel
zu viel an englischen Interessen weggeworfen und sich mit russischen Ver¬
pflichtungen begnügt zu haben, deren Wert man daraus ermessen könne, daß
sie schon ein Dutzend mal übernommen seien.
Uns kommt es weniger auf die Sache an sich an als auf die Rückwirkung
des Vertrags auf die Stellungnahme Englands zum Islam. Obgleich, wie
man sieht, das Mißtrauen gegen zukünftige russische Pinne noch keineswegs
erloschen ist, so ist doch England nicht zu seiner frühern türkenfreundlichen
Politik zurückgekehrt. Es hat sich vielmehr zum Führer der Mächte gemacht,
die den Klagen der Mazedonier über die Türken Gehör geschenkt haben. Daß
im Vaterlande Alexanders des Großen unheilvolle Zustände eingerissen waren,
ist sicher. Die Kämpfe der Nationalitüten und der Religionen hatten einen
furchtbaren Grad angenommen, sie blieben aber keineswegs auf den Gegensatz
zwischen Türken und Christen beschränkt. Vielmehr bekämpften sich Bulgaren,
Griechen, Serben, Albanesen untereinander mit Bombenwürfen, Brandstiftung,
Raub und Plünderung. Das türkische Militär konnte nicht genügend Ordnung
stiften, auch wurde es durch den gänzlichen Mangel an regelmäßiger Besoldung
und Verpflegung zu manchen beklagenswerten Bedrückungen und Ausschreitungen
veranlaßt. Im englischen Publikum hatten die christlichen Komitees der Maze¬
donier einen bedeutenden Einfluß, und vou hier aus wurde ein Druck auf
das liberal-radikale, kirchlich den Nonkonformismen nahestehende Ministerium
sowie auf den König ausgeübt. Das Ergebnis dieser zusammenlaufenden
Wirkungen spricht sich am schärfsten in der Zusammenkunft des Königs mit
dem Zaren in Neval aus. Hier wurde dem Programm für Reformen in
Mazedonien die Sanktion erteilt, einem Programm, das der Pforte nicht au¬
genehm sein konnte. Man kann vielleicht, obwohl das noch nicht unbedingt
sicher ist, darin den ersten Schritt der Nücklenknng Rußlands in seine frühere
Orientpolitik erkennen. England steht jedoch zu seiner eignen frühern in aus¬
drücklichen Widerspruch. Es ist uoch keineswegs aufgeklärt, wodurch es ver¬
anlaßt worden ist, heute wieder die Bahnen Rußlands zu wandeln und gar
Rußland zu drängen.
Die beiden an der Revaler Zusammenkunft beteiligten Mächte versuchten
gleich nachher, auch Österreich-Ungarn dafür zu gewinnen. Es scheint nicht,
daß sie damit Erfolg gehabt haben, denn die Interessen des Donaureiches
weisen nicht dahin. Ehe jedoch die Entscheidung fiel, trat die jungtürkische
Revolution ein und drängte die vom Auslande kommenden Reformvorschläge
ganz in den Hintergrund. Die türkische Armee trat gegen den Sultan auf
und verlangte eine Umgestaltung der Staatsverwaltung, eine Verfassung mit
Volksvertretung, gleiche Rechte für Moslimeu, Christen und Juden. Der
Sultan ging auf alles ein, und seitdem ist man eifrig beschäftigt, das schwere
Werk durchzuführen. Kein ruhiger Beurteiler kann verkennen, wie viel noch
zu seiner Erledigung notwendig ist. Geld ist spärlich vorhanden. Ohne Geld
kein Ende der Unterschlagungen und Erpressungen, weil ohne Geld die aus¬
kömmliche Besoldung nicht erwirkt werden kann. Ein Parlament mit gleichen
Rechten für alle Völker und Religionen ist eine schöne Sache, aber man braucht
nur auf Österreich-Ungarn zu blicken, wenn man sehen will, welche Schwierig¬
keiten auch wieder darin liegen. Dort sollen Moslimen mit Anhängern der
griechischen Kirche und solchen des bulgarischen Exarchats zusammenwirken,
ferner Türken, Syrer, Araber und Albanesen mit Bulgaren, Serben, Griechen,
Armeniern. Damit stehen der Türkei Zeiten in Aussicht, die ihr noch schwer
genug werden können.
Wenn also das osmanische Reich die in ihm vereinigten Provinzen zu
größerer Wohlfahrt bringen soll, so hat es ans Geduld und Schonung vom
Auslande Anspruch, besonders seitdem es selber so freimütig auf Reformen
eingegangen ist. Bisher ist nicht erkennbar geworden, daß England darauf eine
mehr als vorübergehende Rücksicht nehmen werde. Aufschub hat es freilich als
notwendig anerkannt. Seine eignen Reformpläne hat es vorläufig zurückgezogen,
jedoch unter der ausdrücklichen Bedingung, wieder daraus zurückzukommen.
Inzwischen pocht die fortrollende Zeit vernehmlich an die Tore auch des
englischen Moslimentums. Dieses ist sehr bedeutend. Man kann rechnen: in
Ägypten 3 Millionen, in Cypern, Oman, Aden, Zeita, Sansibar 2 Millionen,
in Indien 63 Millionen, zusammen 68 Millionen, ungerechnet das eigentliche
Ostafrikn, Westafrika, Borneo und andre in der Kultur rückständige Gebiete.
Demgegenüber hat der Sultan nur knapp 2V Millionen moslimische Untertanen.
Längst vor der jungtürkischen Revolution hat sich Indien mit dem Verlangen
gemeldet, auch eine Verfassung und Volksvertretung zu haben. Die Bewegung
begann schon vor dem ostasiatischen Kriege, empfing aber durch den Sieg der
Japaner einen mächtigen Anstoß. Es machte ein gewaltiges Aufsehen, daß
ein asiatisches Volk die Großmacht besiegt hatte, vor der die Engländer den
Jndiern immer Furcht gepredigt hatten. Japan hatte russische Heere besiegt,
neben denen die europäischen Besatzungstruppen in Indien winzig genug er¬
schienen. Dabei belief sich Japans Volkszahl noch nicht auf den sechsten Teil
der Indiens. Die allerdings sehr kleine Zahl der geistig genügend entwickelten
Jndier, die auf Grund europäischer Universitätsstudien die Weltlage beurteilen
können, lieferte viele Elemente, die eine freie Presse, Vereine und dergleichen
gründeten und sich mit dem Rufe: „Indien für die Inder" an die Spitze
stellten. Sie wollten ein unabhängiges Land; ferner Ministerien und alle
höhern Ämter im Zivil- wie im Kriegsdienst nur mit Indern besetzt sehen.
Das Parlament sollte über Einnahmen und Ausgaben entscheiden. Es bedarf
keines Nachweises, daß England hierauf nicht eingehn konnte; mit seiner
Herrschaft wäre es vorbeigewesen.
Gelegentlich nahm die Bewegung schon einen aufrührerischen Charakter
ein. Aus Anlaß der Teilung der Provinz Bengalen in eine überwiegend
moslimische Osthälfte und eine überwiegend brahmanische Westhülfte brachte
die Erbitterung der Hindus hie und da zum Ausbruch. Die Presse wurde
ganz rabiat, es erfolgten Bombenattentate und ähnliche Terrorismen. Zugleich
zeigten sich die Erscheinungen in Bengalen und im Pendschab. Noch gelang
es den Engländern, mit leichter Mühe die einzelnen Ausbrüche niederzuhalten.
Die Führer wurden verhaftet, die aufrührerischen Zeitungen unterdrückt. In
den letzten Monaten ist mehr Ruhe eingetreten, doch gehn die Europäer in
Kalkutta und besonders im Innern nie mehr ohne Revolver über die Straße.
Die mohammedanischen Jndier beteiligen sich bis jetzt nicht an diesen
Dingen. Ihr Gegensatz gegen die Hindus ist stark. Da sie nur 63 Millionen
zählen, die Hindus 207 Millionen, suchen sie als Minderheit Halt an den
Engländern. Sie gewähren aber auch den Engländern Stütze. Diese werden
so leicht nicht wieder wie 1857 die beiden großen Religionsgemeinschaften
zugleich herausfordern. Dennoch haben die Moslimen viel zu klagen. Schon
seit Jahren fehlt es nicht an Ausdrücken der Unzufriedenheit darüber, daß
England jetzt den Sultan so sehr vernachlässige, anstatt ihm wie früher Stütze
zu gewähren. Auf der Versammlung des mohammedanischen Nationalvereins
machte ein Redner die wegwerfende Bemerkung, der Sultan habe den indischen
Gläubigen nichts mehr zu sagen. Darauf verließ die ganze Gesellschaft
demonstrativ den Saal. Auch die mohammedanischen Jndier verlangten schon
vor der jnngtürtischen Revolution eine Volksvertretung für Indien. Es ist
nicht anzunehmen, daß sie darin nachlassen, wenn sie sehen, wie in der bisher
absolutistischen Türkei der Wunsch, den sie an das konstitutionelle England
richten, erfüllt wird. So groß auch die Verdienste der Engländer um Indien
sind, so liegen die Forderungen doch zu sehr im Geiste der Zeit, als daß sie
übersehen werden könnten.
Laut verlangen schon die Ägypter ihr Parlament. Am Nil hat sich das
englische Regiment, so großartig auch seine Wohltaten sind, noch lange nicht
so sehr eingewöhnt und befestigt wie in Indien. Man vergißt nicht, daß man
bis vor kurzem nur von der wenig fühlbaren Oberhoheit der Türkei abhängig
gewesen ist, und daß man im vorigen Jahrhundert ägyptische Waffen bis an
den Taurus getragen hat. Mit den Mahdistcn hat gerade die ägyptische Aristo¬
kratie lebhaft sympathisiert. Die Gesinnungen, die Arabi Pascha 1881 und 1882
mit den Engländern in Konflikt brachten, sind nicht ausgestorben, trotz Lord
Crvmers segensreichem Regiment. Arabi brachte schon 1881 die Berufung einer
Notabclnkammer zustande; er war das Haupt der Nationalpartei und entrollte
als Kriegsminister gar die Fahne mit der Inschrift: „Ägypten für die Ägypter".
Es kam zum offnen Kampfe mit den Engländern, wobei allerdings Arabi ge¬
schlagen und gefangen genommen wurde.
Jetzt verlangt man ans legalem Wege von den mittlerweile zu anerkannten
Herren gewordnen Engländern den Erlaß einer Verfassung. Ägypten sei der
bestentwickclte Teil des frühern türkischen Reiches. Nationale und religiöse
Unterschiede gebe es dort nicht. Wie könne England den Ägyptern verweigern,
was es selber den Mazedoniern habe erstreiten wollen, und was diesen der
Großherr so edelmütig bewilligt habe? Die Stellung Englands dazu ist noch
nicht deutlich erkennbar. Radikale Stimmen in London erklären freilich schon,
daß das Verlangen nicht abzuweisen sei.
Ägypten ist von Jahr zu Jahr von größerer Wichtigkeit für England
geworden. Der Suezkanal ist die Hochstraße für den Verkehr zwischen dem
Mutterlande einerseits und Indien, Ostasien, Australien, Ostafrika andrerseits.
Wenn hier eine Störung einträte, so würde Englands Weltstellung beunruhigt
sein, so würde wenigstens eine Revolution in Indien ungleich bessere Aussichten
haben, als wenn England fortwährend auf dem kürzesten Wege Kriegsschiffe
und Truppen nach Bombay und Kalkutta senden könnte. Man hat oft dar¬
gelegt, daß der Schlüssel für die veränderte Haltung Englands zur Türkei
darin liege, daß es jetzt Ägypten und den Suezkanal sein eigen nenne. Es
brauche nun die Türkei nicht mehr. Das ist schwer einzusehen. Den Fall eines
indischen Aufruhrs erwähnten wir schon. Eben so wichtig ist der eines Krieges
mit Rußland, der für die nächste Zukunft ausgeschlossen ist, fernerhin jedoch
sehr möglich ist. Wenn sich England einem etwaigen Untergänge der Türkei
gegenüber völlig gleichgiltig verhält, so sagt es damit, daß es sich mit dem
Eindringen der Russen in Kleinasien und Syrien recht wohl abfinden könnte.
Bedenkt mau aber, wie leicht es einem in Syrien stehenden russischen Heere
wäre, bis zum Suezkanal und Ägypten vorzudringen, ohne daß England ihm
eine genügende Macht entgegensetzen könnte, so will jener Gedanke nicht ein¬
leuchtend scheinen. Die Entwicklung des Eisenbahnnetzes in der asiatischen
Türkei kann ein solches Vordringen der Russen sehr erleichtern. Man begreift
wohl, daß England, wenn es eine antitürkische Politik betreibt, eine starke Ab¬
neigung gegen die Entwicklung der Eisenbahnen in Kleinasien und Syrien hat.
Aber daß es seine Interessen im Orient und in Indien für gesichert halten kann
ohne die Zwischenstufe der Macht einer soliden türkischen Herrschaft, das ist
nicht einleuchtend.
Ein Konflikt mit Rußland und ein Aufstand in Indien können sehr leicht
zusammenfallen, nicht nur zeitlich, sondern auch ursachlich. Ist es dann den
Gegnern möglich, die Verbindung durch den Suezkanal abzuschneiden, so sinken
Englands Chancen merklich. Ein solches Unternehmen kann von Nußland aus¬
gehn, aber auch von empörten Ägyptern, die auf solche Weise ihren kämpfenden
Glaubensgenossen in Indien zu Hilfe kommen wollen.
Das Gedeihen der Türkei ist von vielen und teilweise recht heikeln Um¬
stünden abhängig. Dazu gehört auf der einen Seite der Gang der juugtürkischen
Revolution, oder richtiger muß man jetzt sagen: der jungtürkischen Neform-
tütigkeit. Die äußere Macht hat die Reformpartei errungen, nun muß sie auch
zeigen, wie weit ihre politische Schaffenskraft geht, und ob die Umstände sie
begünstigen. Auf der andern Seite gehört die Ausbildung des Eisenbahnwesens
dazu, sowohl in der europäischen wie in der asiatischen Türkei. Die Wirksamkeit
des erleichterten Verkehrs von Konstantinopel bis Angora, bis Koula und But<
gurlu ist überraschend gewesen; ebenso die der Bahnen in Syrien und Palästina.
Jetzt kommt die Hcdschasbahn hinzu. Mag aus den geschilderten Gründen ihre
wirtschaftliche Bedeutung gering sein, ihre politische und moralische Wirkung
dürfte sehr groß sein.
Noch bleibt viel zu tun übrig. Masche muß noch an Masche geheftet
werden, ehe das Eisenbahnnetz dicht genug ist, das ganze heutiger Kultur zu¬
gängliche Gebiet aufzuschließen. Mag die Entwaldung auch, wie in allen Mittel¬
meerländern, in der asiatischen Türkei unsäglichen Schaden angerichtet und einst
fruchtbares Gelände für immer seiner Ackerkrume beraubt haben, es ist immer
noch viel jetzt brachliegendes Kulturland da. Von allen Seeründern her müssen
kleinere Eisenbahnen ins Land vorgestoßen werden. Das Küstenland des
Schwarzen Meeres hat solche noch gar nicht. Dann muß die Angorabcchn bis
Erzerum weitergeführt werden. Diarbekir muß eine Bahn haben. Siwas muß
über Kaisarie mit Bulgnrlu an der Taurusscharte verbunden werden. Vor
allem muß die Bagdadbahn weitergeführt werden bis zu dem noch immer an
Fruchtbarkeit überquellenden Bagdad, in das zu kanalisierende chaldüische Tief¬
land, bis an den Persischen Meerbusen. Gesichert ist die Bagdadbahn erst bis
Mardin zwischen Euphrat und Tigris. Alle diese Länder können aus toten¬
ähnlichem Schlaf erweckt werden.
Durch die Hcdschasbahn hat das türkische Volk wieder Selbstvertrauen
erlangt. Möge ihm dieses zum Segen gereichen!
le enorme Bedeutung der Presse ist in den Grenzboten schon
Ende 1905 eingehend gewürdigt worden.") Die Erkenntnis
dieser Bedeutung ist jedoch nicht in allen Kulturstaaten in
gleichem Maße durchgedrungen, und selbst bei uns in Deutsch¬
land muß die Presse bis auf den heutigen Tag einen heftigen
Kampf führen um die noch aus alter Zeit herrührenden Hindernisse, die ihrem
Wirken entgegenstehn, aus dem Wege zu räumen. Von größter Bedeutung
für die Entwicklung der Presse war es, daß es gelang, im Jahre 1894 eine
internationale Vereinigung zustande zu bringen. Durch elf internationale
Kongresse, die in den Jahren 1894 bis 1907 in Antwerpen, Bordeaux,
Budapest, Stockholm, Lissabon, Rom, Paris, Bern, Wien, Lüttich und
Bordeaux abgehalten wurden, gelang es der Presse allmählich, eine gerechte
Würdigung ihrer Bedeutung durchzusetzen. Der Erfolg war äußerlich er¬
kennbar an dem wohlwollenden, ja glänzenden Empfang, der den Delegierten
in all diesen Städten durch die Kaufmannschaft und besonders auch durch die
Behörden zuteil wurde.
Der zwölfte internationale Pressekongreß, der am 21. September in
Berlin zusammentritt, bedeutet gegen die vorhergehenden in mehrfacher Be¬
ziehung eiuen ganz bedeutenden Fortschritt. Zum erstenmal seit Bestehen des
internationalen Pressevcrbcmdes ist eine Einigung der Presse aller politischen
Richtungen zu verzeichnen, die ihren Ausdruck dadurch gefunden hat, daß die
Chefredakteure und Verleger aller Berliner Blätter dem Ehrenausschuß bei¬
getreten sind. Auch die Staatsregierung hat ihr Interesse dadurch bekundet,
daß das gesamte Ministerium, an der Spitze Fürst von Bülow, dem Ehren¬
ausschuß angehört. Der Reichskanzler wird als ganz besondre Ehrung den
Kongreßmitgliedern im Garten des Reichskanzlerpalais ein Fest geben. Handel
und Industrie haben sich ebenfalls in den Dienst der Sache gestellt.
Dazu kommt, daß die Regierung ihren Willen, die Wünsche und unauf¬
schiebbaren Bedürfnisse der Presse voll zu erfüllen, soeben unzweideutig zum
Ausdruck gebracht hat. Der Paragraph 49 des am 1. September veröffent¬
lichten Entwurfs einer Strafprozeßordnung gewährt der Presse die in den
Resolutionen der beiden letzten Kongresse erstrebte gesetzliche Anerkennung des
Berufsgeheimnisses.
Das journalistische Berufsgeheimnis —- Punkt II der Tages¬
ordnung —, dessen Bedeutung über den engern Nahmen der reinen Berufs¬
interessen der Journalisten weit hinausgeht, sichert den Verhandlungen des
zwölften Kongresses das Interesse der Allgemeinheit. Es ist in der Tages¬
und juristischen Fachpresse zur Genüge darauf hingewiesen worden, das; es
für die Presse ohne die absolute Wahrung des Nedaktiousgcheimnisses un¬
möglich ist, ihre Aufgaben in vollem Umfange zu lösen. Deshalb stand
unter den Berufsgenossen seit langem als oberster Grundsatz fest: Das
Berufsgeheimnis der Redaktion ist unverletzlich. Wer diesen Grundsatz ver¬
letzt, verletzt nicht nur die Ehre des Journalisten, er schädigt auch die Lebens-
bedingungen der Presse (zehnter Kongreß, Lüttich 1905). Das Gesetz erkennt
jedoch bis heute das Nedattionsgeheimnis nicht an, sodaß die Presse durch
die häufige und scharfe Anwendung des Zeugniszwangs schwer zu leiden
hatte. Eine Wendung zum Bessern war eingetreten, als der Reichskanzler
in einem Schreiben vom 9. Dezember 1907 die Bundesregierungen ersuchte,
die Anwendung des Zeugniszwanges einzuschränken, um weitere Mißgriffe
zu vermeiden, und zugleich wirksame gesetzliche Abhilfe bei Gelegenheit der
Strafprozeßreform in Aussicht stellte. Jetzt bringt der Paragraph 49 der
Strafprozeßordnung die Erfüllung der Wünsche, denn es ist nicht zu erwarten,
daß dieser Paragraph im Reichstag eine Abschwächung erfahren wird. Der
Entwurf gibt den Redakteuren, Verlegern und Druckern einer periodischen
Druckschrift sowie dem technischen Hilfspersonal das Recht, die Auskunft über
die Person des Verfassers oder Einsenders eines darin enthaltnen Artikels
strafbaren Inhalts zu verweigern. Das Recht der Zengnisverweigerung wird
jedoch an eine doppelte Voraussetzung geknüpft. Erstens darf kein Hindernis
bestehn, die Bestrafung eines Redakteurs wegen des Inhalts des Artikels auf
Grund des Paragraphen 20 des Preßgesetzcs herbeizuführen, und ferner darf
der Inhalt des Artikels nicht den Tatbestand eines Verbrechens begründen.
Die übrigen Punkte der Tagesordnung betreffen vornehmlich Fragen des
engern Berufsinteresses. So sind z. B. auch die Journalisten der modernen
Bewegung, die allenthalben die Errichtung von Standcsgerichten erstrebt,
nicht fern geblieben; der Kongreß wird sich mit der Ausgestaltung dieser Ge¬
richte befassen. Ferner wird der Kongreß die Herabsetzung der Tele¬
graphen- und Posttarife für die Presse erörtern. Er wird von neuem die
Forderung aufstellen, daß sich die gesetzgebenden Körperschaften der einzelnen
Länder über alles, was die Übersetzungsrechte und die Verfolgung im
Auslande betrifft, ins Einvernehmen setzen, um so die in den Ländern
geforderten Formalitäten zu vereinfachen, und wird ferner fordern, daß der
Mißbrauch des fliegenden Gerichtsstandes beseitigt wird. Dieser Gerichts¬
stand gestattet die Verfolgung von Pressevergehen vor jedem Gerichtshofe, in
dessen Bereich der inkriminierte Artikel gelangt ist, ein Zustand, der zu uner-
träglichen Verhältnissen führen mußte. Es ist ein durchaus billiges Verlangen,
daß der Gerichtsstand für Pressevcrgehen durch den Ort bestimmt wird, an
dem eine Druckschrift herausgegeben wird. Solange ein derartiger Gerichts¬
stand durch eine internationale Übereinkunft noch nicht gesichert ist, soll der
Angeklagte wenigstens das Recht haben, sich durch einen Bevollmächtigten ver¬
treten zu lassen.
Von allgemeinem Interesse ist schließlich noch das große soziale Werk,
das die Presse durchzusetzen hofft: eine internationale Alters- und Jn-
validitätsversicherung der Journalisten. Zunächst sollen in allen Staaten
nationale Vcrsicherungsinstitute errichtet werden etwa nach dem Beispiele der
seit 1893 in Deutschland bestehenden „Pensionsanstalt deutscher Journalisten
und Schriftsteller"; später sollen diese zu einem internationalen Institut ver¬
einigt werden.
Die Ausführbarkeit dieses großartigen Gedankens ist nur möglich, wenn
zuvor eine internationale Regelung der Hauptgrundsätze des Versicheruugsrechts
erfolgt. Fast scheint es vermessen oder doch voreilig, schon jetzt auf diesem
Gebiete eine internationale Rechtseinheit zu erstreben, während Deutschland
noch damit beschäftigt ist, für den Privatvcrsichcrnngsvertrag die rechten
Normen zu finden, und andre Länder noch viel weiter in der Rechtseutwicklung
zurückgeblieben sind.
Doch es ist nicht voreilig. Die Presse tut recht daran, mit Energie das
Ziel im Auge zu behalten; die große soziale Institution drängt nach Voll¬
endung und ist zu modern, als daß sie sich nicht schließlich doch durchsetzen
könnte. Haben wir doch auch ein Analogon auf dem Gebiete des Handels¬
rechts. Kaum ist das deutsche Scheckgesctz in Kraft getreten, da sind auch
schon die berufnen Vertreter von Handel und Industrie damit beschäftigt, ein
internationales Schankrecht vorzubereiten.
Kein früherer Kongreß hatte ein ähnlich reiches Arbeitsprogramm zu er¬
ledigen wie der diesjährige, und auch der äußere Verlauf des zwölften Kon¬
gresses wird ein überaus würdiger, glänzender sein dank der hervorragenden
organisatorischen Begabung und dem unermüdlichen Eifer des Vorsitzenden des
Arbeitsausschusses, des Chefredakteurs Schweitzer. Zunächst ist der Arbeits¬
raum im Gegensatz zu frühern Kongressen durchaus würdig: sämtliche Räume
des Reichstagsgebäudes stehn dem Kongreß zur Verfügung. Daselbst findet
am 21. September abends Empfang statt und am 22. die Eröffnung des
Kongresses mit anschließender Arbeitssitzung. Am Nachmittag gibt der Reichs¬
kanzler das erwähnte Gartenfest, worauf am Abend die Stadt Berlin zu Ehren
der Gäste im Rathause ein Bankett veranstaltet. Am nächsten Tage findet
eine Automobilfahrt durch Berlin statt, und zwar nicht, wie üblich, nur durch
die Hauptverkehrs- und Prunkstraßen, sondern auch durch die Geschäfts- und
Arbeiterviertel, im Norden bis Pankow, Humboldthain, Friedrichshain, im
Süden bis zum Kreuzberg. Darauf Festoper: „Sardanapal". Am 24. gibt
die Presse den Gästen ein Festmahl; am folgenden Tage, an dem keine Arbeits-
Sitzung stattfindet, fahren die Teilnehmer des Kongresses im Automobil die
Döberitzer Heerstraße entlang nach Potsdam, wo sie von der Stadt zum
Frühstück geladen sind. Am Sonnabend den 26. September findet, nachdem
mittags ein Frühstück im Zoologischen Garten eingenommen worden ist, am
Nachmittag eine Festsitzung in der Handelshochschule statt, darauf in den Sälen
der Börse ein von den Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin veraustaltetes
Bankett. Am Sonntag, den 27., führt ein Sonderzng die Gäste nach Frank¬
furt a. M. und Wiesbaden, wo ihnen durch die Presse und die städtischen Be¬
hörden ein festlicher Empfang bereitet werden wird.
Es ist ein recht glücklicher Gedanke der Festleitnng, daß diese Sonderfahrt
auf einige Stunden unterbrochen werden soll, um den Ausländern unsre Dichter¬
werkstatt Weimar zu zeigen. Die dortigen Behörden haben sich bereitwilligst
in den Dienst der Sache gestellt, sodaß der Weimarer Aufenthalt mit die
interessantesten, anregendsten Stunden bringen dürfte.
So ist durch eine überaus geschickte Festleitung dafür gesorgt worden,
daß der Kongreß in jeder Beziehung bis hinab zu den kleinsten Einzelheiten
der Ausstattung vornehm und würdig verlaufen wird. Wir wünschen, daß
auch die Arbeitssitzungen ein recht fruchtbares Resultat haben und die Journa¬
listen ihren hohen Zielen ein gut Stück näher bringen möchten.
or mir liegen zwei Aufsätze, die sich beide mit dem heutigen
Strafvollzug beschäftigen und ihn beide verurteilen. Die Gründe,
auf die sie ihr Urteil stützen, weichen aber sehr voneinander ab.
Der eine hält dem Strafvollzug vor, er bediene sich viel zu
milder und schwächlicher Mittel, er führe den ernsten Kampf
gegen das Verbrechen wie eine harmlose Manöverübnng, und statt dem Rechts¬
brecher, wie er es verdiene, ein Übel zuzufügen, umgebe er ihn mit Wohl¬
taten. Und der andre Ankläger hält dem Strafvollzug vor, er arbeite mit
viel zu harten und grausamen Mitteln, er hebe den gefallnen Menschen
nicht, wie es seine Pflicht sei, barmherzig wieder auf, sondern richte ihn mit
roher Gewalt vollends zugrunde.
Wenn die Ausgänge der beiden Beurteiler auch verschieden sind, so
haben sie dennoch etwas gemeinsam: sie wenden sich beide gegen die erziehliche
Richtung im Strafvollzug. Dem einen, der noch mit beiden Füßen auf
altkriminalistischem Boden steht, schwebt bei dem Worte „Erziehung" sogleich
das Bild einer höhern Lehranstalt vor Augen, er denkt auch wohl an allerlei
amerikanische Einrichtungen, wie die Anstaltszeitung, Gefangnenvereiniguugen,
an Sport und Vergnügungen, und er warnt energisch davor, die Strafe mit
andern, an und für sich gewiß nützlichen, hier aber unangebrachter Nebensachen
zu verderben.
Der andre Beurteiler würde dagegen alles, was das Gefcmgncnleben
freundlicher, leichter, hoffnungsvoller gestaltete, aufs freudigste begrüßen. Man
muß ihm auch zugestehn, daß es ihm nicht lediglich um Erleichterungen der
Strafe zu tun ist, sondern darum, daß die Strafe zu wirklich erzieherischen
Wirkungen gebracht wird. Ihm ist es aber viel zu wenig, was geschieht,
und das wenige, was er etwa anerkennen muß, scheint ihm wieder durch den
niederdrückenden Zwang der Gefangnenbehcmdluug illusorisch gemacht zu werden.
Er schwärmt für eine auf jeden Zwang verzichtende Erziehungsmethode, und
vor allem empört er sich gegen die über den Gefangnen verhängte Absperrung,
die er zugleich verabscheuungswürdig und unsinnig nennt.
So verschieden spiegelt sich im Auge dieselbe Welt! Wäre die Sache
nur von einem Standpunkt aus zu betrachten, so könnte mau wohl, wenn
sich das menschliche Gefühl nicht doch schließlich störend einmischte, den Straf¬
vollzug zu einem fortdauernden Übel gestalten, oder man könnte auch dem
andern Ratgeber folgen und nach der Dichterweisheit verfahren: Nur jenen
ist das Leben schön und teuer, die frank und ungefesselt mit ihm scherzen.
In dem preußischen Gefüngniswesen des Ministeriums des Innern ist
von Anfang an die erziehliche Aufgabe dem Vergeltungs- und Abschreckungs¬
zweck vorangestellt wordeu. Die leitenden Persönlichkeiten haben sich aber
vor Extremen nach beiden Seiten hin sorgfältig gehütet und den Strafvollzug
von vornherein auf einen Mittelweg gewiesen, der der strafenden Gerechtig¬
keit gibt, was ihr gebührt, aber auch der Erziehuugspflicht so viel Raum ver¬
stattet, als sie für ihre Zwecke unbedingt beanspruchen muß. Von dieser
doppelten Begrenzung her empfängt nun wie die ganze Gefangncnbehandlung
so auch das Arbeitswcsen in den Gefangncnanstciltcn sein besondres Gepräge.
Verworfen wird die früher geübte Methode, die Arbeit dem Gefangnen zu
einer Pein zu macheu und gleicherweise die einseitige Ausnützung der Kraft
des Gefangnen für die ökonomischen Interessen des Landes. Andrerseits aber
wird daran festgehalten, daß die Freiheitsstrafe eine unerbittliche Beschränkung
der Freiheit enthalten müsse, und daß der Staat das Recht und die Pflicht
habe, bei den Gefangnen die Gewohnheit regelmäßiger Arbeit hervorzubringen
oder zu erhalten, um sie so in den Stand zu setzen, nach wiedererlangter
Freiheit in sittlicher und wirtschaftlicher Hinsicht neue Kraft zu entfalten und
auf redliche Weise dnrch Arbeit, Sparsamkeit und strenge Ordnung der Lebens¬
haltung für die einfachen Bedürfnisse des menschlichen Daseins zu sorgen.
Ich habe zu meinem Thema so weit ausgeholt, weil mir daran liegt, daß
das bedeutsame von dem preußischen Ministerium des Innern unternommne
Kulturwerk, worüber ich berichten will, sogleich im Zusammenhang mit den
übrigen in dieser Verwaltung befolgten Grundsätzen beurteilt werde. Es gibt
kaum eine Möglichkeit, die Beschäftigung der Gefangnen in gleichem Grade
sowohl für ihre eignen Interessen wie für die Interessen des Landes nutzbar
zu machen, als die Verwendung der Gefangnen zu Landeskulturarbeiteu.
Infolgedessen hat das Ministerium angeordnet, daß die Gefangnen in möglichst
großer Zahl, soweit es ohne Schädigung der Zwecke des Strafvollzugs geschehen
könne, mit diesen Arbeiten zu beschäftigen seien. Die Zahl der hierzu verwandten
Gefangnen betrügt dementsprechend schon jetzt etwa 1700. Sie arbeiten an der
Kurischen Nehrung und befestigen dort Wanderdünen, um gefährdete Dörfer zu
schützen, dasselbe geschieht von ihnen auf der Frischer Nehrung und auf der Halb¬
insel Hela. In Schlesien werden sie zu Flußreguliernngcn angestellt, um Hoch¬
wasserschäden zu beseitigen und zugleich neuen Verwüstungen vorzubeugen. Im
Regierungsbezirk Lüneburg haben sie verwilderte Elbsande in fruchtbares
Wiesenland umgewandelt, im Regierungsbezirk Osnabrück eine große Ent-
wüsserungsanlage geschaffen, an der Mosel, Saar und Nahe auf Urlaub
Weinberge angelegt. Und so wäre noch manches andre zu erwähnen, was
durch ihre Kräfte zum Vorteil des Landes geleistet worden ist. Ich habe jedoch
vor allem ihres Anteils an dem Werk der Moorkultur zu gedenken.
Das Ministerium des Innern gibt über dieses Werk Auskunft in seiner
alljährlich erscheinenden Gefängnisstatistik sowie in einer Anlage dazu, die
sich mit der Verwendung von Gefangnen zur Kultivierung von Moor- und
Heideland besonders befaßt. Vorzüglich orientiert dann noch über das Unter¬
nehmen eine von dem Dezernenten des Gefängniswesens der Verwaltung des
Innern Dr. jnr. Krohne verfaßte Festschrift über die Entwicklung der Moor¬
kultur, auf deren Ausführungen ich im folgenden ganz besonders Bezug
nehmen werde.
Der Gedanke, Gefangne in solcher Weise zu beschäftigen, ist nicht mehr
ganz neu. Der erste Versuch damit ist in Oldenburg gemacht worden, und
zwar von dem Direktor der Strafanstalt Vechta, Hoher, der im Jahre 1862
auf einem der Anstalt nahegelegnen Moore Dammkulturen ausführen ließ.
Seine Nachfolger Laugrenther und Dr. Krohne haben das Werk fortgesetzt.
Diese Arbeiten sollten ursprünglich der planmüßigen Durchführung des so¬
genannten irischen Strafvollzugssystems dienen, das darauf beruht, daß der
Strafgefangne den ersten Teil seiner Strafe in Einzelhaft verbüßt, den zweiten
in gemeinsamer Haft, den dritten in einem Übergangshaus, worin er in halber
Freiheit mit landwirtschaftlichen Arbeiten wieder an die Arbeit des freien Lebens
und an die Freiheit überhaupt gewöhnt werden soll. Die Arbeiten bei Vechta
werden auch heute noch, wenn auch in beschränktem Umfange, fortgesetzt, die
Verbindung mit den Absichten des irischen Systems ist jedoch aufgegeben
worden, da sich dieses System, das eine Mindestdauer der Zuchthausstrafe
von fünf Jahren voraussetzt, wenig für deutsche Verhältnisse eignet.
Ein zweiter Versuch, Strafvollzug und Moorknltur in Verbindung zu
bringen, ist 1891 im Kanton Bern gemacht worden. Es handelt sich um
ein Gebiet zwischen den Neuenburger, Vieler und Murtener Seen, das seit
Jahrhunderten hüusig überschwemmt und verwüstet worden war. Bern unter¬
nahm in Vereinigung mit den andern beteiligten Kantonen zunächst ein Ent¬
wässerungsprojekt, das auch mit einem Kostenaufwand von 18 Millionen Franken
ausgeführt worden ist. Hiernach bildete sich eine landwirtschaftliche Gesell¬
schaft, die das Moorland mit freien Arbeitern für die Kultur wiederzugewinnen
strebte. Die Unkosten waren aber zu bedeutend, und das Werk mußte wieder
eingestellt werden. Nun dachte Bern daran, die billigern Gefangnenkräftc für
diese Arbeit zu verwende». Es wurde ein Gefängnis mit hundert Einzelzellen
im Moorgebiet errichtet und für die Leitung ein tüchtiger Landwirt gewonnen,
der sich seiner Aufgabe auch in glänzender Weise entledigte. Bei der Über¬
nahme kostete das Hektar Land 1000 Franken, jetzt hat es einen Wert von
3000 Franken. Nach Beendigung der Kulturarbeiten soll der größere Teil des
Landes als kleinbäuerliche Stellen verpachtet oder verkauft, der Nest aber mit
Gefangnen weiter bewirtschaftet werden.
Die preußische Gefängnisverwaltung des Ministeriums des Innern hat
dann im Jahre 1894 begonnen, die Gefangnen in größerm Umfange zur
Moorarbeit heranzuziehen. Der Dezernent dieser Verwaltung, der schon von
seiner Tätigkeit in Vechta her für diese Arbeiten Juteresse und Erfahrung
mitbrachte, unternahm es, den oldenburgischen Versuch ins große zu über¬
setzen. Wie eine rein zahlenmäßige Übersicht erweisen wird, ist dies schon jetzt
in recht beträchtlichem Umfange geschehen, und wenn man einmal Dr. Krohnes
Verdienste um die Neugestaltung des Strafvollzugs und um die planmäßige
Durchführung der von König Friedrich Wilhelm dem Vierten inspirierten
Grundsätze einer Gefängnisreform im ganzen überschauen und würdigen wird,
dann wird man auch dieses weit ausblickenden Unternehmens zu gedenken haben,
als eines bedeutsamen Versuchs, die Kräfte der Gefangnen zur Leistung einer
großen, gemeinnützigen Aufgabe zu verwenden und durch die Arbeit von un¬
sozialen Elementen des Volkes Raum und Boden für die dem Staatswesen
wertvollen Elemente zu gewinnen.
In Ostpreußen ist das 3000 Hektar große Augstumalmoor in Angriff
genommen worden. Ferner wird ein Teil des Moorbruchs bei Karlsrode und
das Rupkalwer Moor, 1800 Hektar groß, ausgebaut. Im Augstumalmoor sind
352 Kolonnte projektiert, von denen 27 und die Movrvogtei schon fertiggestellt
worden sind. In Karlsrvde sind 62 Kolonnte projektiert, von denen 35 fertig
geworden sind. In der Provinz Hannover wurde das Marcardmoor, 2090 Hektar
groß, und das Kehdinger Moor, 1029 Hektar groß, in Bebauung genommen.
Die Zahl der projektierten Kolonade betrügt in den beiden Mooren zusammen
210, von denen als Pachtgüter 45, als Nentengüter 19 zu Ansiedlungszwecken
für die Generalkommission fertiggestellt find. Dazu noch Pfarre, Schule, Ge¬
meindehaus und Moorvogtei.
In der Provinz Schleswig-Holstein kultivieren Strafgefangne für eigne
Rechnung der Gefängnisverwaltung das 210 Hektar große Bargstedter Moor
und das 451 Hektar große Neitmoor. Die Anstalt Rendsburg stellt die Ge¬
fangnen und Beamten, trügt die Kosten und empfängt die Einnahmen, es ist
ihr für diese Arbeit ein moortechnischer und bauverständiger Beamter beigegeben.
Die Zahl der hier projektierten Kolonade beträgt 41, von denen 19 fertig¬
gestellt und 15 auch schou vergeben sind.
In der Eifel, dem Schmerzenstiude des preußischen Staates, hat die
Gefängnisverwaltung 84 Hektar Ödland im Platten Venn, dem höchstgelegnen
Teile des Gebirges, das als unkultivierbar galt, in Wiesen und Weiden ver¬
wandelt, um der mutlosen Bevölkerung zu zeigen, welche landwirtschaftlichen
Schätze noch in ihrem verachteten Boden stecken. Von den sechs projektierten
Kolonaten sind schon drei vergeben, die Kolonisten gedeihen wirtschaftlich, und
ihr Beispiel hat eine solche Nachfrage nach neuen Kolonaten geweckt, daß die
Gefängnisverwaltung nicht imstande ist, sie zu befriedigen.
Zur Belehrung über den Gang dieser Kulturarbeiten möge ein Abschnitt
aus der Krohnischen Schrift folgen: „Da die Moore weitab von den Straf¬
anstalten gelegen sind, muß zunächst ein Unterkunftsraum für die Gefangnen
geschaffen werden. Das geschieht in der Weise, daß im Frühjahr durch freie
Arbeiter eine einfache Holzbaracke errichtet wird, in welcher etwa dreißig Ge¬
fangne mit den erforderlichen Aufsichtsbeamten untergebracht werden können.
Dann wird sofort mit dem Bau eines Kvlonistenhauses begonnen, das bis
zum Herbst fertiggestellt sein muß. Das Haus wird nach Landesbrauch so
gebaut, daß die Wohnräume mit den Wirtschaftsräumen (Stall, Scheune)
unter einem Dach liegen, damit die sichre Aufsicht über die Gefangnen er¬
leichtert wird. Die Wohnrüume werden zum Aufenthalt für die Beamten,
die Wirtschaftsrüume zur Unterkunft für die Gefangnen eingerichtet, beide
derart, daß es nur geringer baulicher Veränderungen bedarf, um nach Abzug
der Gefangnen als Haus einem Kolonisten zur landwirtschaftlichen Nutzung
zu dienen. Nach Fertigstellung des Hauses siedeln die Gefangnen dahin über;
die Baracke wird zum Unterbringen von Borräten und Arbeitsgerät benutzt
und ist dem später einziehenden Kolonisten eine willkommne Zugabe als Wirt¬
schaftsgebäude. Diese Art der Gefangnenunterknnft wird gewählt, da sie das
Siedlungswerk mit den geringsten Kosten belastet. Der Bau eines Gefängnisses
lohnt sich für die Dauer der Arbeit, welche etwa zehn bis fünfzehn Jahre
beträgt, nicht. Eine feste Baracke würde ungefähr ebensoviel kosten wie
ein Kolonistenhaus und später wertlos sein, während das Haus bei sorg¬
fältiger Behandlung und Instandhaltung, wie sie bei der Gefüngnisverwaltung
üblich sind, seinen Wert behält. Das zum Hause gehörige Land des Kolonats
wird von den Gefangnen benutzt, um darauf den Bedarf an Kartoffeln und
Gemüsen für die Gefangnenabteilung zu bauen. Etwaiger Überschuß wird
verkauft. Je nach dem Umfange der Arbeit wird die Abteilung bis auf
sechzig Arbeiter verstärkt, die Leitung führt ein Gefängnisoberbeamter, der so
ausgewählt wird, daß landwirtschaftliche Arbeiten ihm nicht fremd sind, die
technische Leitung hat ein Moorsachverständigcr — Moorvogt. Sobald das
Moor hinreichend entwässert ist, wird mit der landwirtschaftlichen Bearbeitung
des Landes begonnen, und zwar möglichst auf einer großen Anzahl von
Kolonaten gleichzeitig. Zunächst werden die Hausplätze eingeebnet, Schutz¬
streifen mit Bäumen bepflanzt, die Hausgürten eingerichtet; alsdann sobald als
möglich Wiesen und Weiden angelegt, um dem anziehenden Kolonisten eine
ausreichende Viehhaltung und selbstgewonnenen Dünger zu sichern, damit er
die Ausgaben für Kunstdünger herabmindern kann.
Ist etwa ein Drittel bis zur Hälfte des Landes in Kultur gesetzt, so
wird das Haus errichtet; dabei werden der Landesbrauch und die Wünsche
der Kolonisten — namentlich der Frau —, soweit sie verstündig sind, auf das
weitgehendste berücksichtigt. Der Bau wird durch Gefangne ausgeführt, uuter
Leitung eines bauverstündigcn Werkmeisters der Anstalt. Hauptaufgabe ist,
die Baulichkeiten solide, praktisch und doch mit möglichst geringen Kosten
herzustellen, damit der Kolonist nicht eine zu große Baulast zu tragen hat.
Der Preis des Hauses nebst Nebenanlageu beläuft sich für das einfache
Kolonat zwischen 5000 und 6000 Mark. Verfügt der Kolonist über größere
Mittel, wünscht er geräumigere Wohn- und Stallrüume, oder übernimmt er
ein Doppelkolonat, so stellen sich die Baukosten entsprechend höher. Wie die
Baukosten müssen auch die Kulturkosten möglichst herabgemindert werden.
Das in der Siedlung angelegte Kapital darf nur so viel betragen, daß der
Kolonist bei sachkundiger, sparsamer Wirtschaft nicht nur die Pacht oder Rente
bequem Herausarbeiten kann, sondern auch mit seiner Familie ein gutes Aus¬
kommen hat und wirtschaftlich erstarkt."
Es würde mir lieb gewesen sein, hätte ich die Moorwelt aus eigner
Anschauung malen können, eine endlose, dem menschlichen Fuß verschlossene
und der menschlichen Arbeit unzugängliche Welt, und nach diesem Bilde dann
das Bild jener Menschen, in deren Dasein auch soviel versunken und ver¬
loren gegangen ist, die aber nun in die verschlossene Welt eindringen und sie
Fuß für Fuß wieder zurückerobern. Es ist aber wohl wertvoller, sich an die
schlichte sachgemäße Darstellung des Tatsächlichen zu halten. Das ganze
Unternehmen ist eben anders als jedes sonstige Kulturwerk zu betrachten. Es
muß bei seiner Beurteilung immer im Gedächtnis behalten werden, daß es
sich bei ihm vor allem darum handelt, Gefangne auf eine nützliche und er¬
ziehende Weise zu beschäftigen, daß wir es mit Gefcmgnenarbeit zu tun haben,
bei der stets mancherlei und nicht allenthalben miteinander harmonierende
Interessen gewahrt werden müssen.
Die Gefangnen ohne Beschäftigung zu lassen, geht nicht an. Sie zur
Arbeit anzuhalten, gebietet sich von selbst aus volkswirtschaftlichen und Haus-
ordnungsmäßigen Gründen. Vor allein aber ist ihre regelmäßige Beschäftigung
im sittlichen und gesundheitlichen Interesse der Gefangnen selbst und im Interesse
der menschlichen Gesellschaft, die die Gefangnen später wieder bei sich aufnehmen
muß, unbedingt zu fordern. Dieselben Gründe machen es auch zur Pflicht, die
Strafgefaugnen nicht mit unproduktiver, sondern mit produktiver Arbeit zu
beschäftigen. Als sich das Arbeitswesen in den Anstalten mit der Durch¬
führung der Freiheitsstrafe mehr und mehr entwickelte, zahlreiche Fabrikunter¬
nehmer mit den Kräften der von ihnen gemieteten Gefangnen möglichst hohe
Arbeitserträge herauszuwirtschafteu suchten, und die Anstalten auch selbst als
Arbeitsunternehmer und als Händler ans den Markt hinaustraten, da erhob sich
bald die bis heute noch uicht gänzlich verstummte Klage über das schädliche
Konkurrieren der Gefüngnisarbeit mit der freien Arbeit. In Amerika hat
man, um diesem Übel zu begegnen, die Formel geprägt, die Beschäftigung
der Gefangnen müsse instruktiv, dürfe aber nicht produktiv sein. Der Ge¬
fangne soll also lernen, wie Werte geschaffen werden, nicht aber sie auch
selbst hervorbringen. Im Staate Pennshlvcmien müssen deshalb infolge der
strengen Gesetze gegen die Konkurrenz der Gefängnisarbeit die Arbeitsprodukte,
nachdem sie ihren instruktiven Zweck erfüllt haben, wieder vernichtet werden.
Dr. Paul Herr, der dies in seinem sehr lehrreichen und beachtuugswerten
Buch über das moderne amerikanische Besserungssystem mitteilt, berichtet dazu,
daß die Anstaltsdirektoren die Vernichtung der Arbeitsprodukte sehr ungern
geschehen ließen, weil dadurch die Freude an der Arbeit selbst leicht beein¬
trächtigt würde. Es ist dies auch ganz natürlich. Die Freude wird sogar
nicht bloß beeinträchtigt, sondern mit der Zeit ganz und gar vernichtet, denn
auf solche Art wird die Arbeit zum bloßen Schein gemacht und zu einer
Spielerei herabgewürdigt, und abgesehen von ihrer informatorischen Bedeutung
ähnelt sie der Methode, von den Gefangnen ein Loch graben und dann es
wieder von ihnen zufüllen zu lassen. Die Gefüngnisarbeit muß produktiv sein.
Als die Kommission des Deutschen Handelstags über den Einfluß der Gefüngnis¬
arbeit auf den freien Gewerbebetrieb verhandelte, gingen die Ansichten über die
größere oder geringere Schädlichkeit der Gefängnisarbeit wohl weit auseinander,
gleichwohl aber wurde die Notwendigkeit, die Gefangnen mit produktiven Ar¬
beiten zu beschäftigen, allseitig anerkannt. In der preußischen Verwaltung des
Innern ist die Berechtigung der Klagen über die Konkurrenz der Gefängnis¬
arbeit durch Vermietung der Arbeitskräfte an Privatunternehmer anerkannt
und dafür Sorge getragen worden, daß die Gefangnenarbcit wohl wirkliche
Werte schaffe und auch möglichst hohe Erträge bringe, dennoch aber die freie
Arbeit und den freien Arbeiter so wenig wie möglich schädige. Es gelten
in der Verwaltung folgende Grundsätze: Alle Bedürfnisse, sowohl die der
einzelnen Anstalten wie die der gesamten Gefüngnisverwaltung, sind, soweit
es irgend angängig ist, durch die Arbeit der Gefangnen zu befriedigen.
Hierbei sind auch die notwendigen Umbauten und Neubauten der Gefangnen-
cmstalten einbegriffen. Ferner soll die Herstellung von Gebrauchsgegenständen
für Reichs- und Staatsbehörden möglichst gefördert werden. Es werden zu
diesen Arbeiten von rund 20000 Gefangnen fast 8000 ständig verwandt, und
während noch im Jahre 1883 von 27 000 Strafgefangnen 18000, also zwei
Drittel der Gefangnenbevölkerung an Privatunternehmer vermietet worden
waren, arbeiten jetzt nur noch 5000 von 20000 Gefangnen in Untcrnehmer-
betrieben.
Man kann freilich einwenden, daß ein Konkurrieren der Gefängnisarbeit
auch bei solcher Gestaltung des Arbeitswesens stattfinde. Es ist das richtig.
Solange die Gefangnen überhaupt produktiv arbeiten, müssen sie mit dem
freien Arbeiter in Wettbewerb treten. Aber sie sind ja doch nicht aus einem
fremden Lande zum Schaden der freien Arbeiter bei uns eingeführt worden,
sondern es sind Landeskinder, und sie haben von jeher ihren Platz auf dem
Arbeitsmarkt ihres Volkes eingenommen. Andrerseits aber können und müssen
die Lohnsätze für die Benutzung der Gefangnenkrüfte so gestellt werden, daß
die Privatunternehmer, die noch immer in den Gefängnissen arbeiten lassen,
nicht vor den mit freien Arbeitern wirtschaftenden bevorzugt werden, und dies
geschieht auch. Was nun die Verwendung der Gefangnen für die Zwecke des
Staates angeht, so entgeht, wenn ein Gefangner etwa einen Schrank für die
Eisenbahn oder die Militärverwaltung anfertigt, ja gewiß dem freien Tischler
ein Stück Arbeit, das er Hütte übernehmen können und auch wohl gern über¬
nommen hätte. Aber wenn der Gefangne den Schrank anfertigt, so kommt
der Wert der Gefängnisarbeit in vollem Umfange der Gesamtheit der Steuer¬
zahler zugute und nicht einem einzelnen Unternehmer, der obendrein damit
den Preis der freien Arbeit herunterdrücken würde.
Bei der Moorarbeit wird nun aber jede Klage über die schädigende
Konkurrenz der Gefängnisarbeit gegenstandslos. Denn zu dieser Arbeit dürfen
Gefangne nur dann abgegeben werden, wenn sie sonst unterbleiben müßte, sei
es, daß dafür überhaupt nicht freie Arbeiter zu haben wären, oder daß diese
nur zu einem Lohne gewonnen werden könnten, der die Anlage unrentabel
machen müßte. Dr. Krohue sagt in seiner Festschrift: „Wollte man die Arbeit,
wie in frühern Zeiten, den Kolonisten überlassen, so würden sie sich in der
Arbeit ausreiben. Not und Sorge würde ihnen die Arbeitsfreudigkeit nehmen,
sie würden die Ansiedlung verlassen oder darauf mit ihrer Familie verkommen.
Darum muß die Gefängnisarbeit einsetzen, aber es darf für sie kein höherer
Preis verlangt werden, als sie ihn in der geschlossenen Anstalt bei Vermietung
an Unternehmer erzielt. Das ist vom reinen fiskalischen Standpunkt vielleicht
unerwünscht, sozialpolitisch aber durchaus berechtigt. Ja der Staat könnte
auf diese Löhne ganz verzichten, wenn es nötig wäre, um den Kolonisten die
Pacht oder Rcntenlast zu erleichtern." Und an einer andern Stelle der Schrift
wird der Satz ausgesprochen, daß eine Arbeit, die ans einem faulen, ungeschickten,
wirtschaftlich minderwertigen Rechtsbrecher ein für das geordnete Leben der
Gesellschaft nützliches Mitglied mache, auch wenn der Arbeitsertrag minimal
sei, einen viel höhern Wert habe als die Arbeit, die den Lohnertrag des
Gefangnen dem eines freien Arbeiters annähernd gleichbringe.
Man sagt mit Recht, daß die Arbeit des Menschen dadurch erst ihren
vollen sittlichen Wert erhalte, daß der Arbeitende das Bewußtsein empfange,
an einer gemeinnützigen Aufgabe für das Ganze der menschlichen Gesellschaft
mitzuwirken. Die Überleitung des Beschäftigungswesens aus dem frühern
Unternehmerbetrieb in den Staatsbetrieb läßt ja schon die Gefcmgnenarbeit
als eine für die Allgemeinheit geforderte Leistung erscheinen. Vollends aber
geschieht dies bei den Landeskulturarbeiten. Hier wird neuer Boden erst
emporgehoben. Es wird, wie Dr. Krohne noch besonders als eine neue und
manchem fiskalisch Angehauchten befremdliche Auffassung hervorhebt, durch die
Arbeit von Schädlingen der Gesellschaft Platz für staatserhaltende Elemente
geschaffen, in erster Linie für den kleinen und mittlern Bauernstand, mit dessen
Erhaltung und Vermehrung oder Vernichtung ein Staatswesen entstehe und
wachse oder schwanke und zusammenbreche.
Es bliebe aber noch zu erwägen, ob dnrch diese Verwendung der Ge¬
fangnen nicht den eigentlichen Zwecken des Strafvollzugs entgegengewirkt
werde, da den Gefangnen bei diesen Arbeiten ja doch größere Bewegungsfreiheit
gegeben werden muß, als sie ihnen bei Verbüßuug ihrer Strafe im Gefängnis
selbst zustehn würde. Aber die Forderungen des Strafzwecks werden durchaus
berücksichtigt. Zunächst dürfen zu Laudeskulturarbeiten nur solche Gefangnen
verwandt werden, die schon längere Zeit im eigentlichen Strafvollzug gewesen
sind, Zuchthansgefangne, wenn sie mindestens ein Jahr ihrer Strafe verbüßt,
sich gut geführt haben, und wenn der Strafrest nicht mehr als ein Jahr,
ausnahmsweise zwei Jahre betrügt, Gefänguisgefcmgne mit ihrer Zustimmung,
wenn sie sechs Monate, ausnahmsweise drei Monate ihrer Strafe verbüßt,
sich gut geführt haben, und wenn der Strafrest nicht mehr als zwei Jahre
betrügt. Außerdem aber dauert der Zwang des Gefangnenlebcns auch fern
von dem Gefängnis noch weiter fort, die Verpflegung trügt natürlich den
gesteigerten Ansprüchen an die Körperkraft Rechnung, hält sich aber durchaus
auf der Linie der einfachsten und auf das Notwendige beschränkten Lebens¬
haltung. Die Ringmauern, die sonst das Leben der Gefangnen einengen, sind
im Moorgebiet allerdings nicht vorhanden, aber die Abtrennung von der freien
Bevölkerung wird nach wie vor durchgeführt, und die einsame menschenferne
Lage der Arbeitsplätze und des Verwahruugshauses muß die abscheidenden
Gefängnismauern ersetzen. Bei gelegentlichen Berührungen mit der freien
Bevölkerung werden aber die Gefangnen nicht mehr bloßgestellt, wie es früher,
da man sie etwa an die Karre angeschmiedet unter die Menschen führte und
von ihnen Gassen und Märkte säubern ließ, zum Zweck der Abschreckung.
beliebt gewesen war. Das wertvolle Werk, an dem sie in Wind und Wetter
und mit Anspannung aller Kräfte zum allgemeinen Nutzen Tag für Tag
arbeiten, ist vielmehr geeignet, schon während der Gefangenschaft den Ver¬
lust an Ehre, deu sie durch ihre Bestrafung erlitten haben, zu vermindern
und ihnen auch dann schon die Achtung des freien Menschen wieder zuzu¬
wenden.
Hiermit komme ich zu der Bedeutung, die diese Beschäftigungsart für
die Gefangnen selbst gewinnen kann. Es ist eine Arbeit, die die ganze Kraft
des Menschen viele Monate lang auf das stärkste anspannt. Trotzdem wird
sie von den Gefangnen erstrebt und begehrt, weil sie ihren Wert für die
Gesundheit erkennen. Es ist eben eine Arbeit in Sonne und freier Luft. Die
Gefangnen führen sich auch recht gut, die meisten von ihnen zeigen Willig¬
keit und Freudigkeit zu der anstrengenden Arbeit, Fluchtversuche kommen nur
ganz vereinzelt vor. Und wenn ihre Strafe um ist, dann kehren sie nicht
schlaff, mit bleichen Gesichtern und der Luft entwöhnt ins freie Leben zurück,
sondern wettergebrünut, gestählt, gesundet und zu jeder Arbeit, auch der
schwersten, erstarkt.
Und welche ethischen Elemente liegen in dieser Beschäftigung enthalten!
Vordem haben die Gefangnen Werte zerstört, jetzt bringen sie sie hervor.
Sie haben ihr eignes Leben zum Versinken gebracht, jetzt gewinnen sie Ver¬
lornen Landesboden wieder und leisten eine Arbeit, deren sie sich wirklich mit
Freude und mit Stolz erinnern dürfen. Und das alles, was sie leisten
können und leisten müssen, bringen sie bei der allereinfachsten Lebensführung
fertig, ohne alle die Reizmittel, die sie früher nicht entbehren zu können
meinten. Ob sich da mancher, wenn er Tag für Tag in jedem Wetter, in
der Sonnenglut wie im Regen und Sturm, an seinem Arbeitsplatz stehn und
sich kräftig regen muß, nicht schließlich sagen wird: Wenn ich so fortführe,
ja wenn ich nur halbwegs so anspruchslos und bescheiden leben würde, wie
ich es jetzt tun muß, dann könnte ich mir bestimmt ein zufriednes und glück¬
liches Leben schaffen. Und wenn ich mich auch selbst so in Zaum und Zügel
hielte, wie ich es jetzt unter fremdem Zwange tun muß und auch tun kann,
dann käme ich sicher wieder voran und ginge nicht mehr meinem Untergang
entgegen. Ein solcher Gedanke und der daraus folgende Entschluß würde
dann der beste Ertrag sein, den die Moorarbeit abwürfe. Für den Straf¬
vollzug würde er jedenfalls unbeschadet aller sonstigen Wertschätzung des
Werkes der höchste und wichtigste Gewinn sein, der durch die Verwendung von
Gefangnen zu Landeskulturarbeiten erzielt werden könnte.
Daß ihnen solche guten Gedanken anch wirklich kommen, haben mir Ge¬
fangne nach ihrer Entlassung und nachdem sie wieder auf den Weg zu einer
Existenz gelangt waren, öfters selbst geschrieben. Solche Gedanken zu er¬
zwingen, das liegt freilich nicht in der Macht des Strafvollzugs. Er muß
es dem Menschen, den er durch seine ernste Lebensschule hindurchgeführt hat,
überlassen, ob er aus den gemachten Erfahrungen lernen und die entsprechenden
Folgerungen ziehen will, oder ob er sich trotz alledem auf seinem bisherigen
Wege weiterbewegen und dann neue und schärfere Maßregeln gegen sich heraus¬
fordern will. Der Strafvollzug kann nur durch Belehrung, Anleitung und
Zwang darauf hinwirken, gute Entschließungen bei den seiner Gewalt unter-
worfnen Menschen hervorzurufen, und weiterhin kann er die Vediuguugen
schaffen, unter denen sich diese guten Entschließungen auch im spätern Leben zu
erhalten vermögen. Dies tut er, indem er die Gefangnen an eine einfache
und strenggeregelte Lebenshaltung gewohnt, und indem er ihre Kraft in regel¬
mäßiger und strenger Arbeit allseitig ausbildet, sodaß sie dann bei vorhandnen
gutem Willen fähig sind, sich mit ihrer Hände Arbeit redlich durchs Leben zu
schlagen, und daß sie, wie sie Wind und Wetter überstanden haben, nun auch
imstande sind, unter schwierigen Lebensverhältnissen unverzagt und mit uu-
gebrochnem Mute auszuharren.
»T^r^er ist ein deutscher Klassiker? Vor zwanzig Jahren war die
Beantwortung der Frage sehr einfach: als Klassiker galten die
^1 sechs großen Dichter der klassizistischen Periode, Klopstock, Wieland,
Lessing, Herder, Goethe und Schiller. Heute muß die Antwort
! schon ganz anders lauten; Wieland und auch Klopstock sind uns
als Persönlichkeiten nicht mehr so nah und so wertvoll, daß wir sie als Klassiker
im engsten Sinn bezeichnen können. Denn das scheint mir ein wesentliches Zeichen
des Klassikers zu sein, daß er nicht nur mit ein oder zwei Werken in unver¬
gleichlicher Weise zu uns spricht, sondern daß sein ganzes dichterisches und schrift¬
stellerisches Wesen unzertrennbar zum ersten Besitz unsrer Literatur und unsers
Lebens als Volk gehört, daß niemand an dieser Persönlichkeit vorübergehn
darf. Das ist nun Klopstock und Wieland gegenüber nicht mehr der Fall,
es sind nur noch einzelne Dichtungen von beiden, die mir nicht entbehren
können, und ihre große literaturhistorische Stellung allein gibt ihnen noch
nicht das Anrecht auf Klassikerehren. Daß dies bei Lessing, Goethe und
Schiller anders ist, braucht nicht ausgeführt zu werden. Aber auch Herder,
so wenig er ein Dichter ersten Ranges ist, bleibt als der heute gerade wieder
fruchtbare Anreger ersten Ranges durchaus ein Klassiker und kann aus der
Reihe nicht herausgetrennt werden. Damit aber ist die Zahl nicht erschöpft.
Denn aus dem ungeheuern Reichtum der deutschen Dichtung seit jener Zeit
hat sich von Jahr zu Jahr mehr ein Prozeß der Kristallisatiou vollzogen,
und eine Reihe von Charakterköpfen blickt uns mit so bedeutenden Zügen an,
beeinflußt uns hente derartig, daß der oouseusus oirmiurn ihnen vor andern
den Ehrennamen von Klassikern nicht verweigern kann. Dabei schwankt
freilich das Urteil im Laufe der Geschlechter und schlägt immer wieder um;
so erschien jahrzehntelang als Klassiker Jean Paul, der heute doch nur für
Genießer noch solche Bedeutung hat, während etwa der als Dichter so viel
weniger bedeutende Chamisso eine völlig unverrückte Klassikerstellung einnimmt.
Von den eigentlichen Führern der Romantik ist keiner, auch nicht, wie es
einmal fast schien, Tieck, zum Klassiker geworden, aber Heinrich von Kleist
ist es längst, und mit großer Freude sehe ich, daß E. Th. A. Hoffmann von
Jahr zu Jahr mehr in diesen Rang hineinwächst, der dem genialen Erzähler
gebührt, der in seiner Art von keinem übertroffen, aber für viele der frucht¬
barste Anreger geworden ist. Daß Hebbel heute vielleicht der wirksamste von
allen Klassikern ist, braucht nicht bewiesen zu werden, und auch die Stellung
seines Gegners Grillparzer ist völlig unerschüttert. Uhland wird auch nicht
mehr zu verdrängen sein, und mit sieghafter Macht ist in den letzten zehn
Jahren sein Landsmann Mörike neben ihn getreten, während von den Dichtern,
die noch fast unsern Tagen angehören, Gottfried Keller heute schon die Klassiker¬
höhe gewonnen hat, die Theodor Storm und Wilhelm Raabe voraussichtlich die
nächste Generation einräumen wird. Dagegen ist Heine heute wohl nicht mehr
unter die Klassiker zu zählen, zu denen man ihn jahrzehntelang allgemein
gerechnet hat; seine beste Lyrik gehört, wie die Eichendorffs oder Lenaus, zu
unserm wertvollen Besitz, aber er so wenig wie die beiden andern kann als
Ganzer klassische Bedeutung beanspruchen, zum Teil ans ähnlichen, zum Teil
aus ganz verschiednen Gründen. Manche, wie Adolf Bartels, nennen auch
Otto Ludwig einen Klassiker, und es sah auch eine Zeit lang wirklich so aus,
als ob er zu dieser Stellung emporgewachsen wäre; wie mir scheint, hatte das
aber mehr äußerliche Gründe, und soweit ich sehen kann, ist er heute schon
wieder etwas zurückgetreten. Einer der äußern Gründe war der, daß Ludwigs
Werke in demselben Jahr 1893 frei wurden wie die Hebbels, mit dem man
ihn ohne zureichende Begründung nicht nur in dem Sinne häufig zusammen
nannte, daß beide von ihren Zeitgenossen, und insbesondre von der ersten
Generation nach ihnen, verkannt wurden. Heikle haben wir klar erfaßt, daß
Hebbel denn doch bei weitem über Ludwig wie über alle Dichter seiner Zeit
hinausragt, und daß Ludwigs ganze Persönlichkeit, sein ganzes, zum Teil so
fragmentarisches Schaffen zu der Stellung eines Klassikers nicht hinreicht und
voraussichtlich auch nie hinreichet wird. Bei so weitem zeitlichen Abstand
täuscht sich das allgemeine Bewußtsein in dieser Frage sehr selten; Ludwig,
bleibt der Schöpfer einer der allerschönsten deutschen Novellen und eines unsrer
besten Dramen, ein Klassiker ist er nicht geworden.
Das wäre also ein rundes Dutzend: Lessing, Herder, Goethe, Schiller,
Kleist, Chamisso, Grillparzer, Hoffmann, Uhland, Mörike, Hebbel, Keller.
Dazu tritt freilich noch eine Reihe von Klassikern, die nur für einen Teil
des deutschen Landes oder des deutschen Lebens diese Bedeutung haben: die
drei großen Niederdeutschen, Klaus Groth, Fritz Reuter und Willibald Alexis,
der vielleicht noch einmal ein allgemein deutscher Klassiker wird, der Alemanne
Johann Peter Hebel und endlich die beiden unvergänglichen Klassiker unsrer
Jugend, Theodor Körner und Wilhelm Hauff. Die Schweiz aber hat neben
Keller noch einen Mann hervorgebracht, der für uns ein großer Schriftsteller,
für sie ein Klassiker geworden ist: Jeremias Gotthelf.
Für die Schweiz ein Klassiker, ein Realist, dem seine engern Landsleute
niemand an die Seite zu stellen haben, der für sie ein Zuchtmeister und Volks¬
lehrer zugleich ist wie kein andrer; für uns, die wir Immermann und Raabe,
Potenz und Hauptmann haben, ein großer Schriftsteller, ein bedeutender Dichter,
den kennen zu lernen eine Notwendigkeit ist.
In außerordentlich liebevoller Arbeit hat Adolf Bartels, der im Jahre
1897 an dieser Stelle eingehend über Gotthelf geschrieben hat, ausgewählte
Werke des Dichters zusammengestellt. Die Ausgabe (Jeremias Gvtthelfs
sAlbert Bitziusj aufgewühlte Werke in zehn Bünden mit mehreren Beigaben)
ist in der bekannten Hesseschen Klassikerbibliothek erschienen und ganz vor¬
trefflich zu nennen. Sie umfaßt den „Bauernspiegel", die beiden „Ruf",
„Geld und Geist", „Küthi, die Großmutter", „Die Käserei in der Vehfreude",
27 größere und kleinere Erzählungen, endlich das Stndententagcbuch von
Gotthelf über eine Reise in Nordwestdeutschlaud und Schilderungen aus
Bitzius Leben von A. E. Fröhlich. Der Überblick, den die Ausgabe über
Gotthelfs Schaffen gewährt, ist für jeden, der nicht Spczialforschung treiben
will, vollkommen genügend, und das Bild des Schriftstellers schält sich klar
heraus. Als erster Band ist eine Biographie und Charakteristik von Adolf
Bartels beigegeben, der auch die einzelnen Schriften mit Einleitungen ver¬
sehen hat. Ganz vortrefflich ist in dieser Lebensbeschreibung die Entwicklung
Gotthelfs und dann, eine Bartelssche Spezialität, das allgemache Durch¬
dringen des Pfarrers von Lutzelflüh dargestellt; das einzige. was ich auszu¬
setzen hätte, wäre die übergroße Zahl langer, unverarbeiteter Zitate aus
andern Schriften über Gotthelf. Bartels zitiert ja überhaupt und mit Recht
sehr gern; hier ist ihm aber über der Fülle der Arbeit wohl an mancher
Stelle der Überblick etwas verloren gegangen, und so geht er auch uns hier
und da verloren. Die Arbeit an der Ausgabe im ganzen war deshalb so
groß, weil die vielen, uns fremden schweizerischen Ausdrücke auch in dein ge¬
wählten hochdeutschen Text immer wieder einer Erklärung bedürfen, die Bartels
in sehr angenehmer Weise nicht dnrch Anmerkungen, sondern im Text selbst
in Klammern bewirkt, wodurch das Ganze an Lesbarkeit und ungestörter Genu߬
möglichkeit wesentlich gewinnt.
Das Bild Jeremias Gotthelfs, das wir ans seinen Werken gewinnen,
ist keineswegs so einfach und gerade, wie sich der landläufige Ausdruck einen
Volksschriftsteller — denn das war Gotthelf — vorstellt. Ganz abgesehen
davon, daß Bitzius die Bildung seiner Zeit in hohem Maße beherrscht, fehlt
es bei ihm keineswegs an scharfen Problemstellungen, an ganz eigenartiger
Kritik, an Darstellungen, die durchaus nicht am Wege liegen, kurz, an
Äußerungen, wie sie jede große Natur in ihrem Lebenswerk bringt. Ein
aufrechter Mann, der immer schreibt, um zu bessern, zu erziehen, und der
deshalb immer wieder zu ringen hat mit dem bloß ästhetischen Genuß an der
Schilderung des Lebens — so wächst Gotthelf vor uns herauf. Da, wo er
am vollkommensten ist, treten auch diese Charakterzüge am reinsten hervor:
„Ali, der Knecht" gehört zweifellos zu den besten deutschen Romanen, aber
man braucht mir die ersten und die letzten Worte noch einmal zu überfliegen,
nachdem man das Ganze aufgenommen hat, um die Gegensätze in Gotthelfs
Natur hcrauszuempfinden. Das Buch fängt so schön an wie taumeln andres:
„Es lag eine dunkle Nacht über der Erde; noch dunkler war der Ort, wo
eine Stimme gedämpft zu wiederholten malen »Johannes« rief"; und dann
der Schluß: „Aber nicht an einem Tage, sondern nach manchem harten
Kampfe gelangten sie auf ebene Bahn und wurden des Zieles sicher. Merke
dir das, lieber Leser!" Merke dir das, lieber Leser! Der Dichter, der seine
Erzählung so wundervoll begonnen und durchgeführt hat, wirft die Maske
ab und steht als Erzieher vor uns, warnend und mahnend. Denn dieser
letzte Ausruf ist nur die direkte Wiedergabe dessen, was indirekt immer wieder
durch die Dichtung hindurchschlägt: die Mahnung und Warnung an sein
geliebtes Volk. Nur daß ihn im „Ali" die Anschauung der Hauptgestalt
in ihrer ganzen Entwicklung immer wieder fortreißt, sodaß immer wieder
der Dichter über den Erzieher siegt. Es sind Szenen ersten Ranges in
dem Buch, die Gefahr, allmählich seinen Helden zum langweiligen Muster¬
knaben werden zu lassen, hat Gotthelf glücklich umgangen, Ali bleibt uns
immer interessant, und Vreueli gehört zu den reizvollsten Mädchengestalten
der deutschen Dichtung. Dabei dann Gotthelfs Meisterschaft in der Dar¬
stellung der Umwelt, des Bauernlebcns, der Knechte, des Viehs, das keine
geringe Rolle spielt. Aber es war wieder der Volkserzieher, der dem
„Knecht" den ungleich schwächer» „Pächter" folgen ließ, ein Werk, das durch
die Einfügung des lehrhaften Elements häufig kaum genießbar ist. So viel
vortreffliche Charakteristik auch in dem zweiten Buche steckt: an das erste
reicht es in keiner Weise heran. Sehr viel höher steht Gotthelfs allererstes
Werk „Der Bauernspiegel". Hier liegt die Sache umgekehrt: dies ist keine
Dichtung, sondern ein reines Erziehungsbuch, und es ist nun wundervoll, zu
beobachte», wie da immer wieder der Dichter dem Erzieher die Hand führt
und aus vielen der trocknen Begebnisse künstlerische Darstellungen macht.
Der „Vanernspicgcl" ist im Grunde ein fürchterliches Buch, und ich verstehe
vollkommen, daß man vor diesem Werk nicht nur, wie das Bartels tut, die
Parallele mit Balzac, sondern gerade auch die mit Zola zieht. Wir blicken
in Abgründe von Verworfenheit, und von der Fülle gemeiner, niedrig
denkender und empfindender Gestalten heben sich außer dem Helden, der
allmählich erzogen wird, nur sehr wenige ab, die schwach hervortreten. Und
dennoch packt dies Werk in ganz einziger Weise durch die ungemeine
Wahrheit der Lebensdarstellung, die Härte der Konturen, die nur für reife
Menschen genießbare, unvergleichliche Echtheit aller Einzelheiten und des
Milieus. Ja ich möchte behaupten, daß in bestimmtem Sinne Gotthelf über
die kundige und bei aller Kleinlichkeit des Vorwurfs im einzelnen gro߬
artige Schilderung des leider jus abbrechenden Werks nicht mehr hinausge¬
kommen ist. Es ist um so unverständlicher, daß der beginnende Naturalismus
nicht mit großer Entschiedenheit immer wieder auf dieses Werk hingewiesen
hat, das das meiste von dem schon vorwegnahm, was der Naturalismus
gewollt hat.
Aber freilich, ein Kunstwerk ist dieses Buch nur in dem Maße, wie ich
es oben angedeutet habe. Und ich kann Bartels nicht zugeben, daß, wer
Friedrich Hebbel und Jeremias Gotthelf hat, das ganze deutsche Leben des
neunzehnten Jahrhunderts, gewissermaßen das neunzehnte Jahrhundert im
Bilde besitzt. Ich würde freilich diese Zusammenstellung nicht durch Keller
ergänzen, den Bartels früher in diesem Sinne neben Hebbel gestellt hat,
sondern durch Wilhelm Raabe; denn ich gebe Bartels zu bedenken, daß Gott¬
helf, so hoch ich ihn stelle, und so groß seine dichterischen und speziell
epischen Gaben sind, einmal doch an dichterischem Rang hinter Poeten wie
Hebbel oder Keller oder Raabe weit zurücksteht, die schließlich absolute
Dichter sind; dann aber fehlt, wenn man Hebbel und Gotthelf allein nennt,
das ganze norddeutsche Leben in bezwingender epischer Darstellung, es klafft
ein zu großer Riß zwischen dem genialen Dramatiker, der, wie Bartels
richtig sagt, instinktiv sein dithmarscher Volkstum mit in seine Dichtungen
brachte, und dem schweizer Erzieher und Dichter, der, so gemeingiltig auch
gerade seine religiösen Anschauungen in vielem sein können und sein sollen,
doch zuletzt in sehr viel engerm Sinne ein Schweizer blieb als Hebbel ein
Dithmarscher. In diesen Riß aber tritt Wilhelm Raabe, absoluter Dichter
(abgekürzt gesagt) und dabei doch ein Führer wie Hebbel, mit dem er in vielem
nah verwandt und ein echter Niederdeutscher ist. Wer die drei hat, der hat
allerdings etwa das deutsche Leben des neunzehnten Jahrhunderts.
Und so nenne ich Gotthelf noch einmal einen Klassiker der Schweiz, für
uns andre Deutsche aber einen großen Schriftsteller mit großen dichterischen
Gaben. Und ich nenne noch einmal Gerhart Hauptmann, der im künstlerischen
Naturalismus über Gotthelf hinausgegangen ist, und Wilhelm von Potenz,
der im „Büttnerbauer" und sonst auch die Lebenskreise, die Bitzius dar¬
stellt, ein Nachfolger Immermanns, mit größerer künstlerischer Durchdringung,
wenn auch nicht mit so starker Persönlichkeit, für uns gegeben hat. Wir
können von Jeremias Gotthelf noch außerordentlich viel lernen, und gerade
auch in diesem Sinn ist die neue Ausgabe so sehr dankenswert. Aber wir
werden über der großen Freude an der mächtigen Gestalt des Schweizers
nicht ungerecht werden dürfen gegen das, was wir an epischer Kunst und
allgemein dichterischer Darstellung seither erreicht haben. Merkwürdig freilich
bleibt es, daß keiner, auch Potenz nicht, unter Gotthelfs irgendwie nach¬
weisbaren Einfluß geschaffen hat, und daß wir Jüngern die Anregungen,
die bei ihm zu finden gewesen wären, aus dem Auslande, aus Frankreich
und Rußland, empfangen haben. Daß daraus freilich dann etwas ganz
andres und durchaus deutsches geworden ist, was wieder nahe an Gotthelf
heranführt, beweist nur neu die Unzerstörbarkeit der deutschen Eigenart.
Und für diese Eigenart, wie sie sich in der Schweiz besonders herausbildet,
ist Bitzius unter allen seinen schweizer Genossen der vornehmste Repräsentant;
denn er ist unter den großen neuern Dichtern der Eidgenossenschaft der
einzige, bei dem von romanischem Einschlag nichts zu spüren ist, den doch
Keller, Meyer und Spitteler deutlich, ob auch in verschiednen Graden, auf¬
weisen. Und gerade von diesem Gesichtspunkte betrachtet gehört er wieder
aufs engste mit den beiden ihn als Dichter freilich überragenden Großen
zusammen, mit Hebbel und Rciabe. Er wird und kann ihre Stellung bei
uns im Reich nie erlangen, aber er darf uns nicht verloren gehn. Das
merkwürdige Schicksal, jahrzehntelang außerhalb der Lehrerseminare vergessen
zu sein, das er mit ihnen, mit Otto Ludwig und Eduard Mörike teilt,
soll ihn wie diese nun erst recht im deutschen Bewußtsein weit nach vorn
rücken. Er ist spröd, nicht jedem gleich zugänglich, aber echt in jedem Wort,
derb und dennoch auch wieder zart, Luthern, wie Bartels richtig sagt, in
vielem verwandt und alles in allem eine Natur, die in ihrem aufrechten
und aufrichtigen Wesen berufen ist, auf Jahre hinaus auf deutsche Herzen
zu wirken.
?^)<OW^
M/WH> on allen slawischen Bolksstämmen, die sich zur Zeit der Völker-
wandrung in den von den Germanen verlassenen Ländern an¬
gesiedelt hatten, besaß keiner ein so scharf von der Natur mar¬
kiertes Gebiet als der Stamm, der zwischen der untern Oder
und dem Unterlaufe der Weichsel wohnte. Sein Volkstum reichte
! von dem Ostseegestade viele Jahrhunderte lang bis zu den Flu߬
tälern der Warthe und Netze, wo breite, nur an sehr wenig Stellen überschreit¬
bare Sumpfwildnisse die schützende Grenze gegen Großpolen bildeten.
Die ersten historischen Nachrichten über diese Ostsecslawen jenseits des
Oderstroms verdanken wir germanischen Schriftstellern. Sie werden bei diesen
durch keinen Sondernamen von den übrigen Slawen unterschieden, immer nur
schlechthin als Slavoni, Slavi bezeichnet, so bei Adam von Bremen, dessen
Aufzeichnungen bis 1072 reichen, so auch bei Helmold und Saxo Grammaticus.
Nur wenig später als Adam von Bremen lebte der älteste Geschichtschreiber
slawischer Abstammung, der russische Mönch Nestor, der uns eine Einteilung
der gesamten slawischen Völkerschaften jener Zeit überliefert hat. Nestor er¬
zählt, daß ein slawisches Volk aus dem untern Donaulande auswanderte, sich
an der Weichsel niederließ und Lenden genannt wurde, „einige dieser Lachen
hießen nun Polen, andre Lutizier, andre Masovier, andre Pommern". Hier
zum erstenmal begegnet uns der Name Pommern, er war der Name, der die
Meeresanwohner zwischen Oder und Weichsel bezeichnen sollte, gebildet aus
der Präposition po — an und dem Hauptwort nor-is — Meer.
Hundert Jahre nach Nestor lebte Kadlubek, der älteste Geschichtschreiber
polnischer Herkunft. Er schrieb seine Chronik um 1200, zu einer Zeit, wo
das westliche Pommern bereits ein deutsches Lehnsherzogtum geworden war,
und Ostpommern, schon vor 997 von den Polen unterworfen, nur noch ein
geringes Maß polnischer Oberhoheit anerkannte. Kadlubek nennt das west¬
liche Pommern von der Oder bis zum Lebaflnß immer nur Pomerania und
Ostpommern, dessen Beherrscher er unberechtigterweise für polnische Statthalter
ansah, Pomorze oder auch Maritima.
Nur wenig Jahrzehnte, nachdem Kadlubek seine polnische Chronik ge¬
schrieben hatte, taucht für Westpommern ein neuer Name auf: „Ccissubia", *)
und zwar zuerst in den Urkunden Sucmtopolks, des ostpommerschen Fürsten,
der sich von Polen völlig unabhängig machte und sich selbst aux totius
?orliirisrg.niÄö nannte. Dieser Name Cassubia wurde von den Polen an¬
genommen. Der polnische Historiker Boguphal, dessen Chronik mit dem
Jahre 1250 abbricht, nennt die Bewohner Westpommerns OasKudiwö und
an einer Stelle auch OiWudas Sön Llavi.
Ungefähr um dieselbe Zeit machte man auch schon in Westpommern
selbst von dem Namem „Kassuben" Gebrauch. Die Herzöge dieses Landes
hatten sich gleich den polnischen Vasallen im Osten änoss I'ominoremme,
später genannt, aber schon seit der Mitte des dreizehnten Jahr¬
hunderts führen sie in Urkunden den Titel Äuoes Llavoruin et Og.83ni)la,s.
Ob nun aus dieser Nebeneinanderstellung von Slawien und Kassubien zu
schließen ist, daß Westpommern, also das Land zwischen Oder und Leba in
zwei Landschaften, Kassubien und Slawien zerfiel, mag dahingestellt bleiben.
Jedenfalls ist der Titel as Llavis. erst zu einer Zeit aufgekommen, als schon
der größte Teil des heutigen Vorpommerns, das Land der Lutizier, von den
westpommerschen Fürsten erobert worden war. Unter diesen Fürsten machten
gerade die bei der Teilung des westpommerschen Ländergebiets am ersten von
dem Titel als Slavias Gebrauch, denen die neuerworbnen Landstriche am linken
Oderufer zugefallen waren.
Auch eine Urkunde von 1260, worin der Bischof von Kammin die Fürsten
seiner Diözese mit xrinoixss Llavis, Lassubik se ?0in,in6ri>,mil.s anredet, be¬
weist durchaus nicht, daß unter „Kassubien" nur ein Teil Westpommerns ver¬
standen wurde. Mit xriveipes Slavis, (ÜWsudik waren wahrscheinlich die
Brüder Barnim der Erste und Wradislaw der Dritte gemeint, die ganz West¬
pommern besaßen, und der aux l^ommeranmö der Urkunde war wohl sicher
Suantopolk, der zu Danzig residierende Fürst, der die solange zu Wcstponlineri?
gehörenden und innerhalb des Sprengels des Bischofs von Kammin gelegnen
Landschaften Stolp und Schlawe 1227 an sich gebracht hatte.
Beweiskräftig ist auch eine zweite Urkunde nicht, die von pommerschen
Historikern als Beleg dafür angeführt wird, daß „Kassubien" im dreizehnten
Jahrhundert nicht das ganze westpommersche Gebiet umfaßte. Diese aus dem
Jahre 1289 stammende Urkunde enthält allerdings die Worte: cioininus wrrs
LslMrtli in <Hg,88ubig,. Da es aber außer Belgard an der Perscmte, das
hier gemeint ist, auch noch ein Belgard an der Leba nördlich von Lauenburg
gab, so konnte zur Unterscheidung von diesem zweiten in Ostpommern, also
in „Pommerania" liegenden Belgard in der Urkunde die Bezeichnung „in
Cassubia" gewühlt werden, gleichviel, ob Kassubien das ganze westpommersche
Herzogtum war oder nur eine Landschaft an der Perscmte.
Bei den westpommcrschen Schriftstellern bis zum siebzehnten Jahrhundert
begegnet uns übrigens niemals der Name „Kassuben" als Bezeichnung des
slawischen Teils der Bevölkerung. Immer ist nur von 8lavi die Rede, wenn
sie lateinisch, von „Wenden", wenn sie deutsch schreiben. Kantzow, der etwa
um 1540 die erste pommersche Geschichte in hochdeutscher Sprache schrieb, gab
einem Kapitel die Überschrift: „Von dem Ursprung der Völker und Lande
Pommern, Kassuben, Wenden, Stettin und Rügen" und erzählt: „Diese
Völker sind bis an das Christentum und einige Jahre danach überall wendisch
gewesen, und noch jetzt ist ein ganzer Ort in Hinterpommern, da nur eitel
Wenden sind", und an einer andern Stelle: „jetzt ist der Name Wende oder
Slawe, welches ein Ding ist, verachtet."
Zwei Menschenalter nach Kantzows Tode bereiste 1612 der Geograph
Ludim, um eine Karte des Herzogtums anzufertigen, ganz Westpommern. Er
schrieb, als er auf dem Wege von Pollnow nach Reinwasser Trebur berührt
hatte, in sein Tagebuch: „allhier sind wir allmählich uuter die Wenden ge¬
kommen". Dann spricht er nicht weiter von der Nationalität der Landes¬
bewohner, bis er auf der Rückreise nach Stettin in die Gegend von Stolpe
kommt, nach dem Dorfe Großendorf, von dem er berichtet: „hier ist kein
deutscher Mensch". Heute wird von der weiter westlich wohnenden deutschen
Bevölkerung die Gegend östlich von der Linie Trebur-Reinwasser, der ur¬
alten Grenze zwischen den Kastellcmeien Stolp und Schlawe, „Kassubei" ge¬
nannt, obgleich die slawische Sprache längst in einen Winkel des benachbarten
Kreises Bülow zurückgedrängt ist.
In gleicher Weise wird die Gegend von Stolp von den Bewohnern der
westlichen Nachbarkreise „Kasfubei" genannt. In Stolp selbst bezeichnet man
mit kassubisch nur noch den Bezirk an der untern Lupow und Leba, wo tat¬
sächlich slawisch sprechende Bewohner noch in den Kirchspielen Groß-Garde,
Charbrow, Zezenow, Schmolsin und Glowitz vorhanden sind. Die Gegend von
der obern Lupow bei Groß-Nossiu, Budow und Sawiat wird in Stolp nicht
als kassubisch angesehn, obgleich vor hundert Jahren auch dort noch in slawischer
Sprache gepredigt wurde und selbst bei der Zählung von 1867 noch einige
kassubisch sprechende Familien ermittelt worden sind.
Der Titel eines Herzogs der Kassuben und Wenden wurde von dein
pommerschen Fürstenhause beibehalten und ging auch nach dem Aussterben
desselben im Jahre 1637 auf die brandeuburgisch-preußischen Regenten über.
Für Ostpommern erhielt sich unter allen Landesherrschaften der lateinische Name
?om<zrkmig,. Die älteste Erwähnung des Landes in einem deutschen Text finden
wir in der Reimchronik des Mönches Jcroschin, die um 1330 verfaßt worden
ist, und in der mehrfach von „Pomerchnen" die Rede ist. Um 1380 finden
wir in Urkunden noch die Bezeichnung „Land zu Pommern", aber gegen das
Ende der Ordensherrschaft hat sich schon der noch heute nicht ganz in Ver¬
gessenheit geratene Name „Pommerellen" eingebürgert.
Viel später als der Name Pommerellen für das Gebiet des Deutschen
Ordens auf dem linken Weichselufer kam für den Teil, wo die von Süden aus
vordringende polnische Sprache das einheimische, altpommerische Idiom nicht
verdrängt hat, der Name Kassubien auf. Wie es zuging, daß der ursprünglich
den? ganzen westlichen Pommern oder vielleicht nur einem engern Gebiet am
Persantefluß zukommende Name auf die Kastellanci Stolp und daun auch auf
einen ostpommerschen Distrikt übertragen wurde, der nie in irgendwelcher Be¬
ziehung zu dem alten Kassubenlande gestanden hat, ist noch nicht aufgeklärt.
Es wird von pommerschen Chronisten berichtet, daß eine starke Abwandrnng
aus Westpommern nach dem Osten stattgefunden haben soll, als die Herzöge
des Landes von 1190 an deutsche Kolonisten heranzogen und mit allen denkbaren
Privilegien ausstatteten. Aber es lagen zwischen der Einwandrung mißvergnügter
oder auch mit Gewalt verdrängter Kassuben in ostpommersches "Gebiet und der
Übertragung des kassubischen Namens auf dieses doch zu lange Zeiträume,
als daß sie in Kausalnexus miteinander stehn könnten.
Sowenig wir imstande sind, nachzuweisen, seit welcher Zeit mit dem
Namen „Kassuben" alle Nachkommen der alten Pommern bezeichnet werden,
die nicht zum Gebrauch der deutscheu oder polnischen Sprache übergegangen
sind, so wenig können wir die Grenzen dieses heutigen kassubischen Sprach¬
gebiets nachweisen. Bei den Volkszählungen von 1890 und 1900 ist allerdings
der Versuch gemacht worden, die Personen kassubischer Muttersprache von denen
polnischer Zunge zu trennen, aber das Resultat der Zählung hing doch wesent¬
lich von der Einwirkung dritter ab und gab kein richtiges Bild von den
sprachlichen Verhältnissen in den ehemals ostpommerschen Landschaften. So
wurden im Jahre 1895 im Kreise Carthans 23000 Polen und 17000 Kassuben
gezählt, 1900 dagegen 43000 Kassuben, aber gar keine Polen, und ebenso
waren im Jahre 1900 alle Polen, die im Danziger Landkreise im Jahre 1895
vorhanden gewesen waren, aus den Zühllisten verschwunden. Andrerseits war
die kleine Schar slawisch sprechender Bewohner der Kreise Berent und Schlochau.
die sich 1895 als Kassuben eingesehn hatten, dort 1600 und hier 1100 Köpfe
stark, im Jahre 1900 zu der Erkenntnis gelangt, daß sie Polen wären.
Im großen und ganzen wird man die alte Heeresstraße von Konitz nach
Dirschcm als die Grenzlinie ansetzn dürfen, bis zu der die polnische Sprache das
kassubische Idiom völlig verdrängt hat. Nördlich von dieser Linie hat sich das
Kassubische als Volkssprache erhalten. Möchte es so bleiben, möchten die
Kassuben sich doch endlich besinnen, daß sie die Nachkommen der alten Pommern
und nicht Polen sind. Die deutsche Intelligenz ihrer Heimatlandschaft kommt
ihnen freundlich entgegen. Weit entfernt, daß der kassubische Name in diesen
gebildeten Kreisen noch mit Nichtachtung genannt würde; im Gegenteil, man
zeigt, daß man auch auf deutscher Seite auf das kassubische Heimatland ge¬
wissermaßen stolz ist, wie denn auch schon Vereine, die ausschließlich oder der
Hauptsache nach aus Deutschen bestehn, sich die Bezeichnung „kassubisch" bei¬
gelegt haben.
Zu diesen Vereinen zählt erfreulicherweise auch einer, der alles auf die
Volkskunde im weitesten Umfange bezügliche Material zu sammeln bestrebt ist,
vor allem aber sich die Erhaltung und Pflege der kassubischen Sprache zum
Ziel gesetzt hat.*)
Die Zeiten haben sich geändert. Im November 1813 durfte Goethe, ohne
Anstoß bei seinen Zeitgenossen zu erregen, die herben Worte sprechen: „Franzosen
sehe ich nicht mehr, es ist wahr, dafür aber Kosaken, Baschkiren, Kroaten und
K
er Rechtsanwalt aus Helgeland und der Geschäftsreisende waren be¬
leidigt. Der junge Mann hatte sie so gänzlich im Stich gelassen,
erst den ganzen Vormittag, und sich dann bei Tische demonstrativ
einen Platz oben neben dem Oberlehrer und seiner Tochter geben
lassen, und nun am Nachmittag schlenderte er ganz geistesabwesend
I mit seiner Zigarre auf Deck herum.
Der Rechtsanwalt näherte sich ihm.
Nun, Herr Kandidat, Sie haben angenehme Gesellschaft gefunden!
Svend Bugge sah ihn verständnislos an.
Das Mädel ist hübsch! sagte der Rechtsanwalt spöttisch.
Das Mädel — Meddel? Ach ja — ja, nicht übel!
Oder übt der alte Vater die Anziehungskraft aus?
Ein merkwürdiger Manu! Ein höchst interessanter Mann!
Ein paar von den andern Passagieren kamen herzu, sie redeten über das
Wetter, und Svend Bugge zog sich zurück. Ganz hinten auf Deck blieb er stehn.
Oben auf dem Promenadendeck gewahrte er den Oberlehrer und das Fräulein.
Sie standen dicht nebeneinander, sie mit ihrem Arm in dem seinen. So hatten
sie seit dem Mittagessen in tiefem Gespräch gestanden. Und er wagte nicht, sich
aufzudrängen. . . .
Das Mädel! murmelte er plötzlich, mit den Augen zwinkernd. Ach ja, ganz
hübsch war sie freilich. Aber ein wenig eingebildet und sicher, frisch aus dem
Pensionat in Lausanne! Eigentlich schön? Ach nein, aber äußerst nett und fein,
zierlich und klein mit ein Paar großen, klugen Augen.
Er sah wieder zu den beiden auf. Ihren Vater liebte und bewunderte sie, daß es
nur so eine Art hatte! Und er sie. Ach Gott, wie verliebt er in sie war . . .
Schon seit einer kleinen Weile hatte es angefangen, so ganz vorsichtig, gleichsam
warnend zu schaukeln. Und nun wurde es immer stärker.
Das Fräulein kam die Treppe herunter.
Nun, gnädiges Fräulein, geht es wieder los?
Ich bin nicht seekrank, ich gehe nur hinunter, um mich hinzulegen, damit ich
es nicht werde.
Der Oberlehrer brachte sie hinunter, kam aber bald zurück.
Sie werden nicht seekrank, Herr Oberlehrer?
Ich! Ein alter Nordlandfischer! Ach nein!
Es wurde bald lästig, umherzugehn, so setzten sie sich denn jeder in einen be--
quemen Stuhl auf dem Achterdeck.
Also Sie wollen sich dem Mittelalter widmen? Hin, ja! Das interessiert mich«
im höchsten Grade, das Mittelalter! Ja, da küßt sich etwas machen!
Ja, hierzulande ist darin fast noch nichts geleistet worden!
Nun nun, etwas ist denn doch geleistet worden, Sie dürfen nicht vergessen ...
Nein, natürlich. Verzeihen Sie — aber da ist es wieder, ich meine es ja-
nicht so . . .
Sie müssen mir etwas darüber erzählen, wie Sie die Sache anzugreifen denken,
es interessiert mich so außerordentlich.
Hin, ja — ich bin mir auch noch nicht ganz klar darüber. Aber seit meiner
Knabenzeit habe ich eine so brennende Lust zum Mittelalter gehabt, ach, so große
Pläne hatte ich damals! Jetzt freilich fasse ich die Sache weniger hitzig an —
nach dem Examen im vorigen Jahre bin ich nur gereist. Zuerst mit einem Fracht¬
schiff bis Bombay, dann eine Spritztour durch Vorderindien und ein wenig nach
Hinterindien hinein, nach Singapore und Batavia. Das tat ich hauptsächlich, um
mich nach der Examenarbeit zu erholen.
Gewiß außerordentlich interessant?
Ach! Durch das Rote Meer, wissen Sie, der eignen heimatlichen Welt den
Rücken zugewandt, und hinab zu einer andern, einer unbekannten, gewaltigen, mit
Kalkutta als Zentrum, so wie Paris unser Zentrum ist, und London — ah! Und
dabei kostete es mich nichts! Als ich wenigstens die Verpflegung bezahlen wollte,
nahmen sie nichts, und ich hatte doch tausend Kronen von einer alten Tante geerbt.
In Brindisi ging ich an Land und fing von unten auf mit Europa an.
Bis Rom?
Nein, denken Sie nur — nein, ich war nicht in Rom!
Nicht in Rom?
Ich reiste durch ganz Italien und bis München durch — in einer Tour!
Sie haben sich Italien nicht angesehen! Und Sie wollen das Mittelalter
ergründen!
Ich hatte nicht den Mut, Herr Oberlehrer! Ich fuhr durch Italien wie durch
ein Feuer, das brannte. Es war zu früh. Und die Zeit war zu kurz. Nein, Rom
und Italien, das kommt in ein paar Jahren, wenn ich finde, daß ich etwas kann,
etwas von den Fundamenten verstehe! Sie waren in Rom, Herr Oberlehrer?
Ach ja, in meiner Jugend.
Seitdem nicht wieder?
Der Alte legte die Hand über das Gesicht und sagte:
Mein Gott, nein!
Ja, dahin will ich natürlich. Ich will einige Jahre dort wohnen.
Je länger um so besser! Vergessen Sie das nicht!
Ja, natürlich. In zwei Jahren bekomme ich ein Stipendium. Bis dahin
will ich in der Heimat graben. Dann muß ich nach Holland und Belgien . . .
Und nach England!
Selbstverständlich!
Aber Italien, Italien! Das Mittelalter, sehen Sie, mag es nun unser heimat¬
liches in Norwegen oder wo sonst in der Welt sein, erst in Italien lebt man im
Mittelalter, eignet sich seine tiefe Stimmung an — namentlich in Rom, in Siena,
und an Assisi darf man nicht vorüberreisen, sehen Sie, Assisi, mit Franziskus und
Cimabue und Giotto . . .
Die Stunden gingen an dem schönen grauen Sommertag über den Foldenfjord
dahin mit verschleierter Sonne und glitzernden, hohen Nordmeerwogen draußen
am offnen Horizont. Und Oberlehrer Haut Paffte seine lange Pfeife und erzählte
von Assisi und Franziskus und Cimabue und Giotto, von den Ebenen Andricus,
die er in seiner Jugend bis Perugia durchwandert hatte, und Sven Bugge saß
ba und lauschte mit seinem wunderlichen, scharfen Blick ganz still.
Es war gedrängt voll von Passagieren auf dem Schnelldampfer, aber Ober¬
lehrer Haut und seine Tochter hielten sich exklusiv für sich, zusammen mit dem
jungen Kandidaten Bugge. Im Laufe des zweiten Reisetags hatte sich die Freund¬
schaft ganz befestigt, und Svend Bugge fürchtete nicht mehr, zu stören oder auf¬
dringlich zu sei». Der alte Pädagog war ganz glücklich. Seine Augen strahlten,
mochten sie nun mit Stolz und unsagbarer Zärtlichkeit auf der Tochter ruhen,
oder mochte er Svend Bugges jugendliche Ausgiebigkeit auf sich herabregnen lassen.
Er war selbst auf seiue el» wenig drollige Weise ein vorzüglicher Erzähler, und
das wunderbare Küstenland, an dem sie entlang fuhren, wurde ihnen nahe, wurde
lebend durch seine Schilderung von dem Leben und den Taten der Menschen
dadrinnen, er kannte das alles aus und ein von seiner Kindheit und Jugend her.
Als sich der Abend des zweiten Tages neigte, wich der Wolkenschleier, und
t>le Sonne flammte im Nordwesten auf. Das Schiff glitt zwischen den Sunden
dahin mit gedämpftem Widerhall an den kühlen hellgrünen Felswänden, die mit
kleinen Birken und kleinen Häusern bestanden waren. Leise plätscherten die Ktel-
wasferwellen auf den weißen Strandlinien. In tieferen und tieferen Gold erglühten
die Zinnen dadroben mit schneeweißem Aufleuchten dazwischen.
Ans dem Achterdeck und dem Promenadendeck saßen die Passagiere gruppen¬
weise, alle gefesselt von den vorübergleitenden Bildern. Die Gespräche wurden
leise, fast flüsternd in allen Sprachen geführt. Eine Schar Möwen flatterte über
,dem Kielwasser mit Gurren und Geschrei und tauchte ihre weiße Brust und die
Schwingen in den Meeresschaum.
Oberlehrer Haut und seine Tochter weilten allein für sich an der Reeling
oben auf dem Promenadendeck. Sie hatten jetzt lange geschwiegen und saßen beide
im und sahen in die Ferne.
Zwei Stunden nach Mitternacht würden sie am Ziele sein.
Der Oberlehrer streichelte seiner Tochter Hand, die auf der Lehne des Korb¬
stuhls lag.
Ja, nun wird sich die Mutter freuen, Berry!
Ach ja! — die Mutter!
Sie schwiegen wieder. Dann fragte sie: Mutter ist doch ganz wohl jetzt?
Ach ja! Man kann es wohl sagen, gottlob! So gesund, wie Mutter werden
Zaum. Sie ist ja so zart.
Aber in allen ihren letzten Briefen war sie so zufrieden . . .
Du weißt, Mutter klagt nie.
Nein.
Sie ist eine Heldin. Kind! Eine Heldin!
Ach, wie herrlich, wieder nach Hause zu kommen und ihr zu helfen!
Ja, Gott segne dich, Kind! Du wirst mit Sehnsucht erwartet. Und nun freut
sich die Mutter!
Er fuhr fort, ihre Hand schweigend zu streicheln, während er über die Reeling
hinaussah. Lange. Auf seinem Gesicht blieb das Lächeln liegen wie ein Wider-
schein des Gedankens: Nun freut sich die Mutter! Und Berry saß bei und sah
ihn an mit unbewußten Trauer in den großen, warmen Augen.
Verzeihen Sie! Svend Bugge nahm die Mütze ab. Der Steward folgte ihm
mit einem Teebrett. Darf ich den Herrschaften nicht ein Glas Rheinwein anbieten,
da Sie ja doch aufbleiben wollen! Er war ein wenig geniert.
Nein nein nein! Wollen Sie uns traktieren!
Ja — Hin, es war eigentlich so eine Art Vorwand — die Stunden, die wir
noch vor uns haben, hier sitzen zu dürfen . . .
Vielen Dank! Ja, herzlichen Dank! Aber ich saß hier eben und dachte darüber
nach, wie ich Sie Wohl finden könnte, denn ich wollte ja . . .
Sie sind bisher immer der Wirt gewesen, Herr Oberlehrer, da finde ich, darf
ich auch einmal . . . Svend Bugge schielte ein wenig mißtrauisch zu Fräulein Berry
hinüber, ihr Lächeln beruhigte ihn aber.
Der Wein wurde eingeschenkt, und man stieß ans den schönen Abend an. Aber
Svend Bugge war nervös und schweigsam, seine arme Reisemütze war in beständiger
Bewegung.
Ja, wir haben eine gemütliche Reise miteinander gehabt! sagte Ober¬
lehrer Haut.
Ich kann Ihnen nicht genug danken! sagte Svend Bugge.
Ich denke, wir haben zu danken, Berry, nicht wahr?
Berry erhob das Glas und sah Svend Bugge offen und warm an. Dann
schwiegen sie alle eine Weile.
Da ist etwas — sagte endlich Svend Bugge — da ist etwas, wonach ich
Sie gern fragen möchte . . .
Nun? Der Oberlehrer wandte sich ihm freundlich zu.
In dieser Stadt hier, wo Sie also aussteigen, ist da — gibt es da ein Hotel,
wo man als Fremder einkehren kann?
Natürlich gibt es da Hotels!
Die Sache ist nämlich die, daß ich eine so wahnsinnige Lust habe, noch ein wenig
mit Ihnen zusammen zu sein . . .
Lieber junger Freund!
Aber ich möchte ja auch nicht aufdringlich sein — und dann — ja, dann ...
Svend Bugge schob die Mütze ganz in den Nacken und beugte sich energisch vorn¬
über: Dann wollte ich Sie bitten, mir ganz offen zu sagen, ob Sie es aufdringlich
finden — und unangenehm und sozusagen — unbescheiden, wenn ich Sie um Er¬
laubnis bitte, in Ihrer Nähe sein zu dürfen ... in einem solchen Hotel also —
und Sie zuweilen zu sehen . . .
Lieber lieber Freund, Sie könnten mir keine größere Freude machen! Ober¬
lehrer Haut erhob das Glas. Svend Bugge erhob das seiue und lächelte, jetzt
noch mehr geniert des Weines wegen, mit dem er die beiden traktiert hatte, als
falle gerade jetzt ein besonders komisches Licht darauf.
Auch Berry nahm ihr Glas und sagte lächelnd: Ich kann wirklich nicht ein¬
sehen, wer Ihnen verbieten sollte, in dem Hotel in der Stadt zu wohnen, solange
Sie wollen!
Der Oberlehrer lachte ebenfalls. Svend Bugge nahm die Mütze ganz ab und
strich sich über die Stirn. Er hatte seine gute Laune wiedergefunden und stimmte
in das Lachen ein.
Nein, ich will Ihnen nämlich sagen, ich reise ja ohne irgendeinen andern
bestimmten Plan, als diese Gegend hier zu sehen. Und dann — ja, das ist
eigentlich erst über mich gekommen, seit ich Sie traf, und Sie so überaus gut
gegen mich waren — es wird nun sonderbar trübselig für mich sein, so allein
weiter zu reisen! Seit vierzehn Monaten habe ich ja nicht einen einigermaßen
bekannten Menschen getroffen! Und Sie, Herr Oberlehrer, kenne ich doch gewisser¬
maßen alle die Jahre, die ich zurückdenken kann! Ja, so ist es. Es mag närrisch
klingen. Aber das kommt wohl zum Teil von Ihrer Weltgeschichte — und von
Rektor Holst . . .
Sie sollen uns herzlich willkommen in unserm Heim sein. Wären wir in der Lage
gewesen, würden wir Sie gebeten haben, bei uns zu wohnen, aber der Platz ...
Ach nein, ich will ja auch nicht unbescheiden sein! Aber wenn ich nur ein
wenig mit Ihnen Zusammensein darf, ich — ich kenne so schrecklich viel von Ihnen —
und es ist ja noch ein ganzer Monat, bis die Ferien aus sind!
Es ging stark auf Mitternacht. Der Oberlehrer ging hinunter, um seinen
Tabakbeutel zu holen, und die beiden jungen Leute blieben schweigend sitzen. Er
betrachtete ihr Gesicht, das sie ihm im Profil zuwandte, indem sie zu den Bergen
hinüberstarrte. Sie hatte lange so gesessen, ganz dem Gespräch entrückt, plötzlich
war sie aufgestanden, um hinüberzuspähen.
Sind Sie eigentlich Berry getauft?
Sie fuhr in die Höhe, sah ihn einen Augenblick fragend an, lächelte dann
und sagte:
Ich habe den lächerlichsten Namen von der Welt. Ich bin Benjamins getauft!
Dann sind Sie nach jemand genannt?
Nein, nicht daß ich wüßte.
Also nur „meiner Freude Tochter"!
Ja, das muß es Wohl sein, nehme ich an, und Mutter war mehrere Jahre
verheiratet gewesen, ehe ich geboren wurde.
Und Sie sind die Älteste?
Ja, wir sind nur zwei. Julius, mein Bruder, ist viel jünger als ich, er
ist erst zwölf Jahre.
Und nun sind Sie in Lausanne und in Paris gewesen und haben Weisheit
und feine Manieren gelernt?
Was die Manieren anlangt, so könnte Ihnen ein Kursus auch nicht schaden!
Finden Sie das?
Ach ja — eine ganze Menge Weisheit können Sie übrigens auch noch brauchen.
So—o?
Die wahre Weisheit macht sich nämlich nicht wichtig.
Ich möchte wohl wissen, wer sich wichtiger macht, Sie oder ich!
Ach — Sie. Ich finde, daß Sie ein bißchen eingebildet sind.
Ich verstehe Sie ganz gut! Das ist meine Strafe, weil ich mich Ihnen auf¬
gedrängt habe und mit Ihnen an Land gehen will . . .
Lieber Herr Bugge! Sie drängen sich doch mir nicht auf! Halten Sie sich
nur an Vater, denn dann sind Sie wirklich ganz erträglich.
Er ist ein herzensguter Mann.
Ja, das ist er — Sie müssen wissen — Ach, da sieht man die Stormaas-
spitze — ach nein — Vater! Sie sprang auf und sah die Treppe nach ihm
hinunter und lehnte sich dann über den Rand des Verdecks.
Gleich darauf kam der Oberlehrer und ging zu ihr hin. Svend Bugge hielt
sich zurück. Man hatte noch eine Stunde bis zum Ziel der Reise. Endlich ging
er hinunter, packte seinen Handkoffer, bezahlte und löste ein Billett.
Als er wieder hinauf kam, ertönte die Dampfpfeife. Der Oberlehrer und
Berry kamen vom Promenadendeck herunter.
Wir sind da! rief sie und lief an ihm vorüber.
Sie glitten in die kleine Stadt hinein, die so ruhig in der Mitternachtssonne
schlief unter dem grünen Berghang mit dem Birkenwald und den zierlichen Villen.
Die Maschine gab das Signal zu stoppen. Verschlafne Passagiere mit ihren Koffern
tauchten auf. Berry und der Oberlehrer standen über die Reeling gebeugt und
winkten.
Auf dem Quai war eine Handvoll Leute versammelt. Dahinter hielten eine
Schubkarre und ein Arbeitswagen. Ein wenig von der Menge abgesondert stand
eine große schwarze Dame mit einem Jungen neben sich. Sie beantworteten das
Winken.
Es klirrte und klingelte. Der Propeller donnerte und hatte. Taue wurden
am Deck entlanggezogen, Kommandorufe ertönten oben von der Brücke.
Mutter! Mutter! Guten Tag, Mutter! rief Berry, aber ihre Stimme wurde
Von Weinen erstickt. In demselben Augenblick, wo die Landungsbrücke an Bord
gelegt wurde, war der halbwüchsige Junge hinüber und lag in Bennys Armen.
Der Knabe war lang und aufgeschossen mit einem weichen Gesicht und großen,
unbeschatteten Augen. Er nahm ihr Handgepäck, und sie selbst sprang über die
Brücke und fiel der großen, schwarzen Dame um den Hals.
Der Oberlehrer kam hinterdrein. Es herrschte ein Gedränge auf der
Landungsbrücke von denen, die an Land wollten, und von denen, die sich an Bord
drängten.
Svend Bugge stand auf dem Achterdeck und beobachtete die Familienszene auf
dem Quai mit Spannung. Der Oberlehrer stand lächelnd und nickend hinter Berry.
Die große Dame befreite sich bald aus ihren Umarmungen und streichelte ihr die
Wangen. Dann reichte sie dem Oberlehrer die Hand.
Sie war ungewöhnlich mager und lang. Sie trug einen glatten schwarzen
Nock und über den Schultern eine Mantille. Das Asketische, das über der ganzen
Gestalt lag, triumphierte in dem magern Gesicht mit den beiden fast unheimlich
großen Augen, nnbeschattet wie die des Sohnes und seltsam scharf trotz der bla߬
blauen Farbe. Die Ähnlichkeit mit Berry war auffallend, wenn auch zwei Ge¬
sichter kaum Zeugnis von einer größern Verschiedenheit der Seele ablegen konnten.
Und der Unterschied lag in den Augen. Bennys waren auch groß wie die der
Mutter. Aber sie hatten den warmen Glanz der Augen des Oberlehrers unter
den dunkeln starken Brauen.
Als Frau Haut jetzt lächelte, hatte sie einen Ausdruck des Leidens, Und als
sie sich von Berry umarmen ließ, geschah es mit einem sonderbaren Zurückhalten
des eignen Selbst. Sie war so gerade, daß es fast aussah, als habe sie kein Gelenk
in ihrem Körper.
Endlich überschritt auch Svend Bugge die Landungsbrücke, den Koffer in der
einen Hand, die Plaidrolle in der andern. Er blieb stehn und wartete, während
Fräulein Bennys Gepäck auf den Arbeitswagen geladen wurde.
Nein nein nein! wir vergessen ja . . .! Oberlehrer Haut wandte sich um und
gewahrte Svend Bugge. Sieh hier, Juliane, unser lieber Reisekamerad, Kandidat
Bugge — meine Frau! Herr Bugge geht mit uns an Land; ich habe ihm gesagt,
daß wir ihn gern beherbergt haben würden, wenn wir Platz gehabt hätten . . .
Svend Bugge verneigte sich tief. Frau Haut sah ihn an, grüßte und lächelte
müde, als seien ihre Kräfte erschöpft, als sei sie nicht, wie sie es gern gewollt
hätte, imstande, weitere Opfer zu bringen.
Ich will mit Ihnen nach dem Hotel gehn, sagte der Oberlehrer, aber nein
da ist ja unser guter Arstad, der Portier des Hotels.
Er wurde von seinem Gepäck befreit.
'
Das Hotel ist hier ganzin der Nähe . . .!
Er verneigte sich wieder.
Adieu! sagte Berry und gab ihm die Hand. Und noch vielen Dank für die
angenehme Reisegesellschaft! Und auf Wiedersehen morgen bei uns!
Svend Bugge lag in seinem Hotelbett.
Er dachte an tausenderlei Dinge, völlig wach, wie er war. Aber wieder und
wieder kehrten zwei Beobachtungen tu sein Bewußtsein zurück, alles andre ver¬
drängend: Frau Haut hatte ganz eigentümliche Augen, und des Oberlehrers Stimme
hatte plötzlich Klang und Charakter verändert, sobald er an Land gekommen war.
Sie war sanft und vorsichtig, fast ängstlich vorsichtig — wie in einem Kranken¬
zimmer. Und in allem, was er sagte, lag gewissermaßen eine Entschuldigung, als
bitte er um Erlaubnis.
Ausgesprochner Pantoffelheld!
Er hatte den blassen Jungen begrüßt und ihn gefragt, wie er heiße. Julius
Hage Haut, hatte er geantwortet.
Er war also nach dem Großvater genannt.
(Fortsetzung folgt)
Über die Reichsfinanzreform ist in der vergangnen Woche die erste halb¬
amtliche Mitteilung erschienen. In der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung sind
die Grundzüge der Reform, soweit sie jetzt feststehn, in einem längern Artikel
dargelegt worden. In gewissen Punkten ist freilich die allgemeine Neugier nicht
befriedigt worden: von den einzelnen Steuerprojekten ist in dem halbamtlichen Auf¬
satz nichts Bestimmtes enthalten. Der Grund ist natürlich darin zu suchen, daß
die Entscheidungen der mit den Vorarbeiten betrauten Behörden noch nicht abge¬
schlossen sind. Auch wäre es nicht zu empfehlen, schon mit Einzelheiten an die
Öffentlichkeit zu treten, ehe der Bundesrat sein Wort dazu gesprochen hat. Aber
es ist vielleicht aus einem andern Grunde ganz gut, daß in den Auseinander¬
setzungen über die Reichsfinanzreform die Frage, welche einzelnen Steuern vor¬
geschlagen werden sollen, zunächst einmal zurücktritt. Denn es mag ja sehr be¬
greiflich sein, daß jeder an erster Stelle gern wissen möchte, wo die Steuerschraube
angesetzt werden soll, richtig aber ist es nicht, daß die Erörterungen über die
Reform imnier nur in Fragen dieser Art stecken bleiben. Es ist die höchste Zeit,
daß sich die Aufmerksamkeit der in dem Reformplan enthaltnen Gesamtheit von
finanzpolitischen Aufgaben zuwendet. Sonst wiederholt sich immer wieder der Ver¬
lauf der Sache, den wir nun schon oft genng erlebt haben.
Das unerfreuliche Bild der bisherigen Reformversuche darf aber nicht wieder¬
kehren. Einsichtige und erfahrne Finanzmänner haben sich redlich bemüht, allen
möglichen Einnahmequellen nachzugehn, um endlich das Gleichgewicht zwischen Ein¬
nahmen und Ausgaben des Reichs herzustellen. Der Reichstag aber stellte sich in
seiner Mehrheit auf den Standpunkt mittelalterlicher Stände, die die Bewilligung
von Geldmitteln für gemeinsame Zwecke als eine dem Staatsoberhaupt erwiesne
Gefälligkeit zu betrachten pflegten. Die Regierung erschien als fordernder Teil,
während der Reichstag berufen schien, lediglich Sonderinteressen wahrzunehmen.
Die erste Arbeit war dann regelmäßig, durch allerlei budgettechnische Kunststücke
den wirklichen Geldbedarf rechnungsmäßig so herunterzudrücken, daß nicht die volle
Summe bewilligt zu werden brauchte. Dieses Scheinmanöver sollte dann die in
der Sache gar nicht vorhandne Sparsamkeit markieren. Der Neichsschatzsekretär
sagt beispielweise: Wir brauchen 230 Millionen. Der Reichstag aber macht ein
paar elegante Rechenkunststücke und verkündet der Welt: Das ist nicht wahr! Wir
brauchen nur 160 Millionen! Dann steht der Schatzsekretär wie ein armer Schächer
da. und der Reichstag ist von der Gloriole der Volkstümlichkeit umstrahlt. Nur
schade, daß die fehlenden 70 Millionen dann doch in irgendeiner Form früher
oder später „gepumpt" werden müssen! Die weitere Arbeit pflegte dann darin
zu bestehn, daß die vorgeschlagnen Einnahmequellen einer Kritik unterzogen wurden,
aber nicht, wie es berechtigt gewesen wäre, um festzustellen, wie die notwendigen
Opfer auf möglichst erträgliche und vor allem gerechte Art gebracht werden könnten,
sondern um die Sache für die lautesten Schreier möglichst glimpflich zu gestalten.
Immer aber stand nur die Frage der Deckung des augenblicklichen Bedarfs im
Vordergrunde, und man gewöhnte sich allmählich daran, die Sache nur von dieser
Seite anzusehen.
Und doch ist die Aufgabe eine ganz andre. Das Reich muß in den Stand
gesetzt werden, sich ein für allemal die Mittel zu verschaffen, die es zur Erfüllung
der ihm nach Verfassung und Reichsgesetzgebung zufallenden Pflichten braucht. Wenn
auch kein Gemeinwesen dem Grundsatz einer guten Privatwirtschaft folgen kann, die
Ausgaben nach dem Stande der Einnahmen einzurichten, vielmehr umgekehrt die
Beschaffung der Einnahmen dem Ausgabcbedarf anpassen muß, so ist doch dieser
Ausgabebedarf selbst nichts Willkürliches, sondern durch Interessen bestimmt, die
mit dem Nntionalwohlstande — also der Grundlage aller Einnahmequellen — in
engem Zusammenhange stehn. Es ist also zwar richtig, daß in der Finanzwirtschaft
des Staats zunächst die Frage gestellt wird, was notwendig ausgegeben werden
muß, um dann das dafür notwendige Geld zu schaffen, aber bei der Bewilligung
der Ausgaben darf doch der Überblick über die gesamten volkswirtschaftlichen
Wirkungen solcher Beschlüsse nicht verloren gehn. Und deshalb muß die Verant¬
wortung für die Ausgaben und für die Verfügung über die Einnahmequellen stets
so in einer Hand liegen, daß ein wirklicher innerer Zusammenhang hergestellt
werden kann.
Daran hat es bisher im Reiche gefehlt. Die Einnahmequellen, über die das
Reich unmittelbar verfügte, haben seit vielen Jahren nicht mehr ausgereicht, den
Ausgabebedarf zu decken. Das Reich hatte also eigentlich seit Jahren stets ein Defizit,
nur war es ein verfassungmäßig sanktioniertes Defizit, insofern als die Einrichtung
der Matrikularbeiträge verhinderte, daß es ein formelles Defizit im finanztechnischen
Sinne wurde. Die Finanzwirtschaft des Reichs bestand also im wesentlichen darin,
daß über die eignen Einnahmen hinaus Ausgaben bewilligt wurden, worauf dann
die Einzelstaaten für den Riß einzustehn hatten. Ja dieses im Kern ungesunde
Verhältnis wurde lange Zeit hindurch künstlich herbeigeführt, als das Zentrum aus
parteipolitischer Gründen in der olausula Franckenstein eine Einrichtung geschaffen
hatte, die das Reich zwang, selbst in der Zeit, als seine eignen Einnahmen noch zur
Bestreitung der Ausgaben ausreichten, auf einen Teil dieser Einnahmen formell zu
verzichten, um sie in Gestalt von Matrikularbeiträgen — zuerst größtenteils, später
vollständig — von den Einzelstaaten wieder zu empfangen. Das Zentrum hat diese
Politik, die eignen Einnahmen des Reichs der freien Verfügung zu entziehn, um die
Reichsfiuanzeu immer mit der Finanzwirtschaft der Einzelstaaten zu verquicken, bis
in die neuste Zeit fortgesetzt. Denn noch die Reform des Zolltarifs mußte die
Gelegenheit geben, einen Teil der Einnahmen für die Zwecke der künftigen Witwen-
nnd Waisenversicherung festzulegen. Ein Schulbeispiel für die Popularitätshascherei
einer Partei durch Vorschieben einer sozialen Forderung zur Unzeit, wobei wichtigere
Forderungen einer verständigen Finanzpolitik in die Brüche gehn. Nicht minder
hat auch der liberale Doktrinarismus auf diesem Gebiete gesündigt. Denn er ver¬
sperrte durch seine Übertreibungen in der Verurteilung der gerechtesten und ein¬
träglichsten indirekten Steuern dem Reich gerade die Einnahmequellen, auf die es
angewiesen ist. Aus allen diesen Auffassungen erwuchsen der Reichssinanzreform
Hindernisse; denn wenn es auch gelang, einige neue Steuern ausfindig zu machen,
so deckten sie doch im günstigsten Falle nur den augenblicklichen zufälligen Bedarf,
während der eigentliche Zusammenhang zwischen Ausgabenbewilligung und Ein¬
nahmenbeschaffung nach wie vor fehlte.
Jetzt soll nun zum erstenmale System in die Finanzwirtschaft des Reichs ge¬
bracht werden. Der halbamtliche Artikel der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung
stellt dies mit aller Schärfe und Deutlichkeit in den Vordergrund. Man empfindet
es allerdings als eine dringende Notwendigkeit, daß mit Bestimmtheit ausgesprochen
wird, wie wenig die Aufgabe der Reform durch das Aufsuchen neuer Einnahme¬
quellen erschöpft wird. Gegenüber der sich schnell steigernden Schuldenzunahme ist
— so heißt es in dem Artikel — „eine Stabilisierung des Auleihewesens und des
Kursstandes eine unbedingte Verpflichtung der Reichspolitik. Die Einleitung einer
stetigen Schuldentilgung sowie Vorkehrungen gegen weitere Vermehrung der Schulden
für unproduktive Anlagen müssen daher im Vordergrunde der Reform stehen."
Die Zunahme unsrer Reichsschulden hat man freilich im Auslande — und
leider infolge tendenziöser Darstellung auch hier und da im Inlande — unter einem
falschen Gesichtspunkt beurteilt. Man hat daraus auf einen Rückgang unsrer Volks¬
wirtschaft geschlossen. Besonders in Frankreich und England liebäugelt man förmlich
mit dem Gedanken, daß die finanziellen Lasten, die wir infolge unsrer militärischen
Rüstung und infolge des angestrengten Wettbewerbs mit andern Weltmächten tragen,
uns ruiniert haben. Nach dieser Ansicht müßte das deutsche Volk über kurz oder
lang völlig zusammenbrechen. Wer sich dieser Hoffnung getrösten zu können glaubt,
wird allerdings eine starke Enttäuschung erleben. Diese Bedeutung haben die zu¬
nehmenden Schulden des Reichs ganz und gar nicht. Denn sie sind noch immer,
und selbst bei weiteren, reichlichem Anwachsen, vollauf gedeckt durch das National¬
vermögen und die Aktiven des Reichs. Darüber haben die Grenzboten vor nicht
langer Zeit zuverlässiges Material mitgeteilt. Die Finanzkraft des deutschen Volks
ist also keineswegs erschöpft. Dennoch sind die zunehmenden Schulden ein Übel,
weil ihre Verzinsung eine unnötige Ausgabenlast schafft, und weil von ihnen eine
Beeinträchtigung des nationalen Kredits ausgeht. Weiter wird mit Recht auch das
Sinken des Kursstandes infolge Überlastung des Kapitalmarktes hervorgehoben, mit
allen den Schädigungen der Volkswirtschaft, die daraus hervorgehn.
Die Aufgabe einer planmäßigen Schuldentilgung setzt ein dauerndes Gleich¬
gewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben voraus. Es ist aber erfreulicherweise
nicht nur von Erhöhung der Einnahmen, sondern auch von Einschränkung der Aus¬
gaben die Rede. Das wird große Schwierigkeiten haben, und man kann sich nicht
wundern, daß diese Ankündigung zwar freudig begrüßt, aber auch mit starken
Zweifeln begleitet wird. Man sollte meinen, auf Sparsamkeit habe doch der Reichstag
bisher zur Genüge gedrückt. Aber trotzdem hat sich manche Luxusausgabe ein-
geschlichen, namentlich in Bauten und öffentlichen Arbeiten des Reichs, und es ver¬
dient immerhin Zustimmung, daß hier der Versuch gemacht werden soll, überflüssigen
Aufwand zu vermeiden. Wichtiger noch ist die zum erstenmale von amtlicher Seite
unumwunden anerkannte Notwendigkeit einer Verwaltungsreform, die den übergroßen
bureaukratischen Apparat einschränken und dadurch Ersparnisse möglich machen soll.
Hier öffnet sich ein überaus weiter Ausblick. Die Reichsfinanzreform würde auf
diese Weise den Anstoß zu Verbesserungen in unserm Staatswesen geben, die in
unsrer Zeit von außerordentlicher Bedeutung sind. Sie würden dazu beitragen,
die Staatseinrichtungen dem Verständnis der im praktischen Erwerbsleben stehenden
Bürger näher zu bringen, ihm den Staat ohne Perücke und Zopf zu zeigen.
Dezentralisation der Verwaltung und Anpassung der Formen des Geschäftsverkehrs
der Behörden an die des modernen Verkehrs können große Ersparnisse herbeiführen,
wenn sie mit der Entschiedenheit durchgeführt werden, die zur Überwindung alter
Vorurteile und Gewohnheiten gehört.
Erst an letzter Stelle ist von der Vermehrung der Einnahmen durch Steuer¬
erhöhungen die Rede. Hierbei können freilich nur die Hauptgrundsätze in allge¬
meinen Umrissen angegeben werden, aber es ist doch erkennbar, worin der Schwer¬
punkt der Besteuerung liegen wird. In dem Artikel der Norddeutschen Allgemeinen
Zeitung heißt es, es werde „der Massenkonsum gewisser Genußmittel, wie in andern
Ländern, mit starken Abgaben herangezogen werden müssen". Das konnte erwartet
werden; ohne diese Besteuerung wäre jede Finanzrefvrm ein Fehlschlag gewesen.
Entschieden und deutlich abgelehnt wird der Gedanke einer direkten Reichseinkommen-
und Vermögenssteuer; nur der Ausbau der Erbschaftssteuer kann an die Stelle
dieser Belastung treten. Auch nach der Seite ist Sicherheit geboten, daß der Ver¬
kehr nicht belastet werden soll. Die ganz verfehlte Fahrkartensteuer werdeu wir
nun hoffentlich endlich loswerden. Dagegen scheint die Besteuerung von Elektrizität
und Gas in ihrer Verwendung zu Beleuchtungszwecken beschlossen zu sein; wenigstens
spricht eine Stelle des besprochnen Artikels von „einzelnen charakteristischen Er¬
scheinungen des modernen Aufwands, die eine Steuerbelastung vertragen könnten".
Endlich ein sehr wichtiger Punkt in dem Rcformplcm: die Beziehungen des
Reichs zu den Einzelstaaten sollen von dem System der alljährlich schwankenden
ungedeckten Matrikularbeiträge losgelöst werden. Man will statt dessen eine feste
Grundlage herstellen durch „die Einführung eines beweglichen, jeweilig für eine
Reihe von Jahren neu festzustellenden Faktors unter die Einnahmen". Damit
bleibt der Grundsatz bestehn, daß die Einzelstaaten für die Ergänzung der Reichs¬
finanzen aus ihren eignen Mitteln auszukommen haben, und da diese Beiträge der
Einzelstaaten innerhalb ihrer eignen Finanzwirtschaft in der Hauptsache aus direkten
Steuern aufgebracht werden müssen, so läust das in der Sache auf dasselbe hinaus,
als wenn das Reich selbst eine Znschlagsteuer auf Einkommen und Vermögen er¬
höbe, nur mit dem Unterschiede, daß eine wirkliche Reichssteuer, die in die Finanz¬
hoheit der Einzelstaaten eingreift und die Verschiedenheit in den steuerpolitischen
Einrichtungen dieser Staaten nicht genau berücksichtigen kann, sehr viel härter und
drückender empfunden werden würde. Wenn aber die Einzelstaaten auch künftig
wie bisher zur Reichskasse beisteuern sollen, so soll doch das Reich in der Erhebung
dieser Beiträge an bestimmte Normen gebunden werden, und hoffentlich läßt sich
ein Weg finden, daß dabei die finanzielle Leistungsfähigkeit der Einzelstaaten in
geeigneter Weise zur Geltung kommt.
Man darf also mit den Grundzügen der Reichsfinanzreform, soweit sie bis
jetzt festgelegt sind, einverstanden sein. Hoffentlich findet das mühsame Werk nun
die ehrliche Unterstützung und Mitarbeit aller Parteien, die den Ernst der Lage
erfaßt und die Dringlichkeit des Reformwerks eingesehen haben.
In der Marokkofrnge sehen wir zurzeit noch der Übergabe der spanisch-fran¬
zösischen Note zu der Frage der Anerkennung Mulei Hafids entgegen.*) Es hat sich
also seit einer Woche nichts Wesentliches geändert. Die französische Presse grollt noch
über die deutsche Note, aber das hat insofern nichts zu bedeuten, als sich dieser Groll
auf falsche Voraussetzungen stützt, und es ist nicht anzunehmen, daß den Besprechungen
zwischen der deutschen und der französischen Regierung dieselben falschen Voraus¬
setzungen zugrunde gelegt werden. Deshalb ist auch die Freude der französischen
Blätter über die neue Isolierung Deutschlands verfrüht. Nicht einmal darüber, daß
in den leitenden politischen Kreisen Österreich-Ungarns vielleicht eine Zeit lang Mi߬
verständnisse über die Auffassungen und Ziele Deutschlands bei Überreichung der letzten
Note geherrscht haben, wird man sich lange freuen können. Denn die Sache liegt so
einfach, daß einige Besprechungen und Verhandlungen klar machen müssen, warum
Deutschland als in Marokko nächst Frankreich und Spanien am meisten interessierte
Macht Europas so und nicht anders vorging. Daß die Gelegenheit von dem uns
unfreundlich gesinnten Teil der europäischen Presse benutzt wird, gegen Deutsch¬
land zu Hetzen, kann auf uus unmöglich noch Eindruck machen. Denn das geschieht
immer, was wir auch tun mögen. Und wenn wir gar nichts tuu, so wird etwas
erlogen, was wir angeblich getan haben sollen, auch wenn es etwas so unsinniges
ist, daß es kein vernünftiger Mensch glauben kann. Interessant ist nur in
einigen französischen Blättern, daß der Deutsche Kaiser, dessen Friedenskundgebungen
man doch nicht gut beiseite räumen kann, gegen den streitlustigen und Frankreich
unfreundlich gesinnten deutschen Reichskanzler ausgespielt wird. Damit hat man
die Sache auf eine bequeme Formel gebracht. Nur wird uus nicht auseinander¬
gesetzt, wie sich das alles mit den früher in der französischen Presse so eifrig ge¬
pflegten Phantasien über das persönliche und absolute Regiment Wilhelms des
Zweiten zusammenreimt. Es ist doch eine merkwürdige Sache, daß ein angeblich
so selbstherrlicher Kaiser, dem man jetzt doch endlich — es war nämlich nicht immer
so! — zugibt, daß er den Frieden will, einen leitenden Staatsmann neben sich
haben soll, der eine ganz entgegengesetzte Politik betreibt. Aber nach Logik und
Zusammenhang fragt man an den Stellen recht wenig, wo es nur darauf ankommt,
Deutschland als den Popanz in der europäischen Politik hinzustellen.
Dernburgs Heimkehr von seiner zweiten Afrikafahrt kann glücklicherweise
mit freundlichern Gefühlen begrüßt werden als seine Abfahrt. Mußte man doch
befürchten, daß ihn auch in Südwest seine immerhin noch junge koloniale Erfahrung
verführen würde, die Wünsche und Ratschläge der alten Ansiedler beiseite zu schieben
und seine eignen Anschauungen durchzusetzen. Ein schlimmer Konflikt wäre unaus¬
bleiblich gewesen, um so mehr, als in kolonialen Kreisen die offen gezeigte Mi߬
stimmung der Ostafrikaner nicht ohne Eindruck geblieben ist. Die Stellungnahme
Dernburgs zu verschleimen Grundfragen der Kolonialpolitik hatte jedenfalls viele
seiner frühern begeisterten Anhänger stark enttäuscht und ihm mehr Gegner geschaffen,
als er wohl selbst ahnt, nicht zum wenigsten bei den Kolonisten selbst. Bedauerlicher¬
weise, denn jedem Kolonialfreund muß es ein schmerzlicher Gedanke sein, daß gerade
der Mann, der die koloniale Sache in Schwung gebracht hat, so sehr die Fühlung
mit den Trägern der wirtschaftlichen Kolonialpolitik verlieren sollte. So sehr, daß
man in Südwest dem Besuch des obersten Kolonialbeamten mit unverhehltem Mi߬
trauen entgegensah.
Doch er hat vieles wieder gut gemacht und hat es trefflich verstanden, die auf¬
geregten Südwestafrikaner zu beruhigen, indem er mit viel Wohlwollen auf ihre
Wünsche einging und ihrer Erfahrung und Tüchtigkeit volle Anerkennung zuteil werden
ließ. Die südwestafrikanische Presse, die vordem schier vor dem Staatssekretär und
seiner für jeden braven Kolonialen gefährlichen Dialektik gewarnt hatte, spricht sich jetzt
sehr befriedigt und hoffnungsvoll über den Dernburgbesuch aus. Und sie gibt damit
offenbar der allgemeinen Stimmung drüben Ausdruck. Staunend und erleichtert
haben wir zu Hause von dem Umschwung vernommen, staunend und hoffnungsvoll
werden namentlich unsre ostafrikanischen Landsleute den nächsten Reichstagsverhand¬
lungen entgegensehen, die uns hoffentlich den formellen Ausgleich der Mißstimmung
der verflossenen Monate bringen werden. Wenn wir sagten, daß man, nach der
südafrikanischen Presse und zahlreichen brieflichen Äußerungen zu schließen, drüben
von Dernburgs Haltung sehr befriedigt sei, so läßt sich doch ein gewisser Unterton
nicht verkennen. Nach der ersten Begeisterung über den entgegenkommenden und
freundlichen Staatssekretär kommt eben unsern Landsleuten so allmählich zum Be¬
wußtsein, daß der Staatssekretär im Grunde genommen nichts Bindendes versprochen
hat, nach Lage der Sache auch nicht versprechen konnte. Was hat nun den Stimmungs¬
umschwung zustande gebracht? Vor allem wohl seine neue Stellungnahme zur Ein-
gebornenpolitik, sein nach den ostafrikanischen Erfahrungen nicht erwartetes freund¬
liches Eingehen auf die ziemlich weitgehenden Wünsche unsrer Südwestafrikaner.
Erwartete man doch nach seinen Äußerungen auf der Reise einen uegrophilen Staats¬
sekretär, der sofort mit den scharfen Maßnahmen Herrn von Lindequists zur Kontrolle
der Eingebornen aufräumen würde. Da entpuppte sich Dernburg als ein Anhänger
dieser zwar harten aber gerechten Eingebornenpolitik und nahm sogar die Urheber¬
schaft der Lindequistschen Eingebornenverordnungen für sich in Anspruch, von denen
man seither glaubhaft gemunkelt hatte, sie hätten seinerzeit ganz und gar nicht den
Beifall Dernburgs gefunden. Hadsat sibi. Jedenfalls hat Dernburg damit be¬
wiesen, daß er sehr wohl für die Politik der harten Hand unzuverlässigen Einge¬
bornen gegenüber Verständnis haben kann. Uns scheint daher die Zeit nicht mehr
ferne, wo er dem Herrenstandpunkt auch in den andern Kolonien, namentlich Ost¬
afrika, nicht nur aus politischen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen Geltung
verschaffen wird. Doch davon weiter unten. Die Stellung, die der Staatssekretär
in der südwestafrikanischen Eingebornenfrage eingenommen hat, muß entschieden als
verständig bezeichnet werden. Die nach seinem neusten Bekenntnis als Dernburg-
Lindequistsche zu titulierenden Verordnungen sollen bis auf weiteres bestehn bleiben.
Dernburg hält den Eingebornen gegenüber eine „tüchtige Probezeit" für sehr an¬
gebracht. Nach den bestehenden Verhältnissen werden diese in der Zwischenzeit
stramm arbeiten müssen, um existiere» zu können, und sich so hoffentlich davon über¬
zeugen, daß sie sich durch nützliche Tätigkeit mit der Zeit eine bessere Existenz
schaffen als durch ihr früheres zügelloses Leben. Eingebornenkommissare, zu denen
die Leute Vertrauen haben, werden die Arbeiterverhältnisse regeln und wohl am
besten beurteilen können, wenn es eines Tages Zeit ist, den Eingebornen etwas
größere Selbständigkeit zuzugestehen. Also die südwestafrikanische Eingebornenfrcige
scheint vorläufig zu allseitiger Zufriedenheit erledigt.
Was nun die Selbstverwaltungsbestrcbungen unsrer Landsleute an¬
langt, so konnte sie Dernburg nicht ganz erfüllen. Es läßt sich auch nicht leugnen,
daß sie etwas zu weit gehn. Bekanntlich soll ein Landesrat gebildet werden, eine
Art Parlament, das dem Gouvernement zur Seite steht und aus dem Kreise der
Mitglieder der Bezirks- und Gemeindekorporationen gewählt werden soll. Wählbar
sind erfreulicherweise nur Reichsdeutsche, sodaß der bisherige starke fremdpolitische
Einfluß zurückgedrängt wird. Nun stehn unsre Landsleute drüben auf dem gewiß
richtigen Standpunkte, daß sie selbst am besten wissen, was dem Lande nottut, und
verlangen demgemäß für den Landesrat Beschlußrechte, Einfluß auf die Besetzung
der Beamtenstellen und auf die Verwendung der im Etat ausgesetzten Gelder. Und
da sich das Gouvernement dagegen ablehnend verhielt, wollen sie nicht mitmachen
und lehnen die Beteiligung am Landcsrat ab. Wir denken aber, daß es Dernburg
gelungen ist, die aufgeregten Südwestafrikaner von dieser Obstruktion abzubringen.
Dernburg sagt zutreffend: Selbstverwaltung ist Selbsterhaltung. Bis jetzt
ist nur ein ganz kleiner Teil des Landes besiedelt, und die Ansiedler vermögen
nur einen minimalen Beitrag zu den allgemeinen Lasten zu leisten. Da das Land
demgemäß Vorläufig noch vorwiegend von den Zuschüssen des Mutterlandes ab¬
hängig ist, so können seine Bewohner auch nicht verlangen, in Verwaltungsfragen,
besonders wenn sie finanzpolitischer Natur sind, eine ausschlaggebende Stimme zu
haben; dagegen ist gar nichts zu sagen. Aber Dernburg ist unsers Erachtens in
der Lage, dafür zu sorgen, daß sich dieses Verhältnis nicht wesentlich zugunsten der
Kolonie verschiebt. Gewiß, das Land ist nur zu einem kleinen Teile besiedelt,
aber es ist nicht Herreulos. Ein namhafter Teil ist allerdings Regieruugsland,
aber ein fast ebensogroßes Gebiet ist im Besitz von großen Landgesellschaften. Diesen
Gesellschaften ist seinerzeit, als die Regierung nicht wußte, was sie mit dem Lande
anfangen sollte, als man dessen Produktionsbedingungen noch nicht recht erkannt
hatte, Steuerfreiheit auf eine Reihe von Jahren gewährleistet worden. Sie tragen
also nichts zu den allgemeinen Lasten bei, während sie an den Vorteilen der wirt¬
schaftlichen Entwicklung, nicht zum wenigsten in der Form eines unverdienten Wert¬
zuwachses, teilnehmen. Die Regierung wird also dieses Mißverhältnis, das sie
durch frühere Unterlassungssünden und mangelnde Voraussicht verschuldet hat, zu¬
gunsten der Ansiedler in die Wagschnle legen müssen, falls sie nicht Mittel und Wege
zu finden vermag, es zu ändern und so eine normale Lastenverteilung herbeizuführen.
Denn im Grunde genommen ist es unhaltbar, daß die wirtschaftspolitische
Verantwortung — moralisch wenn auch nicht materiell — auf einer Minderheit
ruht, die keinerlei Möglichkeit hat, daran etwas zu ändern. Es liegt uns fern,
den Laudgesellschaften damit Rechte abzusprechen, die sie rief erworben haben,
um so weniger als auch ihnen gewisse Verdienste um die Entwicklung des Landes
nicht abzusprechen sind. Aber sie können nicht leugnen, daß sich seinerzeit beim
Vertragsabschluß der eine Kontrahent, die Regierung, in einem Irrtum befunden
hat, und daß sie selbst gar nicht die Mittel besessen haben, die Pflichten zu
erfüllen, die ihren Rechten entsprechen. Sie müssen sich hente klar darüber sein,
daß ihre Rechte, die sie gar nicht voll auszuüben vermochten, die Entwicklung des
Landes hemmen. Von ihrem Gemeinsinn kann darum erwartet werden, daß sie
dieser Entwicklung in geeigneter Weise entgegenkommen. Der Regierung könnte
sonst eines Tages nichts andres übrig bleiben, als im Interesse der Allgemeinheit
aus ihrer Zurückhaltung herauszutreten und durch Einführung einer allgemeinen
Grundsteuer die Gesellschaften entweder zur Übernahme eines Teiles der allgemeinen
Lasten oder zur schleunigen billigen Abgabe und Besiedlung ihres Landbesitzes zu
zwingen. Denn der heutige Wertzuwachs ihres Landes steht in keinem Verhältnis
zu den Leistungen und Aufwendungen der Gesellschaften. Jedenfalls wird mit der
Lösung der Landfrage ein gut Teil der Hindernisse, die einer richtiggehenden
Selbstverwaltung entgegenstehn, beseitigt. Unsre südwestafrikanischen Landsleute
werden aber bei ruhiger Überlegung einsehen, daß dies einiger Zeit bedarf, und
daß sie sich vorläufig mit dem bescheiden müssen, was ihnen jetzt geboten werden
kann. Eins nach dem andern! '
, Der Staatssekretär steht den wirtschaftlichen Aussichten der Kolonie
sehr hoffnungsvoll gegenüber und sieht in der zu erwartenden Krise mit Recht
nichts als eine selbstverständliche Folge des Krieges. Er hat auch darin ganz recht,
daß er Ansiedler und Kaufleute ermahnt, sich nicht allzusehr auf die Hilfe der
Regierung zu verlassen, sondern sich auf eigne Füße zu stellen. Durch ein mit
Hilfe der Regierung ins Leben zu rufendes Kreditinstitut, das die Kommunen bei
Schaffung produktiver Anlagen und die Genossenschaften der Ansiedler bei Erfüllung
ihrer wirtschaftlichen Aufgaben unterstützen soll, will Dernburg dafür Sorge tragen,
daß das Land über die Krisis hinwegkommt, und daß zugleich die Besiedlung einen
ungestörten Fortgang nehmen kann.
Etwas überraschend kommt der Entschluß Dernburgs, vorläufig für Südwest
keine weiter» Forderungen an den Reichstag zu stellen. Er will den Hafen¬
bau von Swakovmund den Interessenten überlassen, die offenbar geneigt sind, sich
dieser Aufgabe zu unterziehen. Vorläufig wird nur die vorhandne Anlage etwas
verbessert. Auch weitere Eisenbahnen sollen jetzt nicht verlangt werden. Wenn
man sichs aber recht überlegt, so hat Dernburg damit nicht unrecht. Denn
wenn er dafür sorgt, daß in der Nähe der bestehenden Eisenbahnen das Land
richtig erschlossen und besiedelt wird, so ist in den nächsten Jahren genug zu tun.
Vielleicht will man nebenbei im Hinblick auf die überraschenden Mineralfunde der
letzten Zeit mit der Bestimmung der Linienführung etwas zurückhalten. Jedenfalls
kann es auch den Ansiedlern recht sein, daß der Kredit der Kolonien nicht allzu¬
sehr durch neue werbende Ausgaben überspannt wird, solange die wirtschaftliche
Krisis der nächsten Jahre nicht überwunden ist. Wenn sich später in der oben an¬
gedeuteten Weise die Lasten der Selbstverwaltung auf breitere und stärkere Schultern
verteilen lassen, so kann mit dem Ausbau der Verkehrswege energischer vorge¬
gangen werden. Vielleicht ist bis dahin auch die Dernburgsche Idee des Anschlusses
unsrer Bahnen an das britisch-südafrikanische Eisenbahnnetz der Verwirklichung
näher gerückt.
Nach den neusten offenbar ernst zu nehmenden Diamantenfunden an
verschiednen Stellen der Kolonie ist ja das Interesse unsrer Nachbarn für Dentsch-
Südwest lebhaft gestiegen, so stark, daß es wünschenswert sein wird, die Augen
offenzuhalten, damit sich der englische Einfluß nicht in die hoffnungsvolle Diamanten¬
produktion einzuschmuggeln versteht. Die Erfahrung mit der englisch-deutschen
Loutir ^tricÄir Lsrritorios I^imitsÄ sollte uns genügen.
Etwas unverständlich will uns scheinen, daß Dernburg die Ovambofrage
immer noch vorsichtig behandeln will. Es sollen nun doch keine Truppen in das
Ovambolcmd geschickt werden. Nur Kaufleute sollen gegen hohe Kaution Zutritt
erhalten. Wenn die Mission des Hauptmanns Franke wirklich so erfolgreich war,
wie,, es hieß — und darauf deuten die Ordensverleihungen an Gouverneur
von Schuckmann und Franke doch eigentlich hin so versteh» wir nicht, warum
man nicht die Gelegenheit beim Schöpfe faßt und endlich das Ovamboland besetzt.
Denn für die Wirtschaft der Kolonie würde das reiche Ovambogebiet einen recht
wichtigen Faktor bedeuten. Wenn die in unsrer letzten Rundschau erörterten
Voraussetzungen zutreffen, wie wir nach den frühern Meldungen annehmen müssen,
so scheint uns die Nichtbesetzung des Ovambolcmdes eine Unterlassungssünde zu sein.
Die Verstärkung der Schutztruppe würde sich entschieden dort bezahlt machen. Auf
nähere amtliche Äußerungen darüber kann man gespannt sein.
Damit wären die praktischen Ergebnisse der Dernburgreise für Südwest er¬
örtert. Es bleibt nur noch der Wunsch, daß die Hoffnungen, die die Südwest¬
afrikaner aus den Zusagen Dernburgs schöpfen zu können glauben, in Erfüllung
gehn mögen.
Aus deu Kundgebungen und Maßnahmen Dernburgs anläßlich seiner Reise
ergeben sich aber auch noch verschiedne Folgerungen von allgemeiner Bedeutung.
Zuerst in xuneto Eiugebornenpolitik: Was der einen Kolonie recht ist, ist
der andern billig. Wenn Dernburg aus dem Aufstand in Südwest zutreffend das
Recht herleitet, die Eingebornen scharf anzufassen, so muß dasselbe für Ostafrika
verlangt werden, soweit dies angebracht erscheint. Der ostafrikanische Aufstand vor
zwei Jahren hat uus gezeigt, was wir dort von den Schwarzen zu erwarten
haben, wenn wir ihnen nicht den Ernst zeigen. Die unverständliche, von Dernburg
bisher leider gutgeheißne Politik der Milde, die der Gouverneur von Rechenberg
gegen die Ansicht aller Kenner seither durchsetzte, hat in jüngster Zeit schon Früchte
in Gestalt neuer Unruhen getragen. Herr von Rechenberg hat diesen Kausal¬
zusammenhang indirekt mit hinreichender Deutlichkeit zugegeben, indem er sich über
diese Unruhen dem Kolonialamt gegenüber ansschwieg, bis die Kunde davon durch
die ostafrikanische Presse hierher drang, und er von der vorgesetzten Behörde zum
Bericht aufgefordert wurde. Wenn die Unruhen so harmlos gewesen wären, wie
er sie in seinem Bericht hinstellte, so fragen wir, warum er dann die Entsendung
einer für ostafrikanische Verhältnisse ansehnlichen Verstärkung von 200 Mann für
nötig hielt? U. A. w. g.
Dieser Vorfall dürfte Dernburg gezeigt haben, daß er mit Herrn von Rechen¬
berg als Ratgeber auf einen toten Strang geraten ist. Sein Einfluß hat ihn zu
einer Stellungnahme in wichtigen Fragen der Kolonialpolitik gebracht, die wohl
einigen wenigen Interessenten, namentlich der katholischen Mission angenehm sein
kann, durch die er aber in direkten Gegensatz mit der Mehrheit der Deutschen in
den Kolonien und aller andern Kenner geraten ist.
Auf seiner zweiten Reise stand er nicht unter dem beständigen Einfluß des
zielbewußter Herrn von Rechenberg. Er konnte in Britisch-Südafrika unbefangen
die unsympathischen Folgen einer unzweckmäßigen Eiugebornenpolitik ü, 1a, Rechen¬
berg beobachten, deren Tage jetzt auch dort gezählt sein dürften. Er hat gesehen,
wie man in Britisch-Südafrika über die Inder denkt, und wie man sich dort dieser
Schmarotzer entledigt, obwohl sie englische Untertanen sind. Er konnte in Deutsch-
Südwest sehen, wie ein richtiger Gouverneur die Interessen seiner Kolonie vertritt,
indem er Gegensätze auszugleichen und trotz vieler Schwierigkeiten ein freundliches
Verhältnis der Bevölkerung zu dem obersten Kolonialbeamten herzustellen sucht.
Und Dernburg wird Herrn von Schuckmann hierfür doppelten Dank wissen. Wenn
er sich das alles überlegt, wird er sich sagen müssen, daß die ostafrikanischen Lands¬
leute nicht minder tüchtig und achtungswert sind als die Südwestafrikaner, und daß,
sie ein ruhiges, verständnisvolles Eingehn auf ihre Wi'möche, auch wenn diese zurzeit
Unerfüllbar sind, wohl verdienen. . . .
Genug davon, denn wir glauben, daß sich Dernburg jetzt über die Fehlerquelle
in; seiner Rechnung inzwischen klar geworden ist und die Konsequenzen zu ziehn
weiß. Besiedlnngs-, Inder- und Eingebornenfrage würden dann von ihm mit
andern Augen betrachtet werden. In Südwest hat Dernburg den Ansiedlern zu¬
gerufen, sie sollten daraus hinarbeiten^ daß nur Qunlitätsprodukte für den Weltmarkt
erzeugt werden, und hat dabei als Beispiel die Preisbildung des ostnfrikanischen
Kautschuks angeführt. Er hat mit dieser Mahnung nnr zu recht und wird darum
auch nicht verfehlen, ihr in den tropischen Kolonien Geltung zu verschaffen. Mit
andern Worten: der Hauptnachdruck ist, wo es irgend geht, auf die Plantagen¬
wirtschaft und die europäische Besiedlung, nicht auf Eingebornenkulturen zu legen,
denn der Neger liefert keine Qualitätsprodnkte. Doch dies habe ich in meinem Aufsatz
über Eingebornenpolitik und Arbeiterfrage (siehe Ur. 9) eingehend ausgeführt.
Es mag
erfahrungsmäßig ratsam sein, den Leuten, sobald sichs um ihre eignen Angelegenheiten
handelt, nicht aufs Wort zu glauben; aber man sagt es ihnen höflicherweise nicht
ins Gesicht, um so weniger, wenn in der Stille angestellte Erkundigungen später
ihre Aussagen lediglich bestätigt haben. Denn jeden anständigen Menschen verletzt
ein unverhohlen ausgesprochner Zweifel an seiner Wahrhaftigkeit aufs empfindlichste.
Gilt nun der Kodex des guten Tones nicht für Behörden? Ich reklamiere z. B.
wegen einer unverständlich hohen Steuerveranlagung beim Magistrat einer aus¬
wärtigen Großstadt und gebe die in Betracht kommenden Ziffern genau an. Der
Einspruch wird als berechtigt anerkannt und der Steuersatz ermäßigt — aber wie
teilt man mir das mit? Ja nicht die einfache Tatsache der Anerkennung und ihre
Folgen — der heilige Bnreaukratins duldets wohl nicht, einer Privatperson einfach
recht zu geben —, sondern mit völliger Unbefangenheit so: „Nach Mitteilung des
Herrn Vorsitzenden der Eink.-Se.-Veranl.-Komm. (meines Wohnortes) beträgt Ihr
Einkommen aus usw." — wieviel? — genau so viel, wie ich bereits selbst an¬
gegeben hatte! Aber daß ich das getan, davon kein Wort; geradeso, als hätte ich
die Behörde ohne zahlenmäßige Begründung einfach an den Herrn Vorsitzenden xx.
gewiesen. Weshalb nun diese verletzende Form der Anzeige, die den Betreffenden
deutlich fühlen läßt: Was du sagst, ist uns ganz gleichgiltig, erst müssen wirs durch
eine Behörde verbrieft und besiegelt haben? Ja, weshalb? Vielleicht, weil das
Schriftstück sonst zu kurz würde, oder um die Gewissenhaftigkeit der Behörde (woran
in Steuerangelegenheiten niemand zweifelt!) zu bezeugen, oder aus lieber alter Ge¬
Kii ÜMiMclMtt kiir kMer.
t^s ist nickt zrleicnAÜlti^, wie MSN rsucllt. Uhr soll rinnt ligstiA
uncl in unreAelmÄKixein tempo rsucnen, sondern Isnxssin uncl rexel-
inüiZix. Ls Z-ibd suam einen Knvtnrnus clss Ksucnens. Das wicntixsts
öder ist nstürlick, v/Sö insn rsuclit, uncl liier ist 2veiteIIc>s clsr
Lipkel clef (üenussss eine keine Lixsrette von Icöstlicnsm ^rcuns:
„89.I6M ^iSiKum"!
Lslem ^leillum-LiAsretten: Keine ^usststtunA, nur (juslitiit:
I»,-. 3 4 5 6 8 10___^
3-/2 4 5 6 L 10 k>eg. ä»8 LtiivK.
Italien hat mit Kriegen an der Nordost- und Nordwestgrenze zu
rechnen; mit Rücksicht auf die geographische Lage und die hier¬
durch beeinflußte Friedeusdislokation tritt für die beiden Kriegs¬
fülle eine dreifache Gruppierung des Heeres schon während der
! Mobilisierung ein: erstens in Grenzschutztruppen, aus Gebirgs-
formationen bestehend, die besonders in einem Kriege an der Nordostgrenze
Störungen in der Mobilisierung und im Ausmarsche hintanzuhalten haben,
eine zweite Gruppe — die oberitalienischen Korps, die sich in den Friedens-
stativnen mobilisieren, endlich eine dritte Gruppe — die Mittel- und süd-
italienischen Korps, die entweder mit dem Friedensstande in den Aufmarsch¬
raum cibgehn und dort erst ihre Kriegsciugmentierung zu sich ziehen oder
analog wie die zweite Gruppe mobilisieren.
Die großen Nachteile, die eine derart in Gruppen erfolgende Mobilisierung
im allgemeinen mit sich bringt, werden im speziellen Falle durch die günstige
Verteilung der Bevölkerung einigermaßen wett gemacht. Es entfallen bei
einer Bevölkerungszahl von 33,5 Millionen 117 Personen auf einen Quadrat¬
kilometer, doch ist die Bevölkerungsdichte ziemlich ungleich, so kommen in der
norditalienischen Tiefebene, die Lagunen ausgenommen, fast überall 200 Per¬
sonen und mehr auf einen Kilometer, in der Provinz Mailand 400 Einwohner,
am geringsten in den gebirgigen Gegenden (Kalabrien 90, Umbrien 62). Auch
sind gerade hier ganze Landstriche durch die Auswcmdrung förmlich entvölkert.
Der Schwerpunkt der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Kraft
Italiens ruht aber in der Lombardei und in Veuezien, hier sind die Wurzeln
seiner Kraft. Das dicht gedrängte Beieinanderleben begünstigt ein rasches
Zusammenströmen der Kriegsdienstpflichtigen, sichert eine schnelle Kriegsbereit¬
schaft und Schlagfertigkeit, also die Bildung von Kraftgruppen, mit denen
strategischen Überfallen des Gegners begegnet werden kann. Die gleiche Ver¬
teilung der Bevölkerung in der Tiefebene und den übrigen Teilen des Landes
erschwert andrerseits die rasche Konzentrierung der gesamten Streitkräfte und
verlangt eine gemischte Komplettierung. Die verschieden gearteten Be-
volkerungsverhültnisse finden in dem Ergänzungs- und Dislokationssystem
ihren Niederschlag.
Die Ergänzung erfolgt im Frieden national aus Distrikten, die von
der Friedensgarnison mehr oder weniger weit entfernt sind, im Kriege jedoch
regional, aus dem engern oder weitern Bereiche der Friedensgarnison; so
erhält beispielsweise die Jnfanteriebrigade in Verona ihre Rekruten im Frieden
aus den Distrikten Mailand, Como, Pavia, Lecco, ihre Kriegsergänzung aus
den Distrikten Verona und Vicenza. Infolge Anhäufung der Truppen in
Oberitalien und wegen der geographischen Beschaffenheit des Landes kann
jedoch die regionale Ergänzung nicht streng eingehalten werden, sodaß einzelne
Truppenkörper noch einige außerhalb ihres regionalen Ergänzungsbereichs
liegende Aushilfsdiftrikte (äistrstti al, ooinplomslito) zugewiesen erhalten. Aus¬
genommen von den erwähnten Grundsätzen sind: 1. die Grenadierbrigade, sie
ergänzt sich im Frieden und im Kriege aus allen Distrikten; 2. die Alpini,
sie ergänzen sich territorial aus den Bereichen der Friedensstandorte; 3. die
reitende Artillerie, sie ergänzt sich aus der Lombardei, der Emilia und einigen
Aushilfsdistrikteu Mittel- und Unteritaliens; 4. die Gebirgsartillerie, diese
ergänzt sich aus Oberitalien, Toskana und Sizilien; 5. die technischen
Truppen, sie ergänzen sich im Frieden national, im Kriege zum Teil national,
zum Teil regional; 6. die Lagunaribrigade des Pontonicrregiments ergänzt
sich territorial aus dem venezianischen Küstengebiete. Aus dieser verschiednen
Ergänzung im Frieden und im Kriege resultieren eine Reihe großer, für die
Mobilisierung uicht belangloser Nachteile: es haben vom Kriegsstande einer
Jnfanteriekompagnie nur etwa zwei Drittel im Staude des Regiments ge¬
dient, ein Drittel gehört fremden Truppenkörpern an; das Verhältnis
zwischen der Mannschaft, die ihren Präsenzdicnst in einer Brigade abgeleistet,
und jener, die ihre Ausbildung bei andern Körpern erhalten hat, ist wie 3:2.
Diesen Nachteilen trachtet mau durch eine solche Regelung des Garnison¬
wechsels abzuhelfen, daß die Truppenkörper grundsätzlich in den Bereich jener
Distrikte verlegt werden, aus denen sie in einer frühern Garnison schon
Truppen erhielten, sodaß bei Eintritt der regionalen Ergänzung die Mann¬
schaft zum Teil wenigstens solchen Regimentern einverleibt wird, denen sie
früher schon angehörte. Daß die Einrückungen im Mobilisierungsfalle bei
den sich im Frieden territorial ergänzenden Truppenkörpern rascher erfolgen
und Friktionen in geringerm Maße auftreten werden, bedarf keiner nähern
Erläuterung; die Einrückungen zu den Waffenübungen können überdies auch
als eine Schule für die Einberufung im Mobilisierungsfalle betrachtet werden.
Der Nachteil der verschiednen Ergänzung belastet deshalb trotz aller Ver¬
besserungen die Naschheit und Sicherheit der Mobilisierung und erschwert
zudem die Vorsorgen für den Übergang vom Friedensverhältnis auf den Kriegs¬
fuß. Die Größe der Ergäuzungsdistrikte ist ebenfalls sehr verschiede»; im
Gebirge sind einzelne Bereiche über 100 Kilometer lang, 50 Kilometer breit,
in der Ebene 50 Kilometer lang und 50 Kilometer breit; die verhältnismäßig
große Ausdehnung der Distrikte spielt jedoch nnr eine geringe Rolle, da die
Negimentsdepots fast durchweg zentral gelegen sind.
Die Unterbringung ist zum großen Teil exterritorial. Sechs Korps,
das ist etwa die Hälfte der Infanterie, Grenadiere, zwei Drittel der Bersaglieri,
zwei Drittel der Kavallerie (von 144 Eskadronen 93), drei Fünftel der Feld¬
artillerie, die gesamte reitende und Gebirgsartillerie (von 189 Feld- und
reitenden Batterien 113 Batterien), drei Fünftel der Festungs- und Küsten¬
artillerie, drei Viertel der technischen Truppen sind in Oberitalien unter¬
gebracht. Die Nachteile einer so ausgesprochen exterritorialen Dislokation
(große Transportbewegungen im Mobilisierungsfalle) werden dnrch die er¬
wähnte Art der Standesergänzung wettgemacht. Dazu kommt uoch, daß
nahezu alle Garnisonen unmittelbar an Eisenbahnlinien liegen. Die Augmen¬
tationsvorräte sind zum größten Teil bei den Truppen untergebracht, bei den
Alpinis bataillonsweise, da hier die Mobilisierung bataillonsweise erfolgt. Die
Volksbildung steht ans hoher Stufe, nahezu alle Männer sind des Lesens
und Schreibens kundig. Da die Mannschaft während ihres Prüsenzdienstes
über die Modalitüten der Mobilmachung und Einberufung unterrichtet wird,
dürfte die Bekanntgabe des Mobilmachungsbefehls sofort von Erfolg begleitet
sein. Die Mannschaft ist überdies mit den Transportmitteln vertraut, wodurch
die direkte Einrückung in die Ausrüstnngsstationen ohne vorherige Sammlung
in Transporte erleichtert ist.
Ungünstiger steht es mit der Pferdebeschaffung. Die Zahl der brauch¬
baren Pferde betrug 1902 42000. 1904 32000, 1906 30000, ist also
gering. Italien ist infolgedessen in der Pferdebcschaffung vom Auslande ab¬
hängig, woraus zu folgern ist: 1. verhältnismäßig geringe Kriegsbereitschaft
der berittnen Truppen; 2. schwierige Mobilisierung und Ersatzleistung; 3. kleiner
Train. Im Jahre 1906 waren 646 Staatszuchthengste und 755 Privatzucht-
hcngste vorhanden, die Zahl der von ihnen gedeckten Stuten betrug 28000
und 25000. Bis jetzt haben die Maßnahmen zur Hebung der Pferdezucht
keine genügenden Ergebnisse gezeitigt. Der Pferdemangel wird sich besonders
in einem Kriege an der Nordostgrenze fühlbar machen, da Italien seinen
Pferdebedarf vornehmlich aus Österreich-Ungarn deckt. Die Pferdebeschaffung
erfolgt durch xreeottMoiuz (Sicherstellung im Frieden) und durch freien An¬
kauf im Mobilisieruugsfalle.
Die Einberufungsverhältnisse scheinen nicht sonderlich günstig zu
sein. Sie lassen sich nach der Zahl der Stellungsslüchtigen und nach den
Ergebnissen der Einberufungen zu den Waffenübungen schätzungsweise be¬
urteilen. Die Zahl der Stellungsslüchtigen ist in stetem Steigen be¬
griffen: 1895: 23807 ^ 5,89 Prozent der Stellungspflichtigen, 1900: 27000
^6,97 Prozent, 1904: 39218 ^8,35 Prozent. An Auswandrern gehn
dem Lande jährlich viele Tausende verloren. Ihre Zahl betrug 1904 über
500000 Personen, wovon auf Piemont, Ligurien, die Lombardei und Venezien
beinahe die Hälfte, darunter 165000 Männer entfielen. Im ersten Halb¬
jahre 1905 stieg die Auswandrung auf 436000 Personen. Bei der großen
Arbeiterbewegung im Jahre 1904 rief die Negierung einen Reservejahrgang
ein. Nach offiziellen Quellen leisteten von etwa 60000 Mann nur 48 291
dem Einberufungsbefehle Folge; von diesen 4-8291 Mann fielen durch Krank¬
heit oder sonstige Dienstuntauglichkeit 6,3 Prozent ab, sodaß schließlich der
mittlere Präsenzstand des einbcrufnen Neservejahrgangs (1880) 45279 Mann
betrug. Zudem muß der offiziellen Berichterstattung nicht unbedingt Nichtig¬
keit zugesprochen werden; nach nicht offiziellen Zühlungen betrug der Stand
des Reservejahrgangs nur etwa 40000 Mann. Mit der von Jahr zu Jahr
im Zunehmen begriffnen sozialistischen Propaganda und den erschwerten Lebens¬
verhältnissen, die die Auswandrungslust immer mehr vertiefen, werden auch
die Einrückungsverhältnisse eher eine Verschlechterung als eine Besserung
erfahren. Die Manifeste zur Einberufung der nichtaktiven Mannschaft liegen
im Frieden bei den Carabinieriposten, die diese, sobald der Mobilmachungs¬
befehl ergeht, durch die Gemeinde anschlagen lassen.
Die Einberufung der nichtaktiven Mannschaft soll erfolgen: Linien-
infanterie (Grenadiere): I. Linie am 2., II. Linie am 3., III. Linie am
4. Mobilisierungstage. Bersaglicri: I.Linie am 2., II. Linie am 3. Mobili¬
sierungstage. Alpini: I. Linie am 1., II. Linie am 2., III. Linie am 3. Mobili¬
sierungstage. Kavallerie: I. und II. Linie am 2. Mobilisierungstag. Fcld-
und reitende Artillerie (einschließlich der für den Traindieust bestimmten ältern
Jahrgänge der Kavallerie), dann technische Truppen: I., II. und III. Linie
am 2. Mobilisierungstag. Küsten- und Festuugsartillerie: I. Linie am 1.,
II. und III. Linie am 2. Mobilisierungstag. Zeugartillerie, Sarnath- und
Verpflegungstruppe: I., II. und III. Linie am 2. Mobilisierungstag.
Das Kommunikationsnetz. Das Bahnuetz ist für die Durchführung
der Mobilmachung nur in Oberitalien günstig, dort finden sich nebst den
Dampfeisenbahneu noch sehr viele Dampf- und elektrische Tramways vor, die
namentlich westlich vom Mincio tief in die bewohnten Gebirgstäler führen;
für größere Transporte dürften sie sich jedoch kaum eignen. Die Kommuni-
kativnsentwicklung läßt andrerseits in Mittel- und Süditalien viel zu wünschen
übrig. Besonders die über den Apennin führenden Linien haben eine sehr
geringe Leistungsfähigkeit. Das Maximalgefälle beträgt 25 Prozent und selbst
27 Prozent, die maximale Zuglänge 50 Achsen. Das große und anhaltende
Gefälle nötigte zur Anlage von sogenannten Fanggleisen (Stockgleise mit
starkem Gegcngefülle). Die Wasserversorgung dürfte beim Massentransport
im Hochsommer große Schwierigkeiten verursachen. Die Stationsanlagen im
Gebirge sind beschränkt und liegen zum Teil im Gefälle. Dazu kommen
kleine Krümmungsradien und viele Tunnels, Viadukte, Anschnitte und große
Aufmauerungen, wodurch die Bahnerhaltung erschwert und die Betriebs¬
sicherheit — es wird nahezu überall noch mit Zcitdistanz gefahren, Semaphore
und Zentralweichenstellungen sind wenig zu sehen — verringert werden.
Mehrere Linien sind auch der Einwirkung von der See ausgesetzt und haben
in zahlreichen Tunnels und sonstigen Kunstbauten sehr empfindliche Anlagen,
die eine unternehmungslustige feindliche Flotte zerstören könnte, wodurch der
Gang der Mobilisierung und des Aufmarsches wesentlich beeinträchtigt würde.
In Oberitalien bestehn günstigere Verhältnisse, die Stationen sind sehr groß,
dort gibt es jedoch viele Kopfstationen und viele Kreuzungen im Niveau,
Rampen und Verlcidcvorrichtungen sind von beschränkter Leistungsfähigkeit.
Als besondrer Nachteil muß empfunden werden, daß das Heizungsmaterial,
die Kohle, fast ausschließlich aus dem Auslande bezogen wird und im Frieden
auf die Bereitstellung eines Sicherheitsvorrats nicht das gebührende Augen¬
merk gerichtet wird. Es werden sich deshalb auch schon im ersten Stadium
der Mobilmachung sehr große Friktionen ergeben, die auf die Gewinnung der
Marschbereitschaft und den Aufmarsch nachteilig rückwirken müssen. Die Ne¬
gierung ist gegenwärtig bestrebt, diesen nachteiligen Zuständen durch umfang¬
reiche Neuanlagen und Materialbeschaffung abzuhelfen. Die Straßen und
Naturwege, die für die engere Einrückungsbewegung in Frage kommen, sind
auch im Apennin gut entwickelt. Die Ortschaften liegen in Oberitalien in der
nächsten Nähe der Bahnen, in Mittel- und Süditalien ist die Entfernung oft
ziemlich groß, wodurch die Einberufung erschwert wird.
Die Lebensmittelvcrhältnisse sind im allgemeinen günstig. Die rege
Handelstätigkeit in Oberitalien sichert eine rasche Bereitstellung der bei der
Mobilmachung nötigen Massenvorräte. Die Getreideproduktion reicht allerdings
für den Bedarf des Landes nicht aus, und im Kriege wird sich die Notwendig¬
keit ergeben, durch Nachschub aus dem Auslande den gesteigerten Bedarf zu
decken. Der Wohlstand der Landbevölkerung der Tiefebene ist seit den letzten
Kriegen zwar gesunken. Immerhin werden sich im Tieflande, ausschließlich der
Lagune, an Produkten des Ackerbaues namentlich Mais, Weizen, Reis, Bohnen,
Wein und Gemüse, von jenen der Industrie Nadeln, Manufakturen, Leder,
Eisen aufbringen lassen. Das Vieh dürfte auch für große Kräfte ausreichen,
Heu ist viel, Hafer hingegen wenig vorhanden. Welche Vorsorgen für das
zum Teil im Auslande erzeugte Artilleriematcrial getroffen sind, und inwieweit
die Kriegsvorsorgen für die Sicherstellung von Munition reichen, entzieht sich
allgemeiner Kenntnis.
Bei der Infanterie gelten als Einrücknngsstationen der
nichtaktiven Mannschaft die „Depots", in denen sich die Augmentiernngsvorräte
befinden. Bei jedem Infanterieregiment besteht ein Depot, das mit dein
Regimentsstabe meist (ausgenommen nur achtzehn Regimenter) örtlich vereint
ist. Die Depots sind jedoch mit den Regimentern nicht untrennbar verbunden,
wechselt das Regiment die Garnison, so übernimmt der neue Truppenkörper
die Kammer, die Mobilisierungsvorräte und einen Teil des Depotpersonals
von dem abgehenden Truppenkörper. Daß diese Methode gerade nicht einfach
ist, leuchtet ohne weiteres ein, aber sie entspricht dem Sparsystcm der italienischen
Negierung. Im Frieden erhalten die Regimenter ihre Ergänzung aus vier, im
Kriege aus einem Distrikte; die zu dem im Distrikte befindlichen Depot ein¬
rückenden nichtaktiven Mannschaften werden dort ausgerüstet und bekleidet und
sodann zur Hälfte auf jedes der beiden Regimenter der Brigade verteilt, und
zwar so, daß Leute, die bei Regimentern mit geraden Nummern gedient haben,
dem geraden Regiment der Brigade, die aus Regimentern mit ungeraden
Nummern entstammende Mannschaft dem ungeraden Regiment der Brigade
zugewiesen werden. Da Probemobilisierungen nur selteu stattfinden, muß sich diese
etwas umständliche Einrichtung erst bewähren. Ungünstig auf die Raschheit der
Mobilisierung wirken die niedern Präsenzstände; die vorgeschriebnen Stände
von 110 Mann werden nie erreicht. Die Linieninfanterie soll mit den Friedens¬
ständen 48 Stunden nach Empfang des Mobilisierungsbefehls, die zum Grenz-
schntze oder zur ersten Besatzung von Befestigungen bestimmten Abteilungen
möglichst rasch marschbereit sein. Die Ergänzungen und Trains der ersten
Linie erreichen zwischen dem dritten und sechsten Mobilisierungstage die Marsch¬
bereitschaft, jene der Bersaglieri zwischen dem dritten und neunten Tage. Die
Kriegsstünde einer Kompagnie sind mit 250 Mann, darunter 242 Kombattanten
festgesetzt, sodaß die Augmentierung auf den Kriegs- vom Friedensstande nahezu
200 Reserveleute fordert.
Für die Mobilmiliz bestehn im Frieden keine Katers; im Mobilisiernngs-
falle rückt die nichtaktive Mannschaft aus den Distrikten zu dem diesen ent¬
sprechenden Depot ein, wo sie ausgerüstet und bekleidet und sodann in Abteilungen
zusammengestellt werden. Jedes Depot stellt eine in den Mobilisiernngsver-
ordnungcn festgesetzte Zahl von Kompagnien und Bataillonen ans, den Depots
liegt überdies die Formierung der Stäbe ob. Die Mobilmiliz wird nun allerdings
bei den Manövern in größere Verbände zusammengezogen, so wurden 1903
und 1905 je eine Mobilmilizdivision, 1904 mehrere Alpinimobilmilizkompagnien
aufgestellt. Der Umstand, daß im Frieden keine Katers bestehn, wirkt natürlich
nachteilig für deu Übergang vom Friedens- zum Kriegsverhältnis. Soweit die
Manövererfahrungen ein Urteil zulassen, muß man in die Disziplin und Marsch-
fühigkeit der Mobilmiliz starke Zweifel setzen. Die Mobilmiliz der Linieninfanterie
soll am siebenten Mobilisierungstage, jene der Bersaglieri am neunten Mobi¬
lisierungstage marschbereit sein. Für die Territorialmiliz bestehn ebenfalls
keine Friedenskaders, sodaß im Kriegsfalle Neuformationen zu errichten wären.
Für die aufzustellenden 324 Bataillone fehlen allein 2000 Subalternoffiziere.
Die Bekleidung und Ausrüstung der einrückenden Mannschaften der dritten
Linie erfolgt bei den Distrikten, zum Unterschiede vom Heer und der Mohn-
miliz, die bei den Depots ausgerüstet werden. Die Marschbereitschaft soll am
achten Mobilisierungstage erreicht sein.
Auf den ersten Blick leuchtet ein, daß die Mobilisierung der drei großen
Bestandteile: Linienhcer, Mobilmiliz und Territorialmiliz ziemlich umständlich
ist; besonders die von den Depots zu leistende Arbeit scheint in der kurzen
Zeit kaum zu bewältigen; sie sollen die in wenig Tagen zusammenströmenden
nichtaktiven Mannschaften des stehenden Heeres und der Mobilmiliz bekleiden
und ausrüsten, Mannschaften, die vielleicht nie in dem Distrikte gedient haben
und daher wenig orientiert sind; weiter ist zu bedenken, daß eine nicht un¬
beträchtliche Zahl der Jnfanterietrnppenteile mit den Friedensstünden in den
Aufmarschraum abgeht und die Depots, die ja nur über einen geringen
Personalstand verfügen, allein lassen, während in andern Staaten die Truppen
an der Mobilisierung ihrer Reservemannschaft selbsttätigen Anteil nehmen.
Daß unter diesen Umständen die angegebnen Marschbereitschaftstermine nicht
eingehalten werden können, steht wohl außer Zweifel. Die Mobilisierung
des Trnppentrains wird insofern ohne Schwierigkeiten erfolgen können, weil
er verhältnismüßig klein ist und nur aus etatsmüßigen Fuhrwerken, die schon
im Frieden bei den Truppen untergebracht sind, besteht. Für die Aufbringung
der nötigen Pferde ist Vorsorge getroffen: in: Wege der xreevUsUcmc!, indem
jeder Truppenkörper in der ihm schon im Frieden zugewiesnen Zone die nötige
Zahl von Pferden ermittelt und die Besitzer ensuit, sie zu dein im Mobili-
siernngsplane festgesetzten Tage in den Gcstellungsort zu bringen, und durch
freihändigen Ankauf vor und während der Mobilmachung. Der Pferdebedarf
der Infanterie soll in den zwei ersten Mvbilisieruugstagen gedeckt sein. Die
Zahlen sind wohl etwas optimistisch gehalten, und es wird die Frage sein, ob
der ziemlich komplizierte Apparat tatsächlich so funktionieren wird, wie es auf
dem Papier steht. Probemobilmachungen, die ein zuverlässiges Urteil über die
Mobilisierullgsverhältnisse ermöglichen könnten, finden nur sehr selten statt.
Faßt man das Vorhergcsagte zusammen, so gelangt man zu dem Schluß,
daß einerseits die im Mobilisicrnngsfalle geänderte Ergänzung der Regimenter,
andrerseits die Überhäufung der Depots mit Arbeiten die Raschheit in der
Erreichung der Marschbereitschaft sehr beeinträchtigen werden, sodaß die fest¬
gesetzten Zahlen in der Regel nicht zu erreichen sein dürften, woraus sich wieder
eine Reihe nicht unbedenklicher Friktionen ergeben kaun, die die Aufmarsch¬
zeiten und die Berechnungen über die ersten Operationen stark beeinflussen
werden.
Der Friedcnsstand einer Feldeskadron ist mit 4 Offizieren,
155 Mann und 142 Pferden festgesetzt, der Kriegsstand mit 5 Offizieren,
133 Mann und 137 Pferden; der Übergang vom Friedens- zum Kriegsver¬
hältnis erfolgt durch Ausscheiden aller minder geeigneten Mannschaften und
Pferde. Die italienische Kavallerie hat sonach einen hohen Grad der Kriegs¬
bereitschaft und Schlagfertigkeit. Bei einer durchschnittlichen Friedensstärke von
etwa 20000 Manu, 19400 Pferden sind für den Kriegsstand von 24750 Manu,
24200 Reit- und 1500 Zugpferden nur 6700 Mann und 6800 Pferde nötig,
wenn die abgestoßnen Mannschaften mit 2000 Mann und die minder kriegs¬
diensttauglichen Pferde mit der gleichen Zahl geschätzt werden. Da die Zahl
der bei der Kavallerie gedienten nichtaktiven Mannschaften 20000 Mann beträgt,
so erübrigen sowohl für die Aufstellung von Neuformationen wie für die Ver¬
teilung auf die andern berittnen Truppen eine große Zahl ausgebildeter
Kavalleristen; zudem stehn noch etwa 35000 Mann der Territorialmiliz zur
Verfügung. Die Kavallerie der ersten Linie soll 24 Stunden, die zum Grenz¬
schutze oder zur ersten Besatzung von Befestigungen bestimmten Abteilungen
möglichst rasch nach Eingang des Mobilisierungsbcfchls marschbereit sein. Er¬
gänzungen und Trains sind am fünften Mobilmachnngstage marschbereit, die
Kavallerie der zweiten Linie sofort nach ihrer Ausrüstung. Die Naschheit der
Mobilisierung ermöglicht daher die Entsendung der Kavallerie sofort nach Ein¬
treffen des Mobilmachungsbefehls zur strategischen Aufklärung und zum Grenz¬
schutz, weiter zu Unternehmungen in Feindesland. Dieser Möglichkeit wird in
den österreichisch-italienischen Grenzbezirken durch Errichtung von Blockhüuseru
an den empfindlichen Stellen der Aufmarschbahnen weitgehend Rechnung ge¬
tragen. Die Ergänzung ist im Frieden national, im Kriege im allgemeinen
regional aus dem weitern Bereiche der Friedcnsgarmson. Die Mobilmachung
und Aufmarschbeweguug wird durch die geringe Zahl der Trains und durch
die Anhäufung von mehr als zwei Drittel der Kavallerie an der oberitalienischen
Grenze wesentlich begünstigt. Die Mobilmilizeskadronen werden als Kolonnen¬
kavallerie verwandt, sodaß deren geringere Kriegsbereitschaft ebensowenig in die
Wagschale fällt wie jene der österreichischen Landwehrkavallerie.
Im Gegensatz zur Infanterie liegen also die Verhältnisse für eine rasche,
reibungslose Mobilmachung und für eine beschleunigte Marschbereitschaft bei der
Kavallerie sehr günstig; sie kann noch vor Erlassen des Mobilisierungsbefehls
in den Aufmarschraum und an die bedrohten Grenzen abgehn.
Der Friedensstand einer Feldbatterie beträgt 3 Offiziere,
90 Mann, 40 Pferde, 4 Geschütze, der Kriegsstand im allgemeinen 4 Offiziere,
152 Mann, 122 Pferde, 4 Geschütze; die Augmentierung ist somit nicht
schwierig. Die Ergänzung ist im Frieden national, im Kriege territorial, sodaß
von den im Mvbilmachungsfalle einrückenden Reservisten ein Drittel schon im
Regiment gedient hat, während der Rest andern Truppenkörpern entstammt.
Das hierüber bei der Infanterie gesagte trifft daher auch für die Feldartillerie
zu. Die reitende Artillerie ergänzt sich im Frieden wie im Kriege regional.
Über die Dislokation ist zu bemerken, daß sich von den 189 Feld- und reitenden
Batterien im ganzen 113 Batterien in Oberitalien befinden. Als Mobilisierungs¬
zentren gelten die Regimentsdepots. Diesen liegt im Kriege nicht nur die
Mobilmachung der eignen Truppen ob, sondern es ist ihnen überdies noch eine
Reihe sonstiger Maßnahmen aufgebürdet: die Mobilmachung und die Aufstellung
der Trains der Stabs- und Hauptquartiere, der Scmitäts- und Verpflegungs¬
anstalten der Divisionen und Korps und zum Teil auch der Armeeanstalten.
Zu diesem Zweck sind den Regimentern zwar ein bis vier Trainkompagnien
angegliedert, die jedoch den schwer wiegenden Nachteil der Überbürdung mit
Arbeiten, in einen so kurzen Zeitraum zusammengedrängt, nicht wettzumachen
vermögen, und es muß sehr bezweifelt werden, daß diese komplizierte Maschine
rechtzeitig und sicher funktionieren werde. Die Feld- und reitende Artillerie
soll am fünften Tage; die zum Grenzschutz oder zu Besatzungen bestimmten Ab¬
teilungen möglichst rasch nach Eingang des Mobilisierungsbefehls marschbereit
sein. Die Pferde werden entweder durch Sicherstellung im Frieden oder durch
freihändigen Ankauf während der Mobilisierung aufgebracht. Es ist hier gleich
wie bei der Kavallerie Sorge getroffen, daß einzelne Batterien mit den Friedens-
ständcn sofort an die bedrohten Grenzen abgehn können. Die Batterien der
zweiten Linie sollen am fünften Werdcsicherstellung schon im Frieden) und am
elften Tage die Marschbereitschaft erreichen. Die Ergänzungen und Trains
der mit dem Friedensstande abgegangnen Formationen erster Linie sind am
fünften Mobilmachungstage marschbereit.
Bei der Küsten- und Festungsartillerie werden im Kriegsfalle zu
den schon im Frieden bestehenden 41 und 37 Kompagnien noch 41 Küsten-
und 37 Festungsartilleriekvmpagnien der zweiten Linie aufgestellt, sodaß
82 Küsten- und 74 Festnngsartilleriekompagnien verfügbar sein werden. Die
Ergänzung ist im Frieden national, im Kriegsfalle regional. Die Mobil¬
machung erfolgt in den Standorten der Regimentsdepots und der detachierten
Brigadekommanden; die Marschbereitschaft soll sofort nach Eintreffen des Mobil¬
machungsbefehls erreicht werden, die der zweiten und dritten Linie, die ebenfalls
von den Regimentern aufgestellt werden, am siebenten oder achten Mobilisierungs¬
tage. Einzelne Kompagnien gehn sofort nach Empfang des Marschbefehls mit
dem Friedeusstande in die schon im Frieden bestimmten Grenzfestungen ab;
ihre Kriegsaugmentierung wird am fünften Mobilisiernngstage marschbereit.
Von den technischen Truppen sind 47 Kompagnien, das ist drei Viertel,
in Oberitalien untergebracht, die Ergänzung ist im Frieden im allgemeinen
national, im Frieden teils national, teils regional. Die Mobilisierung erfolgt
bei deu Negimentsdepots und im Standorte der Eisenbahnbrigade. Im Kriege
werden außer den Sappenr- und Telegraphen-, den Mineur- und Trainparks und
den Brückensektionen und Brückenequipagen keine Neuformationen aufgestellt. Bei
Bedarf gehn einige Abteilungen mit dem Friedensstande an die Grenze ab.
An Gebirgstruppen sind die Alpini und ein Artillerieregimeut vor¬
handen. Die Alpini ergänzen sich im Frieden wie im Kriege aus dem Bereiche
ihres Friedensstandortes und sind in jenen Gegenden disloziert, wo sie im
Kriege aufzutreten berufen sind. Der Fricdensstand einer Kompagnie beträgt
4 Offiziere und 140 Mann und 4 Tragtiere. Zur Ergänzung der ersten Linie
auf den Kriegsstnud (6 Offiziere, 255 Mann für die Kompagnie) sind ins-
gesamt 22982 Mann nötig, die sich auch tatsächlich im nächsten Umkreise be¬
finden. Die Augmenticrung erfolgt daher rasch und vollkommen hinreichend.
Etwas ungünstiger liegen die Verhältnisse bei der zweiten und der dritten Linie,
hier fehlen auf den Kriegsbedarf über 4000 Mann. Eine rasche und friktionslose
Mobilmachung ist besonders durch die Dezentralisation der Mobilisierungs¬
arbeiten verbürgt. Jedes Bataillon und die selbständigen Kompagnien mobi¬
lisieren für sich und besitzen auch eigne Bataillons- und Kompagniemagazine,
in denen die Kriegsvorräte liegen. Die Einheiten haben überdies den für den
ersten Ausmarsch nötigen Train bei sich, für die Aufstellung der zweiten und
dritten Trainstaffel und des Trains der Milizen liegt das Material in den
Bataillonsmagazinen. Somit können die Kompagnien der ersten Linie, ohne
die Reservemannschaft abzuwarten, schon wenig Stunden nach Empfang des
Mobilmachungsbefehls marschbereit sein. Das Eintreffen der nichtaktiven Mann¬
schaft dürfte am dritten Mobilisieruugstage beendet sein, sodaß die Kompagnien
der ersten Linie einschließlich des Trains am fünften, die der zweiten und
dritten Linie am siebenten Mobilisierungstage schlagfertig dastehn.
Die Mobilisierung des Gebirgsartillerieregiments erfolgt bei
den Mobilisierungszentren in Turin, Mondovi und Oneglia, der venezianischen
Gebirgsartilleriebrigade in Conegliano. Die Marschbereitschaftstermine find
nahezu dieselben wie bei den Alpinis, erste Linie am fünften (Batterieparks am
zehnten), zweite Linie am sechsten (Parks am elften) Mobilisieruugstage.
Der Truppcntrain wird von den Truppen selbst aufgestellt; das Material
lagert bei den Truppen, jenes der Artillerie und für die technischen Anstalten
bei den Artillerie- und Genietruppenteilen, für die Scmitüts- und Verpflegungs¬
kompagnien bei diesen. Die Pferde werden durch xreootwtions beschafft.
Vom Armeetrain werden die Artillcrieanstalten, die Trains der Hcmpt-
und Stabsquartiere, die Scmitäts- und die Vcrpfleguugsanstalten der Korps
und Divisionen durch die Artillerie, die technischen Trains von der Geuietruppe
aufgestellt. Hiervon mobilisieren die Artillerieanstalten (Munitionskolonnen und
Munitionsparks) im Standorte der Negimentsdepots, die Scmitüts- und Ver¬
pflegungsanstalten im Standorte der Scmitäts- und Verpslegnngskompagnien.
Die Pferde werden teils durch Sicherstellung im Frieden, teils durch Requisition
beschafft; für die letzte Veistellungsart werden besondre Abholungskommanden
gebildet.
Die großen Trains der Armeen werden aus den Lcmdesfuhreu des
„militärischen Hilfstrains" gebildet. Dazu gehören nichtaktive Offiziere der
berittnen Waffen, Territorialinilizmannschaft der Kavallerie, des Artillerie-
und Genietrains, überzählige Territorialmilizmannschaften der übrigen Waffen
und Angehörige der dritten Kategorie. Die Mobilisierung des Hilfstrains
liegt den Korpskommandcn ob, und es besteht schon im Frieden bei jedem
Korpskommando eine unter der Leitung eines Stabsoffiziers stehende Abteilung
für die Organisierung und Mobilisierung des Hilfstrains.
Die Marschbereitschaft soll erreicht werden: von den Trains der Haupt-
und Stabsquartiere (Divisionsstabsquartiere der ersten Linie), den Infanterie-,
Kavallerie-, Scmitüts- und Verpflegungssektionen für die Korps und für die
Divisionen der ersten Linie, für die Feldlazarette zu 50 Betten am fünften
Mobilmachungstage, für die Kavalleriedivisionsartillerieparks, die Krcmken-
trausportzüge, die vorgeschobnen Armeeverpflegungsinagazine, die Armeereserve-
verpflcgungsparks und die fahrbaren Feldbäckereisektionen am siebenten, für die
Stabsquartiere der Mobilmilizdivisioncn, die Munitionskolonnen der Korps
und der Divisionen erster Linie, die Jnfanteriescmitcits- und Verpflegungs¬
sektionen für die Mobilmilizdivisioneu am achten, für die übrigen Anstalten
zwischen dem neunten und achtzehnten Mobilisieruugstage. Die Überbürdung
der Artillerie mit der Traiumobilisierung dürfte zur Folge haben, daß die
angegebnen Bereitschaftstermine wesentlich überschritten werden.
Sicherung der Mobilisierung. Die geographische Gestaltung der
Grenze erfordert zur Sicherung der Mobilisierung und des Aufmarschcs das
Entsenden von Kraftgruppen in die von den Grenzen umfaßten Räume.
Deshalb ist Vorsorge getroffen, daß die an den Grenzen dislozierten Truppen
durch andre Truppenteile aller Waffen, die mit dem Friedensstande in die
bedrohten Grenzgebiete abgehn, verstärkt werden; zum Grenzschutze werden
überdies noch die Mannschaften der Gendarmerie und der Finanzwache heran¬
gezogen, sodaß sich im Anschluß an die zahlreichen und gut angelegten Grenz¬
befestigungen eine hinreichende Schutzzone ergibt, die auch von einem starken
Gegner nicht ohne weiteres durchstoßen werden kann. Ob sich aus der Ent¬
sendung so zahlreicher Truppen mit den Friedensständen nicht eine Komplikation
in der ganzen Mobilmachung und dem Aufmarsch ergeben wird, sei dahin¬
gestellt. Die Gebirgstruppen und Truppen der Grenzkorps sollen schon am
ersten Mobilmachungstage mit den Friedensstäuden in den ihnen zugewicsnen
Grenzabschnitten eintreffen, wo durch Errichtung von Mnnitions-, Sanitäts¬
und Verpflcgungsmagazinen für ihre Ausrüstung und für ihren Unterhalt
Vorsorge getroffen ist; in den Grenzbefestigungen bieten sich ihnen überdies
sichere Sammelräume für die Verteidigung wie für übcrfallartige Unternehmungen
gegen die feindlichen Grenzgebiete.
Die Dislozierung von mehr als zwei Drittel der Armee in Oberitalien
erleichtert den Aufmarsch, der geringe Umfang des Truppentrains und die
Art der Pferdebeschaffung kommen der Naschheit der Mobilisierung zustatten,
die Überhäufung der Depots der Infanterie und Artillerie mit Mobilisierungs-
nrbeiten lassen aber Zweifel zu, daß die angegebnen Bereitschaftstermine tat¬
sächlich erreicht werden. Infolge der ungünstigen Einrückungsverhültnisse und
der immer noch hohen Zahl von Auswanderern unter dem Einflüsse der
antimilitaristischen Propaganda dürfte die Ergänzung auf den Kriegsfuß auf
bedeutende Schwierigkeiten stoßen. Die Beschaffenheit der Eisenbahnen endlich
kann zu großen Friktiouen führen, die den Gang der Einrückungsbewegung
und des Aufmarsches nachteilig beeinflussen könnten. Diese großen Nachteile
scheint man durch eine vorzeitige Einberufung, also vor dem Ergehn des
Mobilmachungsbefehls, einigermaßen ausgleichen zu wollen; überdies sind
Vorkehrungen für eine teilweise ausgeführte Mobilisierung und für die Alar¬
mierung der Grenzkorps getroffen, Maßnahmen, denen die allgemeine Mobili¬
sierung folgen kann.
n der Schweiz, im Musterkarte der Milchverwertuug, klagte
schon im Jahre 1884 der eidgenössische Gewerbeinspektor und
Arzt Schuler in einem Werke „Über die Ernährungsverhältnisse
der arbeitenden Klassen der Schweiz", daß infolge des Gro߬
betriebs der Molkereien und des Exports der Molkereiprodukte
die Ernährung der einheimischen Bevölkerung verarme, obwohl man schon so
vorsichtig geworden war, die Molkereien zur Abgabe von billiger Milch an
die Bewohner der Produktionsorte zu verpflichten. Im Jahre 1906, als die
Entmilchung des Landes zwanzig Jahre fortgesetzt worden war, ergab es
sich nach Dr. Jung-Burghölzli bei der Aushebung in der Luzerner Gegend,
daß einzelne wohlhabende Orte in fruchtbarer Gegend nicht einmal dreißig
Prozent tauglicher Wehrpflichtiger stellten, und daß auffallend viele von den
Gemusterten mit Schwachsinn und andern Entartungssymptomen behaftet waren.
Dr. Jung führt diese betrübende Tatsache auf die Entmilchung des Landes
und die Verarmung der Kindernahrung zurück. Wismcmn, Hafter und Wütrich
stellten ähnliche Schäden bei der Musterung der Appenzeller und Glarner
Wehrpflichtigen fest. Die milchreichsten Länder Enropas, Holland, Dänemark
und die Schweiz, find für die angrenzenden deutschen Gebiete dadurch gefähr¬
lich geworden, daß ihre Milchwirtschaft, die bei ihnen infolge ihres großen
Reichtums an Kühen die Volksernährung nicht beeinflußt, von den deutschen
Nachbarn mit ihrem viel geringern Rinderbestand nachgeahmt wurde. Holland
hat der Provinz Hannover das Danaergeschenk der Milchausnutznng gebracht.
Die sparsamen hannoverschen Bauersfrauen entziehen dem Haushalte und ihren
Kindern die Vollmilch. Die Folgen zeigten sich schon bei den letzten Aus¬
hebungen. Das Menschenmaterial mancher ländlichen Kreise war, wie Amts¬
richter Varenhorst berichtet, schon schlechter geworden. Das Vorbild der
dänischen Milchwirtschaft verführte die Schleswig-holsteinischen Bauern zu einem
selbstmörderischen Verzicht auf die Milchnahrung. Nun hat Jörn Abts rotwangige
Lena Tam bleichsüchtige Schwestern. Der holsteinische Arzt Dr. Klaßen erklärt
diese Bleichsucht durch die Verarmung der Jugendnahrung. Von der Schweiz
drang das Übel der Entmilchung in den südlichen Teil Bayerns. Im Jahre 1907
wurden im Lindauer Landbezirk von 604 Wehrpflichtigen nur 20 tauglich be¬
funden, 270 mußten zurückgestellt werden, die übrigen waren infolge ihrer
schlechten Körperbeschaffenheit untauglich für den Dienst im aktiven Heere.
Als ich das las, erkannte ich den furchtbaren Ernst der Worte, womit General¬
stabsarzt Dr. von Vogt im Jahre 1905 ohne jedes Kassandrapathos die Not
der Landkinder schildert: „Am Lande wird nicht gestillt oder wenig, und die
Kuhmilch wird dem Lande durch Export in die Stadt gänzlich entzogen." Und
der wirtschaftliche Aufschwung, das Geld in der Tasche des Landmanns?
Gleichen die den Schaden nicht ans? Die Antwort hat schon der Kriminal¬
wachtmeister gegeben. Was er sagte, wird durch Dr. Weigi in München be¬
stätigt. Der Münchner Gelehrte stellt fest, daß für das Milchgeld, auch wenn
es einen namhaften Betrag ausmacht, keine oder keine genügende Ersatznahrung
gekauft wird. Auf alle Fälle ist der Bauer geschädigt. Sucht er Ersatznahrung,
so wird ihm das Geld, das er durch Hingabe des besten Nahrungsmittels ge¬
wonnen hat, für schlechte Nahrungsmittel abgenommen. Sucht er keine, dann
leiden er und die Seinen noch schwereren Schaden an ihrer Gesundheit.
Die Suchen waren ein ragendes Volk. Das Suebenskelett, von dem ich
oben sprach, mißt von den Knöcheln bis zum Scheitel 185 Zentimeter. Von
siebzehn Frauenskeletten aus suebischen Grübern fallen sechs zwischen 171 und
185 Zentimeter, zehn zwischen 160 und 170, nnr eines zwischen 140 und 150.
Von zweiundzwanzig Männerskeletten sind nur vier kleiner als 170 Zenti¬
meter, von dreien füllt das Maß zwischen 170 und 180, von zwölfen zwischen
181 und 190, zwei messen 196 und eines 199,2 Zentimeter. Muß man nach
den Ergebnissen der Musterung in Lindau nicht um die Enkel dieses Necken-
geschlechts in Sorge sein? Im Norden Lena Tarns Schwestern, im Süden
Bissnlas Enkelinnen bleichsüchtig — wer sieht sich da nicht nach Hilfe um?
Die Leutenot ist eine Wurzel dieses Übels.» Die Bauern haben nicht
genug Arbeitskräfte, ihre eigne kleine Milchwirtschaft zu betreiben, so geben sie
das Rohprodukt und damit ihre beste Nahrung aus der Hand, bis zum letzte»
Tropfen, weil sie nur die Eruährungsbedürfnisse ihrer Tiere, nicht die ihrer
Kinder kennen. Wer die Leutenot bekämpft, wer aus den Städten ein ver
sittzrura zur Besiedlung und Belebung verarmender, sterbender Bauerngüter
hinaussendet, wer diese Kolonisten über den Wert der Milch belehrt, der
sammelt unserm Volke ein Kraftkapital für künftige schwere Aufgaben, der
setzt an die Stelle der Trugrente der heutigen Milchwirtschaft eine Kraft- und
Machtrente.
Was zwischen der Mädeler Gabel, der Iller, dem Jura und dem Lech
an jungem, wehrfähigem Landvolk wächst, das wandert zum größten Teil
nach Augsburg, die Waffen führen zu lernen. Diese Bewegung entspricht
dem natürlichen Kreislauf der Volkskraft: von der Erde strömt sie zum Eisen.
Dann aber entsteht eine Kreislaufstörung im Volkskörper. Viele von den
jungen schwäbischen Kriegern verfallen der Stadt, sie finden den Weg in die
Heimat nicht mehr, sie nehmen in der Stadt mit einer luft- und lichtarmer
Existenz vorlieb, und draußen in der Heimat schwinden infolge des stetigen
Blutentzugs Wohlstand und Kraft, Familien sterben, und Bauerngüter und
starke Stämme werden schwach und bleichsüchtig. So schädigt der Heeresdienst
indirekt das Volk, indem er die Landgaue entvölkert und so die Quellbccken
der Volkskraft versiegen macht. Diese Wirkung hat der Heeresdienst in allen
Ländern, nicht nur in Deutschland. In Belgien ist man schon seit dem Jahre
1890 bemüht, die Landflucht der Reservisten durch einen landwirtschaftlichen
Fortbildungsunterricht einzuschränken. Frankreich, Dänemark und Italien
folgten dem Beispiel Belgiens. Am tatkräftigsten ging man in Italien daran,
der Landwirtschaft die Arbeitskräfte, dem Heere die Landrekruten und dem
Volke seine Zukunft zu sichern. Dort sind nach einer Statistik von 1906 in
220 Garnisonen landwirtschaftliche Fortbildungskurse für Soldaten eingerichtet.
45000 Mann nehmen an diesen Kursen teil, 500 Landwirtschaftslehrer sind
dabei tätig, und auf 100 eignen Feldern können die Soldaten ihre Kenntnisse
verwerten. Der italienische Vorkämpfer des Gedankens, Dr. Nazzari in Rom,
faßt die Methode, das Ziel und den Erfolg dieser Kurse folgendermaßen zu¬
sammen: „Wenn man dem landwirtschaftlichen Soldaten auch innerhalb der
Kaserne, fern von den Seinen und von seinen frühern Gewohnheiten, Gelegen¬
heit gibt, sich an die Egge oder den Pflug zu erinnern, wenn man ihm die
Praktiken guter Bewirtschaftung in Erinnerung hält, ihn weiter belehrt und
von dem Vorurteil gegen den Bauernstand befreit, dann wird er leichter zur
friedlichen und emsigen Arbeit seiner Väter zurückkehren; dann wird sich in
seinem Geiste nicht der krankhafte Wunsch nach dem Stadtleben und die Ver¬
lockung zur Jagd nach Anstellungen entwickeln, er wird ein guter Landwirt
werden und als solcher sich mehr Bewegungsfreiheit, eine größere geistige
Unabhängigkeit und eine wollkommne Gesundheit bewahren. Er wird nach
Vollendung des Dienstes in der Heimat immer ein Element der Bildung sein
und die Vorurteile der andern bekämpfen, dort, wohin er heute oft mit
städtischen Allüren, mit höhern Ansprüchen und schließlich als ein haltloser
Mensch zurückkehrt."
Der Befreiung von dem Vorurteil gegen den Bauernstand bedarf der
deutsche Soldat sicher nicht minder als der italienische. Denn der Bauern¬
lümmel, Bauernlackl, Bauernrummel wird vom ersten Tage seiner Dienstzeit
an durch den aggressiven Spott der städtischen Rekruten in die Defensive ge¬
drängt und mit einem bittern Vorurteil gegen seine Herkunft und gegen seinen
Beruf erfüllt. Und es ist nicht nur der Spott unreifer Kameraden, der ihm
die Tracht und die Arbeit seiner Väter und die Heimat verleidet. Wo wird
in Bayern die blödsinnige Feier des „musikalischen" Frühschoppens begangen,
ohne daß der Vers:
von alt und jung und von Angehörigen der verschiedensten Stände gesungen
wird? Ist es nicht dieser Vers, so ist es sicher die daraus sprechende
Stimmung, die vielen vom Lande stammenden Soldaten die Rückkehr in die
Heimat verleidet und das Vaterland um viele Bauern bringt.
In Deutschland gelang es, obwohl die deutsche landwirtschaftliche Presse
schon im Jahre 1902 auf das Beispiel Frankreichs und Italiens hingewiesen
hatte, erst im Jahre 1907 dem Landwirtschaftsreferenten bei der Regierung
von Schwaben und Neuburg, Regierungsrat von Braun, dem Gedanken der
landwirtschaftlichen Fortbildungskurse für Soldaten Bahn zu brechen. Nicht
durch das Wort, sondern durch die Tat. Die Opferwilligkeit des Ökonomie¬
rath Maler-Bode, der sich von Anfang an bereit erklärte, die Vorträge un¬
entgeltlich zu halten, die Hilfsbereitschaft eines bayrischen Reichsrath, der
willig wie ein Athener der größten Zeit Liturgien auf sich nimmt und auch
die Kosten dieses Unternehmens trügt, persönliche Beziehungen zum vierten
Chevaulegersregiment in Augsburg — wenn ich nicht irre, ist Regierungsrat
von Braun Rittmeister der Reserve —, das Verständnis und die Teilnahme,
die die aktiven Offiziere dem Gedanken ihres Kameraden entgegenbrachten,
endlich die dreijährige Dienstzeit der Kavallerie halfen dem Bahnbrecher die
Hindernisse überwinden, die solche Goldvliessucher oft gleich im Anfang ihrer
Fahrt festhalten. Aber den Weg hat Herr von Braun zuerst in Deutschland
erkannt und beschritten, diese Tat ist sein.
Zu dem Unterrichtskurs meldeten sich als freiwillige Teilnehmer 2 Unter¬
offiziere, 10 Gefreite und 38 Chevaulegers des zweiten und dritten Jahr¬
gangs. Vor schwäbischen, bayrischen, fränkischen, pfälzischen, elsässischen und
hmmoverschen Bauern sprach der Leiter der Königlichen landwirtschaftlichen
Winterschule Augsburg, Ökonomierat Maier-Bode, an zwanzig für die ganze
Kursdauer voraus festgesetzten Abenden über folgende Themata: 1. Die Ent¬
stehung und Zusammensetzung des Ackerbodens, 2. die Bearbeitung des Bodens,
3. der Bau und das Leben der Pflanzen, 4. die Zusammensetzung und Ge¬
winnung des natürlichen Düngers, 5. die künstlichen Düngemittel und ihre
Anwendung, 6. Saat, Pflege und Ernte der Kulturgewächse, 7. Schutz der
Pflanzen gegen Krankheiten und tierische Feinde, 8. der Kampf gegen die
Unkräuter, 9. die Getreidearten und ihr Anbau, 10. die Kultur und Pflege
der Wiesen, 11. der Futterbau auf dem Acker, 12. die Obstbaumpflege, 13. die
Ernährung unsrer Haustiere, 14. das Pferd und seine Zucht, 15. die Zucht
und Pflege des Rindes, 16. die Milch und ihre Verwertung, 17. die Züchtung
und Haltung der Schweine, 18. die Nutzgeflügelzucht auf dem Lande, 19. die
Einrichtung des landwirtschaftlichen Betriebes, 20. die Buchführung und das
landwirtschaftliche Unterrichtswesen. Der Vortragende belebte seine Lehren
durch Demonstrationen und Experimente und paßte sie der Vorbildung seiner
Hörer an. Beredt wußte er in ihnen den Glauben an das bescheidne und
doch reiche Glück dessen, der die eigne Scholle mit eignen Rindern und mit
eigner Kraft pflügt, zu wecken. Druckschriften, die den Zuhörern Kollegien¬
hefte ersetzten, hielten manchen Chevauleger manchen Abend von dem Wirts¬
haus fern und fanden auch den Weg in die Heimat einzelner Zuhörer, deren
Eltern lebhaftes Interesse für den Kurs zeigten. Eine zarte Rücksicht auf
die Schwerfälligkeit, die Zurückhaltung und die Spottscheu des jungen Mannes,
besonders des jungen Bauern lag darin, daß im Unterrichtslokal während der
ganzen Dauer des Kurses ein Briefkasten angebracht war, in den die Teil¬
nehmer mit oder ohne Nennung ihres Namens Fragen über ihre heimatlichen
Verhältnisse einlegen konnten. Die einlaufenden Fragen beantwortete der
Lehrer am nächsten Vortragsabend. Dieser feine pädagogische Zug macht den
Veranstaltern des Kurses alle Ehre.
Der Anteil des Offizierkorps an der Einrichtung der Kurse und ihre
Beteiligung an den Vortragsabenden war sicher eine gute Aussaat und hat
sicher guten Boden gesunden, wenn ihr sozialer Erfolg auch nie meßbar sein
wird. Wer lehrt, der weiß, daß nichts Lehrer und Schüler, Vorgesetzte und
Untergebne einander näher bringt, als wenn sich Lehrer und Schüler, Offi¬
ziere und Soldaten auf einer neutralen Schulbank, im Streben nach einem
neutralen Wissen zusammenfinden. Da füllt keine Schranke des Alters, des
Wissens oder des Standes, da wird kein Band der Disziplin gelockert, aber
die Geister und die Herzen kommen einander näher. Unser Offizierkorps ist
viel reicher an pädagogischer Kunst, als oberflächliche Kenner und vorein-
genommne Beurteiler dieses Standes glauben oder zugeben. Ich bin über¬
zeugt, daß die Offiziere, die die Vorträge besuchten, nicht alle kamen, um zu
lernen, sondern zum Teil auch, um den Schülern das Lernen wichtiger, dem
Lehrer das Lehren und sich das Führen leichter zu machen.
So wirkten alle Stellen — der Verwaltungsbeamte, der den Kurs ins
Leben rief, der Lehrer, der ihn leitete, die Offiziere, die ihn förderten — mit
pädagogischer Kunst bei diesem Werke der Volkserziehung zusammen, und alle
teilen sich in den Erfolg, der schon im Herbst des Jahres 1907 gemessen
werden konnte, als die sechzehn Teilnehmer des dritten Jahrgangs zur Reserve
entlassen wurden. Einem der Reservisten wurde auf seinen Wunsch eine
Stellung auf einem größern Gute in Oberbayern vermittelt. Die übrigen
fünfzehn gingen alle in ihre Heimat, acht als landwirtschaftliche Arbeiter auf
eigner oder fremder Scholle, sieben als ländliche Handwerker, die wenigstens
ihre Kartoffeln bauen und einen Birnbaum und ein paar Noseustämmchen zu
ihrer Fcicrabendfreude pflegen.
Regierungsrat von Braun konnte folgende Summe des Unternehmens
ziehen: „1. Die landwirtschaftlichen Vortrüge für Soldaten sind ein wirt-
sames Mittel zur Stärkung des Hcimatsinnes und der Liebe zum landwirt¬
schaftlichen Berufe und erscheinen geeignet, der Landflucht, die gerade durch
den Aufenthalt der aus ländlichen Kreisen stammenden Soldaten in großen
Garnisonen gefördert wird, entgegenzuwirken. 2. Die gesteigerten Anforderungen
der zweijährigen Dienstzeit bilden kein Hindernis für die allgemeine Ein¬
führung solcher Vortragskurse. 3. In allen Garnisonen, welche Sitz einer
landwirtschaftlichen Schule oder eines landwirtschaftlichen Wanderlehrers sind,
ist die Einführung der Kurse mit geringen Kosten möglich. In andern
Garnisonen muß die Veranstaltung durch Heranziehung gebildeter praktischer
Landwirte oder unter Mitwirkung von Offizieren, welche auf dem Lande auf¬
gewachsen und mit dem landwirtschaftlichen Betriebe vertraut sind, versucht
werden. 4. Auf die Auswahl des Lehrpersonals ist die größte Sorgfalt zu
verwenden, da die günstige Wirkung der Kurse in erster Linie von der Be¬
fähigung des Vortragenden zu fesselnder Darstellung bedingt ist. 5. Die
Vorträge sind in möglichst gemeinverständlicher Form durch stete Anknüpfung
an bekannte Vorgänge in der Natur und im landwirtschaftlichen Betriebe so
anregend wie möglich zu gestalten, und wo immer tunlich, durch Demon¬
strationen und Experimente zu beleben. Dabei ist stets die Tendenz, die
Stärkung der Liebe zur heimatlichen Scholle und zum landwirtschaftlichen
Berufe im Auge zu behalten. 6. Das Ziel der Veranstaltung muß vor allem
die Rückführung der aus ländlichen Kreisen stammenden Soldaten in die
Heimat sein. Nur für solche Teilnehmer, welche auf dem elterlichen Besitz
oder in ihrem frühern Wohnorte keine Beschäftigung finden können, ist der
Nachweis andrer landwirtschaftlicher Stellen anzustreben. 7. Die Teilnahme
an den Kursen soll sich auf die aus bäuerlichen Kreisen stammenden Sol¬
daten beschränken und muß stets eine vollkommen freiwillige sein, damit
die Teilnehmer die Veranstaltung als eine angenehme Abwechslung in der
Eintönigkeit des Dienstes und nicht als Zwang empfinden. 8. Die Kosten
der Kurse und der Stellenvermittlung, welche überall nnr gering sein werden,
sind im Bedarfsfalle von den landwirtschaftlichen Vertretuugskörpern aufzu¬
bringen."
Es ist kein Zweifel: die Vortrüge schränken den Kraftraub, den bisher
die großen Städte durch ihre Saugkraft am platten Lande verübten, bedeutend
ein. Der Mann, der sich das Mittel aus der Fremde aneignete, und seine
Mitarbeiter, die ihm den kranken Volkskörper behandeln helfen, verdienen den
Dank der Nation. Dieses s-uZner a blaue, zerrüttet die Kraft des Volkes
sicherer als jenes, von dem Bismarck am 11. Januar 1887 sprach. Beutel
ein von Natur grausamer oder ein durch die Sorge für die eigne Sicherheit
zur Grausamkeit gezwungner Sieger ein unterlegnes Volk aus, so kann diesem
durch die Notkur sogar die Kraft gesteigert werden. Sicher wird aber die
Kraft eines Landes zerrüttet und schließlich vernichtet, wenn es selbst den
tiefen und reichen Jungbrunnen ausschöpft, den es in seinem Landvolke hat.
Regierungsrat von Braun hat ganz recht, wenn er die hohe Tcmglichkeits-
ziffer der Fabrikbevölkerung damit erklärt, daß die Fabrikrekruten noch zu
einem großen Teil ein Produkt des platten Landes sind. Den in der Stadt
gebornen Söhnen dieser Fabrikrekruten fehlt schon die Berührung der Mutter
Erde. Ihre Kraft ist nicht aus dem reichen Boden geschöpft, ihre Väter waren
schon den Schädigungen des städtischen Lebens ausgesetzt, sie selbst leiden
wieder darunter, und mag die Sorgfalt der körperlichen und geistigen Aus¬
bildung, die ihnen in der Stadt erreichbar ist, sie auch ihren gleichaltrigen
Kameraden vom Lande überlegen machen, ihre Kraft ist nicht so dauerhaft
und so vererbbar wie die, die jene gewinnen, indem sie ihre Jugend lang
mit nackten Füßen über die mütterliche Erde gehn. Herr von Braun erinnert
an die Sage von dem Riesen Antaios, sie gibt im Bilde eine Wahrheit, die
keine Statistik widerlegen oder mir erschüttern kann: dem Volke bleibt seine
Giganten kraft nur dann erhalten, wenn es nicht von der Gigantenmutter Erde
getrennt wird.
Die Bekämpfung der Entvölkerung des Landes ist zugleich ein Kampf
gegen die Unterernährung des Landvolkes infolge der Milchnot. Dieses saiAnsr
Z. blaue, die Entmilchung der Bauernhüuser und -Hütten, ist nach meiner
Ansicht noch gefährlicher als die Abwanderung in die Stadt. Wäre wenigstens
der zurückbleibende Teil der Landbevölkerung gut ernährt, dann versiegte der
Jungbrunnen unsers Volks nicht ganz, wenn er auch wasserarm würde. So
aber sind die auf dem Lande zurückbleibenden teils infolge ihrer Gewinnsucht,
teils infolge des Mangels an Arbeitskräften, der ihnen die selbständige Aus¬
nützung ihres Milchertrags nicht erlaubt, schlecht genährt. Diese Beobachtung
muß jedem Vaterlandsfreunde das Herz schwer machen.
Nun wird die von Herrn von Braun in Deutschland eingeführte Be¬
kämpfung der Landflucht die Abwanderung sicher einschränken, und wenn sich
die Arbeitskräfte auf dem Lande mehren, werden vielleicht mich wieder Klein¬
bauern den Mut und die Möglichkeit zum eignen Betrieb einer Milchwirtschaft
bekommen. Und damit wird das Bauernhaus wieder reicher an dein edelsten
Nahrungsmittel werden. Vielleicht, sicher kann man es nicht erwarten. Denn
die Milchwirtschaft besteht gegenwärtig in der direkten Umformung der Milch
in Geld. Die Umformung der Milch in Bauernkraft und Volksgesundheit ist
ganz in Vergessenheit geraten, bei den Bauern selbst und bei ihren wirtschaft¬
lichen Beratern. Ich lese nur von Ausnützung der Molkereiprodnkte, Milch¬
verwertung, und finde nirgends als Ziel der Ausnützung, der Verwertung die
Kraft des Volks genannt.
Der Zufall ließ mich in der Zeitschrift „Das Land", der ich oben einige
Daten über die Wirkung der Entmilchung in der Schweiz und in andern
Ländern entnommen habe, unmittelbar neben dem Artikel über die Unterernährung
des Landvolks den Bericht des Herrn von Braun über die landwirtschaftlichen
Vorträge für Soldaten abgedruckt finden: Übel und Heilmittel nebeneinander.
Der weite Blick, den Herr von Braun mit der Einführung der landwirtschaft¬
lichen Fortbildungskurse für Soldaten bewährt hat, gibt mir die Gewißheit,
daß ich ihn nicht an die Verwendbarkeit dieser Kurse zur Bekämpfung der
Milchvcrgcnduug auf dem Lande zu erinnern brauche. Aber allen den ver¬
dienten Münneru, die an diesen Kursen als Leiter beteiligt sind, ist der Gedanke
doch nicht so vertraut, wie er sein sollte, wie er werden muß. Sie übersehn
über der Bekämpfung der wirtschaftliche,: Not der Landwirte ihre Gesundheitsnot.
Darum richte ich an diese Lehrer des Volkes in Waffen die Bitte, den Soldaten
begreiflich zu machen, daß die wichtigste Verwendung der Milch die für das
eigne Haus, für Weib und Kind ist, und daß nnr der Überschuß in Geld
umgeformt werden sollte. Aus dem eignen Vcitcrlcmde können sie ihren Schülern
Gott sei Dank! außer den Lindauer Aushebungsergebnissen noch keine er¬
schreckenden und überzeugenden Belege dafür bieten, daß die gewinnsüchtige
Milchausntttznug den Bauernarm lahmt. Aber der Rückgang der Wehrkraft der
Schweiz, deren kräftige Söhne einst aus echt germanischer Freude am Kriege
und an der Ferne als Neisläufer die Heimat verließen, die trotzdem nicht an
Wehrkraft verarmte, und die Farben und die Waffen aller europäischen Kriegs¬
herren trugen, wird auch manchem deutschen Bauern in Waffen zu denken geben
nud ihn später in seiner Wirtschaft davon abhalten, die Gesundheit seines Weibes
und seiner Kinder um ein paar Milchsilberlinge zu verraten.
is vor einigen Jahren eine technische Hochschule, die ich nicht
nennen will, ihr Jubiläum feierte, waren die anwesenden Ehren¬
gäste zum Teil peinlich berührt durch den gereizten und ver¬
letzenden Ton, worin von den Universitäten gesprochen wurde.
I Diese Empfindung steigerte sich bei der Aufführung eines
sogenannten Bierdramas, in dem die Universitäten als veraltete Einrichtungen
karikiert wurden, in solchem Grade, daß die Universitätsrcktoren einen Augen¬
blick überlegten, ob sie nicht in oorxors den Saal verlassen sollten, und es
nur um des lieben Friedens willen unterließen. Mancher von ihnen wird
sich damals die Frage vorgelegt haben, ob diesen — im Ton verfehlten —
Angriffen nicht doch eine gewisse Berechtigung innewohne. Gewiß gab es
damals und gibt es noch heute manche Zöpfe an unsern Universitäten; aber
freilich braucht man nicht, wie es die Herren Techniker am liebsten sähen,
mit dem Zopf gleich den ganzen Kopf abzuschneiden. Denn in dem, was den
Kern ihres Wesens ausmacht, und in dem Geist, der in ihnen waltet, sind
unsre Universitäten durchaus modern und mit der Zeit fortgeschritten; was
sie als veraltet erscheinen läßt, ist ihre äußere Organisation, die manche Rudi¬
mente aus dem Mittelalter bewahrt hat, ehrwürdige Neste, die zu beseitigen
die Ehrfurcht vor der alten Tradition bisher abgehalten hat. Aber auch hier
ist in den letzten hundert Jahren vieles geändert worden, und daß sich auch
jetzt der Wunsch nach Reformen innerhalb der Universitäten selbst regt, zeigen
deutlich die Beschlüsse des deutschen Hochschullehrertages zu Salzburg im Sep¬
tember 1907.
Der Ruf uach Reformen geht natürlich meist von den Mitgliedern der
Hochschulen aus, die aus persönlichen Gründen mit den herrschenden Zustände»
unzufrieden siud. Daß es solche Elemente in Universitätskreisen gibt, davon
wußte auch das weitere Publikum, zumal da die Leiden der Privatdozenten
und die Bosheit der Ordinarien zu einem literarischen Motiv geworden
waren; ich erinnere nur an Bianca Bobertags bitterbösen und mit Gehässig¬
keit getränkten Roman „Roderich Klinghart". In der jüngsten Zeit ist die
allgemeine Aufmerksamkeit auf diese Zustände gelenkt worden durch F. Eulen -
burgs Buch „Der akademische Nachwuchs" (Leipzig, Teubner, 1908), dus
aus einem für den Hochschullehrertag übernommuen Referat entstanden ist.
Eulenburg hat sich durch Versendung von Fragebogen an Privatdozenten und
Extraordinarien ein großes Material verschafft und es in seinein Buche
gründlich, übersichtlich und mit ernsthaftem Streben nach Objektivität ver¬
arbeitet. Er tritt als Statistiker mit Zahlen auf, die unanfechtbar scheinen,
und wie man ans zahlreichen Äußerungen der Presse sieht, ihre Wirkung
nicht verfehlt haben. Eben deshalb mag es angezeigt erscheinen, auf einige
Mängel des Buches und der teils von Eulenburg teils von der Salzburger
Tagung gezognen Folgerungen hinzuweisen.
Unter dem akademischen Nachwuchs, für den eine bessere Stellung er¬
kämpft werden soll, versteht Eulenburg die Extraordinarien und Privat-
dozenten. Diese Zusammenfassung ist entschieden zu mißbilligen. Die
Stellung des Privatdozenten ist eine ganz freie, und in dieser Freiheit liegen
ihre Nachteile wie ihre Vorteile. Der Privatdozent als solcher ist nicht
Beamter und zu keiner Leistung verpflichtet, als die er sich selbst auferlegt;
er kann sogar seine Vorlesungen längere Zeit aussetzen, wenn er es vorzieht,
ganz der wissenschaftlichen Arbeit zu leben — ein beneidenswerter Zustand,
wenn er nicht zu lange dauert. Denn die Freiheit von allen Pflichten bringt
auch das Fehlen aller Rechte mit sich, uuter der alte Privatdozenten oft so
leiden, daß sie in tiefe Verbitterung verfallen. Das ist sehr bedauerlich, aber
es wird trotz alles Redens von einer „Regelung des akademischen Nach¬
wuchses" schwer abzuändern sein. Jeder, der in die akademische Laufbahn
eintritt, weiß, daß er keine sichere Aussicht auf Beförderung hat, und kann
einen rechtlichen Anspruch darauf auch dann nicht geltend machen, wenn er
als Lehrer und Forscher tüchtige Leistungen auszuweisen hat. In Wahrheit
wird es freilich kaum vorkommen, daß ein tüchtiger Privatdozent gar nicht
vorwärts kommt, und wo es geschieht, werden meist Bedenken gegen die
Persönlichkeit des Betreffenden vorliegen, die ihn für eine verantwortliche
Universitütsstellung ungeeignet macheu. Besonders zu betrachten sind nament¬
lich die Fälle, in denen die Privatdozentnr mir ein Nebenberuf ist, wie das
oft bei praktischen Ärzten der Fall ist. aber auch bei Oberlehrern, Geist¬
lichen usw. Hier wird man ostgris xa-ribus oft dem Bewerber den Vorzug
geben, der nur in der akademischen Laufbahn steht, weil seine ganze Existenz
davon abhängt. Aber es ist nur zu begreiflich, daß alle, die uicht befördert
worden sind, auch wenn sie wissenschaftlich nichts geleistet haben oder kein
Lehrtalent haben, die Schuld uicht sich selbst zuschreiben, sondern den bösen
Fakultäten, in denen die allmächtigen Ordinarien an goldnen Tischen sitzen
und den Atem erstickter Privatdozenten einfangen, oder dem noch höhern
Ministerium.
Diese unzufriednen Elemente haben den Salzburger Hochschullehrertag zu
einem Beschlusse verleitet, den auch Eulenburg zustimmend erwähnt: „Es ist
darauf Bedacht zu nehmen, daß an Privatdozenten und unbesoldete Extra¬
ordinarien, deren Tüchtigkeit bewährt ist, besoldete Extraordinariate ani xersonara
verliehen werden, und daß auch solche Privatdozenten, deren wirtschaftliche Lage
nicht dazu angetan ist, ihre Stellung zu sichern, durch Verleihung von Ge¬
hältern f!> und Stipendien ihrem Berufe erhalten bleiben." Ein solcher Beschluß
hätte nur in Utopia gefaßt werden dürfen, denn er ist ganz und gar undurch¬
führbar. Erstens weiß jeder Kenner der Verhältnisse, wie schwer es hält, selbst
für anerkannt notwendige Fächer die noch fehlenden Professuren beim Finanz¬
ministerium durchzusetzen: wie sollte es da möglich sein, für überflüssige Lehr¬
kräfte (darüber sogleich) außer den wenigstens in Preußen vorhandnen Stipendien
auch noch Gehälter auszuwerfen? Zweitens aber ist die Zulassung von Privat¬
dozenten ganz und gar in die Hände der Fakultäten gegeben, und viele be¬
schränken deren Zahl in keiner Weise; namentlich an den großen Universitäten
habilitieren die Institutsdirektoren eine beliebige Menge von Assistenten, ohne
daß die Fakultät Einspruch erhebt; aber auch an solchen Dozenten, die nicht
zugleich Assistenten sind, herrscht oft ein großer Überfluß. Und uun soll der
Staat, der in keiner Weise an dieser Überproduktion schuld ist und uicht einmal
ein Mittel hat, ihr zusteuern, diesen Herren „Gehälter"*) zahlen! Eulenburg
versucht um freilich zu zeigen, daß diese „unoffiziellen" Lehrkräfte für die
Universitäten sehr notwendig und nützlich sind. Das letzte wird kein Ver¬
ständiger bestreiten; was die Notwendigkeit angeht, so beruht sie vor allem darin,
daß Nachwuchs für die frei werdenden Professuren vorhanden sein muß. Aber
wann hätte es denn daran gefehlt? Selbst in der juristischen Fakultät, die am
wenigsten Privatdozenten aufzuweisen hat, fehlt es meines Wissens nicht an
Bewerbern um die zu besetzenden Stellen; und namentlich in den naturwissen¬
schaftlichen Fächern finden sich trotz der fehlenden Privatdozentengehälter immer
noch Leute genug, die zehn Jahre und länger auf eine Professur zu warten
bereit sind. Unter solchen Umständen wird aber kein Finanzminister Gehälter
auswerfen. Außerdem sucht Eulenburg die Unentbehrlichkeit der unoffiziellen
Lehrkräfte damit zu begründen, daß ihnen die Aufgaben der university öxtsnsion
im weitesten Umfange zufielen, weil die Ordinarien dafür keine Zeit hätten.
Man kann den Spieß auch umkehren: durch die univsrsit^ sxtsusioii werden
den unbesoldeten Dozenten Möglichkeiten des Erwerbes geboten, durch die ihre
materielle Lage gebessert wird, und viele solche Veranstaltungen (Volkshoch-
schulkurse, Ferienkurse usw.) sind erst durch Privatdozenten ins Leben gerufen
worden, die die Not dazu trieb; sobald sie zu festem Gehalt kommen, werden
sie viel weniger Lust zu diesen Nebenbeschäftigungen haben, die sie von ihren
eigentlichen Aufgaben abziehen. Wir wollen aber überhaupt uicht vergesse»
(was heute oft vergessen wird), daß die Hauptaufgabe der Universitäten die
Ausbildung der Studenten ist; und daß diese heute möglich wäre, auch wenn
alle Privatdozenten (nicht: alle Assistenten) wegfielen, unterliegt keinem Zweifel.
Gewiß ist es richtig, daß die mehr und mehr in den Vordergrund tretenden
praktischen Übungen eine größere Zahl jüngerer Kräfte fordern: da müssen
eben mehr Stellen für Assistenten und Lektoren geschaffen werden, aber das
brauchen durchaus nicht immer Privatdozenten zu sein. Man hat hier zum
Beispiel mit Gymnasiallehrern, die im Nebenamte Lektoren sind, teilweise bessere
Erfahrungen gemacht als mit Dozenten.
Man tut also besser, die Frage des akademischen Nachwuchses im engern
Sinne — und eigentlich verdienen nur die Privatdozenten diesen Namen —
fallen zu lassen. Hier läßt sich nichts regeln, wenn man nicht die Grund¬
lagen unsrer gesamten Universitütsverfassung umstürzen will, und das wird
außer einigen verbitterten Existenzen niemand im Ernst wünschen.
Ganz anders steht es nun mit den Extraordinarien, die wirklich un¬
entbehrliche Glieder der Universität und Beamte sind, deren Verhältnisse eine
Regelung zulasse». Ihre Bedeutung weist Eulenburg an der Hand seines
Materials gut uach, ohne freilich Kennern der Verhältnisse wesentlich Neues
zu sagen, und er hat mit diesen Darlegungen mich Eindruck auf die öffentliche
Meinung gemacht. Aber er hat hier einen schweren prinzipiellen Fehler
gemacht, indem er die Extraordinarien mit und ohne Lehrauftrag zusammen¬
warf. Vielfach (namentlich außerhalb Preußens) ist Extraordinarius nur ein
Titel, der ältern Privatdozenten verliehen wird; für die Frage der Regelung
des akademischen Nachwuchses sind diese Leute eben nur Privatdozenten, freie
Lehrer ohne Beamtenstellung, und sie waren diesen zuzurechnen, statt daß sie
nnn in Eulenburgs Tabellen das Gewicht der Extraordinciricn vermehren.
Gegen Ende des Buches findet sich freilich eine Tabelle, die es gestattet, diese
Pseudo-Extraordinarien abzurechnen (es sind 278 von 584); aber welcher Leser
Hütte wohl die Geduld dazu? Hier muß also der Vorwurf erhoben werden,
daß Eulenburgs Buch irreführend wirkt. Die Grenze war nicht nach den
Titeln*) zu ziehn, sondern nach dem Vorhandensein eines Lehrauftrags; auch
die Privatdozenten mit einem solchen gehören schon zu den „offiziellen Lehr¬
kräften".
Von den für die Extraordinarien nnfgestellten Forderungen muß man die
einer bessern Besoldung ohne weiteres billigen. Nur kann man sie nicht auf
diese beschränken und muß sich überhaupt wundern, weshalb die Umfrage nicht
auf die Ordinarien ausgedehnt worden ist, die doch auch nur zum Teil
„saturierte Existenzen" sind. Hier hat nun freilich ein zweiter Punkt ange¬
sprochen, die Ausschließung der Extraordinarien von der Fakultät/*) die nament¬
lich von den ältern uuter ihnen kränkend empfunden wird. Über diesen Punkt
hat die Salzburger Tagung folgenden Beschluß gefaßt: „Den außerordentlichen
Professoren und Privatdozenten s!j ist die ihnen als Mitgliedern der Professoren¬
kollegien von Hochschulen gebührende Stellung ohne Engherzigkeit einzuräumen
und so weit als erforderlich zu sichern. Insbesondre ist überall eine Ein¬
richtung dahin zu treffen, daß sie bei den allgemeinen Angelegenheiten des
Lehrberufs in den Körperschaften der Hochschule auf geordnetem Wege zu
Gehör kommen." Die letzte Forderung verdient in der Tat ernsthafte Er¬
wägung. Nur muß man sich eines von vornherein klar machen: auch wenn
alle Extraordinarien Sitz und Stimme in der Fakultät erhalten, so werden
damit die schlimmsten Übelstände nicht aus der Welt geschafft. Denn diese
pflegen nicht von der Stellung des Ordinarius als solcher, soudern von seiner
Eigenschaft als Institutsdirektor abzuhängen; die Leitung des Instituts
verleiht ihrem Inhaber eine diskretionäre Macht über alle, die auf die Be¬
nutzung des Instituts angewiesen sind, das heißt unter Umständen auch über
Ordinarien, und es ist kein Zweifel, daß diese Macht oft mißbraucht wird.
Dagegen kann aber auch die Fakultät wenig ausrichten, der keinerlei Aufsicht
über die Jnstitutsleitungen zusteht; hier könnte ein Wandel nur durch Ver¬
mehrung der Institute geschaffen werden, die an deu Finanzverhültnissen von
selbst eine Schranke findet. Und schließlich vergesse man nicht, daß herrsch-
süchtige und skrupellose Ordinarien mich gleichgestellten Kollegen das Leben
verbittern können, und daß die Teilnahme an den Faknltätsgeschüften viel Zeit-
Verlust und manchen Ärger mit sich bringt, den die Extraordinarien nicht zu
fürchten haben.
So schließe ich denn mit dem Wunsche, daß sich der nächste Hochschul¬
lehrertag von dem Boden des Möglichen weniger entfernen, und daß künftige
Äußerungen über diese Fragen die akademische Welt etwas weniger sud spoc-ik
exe,raoi'6log.rii betrachten mögen.
eher die Aufgabe der Kunst ist schon viel geschrieben und gestritten
worden. Schiller betrachtete sie von einem hohen Standpunkte
aus und nannte das Theater eine moralische Anstalt; unsre
Ästhetiker bezeichnen im allgemeinen als ihren Zweck die Erweckung
der Lust und des Vergnügens. Nun gibt es aber eine Reihe
von Veranstaltungen, die denselben Zweck verfolgen, ohne einen Anspruch auf
künstlerischen Wert zu erheben. Man stellt die Kunst auf eine Stufe mit solchen
Unterhaltungen, wenn man als ihre einzige Aufgabe die Erregung des Vergnügens
ansieht. In frühern Jahrhunderten wies man ihr allerdings kaum einen andern
Rang an, und auch heute sind die Leute nicht ausgestorben, die Kunst und
Künstler als etwas überflüssiges und unnützes betrachten.
Den rechten Standpunkt für unsre Beurteilung finden wir erst, wenn wir die
Kunst mit den übrigen menschlichen Tätigkeiten vergleichen. Unsre wissenschaftliche,
wirtschaftliche und politische Arbeit ist, sofern sie von Dauer sein soll, der Ent¬
wicklung der Menschheit gewidmet. Die Tätigkeit des Künstlers muß denselben
Zweck verfolgen, wenn sie mehr als einen Unterhaltungswert für uns haben soll.
In welcher Art die Kunst die Bildung der Menschheit fördert, laßt sich
aus ihrer Wirkung auf die menschliche Seele feststellen. Ihren ersten und
mächtigsten Eindruck übt sie auf die Phantasie aus. Da die Seele einem
Musikinstrument gleicht, in dem alle Akkorde anklingen, wenn eine Saite an¬
geschlagen wird, so übertragen sich die Schwingungen der Einbildungskraft auf
das Gefühl, den Verstand und den Willen. Auch diese Seelenkräfte werden in
Bewegung gesetzt, zwar nicht so heftig wie die Phantasie, aber doch noch stark
genug, daß sie merkliche Wirkungen erzeugen können.
Die wissenschaftliche, wirtschaftliche und politische Arbeit wendet sich an
Verstand und Willen und gebraucht nur da die Einbildungskraft, wo es sich
um die Erschließung neuer Wege und Erwerbszweige und um Erfindungen und
Entdeckungen handelt. Die Kunst dagegen wirkt auf sämtliche Seelenkräfte,
entwickelt sie harmonisch und übt dadurch einen größern Einfluß aus als jede
andre menschliche Tätigkeit.
Dauernden Wert können deshalb nur die dichterischen Erzeugnisse haben,
die dem Fortschritt der Menschheit dienen. Diese Aufgabe zu erfüllen, ist in
der Gegenwart mit bedeutenden Schwierigkeiten verknüpft. Wir leben in einer
Übergangszeit: die Wissenschaft hat große Erfindungen gemacht und neue
Naturgesetze entdeckt, die den alten Glauben ins Wanken gebracht, aber neue
Ideale noch nicht an seine Stelle gesetzt haben. Unsre politischen Ziele, soweit
sie sich auf die Einigung Deutschlands bezogen, sind erfüllt — um ihren andern
Teil, den Erwerb eines deutschen Kolonialbesitzes und die Schaffung einer
Weltmachtstellung, tobt ein heftiger Kampf. Die Doktrinären schwärmen in
ihren Friedensgesellschaften für den Weltfrieden, die Kleinmütigen behaupten,
wir seien nicht reich genug für eine Weltpolitik und hätten zu Hause genügend
Arbeit, und die Stürmer und Dränger haben nur weitsichtige Unternehmungen
im Auge, während sie sich bei der Kleinarbeit der internationalen Kongresse
vom Auslande übervorteilen lassen. Auch unser Wirtschaftsleben ist in der
Umbildung begriffen: auf der einen Seite riesenhafte Unternehmungen und der
Zusammenschluß ganzer Industriezweige zu Kartellen und Syndikaten, auf der
andern die Vereinigung der Abnehmer und Verbraucher zu Wirtschaftsgenosfen-
schaften. Das patriarchalische Verhältnis vom Arbeitgeber zum Arbeitnehmer
ist fast ganz verschwunden, ein neues noch nicht an seine Stelle getreten. Die
Starken benutzen ihre wirtschaftliche Macht vielfach zu despotischen Zwecken, und
die Schwachen schießen bei der Abwehr dieser Bestrebungen oft über das Ziel
hinaus. Die Folgen dieses Kampfes machen sich auch auf sittlichem Gebiete
bemerkbar: die Unsicherheit des Erwerbs und die geringe Entlohnung bringen
Ehescheu in weiten Kreisen hervor und untergraben in Gemeinschaft mit der
Frauenemanzipation die Grundlagen unsers Staatswesens und unsrer Gesell¬
schaftsordnung, die auf der Ehe und der Erziehung des Nachwuchses in der
Familie beruhen.
Mit diesen Problemen muß sich der Dichter ernsthaft befassen, wenn er
seine Schöpfungen mit neuen Idealen erfülle,? will. Zwar kann er diese nicht
immer deutlich aussprechen, doch wird er den Inhalt seiner Dichtungen so ge¬
stalten und seine Personen so zeichnen, daß man daraus entnehmen kann, wie
wir uns im Lichte des freien Menschentums ausnehmen. Die Dichtung soll
uns den Gegensatz zwischen der reinen menschlichen Natur und den Verbildungen
und Verzerrungen unsrer Kultur zeigen und jene allgemein menschlichen Züge
tragen, die wir an den Werken der Alten noch heute bewundern. Darin liegt
der dauernde Wert einer richtigen Charakteristik, denn die äußern Verhältnisse
ändern sich, nicht aber der Charakter der Menschen. Auf solche Weise ver¬
mittelt die Dichtung Menschenkenntnis und trägt zur Bildung bei. Wenn die
geheimsten Beweggründe enthüllt werden, so vermag jedermann im wirklichen
Leben ähnliche Charaktere an ihren Äußerungen zu erkennen. Von Bismarck
wird uns ein Ausspruch überliefert, wonach er den für den klügsten hielt, der
die Erfahrungen andrer für sich benutzt.
Man kann hier einwenden, daß viele Stoffe nicht schön seien und deshalb
dichterisch nicht bearbeitet werden dürfen. Dem ist entgegenzuhalten, daß kein
Stoff an sich schön ist, sondern es erst durch künstlerische Gestaltung wird. Man
trifft naive Leute, die eine Dichtung für schön halten, wenn alle darin auf¬
tretenden Personen einen „guten" Charakter haben und der Ausgang glücklich
ist. Andre machen schon ein Zugeständnis und lassen auch ein „schlechtes"
Ende zu, wenn nur die „Schlechtigkeit" den Lohn ihrer Taten enthält. In
diesem Rahmen ungefähr bewegen sich die Konflikte und ihre Lösung in unsrer
Unterhaltungsliteratur. Noch andre Ästhetiker erklären, als unschön seien die
Stoffe zu verwerfen, die einem niedrigen Milieu entnommen sind oder Dinge
behandeln, die man mit dem Mantel der Liebe zudecken möchte, da die Be¬
rührung mit ihnen auch in der Dichtung unangenehm und peinlich sei. Unsre
nachklassische Zeit war der Meinung, die politischen, wirtschaftlichen und sitt¬
lichen Zustände hätten mit der Literatur nichts zu schaffen. Gustav Freytag
schrieb in seiner „Technik des Dramas" (Leipzig 1894, S. 59), es sei eine Ent¬
würdigung der Kunst, wenn ein Dichter gesellschaftliche Verbildungen des wirk¬
lichen Lebens. Gewaltherrschaft der Reichen, die gequälte Lage Gedrückter, die
Stellung der Armen, die von der Gesellschaft fast nur Leiden empfangen, streit¬
lustig und tendenzvoll zur Handlung eines Dramas verwerten wolle. Die
Sorge um die Besserung der armen und gedrückten Klassen solle ein wichtiger
Teil unsrer Arbeit in: wirklichen Leben sein, die Muse der Kunst sei keine
barmherzige Schwester.
Unsre größten Dichter haben jedoch diese von Gustav Freytag verworfnen
Stoffe zum Gegenstand unsterblicher Werke gemacht. Schiller hat in „Kabale
und Liebe" und im „Wilhelm Tell" die Unterdrückung des niedern Volkes
durch Fürstenmacht gezeichnet — ein zu seiner Zeit ganz modernes politisches
Problem. Auch die Alten haben die Dichtung benutzt, die Verbildungen ihrer
Zeit ans Licht zu ziehen; die Werke ihrer Dichter sind die wertvollste Fundgrube
für die Kultur- und Sittengeschichte der Griechen und Römer. Wir beschränken
uns darauf, Namen wie Aristophanes, Juvenal und Martial zu nennen.
Praktische Vorschläge zur Beseitigung sozialer und sittlicher Mißstände kann
die Dichtung natürlich nicht machen — das ist die Aufgabe der Sozialpolitik —,
aber die Darstellung der daraus entstehenden Konflikte darf man der schönen
Literatur nicht vorenthalten, wenn man ihr einen höhern als einen Unterhaltungs¬
wert beimißt. Erst die Dichtung verbreitet, wen» sie sich mit solchen Stoffen
befaßt, eine allgemeine Kenntnis dieser Verbildungen. Die dargestellten Kon¬
flikte erregen das Gefühl, indem man Mitleid, Verachtung, Haß empfindet, der
Verstand beschäftigt sich lebhaft mit ihnen und sinnt auf Mittel, die Mißstcindc
zu beseitigen. Haben wir jene gefunden, so ist unser Wille bestrebt, diese un¬
schädlich zu machen. Mit Rücksicht auf diese Wirkungen haben unsre Re¬
gierungen das Theater, das von allen Kunsteinrichtungen den stärksten Einfluß
ausübt, unter die Aufficht der Zensur gestellt, denn sie verdichten sich manchmal
zu Taten, und es ist schon vorgekommen, daß begeisterte Zuschauer oder Zu¬
hörer die Pferde der Künstler ausgespannt und ihren Wagen selbst gezogen
haben. Auch liest man hie und da die Behauptung, die „Hochzeit des Figaro"
habe wesentlich dazu beigetragen, das alte Regime in Frankreich zu stürzen.
Für Gustav Freytag sind seine ästhetischen Ansichten erklärlich. Er schrieb
die angezognen Worte zu einer Zeit, wo sich der Deutsche noch nicht an öffent¬
liche und politische Arbeit gewöhnt hatte. Nach den drei großen Kriegen, die
die Einigung Deutschlands im Gefolge hatten, erlangte das deutsche Volk ein
gewisses Selbstbewußtsein und eine zielbewußte Tatkraft, die zur Durchführung
großer Aufgaben unerläßlich sind und unsern wirtschaftlichen Aufschwung herbei¬
geführt haben. Der Abglanz dieser großen Zeit wird auch einmal auf die
deutsche Dichtung ausstrahlen.
Da Schönheit eine Sache des Gefühls und der Phantasie ist, so ist die
Schönheit einer Dichtung nicht von ihrem Stoffe und den ihn durchdringenden
Gedanken, sondern allein von der Gestaltung abhängig. Die künstlerische Kom¬
position gibt nur die charakteristischen Züge und unterdrückt alles unwesentliche,
damit es der nachschaffenden Einbildungskraft des Genießenden überlassen bleibt,
die fehlenden Glieder zu ergänzen. Dieses Kunstmittel versetzt seine Seele in
einen Zustand, der der Begeisterung des schaffenden Künstlers ähnlich ist. Die
freudige Erregtheit des Nachschaffenden wird nicht gestört durch eine tragische
Lösung der Konflikte, denn sie ist nicht eine Folge ihres Ausgangs, sondern
ein Ergebnis der Seelentätigkeit des Genießenden. Seine Stimmung ist eine
gehobnere als sonst, und er empfindet jenes Vergnügen, das man als einzigen
Zweck der Kunst bezeichnet hat.
Leider ist die künstlerische Komposition bei uns stark in Verfall geraten,
und zwar durch den Naturalismus, der sich in den achtziger Jahren durch die
Erweiterung des Stoffgebiets der schönen Literatur große Verdienste erworben
hat. Er hat die zweckvoll angeordnete Handlung im Drama fallen lassen und
behauptet, in seinem Milieudrama eine neue Form gefunden zu haben, die die
Handlung nicht mehr auf die Bühne stellt, sondern hinter die Szene verlegt.
Die Personen erzählen sich nur noch, was geschehen ist, und das Drama wird
in eine Art „Ich-Roman" umgewandelt. Diese Form verwischt den Unterschied
zwischen Erzählung und Drama, dessen Hauptreiz darin besteht, daß wir sehen,
wie sich eine Handlung aus ihren Ansängen entwickelt und bis zum Abschluß
durchgeführt wird. Außer der ästhetischen Wirkung hat diese altbewährte Form
auch eine erzieherische: sie zeigt dem Zuschauer, wie Entschlüsse durchgesetzt
werden, und bildet dadurch seine Willenskraft. Die Entstehung des Milieu¬
dramas ist daraus zu erklären, daß der Naturalismus den Wert persönlicher
Energie und Tüchtigkeit verkennt, indem er den Menschen zum ausschließlichen
Produkt seiner äußern Verhältnisse macht.
Auch die alte Kuustregel, nur die wesentlichsten Züge bei der Gestaltung
der Einzelheiten zu geben, wird vom Naturalismus einer vermeintlichen Wissen-
schaftlichkeit aufgeopfert. In dem Bestreben, „wissenschaftlich" zu sein, gibt er
langatmige Schilderungen von Äußerlichkeiten und psychologischen Vorgängen,
die nur verwirren und langweilig wirken. Ihre Ausführlichkeit ist dem Charakter
unsrer Zeit, die nach Kürze und Gedrungenheit strebt, gerade entgegengesetzt.
Schon bei der Beschreibung der Umgebung, in der sich die Begebenheiten ab¬
spielen, versagt diese „wissenschaftliche" Methode, noch viel mehr aber bei der
Darstellung innerlicher Zustünde. In jeder Seele schwirren so viele Gefühle
und Gedanken durcheinander, daß es nicht einmal der wissenschaftlichen Klein¬
arbeit eines Wundt in drei dicken Bänden gelingt, alle Regungen der Seele
genau festzustellen, viel weniger einem Schriftsteller, der nur einige kurze An¬
deutungen im Nahmen einer Dichtung geben kann und alles übrige dem nach¬
schaffenden Leser oder Hörer überlassen muß. Die Kunst hat andre Aufgaben als die
Wissenschaft, und beide miteinander vermengen, heißt unkünstlerisch verfahren.
Dieser Mangel an Künstlerschaft zeigt sich auch in der Sprachbehandlung.
Man rühmt als größten Vorzug dichterischer Sprache ihre Anschaulichkeit. Sie
hängt ab vou der Anwendung einiger bezeichnender Worte, die wie Schlag¬
lichter die Szenerie plötzlich erhellen. Sie erregen die Phantasie kräftiger als
viele Worte, die nur ermüdend wirken und keinen Eindruck hinterlassen. Manche
Schriftsteller meinen, dnrch neue Wortschöpfungen oder originelle Wendungen,
durch zahlreiche Bilder und Vergleiche dichterische Wirkungen zu erreichen. Sie
erregen nur den Verstand, der sich mit ihrer Eigenartigkeit beschäftigt, lassen
aber die Phantasie unberührt. Im günstigsten Falle haben sie einen gewissen
Gefühlswert. Ihr Gebrauch erweckt in der Seele eine Reihe von Vorstellungen
und Gefühlen, die jedoch nur von der Gegenwart empfunden werden und schnell
veralten. Man lese nur die Artikel unsrer hervorragendsten Publizisten nach
einigen Jahren, und man wird erstaunt sein, wie nüchtern und langweilig alles
ist. Ihre durchschlagende Wirkung beruhte auf zahlreichen Anspielungen, Ver¬
gleichen und Bildern, die wir nicht mehr würdigen können, da sie Tagesereignisse
zum Hintergrunde hatten. Auch die Sprachschönheiten der Alten vermögen wir
nur noch in ganz beschränktem Maßstabe zu schätzen.
Um das Gefühl zu erregen, wenden moderne Lyriker oft Mittel an, die
der Musik eigentümlich sind. Klangwirkungen durch tönende Worte, Rhythmus
und Reim sind immer schön, aber wenn Worte ohne Sinn gebraucht werden,
nur um auf die Ohren zu wirken, so ist das kein Vorzug, sondern ein Mangel.
Welches sind nun die Eigenschaften, die einer Dichtung literarischen Wert
und unvergängliche Dauer verleihen? Man hört schriftstellerische Erzeugnisse
oft nach ihrem Stoffe beurteilen und meint, nur diese verbürgen ihren Erfolg
und ihre Dauer. Die meisten Leser und Hörer haben allerdings nur ein stoff¬
liches Interesse und zollen allen Werken Beifall, die ihnen neu und eigenartig
erscheinen. Sobald aber diese Neugierde befriedigt ist, verfällt jene anfänglich
erfolgreiche Dichtung schnell der Vergessenheit, denn was heute neu ist, erscheint
morgen schon alt.
Eine nachhaltigere Wirkung ist die, die die Dichtung durch die sie durch¬
dringenden Gedanken auf das Gefühl ausübt. Schiller hat durch die unsterb¬
lichen Ideen, die aus seinen Werken leuchten, auch heute noch den größten
Einfluß und wird von keinem seiner Nachfolger übertroffen. Durch seine
Dramen ist er volkstümlicher geworden als selbst Goethe, der vielleicht in der
Charakteristik stärker ist.
Mit andern Künsten gemeinsam ist der Dichtung die Komposition, die auf
Gefühl und Phantasie wirkt, und zwar um so mehr, je vollendeter sie ist. Ihr
allein eigentümlich ist die Führung der Handlung und die damit zusammen¬
hängende Zeichnung der Charaktere sowie die Anschaulichkeit der Sprache.
Ihnen ist jene spezifisch dichterische Wirkung zuzuschreiben, die sogar solche
Schriftsteller ausüben, denen alle übrigen Vorzüge fehlen. Wenn auch ihre
Werke selten ein Menschenalter überdauern, weil ihnen große Ideen fehlen, so
werden sie doch von der Mitwelt geschützt und von ihr oft mehr gepriesen als
wirklich bedeutende Dichter.
Ewigkeitswert haben allein die Dichtungen, die alle Vorzüge der Form
und des Inhalts in sich vereinen. Aus ihnen spricht die unsterbliche Seele
des genialen Künstlers, der die Konflikte, die aus dem Kampfe abgestorbner
Gedanken mit neuen Ideen entstehn, in vollendeter Form zu verkörpern weiß
und jene Begeisterung einflößt, ohne die Ideale, die den Fortschritt des Menschen¬
geschlechts verbürgen, nicht zur Wirklichkeit werden können.
>me eigenartige Erscheinung im westfälischen Jndustriebezirke ist der
Wirt. Er spielt eine bedeutsame Rolle im sozialen Leben, nur keine
allzu glückliche. Ich kenne den Wirt der Großstadt. Er zieht an
durch die Güte dessen, was er seinen Gästen aus Küche und Keller
bietet. Von Zeit zu Zeit geht er einmal durch seine Räume, um nach
!dem Rechten zu sehen und nach rechts und links seine Verbeugung
zu machen. Höchstens zu den Stammtischgästen tritt er in nähere Beziehung.
Sonst herrscht gleichsam ein geheimer Vertrag zwischen ihm und seinen Besuchern,
der einen rein geschäftlichen Charakter trägt. Ich kenne den Wirt der Kleinstadt,
der immer auf seine alten, bekannten Kunden rechnen, aber keine neuen erwarten
darf. Er ist ein Bürger unter Bürgern. Ich kenne den Wirt des Dorfes, der
das Schankgewerbe nur nebenbei betreibt, abends in den Feierstunden, und den
Tag über seinem Handwerk obliegt, das ihn nährt. Er ist ein genügsamer Mann
und sieht nicht scheel, wenn der geizige Bauer den ganzen Abend bei einem „Alten"
und einem einzigen Glase Bier, wozu vielleicht noch eine Zigarre kommt, sich dem
Kartenspiele hingibt. Aber etwas andres ist der Wirt unter einer Jndustrte-
bevölkerung. Er ist der betriebsamste und erfolgreichste unter allen Geschäftsleuten!
Wohl sind die Wirtschaften zahlreich, aber auch der Besucher sind viele. Da sind
die Bergleute, die auf der Heimkehr von der Schicht ihren „Schoppen" trinken
oder mitnehmen, um damit, wie sie sagen, den Kohlenstaub hinunterzuspülen oder
zu lösen. Da sind die jungen Burschen, die mit vielem Gelde in der Tasche den
ganzen Nachmittag oder Abend im Wirtshaus bei Billard-, Karten- oder Kegel¬
spiel zubringen, weil sie sonst nichts anzufangen wissen. Sie sind die besten Gäste
des Wirtes. Denn sie brauchen nicht zu krausem. An einer ganzen Reihe von
Abenden in der Woche kommen die Mitglieder der verschiednen Vereine zusammen,
die Turner, die Sänger, die Krieger usw. Jeder Verein hat natürlich auch
wenigstens ein Fest im Jahre. Im „Gesellschaftszimmer" des Wirtshauses sitzen
ziemlich regelmäßig beim Dämmer- oder Abendschoppen die Beamten der Zeche.
Sie werden sehr zuvorkommend behandelt, weil ihr Kommen das Ansehen der
Wirtschaft hebt. Aber das größte Interesse des Wirtes gehört doch dem gewöhn¬
lichen Gastzimmer. Da blüht das Geschäft. Aufmerksam steht er hinter seinem
Schanktisch und beherrscht mit den Augen den ganzen Raum. Kein leeres Glas
entgeht ihm, er füllt es selbst oder gibt dem bedienenden Mädchen einen ent¬
sprechenden Wink. Er begrüßt jeden Hereintretenden mit freundlichem Blick und
verabschiedet sich von jedem Gehenden mit einem: „Bis morgen" oder „bis bald"!
Er buhlt um die Gunst der Leute, wie es sonst nur der Geschäftsjude tut. Denn
sie bringt ihm das Geld ins Haus. Wenn die Stube übervoll ist, und der Bier¬
kran fast ohne Aufhören rinnt, dann ist er in seinem Element. Nur sinnlose Be¬
trunkenheit und Streit sind ihm peinlich, ja verhaßt. Trinken sollen die Leute — das
gehört zu seinem Geschäfte —, aber Betrunkne will er nicht sehen. Denn sie
machen ihm Ungelegenheiten, schädigen den Ruf seiner Wirtschaft. Daß auch ohne
derartige Unmäßigkeit sein Vorteil in vielen Fällen seinen Gästen oder ihren
Familien Nachteile, oft schwere Nachteile bringt, bedenkt er nicht. In dieser Be¬
ziehung hat selbst der anständige Wirt, der unlautere Anziehungsmittel verachtet
und auf die Wahrung seiner Standesehre bedacht ist, kein Gewissen; und wenn er
ein Gewissen hat, werden seine Regungen von der Selbstsucht unterdrückt.
Man braucht kein Feind des Alkoholgenusses überhaupt zu sein, um das Urteil
zu fällen, daß im Industriegebiete kein Beruf so sehr in der einen oder andern
Weise den Charakter verdirbt wie der des Wirtes. Das Schankgewerbe unterliegt
schon im allgemeinen starken moralischen Bedenken: es dient menschlicher Leiden¬
schaft, wenn auch nicht in der Idee, so doch in der Praxis. Es bietet eigentlich
für den Mann nicht eine seinen Kräften entsprechende körperliche oder geistige
Arbeit. Zu mühelos wird oft das Geld verdient — ohne entsprechende nützliche
Dienstleistung. Denn der Wirt schafft doch keine neuen „Werte" oder vermittelt sie.
Alle diese Bedenken steigern sich gewaltig für den Wirt der Jndustriebevölkerung.
Wenige nur vermögen der drohenden sittlichen Gefahr wirksam zu begegnen und
im alltäglichen Leben die Nächstenliebe neben der Selbstliebe zur Geltung zu bringen.
Wer sich etwas auf die Beurteilung von Menschen versteht, dem verkünden die un¬
ruhigen Augen und das hastige Wesen so manchen Wirtes seine moralische Nieder¬
lage, die ihm selbst vielleicht kaum klar zum Bewußtsein gekommen ist.
In dem Leben der Jndustriebevölkerung ist der Einfluß der alten Autoritäten
in fortwährendem Schwinden begriffen. Untergraben ist die staatliche Autorität.
Das ist gewiß nicht mit Unrecht zum großen Teil auf das Schuldkonto der Sozial-
demokratie zu setzen. Sie hat planmäßig das Ansehen des Herrschers und der
Regierung zerstört. Die Folgen dieser Tätigkeit zeigen sich nicht nur bei den
Gliedern der sozialdemokratischen Partei, die in allen Regierungshandlungen
schreiendes Unrecht und Arbeiterverrat sehen, weil ihre Augen bloß darauf eingestellt
sind. Auch nichtsozialdemokratische Arbeiter, kleine Beamte und Geschäftsleute sind
von dieser maßlosen Kritik der Regierung angesteckt. Gegen eine sachgemäße und
gerechte Beurteilung der innerpolitischen Vorgänge wird niemand etwas einwenden
dürfen, sie im Gegenteil freudig begrüßen müssen als ein Zeichen vaterländischen
Interesses. Aber die Erschütterung der staatlichen Autorität kann nur verderblich
sein. Welche Autorität soll noch gelten, wenn die des Staates wankt? In der
Tat greift eine allgemeine Autoritätlosigkeit immer mehr um sich. Sie ist zu ver¬
folgen bis hinein in die Familie. Es ist erschreckend, wie wenig in Arbeiterkreisen
die Kinder ihre Eltern noch achten und sich ihnen beugen, schon die noch schul¬
pflichtigen Kinder. Und es will mir scheinen, als ob die Eltern darum nicht mehr
für ihre Kinder Autorität sein könnten, weil sie selbst keine Autoritäten mehr an¬
erkennen wollen. Gewiß wirkt aber auch auf die jüngern Kinder das Beispiel von
Ungebundenheit ein, das die ältern Geschwister und die halbwüchsigen Burschen von
der Straße ihnen bieten. Zwei bis drei Jahre nach der Schulentlassung Pflegt
es nämlich mit der Macht der Eltern über ihre Söhne aus zu sein. Die jungen
Burschen verdienen dann so viel, daß sie auf eignen Füßen stehn können. Sie be¬
dürfen der Eltern nicht mehr. Solange es ihnen paßt, bleiben sie im Elternhause
und zahlen ihr Kostgeld. Aber wenn sie wollen, können sie für ihr Geld immer
auch an andrer Stelle unterkommen. Da den Eltern das Kostgeld der erwachsnen
Kinder gewöhnlich sehr wertvoll ist, lassen sie ihnen möglichst viel Freiheit, um
diese Einnahmequelle nicht zu verlieren. Sie geben damit selbst ihre elterliche
Autorität preis. Es wird immer seltner, daß die heranwachsenden Söhne den ver¬
dienten Lohn daheim abliefern und nur ein kleines Taschengeld zurückbehalten. Es
wird als etwas ganz besondres an einem jungen Menschen gerühmt: „Er hat immer
alles abgegeben."
Die Mädchen entzieh« sich nicht so leicht der elterlichen Aufsicht und Macht.
Aber sie behalten auch häufig den verdienten Lohn für sich, wenn sie sich vermieten.
Und noch loser wird die Verbindung mit dem Elternhause, wenn sie sich in der
Fabrik oder im Geschäft der Großstadt ihren Lebensunterhalt erwerben. Sie sehen
die Unabhängigkeit der vielen. Da wird auch ihr Drang nach Freiheit mächtiger
als das natürliche Bedürfnis des Mädchens nach Familienanschluß und -schütz. Sie
reißen sich innerlich oder auch äußerlich los. Und wie viele treiben dann einem
traurigen Schicksale entgegen, sei es in einer leichtsinnig eingegangnen Ehe, die keine
treue Warnung verhinderte, sei es nach verrauschter Jugendlust in einsamem, freude¬
losem Leben.
Wenn die Autorität des Staats und der Familie in stetem Abnehmen be¬
griffen ist, so kann es nicht weiter verwundern, daß auch Schule und Kirche ihren
alten Einfluß verloren haben. Die Lehrer im Industriegebiete wurden bisher
besser besoldet als an andern Orten. Das hat viele hergezogen. Aber hohe Freude
gewährt es nicht, in der Schule eines Jndustriedorfs oder einer Industriestadt zu
unterrichten. Der Lehrer hat seine liebe Not mit den Knaben und Mädchen, die
von dem Elternhause her meist wenig an Zucht gewöhnt sind und auf der Straße
nicht viel Beispiele guter Sitten haben. Gleichgiltigkeit, Trägheit, UnWahrhaftigkeit,
ja sogar starke Unverschämtheit treten ihm oft entgegen. Und an den Eltern findet
er häufig nicht nur keine Bundesgenossen, sondern sogar Feinde, besonders wenn
er streng vorgeht und Schulversäumnisse ordnungsgemäß zur Anzeige bringt. Die
Leute denken nicht dnrau, daß der Lehrer damit nur seine Pflicht erfüllt. Sie
vergessen es ihm so leicht nicht, daß er nicht ein Auge zudrückte oder gar alle zwei.
Zu empfindlich ist ihnen die Geldstrafe, die die Amtsbehörde verhängt.
Nach den Schuljahren findet der Lehrer bei den jungen Burschen — oft
schon nach ganz kurzer Zeit — wenig Beachtung mehr. Er hat ihnen nach ihrer
Meinung nun „nichts mehr zu sagen". Darum grüßen ihn manche nicht einmal
mehr auf der Straße. Natürlich gibt es unter der Schuljugend auch andre Ele¬
mente, die dem Lehrer aufrichtige Freude bereiten und später noch starke Anhäng¬
lichkeit zeigen.
Wie die Stellung des Lehrers, so ist auch die des Pfarrers eine andre ge¬
worden. Man hat diese Veränderung wohl auf die Formel gebracht: „Vordem
trug das Amt die Person — so noch heute in rein ländlichen Gegenden —, jetzt
muß die Person das Amt tragen." Das gilt mit einem gewissen Unterschiede für
die Pfarrer der beiden christlichen Konfessionen. Der katholische Pfarrer genießt
durch sein Amt immer noch mehr äußeres Ansehen als der evangelische. Aber
wirklich geachtet wird der Amtsträger in seiner Gemeinde nur, wenn er eine dienst¬
eifrige, sozialempfindende, überzeuguugstreue Persönlichkeit ist. Noch mehr ist dies
bei dem evangelischen Pfarrer der Fall. Er wird von den Leuten keineswegs von
vornherein als Respektsperson behandelt. Anerkennung und Vertrauen muß er sich
erst erwerben. Und er vermag das nur durch Fleiß, Vorurteilslosigkeit, Gerechtig¬
keit und Liebe ohne Ansehen der Person. Auch auf persönliche Anspruchslosigkeit
und Hilfsbereitschaft wird gesehen. Hochfahrende Pfarrer mit vorgefaßten Meinungen,
die nicht dienen, sondern herrschen wollen und von ihrer Bequemlichkeit nichts ein¬
büßen mögen, bloße Amtsträger, von denen kein Hauch persönlichen Miterlebens
ausgeht, haben daher keinen Einfluß oder werden gar verachtet und verspottet.
Am meisten hat man noch Achtung vor der Amtsbehörde, weil man sie fürchtet
oder nötig hat. Nur wird das niemand ehrliche Achtung nennen wollen.
Die alten Autoritäten haben ihre Herrschaft verloren im Leben der Jndustrie-
bevölkerung. Ist das durchaus zu beklagen? Zu beklagen ist gewiß das Schwinden
des elterlichen Ansehens, überhaupt jedes innerlich begründeten Ansehens. Aber zu
begrüßen ist sogar der Zusammenbruch jeder bloß äußerlichen Autorität. Das ist
ein Kulturfortschritt! Nur erhebt sich die große Frage: Wird allgemein an die
Stelle der alten Autorität eine neue, höhere treten? Wird der Arbeiter dahin
kommen, daß er sich vor der Idee des Staats beugt, seine Staatsbürgerpflicht
ebenso vertritt wie sein Staatsbürgerrecht? Wird die frühere Anerkennung von
Schule und Kirche abgelöst werden von eiuer Anerkennung der sittlichen und reli¬
giösen Kräfte, der geistigen Realitäten in der Welt? Wird sich der Mensch des
industriellen Fortschritts in seinem Gewissen eine eigne Autorität heranbilden?
Denn ganz ohne Autorität kann kein Mensch und keine menschliche Gemeinschaft
bestehn, wie die Tatsachen des Lebens beweisen.
Das alles sind noch offne Fragen. Aber wiederum sehe ich die Möglichkeit
einer Lösung gegeben in der Gewerkschaftsbeweguug. In der Gewerkschaft kann
dem Arbeiter eine neue Autorität erstehn, die zugleich äußere Macht und innere,
politisch und sittlich erziehende Kraft hat.
pät am Vormittag erwachte Svend Bugge. Er beschloß, daß die
Familie Haut bis heute mittag Rabe haben müsse, und daß er,
taktvoll, bis heute nachmittag mit seinein Besuch warten wolle. So
trieb er sich denn in der kleinen Stadt umher und stellte fest, daß
es die blondeste Stadt sei, die er gesehn habe. Der Sonnenschein
war nicht golden, er war weißlich. Die Häuserreihen hatten helle,
blasse Farbe, eigentlich eine bunte Mannigfaltigkeit von Farben, aber alle zu einer
blonden Einheit zusammengelaufen. Selbst wo die Farbe der Mauer dunkel war,
wirkte das Haus dennoch hell infolge der unglaublichen Menge von Fenstern und
blanken Fensterscheiben. Die lange Hauptstraße lief z» beiden Seiten in den Horizont
hinein und fand dort ihren Abschluß in hellblauen, fernen Bergen mit glitzerndem
Schuee. Die Luft war klar und schimmernd fein, der Sund, der an der einen Seite
der Stadt entlang lief, war hellgrün mit bläulichem Perlmntterschein, und die Höhen¬
züge, die von oben her Schutz gewährten, waren frisch grün wie im Hochgebirge
und übersät mit weißen Blumen, weißen Birken und weißen Sommerhäusern mit
Weißen Gartengittern.
Hoch oben am Ende eines breiten geradlinigen Hügels mit grünem Rasen an
den Abhängen lag das Schulgebäude und starrte mit ferienleeren Fensteraugen in
die helle Luft hinaus.
Er mußte, wie er hier so ging, an Oberlehrer Haut denken und versuchte ihn
in dieses Milieu hineinzuversetzen, was ihm aber nicht so recht gelingen wollte.
Wenn auch das frische, von kräftigem, Weißen Bart und Haar umrahmte Gesicht an
See und Wetter gemahnen mochte, gehörte doch der ganze Mann anderswo hin,
in tiefere, weichere Luft, unter eine goldnere Sonne...
Aber noch unmöglicher war es doch, hier einen Platz für Frau Haut zu
finden — für Professor Hages Tochter! Er hatte immer von Professor Hages
Töchtern gehört, daß sie im Auslande verheiratet seien. Und zwei von ihnen waren
es ja auch, die eine von ihnen mit dem dänischen Kunsthistoriker, und die andre mit
einem Professor um der Sorbonne. Daß da überhaupt noch eine dritte war, hatte
er niemals gewußt. Und die war also hier oben gestrandet. Wunderbare Wege des
Schicksals! Julius Hage, der Römer, der Europäer!... Nun, sie sah auch ver¬
froren genug aus!
Er aß zu Mittag im Hotel. Gegen vier Uhr machte er sich dann ans den Weg,
die lange Hauptstraße hinauf und weiter die Landstraße am Sund entlang, nach
Süden zu. Nach einem Gang von zwanzig Minuten stand er vor dem Hause, wo
Oberlehrer Haut wohnte. Es war nach der Beschreibung sofort zu erkennen. Ein
Stück abseits vom Wege lag es. Eine Allee führte zwischen blaßgrünen, großblättrigen
Herakleen hinauf. Es war ein niedriges, langgestrecktes, einstöckiges Haus, weiß
gestrichen und von allen Seiten traulich umfriedigt mit Birken und Ebereschen, ein
großer, offner Garten lag vor dem Haufe. Mitten im Garten stand eine Glas¬
kugel. An der hohen Flaggenstange hing die Flagge in der Windstille schlaff herunter.
Die Dielentür an der Hinterseite des Hauses stand offen. Er hängte die Mütze
an den Riegel und klopfte an die Tür gerade gegenüber vom Eingang. Ein schwaches:
Herein! ertönte.
Es war ein sehr großes Zimmer mit einer Glastür und je einem Fenster zu
beiden Seiten. Die Möbel standen an den Wänden entlang und in den beiden Ecken,
sodaß in der Mitte freier Platz blieb. Oben an dem runden Tisch, am entferntesten
Fenster, saß Frau Haut, das Gesicht ihm zugewandt. Sie saß ans einem gewöhn¬
lichen Stuhl — während doch ein Sofa und Lehnstühle um den Tisch herum
standen. Sie war allein.
Svend Bugge verneigte sich tief. Fran Haut erhob sich in ihrer ganzen Größe
und kam ihm durch das Zimmer entgegen. Sie war noch magerer und größer
ohne die Mantille, die sie in der Nacht getragen hatte. Sie trug eine schwarze
Trikottaille mit schmalen, schwarzen Spitzen an den Handgelenken und am Halse.
Dies hob ihre Magerkeit so stark hervor, daß man es für beabsichtigt halten konnte.
In den sonderbaren, geradezu unheimlichen Augen leuchtete ein Lächeln auf.
Guten Tag, Herr Kandidat Bugge! Mein Mann hatte Sie zu Tisch er¬
wartet. ... Man spürte eine fast kindliche Sanftheit in ihrer Stimme, gedämpft und
krankhaft und doch kurz und knapp im Klänge. Bei allem und trotz allem lag
etwas jungfräuliches über diesem sonderbaren Wesen.
Sie bat ihn, auf dem Sofa Platz zu nehmen, und setzte sich wieder auf den
kleinen Stuhl, ganz gerade wie ein Gast, der einen flüchtigen Besuch macht.
Sie finden mich ganz allein. Mein Mann und meine Tochter halten noch ihr
Mittagsschläfchen. Es war ja diese Nacht so spät für sie geworden.
Ja, ich habe das hente morgen nachgeholt!
Ach ja, hier hat der Morgen heute auch nicht früh angefangen! sagte Frau Haut.
Für Sie, gnädige Frau, ist es ja gestern abend auch spät geworden!
Ach, für mich ist es des Morgens immer dieselbe Zeit. Wie sollte es sonst
wohl gehn in einem so großen Haushalt!
Ja, das ist wohl wahr! Aber dann haben gnädige Frau heute nachmittag
ein wenig geruht?
Ich schlafe nie nach Tisch. Ach nein, die stille Stunde im Hause kann man
so gut gebrauchen — namentlich wenn man seine weitgereiste Tochter wieder nach
Hanse bekommen hat! Frau Haut lächelte und hielt einen perlgrauen Handschuh in
die Höhe, an dem sie nähte. Er kannte den Handschuh — er gehörte Berry.
Es ist ganz gut, wieder nach Hause zur Mutter zu kommen, wie Sie sehn!
sagte sie und nähte einige Stiche. Und Sie haben eine schöne Reise gehabt?
Ja, sie war schön — wenigstens für mich, der ich eine so angenehme Reise¬
gesellschaft hatte!
Sie sind noch nie hier im Norden gewesen?
Nein, noch nie! Und nie habe ich eine Ahnung von einer solchen Schönheit,
einer solchen Erhabenheit gehabt. Aber das muß ich sagen, von allem, was ich auf
dieser Reise gesehn habe, ist das wunderbarste doch das, was Sie hier draußen vor
Ihren Fenstern haben. Das ist ja wie das Himmelreich selber!
Nun — das Reich, das Sie da nennen, dessen Herrlichkeit erreichen wir wohl
nicht hienieden! sagte Frau Haut mit einer leisen Andeutung von Tadel. Aber
eine herrliche Aussicht haben wir hier, das ist wahr!
Aber kann es hier nicht sehr stark stürmen, sagte Svend Bngge höflich interessiert.
Im Herbst und im Winter?
Lassen Sie uns nicht davon reden! Jetzt freuen wir uns des Sommers, den
wir haben, so kurz er auch ist.
Es entstand ein kurzes Schweigen.
Wie lange wohnen gnädige Frau schon hier oben?
Seit meiner Verheiratung. Ich kam damals direkt von Rom hierher.
Es war, als lege sich eine Last auf Frau Hauks Stimme und ihren Ausdruck,
eine Qual, eine Müdigkeit. Svend Bugge suchte nach einem neuen Thema.
Das Porträt dort von Professor Hage — ist das nicht eine Kopie von dem
Gemälde, das in der Universität hängt?
Es ist das Original. Aber die Kopie in der Universität ist von dem Künstler
selbst ausgeführt. In dem Jahre nach Vaters Tode.
Es ist ein außerordentlich gutes Bild.
Ach ja. Wir, die wir ihm nahestanden, wir Kinder also, wir finden ja, daß
Vater im Leben noch schöner war! Sie sagte das mit einem kindlich unschuldigen
Lachen. Sie haben meinen Vater gesehn?
Professor Hage hat mir meinen akademischen Bürgerbrief überreicht. In dem¬
selben Herbst, als er starb.
Nein, wirklich?
Ja, gnädige Frau. Und das ist mir immer wie eine Vorbedeutung erschienen.
Ich bin selbst angehender Historiker.
Davon hat mein Mann mit so viel Freude gesprochen.
Ach, die Freude war ganz auf meiner Seite. Der Herr Oberlehrer war so
überaus liebenswürdig, sich für meine Pläne und Studien zu interessieren.
Ja, mein Mann hat ja dieselben Interessen.
Von dem Herrn Oberlehrer würde ich mehr lernen als von der ganzen
Fakultät zusammen.
Sie lächelte nachsichtig zu seiner Übertreibung.
Ach ja, es ist ein großes Glück, daß mein Mann seiner Neigung hat folgen
dürfen, daß er deu Geschichtsunterricht als Hauptfach in der Schule erhalten hat.
Ach — das Glück — für einen Mann wie der Herr Oberlehrer!
Ich kann wohl sagen, ein Glück auch für mich!
Gnädige Frau haben historische Interessen — eine Erbschaft?
Ich war alle die Jahre der Sekretär meines Vaters.
Ich verstand, daß der Herr Oberlehrer das gewesen sei?
Nur während eines Jahres. Als wir in Rom waren. Frau Haut beugte sich
über den Handschuh und schwieg.
Ja, als Professor Hages Sekretär müssen sich gnädige Frau ein gut Teil
Geschichte zu eigen gemacht haben!
Das ist der tiefste Inhalt und Besitz meines Lebens, sagte Frau Haut sehr
ernsthaft und mit einem schmerzlichen Zug. Dann legte sie den fertigen Handschuh
hin und lächelte ein wenig. Und da werden Sie wohl begreifen, wie ich mich freue,
daß in meinem täglichen Leben doch noch ein klein wenig davon zu spüren ist.
Der lange Junge kam jetzt aus dem Seitenzimmer herein, begrüßte Svend
Bugge und setzte sich in einen der Lehnstühle.
Kriegen wir denn heute gar keinen Kaffee? fragte er.
Ja, mein Junge! Nun glaube ich, muß ich hinausgehn und Vater und Berry
wecken. Sie stand auf und ging auf die Tür zu. Aber ehe sie noch so weit ge¬
kommen war, wurde die Tür aufgerissen, und Berry kam herein, sie breitete die
Arme aus, ging auf die Mutter zu und umarmte sie.
Herrliche, herrliche Mutter! Ach wie wunderschön, wieder daheim zu sein!
Aber Kind — Kind! Du bist so ungestüm! Hier ist doch Besuch!
"
Guten Tag, Herr Reisegefährte! Sie sind kein „Besuch für mich! Und ich
bin fest überzeugt, daß Sie es mir nicht im geringsten übel genommen hoben, böß ich
die Mutter umormte! Wenn ich Sie noch umarmt hätte, dann —
Nichts würde mir angenehmer gewesen sein, mein gnädiges Fräulein! lachte
Svend Bugge und drückte ihr die Hand.
Ach, ich wäre imstande, die ganze Welt zu umarmen! Vor Wonne, vor
Wonne! Nun, Julcmmm, was machst du denn? Sie stand hinter dem Stuhl des
Jungen und zauste ihn mit beiden Händen im Haar. Er entzog sich ihr.
Julius ist heute nicht recht wohl, sagte Frau Hage streng.
Kriegen wir denn heute gar keinen Kaffee? fragte Julius.
Ja, mein Junge, jetzt will ich zu Vater hineingehn.
Vater schnarcht so schön! sagte Berry.
Berry!
Aber Mutter, das läßt sich doch nicht verheimlichen! Hör nur, man kann es
bis hier herein hören. Etwas herrliches, Vater wieder schnarchen zu hören!
Frau Haut wandte sich ab und ging schweigend hinaus.
Berry schlenderte in: Zimmer umher und betrachtete die Bilder an den
Wänden, die Kleinigkeiten auf den Konsolen, die Blumen vor den Fenstern. Sie
trug ein hellblaues Kleid mit weißem Kragen, war lebhaft, graziös und glückselig.
Nichts ist doch so schön wie zu Hause zu sein! Nicht wahr? Ach nein, lieber
Herr Bugge, Sie sind ja gar nicht zu Hause, Sie Ärmster! Es ist wohl abscheu¬
lich im Hotel, nicht wahr?
Ach, das weiß ich wirklich gar nicht — es ist hier überhaupt so wunderschön — so
im ganzen, diese drollige kleine Stadt, die aussieht wie eine Unmenge Wäsche, die
zum Trocknen auf dem grünen Hügel ausgebreitet liegt, und die See und die Berge.
Ja, es ist schön hier!
>Is Ü0NNSIÄ« VM'8s,iIIss,
ÄonnsrAS t?ÄI'i5>I
sang sie und drehte sich im Zimmer herum, sodaß ihr leichtes Kleid sie wie eine
Wolke umbranste. Dann sprang sie dem Oberlehrer um den Hals, der eintrat und
sie auffing, daß sie in seinen Armen verschwand. Sie blieb an seinem Arm hängen,
während er durch das Zimmer ging und Svend Bugge begrüßte.
Frau Haut kam von dem Vorplatz herein, ein Mädchen folgte ihr mit dem
Kaffeebrett.
Aber Mutter, du hättest mich doch . . . Berry sprang herzu.
Nimm dich in acht, Kind, du stößt die Tassen um!
Es entstand ein kleines Wortgefecht um die Plätze an dem runden Tisch.
Ich denke, Julius sucht sich einen andern Stuhl, sagte der Oberlehrer sanft.
Aber der Junge blieb in seinem Lehnstuhl sitzen.
Auf mit dir — Junge! sagte Beuny.
Julius fühlt sich heute nicht so recht wohl! sagte Frau Haut und sah den
Jungen zärtlich um. Sie selbst nahm ihren frühern, bescheidnen Platz wieder ein.
Der Oberlehrer klemmte sich auf das enge Sofa zu Svend Bugge, und Berry
setzte sich endlich auf deu andern Lehnstuhl.
Nein, Mutter! Mein Handschuh! Hast du...
Er war an zwei Stellen zerrissen!
Aber ich hätte doch selbst — Übrigens, weißt du, ich bekam am letzten Tag
in Paris zehn Paar Handschuhe von Tante Madel.
Ich wollte meine eignen Handschuhe wieder ausbessern, an dem das früher
gestopfte Loch gestern abend aufgegangen war, da nahm ich deinen gleich mit vor.
Ich dachte, Berry sollte Herrn Bugge alle die hübschen Sachen zeigen, die
sie uns aus Paris mitgebracht hat, sagte der Oberlehrer.
Wäre es nicht an der Zeit, Herrn Bugge zu fragen, wie er im Hotel unter¬
gekommen ist? fragte Frau Haut. Aber Berry befand sich schon auf dem Wege
zum Zimmer hinaus. Sie kehrte zurück, den ganzen Arm voll der verschiedensten
Gegenstände. Im Vorübergehn legte sie eine wundervolle Federbon um den Hals
ihrer Mutter.
Ist die nicht schön?
Und wie sie dir steht! sagte der Oberlehrer, geradezu königlich!
Frau Haut nahm die Boa ab und legte sie vorsichtig über einen Stuhl,
während Berry ihre Schätze auf dem Tisch auskramte.
Ich kann nicht begreifen, was Schwester Madel sich dabei gedacht hat, wozu
ich so etwas gebrauchen soll! sagte sie.
Und hier ist meines Oheims, Professor Dulacs, Geschenk für Vater! Das ist
etwas für Sie — es ist der erste Band einer ganz neuen Histoirs as Uranos — sie
soll geradezu genial sein, der Verfasser ist noch ganz jung____
Ach ja, die kenne ich, das heißt, ich habe nur hineingesehn, ja, die ist epoche¬
machend !
Und sehn Sie nur den herrlichen Ledereinband! Französisch, wissen Sie!
Die andern Bände werden geschickt, nach und nach, sobald sie erscheinen.
Julius zeigte so ziemlich ohne Interesse sein Geschenk, ein in einen großen
Achat geschnittnes Petschaft.
Das ist Großvater Hages Petschaft — Onkel Fönns hat das Original. Hier
sehn Sie meine Handschuhe. Aber das ist nichts gegen das, was Sie zu sehn be¬
kommen werden, wenn ich erst in meinem Glanz auftrete! Robes de Paris — zwei
Stück, eins von Tante Madel und eins von Tante Karo, eins mit Pailletten,
weiß — ah! Und dann ein seegrünes —
Schade, daß meine Augen Wohl kaum das Glück haben werden!
In, das ist wahr, das wird Ihnen wohl nicht vergönnt sein. Aber das ist
vielleicht doch das beste für Sie, denn dann, glaube ich, würden Sie das Mittel-
alter vergessen!
Aber Berry!
Herr Bugge studiert das Mittelalter, Mutter.
Auch im Mittelalter hat es schöne Jungfrauen gegeben! sagte der Oberlehrer
munter.
Ein schweres und ernstes Studium, Herr Bugge! sagte die Mutter und streifte
ihren Mann mit einem Blick.
Da ist auch schweinemäßig viel Amüsantes im Mittelalter! platzte Svend Bugge
heraus. Berry lachte laut, aber der Oberlehrer sah bedenklich aus.
Sagtest du nicht, daß Pastor Kallcmd heute vormittag telephoniert habe,
Juliane? fragte er.
Ja, ich glaube, er wird zum Kaffee kommen. Das ist unser Hilfsprediger, er¬
klärte sie zu Svend Bugge gewandt, ein ungewöhnlich tüchtiger und begabter Mann.
So? sagte Svend Bugge ziemlich uninteressiert. Wir hatten in unsrer Stadt
einen Pfarrer, der auch Kalkart hieß, in meiner Knabenzeit. Aber das war ein
gräßlicher Patron. Er ist übrigens noch da.
Ja, die Bezeichnung kann man nicht in Verbindung mit unserm Kallcmd bringen.
Frau Bugge setzte eine sehr strenge Miene auf. Sie stand auf und ging hinaus.
Wie sie sich so die lange Strecke durch das Zimmer nach der an der gegenüber¬
liegenden Wand befindlichen Tür bewegte, glich sie einem schwarzen Schatten, der
dahinglitt, ohne Substanz, ohne bleibendes Verhältnis zu dem großen Raume, der
ja doch ihr eignes Wohnzimmer war.
Noch als sie gegangen war, verbreitete sie Schweigen um sich.
Da ist Kallcmd! sagte plötzlich Berry, die gerade zum Fenster hinaussah.
Ja, wahrhaftig, da kommt der Pastor, sagte der Oberlehrer. Er erhob sich
schnell: Ich will ihm die Pfeife holen. Und er eilte hinaus ins Nebenzimmer.
Auch Berry erhob sich. Sie trat an den Spiegel und strich sich über das Haar.
Gewaltige Umstände um den Pastor! sagte Svend Bugge. Da wandte sich
Berry nach ihm um und sagte mit einer Grimasse, wie ein ausgelassenes Schul¬
mädchen: Er will wohl die Pariserin in Augenschein nehmen!
Der Oberlehrer kam mit Pfeife und Tabakkasten, Frau Haut kam mit einer
Tasse. Und endlich kam der Pfarrer selbst, nachdem er leise an die Tür gepocht hatte.
Er begrüßte die Frau des Hauses herzlich und hieß den Oberlehrer willkommen
daheim. Dann wandte er sich an Berry: Und hier haben wir die Heimgekehrte
und so schmerzlich Vermißte! Er nahm ihre Rechte und hielt sie zwischen seinen
beiden Händen. Recht herzlich willkommen in der Heimat, Fräulein Haut! Fräulein
Berry, wenn Sie mir erlauben wollen, wie früher . . .
Sie entzog ihm ihre Hand und verneigte sich: Ben—ja — mine! Herr Pastor!
sagte sie und sprach den Namen französisch ans.
Doch wohl nicht so französisch für alte Freunde! sagte der Pastor und wandte
sich an Svend Bugge, den der Oberlehrer vorstellte: Angehender Historiker, Aus¬
zeichnung im Examen im vorigen Jahr. . .
Ach! Sie sind ein Sohn von Amtmann Bugge!
Das ist mein Vater, ja!
Dann kann ich Sie von Ihrem Vater grüßen, ich habe einen ältern Bruder,
der Pastor in derselben Stadt ist, und den besuchte ich vor noch nicht drei Wochen.
Aber Julius, du mußt Herrn Pastor doch wirklich Platz machen! sagte Frau
Haut mit sanfter Bestimmtheit. Der Junge stand aus seinem Lehnstuhl auf und
schlenderte zum Zimmer hinaus. Er ist heute nicht ganz wohl! sagte die Mutter
entschuldigend.
Der arme Junge! Doch nicht etwa krank?
Ach nein, aber er ist ja, wie Sie wissen, nicht stark! Eine Tasse Kaffee,
Herr Pastor?
Frau Hauks Kaffee!
Bitte schön, eine Pfeife, Herr Pastor! Es ist Ihre alte. Ich nehme mit Be¬
stimmtheit an, daß in diesen Tagen niemand daraus geraucht hat!
Und nun, Fräulein Bern— Ben—jn—mi—ne! Gefällt es Ihnen wieder
hier in der Heimat?
Etwas kleinbürgerlich sieht es ja ans, nach Paris, wissen Sie!
Zu Hause ist es doch am besten, sagte der Pastor.
Haben Sie viel gereist, Herr Pastor? fragte Svend Bugge.
Ach nein, das war mir nicht beschieden!
Svend Bugge blieb zu Abend. Der Pastor halte eine Versammlung im Freien
und mußte gehn. Vor Tische zeigte der Oberlehrer Svend Bugge sein Arbeits¬
zimmer und die bedeutende Bibliothek. Sie gingen die verschiednen Abteilungen
durch, und Svend Bugge forschte interessiert. Berry war mit dabei. Ihr Anerbieten,
beim Abendbrot zu helfen, war vou der Mutter abgelehnt worden, obwohl das eine
der Mädchen zu Pastor Kallcmds Versammlung gegangen war.
Aber das ist ja ganz enorm! sagte Svend Bugge. Hier könnte man ja Jahre
seines Lebens zubringen!
Ja, das ist die letzte und nicht die kleinste von den unzähligen Wohltaten,
die mein verstorbner Schwiegervater mir erwiesen hat. Nach seinem Testament
habe ich seine Bibliothek geerbt. Und was Sie hier sehen, ist der verhältnismäßig
kleine Teil davon, den ich mit einigermaßen gutem Gewissen behalten konnte. Das
Wesentliche befindet sich jetzt in der Universität.
Mit gutem Gewissen?
Ja, was hier steht, liegt einigermaßen innerhalb meines Bereichs.
Das heißt, das, was hier steht, hat Vater gelesen und kann es auswendig!
erklärte Berry. Der Oberlehrer lachte laut, und Svend Bugge mußte zu ihm
aufsehen; so hatte er nicht gelacht, seit sie an Bord des Dampfers waren.
Dies ist hauptsächlich griechisch-römisch? fragte er.
Ja, ach ja! Und da haben Sie Ägypten und allerlei semitisches. Mein
Stolz ist übrigens die griechische und römische Literatur. Die ist außerordentlich
vollständig. Professor Hage hatte die merkwürdigsten Verbindungen. Und da sind
einige Ausgaben von großer Seltenheit. Ein Polybios zum Beispiel.
Das Eßzimmer lag an der entgegengesetzten Seite des Salons, und der Tisch
sah mit seinem Blumenschmuck und den Salatschüsseln und all dem übrigen außer¬
ordentlich einladend aus.
Ach, Mutter, etwas so Gutes wie deinen italienischen Salat habe ich doch nicht
gekostet!
Ach nein, Kind, den Salat, den deine Mutter macht, können weder Tante Karo
noch Tante Matte bereiten! sagte der Oberlehrer.
Und in so einem Pensionat in Lausanne, nicht wahr? Da bekommt man wohl
kaum etwas, das den Namen Essen verdient? sagte Svend Bugge.
Wie dürfen Sie sich erlauben, darüber eine Ansicht zu äußern! Sind Sie
etwa in einem Pensionat in Lausanne gewesen?
Nein nein, allerdings . . . Aber ich dachte mir, da lebte man hauptsächlich vou
geistiger Nahrung, von Weisheit und Kenntnissen und von . . .
Und vou den feinen Manieren, wissen Sie noch? Ach nein, ein klein wenig
Essen bekamen wir doch auch.
Es sollte mir leid tun. wenn mein bescheidner Tisch uns in den reinen
Materialismus hineinbringen sollte! sagte Fran Haut.
Als Svend Bugge das Haus verließ, war es Mitternacht. Die Herakleen in
der Allee dufteten stark.
Ganz im Norden stand die Sonne tief über dem Kamm der fernen Gebirgs-
masse, und der Sund floß gen Süden wie ein Goldstrom. Statt in die Stadt
zu gehn, bog er unten an der Landstraße nach Norden zu ab, dem gewaltigen
Bilde entgegen. Eine Strecke vor ihm erweiterte sich der Sund zu einem
schimmernden, breiten Meeresspiegel, und jenseits davon erhob sich eine Reihe von
Bergspitzen. Die äußerste ragte steil auf wie ein Horn, die andern wie die Zähne
im Niesenrachen eines Raubtiers dicht nebeneinander. Aber das Licht, das Luft
war, und die Luft, die Licht war, das als goldiger Schimmer oben am Himmel,
unten im Meere flimmerte, durchzitterte die Substanz der Berge selber, machte
sie lebend, bebend! In der Stille der Nacht, unter dem ruhigen Sonnenauge,
wurde alles in eine ferne überirdische Welt emporgehoben, ewigkeitsschweigend,
ewigkeitsschön . . .
Er wanderte weiter und weiter, mit übervollen Gemüt. Und wie während
aller dieser drei Tage mußte er an den Oberlehrer denken. Und er sah ihn wieder
vor sich stehn, wie das erstemal, als er „An den Ufern von Babylon" zitiert hatte.
Und er sah seinen Blick, den zerstreuten, fernen Blick, wenn er gesprochen hatte,
und wenn der Schimmer seines Gedankens noch auf seinem Antlitz ruhte. Jetzt
wußte er es. Es war dieser Blick, der Tag für Tag alle diese Jahre dies Bild
überschaute, die Aussicht aus seinem Fenster, von seinem Garten, von seiner Wandrung,
den Weg entlang, wenn er Tag für Tag aus seiner Schule nach Hause zurück¬
kehrte. Und seine Gedanken umkreisten immer wieder den schönen alten Manu,
sein weißes Haar, seine unendlich guten Augen. Und er fühlte, wie eine warme
Welle durch sein Gemüt wogte, wie er ihn liebte; aber ein Gefühl der Wehmut,
fast des Weinens, umklammerte sein Herz — wie tat er ihm leid, in tiefem und
ehrerbietigem Mitgefühl!
Und in Verbitterung! ja, in Haß! Er kehrte plötzlich um und wandte sich
wieder der Stadt zu. Er schlug mit dem Spazierstock hart gegen das Gestein.
Ja, er empfand einen instinktiven Haß gegen die Frau mit den hellen bösen Augen.
Ha! Dummen Jungen Examenpensen einzudreschen, von einer Generation zur
andern, das sollte das Glück dieses geistreichen, gelehrten Mannes sein, sein „Glück"!
Und sis, war die, die Unrecht erduldete!
Er schäumte vor Wut und schlug gegen die kleinen Steine am Wege, daß sie
u.n ihn stoben. (Fortsetzung folgt)
Die jüngste Zeit hat zwei bedeutsame Kundgebungen des Reichskanzlers ge¬
bracht, die eine in Norderney gegenüber seinem englischen Besucher, Sidney
Whitman, die andre in Berlin vor einem großen Zuhörerkreis aus allen Kultur¬
ländern, der Union iutsrxarlawsritairs, die im Reichstagsgebnude ihren fünf¬
zehnten Kongreß abhielt. Beide haben dieselbe Tendenz. Dem Engländer gegen¬
über betonte Fürst Bülow den friedlichen Charakter der deutschen Politik, aber
auch sein Recht und seine Pflicht, gegen jede Bedrohung gerüstet zu sein und zu
bleiben, niemand zuliebe, niemand zuleide, er warnte zugleich vor demi gefährlichen
Irrtum, als ob Deutschland unter allen Bedingungen den Frieden behaupten könne
und wolle, d. h. sich alles gefallen lassen werde. In Berlin schlug er denselben
Ton an, um die innere Übereinstimmung der deutschen Politik mit den Friedens¬
bestrebungen der „Union" hervorzuheben, und er wußte die Sympathien der ver¬
sammelten Parlamentarier auch dadurch zu gewinnen, daß er sich einen „streng
und ehrlich konstitutionellen Reichskanzler" nannte, wenn er auch „kein parlamen¬
tarischer Minister in des Worts verwegenster Bedeutung" sei. Was da der höchste
Beamte des Reichs aussprach, deckte sich mit den jüngsten Kundgebungen des
Kaisers. Wer überzeugt sein will, wird überzeugt sein; aber es gibt jenseits des
Kanals viele Leute, die nicht überzeugt sein wollen, die immer wieder von deutschen
Augriffsabsichten auf England phantasieren und sich womöglich eine deutsche Landung
in England mit allen Einzelheiten ausmalen (Lattls ok vorlcwss!), um zu beweisen,
daß die englische Landarmee gar nicht imstande sei, eine solche abzuwehren (so im
Augustheft der Mtious.1 Ksvisv: ^ Lott from tlro Llus). Als ob wir Deutschen
nicht viel mehr Grund hätten, einen englischen Angriff zu fürchten, nachdem im
Sommer eine kolossale englische Flotte in der Nordsee manövriert hat und wenige
Stunden von der Nordgrenze Schleswigs auf dänischen Boden gelandet ist! Es
war ein Zeichen ruhigen Kraftbewußtseins und zugleich ein sprechender Beweis
dafür, daß die Reichsregierung der englischen Regierung keine feindlichen Absichten
zutraute, wenn gleichzeitig unsre gesamte Schlachtflotte zum erstenmal im Atlantischen
Ozean, fern von der Heimat, ihre Übungen vornahm, ein stolzer Augenblick, der
daheim viel zu wenig gewürdigt worden ist."
In dieser Zeit der Kongresse haben sich auch die roten „Genossen in Nürn¬
berg zusammengefunden. Mit besondern: Interesse folgten diesmal die „bürgerlichen"
Kreise, die in der Sozialdemokratie vor allem eine pathologische Erscheinung sehen,
dem Gange dieser unfruchtbaren und in ihrem Tone vielfach widerwärtigen Debatten.
Haben doch die süddeutschen Sozialdemokraten gewagt, in den Landtagen von Bayern,
Württemberg und Baden für das Budget zu stimmen, also praktisch mitzuarbeiten
an der Erhaltung des „Klassenstaats", dem die Partei den Krieg bis aufs Messer
erklärt hat, und sie behaupteten auch in Nürnberg trotzig ihren Standpunkt gegen¬
über der Berliner Parteileitung und deren Organen, dem „Vorwärts" u! der
„Leipziger Volkszeitung", obwohl auch sie als ihr unentwegt festgehaltnes Ziel die
Vernichtung eben dieses Klassenstaats bezeichneten. Demgegenüber gipfelte die in der
Haltung ungewöhnlich maßvolle Rede Bebels doch ungefähr in dem Satze: wenn
wir praktische Mitarbeit leisten, dann sind wir keine Sozialdemokraten mehr und
verlieren das Vertrauen der Massen. Selten ist der schlechthin revolutionäre und
rein doktrinäre Charakter der Partei des werktätigen Volks so scharf zutage ge¬
treten wie in dieser Rede ihres alten Häuptlings, der den großen Kladderadatsch
so zuversichtlich prophezeit hat. Inzwischen ist die das Vorgehn der Süddeutschen
scharf verurteilende Resolution des Parteivorstands mit einer starken Zweidrittel¬
mehrheit angenommen worden, aber 67 Süddeutsche haben dagegen protestiert. Die
Gegensätze innerhalb der Partei treten also ganz unverhüllt hervor, sie bestehn und
werden fortbesteht!; man kann und soll diesen Prozeß ruhig gewähren lassen, ohne
große Hoffnungen, aber auch ohne Furcht.
In diesen Tagen sind die Finanzminister der deutscheu Staaten in Berlin
zusammengetreten, um die Grundzüge der Reichsfinauzreform zu beraten. Es ist
ein entscheidender Moment in der Geschichte des Reichs, vielleicht der entscheidende
schlechtweg seit 1871. Denn es handelt sich um nichts geringeres als um die
Frage, ob das Reich sich und seine schwer errungne Weltstellung behaupten soll
oder nicht. Für den Patrioten kann das also keine Frage sein. Nicht das Interesse
der Parteien und der einzelnen wirtschaftlichen Interessentengruppen, auch nicht
ohne weiteres das der Einzelstaaten darf hier den Ausschlag geben, sondern das
Wohl des Ganzen, des Reichs. Das erste ist die Erhaltung seiner Macht, das
heißt seiner Sicherheit, dann erst kommen die Kulturaufgaben, die wesentlich die
Einzelstaaten zu lösen haben, denn die Sicherheit des Reichs ist die Vorbedingung
zu ihrer Lösung. Wäre in unsern Parlamentariern mehr historische Bildung
— wie sehr fehlt uns heute ein Treitschke! — als gewöhnlich in den Debatten
zutage tritt, dann würde man sich entsinnen, daß das alte Reich nicht zum wenigsten
deshalb zugrunde ging, weil es niemals gelang, zu einer Zeit, wo das Bedürfnis
danach unabweislich uach Befriedigung drängte, unter Maximilian dem Ersten und
Karl dem Fünften, das Reich finanziell auf eigne Füße zu stellen, es unabhängig
zu machen von den gelegentlichen und kargen Leistungen der Reichsstände. Was
damals in einer noch halb naturalwirtschaftlichen Zeit unbeholfner, schwerfälliger
Verwaltung geschah, das darf sich in unsrer Zeit einer schlagfertigen, durchgebildeten
Verwaltung und Geldwirtschaft unter keinen Umständen wiederholen. Der Anteil
des deutschen Volks an der kommende» Reichsfinanzreform darf nicht nur in den
Protesten einzelner Kreise gegen irgendein ihnen gerade unbequemes Steuerprojekt
bestehn, wie bisher. Die Existenz des Reichs ist die Grundlage für die Existenz
unser aller. Unser Volk ist seit der Gründung des Reichs so wohlhabend ge¬
worden, daß es jährlich viele Millionen für Bier und Tabak, Wein und Brannt¬
wein, für weite Reisen und für zahllose Feste zahlloser, teilweise recht überflüssiger
Vereine ausgeben kann; da will es nicht imstande sein, aus der Borg- und
Schuldenwirtschaft, in der sich bisher die Reichsfinanzcn bewegt haben, herauszu¬
kommen und dem Reiche endlich zu geben, was des Reiches ist?
Im Vordergrunde der auswärtigen Politik steht noch immer Marokko. Wenn
französische Zeitungen in der Niederlage des Sultans Abdul Asif zugleich eine Nieder¬
lage der französischen Marokkopolitik konstatieren, so verraten sie damit nur, daß
diese Politik ganz andre Ziele verfolgt hat als die Durchführung der Algeciras-
akte, und diese Politik ist allerdings verdientermaßen kläglich gescheitert. Die
allgemeine Anerkennung des neuen Sultans Muley Hafid kann nun doch nur noch
eine Frage der allernächsten Zukunft sein. Frankreich wird ja immer bei seiner
Stellung in Algier einen starken Einfluß auf das benachbarte Marokko ausüben,
aber allein entscheiden soll es nicht, sondern nur gemeinsam mit den Vertragsmächten.
Marokko wird damit gewissermaßen unter die Gesamtüberwachung Europas gestellt,
wie lange Zeit die Türkei; weiter zu gehen war in dieser niemals die Absicht
der im besten Sinne konservativen deutschen und österreichischen Politik, die immer
nur die Entwicklung und Regelung der türkischen Verhältnisse erstrebt hat, um einen
Zerfall des Reichs mit feinen unabsehbaren Folgen zu verhindern. Dasselbe erstrebt
sie in dem scherifischen Reiche, und hoffentlich wird sie damit Erfolg haben. Auf
einem Boden, wo so mächtige und geschlossene Kulturen aufeinanderstoßen wie die
christlich-abendländische und die mohammedanisch-orientalische, da ist Geduld und Vor¬
sicht die einzig richtige Politik für europäische Mächte, sonst sind schwere Rückschläge
Von dem Charlotten¬
burger Hochschulprofessor Franz ist das Thema der „Verwaltungsingenieure"
wiederholt öffentlich behandelt worden. Er will eine besondre Gattung von Ingenieuren
schaffen, die nach absolvierter Hochschulbildung bei den Verwaltungen wie die Juristen
ausgebildet werden sollen. Die große Bedeutung der Frage der Neurekrutierung
unsers Beamtennachwuchses für die staatliche oder kommunale Verwaltung soll hier
nicht näher erörtert werden, aber daß schon heute ein Teil unsrer Staatstechniker
mehr Verwaltungsaufgaben als technische Aufgaben zu erfüllen hat, läßt sich nicht
bestreiten. Insonderheit kann für unsre Eisenbahnverwaltung gar nicht bestritten
werden, daß hier dem Techniker schon zahlreiche Verwaltungsaufgaben, besonders
in der Leitung der Betriebsinspektionen, zugefallen sind. Hier handelt es sich darum,
dem Techniker schon jetzt dieselben Chancen zu eröffnen wie dem Juristen. Das
ist heute durchaus möglich. Ju dieser Hinsicht sind die Verhandlungen in der
Budgetkommission dieses Jahres über den Eisenbahnetat besonders lehrreich. Noch
in spätern Zeiten werden diese Verhandlungen, in denen die Technikerfrage unsrer
Zeit angeschnitten wurde, als kulturhistorische Zeitbilder gewürdigt werden. Auf deu
Vorschlag, dem Techniker eine größere Beteiligung an den administrativen Geschäften
und den leitenden Stellungen zu geben, gab der Minister Gründe für die bisher
geübte Praxis, die jedoch die Techniker schwerlich anerkennen werden. In seiner
Erwiderung wiederholte der Minister ein altes Wort. Er erklärte nnter anderen,
er glaube auch nicht, daß einer, der die Bankunst erlernt habe, Lust finde, Kassen
zu verwalten und Personalien zu bearbeiten.
Sind das wirklich die Verwaltungsgeschäfte der Eisenbahnen? Liegt hierin
das A und O aller Eisenbahuverwaltung? Wohl schwerlich! Hier wurde uur die
Oberfläche der Geschäfte gestreift. Etwas tiefer muß man steigen, soll sich uns das
Wesen zeigen. Wieder macht sich der große Mangel bemerkbar, daß in unserm Ab-
geordnetenhause kein einziger höherer Eisenbahntechniker sitzt. Die wenigen Techniker
aber bringen für die ungeheuer komplizierte Verwaltung und die Milliardenztffern
des Eisenbahnetats eine nicht bis ins einzelne gehende Sachkenntnis mit.
In Wahrheit ist die Kasscuverwaltung nur ein Teil der sehr wichtigen
Finanzverwaltung. Mit der Bearbeitung der Personalakten aber ist die Regelung
des gesamten persönlichen Dienstes verbunden.
Gerade die Finanzverwaltung ist der wichtigste Teil aller Verwaltungen. Daß
aber die bisherige juristische Finanzpolitik ein jämmerliches Fiasko erlitten hat, läßt
sich nicht mehr bestreiten. Allgemein sind die Klagen über die Unübersichtlichkeit
und Unklarheit des Eisenbahuetats. Vou zahlreichen Rednern zum Eiseubahuetat
wurde dies mit allem Nachdruck betont. Für 1909 soll bekanntlich der Eisenbahn¬
etat vou diesen Mängeln befreit sein. Die übertriebne Sparsamkeit führte zu einer
außerordentlich knappen Ausstattung der Staatsbnhnen an Betriebsmitteln. Dieser
Übelstand soll nun äußerst rasch beseitigt werden. So rächt sich der Mangel des
technisch-wirtschaftlichen Einflusses in den leitenden Stellen.
Der Techniker zieht die Trasher der Bahnen, baut Brücken und Tunnels,
Empfaugsgebäude und gewaltige Rangierbahnhvfe, berechnet die Kosten und sucht
durch immer größere technische Fortschritte den Betrieb rentabler zu machen und
die Sicherheit zu fördern. Aber an der Erhaltung und Ausgestaltung der maschinellen
und baulichen Anlagen, an der Einstellung der Beamten und Arbeiter auf Bahn¬
höfen und Werkstätten, an der Regelung der Dienstdauer der Beamten und Arbeiter,
an der Abfassung der Dienstanweisungen wirkt er entscheidend nicht mit. Von der
letzten Entscheidung in diesen Dingen ist und soll der Techniker ausgeschlossen bleiben,
obwohl dafür nur die technisch-wirtschaftliche Vorbildung die sachlichen Gesichtspunkte
gibt, und obwohl das Assessorexamen zum Richter und Anwalt die passende Grundlage
gibt, nicht aber zur Verwaltung eines wirtschaftlich-technischen Riesenbetriebes.
In Österreich schließen sich die Techniker zu einer Union der Techniker zu¬
sammen. Auch in Deutschland wird ein Verband der höhern Techniker entstehn.
Was dem einen recht ist, ist dem andern billig. Der deutsche Richterbund sollte
der deutschen Technikerschaft ein Ansporn sein, ihre eignen Interessen in dieser Zeit
nicht zu vernachlässigen. Wir gehn einer neuen Zeit entgegen! Im alten Agrar-
staat Preußen, als noch der größere Teil der Bevölkerung Landwirtschaft betrieb,
war der kreiseingesessene Landrat der geborne Techniker des damaligen Wirt¬
schaftslebens der Nation. Ihm gilt Bismarcks lautes Lob in seinen „Gedanken und
Erinnerungen" vor dem, der Ar und Halm nicht kennt. Heute stehn wir im Zeitalter
des Verkehrs. Die Technik ist ein neuer Wirtschaftsfaktor im Leben der Nation
geworden. Aus der Pflege des Verkehrs erwächst uns Wohlstand. Wo Lnndräte
Kanäle baue», ist die Zeit nicht mehr fern, wo der Techniker der geborne Landrat
des preußischen Landratkreises wird. Künstlich wird heute noch da, wo die reine
Bau- und Maschinentechnik aufhört, der Wirkungskreis des Technikers begrenzt.
Die Übersicht über das Ganze, der Aufstieg zu den leitenden Stellen bleibt ihm
verschlossen. Der Schöpfer wird von seinem Werke verbannt.
Wenn sich nnter solchen Umständen rückgratfeste Abgeordnete zum Sprach¬
rohr der Technik macheu, wenn durch die gesamte Technikerschaft der Ruf zur
Erhebung über den engen Arbeitskreis des Einzelwerks und zur Mitarbeit
am Staatsganzen geht, so sollte man doch oben erkennen, daß diese Bewegung
unaufhaltsam ist, daß sie eine Notwendigkeit ist, daß das Motiv nicht Stellenhunger
unerfahrner junger Männer ist, und daß diese Bewegung nicht in Geldkompetenzen
ihre Befriedigung finden kann. Diese Bewegung ist eine Folge unsrer Zeit.
In Bayern besteht ein Verein der höhern technischen Staatsbeamten, ähnlich
i» Württemberg und Baden. Man hat noch nicht gehört, daß deshalb die
bayrischen oder württembergischen Staatsbahnen aus den Schienen gegangen wären.
Man hat auch nicht gehört, daß dem leitenden Minister dadurch Schwierigkeiten
erwachsen seien. Wo ein Beamtenverein staatsfeindlich würde, sind genug Mittel
vorhanden, ihn zur Vernunft zu bringen. Wir leben heute in einer Zeit der
organisierten Volkswirtschaft. Sollen die geistigen Arbeiter von einer Koalition
ausgeschlossen bleiben? Wo zwingende wirtschaftliche und soziale Grüude vorhanden
sind, kommt ein Zusammenschluß früher oder später. Durch störende Eingriffe von
oben wird oft das Gegenteil des Beabsichtigten erreicht. Es ist Klugheit, so tief¬
gehenden Bewegungen ein breites Bett zu graben, um sie sich ausströmen zu lassen.
Geschieht das um in Preußen? Leider nicht! Hier hat der Eisenbahnminister
Breitenbach dnrch seinen bekannten Erlaß gegen die höhern Eisenbahntechniker vor
der Bildung eines Vereins gewarnt.
Der Minister hat aber nichts durch seine Warnung erreicht. In der Stille
hat sich ein technisches Komitee gebildet von Leuten, die dem Griff des Ministers
nicht mehr unterstehn. Die Fachleute hoffen, daß es gelingen möge, bald eine deutsche
technische Reichsorganisation zu schaffen.
Der erste Band dieses von
den Professoren Conrad, Lexis, Elster und Loening herausgegebnen unvergleichlichen
enzyklopädischen Werkes ist 1890 in Gustav Fischers Verlag erschienen. Es hat sich
ungelenke und unverklausulierte Anerkennung erworben, und wo immer im In- und
Auslande über Gegenstände der Volkswirtschaft, der Verwaltung, der Rechtspflege,
der Finanzpolitik, der Sozialpolitik geschrieben wird, da dient es nicht bloß als
unentbehrliches Hilfsmittel sondern als solide Grundlage. Der rasche Wandel in
der Gesetzgebung, in der wirtschaftlichen Entwicklung, der alljährliche Zuwachs an
neuem statistischen Material machen beständig Ergänzungen und Korrekturen not¬
wendig, und so haben sich denn die Herausgeber und der Verleger veranlaßt gesehn,
der zweiten, vor acht Jahren erschienenen Ausgabe eine dritte folgen zu lassen.
Sie erscheint in Lieferungen von 10 bis 11 Druckbogen (Preis 2 Mark 50 Pfennige,
die Doppcllieferung 5 Mark) und wird vollständig 8 Bände von zusammen 600 Druck¬
bogen umfassen. Der Subskriptionspreis beträgt 150 Mark für das broschierte und
175 Mark für das in Halbfranz gebundne Exemplar. Besitzern der ersten oder
der zweiten Auflage, die ihr Exemplar gegen eins der neuen Auflage eintauschen
wollen, wird ihr altes Exemplar mit 42 Mark angerechnet. Die uns vorliegenden
zwei ersten Lieferungen enthalten an neuen Artikeln u. a. eine sehr gründliche
Würdigung Ernst Abbes und eine Abhandlung über Agrar- und Industriestaat.
Unter den umgearbeiteten und erweiterten Artikeln ist vor allem die Agrargeschichte
zu nennen. In der ersten Ausgabe hatte sie Lamprecht bearbeitet. In dieser neuen
haben sich drei Autoren in die Arbeit geteilt, und Max Weber, der das Altertum
behandelt, hat nicht bloß die Agrargeschichte sondern das ganze Wirtschaftsleben der
alten Welt, der orientalischen wie der griechisch-römischen, mit der erstaunlicher
Wissensfülle und der scharfsinnigen Kombinationsgabe dargestellt, durch die sich dieser
Forscher auszeichnet. Diese seine 136 doppelspaltigen Seiten in Lexikonoktav hätten
sehr gut als ein selbständiges Werk erscheinen können. Ohne Zweifel wird auch noch
Ferdinand Jakob Schmidt, der Religionsphilosoph
der Preußischen Jahrbücher, hat seine in diesem Organ veröffentlichten Abhand¬
lungen unter dem Titel Zur Wiedergeburt des Idealismus (Leipzig, Dürrsche
Buchhandlung, 1908) in Buchform herausgegeben mit einer die Grundzüge seiner
Philosophie zusammenfassenden Einleitung. Als die wichtigste Leistung des hellenischen
Denkens erscheint ihm die Erkenntnis, daß es der Geist ist, der die Welt schafft.
Aber die Kraft, von dieser Erkenntnis aus Natur und Menschenwelt umzugestalten
und zu verklären, wohnte nicht schon der griechischen Philosophie inne, sondern erst
der Religion, die lehrt, daß Gott Geist ist, und daß man ihn im Geist und in
der Wahrheit anbeten müsse. Doch blieb in der alten Kirche der Geist noch als
suprcmaturaler dem in seinen natürlichen Lebensbedingungen verharrenden Gläubigen
entgegengesetzt; nur als Glied der Kirche trat dieser zu ihm in Beziehung. Der
Protestantismus befreit die Individuen aus dieser Gebundenheit an die Kirche und
bahnt die Vergeistigung der Natur und des gesamten natürlichen Menschenlebens
an. Jedoch ist das nicht schon dem ursprünglichen Protestantismus der Reformatoren
gelungen, die noch vielfach im Mittelalter stecken blieben, sondern erst dem Hegelschen
Idealismus, der den denkenden Geistern den schöpferischen Logos erschloß und „die
Methode des Totalitätsdenkens" lehrte, in dem sich „die wahre und vollkommenste
Einheit des Menschen mit Gott vollzieht". Allerdings zunächst nur theoretisch.
Praktisch wird die Vergottung erst durch den Kapitalismus. Nicht etwa dadurch,
daß Kapitalien im Privatbesitz aufgehäuft werden, sondern dadurch, daß er die
Natur vergeistigt und die ganze Natur durch Steigerung der Güterproduktion ins
Unendliche der gesamten Menschheit dienstbar macht. (Das tut doch die Technik;
das Großkapital dient dabei nur als ein vorläufig allerdings noch unentbehrliches
Werkzeug. Übrigens wird die Natur selbst dadurch nicht vergeistigt, daß der
Mensch ihren einzelnen Bestandteilen, indem er sie zu Maschinen umformt, sein
Gepräge aufdrückt.) Das nächste Ziel der Entwicklung ist die „universelle Ver¬
gesellschaftung", die erst den wahren Menschen hervorbringen wird; denn nur der
ist ein wahrer Mensch, „der ein Repräsentant der Totalität der Menschheit ist",
und das wird er nur „durch die sittliche Arbeit aller für alle". Kirche und Staat
sind nur Mittel, diesen wahren Menschen vorzubereiten und durch Erziehung zu
schaffen. Ist er vorhanden, so dient jeder dem Zwecke aller, wie die Allheit den
Zweck jedes einzelnen erfüllt. So erhebt sich der einzelne zur Totalität und wird
„damit erst frei von der sinnlichen Beschränktheit seines natürlichen Daseins. Nun
zwingt ihn kein fremder Wille mehr, denn der Wille aller ist zugleich sein Wille."
Im einzelnen enthalten die Aufsätze des geistvollen Mannes viel Interessantes
und Beherzigenswertes; so die Antwort auf die Frage, warum der erste Versuch
des Massengeistes, die Gesellschaft vernünftig zu gestalten, die Französische Revolution,
mißglücken mußte, den Nachweis, daß Marx die Lösung der Aufgabe, Hegels
Theorie praktisch zu verwende», verkehrt angegriffen hat, eine Kritik der Lehre
Max Webers von der protestantischen Askese und ihrem Zusammenhange mit dem
kapitalistischen Geiste. Sehr schön sind die letzten zwei Abhandlungen, in denen
die Forderung begründet wird, in unsrer Zeit, wo sich die Männer mehr und
mehr der technischen Arbeit widmen, müsse „das gesamte Mädchenschulwesen der
Träger der humanistischen Bildung sein". Was jedoch seine hegelsche Religion
betrifft, so wird sie sich schwerlich jemals zur Volksreligion eignen. Sie ist un¬
gefähr die Religion Eduards von Hartmann (abgesehen von deren pessimistischer
Färbung) und die des Hartmannapostels Arthur Drews. Mit beiden ist unserm
Religionsphilosophen gemein, daß er die Bedeutung der Persönlichkeit des historischen
Jesus gering einschätzt und den Wert des Christentums in dessen Christologie
findet, die die hegelsche Erkenntnis der Einheit des göttlichen mit dein Menschen-
geiste vorbereite. Aber Drews bestimmt das Verhältnis des Neuhegeltums zum
Christentum richtiger, indem er nicht gleich Schmidt dieses sich in jenem vollenden
läßt, sondern (in seiner Schrift „Die Religion als Selbstbewußtsein Gottes")
urteilt: „Man hat konsequenterweise gar keine Wahl, als entweder an der christ¬
lichen Offenbarung festzuhalten, dann aber auch die Autorität der katholischen Kirche
anzuerkennen, oder aber sich außerhalb dieser Autorität zu stellen und damit zugleich
das Christentum selber aufzugeben." Ich lehne natürlich diese Alternative ab; ich
bin überzeugt, daß man, ohne die Autorität der katholischen Kirche anzuerkennen,
am Offenbarungscharakter des Christentums festhalten und Christ sein kann; aber
wenn Drews sein Hegeltum nicht mehr für Christentum hält, so hat er damit
recht. Dem haeckelschen Materialismus ist freilich der hegelsche Idealismus vor-
zuziehen, denn so undenkbar auch der unbewußte Gott ist, der seiner selbst erst im
Menschen, ja erst in Hegel bewußt wird, so läßt sich doch aus ihm die stoffliche
Welt immer noch leichter ableiten als aus dieser der Geist, und außerdem liegt
dem metaphysischen Materialismus auch der ethische nahe (obwohl in der Praxis
sehr oft die Materialisten löblicherweise und die Idealisten unrühmlicherweise es
unterlassen, aus ihren Theorien die richtigen Folgerungen zu ziehen). Der Masse
der Menschen jedoch wird ein Gott, der an sich selbst unbewußt und also eigentlich
unwirklich ist, erst im Menschen Wirklichkeit gewinnt, sehr unwahrscheinlich vor¬
kommen; sie werden ihn auch in bescheidner Selbsterkenntnis wenig verehrungs-
würdig und darum zum Objekt der Religion nicht geeignet finden. Die Ver¬
geistigung der Menschheit sodann ist ohne Zweifel ein Ziel der irdischen Entwicklung,
und die christliche Kirche hat im Gegensatz zur Sklaventheoric des Aristoteles diesem
Ziele in der Art zugestrebt, daß sie immer forderte, es dürfe kein Mensch, welches
Geschlechts, Standes und Volkes anch immer, von der Teilnahme an den geistigen
Gütern ausgeschlossen bleiben. Aber gegen die völlige Vergeistigung des ganzen
Menschengeschlechts erheben sich sehr schwere Bedenken. Schon der heutige Fort¬
schritt der Vergeistigung unsers Volkes, dessen Wert an sich hier nicht untersucht
werden soll, hat zur Folge, daß wir für die körperlichen Arbeiten, die wir nun
einmal nicht entbehren können, Slawen und Italiener brauchen und nächstens
vielleicht gelbe Kukis und Schwarze werden verwenden müssen. Was endlich die
ideale vergeistigte Gesellschaft betrifft, der wir heute so häufig bei den Denkern
aller Schulen begegnen, so ist sie, wie ich schon oft bemerkt habe, nichts andres
als das Reich Gottes, um dessen Ankunft wir im Vaterunser bitten, wo wir es
anch ganz so wie Schmidt beschreiben, indem wir hinzufügen: Dein Wille geschehe!
Denn Übereinstimmung aller Einzelwillen mit dem göttlichen ist eben Überein¬
stimmung jedes Einzelwillens mit dem Gesamtwillen. Aber es ist mir sehr zweifel¬
haft, ob das äußerst bescheidne Maß solcher Harmonie, das wir bis jetzt erreicht
haben, in Zukunft noch erreicht werden würde, wenn die auf seine Erreichung ge¬
richtete Tätigkeit des Staates und der von Schmidt zum Verschwinden verurteilten
sichtbaren Kirche einmal aufhörte, und ich halte die Ansicht, daß die Harmonie
jemals vollkommen und allgemein werden wird, für eine Utopie, weshalb mir die
Ergänzung des irdischen Lebens durch das jenseitige so unerläßlich erscheint, wie
sie Kant erschienen ist. Schmidt ist vielleicht nicht Utopist, da er sich den Welt¬
prozeß (S. 20) wahrscheinlich unendlich, als stetige Annäherung an das Ideal
denkt. Aber mit der Aussicht auf einen unendlichen Prozeß ist dem armen
Menschenherzen, das ja den ganzen Prozeß nicht erleben kann, nicht gedient; es
will einen Abschluß, und zwar einen jenseitigen, wenn ihm ein diesseitiger ver¬
sagt bleibt. Solche Herzenswünsche wird nun freilich Schmidt unmoralisch finden
— selbst der moralische Wille ist, als Eigenwille des Individuums, sündhaft, sagt
er S. 39 mit Luther — aber dieses Streben nach Aufhebung der Sonderpersvnlich-
keit mutet nnn eben wieder mehr pantheistisch-mystisch oder buddhistisch als christ¬
Das im vorigen Jahrhundert in
bürgerlichen Kreisen ziemlich allgemein erloschene Interesse für Familiengeschichte
und Familienforschuug ist in den letzten Jahren erfreulicherweise wieder erwacht
und findet in zahlreichen Vereinen, vor allem auch bei der „Zentralstelle für
deutsche Personen- und Familiengeschichte in Leipzig" sachgemäße Förderung und
Pflege. Die Erkenntnis, daß der Sinn für Familieuzusammeugehörigkeit und für die
Erhaltung des Gedächtnisses der Vorfahren und der Lebenden keineswegs ein
Privilegium des Adels sein darf, und daß viele bürgerliche und bäuerliche Ge¬
schlechter auf ein mindestens ebenso ehrwürdiges Alter und auf eine an Schicksalen
und Leistungen sicherlich nicht ärmere Vergangenheit zurücksehen können, bricht sich
immer mehr Bahn und hat gerade in unsrer Zeit, wo von einer , gewissen Seile
lediglich zu parteipolitischer Zwecken an der Grundfeste des Staates und alles
gesellschaftlichen Lebens, der Familie, gerüttelt, auf Kosten jeder berechtigten Tradition
eine höchst törichte Gleichmacherei gepredigt und an der Proletarisieruug gutbürger¬
licher Kreise gearbeitet wird, unzählige eifrige Vorkämpfer gefunden. Trotzdem
begegnet man ab und zu immer noch einzelnen sonst recht gebildeten und vernünftigen
Leuten, die sich alleu auf die Erforschung der Familiengeschichte gerichteten Be¬
strebungen gegenüber ablehnend verhalten und in der Pflege der Familiengeschichte
einen zwar harmlosen aber überflüssigen Sport sehen. Solche Leute sind nicht leicht
zu belehren, es fehlt ihnen eben der bei unsern Vorfahren so stark ausgeprägte
Familiensinn, und das Goethische Wort:
Wohl dem, der seiner Vater gern gedenkt,
Der froh von ihren Taten, ihrer Größe
Den Hörer unterhalt und, still sich freuend,
Ans Ende dieser schönen Reihe sich
Geschlossen sieht!
kann für sie nur ein hohler Schall sein. Man ist so leicht geneigt, die wissenschaft¬
lichen und technischen Errungenschaften der Neuzeit als ein ausschließliches Verdienst
der lebenden Generation zu betrachten, und vergißt darüber, daß auch loir nur auf
deu Schultern unsrer Väter stehen, die in einem vielleicht bescheidner» Wirkungs¬
kreise die Basis für unsre Tätigkeit und Erfolge geschaffen haben. Vor dieser
Selbstüberhebung wird jeder bewahrt bleiben, der sich in die Geschichte seiner
Familie vertieft, denn er wird sich der Wahrnehmung nicht verschließen können, daß
alles, was er an Neigungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten besitzt, in einer den
Zeitverhältnissen entsprechenden Form schon bei seinen Ahnen (im genealogischen Sinne
verstanden!) erscheint, und daß sich die Methoden des Denkens genau so gut ver¬
erben wie die Traditionen des Handwerks. An dem so viel bespöttelten „Ahnen¬
stolz" — ein Wort, das die Gegner der Familienforschnng gewöhnlich als letztes
und schwerstes Geschütz auffahren — leidet der genaue Kenner seiner Familien¬
geschichte am allerwenigsten, denn die Beobachtung, daß es in jeder Familie ein
Aufsteige» aus den beschränktesten Verhältnissen und nur zu häufig auch wieder ein
Hinabsinken von der Höhe einer mehr oder minder glänzenden Position oder eines
mehr oder minder bedeutenden Wohlstandes gibt, lehrt ihn, jede ehrliche Arbeit
und jedes redliche, wenn auch nicht von äußern Erfolgen gekrönte Streben zu
achte». Und wie interessant spiegelt sich die Weltgeschichte im engen Rahmen der
Familiengeschichte wieder! Eine wie andre Bedeutung gewinnt für einen Menschen
das Zeitalter der Reformation, wenn er erfährt, daß seine Vorfahren um ihres
Glaubens Wille» ihre Heimat verlassen mußten, wie viel ernster erscheint ihm der
Dreißigjährige Krieg, wenn er zum Beispiel in den Aufzeichnungen eines seiner
Vorfahren liest, daß der Stammhof der Familie am Tage nach der Schlacht bei
Breitenfeld von den Kroaten geplündert wurde!
Man martert in der Schule sein Gehirn, um sich die Geschichtszahlen einzu¬
prägen, man ruht nicht, bevor man nicht die Regierungsjahre der römischen und
deutschen Kaiser, die biographischen Daten und Genealogien seiner oft herzlich
unbedeutenden Landesfürstenhäuser wie am Schnürchen hersagen kann, man prägt
sich neuerdings mit heißem Bemühen den leider sehr hypothetischen Stammbaum
des nomo saxisns rückwärts bis zur Urzelle ein — sollte es da nicht mindestens
ebenso interessant und lehrreich sein, die Vergangenheit mit allen ihren historischen,
politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen gleichsam am eignen Fleisch und Blut
zu studieren, das heißt Familiengeschichte zu treiben?
Eines der verdienstlichsten Unternehmungen zur Förderung solcher Bestrebungen
ist das von Dr. ^'ur. Bernhard Koerner herausgegebne Genealogische Handbuch
Bürgerlicher Familien, dessen 14. Jahrgang soeben bei C. A. Starke in Görlitz
erschienen ist. Der stattliche, mit zahlreichen Porträts, schwarzen und farbigen
Wappentafeln geschmückte, 564 Seiten starke Band bringt die Stammreihen von
41 Familien, sodaß jetzt im ganzen 508 Stammreihen vorliegen, von denen viele
mit ausführlichen biographischen Daten versehen sind und, abgesehen von ihrem
Werte für die Familie selbst, ein überaus reiches Material für den Kulturhtstoriker,
Statistiker und zu biographischen Zwecken bieten. Der in den alphabetischen Namens¬
verzeichnissen der jetzt vorliegenden 14 Bände enthaltene Nachweis andrer, mit den
ausführlich behandelten Geschlechtern versippter Familien bringt viele tausend Namen
und dürfte wohl jedem, der sich mit der Zusammenstellung seiner eignen Familien¬
geschichte beschäftigt, wertvolle Aufschlüsse geben. Überhaupt sei das Studium des
Genealogischen Handbuchs Bürgerlicher Familien allen angelegentlichst empfohlen, die
sich darüber unterrichten wollen, nach welchen Prinzipien und in welcher Form eine
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(VII u. 349 L.) 1.EX.-8. 1903. 6eil. N. 9.—. in 1.einvsn6 AeK. N. 11.—
poütki-ol vom Vortag- L. <I. 1'vndt»«!' in livipzeZA, .?»»»»kräs« z.