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]]> >le in Washington erscheinende Monatsschrift. ?1lo Mvz^, die nicht
nur den Marineinteressen gewidmet ist, sondern auch der Dis¬
kussion internationaler Fragen der auswärtigen Politik dient,
bringt in ihrer Aprilnummer einige Artikel über die Themata, die
! auf der zweiten Haager Konferenz zur Erörterung kommen.
Deutschlands Stellung ist in einem von hohem politischem Scharfblick
und von guter Fühlung mit den maßgebenden Kreisen Berlins zeugenden
Briefe des Associated-Preß-Korrespondenten Mr. Einer Roberts geschildert.
Er beginnt mit Konstatierung der Tatsache, daß die deutsche Regierung der
Erörterung von Abrüstungsvorschlägcn aus der Haager Konferenz abgeneigt
sei, und setzt die Gründe für diese Haltung auseinander, die in Amerika an¬
scheinend nicht ganz verstanden werde. Mr. Roberts erwähnt, daß der Gegenstand
sehr ernstlich , von den Männern geprüft worden sei, die für die höhere aus¬
wärtige und militärische Politik der Regierung verantwortlich sind. Die
Möglichkeit einer tatsächlichen Beschränkung der Rüstung sei von jedem Stand¬
punkt aus geprüft worden, insbesondre, ob es möglich sei, die Kriegsvor¬
bereitungen von den Ausgaben abhängig zu machen oder zu der Bevölkerung
oder der Ausdehnung des Gebiets oder der nach sachverständigen Urteil relativ
exponierten geographischen Lage eines Landes in ein Verhältnis zu bringen.
Kein einziges dieser Prinzipien scheine der deutschen Regierung auf die ver-
schiednen Situationen anwendbar zu sein, in denen sich die großen Mächte
befinden. Aber selbst wenn man annähme, daß die Mächte imstande sein
sollten, ein Abkommen auf Grund eines dieser Prinzipien oder durch eine
Modifikation aller zustande zu bringen, so würde doch die wichtige Frage der
Kontrolle über die Ausführung eines solchen Abkommens ungelöst bleiben.
Die Ausübung einer internationalen Oberaufsicht sei doch schwer. vor¬
stellbar. Wie könne eine Kontrolle bei dem gegenwärtigen Zustande der
nationalen Meinung wirksam sein, wo sich die meisten Völker und Re¬
gierungen in ständigen Argwohn auf ihre Nachbarn zu befinden scheinen?
Die Ausführung eines solchen Abkommens müßte schließlich doch immer auf
der borg. dickes der vertragschließenden Mächte beruhen. Gerade aber die
borg, natos sei nicht vorhanden, und in ihrem Fehlen liege die innere Ursache
zu allen Rüstungen. Napoleon habe in dem Vertrage Frankreichs mit Preußen
im Jahre 1807 die preußische Armee auf 42000 Mann begrenzt. Sechs
Jahre darauf seien die Preußen trotzdem mit 200000 Mann ins Feld gerückt.
Der Vertrag sei so abgefaßt gewesen, daß Scharnhorst, der leitende Geist der
preußischen Armeereorganisation, imstande war, mit Hilfe eines technischen
Kunstgriffs ungefähr fünfmal mehr als die stipulierte Maximalzahl auszu¬
bilden. Der vor einigen Jahren zwischen Argentinien und Chile abgeschlossene
Vertrag zum Zwecke der Beschränkung von Kriegsschiffsneubauten habe Anlaß
zu akuten Mißverstündnissen gegeben. Bei der gegenwärtigen Empfindlichkeit
des nationalen Fühlens würde aller Voraussicht nach jede vereinbarte Be¬
schränkung den Keim für neue Gelegenheiten zu Mißtrauen in sich tragen.
Die Bildung eines neuen Schützenklubs oder die Organisation einer Knaben¬
schule zu einem Bataillon für körperliche Übungen würde dann wahrscheinlich
genügen, die borg, nass der Regierung in Zweifel zu ziehen, in deren Juris¬
diktion der Zwischenfall stattgefunden hätte. Die Art, in der ein neues
Handelsschiff konstruiert würde, jedes Anzeichen für seine Verwendbarkeit im
Kriegsfalle würden zu Bedenken und Nachforschungen dienen.
Roberts schließt aus alleu diesen Beispielen, daß ein Abkommen über
eine Beschränkung der Rüstungen kaum zum Ziel führen könne, und meint,
daß man lieber alles aufbieten solle, um die Hauptursache für die gegen¬
wärtigen Rüstungen, nämlich den gegenseitigen Argwohn zu beseitigen. Dann
würden auch die Rüstungen in entsprechender Weise und fast automatisch be¬
schränkt werden können. Er zieht eine Analogie zwischen der Haltung der
Mächte zueinander und der Gewohnheit von Männern eines primitiven Staates,
immer bewaffnet zu gehn. In demselben Maße, wie das Zutrauen zueinander
zunehme, und die Rechtspflege eine ständige Einrichtung werde, nehme auch
das Wasserträger ab, und geradeso würde es im Leben der Staaten gehn.
Denselben Gedanken, den hier Mr. Roberts ausspricht, hat vor Jahren
der Legationssekretür von Flöckher in seinem Buche über die völkerrechtliche
Intervention*) geäußert. Es ist in der Tat zu hoffen, daß der allmähliche
Ausbau des Völkerrechts dazu führen wird, die Kriege immer seltner zu
machen. Daß die Kriege ganz beseitigt werden könnten, ist bei der Natur
der Menschen aber ausgeschlossen.
Da die Haager Konferenz ein so weites Arbeitsfeld für die Ausdehnung der
schon gemachten Anfänge zu einer humanern Gestaltung des Krieges und zu inter¬
nationalen Schiedsgerichten biete, hält Mr. Roberts Deutschlands Weigerung
für gerechtfertigt, sich in eine Diskussion über ein Ideal einzulassen, das jenseits
der Grenzen einer gegenwärtig möglichen Abmachung liegt. Außerdem sei all¬
gemein bekannt, das; die britische Diplomatie niemals tütiger gegen Deutschland
gewesen sei als während der letzten Monate. Ihr augenblickliches Ziel scheine zu
sein, Italien vom Dreibunde loszulösen oder doch wenigstens zur Neutralität zu
bewegen. Deutschland habe nur einen einzigen festen Freund im europäischen
Staatensystem, Österreich, und von Deutschland eine Beschränkung seiner mili¬
tärischen Streitkraft in diesem Zeitpunkt zu verlangen, sei gerade so, als ob man
einen Mann, der hinter der Ecke seinen Feind zu treffen erwartet, auffordere,
seinen Revolver abzuliefern. Die englische Diplomatie und die englische Presse
hätten ja vielleicht mit Erfolg im Auslande den Eindruck erweckt, daß Deutschland
nur deshalb nicht die Nüstungsfrage zu diskutieren wünsche, weil es aggressive
Absichten habe, aber das scheine doch weniger nachteilig zu sein, als an einer
unaufrichtigen Debatte teilzunehmen, die doch resultatlos sei und außerdem
die Zeit in Anspruch nehme, und die man viel nützlicher verwenden könne,
um Mittel zu finden, die friedliche Lösung internationaler Streitigkeiten aus-
zudehnen. Mr. Roberts ist jedoch überzeugt, daß die deutsche Regierung,
wenn andre Mächte ein gerechtes und sicheres Schema für die Beschränkung
der Rüstungen finden könnten, dieses sicher einer objektiven Prüfung unter¬
zieh« würde.
Die britische Regierung habe, wie man in Berlin annehme, zwei Haupt¬
gründe, um auf eine Diskussion der Nüstungsfrage zu dringen: erstens würde
Großbritannien, wenn durch einen Zufall die Mächte übereinkommen sollten,
ihre Rüstungen einzustellen, zu einer stündigen Oberherrschaft zur See ge¬
langen, und zweitens würde Großbritannien, wenn eine große Majorität
von Staaten Verbesserungen für den Seekrieg geneigt sein sollten, wie der
Neutralisierung des Privateigentums der Kriegführenden zur See, besser in der
Lage sein, zu sagen, daß, da nun einmal keine Neigung vorhanden sei, die
Rüstungen einzuschränken, der Seekrieg auch möglichst rücksichtslos gegen den
Feind geführt werden müsse.
Nach Mr. Roberts Ansicht sollen viele einflußreiche Personen in Berlin den
Standpunkt vertreten, daß Großbritanniens Abrüstungsvorschlag nicht so sehr
gegen Deutschland wie gegen die Vereinigten Staaten gerichtet sei. Als Grund
dafür werde angegeben, daß England eine dreimal so große Flotte als die
Vereinigten Staaten habe, und daß die Union die einzige Macht in der Welt
sei, die eine ebenso große Flotte wie Großbritannien bauen könne.
Mr. Roberts geht dann zur Erörterung der andern Fragen der Haager
Konferenz über. Bekanntlich ist die Abrüstungsfrage in dem russischen Programm
überhaupt nicht enthalten, sondern erst von England vorgeschlagen worden,
das sich eben alles erlauben zu können glaubt, während es sonst im inter¬
nationalen Verkehr üblich ist, daß der Staat, der zu einer Konferenz einlädt,
allein die einzelnen Progrcunmpnnkte festsetzt.
Eine der Hauptkontroversen, die sich aus dem russisch-japanischen Kriege
ergeben haben, ist die des Beginns der Feindseligkeiten. Das Vorgehen
einer Regierung, die ohne Notifikation den Krieg begann, konnte vor dein
russisch-japanischen Konflikt durch eine Reihe von Präzedenzfällen gerechtfertigt
erscheinen. Die förmliche Kriegserklärung wurde als ein Überbleibsel aus der
Zeit des Rittertums behandelt, wo die Herausforderung in zeremonieller Weise
durch einen Herold in das Lager des Gegners gesandt wurde. Schon Hugo
Grotius erklärte eine solche Formalität für überflüssig. Nach deu Angaben
des Oberst Maurice sollen hundertuudzehn von hundertundzwanzig Kriegen in
dem Zeitraum von 1700 bis 1870 ohne Kriegserklärung begonnen haben.
Nach der seltsamen Kriegseröffnung durch die Japaner hat die öffentliche
Meinung der Welt die Frage auch einer erneuten Prüfung unterzogen und
ist zu dem Resultat gekommen, daß der Beginn eines Krieges durch Über¬
raschung unvereinbar sei mit der Rücksichtnahme, die ein Staat dem andern
schulde. Mr. Roberts ist der Ansicht, daß Deutschlands Stellung deutlich zu¬
gunsten einer Kriegserklärung vor Beginn der Feindseligkeiten sei. Der schwierige
Punkt sei der Zwischenraum, der zwischen der Erklärung und dem Augriff
verstreichen müsse. Unmittelbar nach der Erklärung den Krieg zu beginnen
würde auch eine Überraschung sein; während kein Staat gewillt sein würde,
sich des Vorteils zu begeben, seine Kriegsbereitschaft schnell auszunutzen.
Die Legung von Seculum, die im russisch-japanischen Kriege zum ersten¬
mal in größerm Maßstab zur Anwendung gekommen sind, hat sich als über¬
aus nachteilig für die Handelsschiffe erwiesen, die auch jetzt noch im Golf von
Petschili durch losgerissene Seculum gefährdet werden. Mr. Roberts meint,
die Schwierigkeit liege darin, den Gebrauch von Seculum auf gewissen be¬
lebten internationalen Handelswegen auszuschließen. Die deutsche Ansicht sei,
daß die russische Praxis, wonach neutralen Regierungen modifiziert werde, in
welchen Gewässern Minen verwandt würden, zu einem Grundsatz des Völker¬
rechts gemacht, und ferner, daß die kriegführenden Mächte verpflichtet werden
müßten, alle festen und schwimmenden Minen sofort nach Aufhören des
Krieges zu beseitigen. Die Umwandlung von Handelsschiffen in Kriegsschiffe
wird ebenfalls im Haag behandelt werden. Diese Frage wurde aktuell, als
die russischen Kriegsschiffe Petersburg und Smolensk von der freiwilligen Flotte
im Schwarzen Meer die Dardanellen als Handelsschiffe passiert, dann aber
aus hoher See die Kriegsflagge gehißt und das britische Schiff Malacca ge¬
kapert hatten. Der Protest Englands stützte sich darauf, daß diese Schiffe
entweder Kriegsschiffe wären und als solche die Dardanellen nicht hätten
passieren dürfen, oder wenn sie die Dardanellen als Handelsschiffe durchfahren
hätten, nicht in Kriegsschiffe hätten umgewandelt werden dürfen.
Deutschland beabsichtigt, wie Mr. Roberts mitteilt, die Ansicht zu ver¬
treten, daß in den Fällen, wo ein Handelsschiff in ein Kriegsschiff umgewandelt
worden ist, ein solches Schiff während der ganzen Kriegsperiode ein Kriegs-
schiff bleiben muß, und daß es unzulässig sei, ein und dasselbe Schiff bald
als Handelsschiff, bald als Kriegsschiff zu verwenden, je nachdem es vorteilhaft
erscheinen möge.
Die Behandlung vou Schiffen der kriegführenden Staaten in neutralen
Häfen ist ebenfalls noch eine ungelöste Frage. Uneinigkeit herrscht insbesondre
darüber, wie lange solche Schiffe in neutralen Häfen bleiben dürfen, bis zu
welcher Ausdehnung sie bei Reparaturen unterstützt werden, und welches
Quantum Kohlen sie erhalten dürfen. Frankreich handelte während des
russisch-japanischen Krieges nach dem Grundsatz, daß ein neutraler Staat Kriegs¬
schiffen einer kriegführenden Partei jede verlangte Hilfe gewähren dürfe, voraus¬
gesetzt, daß die andre Partei genau in demselben Sinne behandelt würde,
während Großbritannien den Hafen von Weiheiwei für die Schiffe beider Parteien
schloß und in andern Häfen Ausbesserungen und Einnahme von Kohlen nur
im beschränktesten Umfange gestattete.
Mr. Roberts gibt an, daß Deutschland hierüber klare Regeln herbeiführen
wolle, damit die Neutralen soweit als möglich uicht in den Streit über die
Interpretation dieser Frage hineingezogen werden können. Deutschland sei
auch bereit, sein Einverständnis damit zu erklären, daß ein Unterschied gemacht
werde zwischen Häfen, die nahe bei, und solchen, die weitab von dem Kriegs¬
theater liegen.
Das Versenken von Seeschiffen, die als Prisen genommen worden sind, wird
nach Mr. Roberts Ansicht eingeschränkt werden, wenn der deutsche Vorschlag
angenommen würde, wonach das Versenken eines neutralen Schiffes nur unter
außerordentlichen und genau bestimmten Umständen zulässig sein solle, und
auch dann nur bei vollem Ersatz für Schiff und Ladung.
Der Begriff der Kriegskonterbande wird voraussichtlich zu großen
Meinungsverschiedenheiten Anlaß geben. Mr. Roberts erwähnt, daß man in
den Vereinigten Staaten über die russische Erklärung sehr erregt gewesen sei,
wonach Lebensmittel, rohe Baumwolle, Alkohol, Naphtha und Kohlen für absolute
Kriegskonterbande erklärt wurden, und daß auch Deutschland jetzt geneigt sei,
mitzuwirken, daß die Artikel, die als Kriegskonterbande erklärt werden können,
möglichst limitiert werden.
Zum Schluß bespricht Mr. Roberts den Schutz des Privateigentums der
Kriegführenden zur See. Diese Frage bildete den wichtigsten Punkt des
russischen Programms und ist von Großbritannien, dem sie sehr wenig gelegen
kommt, geflissentlich in den Hintergrund zu drängen versucht worden. Schon
auf der ersten Haager Konferenz stellte Mr. Andrew D. White, der damalige
erste amerikanische Delegierte, einen Antrag, daß der Schutz, den das feind¬
liche Privateigentum schon jetzt im Landkriege genießt, bis zu einem gewissen
Gabe auf den Seekrieg ausgedehnt werde, aber es kam trotz der Unterstützung
Deutschlands zu keinem Beschluß, weil England und Frankreich opponierten.
Die Schwierigkeiten, die zu überwinden sind, bestehn nach Mr. Roberts Ansicht
darin, daß das Privateigentum zur See uur dann geschützt werden kann, wenn
neue Bestimmungen getroffen werden über das Recht der Kriegsschiffe, die
Handelsschiffe zu durchsuchen, und das Recht, Ladung oder einen Teil der
Ladung als Kriegskonterbande oder wegen Blockadebrnchs wegzunehmen.
Jedenfalls darf man aber nicht übersehen, daß die ganze amerikanische
Marine in diesem Punkte andrer Meinung ist als die amerikanische Regierung,
deren Standpunkt Mr. Roberts wiedergegeben hat, und schon jetzt in der
Presse heftig dagegen protestiert, daß der Schutz des Privateigentums zur See
auf der zweiten Haager Konferenz beschlossen werden solle.
Mr. Benjamin Baker, der sich in zum Sprachrohr der ameri¬
kanischen Marinekreise gemacht hat, führt in einem längern Artikel die Gründe
aus, die dagegen sprechen. Auch near-Admiral Spcrrh, der amerikanische Marine¬
vertreter auf der zweiten Haager Konferenz, hat sich in einem Interview ab¬
lehnend geäußert. Mr. Baker führt aus: der Seehandel sei eine der wichtigsten
Einnahmequellen der kriegführenden Weltmächte und liefere der Nation nicht nur
ein Einkommen in Gestalt von Einfuhrzöllen, sondern auch einen Wertzuwachs
des Privateigentums, das den innern Steuern unterworfen sei. Die Fortdauer
des Handels während des Krieges würde direkt und unfehlbar die Widerstands¬
kraft des betreffenden Staates steigern. Es sei darum im Prinzip das klare
Recht einer jeden Macht, ihrem Feinde den überseeischen Handel zu verbieten
und dieses Verbot durch die Wegnahme feindlicher Schiffe wirksam zu machen,
da hierdurch die Fähigkeit des Feindes, den Krieg fortzusetzen, herabgesetzt
werde. Die Vereinigten Staaten hüllen nur einen geringen Außenhandel unter
eigner Flagge und könnten darum in einem Seekriege nnr wenig geschädigt
werden. Dagegen könnte die amerikanische Flotte in einem Kriege mit Gro߬
britannien den britischen Handelsschiffen und Ladungen sicher einen enormen
Schaden zufügen.
Viel wichtiger würde aber die Ausübung dieses Rechts im Falle eines
Krieges mit Japan sein. Die insulare Lage Japans und die Tatsache, daß die
Haupthandelsroute nach den japanischen Inseln von den amerikanischen Flotten-
stationcn auf den Philippinen, anf Hawai und an der Küste des Stillen Ozeans
überwacht werden konnte, würde die Zerstörung des japanischen Handels zu
einer wertvollen Kriegsmaßregel machen. Ein Krieg zwischen Japan und den
Vereinigten Staaten sei ja in den nächsten Jahren nicht zu erwarte», aber das
Verhältnis Japans und Chinas werde mit Sicherheit dermaleinst zu einer
Kette von Kriegen führen, an denen auch die Vereinigten Staaten teilnehmen
müßten.
Die Frage, ob der Krieg in Zukunft humaner gestaltet werden würde
als bisher, habe mit dem Schutze des Privateigentums zur See nichts zu tun.
Inhuman sei es, dem Feinde die Augen auszustechen oder Verwundete zu
quälen, aber man könne es doch nicht unhuman nennen, Privatgelder zu be¬
schlagnahmen und dadurch dem feindlichen Staat Einnahmequellen zu entziehen,
Die Wegnahme von Privateigentum zur See sei sogar insofern human zu nennen,
als den Bürgern des feindlichen Staates auf diese Weise die Last des Krieges
in Dollarn und Cents vor Augen geführt und ein Boden für eine öffentliche
Stimmung gegen die Fortsetzung des Krieges bereitet werde.
Es wird abgewartet werden müssen, wie sich die amerikanischen Vertreter
auf der zweiten Haager Konferenz äußern, und welche Erklärungen sie bei der
Schlußkonferenz abgeben werden. Auch auf der Marokkokonferenz in Algeciras
hat die amerikanische Negierung trotz ihrer wohlwollenden Unterstützung Deutsch¬
lands im Schlußprotokoll den Vorbehalt gemacht, daß sie, indem sie den
Reglements und den Erklärungen der Konferenz durch Unterzeichnung der
Generalakte und des Zusatzprotokolls beitrete, und indem sie in deren Anwendung
auf amerikanische Bürger und Interessen in Marokko einwillige, keinerlei Ver¬
pflichtung oder Verantwortung übernehme, die für die Ausführung der genannten
Reglements und Erklärungen nötig sein könnten.
Überdies hat Präsident Noosevclt in seiner letzten Votschaft an den Kongreß
die Neigung zu erkennen gegeben, die Haager Konferenz für amerikanische Zwecke
auszunutzen, und emphatisch erklärt, im Haag würden zum erstenmal alle
amerikanischen Republiken als gleichberechtigte souveräne Staaten vertreten sein,
und damit werde die Welt formell und endgiltig die Deklaration annehmen,
daß kein Teil des amerikanischen Kontinents der Kolonisation unterworfen
werden dürfe.
Es kann überhaupt nicht eindringlich genug vor der Idee gewarnt werden,
daß die deutsch-amerikanische Annäherung in absehbarer Zeit zu irgendeiner Art
von Allianz führen könne, denn einerseits werden die Vereinigten Staaten ihr
vorteilhaftes Lavieren zwischen Großbritannien und Deutschland so leicht nicht
aufgeben, und andrerseits sind die amerikanischen Sympathien für uns noch nicht
so groß, wie man es in Berlin gern glauben möchte. Die Deutsch-Amerikaner
in der Union tragen allerdings wesentlich zu einer innern Vertiefung der
deutsch-amMMschm Annäherung bei, aber zunächst sind sie doch Amerikaner
und werden als solche fühlen und handeln. Ein solches Gefühl wird schon durch
die Formen in ihnen geweckt, in denen sich ihre Aufnahme als amerikanische
Bürger vollzieht. Es heißt nämlich im:
^ot ok OonMgzg oonvörnmA ng-turali^Ätion. Leo. 2165:
I. IIv sI,M dsolUg, ein oatü, detorv . .. too ^e^rs at least prior to ins
Emission eng.t it is izona naiv Iiis intovtion to dveomv a citwu ol tus II. 8t.
ana to rviiounos i'or allein es g.mal kiclelit? to any
lorois'n xrinoo, xotsntats, stato or sovoroiAiit/ ol vlüou tuo Alca
w at tuo tiwo g, vitiizen or subjoot.
II. Ils statt, at tücz eins ok dis AMliosMou to ve ^äiriittsä, äkolare,
oM bötoro . . . tuae us will support tue- constitution ok tue it. Le. tua
tulit Iio adsolntol^ auel entirol^ ronounoes ana ab^jures -ni
allkssi^ues auel liäelit^ to over^ foreiZu xrivev, potontat«, se-ito
ol' soversi^ut/, ».»6, xartioularl^, n-urio, to et>6 xrmoo, xotöntllt.0, stats
c»r soveröißnt^ ok vvlÜLli ils plis dsloro Ä «zitiiisn or sudjöot; vkioll proogoäinM
8us,U hö rsooräeä b^ Ms court.
Die ganze angelsächsische Bevölkerung der Vereinigten Staaten aber ist
an sich deutsch-feindlich, und ein großer Teil der übrigen Bevölkerung ist uns
unfreundlich gesinnt, weil das Deutsche Reich eine Monarchie ist. Novsevelts
deutschfreundliche Politik findet deshalb durch die Unterströmungen der öffent¬
lichen Meinung des eignen Landes eine gewisse Grenze, und wenn es auch
sicher zu sein scheint, daß er selbst oder sein Kandidat Mr. Taft das nächstemal
zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewühlt werden wird, so werden
wir doch gut tun, bis auf weiteres keine zu hochgespannter Hoffnungen zu
hegen, sondern uns auch fernerhin mit der erfreulichen Tatsache zu begnügen,
daß sich die Vereinigten Staaten von Amerika an keinen internationalen
Intriguen gegen uns beteiligen und uns so wohlwollend gesinnt sind, wie es
ihnen eben die natürliche Rücksicht auf ihre eignen Interessen erlaubt.
le weit war der Plan einer Tripelallianz gediehen, den Napoleon
der Dritte im Hinblick auf einen künftigen Krieg gegen Preußen
betrieb, und aus welchen Gründen ist der Plan gescheitert, sodaß
der Kaiser ohne die gesuchten Bundesgenossen in den für ihn und
sein Land so verhängnisvollen Krieg hineinstürzte? Diese Fragen
sind noch nicht endgiltig beantwortet. Noch ist die historische Forschung nicht
zu sichern Ergebnissen gelangt. Gerade das Dunkel, das zum Teil die Ver¬
handlungen bedeckt, reizt aber zu immer neuen Versuchen, der Wahrheit näher
und näher zu kommen. Die Verhandlungen sind damals zum großen Teil nur
mündlich und im strengsten Geheimnis geführt worden; nur wenig Personen
waren dabei erdig oder eingeweiht. Und die Beteiligten hatten entweder keine
Ursache, nachher das Schweigen zu brechen, oder wenn sie es taten, sei es
herausgefordert oder von freien Stücken, so lag ihnen weniger daran, einen un¬
parteiischen und zusammenhängenden Beitrag zur Geschichte zu geben, als
vielmehr den eignen Anteil in ein günstiges Licht zu setzen, sich zu verteidigen
und zu rechtfertigen. In dieser Weise sind im Laufe der Zeit, seitdem der
Herzog von Grcimont zu Anfang des Jahres 1873, veranlaßt durch die von
Thiers vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuß vorgebrachten Anklagen,
den Schleier zu lüften begann, wichtige Enthüllungen gemacht worden, hinüber
und herüber, Urkunden sind ans Licht gezogen worden, die manche Aufklärung
gebracht, vieles noch im Zweifel gelassen haben. Die Urkunden selbst waren in
einer diplomatischen Sprache abgefaßt, die das letzte Wort zurückhielt, be¬
stimmten Verpflichtungen auswich, immer uoch einen Ausweg offen ließ. So
konnten sie verschieden ausgelegt werden, sie dienten eher dazu, den Streit an¬
zufachen, als ihn zu entscheiden, sie wurden der Ausgangspunkt für wider¬
sprechende Auffassungen.
Was von französischer Seite kam, verriet fast durchweg die Absicht, das
Allimizwerk als nahezu fertig, so gut wie abgeschlossen darzustellen. Damit
konnte man entweder die kaiserliche Regierung entlasten, die in gutem Glauben
war und darauf vertrauen konnte, im Kriege nicht allein gelassen zu werden.
Es konnte aber ebensogut zu Angriffen auf Napoleon und seine Räte benützt
werden: diese brauchten nur mit beiden Händen nach den Allianzen zu greifen, die
sich ihnen willig darboten, sie trugen selbst die Schuld, wenn die Bundesgenossen
versagten, sie selbst stießen in ihrer Verblendung die ihnen entgegengebrachte
Hilfe zurück. Beide Teile suchten aus den Akten heraus, was sie für ihre
Zwecke brauchen konnten. Sowohl die Anhänger als die Gegner des Kaiser¬
reichs hatten somit ein Interesse daran, den Abschluß der Bündnisse als mög¬
lichst gesichert darzustellen. Umgekehrt waren die Österreicher bemüht, nach dem
Ausgang des Krieges ihre Hände in Unschuld zu waschen und den Nachweis
zu führen, daß sie niemals dem Kaiser Hoffnung zu einer wirksamen Kriegs¬
hilfe gemacht hätten, ihm vielmehr alle Illusion zu benehmen, ihn vom Kriege
zurückzuhalten beflissen gewesen seien. Am schweigsamsten waren die Italiener.
Sie hielten es für das klügste, was vergangen war, vergangen sein zu lassen,
und was sie wußten, für sich zu behalten.
Aber auch in der deutschen Wissenschaft, die sich ohne Nebenrücksichten um
die Erforschung der Wahrheit bemüht, stehn sich die Ansichten schroff gegenüber.
Shbel ist in der „Begründung des Deutschen Reiches" (1894) bei der Erzählung
dieser Vorgänge wesentlich den bis jetzt uur handschriftlich vorhandnen Denk¬
würdigkeiten des österreichischen Diplomaten Grafen Vitzthum gefolgt, der als
Intimus des Grafen Veust einer der Hauptbeteiligten bei den geheimen Ver¬
handlungen war. Auf Grund dieser Autorität kam er zu dem Ergebnis, daß
vor dein Kriege wohl freundschaftliche Besprechungen zwischen den drei Mächten
stattgefunden haben, und daß die Zusicherung gemeinsamen diplomatischen Vor-
gehns ausgetauscht worden sei, daß aber die Gesinnung aller Mächte eine durch¬
aus friedliche gewesen sei, und daß auch die Reise des Erzherzogs Albrecht nach
Paris im Frühjahr 1870 bloß die Möglichkeit eines irgend einmal denkbaren
Krieges im Auge gehabt habe, ohne daß irgendeine offensive Absicht dabei im
Spiele war. Erst die spanische Thronfrage habe plötzlich den Krieg herbei¬
geführt, aber auch nach dem Kriegsausbruch habe Reuse seine Friedenspolitik
fortgesetzt und, austatt dem Kaiser zu Hilfe zu komme», einen Neutrnlitntsbund mit
Italien abgeschlossen, wodurch auch dieses vom Eintritt in den Krieg abgehalten
wurde. Wenn Grcunont behauptete, Frankreich sei nach den Verabredungen
berechtigt gewesen, auf Österreichs und Italiens Beistand zu rechnen, so sei das
eitel Phantasie, eitel Flunkerei gewesen.
Dieser Ansicht hat sich im wesentlichen Herr von Petersdorff angeschlossen,
wä'hrend Oncken und Delbrück aus dem bis jetzt vorliegenden Material eine
ganz entgegengesetzte Auffassung gewonnen haben. Nach ihnen hat Napoleon
mit großer Berechnung den Krieg vorbereitet und Bundesgenossen dafür zu ge¬
winnen gesucht, er hat auch bei Österreich und Italien den besten Willen dazu
gefunden, und die Verabredungen sind bis zu dem Punkte geführt worden, wo
der Kaiser die absolute Gewißheit zu haben glaubte, in jedem Augenblick das
Bündnis vollends zum Abschluß bringen zu können. Die militärischen Ver¬
handlungen, die der Erzherzog Albrecht im Frühjahr 1870 in Paris und dann
der General Lebrun in Wien führten, hatten einen Angriffskrieg zum Zweck,
der für das Frühjahr 1871 in Aussicht genommen war. Der nach dem plötzlichen
Kriegsausbruch zwischen Österreich und Italien vereinbarte Neutralitütsvcrtrag
sollte die Vorstufe zu einem aktiven Kriegsbündnis sein, und nur die raschen
schlüge, die anfangs August von den deutsche» Heeren geführt wurden, ver¬
hinderten die Ausführung des vereinbarten Kriegsplans.
Eine erneute sorgfältige Prüfung des bis jetzt zutage gekommnen Materials
hat Professor W. Busch in Tübingen vorgenommen (1900) und ist dabei zu
Ergebnissen gelangt, die eine Art Mittelweg sind zwischen diesen sich schroff
widersprechenden Ansichten. Nach Busch hat allerdings Kaiser Napoleon ein
Kriegsbündnis mit Österreich und Italien betrieben, und beide Mächte haben
es auch am guten Willen nicht fehlen lassen, nur suchte Beust den Losbruch
möglichst hinauszuziehn, weil Österreich mit innern Schwierigkeiten zu kämpfen
hatte und nichts weniger als kriegsbereit war, auch den Wunsch hatte, daß zum
Anlaß des Kriegs nicht eine Frage nationaldeutscher Politik gemacht würde.
Als das eigentliche Hindernis für den Abschluß des Dreibunds erwies sich aber
die römische Frage: die Italiener verlangten den Abzug der Franzosen aus dem
Römischen, was der Kaiser, beeinflußt von seiner klerikalen Umgebung, ver¬
weigerte. Diese Verhandlungen endigten mit den Briefen, die im September
1869 zwischen den drei Monarchen gewechselt wurden, und die nur ein Schein¬
abschluß waren, eher eiuen Rückzug bedeuteten, als daß sie ernsthafte Verbind¬
lichkeiten begründet hätten. Auch den militärischen Besprechungen, die im Früh¬
jahr 1870 in Paris und in Wien stattfanden, mißt Busch geringe Bedeutung
bei, sie seien ohne aggressive Absicht lediglich akademischer Art gewesen. Als
dann die Hvhenzvllernkandidatur für den spanischen Thron plötzlich die Welt
überraschte, habe Beust seine retardierende Politik fortgesetzt, dringend zuni Frieden
geraten und eine tätige Kooperation verweigert. Anders aber, nachdem der
Krieg entschieden war. Jetzt habe er in Anknüpfung an die frühern Besprechungen
seine Hilfe zugesagt und zunächst, um Zeit für die Rüstungen zu gewinnen, mit
Italien den Neutralitätsvertrag abgeschlossen, der den Dreibund vorbereite» sollte,
inzwischen das Hindernis der römischen Frage zu beseitigen versucht, und nur
die raschen Siege der deutschen Heere hätten die Verwirklichung des Kriegs¬
bündnisses vereitelt. Es ist vor allem Buschens Verdienst, gezeigt zu haben, wie
wichtig es ist, die einzelnen Abschnitte dieser diplomatischen Sisyphusarbeit zeit¬
lich anseinanderzuhcilten und zugleich den Geheimverkehr der Hauptverschwornen
und den offiziellen Verkehr der Kabinette möglichst zu unterscheiden. In der
Verfolgung des Bnndnisplcms treten deutlich als gesonderte Abschnitte hervor:
die Allianzverhandlungen von 1868 und 1869, die militärischen Sendungen des
Erzherzogs Albrecht und des Generals Lebrun im Frühjahr 1370, dann die
Verhandlungen vom 6. bis 15. Juli d. I., endlich die, die sich von der kriege¬
rischen Entscheidung noch bis in den August hineinzogen.
Wieder ein andres Gesicht gewinnt das heimlich gewöhne Werk in der
neuesten französischen Darstellung. Roms ot Napoleon III, so betitelt sich ein
kürzlich erschienenes Werk, das den Professor an der Universität von Paris
E. Bourgeois und einen seiner Schüler, E. Clermont, zu Verfassern hat. (Paris,
A. Colin, 1907.) Schon der Titel zeigt, daß hier weiter ausgeholt wird. Es
ist die römische Frage, die hier in den Mittelpunkt gestellt und auch zum Angel¬
punkt der Bündnisverhandlungen gemacht wird. Rom, die weltliche Papstmacht,
ist zweimal für Frankreich zum Verhängnis geworden. Louis Napoleon hat,
indem er 1849 den Papst nach Rom zurückführte, sich den Weg zum Kaiser¬
thron gebahnt, und er hat diesen Thron wieder verloren, weil er 1870 den
Italienern Rom vorenthielt und damit den Abschluß eines Bündnisses vereitelte,
das ihn» so gut wie sicher war, und das möglicherweise dein Krieg eine andre
Wendung gegeben hätte. Bourgeois, von dem dieser Teil des Buches herrührt
(Clermont behandelt die römische Expedition von 1849), hat das urkundliche
Material geschickt zusammengestellt, auch um einiges neue aus den Pariser
Archiven bereichert. Scheinbar ohne Lücken reiht er ein Datum ein das andre
und gelangt zu dem Schlußergebnis, daß alles für die Bündnisse vorbereitet
war, daß Napoleon nur zuzugreifen brauchte, daß er nur das eine Wort auszu¬
sprechen hatte, das die Italiener von ihm verlangten, daß er aber dieses Wort
verweigerte und sich damit um die Frucht der gepflogucn Verhandlungen brachte.
Dem Kaiser und seinen Räten wird es zum schweren Vorwurf gemacht, daß sie
sich in den Krieg stürzten ohne die Allianzen, die sie doch haben konnten, wenn
sich nicht die Rücksicht auf die Erhaltung der weltlichen Papstmacht wie ein
lähmendes Gespenst dazwischengestellt hätte.
Daß die römische Frage wirklich bei den Bündnisverhcmdlnngen eine große
Rolle gespielt hat und für sie ein Stein des Anstoßes geworden ist, wird auch
in den andern Darstellungen nicht verkannt: hier ist diese Tatsache mit besondrer
Schärfe und Folgerichtigkeit nachgewiesen worden. Aber auch mit einer Ein¬
seitigkeit, die das Gesamtbild der Vorgänge verschiebt. Es ist doch nicht die
römische Frage allein, an der die Bündnispläne gescheitert sind. Die Teil¬
nahme Italiens war von der Teilnahme Österreichs abhängig, wie umgekehrt.
Bei dem gespannten Verhältnis, das zwischen Österreich und Italien bestand,
war es ausgeschlossen, beiß der eine Staat ein Bündnis einging, in das nicht
auch der andre einbezogen wurde. Die napoleonische Politik erkannte richtig,
daß sie, um deren gegenseitiges Mißtrauen aufzuheben, beide zugleich für sich
gewinnen mußte. Dadurch wurde freilich die Alliauzverhandluug verwickelter.
Es waren mannigfaltigere Interessen in Einklang zu bringen. War an dem
einen Ende die Sache geglückt, so konnte am andern der Faden wieder abreißen.
Man hat aber durchweg den Eindruck, daß der Schwerpunkt der ganzen von
Napoleon eingeleiteten Aktion im Verhältnis zu Osterreich lag. Der Freund¬
schaft wie der Kriegslust Viktor Emanuels war der Kaiser sicher, und den
Widerstand, den der König voraussichtlich im eignen Lande fand, konnte man
jederzeit, noch im letzten Augenblick — so hoffte man wenigstens —, durch
Zugeständnisse oder Vertröstungen in der römischen Frage überwinden. Die
Hauptsache war, zu wissen, wie man in Wien die Eröffnungen aufnehmen würde,
die auf eine gemeinsame Politik gegen das plötzlich zu so unerwünschter Stärke
gelangte Preußen zielten.
In Frankreich ist die Schlacht bei Königgrätz wie eine eigne Niederlage
empfunden worden. Der Kaiser sah sich in seinen Berechnungen getäuscht, seine
Vermittlung beim Friedensschluß war abgelehnt worden, nichts von dem er¬
hofften Gewinn war ihm zugefallen, und so sah er sich gegenüber seinem eignen
Volke bloßgestellt, das, wie die erhitzten Reden im Gesetzgebenden Körper zeigten,
ebenfalls die preußischen Siege als eine Demütigung empfand und sich von den
Wortführern leicht in eine Stimmung bringen ließ, die sich bis zu dem Ruf:
Rache für Sadvwa! steigerte. Rache für Scidowa — oder zum mindesten ein
auos an Preußen, wenn es sich über die Bestimmungen des Prager Friedens
hinwegsetzen und trunken von seinen Erfolgen die Hand über den Main hinüber¬
strecken wollte. Damit ergab sich von selbst eine Interessengemeinschaft mit
Wien, wo Königgrätz den gleichen Stachel eingedrückt hatte. Wie man in Wien
damals dachte, das sagte ja beredter als alles andre die Berufung des Herrn
von Beiist zum Kanzler des Reichs. Der in den deutschen Fragen als zähester und
intrigantester Gegner Preußens bewährte Staatsmann an der Spitze der öster¬
reichischen Monarchie, das war ein Programm, das laut für sich selber sprach.
Wollte man aber weitere Fortschritte der deutschen Einheit verhindern, so war
keine Zeit zu verlieren. Der abermalige Mißerfolg, den der Kaiser Napoleon in
der Luxemburger Frage erlitt, war um so schmerzhafter, als zugleich die Bündnis¬
verträge zwischen dem Norddeutschen Bunde und den süddeutschen Staaten be¬
kannt gemacht wurden.
Binnen zwei Jahren, meinte Thiers, werde sich Österreich wieder so weit
erholt haben, daß man gemeinsame Hand anlegen könne, den Ehrgeiz Preußens
zu zügeln. Vorerst galt es für Österreich, um freie Hand zu gewinnen, noch
zwei Bedingungen zu erledigen, die Aussöhnung mit Ungarn und die Sicher¬
stellung gegen Italien. Jene gelang durch die dualistische Einrichtung der
Monarchie, diese war die Aufgabe Napoleons, den: es nicht allzuschwer wurde,
ein freundliches Verhältnis zwischen den alten Gegnern herzustellen. Die Ab¬
tretung Veneziens hatte das Haupthindernis einer Verständigung aus dem Wege
geräumt. Was die Italiener weiter begehrten, die Gewinnung der Hauptstadt
Rom, das hing vom Wohlwollen des Kaisers Napoleon ab. Noch eben waren
sie die glücklichen Verbündeten Preußens gewesen, doch der ältere Verbündete
war Napoleon, und daß seit Mendana die Franzosen wieder als die Wächter
des Papstes in Rom standen, schärfte den Italienern von neuem das Bewußt¬
sein ihrer Abhängigkeit vom Kaiser ein. Sie waren, wenn sie ihr Ziel erreichen
wollten, an dessen Politik enger gebunden als je. So waren die Bedingungen
zu einer Tripelallianz gegeben, die gegen das Werk von 1866, zum mindesten
gegen eine Ausdehnung, gegen die Vollendung dieses Werkes gerichtet war.
Man hat mit Recht in dieser Situation die Einleitung zu einer Kriegsver-
schwörnng erblickt, „ähnlich derjenigen, die dem siebenjährigen Krieg voran¬
gegangen ist". Bis zum Abschluß bindender Verträge war freilich noch ein
weiter Weg.
Zum erstenmal scheint während der Luxemburger Krisis der Kaiser Napoleon
wegen einer Offensivallianz in Wien angeklopft zu haben, ein plumper Versuch,
den Beust rundweg zurückwies, jedoch ohne damit die Anknüpfung enger Be¬
ziehungen zu Frankreich überhaupt abzuweisen Dann gab die Salzburger Zu-
sammenkunft im August 1867 zu einem Meinungsaustausch Anlaß, wobei, ohne
daß es zu förmlichen Abmachungen ,kam, Übereinstimmung darüber festgestellt
wurde, daß an deu Bestimmungen des Prager Friedens festgehalten und die
Überschreitung der Mainlinie nicht gestattet werden solle. Der Besuch Napoleons
in Salzburg wurde im Oktober von Franz Joseph in Paris erwidert. Auf der
Rückreise verabschiedete sich der österreichische Kaiser in Straßburg von dem dort
kommandierender General Ducrot nach einem Gespräch über die Gemeinsamkeit
der beiderseitigen Interessen mit den Worten: „Wie Sie, hoffe ich, daß wir
eines Tages zusammen marschieren werden." War einmal eine Übereinstimmung
in wichtigen europäischen Fragen festgestellt, so führte das von selbst zu dem
weitern, wenn auch zunächst noch ganz allgemeinen Gedanken einer künftigen
Waffenbrüderschaft.
Im Juli des folgenden Jahres tat der Kaiser Napoleon einen weitern
Schritt. Er regte dnrch den österreichischen Botschafter, den Fürsten Metternich,
eine gemeinschaftliche Jnterpellation an Preußen wegen der Versuche zur Über¬
schreitung der Mainlinie an. Abermals wich Beust aus, mit der Begründung,
daß jede Drohung gegen Deutschland nur um so sichrer die süddeutschen Staaten
in die Arme Preußens treiben würde. Er schlug dafür vor, der Kaiser möge
eine allgemeine Abrüstung in Anregung bringen, falls Preußen eine befriedigende
Erklärung über die Aufrechterhaltung der Bestimmungen des Prager Friedens
gebe. Es war derselbe Gedanke, nur in abgeschwächter Form, fand aber nicht
den Beifall des Kaisers. Jeder Verlockung zu einer Offensivpolitik gegen
Preußen wich Beust sorgfältig aus, aber er fuhr fort, das engste Einvernehmen
mit dem Tuilerienhof zu pflegen, während er jede Annäherung an den Nord¬
deutschen Bund vermied. Ein Zeichen zunehmender Intimität mit Paris war
es, daß Beust in diesen Tagen einen seiner nächststehenden Mitarbeiter aus der
sächsischen Zeit, den Grafen von Vitzthum-Eckstädt, zum Gesandten im nahen
Brüssel machte, um neben dem Botschafter noch einen Mann seines besondern
Vertrauens für Geheimbesprechungen am Kaiserhofe zu haben. Zunächst hatte
dieser die Aufgabe, die kaiserliche Negierung zur Geduld zu ernähren, von ge¬
wagten Schritten zurückzuhalten. „Für jetzt", erklärte Vitzthum, sei an einen
Eintritt Österreichs in die Aktion nicht zu denken.
Das Jahr ging nicht zu Ende, ohne dem Kaiser Napoleon eine neue Ent¬
täuschung zu bereiten. Sein Plan, die belgischen Eisenbahnen in den Besitz
einer französischen Gesellschaft zu bringen, scheiterte an dem Widerstande der
belgischen Negierung. Der Kaiser war über diesen abermaligen Mißerfolg, der
natürlich auf preußische Einflüsterung zurückgeführt wurde, in hohem Grade er¬
bittert, und lauter wurde der Ruf, daß Frankreichs Ehre und Ansehen einer'
gründlichen Reparation bedürften. Zu Anfang des Jahres 1869 sagte Marschall
Niet zu dem ihn besuchenden General Lebrun: „Wir werden den Krieg haben,
wir müssen ihn haben, nicht später als im Jahre 1871." Er fügte aber hinzu,
daß er einen Krieg ohne Verbündete für aussichtslos halte. Dies ist die erste
Spur davon, daß der Krieg von denen, die ihn fiir unvermeidlich hielten, für
1871 in Aussicht genommen wurde.
Indessen waren die Verhandlungen mit Italien wegen der römischen Frage,
die durch den Bruch der Septembcrkonvcntion unterbrochen worden waren,
wieder aufgenommen worden, und im Frühjahr 1869 nahmen die Umrisse einer
Tripelallianz festere Gestalt an. Nur wenige Personen waren im Geheimnis.
Von seiten des Kaisers wurde sein Staatsminister Rouher, der „Vizekaiser",
mit der Führung der Verhandlungen betraut, an denen von seiten Österreichs
der Fürst Metternich, der Hausfreund der Tuilerien, und der Graf Vitzthum,
von seiten des Königs von Italien der Militärattache Graf Vimercati und erst
in einem spätern Stadium der Gesandte Nigra teilnahmen. Zunächst kam es
zu einem vorläufigen Einverständnis mit Italien, zu einem Vorentwurf, der
einen defensiven Charakter haben sollte, aber bezeichnenderweise schon Be¬
stimmungen über die in einem möglichen Kriege zu machende Beute enthielt:
Italien verlangte eine kleine Abtretung an der französischen, eine größere an
der Tiroler Grenze, wofür Österreich durch den Wiedererwerb seiner Stellung
in Deutschland oder durch Schlesien entschädigt werden sollte. Es scheint, daß
die heikle römische Frage in diesem Vvrentwurf aus dem Spiele gelassen wurde.
Nun fragte sich, wie die Österreicher die Einladung zu einem Dreibund auf¬
nehmen würden. Vorsichtig wie immer wiesen sie die ersten Vorschlüge als
unannehmbar zurück. Es sollte alles vermieden werden, was der Übereinkunft
einen offensiven Charakter geben konnte. Vitzthum reiste im Mürz nach Wien,
um sich genanere Weisungen zu holen, und brachte einen Gegenvorschlag zurück,
der auf ein reines Schntzbündnis hinauskam: die drei Mächte sollten sich gegen¬
seitig ihren Besitzstand garantieren und in allen Fragen diplomatisch zusammen¬
gehn; für den Fall eines Krieges behielt sich Österreich ausdrücklich die Neu¬
tralität für dessen Dauer vor.
Als nun im April endlich die gemeinsamen Beratungen begannen, zeigte
sich sofort, daß Rouher die von ihm mit eigner Hand geschriclmen Vorentwürfe,
die eine Defensiv- und Offensivallianz zum Gegenstand hatten und schon Be¬
stimmungen für die Kriegführung und für die Ausnützung des Sieges enthielten,
beiseite legen mußte. Die Österreicher ließen sich nicht von ihrem Standpunkt
abdrängen, und Rouher blieb nichts übrig, als sich diesem anzubequemen.
Eine Schwierigkeit erhob sich aber noch von feiten der Italiener. Menabrea,
der nicht als Ministerpräsident, aber als Generaladjutant des Königs ins
Vertrauen gezogen worden war, stellte jetzt die Forderung, daß die Franzosen
gemäß dem Septembervertrag von 1864 den Kirchenstaat räumen und sich
ebenso zum Grundsatz der Nichteinmischung bekennen sollten, wie Napoleon mich
dem Frieden von Villcifranca von Österreich verlangt hatte. Auch diese Schwierig¬
keit wurde überwunden. Meuabrea, dem viel am Zustandekommen der Allianz
lag, war mit der einfachen Wiederherstellung des Septembervertrags zufrieden,
kraft dessen sich die Italiener verpflichteten, nach dem Abzug der Franzosen
einen Angriff auf Rom weder zu unternehmen noch zu dulden, und er gab sich
sogar zufrieden, als der Kaiser einen Termin für die Abberufung seiner Truppen
anzusetzen sich weigerte und diesen von der Gewährleistung der Sicherheit des
Papstes abhängig zu machen erklärte. Ende Mai brachte Vimereciti aus Florenz,
der damaligen Hauptstadt Italiens, die Einwilligung des Königs zu diesen Zu¬
geständnissen. Die Tripelallianz gemäß dem österreichischen Vorschlag schien
fertig. „Die einzige wahre Schwierigkeit, telegraphierte Vitzthum am 4. Juni
an Beust, war die römische Frage. Wir haben sie durch Geduld überwunden."
Sie war jedoch erst fertig im geheimen Rat der Unterhändler. Nun, wo es
sich um die Ausfertigung eines Staatsvertrags handelte, mußten auch die Kabinette
zur Mitwissenschaft und zur Mitwirkung gezogen werden, jetzt erst erfuhren die
italienischen Minister von der bisher höchst vertraulich behandelten Sache, und
von ihrer Seite erhob sich nun ein ernstlicher nud nicht zu besiegender Wider¬
stand. Nicht zufrieden mit dem magern Zugeständnis in der römischen Frage,
kamen sie auf den ersten Vorschlag Menabreas zurück: Räumung Roms durch
die Franzosen und Erklärung der Nichteinmischung in die römischen Dinge.
Auch verlangten sie, daß das Werk von 1866 nicht angetastet, die deutsche Ein¬
heit nicht zerstört werden dürfe. Wie freilich diese Bedingung, die den Finanz¬
minister Sella zum Urheber hatte, mit den bekannten Absichten der Haupt-
beteiligten vereinbar war, das blieb ein Geheimnis. Der Kaiser war über die
Hartnäckigkeit, womit die Negierung Viktor Emanuels die Hand nach Rom aus¬
streckte, in hohem Grad aufgebracht. Seine klerikale Umgebung hätte niemals
ein solches Zurückweichen vor der italienischen Revolution geduldet. Durch den
Minister des Auswärtigen, Marquis von Lavalette, ließ er erklären, daß die
Forderungen der Italiener unannehmbar, und daß die Verhandlungen suspendiert
seien; sie würden von Frankreich wieder aufgenommen werden, wenn sie einen
bessern Erfolg versprachen. „So blieb, sagt W. Busch, der Entwurf zum Drei¬
bund unvollzogen, er war einzig an der römischen Frage gescheitert."
Es folgte eine Stockung, eine Sommerpause. Ju diese Zeit füllt eine
schwere Erkrankung des Kaisers, fallen auch die Neuwahlen zum Gesetzgebenden
Körper, deren Ausfall den Kaiser zu einer Änderung der Verfassung in libe¬
ralem Sinn vermochte. Sobald sich der Kaiser wieder erholt hatte, im Sep¬
tember, wurde zwar nicht die offizielle Verhandlung zwischen den Regierungen,
aber der geheime Schriftwechsel zwischen den drei Höfen noch einmal aufge¬
nommen. Die bisherigen Verabredungen sollten zu einem gewissen Abschluß
gebracht, und soweit sie zu einem Ergebnis geführt hatten, sollte dieses gesichert
werden, als Grundlage für eine künftige Verfolgung des Allianzgedankens. Für
den Augenblick hatte es ja keine Eile. Niemand dachte an eine unmittelbar
bevorstehende kriegerische Entwicklung. Um aber das Einvernehmen den Ein¬
wendungen der Gegner, die es in den Ministerien zu Wie» und zu Florenz
gefunden hatte, zu entziehn, beschränkte man sich darauf, die gegenseitigen Ver¬
pflichtungen in Briefen niederzulegen, die zwischen den drei Souveränen aus¬
getauscht wurden. Mit diesen Monarchenbriefen fand das erste Stadium der
Allianzverhandlnng seinen Abschluß.
Welches war der Inhalt dieser streng geheim gehaltnen Briefe? Es liegt
auf der Hand, daß sie sich im allgemeinen auf der Linie des Vorschlags halten
mußten, den Österreich für die Basis des Dreibunds gemacht hatte, denn auf
dieser Basis waren alle drei Mächte bereit gewesen, das Bündnis abzuschließen,
wenn nicht die Auswerfung der römischen Frage dazwischen gekommen wäre.
Beust sagt in seinen Denkwürdigkeiten über diese Briefe: Das Einvernehmen
hatte einen defensiven und vollkommen friedlichen Charakter. In allen diplo¬
matische» Fragen sollte eine gemeinsame Politik stattfinden. Die einzige Ver¬
pflichtung, die daraus folgte, bestand in dem gegenseitigen Versprechen, sich mit
einer dritten Macht nicht ohne Wissen der andern ins Benehmen zu setze».
Das klingt unschuldig genug. Man ist aber über den Inhalt der Mvnarchen-
briefe jetzt näher unterrichtet, seitdem wenigstens einer davon, der des Königs
Viktor Emanuel an den Kaiser Napoleon, vor kurzem ans Licht gekommen ist,
und da dieser Brief meines Wissens in deutschen Publikationen noch nicht auf¬
genommen ist, möge er hier im Wortlaut folgen.
Ich danke Eurer Majestät für den Beweis von Vertrauen, den Sie mir durch
die Mitteilung der Betrachtungen gewährten, die Ihnen dnrch den gegenwärtigen
Zustand Europas eingegeben sind. Die Unsicherheit, die allerwnrts herrscht und
an der Dauerhaftigkeit des Friedens zweifeln läßt, die Besorgnis vor Ereignisse»,
die das Gleichgewicht Europas stören könnten, sind geeignet, die Souveräne ernst¬
lich zu beschäftigen, und ich finde es sehr natürlich, daß die, die eine Interessen-
gemeinschaft haben, sich zu verständigen suchen, um nnter diesen ernsten Um¬
ständen gemeinsam zu handeln. Ich kaun somit der Idee einer Tripelallianz
zwischen Frankreich, Österreich und Italien nur zustimmen, deren Vereinigung für
unberechtigte Ansprüche eine mächtige Schranke bilden und so dazu beitragen wird,
den Frieden Europas auf festere Grundlagen zu stellen. Italien hat nicht ver¬
gessen, was es dem beständigen Wohlwollen Eurer Majestät verdankt, und wenn
wir heute der Macht, gegen die wir so lange gekämpft, eine befreundete Hand
entgegenstrecken können, so sind wir dafür vornehmlich der Hilfe Dank schuldig,
die uus die französischen Waffen in den Unabhängigkeitskriegen geleistet, und dem
Rückhalt, den wir beständig bei Eurer Majestät gefunden haben. Ich bin glücklich,
daß dieser Umstand mir Anlaß gibt, meine Dankbarkeit gegen Eure Majestät zu
beweisen, während er zugleich Gelegenheit zur Vollziehung eines Aktes gibt, dessen
Folgen für die Geschicke Europas uur vorteilhaft sein können. Ich hätte gewünscht,
daß der Vertrag, der die Allianz besiegeln soll, rasch hätte zum Abschluß gebracht
werde» können, allein ich begreife einerseits, daß infolge der in die Verfassung
Frankreichs eingeführten Veränderungen Eure Majestät veranlaßt ist, die Simula¬
tionen desselben zu verschieben, während ich meinerseits eine förmliche Verpflichtung
in dieser Hinsicht nicht übernehmen könnte, bevor die Konvention vom 15. Sep¬
tember 1864, bezüglich der Staaten des Heiligen Stuhls, von neuem beiderseits
ihre vollständige Ausführung gefunden hat. Ungeduldig sehe ich dem Augenblick
entgegen, wo unsre Verabredungen definitiv sein werden. Inzwischen bitte ich Eure
Majestät, die Versicherung meiner Gefühle hoher Achtung und aufrichtiger Freund¬
schaft entgegenzunehmen, mit denen ich bin
Der Wortlaut dieses Briefes stimmt doch wenig mit dem überein, was
Beust als Inhalt der Monarchenschreiben angibt. Es sieht aus, als ob die
vom österreichischen Reichskanzler genannten Punkte vielmehr den Inhalt eines
Protokolls bildeten, das zwischen den Kabinetten ausgetauscht wurde, sodaß die
Monarchenbriefe eine Art geheimen Kommentars zu diesem Protokoll wären.
Jedenfalls verraten sie deutlicher, worauf es bei den Bündnispläncn abgesehen
war. Zwar der Brief des Kaisers von Österreich an den Kaiser Napoleon ist
nicht bekannt. Der entthronte Kaiser nahm ihn unter seinen geheimen Papieren
mit nach Chislehurst, und dort will ihn nebst einem Vertragsentwurf mit
Korrekturen von der Hand Franz Josephs der Prinz Napoleon im Jahre 1872
gesehen haben: „Das Ganze ließ über die guten Absichten des Herrn von Beust
für uns keinen Zweifel." Beim Tode Napolons des Dritten waren diese
Papiere verschwunden. Beust konnte spater versichern: wenn der Entwurf einer
von den drei Souveränen zu unterzeichnenden Erklärung existiert hat, so ist er
von keinem derselben unterschrieben worden. Eine andre Frage ist, ob die
zwischen ihnen gewechselten Briefe, wie vorsichtig immer gefaßt, nicht eine mo¬
ralische Verpflichtung enthielten. Emil Ollivier sagte von ihnen einfach: „Der
Kaiser von Österreich und der König von Italien hatten sich durch eigenhändige
Briefe verbindlich gemacht, dem Kaiser im Fall eines Kriegs gegen Preußen
zu Hilfe zu kommen." Und ebenso der Prinz Napoleon: „Die Briefe waren
wichtig, weil sie eintretendenfalls gegenseitige Unterstützung verhießen, ohne diese
genau zu formulieren." Diese Zeugnisse sind nicht ganz einwandfrei. Um so mehr
muß das des Herrn von Beust gelten. Wir werden sehen, wie Beust selber eiues
Tages die aus den Briefen folgende moralische Verpflichtung anerkannte. Und
der in Viktor Emanuels Brief ausgedrückte Zweifel an der Festigkeit des Friedens,
der Hinweis auf das Unbefriedigende des gegenwärtigen Zustandes, auf die
Notwendigkeit, unberechtigten Ansprüchen entgegenzutreten und den Frieden
Europas auf festere Grundlagen zu stellen, ging doch über den Rahmen eines
bloß defensiven Bündnisses unzweifelhaft hinaus. Der Kaiser hatte persönliche
Zusicherungen erhalten, die er jeden Augenblick — erforderlichenfalls durch Ein¬
räumungen in der römischen Frage — imstande war, zu einem bindenden Ver¬
trag zu verdichten. Vorläufig genügte ihm dies. Er hatte seine Absichten nicht
aufgegeben, aber sie waren bei seinem schwankenden Charakter, und da in der
politischen Lage kein Grund zu raschem Zugreifen lag, noch zu keinem festen
Entschluß gediehen. Im November sagte er zum General Lebrun: „Man wird
das Bündnis Italiens als gewiß, das Österreichs als moralisch, wo nicht tat¬
sächlich gesichert betrachten dürfen."
as neunzehnte Jahrhundert hat deu meisten Staaten den Konsti-
tutionalismus gebracht, d. h. die Verfassungsform, die dem Volk
eine aktive Stellung im Staatsleben gibt, ihm eine Teilnahme
an der Staatswillensbildnng gewährt. Nachdem Sachsen-Weimar
im Jahre 1816 und Bayern im Jahre 1818 vorangegangen waren,
erhielten Sachsen am 4. September 1831 und Preußen am 31. Januar 1850
ihre „Verfassungsurkunden", mit denen die in Preußen ja schon durch die
Stein-Hardenbergischen Reformen angestrebte Aufnahme einer „Repräsentation
des Volkes" in den Staatsorganismus erfolgt war. So wird das deutsche
Volk durch die Landesboten in den Landtagen und durch die Reichsboten im
Reichstag zur Kundgebung des Volkswillens vertreten. Jedoch Volksvertreter
im technischen Sinne des Wortes sind die Reichs- und Landtagsmitglieder nicht;
denn ein Vertreter ist als solcher gebunden durch die Weisungen seines Auf¬
traggebers. Das ist aber bei jenen nicht der Fall: „Die Mitglieder beider
Kammern sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie stimmen nach ihrer freien
Überzeugung und sind an Auftrüge und Instruktionen nicht gebunden" (Art. 83
der Verfassungsurkunde für den preußischen Staat) — „Die Abgeordneten
haben eine Instruktion von ihren Kommittenten nicht anzunehmen, sondern nur
ihrer eignen Überzeugmig zu folgen" K 81 Absatz 1 Satz 2 der Verfasstmgs-
Urkunde des Königreichs Sachsen) — „Die Mitglieder des Reichstags sind
Vertreter des gesamten Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht
gebunden" (Art. 29 der Verfassung des Deutschen Reichs).
Es gilt also allgemein die Unabhängigkeit der Abgeordneten bei der Aus¬
übung ihres „Berufs". Die sächsische Verfassung bezeichnet in Z 78 die
„Berufs"Pflichten der Stunde in wohl allgemeingültiger Weise: „Die Stände
sind das gesetzmäßige Organ der Gesamtheit der Staatsbürger und Untertanen
und als solches berufen, deren auf der Verfassung beruhende Rechte in dem
durch selbige bestimmten Verhältnis zur Staatsregierung geltend zu machen
und das unzertrennliche Wohl des Königs und des Landes, mit treuer An¬
hänglichkeit an die Grundsatze der Verfassung, möglichst zu befördern."
Nur die Verfassung ist demnach den Abgeordneten eine Schranke in ihrer
„Berufsthätigkeit. Im übrigen sollen sie diese unabhängig ausüben dürfen, durch
kein umritt im.M'alii', durch keinen Fraktionsbeschluß gebunden und in dieser
Hinsicht ihren Wählern wie überhaupt ihrer Partei gegenüber unverantwortlich.
Zu dieser internen UnVerantwortlichkeit haben aber Reichsverfassung und Straf¬
gesetzbuch noch eine überaus weitgehende Immunität der Parlamentsmitglieder
nach außen gesellt.
Vor dem Inkrafttreten des deutschen Neichsstrafgesetzbuchs (15. Mai 1871)
bestand partikularrechtlich teils (z. B. in Sachsen) die Möglichkeit, die Abgeordneten
wegen ihrer bei der Ausübung ihres Berufs getaner deliktischen Äußerungen
strafgerichtlich zu verfolgen, teils fehlte diese Möglichkeit, wie z. B. in Preußen
und Bayern. Eine einheitliche Regelung erfuhr diese Materie durch das deutsche
Reichsstrafgesetzbuch und die Reichsverfassung. Das erstere sagt in Z 11:
„Kein Mitglied eines Landtags oder einer Kammer eines zum Reich gehörigen
Staats darf außerhalb der Versammlung, zu welcher das Mitglied gehört,
wegen seiner Abstimmung oder wegen der in Ausübung seines Berufs getaner
Äußerung zur Verantwortung gezogen werden." Mit Bezug auf den Reichstag
bestimmt die Reichsverfassung durch Artikel 30: „Kein Mitglied des Reichstages
darf zu irgend einer Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen der in Aus¬
übung seines Berufes getaner Äußerungen gerichtlich oder disziplinarisch ver¬
folgt oder sonst außerhalb der Versammlung zur Verantwortung gezogen
werden."
Somit hat also das Gesetz die Mitglieder beider Kammern und des
Reichstags der Verantwortung für ihre Wortdelikte entzogen, die sie bei der
Ausübung ihres Berufs begehn, und zwar jeder Verantwortung; denn weder
dem Reichstag noch den Landtagen steht eine wirkliche Strcifgcwalt über ihre
Mitglieder zu. Das berechtigte Bedürfnis nach einer solchen äußerte sich im
Jahre 1879, als ein Gesetzentwurf, betreffend die Strafgewalt des Reichstags
über seine Mitglieder, dem Reichstag, allerdings erfolglos, vorgelegt wurde,
und es wird gegenwärtig in keiner Weise durch die meist ganz geringfügige
Disziplinargewalt befriedigt, unter der die Parlamentsmitglieder stehn. Sie
beschränkt sich gewöhnlich (z. B. im Reichstag) auf den Ordnungsruf und die
„Eventualität" der Wortentziehung. Diese erfolgt gemäß § 46 der Geschäfts¬
ordnung für den Reichstag bei dem dritten Ordnungsruf durch Beschluß des
versammelten Hauses. Der sehr seltne Fall des dreimaligen Ordnungsrufs
und die dadurch praktisch gegebne Möglichkeit der Wortentziehung gehören ja
der neusten Geschichte des Reichsparlaments an. Die letzte Folge der Be¬
leidigungen des Abgeordneten Ledebour war aber, daß der Abgeordnete Kämpf,
der den Antrag auf Wortentziehung gestellt hatte, sein Amt als zweiter Vize¬
präsident des Reichstags niederlegte, weil das Haus gegen Ledebour nicht auf
Wortentziehung erkannt hat.
Das Privileg der UnVerantwortlichkeit gilt gegenwärtig für alle Abge¬
ordneten. Somit also nicht für die Mitglieder des Bundesrath, der
Ministerien, der hanseatischen Senate, wohl aber für die Mitglieder des
Landesausschusses von Elsaß-Lothringen (v. Liszt, Lehrbuch des Strafrechts,
S. 113, bestritten von G. Meyer, Staatsrecht, S. 441). Unter jener UnVer¬
antwortlichkeit ist nicht nur die strafrechtliche, sondern auch die auf Schadens¬
ersatzansprüche bezügliche zu verstehn. Daß jedoch das Privileg der Straf¬
freiheit eine besonders große und nicht ungefährliche Tragweite hat, ist nicht
zu verkennen, denn jede von dem Abgeordneten bei der Ausübung seines Berufs
durch Wort oder Handlung getane Äußerung ist der kriminellen Verfolgung
entzogen. So sind die Abgeordneten gesetzlich durch die Immunität gedeckt für
alle Beleidigungen, sogar die schwersten Verleumdungen. Aber die Äußerungen
der Parlamentsmitglieder können deliktischen Charakter noch andrer Art tragen.
Man denke beispielsweise an § 92,3 des Strafgesetzbuchs: „Wer vorsätzlich ein ihm
von feiten des Deutschen Reichs oder von einem Bundesstaat aufgetragenes
Staatsgeschäft mit einer anderen Negierung zum Nachteil dessen führt, der ihm
den Auftrag erteilt hat, wird mit Zuchthaus nicht unter zwei Jahren bestraft."
Dieses sogenannten diplomatischen Landesverrats kann sich ein Abgeordneter
der Regierung seines Vuudesstaats gegenüber sehr wohl schuldig machen,
wenn diese sein Auftraggeber war. Ebenso ist es denkbar, daß in den Äuße¬
rungen ein Geheimnisverrat enthalten ist oder, und das ist die gefährlichste
Möglichkeit, eine „Aufforderung zum Ungehorsam gegen Gesetze oder rechts-
giltige Verordnungen usw.", ganz abgesehen von dem Fall, daß sich der Ab¬
geordnete zu einer Aufforderung zum Hochverrat (Augriff auf den Bestand des
Staats, insbesondre dessen Oberhaupt) hinreißen laßt.
Und alle diese Fälle werden von dem parlamentarischen Privileg der Straf¬
freiheit getroffen! Wehrlose Objekte der unerhörtesten Angriffe wird es ja
solange geben, wie ungebildete Menschen für den guten Ton einer gesetzgebenden
Versammlung kein Verständnis haben, und solange der Mut dieser Menschen
sich nur in dem mutwilligen Mißbrauch der UnVerantwortlichkeit äußert. Daß
das Privileg der Immunität, die Zeugnispflicht der Abgeordneten für solche
Äußerungen unberührt läßt, ist unbestritten.
Neben dem Opfer nun, das die Rechtsordnung in genanntem Privileg
mit Rücksicht auf die konstitutionelle Bildung des Staatswillens gebracht
hat, ist eine Reihe von Privilegien der Abgeordneten gegenüber den Justiz¬
behörden zu nennen, wodurch den Parlamentsmitgliedern eine ungehinderte
Berufstätigkeit gesichert sein soll. Die Mitglieder einer gesetzgebenden Ver¬
sammlung sind wahrend der Sitzungsperiode und ihres Aufenthalts am Ort
der Versammlung an diesem Ort (als Zeugen oder Sachverständige) zu ver¬
nehmen. Außerhalb dieses Ortes sich vernehmen zu lassen, dürfen sie ohne
Genehmigung des Reichstags oder der Kammer nicht genötigt werden (Zivil¬
prozeßordnung Z 382, 402 und Strafprozeßordnung A 49 und 72). Ferner
sind die Abgeordneten befugt, die Berufung zum Amt eines Schöffen oder
Geschwornen oder eines Beisitzers eines Seeamts abzulehnen (Gerichtsverfassung
§ 35 und 85 — Gesetz betreffend Untersuchung von Seeunfällen vom 27. Juli
1877 Z 10). Als besonders wichtiges kommt zu diesen Privilegien noch die
Exemtion von der Haft. „Ohne Genehmigung des Reichstages kann kein
Mitglied desselben während der Sitzungsperiode wegen einer mit Strafe bedrohten
Handlung zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, außer, wenn es bei
Ausübung der Tat oder im Laufe des nächstfolgenden Tages ergriffen wird"
(Reichsverfassung, Artikel 31, Absatz 1). Dasselbe Privileg gilt auch mit Bezug
auf die Landtagsmitglieder. Dagegen ist die Eröffnung eines Strafprozesses
gegen sie nur vereinzelt (z. B. in Preußen) von der Genehmigung der Kammer
abhängig gemacht.
Jedoch findet natürlich Artikel 31 auf die Festnahme eines Reichstags¬
mitgliedes oder Landtagsabgeordneten zum Zweck der Vollstreckung einer rechts¬
kräftig erkannten Strafe keine Anwendung. Ferner: „Auf Verlangen des
Reichstages wird jedes Strafverfahren gegen ein Mitglied desselben und jede
Untersuchungs- und Zivilhaft für die Dauer der Sitzungsperiode aufgehoben"
(Artikel 31, Absatz 3). Dies gilt auch wieder mit für die Landtagsmitglieder.
Derselbe Artikel bestimmt schließlich, daß die Genehmigung des Reichstags (aus¬
zudehnen auch auf die Landtage) bei einer Verhaftung eines Mitgliedes wegen
Schulden erforderlich ist. Bei den Hastprivilegien ist noch zu betonen, daß
sie nach deutschem Recht für die „Sitzungsperiode" gelten, und es besteht Streit
darüber, ob die „Sitzungsperiode" auch während der Vertagungsfrist fortwährt.
Die herrschende Ansicht (z. B. bei Laband, Deutsches Reichsstaatsrecht, Seite 79,
Anmerkung 2) bejaht diese Frage, während die gegenteilige Meinung (besonders
vertreten von Professor Binding, Leipzig) das Privileg gemäß seiner ratio auf
die Zeit der unvertagten Session beschränkt und nur auf die Mitglieder von
Kommissionen, die während der Vertagung arbeiten.
Zum Schluß sei noch eine zugunsten der Mitglieder von gesetzgebenden Ver¬
sammlungen bestehende Schutzvorschrift des Strafgesetzbuchs erwähnt: „Wer ein
Mitglied einer gesetzgebenden Versammlung durch Gewalt oder durch Bedrohung
mit einer strafbaren Handlung verhindert, sich an den Ort der Versammlung
zu begeben oder zu stimmen, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit
Festungshaft von gleicher Dauer bestraft."
Es ist unleugbar, daß der Grundgedanke, auf dem alle diese Privilegien
fußen: eine im Interesse von Volk und Verfassung zu wahrende parlamentarische
„Freiheit", durchaus würdig ist. Es wird aber einem gesunden Konstitutionalis-
mus nie zum Schaden gereichen, wenn einem zügellosen Mißbrauch von Ehren-
Privilegien von vornherein gesetzlich vorgebeugt wird; die Strafrechtsreform wird
auch an dieser überaus bedeutsamen Frage nicht untätig vorübergehn können.
lie Frage nach dem Ursprung des Märchens ist noch unbeant¬
wortet geblieben und wird es vermutlich bleiben. Versuchen wir
über die Entstehung des Märchens literarisch und historisch ins
reine zu kommen und verfolgen wir die Märchen bei den cin-
Izelnen Völkern bis auf die frühesten nachweisbaren Aufzeich¬
nungen, so endigen wir immer bei vollständig ausgebildeten Erzählungen, die
auf eine lange vorhergehende Entwicklung, die im Dunkel der vorgeschicht¬
lichen Zeit begraben liegt, zurückweisen. Bei den europäischen Völkern gehn
die direkten Märchenaufzeichnungcn bis in das dreizehnte Jahrhundert zurück,
einzelne typische Mürchenzüge dagegen kann man schon in den mythischen und
heroischen Dichtungen nachweisen, so bei den nordischen Germanen in der
Edda, bei den irischen Kelten gar im sechsten Jahrhundert, jedoch waren diese
Völker damals schon weit entfernt von primitiven Zuständen. Um mehr als
tausend Jahre weiter zurück führt uns das griechische Altertum, wo uns
Herodot im fünften Jahrhundert v. Chr. das bekannte Märchen vom Meister¬
dieb überliefert hat. Aber schon die Odyssee ist voll von Märchenzügen,
während sich in der Ilias Andeutungen über das Jasonmärchen finden. Wir
kommen damit in die Zeit von 1000 bis 900 v. Chr., aber wiederum handelt
es sich hier nicht um primitive Gestaltungen des Märchens.
In die fernsten Zeiten geschichtlicher Dämmerung gelangen wir, wenn
wir die orientalische Überlieferung nach Märchen und Märchenzügen durch¬
forschen. Die älteste bekannte indische Märchensammlung des Orients gehört
dem vierten Jahrhundert n. Chr. an, wie weit aber die einzelnen Märchen in
frühere Zeiten zurückreichen, läßt sich nicht feststellen, wir haben aber insofern
einen Anhalt, als wir wissen, daß im Rigveda einzelne Märchenzüge auf¬
tauchen, damit kommen wir in die Zeit von vor 500 v. Chr., aber immer noch
nicht zu einer Periode mit so ursprünglichen Zustünden, in der man sich die
erste Entstehung des Märchens zu denken hat. Nicht anders steht es mit den
Mürchenzügen in der babylonischen Literatur, im Gilgcnneschepos und in der
Sargonsage. Hier wird die Datierung unsicher, aber jedenfalls sind diese Er¬
zählungen auf dem Boden einer vollständig ausgebildeten höhern Kultur er¬
wachsen. Das allerülteste vorhandne Märchen führt uns nach Ägypten, es ist
das Märchen von Batu und Anepu, das in der vorliegenden Form etwa
vierzehnhundert Jahre vor dem Beginn unsrer Zeitrechnung niedergeschrieben
ist. Aber niemand kann ermessen, wie weit es in unbekannte Zeiten zurück¬
reicht. Auch dieses älteste Märchen ist kein primitives, sondern zeigt dieselben
typischen Züge wie die Märchen der neuesten Zeit. Das Ergebnis dieser lite-
rarischen Untersuchung ist also nur das, daß wir feststellen können, daß in der
fernsten uns zugänglichen Zeit ausgebildete Märchen existiert haben, daß also
der Ursprung und die erste Entwicklung dieser Erzählungen in die vorgeschicht¬
liche Zeit hineinreichen, in die kein Menschenauge einzudringen vermag.
Da liegt es nun nahe, sich zu den Naturvölkern zu wenden und zu ver¬
suchen, ob man bei ihnen bessere Auskunft bekommt. Hier zeigt sich nun zu¬
nächst, daß das Märchen nicht eine den Europäern, oder allgemeiner gesprochen,
den gebildeten Völkern eigentümliche Dichtungsart ist, sondern die neuere For¬
schung hat fast bei allen Wilden, deren traditionelle Überlieferungen zugänglich
geworden sind, Märchen gefunden und aufgezeichnet. Dabei zeigte sich über¬
raschenderweise, daß diese Märchen durchweg dieselben charakteristischen Züge
tragen wie die der zivilisierten Völker. Zum Teil beruht dieser Umstand
offenbar auf direkter Übertragung durch die Europäer, so, wenn bei den Ein¬
wohnern Brasiliens dieselben Märchen erzählt werden wie in Spanien, zum
Teil jedoch kann man es aus den Berichten von Entdeckern und Missionaren
aus dem siebzehnten und dem achtzehnten Jahrhundert nachweisen, daß viele
wilde Völker vor der ersten geschichtlichen Berührung mit Europäern schon
Märchen hatten. Am wichtigsten für die Frage nach der Entstehung des
Märchens sind natürlich solche Erzählungen, die unzweifelhaft einheimisch sind.
Aber alle diese Materialien liefern uns keine direkte Auskunft über die Ent¬
stehung des Märchens, denn von keinem kann man feststellen, wie lange es
bei dem betreffenden Volke erzählt worden ist, und welche Wandlungen es
durchgemacht hat. Wir haben eben nur fertige Märchen vor uns, und wir
verfügen über keinerlei Mittel, festzustellen, ob in irgendeinem Märchen eines
auf niedriger Stufe stehenden Volkes eine Neuschöpfung vorliegt, die ein ge¬
wisses Analogon zu der Urschöpfung der europäischen Märchen bieten könnte.
Wir können die Erzählungen der Naturvölker nicht weiter zurückverfolgen als
etwa zwei oder höchstens drei Jahrhunderte. So ist auch hier das Material
zu geringfügig, als daß es unmittelbaren Aufschluß über die Entstehung des
Märchens bieten könnte; doch ist die Tatsache, daß das Marchenmaterial der
wilden Völker eine so enge Verwandtschaft zeigt mit dein des internationalen
Erzählungsschatzes, von nicht geringer Bedeutung für die Untersuchung über
den Ursprung des Märchens, denn aus dieser Verwandtschaft geht hervor, daß
die Schlüsse, die wir aus dem Studium der Märchen primitiver Völker ziehn,
muwtis ZQutMäis auch für die der zivilisierten Völker gelten; und es ist klar,
daß uns eine Untersuchung der primitiven Märchen näher zu dem Ursprung
dieser Dichtungsgattung führen wird, als die Durchforschung der Märchen der
Kulturvölker.
Im folgenden soll nun der Versuch gemacht werden, durch eine kurze
Prüfung des geistigen Zustandes der wilden Völker Anhaltspunkte zu ge¬
winnen, von denen aus man dann einige Richtungslinien, die für die Ent¬
wicklung des Märchens etwa maßgebend gewesen sein mögen, ziehn könnte.
Der heutige Stand der Märchenforschung berechtigt uns zu der An¬
nahme, daß das Märchen als ein der ganzen Menschheit eigentümlicher Besitz,
ein natnrnotwendigcs Produkt in der Entwicklung der einzelnen Völker und
Stämme angesehen werden muß, und daß es auf gewissen, überall gleichen
Anlagen des menschlichen Denkens und Fühlens, wie sie sich der Natur und
den gesellschaftlichen Einrichtungen gegenüber äußern, beruht. Es versteht sich
von selbst, daß der äußere und der innere Lebenszustand eines Volkes eine
gewisse Höhe erreicht haben muß, ehe aus ihm ein literarisches Erzeugnis,
wie es das Märchen ist, erwachsen konnte. Stämme, deren geistiges Leben
noch unentwickelt ist, oder die zu vegetierenden Dasein hinabgesunken sind,
vermögen keine geordneten Erzählungen hervorzubringen. Voraussetzung für
die Entstehung der Märchenerzählung ist eine gewisse gesellschaftliche Organi¬
sation, eine Stammesgliederung, in der vor allem das Verhältnis der beiden
Geschlechter zueinander in irgendeiner Form der Ehe normiert sein muß, die
ein Besitzrecht des Gatten ans sein Weib gewährleistet, denn die Märchen der
Naturvölker zeigen, daß hier eine bedeutende Quelle für Erzählungsstoffe fließt.
Die Verwandtschaftsverhültnisse müssen traditionell festgelegt worden sein, denn
das Verhältnis der Kinder zu den Eltern, der Brüder zu den Schwestern ist
eine wichtige Grundlage für die Handlung des Märchens. Im allgemeinen
kann man sagen, daß ein Anlaß zu einer erzählenden Darstellung gegeben ist,
sobald ein durch die Sitte geheiligtes Verhältnis gestört wird, denn ein häu¬
figes Thema der primitiven Märchen ist die Trübung eines Familienverhält-
uisses und dessen Wiederherstellung. Daraus folgt, daß sich innerhalb der
Stammesorganisation eine gewisse Summe von Sitten und Gebräuchen fest¬
gesetzt haben muß, die dann in der Mürchenhandlung zur Geltung kommen.
Den Anstoß zu einer Erzählung gibt nicht die ungestörte Beobachtung dieser
Sitten und Gebräuche, sondern ihre Störung. Das religiöse Leben muß
eine gewisse Stufe der Entwicklung erreicht haben, denn wie sich später
herausstellen wird, spielen die religiösen Anschauungen eine bedeutende Rolle
im Märchen.
Das Leben des Naturmenschen beschränkt sich — ganz allgemein genommen —
ans die Gewinnung des Lebensunterhalts aus der Natur, auf den Verkehr mit
den Stammesgenossen und den Nachbarstümmen (im freundlichen und im feind¬
lichen Sinne) und auf das Hinbringen der Zeit durch unterhaltende Tätigkeit.
Diese ganze Lebenstütigkeit der Wilden ist nun durchzogen und getragen von
der Beobachtung einer langen Kette traditioneller, auf religiösem Untergrund
beruhender Sitten und Bräuche, die seinem Leben erst den objektiven, vom
Willen und Belieben des Einzelnen unabhängigen Inhalt geben. Jagd, Siedlung,
Verkehr, Ackerbau, Krieg, ja die täglichen gewohnten Verrichtungen, mehr noch
die einzelnen Lebensphasen: Geburt, Namengebung, Weihen, Krankheit, Tod
geben in ihren eng umschriebnen Formen Bestandteile für die der Unterhaltung
gewidmeten Erzählungen des primitiven Meuscheu ab. Ohne diese auf aber¬
gläubischen Bräuchen beruhenden Tatsachen können wir uns eine reichere,
lebendigere Entfaltung des Untcrhaltungsbedürfnisses uicht denken. Eine weitere
Grundbedingung für die Entstehung des Märchens ist eine gewisse Differen¬
zierung der Masse, die den Stamm bildet. So finden wir ja auf untersten
Stufen schon mindestens eine formale Scheidung zwischen Ältern und Jüngern,
Mächtigern und Schwächer», Negierern und Regierten, vielleicht gehört auch schou
den frühesten Stufen der Entwicklung die Totemgliedernng an, die für die Er¬
zählungen der Wilden in bezug auf die Rolle, die die Tierwelt spielt, von be¬
sondrer Bedeutung ist.
Nach dieser allgemeinen Skizziernng des gesellschaftlichen Untergrundes,
auf dein das Märchen erwachsen ist, wenden wir uns zu der nicht minder wich¬
tigen Vorfrage: Wie steht es überhaupt mit dem Erzählungsbedürfnis des
Wilden? Unter den der Unterhaltung gewidmeten Lebensäußerungen des Natur¬
menschen spielt die Erzählung eine hervorragende Rolle. Zur Erzählung treibt
es ihn mit elementarem Zwang, er ist Erzähler aus Naturtrieb. Er erzählt
von seinen Erlebnissen, er fabuliert über die Entstehung der Erde, der Sonne, der
Sterne, über gewisse Bäume und Tiere, er zerbricht sich den Kopf über deu
Tod, und was herauskommt, ist immer eine Erzählung. Der Trieb zum Er¬
zählen zieht so ziemlich alles, was in seinen Gesichtskreis eintritt und irgend¬
welchen stofflichen Reiz hat, in seinen Bann. Der Mensch auf niedern Ent¬
wicklungsstufen scheut, um sein Erzählungsbedürfnis zu befriedigen, nicht vor
der Profanierung seiner höchsten göttlichen Mächte zurück, indem er eine Chronik
von Erzählungen um sie webt, die uicht immer mit ihren sonstigen religiösen
Empfindungen in Einklang stehn. So setzt die ganze geschichtliche und religiöse
Tradition, über die ein primitives, schriftloses Volk verfügt, diesen elementaren
Trieb zur Erzählung voraus. Selbstverständlich ist es immer nur das besonders
begabte Individuum, das tatsächlich erzählt, und es ist zu beachten, daß obwohl
fast überall Personen beiderlei Geschlechts an der Bewahrung und der Über¬
lieferung des traditionellen Erzählungsschatzes beteiligt sind, die Männer die
eigentlichen Erfinder sind. Für die Stoffwahl lind den allgemeinen Charakter
des Märchens wie der übrigen Zweige der erzählenden Volksliteratur ist das
männliche Geschlecht maßgebend. Das Märchen gibt, im ganzen genommen,
die Welt wieder, wie sie von Münnercmgen geschaut wird.
Der Wilde erzählt mit außerordentlicher Beweglichkeit und mit starker,
innerer Teilnahme, die sich in der reichlichen Verwendung der Gebärde, die
damit ein inhärenter Bestandteil der Erzählung wird, kundgibt. Ferner ist zu
beachten, daß der Wilde meist vor einem größern Hörerkreis erzählt. James
Macdonald berichtet von den Bauen: „Wenn sich die Männer am Abend um
das Hüttenfeuer versammeln, darf nie der Geschichtenerzähler fehlen. Er wird
da von seinen eignen Heldentaten erzählen, seinen Liebeserlebnisseu, Raubtaten
und nicht vergessen, Beweise anzuführen für seine Stärke und Ausdauer; von
hier ans schwebt er hinüber in die Regionen des Märchens oder der Fabel,
um die Stunden der Langeweile zu vertreiben. Bei einigen ist das Geschichten¬
erzähler geradezu eine Art schöner Kunst, ich hätte fast gesagt, exakter Wissen¬
schaft geworden." Eine andre Beobachtung mögen uns die Eskimo liefern.
„Die Eskimo sitzen in den langen Winternächten an den Ufern der Hudsonsbai;
bei schlechtem Wetter, wenn sie nicht hinauskommen, sitzen sie in der Hütte und
lauschen den alten Männern, die erzählen, was sie gehört und gesehen haben.
Sie verfügen über einen großen Schatz von Erzählungen, und die alten Frauen
tragen Geschichten vor von den Menschen vergangner Tage, Geschichten, die
allein auf dem Gedächtnis beruhn, oft untermischt mit Rezitationen, die
offenbar dem eigentlichen Faden der Erzählung fremd sind. Die jüngern Mit¬
glieder der Versammlung sitzen mit glänzenden Augen da, die ihr lebhaftes
Interesse an der Erzählung bekunden. Bis tief in die Nacht hinein hört man
den summenden Ton des Erzählers vergangner Ereignisse, bis die Zuhörer
einer nach dem andern in der Stellung, die sie zuletzt eingenommen haben,
einnicken." Schließlich noch ein Beispiel aus einem andern Teile der Welt.
In Kaiser-Wilhelmsland lagern die eingebornen Papuas Nachts um ein Feuer
und lauschen mit gespannter Aufmerksamkeit dem Märchenerzähler. So könnte
man noch lange fortfahren, aus allen Gegenden der Erde Beispiele beizubringen,
die beweisen, daß das Geschichten erzählen und -hören ein wahres Lebens¬
bedürfnis für den Wilden ist. Man wird auf jeden Fall gut tun, das Er¬
zählungsbedürfnis und die Erzählungsfähigkeit der Primitiven nicht zu unter¬
schätzen.
Wir haben also auf der einen Seite primitive Menschen mit ausgeprägtem
Erzählungsbedürfnis, auf der andern Seite eine Anzahl von Erzählnngsfvrmen,
die ein Spezifisches an sich tragen, das ihnen einen ganz bestimmten Charakter
gegenüber den höhern Erzählungsformen gebildeter Völker verleiht. Da ist
zunächst die rein individuelle Form, die Jcherzählung, die bei wilden Völkern
aber auch leicht einen allgemeinen Charakter annimmt. Sie stellt den Bericht
eines Einzelnen über ein wirklich erlebtes oder doch als solches hingestelltes Er¬
eignis- das Abenteuer auf der Jagd oder auf dem Fischfang, die Heldentaten
im Kriege, Liebesabenteuer, Vegegnisse auf der Botenfahrt usw. dar. Leider ver¬
säumen es die Ethnologen und die Forschungsreisenden durchweg, uns mit
diesen für die Erforschung der Erzählungsart und -kunst der Naturmenschen so
überaus wichtigen individuellen Erzeugnissen des Erzählnngstriebes bekannt zu
machen. Eine zweite allgemein verbreitete Gruppe bildet die ätiologische Sage,
durch die der Naturmensch sein Kausalitütsbedürfnis zu befriedigen trachtet.
Hierbei ist zu beachten, daß der Wilde die Fragen, die irgendein Naturereignis
in ihm anregt, nie durch eine kurze Präzise Antwort, sondern immer durch eine
längere oder kürzere Geschichte beantwortet. Eine andre Gruppe bilden die
Stammessagen und die Erzählungen mythologischen Charakters, schließlich das
Märchen.
Alle diese Gattungen sind untereinander verwandt, berühren sich stofflich
vielfach, denn sie beruhn alle ans dem nicht sehr umfassenden Denk- und Er¬
fahrungskreise des Wilden. Will man also näheres über die Entstehung der
einzelnen Erzähluugsarten wissen, so ergibt sich die Notwendigkeit, das Denken
des primitiven Menschen vorher zu untersuchen. Theoretisch genommen müßte
man eigentlich ein genaues Bild des gesamten primitiven Lebens entworfen
haben, ehe man sich daran machen könnte, das Herauswachsen der Märchen¬
erzählungen aus diesem Boden zu ergründen. Man müßte alle sozialen Ein¬
richtungen und Gebräuche — mindestens soweit sie sich in den Erzählungen
widerspiegeln — untersucht haben, man müßte das ganze Geistesleben des
Naturmenschen bis auf seine Wurzeln bloßgelegt haben, nämlich seine Denk¬
fähigkeit im allgemeinen, seine Deukäußerungen im besondern, seine Logik, sein
Verhältnis zur Welt der Wirklichkeit; man müßte die einzelnen Seelenkräfte
analysiert haben, besonders die Phantasie; erst wenn wir so eine genaue und
tiefgehende Einsicht in das gesamte primitive Wesen das äußere und das
innere — gewonnen haben, können wir hoffen, aus dem Leben und Denken des
Wilden die Entstehungsursachen und -bedingungen seiner literarischen Produkte zu
verstehn. Soweit ist die Forschung noch nicht, und hier in den Grenzen dieser
Abhandlung kann es nur darauf ankommen, die Hauptzüge der primitiven
Geistesstruktur, soweit sie zu der Tätigkeit des Erfinders und Erzählens von
Geschichten Beziehung haben, darzulegen. Haben wir festgestellt, wie der Pri¬
mitive denkt, so können wir daraus abnehmen, wie er erzählt, und wissen wir,
welche Grenzen seinem Erzühlnngstriebe gesteckt sind, und uuter welchen Be¬
dingungen er sich äußert, so können wir hoffen, über die einzelnen Elemente,
die das Märchen bilden, Klarheit zu gewinnen, zu ergründen, woher sie stammen,
und wie sie sich verbinden.
Zunächst muß festgestellt werden, daß dem Wilden jeder Wirklichkeitssinn
fehlt. Es wird dem Europäer nicht leicht, sich immer vor Augen zu halten,
daß die Wirklichkeit so ziemlich aus dem Denken des Naturmenschen ausge¬
merzt ist. Das Leben und das Denken des Wilden sind eingesponnen in ein
illusionistisches Netz geistiger Beziehungen. Er kann nicht essen und trinken, nicht
fischen und jagen, nicht reden und denken, ohne im Banne abergläubischer Vor¬
stellungen zu sein. Speisereste sind gefährliche Dinge, Geister belauern ihn auf
Schritt und Tritt. Durch hundert Gebräuche und Maßregeln muß er seine
Seele, die sich oft vom Körper trennt und auf eigne Faust umherfliegt, schützen.
Der Feind im Kriege hört nicht auf gefährlich zu sein, wenn er tot am Boden
liegt, seine erzürnte Seele vermag dem Unachtsamen zu schaden. Alle Lebens¬
phasen: Geburt, Namengebung, Beschneidung, Menstruation, Jttnglingsweihen,
Tod sind von einem dichten Maschenwerk illusionistischer Vorstellungen um¬
geben. Der Wilde lebt in einer Lebensstimmung, in der Gefühltes und Ge¬
dachtes, Wahres und Erdichtetes bunt durcheinander gemischt sind. Hieraus
ergibt sich, daß der Grundcharakter der Erzählungen des Wilden ein illusionistischer
sein muß.
Zweitens: Dem Wilden fehlt durchaus das Sonderungsvermögen. Er
vermag nicht das Wesentliche vom Unwesentlichen, Empfundnes nicht von ver¬
standesmäßig Gedachtem zu unterscheiden. Die Begriffe rinnen ihm bunt durch¬
einander; nur ein einziges Maß hat er zu ihrer Scheidung, das, das ihm die mehr
oder minder bewußte Beobachtung des eignen Innern an die Hand gibt. Nicht
leicht vermag der primitive Mensch den Namen vom Ding, das Bild von dem
dargestellten Gegenstande zu sondern. So ist er außerstande, Grenzlinien
zwischen sich und den Tieren, auch wohl gar zwischen den Pflanzen und den
unbelebten Dingen — dem Wesen nach — zu ziehn. Alle haben, seiner An¬
schauung nach, einen Körper und eine Seele wie er selber. Einem Buschmann
konnte auf keine Weise durch einen Missionar der Unterschied zwischen Mensch
und Tier klar gemacht werden. Er meinte, ein Büffel könnte ebensogut Pfeil
und Bogen handhaben wie der Mensch, wenn er nur welche hätte. Es ist
durchaus nicht unerhört, daß der Wilde in vollem Ernst Menschen für Tiere
und Tiere für Menschen im allerbuchstäblichsten Sinne hält. Es ist, wie der
schottische Anthropolog? Andrew Lang sagt: a usbulous g.na ooniuskä kraiue
ok zumal rc> ^vllieb. M ed.lo.A8, g-niillats 01' jnAv.ling,t«z, uuman, animal, ve^o
tM<z, or inorAimio, 866in on tluz sans Isvol ot lit's, vWsion., ima rsasou.
Die Denktätigkeit des Wilden heftet sich mit aller Energie an die zunächst-
licgende Idee. Sein ganzes kausales Denken wird durch die Zusammenordnung
nahe aneinanderliegender Ideen regiert. Wenn eine ansteckende Krankheit aus¬
gebrochen ist, wird ein Boot ausgerüstet und mit verschiednen Vorräten ver¬
sehen. Bei dem ersten Landwinde wird der Krankheitsdämon freundlichst ein¬
geladen, Platz in demi Boote zu nehmen, und ebenso freundlich aufgefordert,
niemals wiederzukehren. Dann wird es abgestoßen, und wie es mit dem Winde
verschwindet, ist die Krankheit fortgetragen. Der Tapir ist langsam und schwer¬
fällig, folglich ißt der Creekindianer kein Tapirfleisch, sondern bevorzugt das
Fleisch von Vögeln, schnellem Wild und Fischen. Die Beweglichkeit dieser
Tiere, so glaubt er, geht in ihn über. Dabei darf man jedoch nicht vergessen,
daß für den Wilden Ideen assoziierbar sind, die uns weit auseinander zu
liegen scheinen. Unbekümmert um Möglichkeit und Unmöglichkeit — in unserm
Sinne — bringt der Wilde die heterogensten Dinge zusammen. So muß uns
das Denken des Primitiven recht phantastisch erscheinen, noch mehr natürlich
müssen es seine Erzählungen.
Der Kausalitätsdrang des natürlichen Menschen ist stark entwickelt. Wo
nicht gerade eine starke Degeneration vorliegt, haben fast alle Reisenden die leb¬
hafte Wißbegierde der Wilden feststellen können. So stark aber an sich das
Streben nach Erkenntnis der Ursachen ist, so wenig ist jedoch das langsame,
geduldige Suchen, das vorsichtige Fortschreiten zu der Ursache der Erscheinung
seine Sache. Für die Frage nach dem Warum hat er die Antwort gleich bei
der Hand. Er ist mit seinein kausalen Denken bald am Ende, weil er nur
so viel über die Dinge und ihr Wesen auszusagen vermag, als er von seinem
eignen Wesen und seinen persönlichen Erfahrungen zu schließen imstande ist.
Dazu kommt, daß das kausale Denken des Wilden immer durch die Unter¬
strömung des Willens beeinflußt wird. Die nächsten Beziehungen des Menschen
zu der Natur stellen seine Wünsche her. Die Fidschiinsulaner binden, wenn sie
noch einen weiten Weg nach Hause haben, Binsen zu einem Büschel inein¬
ander, um durch diese Verflechtung die Sonne zu hindern, unterzngehn. Wenn
sich ein Mohu in Neuguinea verspätet, so macht er eine Schlinge aus Schnur,
blickt hindurch nach der Sonne und schlingt dann den Faden zu einem Knoten
zusammen, wobei er ruft: „Warte, bis ich zu Hause bin, dann will ich dir das
Fett eines Schweines opfern."
Aus diesen leider nur zu kurz gekennzeichneten Eigentümlichkeiten des pri¬
mitiven Denkens ergeben sich einige allgemeingiltige, bei alleu primitiven Völkern
wiederkehrende Vorstellungskreise, die man ungefähr so zusammenfassen könnte:
1. Alle Erscheinungen der Natur, belebte oder unbelebte, faßt der Wilde als
persönliches Wesen. 2. Infolgedessen schafft er um sich und über sich ein Reich
von übernatürlichen Wesen: Seelen, Geister, Dämonen, Götter. 3. Der Natur¬
mensch zieht keine festen Grenzlinien zwischen sich und der umgebenden Welt.
4. Er steht deshalb in verwandtschaftlich nahem Verhältnis zu den Tieren. 5. Er
glaubt an die Verwandlung des Menschen in Tiere, Pflanzen, Dinge, Sterne.
6. Das Zauberwesen nimmt eine zentrale Stellung in seinem Denken ein.
In dieser geistigen Atmosphäre lebt und webt der primitive Mensch bei
Tag und bei Nacht. Im Traumleben kehren die Anschauungen des wachen
Bewußtseins in bunterer Folge wieder. Wenn nun der Wilde einen Vorgang
erzählen will, so mischen sich diese Vorstellungen, die wir als übernatürlich
empfinden, mit dem Zwange der Notwendigkeit ein. Auch wo er Selbsterleb¬
nisse wiedergibt, erzählt er von Zauberei und Begegnissen mit übernatürlichen
Wesen. Ein Beispiel möge das zeigen. Ein Australier erzählt nach dem Be¬
richt seines Vaters, daß dieser einst ins Schilf gegangen sei, um Enten zu
fangen- Plötzlich hörte er ein Geräusch wie vom Schwirren einer Wmfkcule.
Er fühlt sich Von einem unsichtbaren Wesen umschlungen, ringt mit ihm, und
endlich gelingt es ihm, sich unter einem Aufschrei von der Umklammerung des
Geistes freizumachen. Hier haben wir eins von den vielen Beispielen, wie ein
persönliches Erlebnis — ein Krankheitsanfall auf der Jagd — unter dem
Einfluß der illusionistischen Weltanschauung zu einem übernatürlichen Erlebnis
und der Bericht darüber zu einer phantastischen Erzählung wird. Ferner er¬
zählt der Wilde von seinen Beziehungen zu Tieren, die er wie Menschen auf¬
treten läßt, er berichtet von Verwandlungen, von Zaubermanipulationen, mit
denen er dnrch Raum und Zeit hindurch auf entfernte Objekte eine unmittel¬
bare Wirkung ausübt. Er spricht von Sonne, Mond und Sternen wie von
seinesgleichen. Und wenn er etwas erzählt, so geschieht es in springender, nur
das Wichtige heraushebender Weise, ohne Rücksicht auf Möglichkeit und Un¬
möglichkeit, unbekümmert um die Motivierung. Mit einem Wort, wir haben
hier alles beisammen, was das Wesen des Märchens ausmacht. Das, was deu
Hauptinhalt des Märchens darstellt, das Wunder, das übernatürlich Phan¬
tastische, im Dasein des Wilden ist es ein realer Bestandteil seiner Lebens-
anschauungen, und das, was wir als die Technik der Märchen betrachten, die
Sprunghafte Darstellung, die sich nur an die Hauptpunkte der Ereignisse hält,
den Mangel an Motivierung und an Folgerichtigkeit, hat seine Wurzel in der
rudimentären Erzählungsweise des primitiven Menschen. Das Märchen oder
die Weise zu erzählen, die wir als märchenhaft bezeichnen, ist ein in der spe¬
zifischen Weltanschauung und Denkstruktur des Primitiven begründetes Phä¬
nomen. Nur der primitive Mensch konnte das Märchen, oder um es vorsichtiger
auszudrücken, die Bausteine liefern, aus denen spätere Entwicklungsstufen kunst¬
reichere, technisch vollendetere Märchenerzählungen schufen. Denn das muß be¬
sonders betont werden, daß die Märchen der Wilden inhaltlich sowohl wie
technisch ärmlicher, unzusammenhängender, willkürlicher sind als unsre Volks¬
märchen.
Diese Ableitung unsrer Märchen aus der primitiven Urzeit der einzelnen
märchenerzählendeu Völker ist natürlich nur dann beweiskräftig, wenn sich be¬
weisen läßt, daß tatsächlich der Hauptinhalt unsers Volksmärchens auf primitive
Zustände zurückgeht. Diese Forderung hat um die heutige Märchenforschung
ziemlich lückenlos erfüllt. Ich kann mich an dieser Stelle nur auf die Heraus¬
hebung einiger besonders interessanter Beispiele beschränken. Wer mehr davon
zu erfahren wünscht, sei auf den vortrefflichen Aufsatz von Fr. von der Leyer:
„Zur Entstehung des Märchens" in den letzten beiden Bänden (Bd. 113 und 114)
des Archivs für das Studium der neuern Sprachen und Literaturen verwiesen.
>le Bocche von Ccittarv sind eine umfängliche, in das Land hinein
sich erstreckende, vielfach geweitete Bucht, viermal so groß als der
Vierwaldstätter See, und an ihren Ufern umsäumt von zahlreichen
Ortschaften und Burgen, einstigen Zeugen gewaltiger Kriegszüge
^ und mannhafter Verteidigung, da Türken, Russen, Franzosen und
! Österreicher abwechselnd um den Besitz der Bocche kämpften. In
der ersten Bucht von Topla liegt von größern Ortschaften Castelnnovo mit alten
Mauern und Forts vor uns. Wir fahren am östlichen Ufer der Halbinsel
Lustica (I^ustioa,) hin, deren mäßig hohe Berglehnen bis zur Höhe mit frischem
Grün, aus dem hier und da auch ein Kirchlein herausschaue, bedeckt sind, während
am jenseitigen Ufer über die grünen Gelände der Monte Dobrastiza (vobrZWK)
als nackte Felsspitze emporragt. Näher treten die Küsten zusammen, und wir
gelangen durch den Kanal von Kombur in die große Bai von Tevdo. Vor
Biskuca liegt regungslos ein Geschwader von fünf österreichischen Kriegsschiffen,
in gleichmäßigen Abständen parallel zueinander verankert. Unsre Ceres steuert
wieder nördlich durch den engen Kanal, die sogenannte Catene (Ketten), da hier
früher die Einfahrt in die innere Bocche durch Ketten abgesperrt wurde.
Die Landschaft ist überreich an Naturschönheiten, und das Auge vermag
die vielen neuen und überraschenden Bilder kaum zu fassen. Zur Linken die
Bucht von Morinje und das Becken von Risano mit einer großartigen Gebirgs-
welt, der durch den Aufstand übelberüchtigten Krivoscije, im Hintergrunde,
deren kahle, von der Sonne gebleichte Vergknppen jetzt durch kleine Forts ge¬
krönt sind. Keinesfalls eine beneidenswerte Garnison, diese hundert Mann
mit einem Offizier, die im Sommer ziemlich, im Winter gänzlich von allem
Verkehr abgeschnitten sind, während die Bora den ganzen kleinen Ameisenhaufen
aus seiner Höhe von etwa tausend Metern wegzufegen droht. Vor uns liegen
zwei winzige Jnselchen: San Giorgio mit einem alten Kloster und Madonna
dello Scalpello mit einer vielbesuchten Wallfahrtskirche, dahinter Perasto mit der
alten Bergfestung Santa Croce darüber. Endlich gegen vier Uhr Nachmittags
kommt am äußersten Ende, nachdem wir in den eigentlichen herrlichen weiten
Golf von Cattaro eingelaufen sind und Stvlivo, Perzagno und Dobrota mit
ihren alten Marmorpalüsten passiert haben, unser heutiges Ziel Cattaro in
Sicht. Der erste Anblick ist überraschend. Der Reisende hat die belebte Riva
vor sich, die landeinwärts von der Stadtmauer eingefaßt ist. Während man
von der Stadt selbst fast nichts sieht, türmen sich hinter ihr gewaltige Berg¬
massen empor, die langersehnte Czernagora, die schwarzen Berge von Monte¬
negro, an deren Felsrändern die zweiundsiebzig Serpentinen der Straße Cattaro-
Cetuije emporkriechen, und — oft über schwindelnden Abgründen — die Be¬
festigungen des Forts S. Giovanni hängen.
Boot an Boot fliegt zu uns heran, die Riva wimmelt von Menschen,
und bald begrüßen uns die Zivil- und Militärbehörden von Cattaro an Bord.
Der Dampfer legt an, und nachdem wir uns durch die Schar der Händler,
die Steine, Münzen, Gürtel und sonstige Raritäten feilbieten, durchgewunden
siben, betreten wir durch die Porta della Marina die Stadt selbst und kommen
zunächst auf den gut gepflasterten Marktplatz mit der Hauptwache. Die Stadt
hat, wie überall im Süden, enge und winklige Gäßchen und bietet wenig
Sehenswertes, desto mehr interessierten uns die verschiednen Trachten der
einzelnen Montenegriner, schwarze Kappe mit Goldstickerei, schwarze lange Joppe
oder weißer Mantel (Gnnj), die Ärmel und Achseln mit roter und die rote Weste
(Dznmadan) mit goldner Borte benäht, dunkelblaue oder weiße Kniehosen und
weiße Gamaschen. Der Handscharhandel, auf den wir uns sofort begaben, fiel
schlecht aus, nirgends war eine solche Waffe preiswert zu haben, und 80 bis
120 Gulden waren für ein mit Steinen besetztes Stück kein seltner Preis. Die
Damen kauften originelle Handstickereien; Angebote von Tschibuks im Preise
von 2^ bis 20 Gulden wurden abgeschlagen, endlich gelang es mir, bei einem
Spa gler eine alte Tscherkessenflinte an das Tageslicht zu bringen, die ich nach
längerm Hin- und Herreden erhandelte und sofort an Bord in Sicherheit schaffte.
Trotz dem uns zu Ehren auf der Marina stattfindenden großen Militär¬
konzerte suchte heute verhältnismäßig alles zeitig das Lager auf, da man am
nächsten Morgen die große Lcmdtonr nach Cetinje, der Haupt- und Residenz¬
stadt von Montenegro, vorhatte. Kaum war die Sonne in der herrlichsten
Klarheit am Himmel emporgestiegen, als wir auch schon in fünfzehn Carrozzis
immer eine hinter der andern abfuhren. Anfangs ging es südlich langsam
bergan, bis wir in die schon erwähnte hochinteressante Straße einbogen und
nun die zweiuudsiebzig Serpentinen wie landesüblich in solchem Trab hinaufjagten,
daß wir das ?uxitc>, 2urutc> (schnell, schnell!) der hinterher fahrenden Kutscher
bei scharfen Biegungen und an schwindelnden Abgründen mehr als einmal durch
ein energisches xon^Jo, pvirutlo (langsam, langsam!) unterbrechen mußten. Eine
Stunde später sind wir schon am Hotel Trinita, einem kleinen Weinhause,
passieren dann das mächtige Fort Gorazda und steigen nun immer mehr und
mehr und immer steiler bergan. Wir schauen über den das letzte Fort
tragei:den Bergrücken hinweg in die Bai von Teodo hinab, das Auge schweift
von Fels zu Fels, von Hügel zu Hügel, von Bucht zu Bucht hinunter zu den
grün umsäumten Boeche, und während wir uns noch an der neuen üppigen
Flora erfreuen, blitzt bald über alle vorliegenden Bergrücken der Eingang zu den
Boeche und die blaue Adria selbst zu uns herüber. Oft setzt die Straße über
Wildbäche, die aus dunkler Schlucht hervorbrechen, bis wir in einer Höhe von
904 Metern die durch eine Zeile viereckiger Pflastersteine quer über die Straße
markierte Grenze von Montenegro passieren, von einem montenegrinischen
Hirten, der die Struka, das montenegrinische Plaid, über den Schultern, die lauge
Flinte im Arm und den Revolver im Gürtel hatte, ernsthaft gemustert. Einen
weitem befremdlichen Anblick bieten die montenegrinischen Händler, die nach
Cattaro hinabziehen. Die Männer sitzen zu Pferde und rauchen aus ihren
Tschibuks, während die Weiber schwer belastet nebenherschreiten. An der Stelle,
wo von link'6 her der alte Saumpfad von Cattaro einmündet, senkt sich die Straße,
und bald begrüßt uns zur Rechtem der schneebedeckte Lvveen. Wir sind in
Njequsi, das, ungefähr auf der Hälfte des Weges und als die einzige Zwischen¬
station nach Cetinje, in weitem ödem Felskessel liegt. In den, primitiven Ein¬
kehrhaus begr,"ße uus eine hierher verschlagne Tirolerin. Der Wirt, ein
schneeweißer Montenegriner, bringt uns Schafkäse und ?me> nero, der aber so
nach Bocklpnt schmeckt, daß er kaum mit Kognak hinunterzuschlucken ist. Nicht
weit vom Einkehrhaus entfernt liegt die Sommerresidenz des Fürsten, an den
grünen Fensterläden kenntlich, und dessen Geburtshaus; paradiesisch primitiv
aber sind die innern Einrichtungen der sonstigen kleinen Häuser. Endlich geht
die Fahrt weiter, und gegen Mittag erreichten wir die Paßhöhe von Krivaeko-
Zdrijclo. Hier bietet sich unserm schon verwöhnten Auge ein so großartig
aufgebautes und eigentümlich erhabnes Bild, daß ich um dessenwillen allein
gern nochmals die Reise machen möchte. Wir stehn auf der Paßscheide in
öder Karstlandschaft, nur hier und da schauen wie grüne Augen kleine Felder
aus dem Boden der Dolium herauf, und eine trttmmerbedeckte Felseneinöde
bildet den Vordergrund zu den sich am Horizont in vollständigem Halbkreis
aufbauenden, Schnee- und eisbedeckten Gebirgen Albaniens, die sich in blan-
weißem Mantel vom tiefblauen Himmel abheben und fast in der Mitte den
alle überragenden, 2606 Meter hohen Dormitor auf ihren Schultern tragen,
während im Osten, uns zur Rechten, die glitzernde Fläche des Skutari'Sees
aus der Türkei zu uns herttberblendet. Das Bild tritt so urplötzlich und un¬
vermittelt vor unsre Augen, daß man stundenlang seine großartige Erhabenheit
auf sich wirke» lassen möchte. Die Troikas sind jedoch neu bespannt worden,
und in schneller Fahrt jagt um unser jämmerliches Vehikel die vielen schlangen¬
artigen Windungen der Straße hinab, bald sehen wir den grünen Talkessel
von Cetinje mit seiner einzigen Straße ziegelbedachter Häuser, fahren zuerst
am Kirchhof, auf dem zahlreiche Kämpfer der letzten Türkenkriege ihre Ruhe
gefunden haben, vorüber und gelangen gerade zur Mittagstunde bei glühender
Hitze in Cetinje an, der Hauptstadt von Montenegro. Zunächst wurde der
PostHalter von: Essen weggeholt, und bald wimmelten sämtliche Räume des
Postamts von uns fremden Gästen, da nicht nnr jeder eine oder mehrere
Kollektivum von Briefmarken kaufen, sondern auch Grüße nach der Heimat
schreiben wollte. Dann verfügten wir uns nach dem einzigen „Hotel" der
Stadt, das gute Unterkunft bieten sollte, namentlich wenn es nicht regnet, und
dessen Wirt Vuco Vuletitsch es vortrefflich verstand, uns eine reichliche Mahl¬
zeit vorzusetzen. Auch Pilsener Bier, dreizchntel Liter zu zwölf Kreuzern, gab
es hier, und vivo 6a xssto, der aus großen Krügen und Flaschen verschenkt
wurde, konnte sich jeder nach Belieben selbst nehmen.
Cetinje ist eigentlich kaum etwas andres als ein großes Dorf mit einer
Hauptstraße und zwei Seitengassen, es sind deshalb zu seiner Besichtigung
keine besondern Anordnungen nötig. Zuerst wenden wir uns zum Konak,
einer ein Stockwerk über die Mauern Heransschauenden Villa, deren Parterre
die Regierungs-, Sitzungs- und Dienerzimmer birgt, während der Fürst den
ersten Stock bewohnt. Die Kaserne liegt schrägüber, und wir bewundern die
aller Monate wechselnde vierzig Mann starke Leibgarde des Fürsten. Jeder
Mann in Montenegro ist vom fünfzehnten bis zum funfzigsten Jahre dienst¬
und übungspflichtig, und es macht einen unangenehmen Eindruck, uns von den
langen, ernsten, grüngekleideten Gestalten, deren jede einen geladner Zehn¬
millimeterrevolver im Gürtel trägt und auch bereitwillig entladet, um die
Schncllfeuerung zu zeigen, ziemlich mißtrauisch betrachtet zu sehen. Hier am
freien Platze steht auch die mächtige Ulme, unter der der Fürst noch vor nicht
zu langer Zeit persönlich Recht sprach, während ihm jetzt sein Minister dabei
behilflich ist. Die Justiz ist sehr stramm; Mord oder Rand an Fremden wird
mit dem Tode bestraft, Diebstahl mit Kettcntmgen. Das Kloster ist ebenfalls
befestigt. Gegenüber dem Palais des Fürsten liegt der Konak des Kronprinzen
Danielo. Zu erwähnen ist noch das Arsenal mit zahlreichen Trophäen, unter
denen nicht die geringste ein einbalsamierter Paschakopf aus einem der vielen
Türkenkriege ist. Bei einem Filigranarbeiter wollte ich noch einen wunderbar
schönen krummen Säbel einhandeln, doch stellte es sich heraus, daß es der des
Kronprinzen war, der hier gerade repariert wurde, und so mußte ich auf das
Objekt leider verzichten.
Der Montenegriner ist nüchtern und ernst, wie die ihn umgebende Natur;
nur eins tut er, als mit seinen: Nationalstolz unvereinbar, nicht gern, nämlich
arbeiten und noch viel weniger Lasten tragen oder gar, und sogar als Fremden¬
führer, seine Flinte zu Hause lassen. In Montenegro arbeiten die Frauen und
pflegen sich die Mäuner, gerade umgekehrt wie bei uns. Am Abend gegen
zehn Uhr langten wir todmüde in Cattaro wieder an, auch der Schimmel an
unsrer Carrozza war noch lebendig, aber in traurigem Zustande, denn das arme
Tier war total blutig geprügelt.
Am nächsten Morgen lichtet die Ceres die Anker, und wir fahren unter
Musikbegleitung und unter dem Zusammenströmen der ganzen Bevölkerung von
der Riva ab, die nördliche Seite der Voeche hinauf, an Perasto und Risano
mit seinen drei Forts vorbei, der Heimat wieder zu. Das Schiff führt nach
Verlassen der Boeche weiter ab vom Lande; wir sehen die Sonne hinter der
Insel Meleda versinken und genießen in vollen Zügen die köstliche Abendluft
des Südens, können uns aber nur einer kurzen Nachtruhe erfreuen, denn schon
um drei Uhr Morgens kommt die Insel Lesina in Sicht, an der wir halb
sechs Uhr früh ausboote». Alte verfallne Paläste, ein großer Marktplatz mit
alter Loggia, alles versunkne Pracht. Das beste Fleckchen haben noch die
Franziskanermönche inne, zu deren Kloster und Kirche wir durch eine Allee von
Johannisbrotbäumcn gelangen. Wir beneiden fast die freundlichen Patres um
ihr idyllisches Plätzchen; sie zeigen uns auch zum Schluß noch mit großem
Behagen den Stolz ihres Klosters, das im Refektorium hängende Heilige
Abendmahl von Matteo Rossetti. Vor der Abfahrt von Lesina wurde wieder
ein kleiner Markt in Dattelpalmzweigen, Opuntienblattern, Agaven, Fischköpfen,
grünen Olivenstöcken usw. abgehalten, dann dampfen wir weiter nach der kleinen
Insel Buhl, um deren blaue Grotte, die die blaue Grotte von Capri noch über¬
treffen soll, zu besuchen. Bald sahen wir Männer und Frauen, kleine Kinder
im Arm, an den fast senkrechten, schwammartig durchlöcherten Kalkfelsen oft rück¬
wärts herabklettern, um unsrer Einfahrt zuzuschauen. Der Eingang zur Grotte
ist niedrig, und das Boot sucht bei sinkender Welle in die Grotte zu schlüpfen.
Das innere Lichtbild ist bezaubernd; Helles Sonnenlicht durchleuchtet vom
Grunde aus das tiefblaue Wasser, während durch Stock oder Hände hervor-
gerufnes Spritzen die Tropfen gleich geschmolznen Silber zurückfallen läßt.
Der Besuch der 31 Meter langen und 15 bis 17 Meter breiten Grotte dauert
etwa eine Stunde; bald sind wir wieder an der äußern Schiffstreppe auf Deck
geklettert und fahren nun Mittags zwölf Uhr bei einer tropischen Hitze in die
Bucht und den Hafen von Lissa ein, hinter und über dem sich der Ort, von
einigen riesigen Dattelpalmen überragt, aufbaut. Lissa ist österreichischer
Kriegshafen und bekannt durch die Seeschlacht vom 20. Juli 1866 zwischen
der österreichischen Flotte unter Tegetthofs und der italienischen unter Persano,
in der Tegetthofs durch das Admiralschiff Ferdinand Max den italienischen
Panzer Ne'd'Italia in Grund rannte, und in der außerdem der Pcilestro der
Italiener in die Luft flog. 1182 Kanonen ließen an diesem Tage ihre donnernde
Stimme auf dem Meere von Lissa erschallen. Auf einer in den Hafen von
Lissa vorspringenden Landzunge erhebt sich im katholischen Friedhofe das mit
einem Löwen geschmückte Denkmal der in der Schlacht gefallnen Seeleute; es
ist von Ketten und Kanonen der österreichischen Schiffe umgeben und trägt auf
der Vorderseite die Inschrift:
Den in der Seeschlacht bei Lissa am 20. Juli 186K
für Kaiser und Reich Gefallenen.
In frommen Andenken
Die Waffengefährten
und auf der Rückseite in Relief die Darstellung des Sinkens des Re d'Italia.
Ant Nachmittag dampfen wir weiter, setzen mehr und mehr von der Küste
ab und fahren in früher Morgenstunde in den großen an der, Südspitze von
Jstrien liegenden österreichischen Kriegshafen von Pola ein. Über der Stadt
ragen die Zitadelle und die gut erhaltne mächtige Ruine des römischen Amphi¬
theaters empor. Wir legen direkt am Kai an und werden bald von öster¬
reichischen Seeoffizieren, die uns in liebenswürdigster Weise als Führer durch
das Seearsenal, die großen Werften, Docks und zur Besichtigung des Panzers
Kaiser Max begleiten, herzlich begrüßt. Wir durchstreifen das Schiff von oben
bis unten und sind erstaunt über die kolossale Armierung und die technischen
Einrichtungen dieses schwimmenden Kolosses. Von Monte Zaro, auf dem ein
hydrographisches Amt und die Sternwarte liegen, hat man eine prächtige
Aussicht auf Hafen und Stadt; dann besuchen wir noch den Tempel des
Augustus und der Roma, den Triumphbogen des Sergius und das schon er¬
wähnte Amphitheater, das 20000 bis 25000 Personen faßte, und gehn wieder
an Bord. Wir dämpfen, immer noch bei prächtigem Sonnenschein, der West¬
küste von Jstrien entlang an Rovignv, Parenzo, Cittcmuvva, Pirano, Capo-
distria, herrlichen Küstenlandschaften mit Buchten, Flecken und kleinen Kirchlein
vorüber, und bald liegt Trieft vor uns, sich ausbreitend bis auf die Höhen des
Karstes. Am Molo San Carlo legen wir an, mit kurzen aber herzlichen
Abschiedsworten löst sich die Gesellschaft, die auf der Ceres 648 Seemeilen
zurückgelegt hat, ans, und wir schlafen in dem komfortabel« Hotel garni an der
Piazza grande zum erstenmal seit zehn Tagen wieder auf festem Boden.
Die Kaffeehäuser an der Piazza grande, viel luxuriöser als bei uns zu
Lande ausgestattet, breiten sich mit ihren Tischen und Stühlen ebenso wie in
Venedig über einen großen Teil des Platzes selbst aus, eine Einrichtung, die
unsre Verkehrspolizei jedenfalls zur gelinden Verzweiflung brächte. Die einzelnen
Sehenswürdigkeiten der großen Handelsstadt an der Adria aufzuzählen möchte
hier zu weit führen, erwähnt sei nur der Fischmarkt in und an der Markt¬
halle: Scambris, Seespinnen mit ihrem roten Eiernest, Hummer, Krebse, Schild¬
kröten — große für 12 Kreuzer —, die auf unsern Wunsch schnell, nach
unsern Begriffen aber etwas grausam geschlachtet werden — mau bedient sich
dazu des Hammers, der Zange und eines Meißels —, liegen und kriechen in
buntem Durcheinander vor uns. In großen Massen werden kleine Tintenfische
gekauft, eine Düte voll dieser schwarzen Masse kostet 3 Kreuzer.
Ein Einspänner bringt uns in einer Stunde nach Miramar, dem ehe¬
maligen Eigentum des Kaisers Maximilian von Mexiko. Wir durchwandern
hier'die kostbaren, mit Raritäten, Kriegs- und Jagdtrophäen geschmückten
Zimmer, der herrlichen Aussicht über das Meer nicht müde werdend, und er¬
gehen uns dann in dem üppigen, allerhand Pflanzen des Südens bergenden
Parke. Wir durchschreiten Lorbeer- und Zypresseuhaine, Gruppen von manns¬
hohen Eriken, wohlriechende Pikrosporum, Lanrustinns, Iuniperus, Oliven,
Oleander, Myrte, Bambus, Rosmarin, Feigen, Magnolien, Kirschlorbeer,
Draeänen, Rhododendron, japanischen Quitten. Alles gedeiht hier in freiem
Lande in ungeahnter Pracht und Üppigkeit, umschlungen von Efeu und tausend¬
fach blühenden Schlingrosen. Die ganze Besitzung hat 12 Millionen Gulden
gekostet und fordert jährlich 26000 Gulden zur Unterhaltung.
Ein weiterer Besuch von Trieft aus gilt den Katarakten und Höhlen von
Se. Canzian, die man in zwanzig Minuten erreicht. Sie gehören zu den
großartigsten Naturbildern ihrer Art und sind höchst sehenswert. Durch eine
hundert Meter hohe, Felswand dringt die Reka in ein Labyrinth von Klippen
ein, bildet in der großen Doline einen schönen Wasserfall und erscheint dann
nach einem etwa dreißig Kilometer langen Lauf bei S. Giovanni wieder,
worauf sie sich gleich in das Meer ergießt. Wir engagieren einen Führer,
kaufen die nötigen Beleuchtungsgegenstände und steigen auf gebahnten Zickzack¬
wege in die an den Wänden von üppigem Grün bedeckte große Doline hinab,
in der sich unter der Tomasinibrücke der Rekafall in prächtigem Bogen zur
Tiefe stürzt. Bald dringen wir in einen engen und feuchten Gang ein, brennen
Lichter an und befinden uns nun auf einer Kanzel, der Oblasser Warte, in
finsterer Klamm, aus deren Hintergrund die Neka tosend und wirbelnd an uns
vorbeischäumt und dem großen Wasserfall zueilt. In der Tominzhöhle haben
wir Gelegenheit, uns aus dem Schwemmlehm eigenhändig einige Knochen des
Höhlenbären auszuhacken, gehn dann über den in die steile Wand eingehauenen
Plenkersteig und Pazzeweg zu der Schmidlgrotte, die am Grnnde der Doline
liegt, und in deren Mitte ein großer, grüner Efenbusch an einer einzelnen
Ranke, einer Ampel gleich, herabhängt. Hier liegen Boote, Flöße, Taue,
Haken uslv. für weitere Entdeckungsfahrten aufbewahrt. Wir setzen unsre
Fackeln in Brand, folgen nun unterirdisch der Reka und gelangen zunächst zu
der Brunnengrotte, so benannt nach den vielen von Tropfstein terrassenförmig
übereinander aufgebauten Becken, die sich beim Fackelschein in blendender Weiße
zeigen. Weiter zum Rudolfsdom, einer großartigen Felsenhalle, deren Kuppel
von unserm Lichtschein kaum erreicht wird. Der Führer zeigt uns durch das
Riesenfenster die hier glatte, von ihm beleuchtete Wasserfläche, und wir dringen
über die Teufelsbrücke noch bis zum Belvedere vor, vou wo wir ein auf einem
Schwimmer befestigtes Licht dem unbekannten Orkus zutreiben lassen. Inter¬
essant, höchst interessant müssen die Forschungstouren der Herren Entdecker
sein, nach denen die einzelnen Punkte auch meist benannt sind. Oft muß man
unter einer von oben bis ziemlich an die Wasserfläche reichenden Querwand,
flach mit dem Bauche auf dem Floße liegend, wegschwimmen, sodaß das Floß
noch unter Wasser gedrückt wird, wobei die vorn angebrachte Laterne verlöscht.
Prächtige Tropfsteingebilde, in der Ferne rauschende Wasserfälle und verhallende
Akkorde der menschlichen Stimme in den unterirdischen unbekannten Räumen
regen Herz und Hand zu neuer Erforschung an, wenn auch den kühnen Ein¬
dringlingen manchmal stundenlang der Rückweg versperrt bleibt, da die Reka
inzwischen durch plötzlichen Gewitterregen in kurzer Zeit fußhoch steigt, und so
das Fallen des Wassers erst wieder abgewartet werden muß. Wir kehren
zurück nach Divaca, übernachten hier und besuchen am zweiten Pfingstfeiertag
das große Grottenfest in Adelsberg, wobei die Adelsberger Grotte außer dem
elektrischen Licht noch von mehreren tausend Lichtern und Lämpchen erleuchtet
ist. Ein recht lebhaftes Treiben herrscht in dem in grüner Karstebne einge¬
betteten Adelsberg. Tausende von Menschen sind herbeigeströmt, Verkaufs¬
stände und Trinkzelte sind allerorten aufgebaut. Um drei Uhr Nachmittags
wird die Grotte geöffnet. Ein bequemer breiter Pfad führt ein wenig geneigt
bergab, bald sind Auge und Ohr gefesselt von dem feenhaften Anblick der über
die rauschende Poll führenden illuminierten Brücke. Es ist ein eigentümliches,
fast märchenhaftes Bild: im hochgewölbten Dom schreitet man dahin, das
Wasser, das der Finsternis entspringt und nach kurzem Lauf auf der andern
Seite im Dunkel verschwindet, rauscht, rings um uns die staunende Menge,
und dazu die grotesken Felsgebilde, die als Stalaktiten von der Decke herab¬
hängen oder als Stalagmiten vom Boden emporwachsen. Bergauf, bergab geht
die Wanderung, bald schallt ferne Musik zu uns herüber, und wir betreten den
großen Tanzsaal, worin zwei Musikkorps ihre lustigen Weisen ertönen lassen,
alles, was sich nicht am Bier labt, zum Tanz auf dein Kiesboden einladend.
In geradezu musterhafter Ordnung bewegt sich der Menschenstrom immer nur
in einer bestimmten Richtung, und so treffen wir nach zweieinhalbstündiger
Wanderung wieder auf der Erdoberfläche ein. Um sieben Uhr gedachten wir
nach Venedig abzureisen. Eine Festung konnte jedoch nicht ärger belagert sein
als der Bahnhof in Adelsberg. Nachdem wir den lebensgefährlichen Versuch
gemacht hatten, die einzige Billettkasse von vorn zu nehmen, umgingen wir sie
und drangen zum Entsetzen des Billettcurs lind Inspektors von hinten direkt
in das Bureau ein, nicht eher von der Stelle weichend, als bis wir unsre
Billetts hatten. Hinter uns wurde auch die Hintertür zugemacht. Wohl fünf¬
mal pfiff unser Zug ab, ohne fortzufahren, und es ist ein Wunder zu nennen,
daß bei diesem Durcheinander von Menschen und Bahnzügen kein Unglück
geschah. Die Nacht war bitterkalt, die Coupes vollgepfropft, und dabei hatten
wir die Aussicht auf eine zwölfstündige Fahrt. In Görz ist kurzer Aufenthalt,
endlich tagt der Morgen, wir fahren an grünen Weingärten, in denen sich die
Rede von Pfahl zu Pfahl, vou Baum zu Baum schlingt — es ist der soge¬
nannte Pergola- oder Laubenbau —, vorüber und über die nördliche Lagune
auf der 3800 Meter langen Eisenbahnbrücke in den Bahnhof von Venedig
ein. Bald sitzen wir wohlgemut in einer der vielen von zwei Gondolieren
stehend geruderten Wasserdroschken, die uns zum Hotel Bauer-Grünwald bringt.
Nach drei glücklich verlebten Tagen brachte uns der Dampfer Archiducessa
Carlotta nach Triest zurück, vou wo aus wir mit dem Schnellzug die Heimreise
über Wien nach dem Norden antraten.
»folge eines Zwischenfcills mußte der Prediger der Wesleygemeinde
seine Ankunft aufschieben, und ein junger Mann kam vorübergehend
zu seiner Vertretung. Am 13. Januar 1837 war es, als dieser
junge Geistliche, Herr Stockdcile, seinen bescheidnen Einzug ins Dorf
hielt, niemand bekannt und fast von niemand gesehen. Doch nachdem
die Einwohner, die sich das Ansehen gaben, mit ihm in Verbindung
zu stehn, ihn naher kennen gelernt hatten, waren sie mit dem Stellvertreter ganz
wohl zufrieden, obschon er bisher kaum ausreichende Charakterfestigkeit erworben
haben konnte, den hundertundvierzig reinblütigen Methodisten, die um jene Zeit in
Nieder-Moynton lebten, das Gewissen zu festigen. Obendrein sollte er auch noch
der Mischrasse, die Morgens in die Kirche und Abends, oder wenn Teenbend war,
in die Kapelle ging, Stecken und Stab sein — das waren alles in allem huudcrt-
nndzehn Seelen mehr, den Küster auch noch mit eingerechnet, besonders zur
Winterszeit, wenn der anglikanische Vikar der Dunkelheit wegen nicht nachsehen
konnte, wer um sieben Uhr die Straße hinaufging — worum er sich freilich,
wenn man gerecht sein will, niemals kümmerte.
Infolge dieses Durcheinanders der Bekenntnisse entstand unter dem Landadel,
der ein wenig schwer von. Begriffen war, die berühmte Streitfrage über die Be¬
völkerungsziffer von Nieder-Moynton: wie es zugehn könne, daß ein Kirchspiel
mit dreihundert mündigen, strengen Bekennern der bischöflichen Kirche und beinahe
zweihundertsechzig majorennen Nonkonformisten alles in allem knapp vierhundert¬
undvierzig Erwachsne zählte?
Da der junge Mann eine angenehme Persönlichkeit war, so zeigten sich die
Mitglieder der Gemeinde, mit denen er in Berührung kam, einstweilen geneigt,
die ernstere Frage seiner ausreichenden Befähigung beiseite zu schieben. Man sagt,
daß er damals einen freundlichen Blick hatte, in dein jedoch keine Spur von Leicht¬
fertigkeit war, dazu gelocktes Haar, einen hohen Wuchs — kurz, er war ein sehr
liebenswerter Jüngling, der seine weiblichen Zuhörer für sich gewann, sobald sie ihn
sahen und hörten, und von dem sie sehr bald sagten: Warum haben wir das nicht
gewußt, ehe er kam! Dann hätten wir ihn freundlicher empfangen!
Tatsache war: sie und die übrige Gemeinde von Nieder-Moynton erwarteten
in dem Bewußtsein, daß er nur aushilfsweise gewählt worden war, weder von
seiner Person uoch von seiner Lehre etwas Bemerkenswertes, und deshalb war ihnen
sein Kommen fast so gleichgiltig, als wenn sie die eifrigsten Kirchgänger im ganzen
Lande gewesen wären, und er ihr ordinierter, für sie angestellter Pfarrer. Als
Stockdale den Fuß ins Dorf setzte, hatte darum niemand eine Wohnung für ihn
besorgt, und obschon er sich auf der Reise einen argen Schnupfen geholt hatte,
mußte er wohl oder übel selber Umschau halten. Auf seine Nachfrage erfuhr er,
daß die einzig mögliche Wohngelegenheit im Dorfe am obern Ende der Straße im
Hause einer Frau Lizzy Newberry zu finden war.
Ein halbwüchsiger Junge gab ihm diese Auskunft, worauf ihn Stockdale fragte,
wer diese Frau Newberry sei.
Der Knabe erwiderte, sie sei eine Witwe, die keinen Mann hätte, weil der
tot wäre. Herr Newberry, fügte er hinzu, sei ganz wohlhabend gewesen, ein
Farmer, aber er wäre an der Auszehrung gestorben. Was Frau Newberrys
religiöse Meinung betraf, so erfuhr Stockdale, daß sie zu den Wetterwendischen ge¬
hörte und sowohl die Kirche als die Kapelle besuchte.
Ich werde dahin gehn, sagte Stockdale in dem Gefühl, daß er nicht besser
wählen konnte, weil kein Quartier bei einem strenggläubigen Methodisten vor¬
handen war.
Sie ist ein bißchen wunderlich und will keine Beamten oder Ps/irrer und
Pfarrersfreunde und solche Leute haben, sagte der Junge unsicher.
O, das kann ein gutes Zeichen sein, ich werde mal hingehn. Oder nein,
spring du mal hinauf und frag sie erst, ob sie ein Zinnner für mich hätte. Ich
muß noch ein paar Besuche in einer andern Angelegenheit machen. Dn triffst mich
da unten beim Krämer.
Nach einer Viertelstunde kam der Junge zurück mit dein Bescheide, daß Frau
Newberry nichts dagegen hätte, ihn aufzunehmen, worauf Stockdale hinging. Das
Haus war vou eiuer Hecke umgeben und schien geräumig und bequem. Er sah
eine ältliche Frau, mit der er perabredete, uoch an demselben Abend zu kommen,
da kein Wirtshaus am Ort war, und er sobald als möglich eine feste Wohnung
haben wollte.
Das Dorf war der lokale Mittelpunkt, von wo aus er sogleich die ver-
schiednen kleinen Kapellen der Umgegend aufzusuchen hatte. Er schickte also sein
Gepäck vom Krämer zu Frau Newberry herauf und begab sich am Abend in sein
einstweiliges Heim.
Da er nun dort wohnte, hielt Stockdale es für überflüssig, anzuklopfen, und
bei seinem leisen Eintreten hatte er das Vergnügen, jemand mit leichten Tritten
wie eine Maus in den hintern Teil des Hauses forthuschen zu hören. Er ging
in die Wohnstube, wie das Vorderzimmer genannt wurde, obwohl sein Steinfu߬
boden nur ungenügend vom Teppich bedeckt wurde, nud unter den Möbeln sand¬
bestreute kahle Stellen blieben. Dennoch machte das Zimmer einen warmen, trau-
lichen Eindruck. Hell flackerte der Feuerschein auf den gebauchten Formen der
Tischbeine, spielte auf Messingknöpfen und Klinker und breitete sich in voller Glut
über die untere Fläche des Kaminsimses. Ein geräumiger, roßhaargepolsterter Arm-
stuhl, mit unzähligen Reihen von Messingnägeln verziert, war seitwärts neben den
Kamin gerückt. Teegerät stand auf dem Tisch, der Deckel des Teetopfes war offen,
und eine kleine Klingel war genau auf die Stelle gelegt worden, nach der jemand,
der im Lehnstuhl saß, instinktiv die Hand ausstrecken mochte.
Stockdale, der nach kurzem Umschauen soweit nichts gegen das Zimmer ein¬
zuwenden hatte, nahm Platz und setzte die Klingel in Bewegung. Ein kleines
Mädchen schlüpfte darauf hinein und brüske ihm Tee auf. Sie heiße Martha Sara
und wohne da draußen, sagte sie, wobei sie mit dem Kopf die Richtung der Straße
und des Dorfes im allgemeinen bezeichnete. Ehe Stockdale viel von seinem Mahl
gegessen hatte, klopfte es an der Tür hinter ihm, und auf sein Herein veranlaßte
ihn das Rascheln eines Frauenkleides den Kopf zu drehen. Er erblickte eine schöne,
überaus ebenmäßig gewcichsne junge Frau mit dunkeln: Haar, breiter Stirn, deren
schöne Wölbung auf Verstand deutete, Augen, die ihn durchwärmten, ehe ers wußte,
und einem Munde, der für alle Kenner schon an und für sich ein liebliches Ge¬
mälde war.
Kann ich Ihnen noch irgend etwas andres zum Tee besorgen? fragte sie,
ein paar Schritte vortretend, während ihre Züge lebendig spielten und ihre Hand
die Tür bet der Kante hin und her bewegte.
Nichts, danke sehr, sagte Stockdale, der weniger an seine Antwort als daran
dachte, in welcher Beziehung zum Hause sie stehn «kochte.
Ganz gewiß nicht? sagte die junge Frau, augenscheinlich im Bewußtsein, daß
seine Antwort nicht überlegt war.
Er sah gewissenhaft nach dem Teegerät und fand alles vollzählig. Ganz gewiß
nicht, Fräulein Newberry, sagte er.
Frau Newberry, gab sie zurück. Lizzy Newberry, früher Lizzy Simpkins.
O, ich bitte um Entschuldigung, Frau Newberry. Ehe er Gelegenheit gehabt,
mehr zu sagen, hatte sie das Zimmer verlassen.
Stockdale blieb in Zweifeln zurück, bis Martha Sara den Tisch abräumen
kam. Wem gehört dieses Hans, mein kleines Hnnsmütterchen? fragte er.
Frau Lizzy Newberry, Herr Prediger.
Dann ist die alte Dame, die ich heut Nachmittag sah, nicht Frau Newberry?
Nein, das ist Fron Newberrys Mutter. Die jetzt eben zu Ihnen reinkam,
war Frau Newberry, weil sie sehen wollte, ob Sie hübsch wären.
Später, am Abend, als Stockdale eben mit dem Abendbrot anfangen wollte,
trat sie wieder ein. Ich komme selbst, Herr Stockdale, sagte sie. In Anerkennung
dieser Ehre stand der Geistliche auf. Ich fürchte, die kleine Martha kann sich
nicht verständlich ausdrücken. Was wollen Sie zu Abend essen? Kalter Kaninchen¬
braten ist da und ein ganzer Schinken.
Stockdale antwortete, er könne mit diesen Speijen recht gut auskommen, und
es wurde gedeckt. Er hatte noch keine Scheibe abgeschnitten, als es wieder tapp¬
tapp an die Tür klopfte. Der Prediger hatte schon diesen besondern Rhythmus
als von den Fingern seiner entzückenden Wirtin herrührend unterscheiden gelernt,
und seinem Schicksal verfallen, schluckte der junge Mann den ersten Bissen mit
einem Blick erwartungsvoller Sanftmut hinunter.
Wir haben auch ein Kücken, Herr Stockdale — ich habe ganz vergessen, es
Ihnen zu sage». Vielleicht wünschen Sie, daß Martha Sara es bringt?
Stockdale hatte es in der Kunst, ein junger Mann zu sein, weit genug ge¬
bracht, um ihr zu antworten, er wolle das Kücken nicht haben, wenn sie es nicht
selbst brächte. Aber als es heraus war, errötete er über die kecke Galanterie seiner
Worte, die für einen ernsten Mann, einen Geistlichen vielleicht ein wenig zu weit
gingen. Nach drei Minuten erschien das Kücken, doch zu seiner großen Über¬
raschung nur in den Händen Martha Saras. Stockdale war enttäuscht, was
vielleicht auch beabsichtigt gewesen war.
Er war mit dem Abendbrot fertig und ahnte nicht im geringsten, daß er
Frau Newberrh an diesem Abend noch zu scheu bekommen würde, als sie wie
vorher klopfte und eintrat. Stockdales befriedigter Blick sagte ihr, daß sie durch
ihr Nichterscheinen, als sie erwartet wurde, nichts verloren hatte. Der Schnupfen,
an dem der junge Herr litt, war im Laufe des Abends schlimmer geworden, und
ehe sie noch ein Wort gesprochen hatte, wurde er von heftigen! Niesen befallen,
das zu unterdrücken ihm unmöglich war.
Frau Newberrh sah sehr mitleidig aus. Ihr Schnupfen ist zum Abend aber
schlimm geworden, Herr Stockdale.
Stockdale erwiderte, er sei recht lästig.
Und ich denke so — fügte sie mutwillig hinzu und sah auf das wenig ein¬
ladende Glas Wasser auf dem Tisch, das der Geistliche, ein Gegner des Alkohols,
trinken wollte.
Ja, Frau Newberrh?
Ich denke. Sie sollten etwas trinken, was Ihnen heilsamer ist als das kalte
Zeug da.
Ja, sagte Stockdale und sah das Glas an, da kein Wirtshaus hier am
Ort ist, und man im Dorf auch nichts Besseres bekommt, so wird dies genügen
müssen.
Worauf sie entgegnete: Es gibt etwas Besseres, gar nicht weit ab, wenn
auch nicht gerade im Hause. Ich meine wirklich, Sie müssen es versuchen, Sie
könnten sonst krank werden. Ja, Sie sollen es auch, Herr Stockdale. Sie hob
den Finger, als sie sah, daß er reden wollte. Fragen Sie nicht, was es ist; warten
Sie, und Sie werden sehen.
Lizzy ging hinaus, und Stockdale wartete in angenehmer Stimmung. Sie
kehrte gleich darauf in Hut und Mantel zurück und sagte: Es tut mir schrecklich
leid, aber Sie müssen mir helfen, es zu holen. Mutter ist zu Bett. Wollen Sie
sich ordentlich einwickeln und mitkommen und bitte den Becher da mitbringen?
Stockdale, ein einsamer junger Mensch, den es seit Wochen nach jemand ver¬
langt hatte, dem er seine überschüssige Teilnahme, seine Zuneigung schenken könnte,
war mit Freuden bereit, mit ihr zu gehn. Er folgte seiner Führerin durch die
Hintertür in den Garten, dann in den Grund, wo eine Mauer die Grenze
bildete^ Sie war niedrig, und auf ihrer andern Seite unterschied Stockdale im
nächtlichen Schatten mehrere graue Grabsteine und die Umrisse von Kirchendach
und Turm. ^7-! , ^ > -
( So ist es ganz leicht hinaufzukommen, sagte sie und stieg auf eine Bank, die
dicht an der Mauer stand; dann setzte sie den Fuß oben auf die Steine und
sprang hinunter nach der andern Seite, wo der Erdboden höher lag, wie es bei
Kirchhöfen oft der Fall ist. Stockdale tat dasselbe und folgte ihr im Dunkeln über
den unebnen Grund bis zur Turmtür, die sie, nachdem beide eingetreten waren, leise
hinter ihnen schloß.
Sie können doch ein Geheimnis bewahren? fragte sie mit melodischer Stimme.
Wie ein eiserner Kasten! versicherte er voll Inbrunst.
Darauf holte sie unter ihrem Mantel eine kleine brennende Laterne hervor,
die der Prediger bisher gar nicht bemerkt hatte. Das Licht zeigte ihnen, daß sie
dicht an der Chortreppe standen, unter deren Stufen ein Haufen Gerümpel aller
Art lag, verwitterte Verschaluugen, Kirchenstühle, Holztäfelungen, Dielenteile, die
von Zeit zu Zeit von ihrem ursprünglichen Platz im Gebäude entfernt und durch
neue ersetzt worden waren.
Vielleicht ziehen Sie ein paar von diesen Brettern weg? sagte sie, die Laterne
über ihrem Kopf haltend, um ihm besser zu leuchten. Oder wollen Sie die Laterne
nehmen? Dann bringe ich sie beiseite. '
O, ich kann schon, sagte der junge Pfarrer und tat, wie sie angeordnet hatte. Zu
seiner Überraschung kam dabei eine Reihe kleiner Fässer mit hölzernen Reifen zum
Vorschein, jedes Faß ungefähr so groß wie die Rabe eines schweren Wagenrades.
Als sie freigelegt waren, heftete Lizzy die Augen auf ihn, als wenn sie gespannt
wäre, was er nun sagen würde.
Sie wissen, was das ist? fragte sie, da er nicht sprach.
Ja, Fässer, sagte Stockdale einfach. Er kam ans dem Binnenlande, war der
Sohn hochachtbarer Eltern und einzig und allein für den geistlichen Beruf er¬
zogen; deshalb gab dieser Anblick keinem andern Gedanken Folge, als daß solche
Gegenstände da waren. >
Ganz recht, es sind Fässer, sagte sie in absichtlich harmlosen Ton, der nicht
ganz frei von Ironie war. ^ .
Stockdale sah sie mit plötzlichem Zweifel an. Doch nicht geschmuggelte spiri¬
tuösen? fragte er.
^.Ja, sagte sie. Es sind Rumfässer, die^ durch Zufall in der .Nacht von Frank¬
reich herübergekommen sind. ^
/ In Nieder-Moynton und Umgebung lächelte man um jene Zeit über das
Vergehen, das die Außenwelt ungesetzlich nannte, und diese kleinen Schnaps- und
Branntweinfäßchen waren den Einheimischen so gut bekannt wie Kohlrüben. So
schien Stockdales unschnldsvolle Verständnislosigkeit und sodann, nachdem er das
finstere Geheimnis erraten hatte, sein erschrockner Blick Lizzy zuerst lächerlich zu
berühren, sie dann aber in Verlegenheit zu setzen, da sie doch einen guten Eindruck
auf ihn zu machen wünschte.
Einige Leute schmuggeln hier noch, sagte sie in sanftem, entschuldigenden Ton.
Seil Generationen ists bei ihnen Sitte gewesen, und sie denken sich nichts schlimmes
dabei. Wollen Sie nun eins der Fässer herüberrollen?
Was soll damit geschehen? fragte der Prediger.
Wir wollen ein bißchen abzapfen, um Ihren Schnupfen zu kurieren, antwortete
sie. 's ist solch verflixt starkes Zeug, daß ein Schnupfen im Nu davor Reißaus
nimmt. O, es ist alles in Ordnung, wir dürfen davon nehmen. Ich kann haben,
was ich will, der Besitzer der Fässer sagt so. Ich hätte ein paar im Hause haben
sollen, dann brauchte ich Ihnen nicht soviel Mühe zu machen; aber ich trinke selbst
nichts, und da vergesse ich denn, welche zurück zu behalten.
Ich vermute, Sie dürfen davon nehmen, damit Sie nicht verraten, wo das
Versteck ist?
Ach nein, das gerade nicht; aber ich kann davon holen, wenn ich es brauche.
Greifen Sie mir zu.
Ich will, Ihnen zu Gefallen, weil Sie dazu berechtigt sind, murmelte der
Prediger. Und obwohl er mit seiner Rolle nicht ganz einverstanden war, rollte er
eins der Tönnchen aus dem Winkel in die Mitte des Raumes.
Wie wünschen Sie, daß ich es herauskriege, vielleicht mit einem Nagelbohrer?
Nein, ich werde es Ihnen zeigen, sagte seine interessante Gefährtin und hielt
ihm mit der andern Hand einen Schusterpfriemen und einen Hammer hin.
So etwas darf man nie mit einem Bohrer tun, weil Holzstaub nach innen
fällt, und daran merken die Käufer, daß das Faß angezapft worden ist. Ein
Pfriem macht keinen Staub, und die Öffnung schließt sich nachher beinah ganz.
Treiben Sie einen der Reifen zurück.
Stockdale nahm den Hammer und tat es.
Nun machen Sie das Loch auf dem Streifen, wo der Reifen gesessen hat.
Er machte das Loch, wie sie geheißen hatte.
Es will nichts herauskommen, sagte er.
O doch, es wird, sagte sie. Nehmen Sie das Fäßchen zwischen die Knie und
drücken Sie gegen die Boden. Ich werde den Becher unterhalten.
Stockdale gehorchte, und infolge des Druckes auf das Faß, das düuuwmidig
zu sein schien, spritzte der Rum in einem Strahl heraus. Als der Becher gefüllt
war, hörte er auf zu drücken, worauf der Abfluß sofort versiegte.
Jetzt müssen wir das Tönnchen mit Wasser ausfüllen, sagte Lizzy, sonst gluckst
es beim Transport wie vierzig Hennen und verrät, daß es nicht voll ist.
Aber Sie sagen doch, Sie dürfen davon nehmen?
Ja, die Schmuggler; aber die Käufer dürfen nicht wissen, daß die Schmuggler
auf ihre Kosten unblutig gewesen sind.
Ich verstehe, sagte Stockdale unsicher. Die Ehrlichkeit dieses Verfahrens er¬
scheint mir mehr als fragwürdig.
Auf ihre Anordnung hielt er das Tönnchen mit der Öffnung nach oben, und
während er abwechselnd drückte und nachließ, holte sie eine mit Wasser gefüllte
Flasche heraus, nahm einen Mund voll nach dem andern und filtrierte diese allmählich
ins Fäßchen, indem sie ihre reizenden Lippen an das Loch legte, wo die Flüssigkeit
beim jedesmaligen Aufhören des Druckes aufgesaugt wurde. Als es wieder gefüllt
war, verschloß er die Öffnung, trieb den Reifen an Ort und Stelle und versteckte
das Faß wieder unter dem Gerümpel wie vorher.
Haben die Schmuggler keine Angst, daß sich weitersagen? fragte er, als sie
über den Kirchhof zurückgingen.
O nein; davor haben sie keine Angst. Das könnte ich gar nicht.
Man hat Sie in eine sehr unangenehme Lage gebracht, sagte Stockdale nach¬
drücklich. Als ehrlicher Mensch müssen Sie natürlich manchmal fühlen, daß es Ihre
Pflicht wäre, Anzeige zu machen — wirklich, das müssen Sie.
Ach, ich habe das nie für meine Pflicht gehalten; und außerdem hat mein
erster Mann — sie stockte etwas verwirrt. Stockdale war so harmlos und un¬
erfahren, daß er nicht sogleich wußte, warum sie innehielt. Schließlich begriff er
aber, daß ihr die Worte unversehens entschlüpft waren, und daß keine Frau zufällig
von ihrem „ersten Mann" gesprochen haben würde, wenn sie nicht ziemlich oft an
einen zweiten gedacht hätte. Er hatte Mitgefühl mit ihrer Verlegenheit und ließ
ihr Zeit, sich zu fassen und fortzufahren. Mein Mann, sagte sie in gesetztem Ton,
wußte von ihrem Treiben, ebenso mein Vater, und sie bewahrten das Geheimnis.
Ich kann in der Tat niemand anzeigen.
Ich sehe, wie schwierig es ist, fuhr er fort, nach Art eines Mannes, der tief
in die Moral der Dinge eindringt. Und es ist sehr hart, daß Sie zwischen Ihren
Erinnerungen und Ihrem Gewissen hin und her geworfen und gemartert werde».
Ich hoffe inständig, Frau Newberry, daß Sie bald einen Ausweg aus dieser un¬
angenehmen Lage finden werden.
Augenblicklich sehe ich keinen, murmelte sie.
Mittlerweile waren sie über die Mauer geklettert und wieder ins Haus
gegangen, worauf sie ihm ein Glas und heißes Wasser brachte und ihn seinen Be¬
trachtungen überließ. Er sah ihrer entschwindenden Gestalt nach und fragte sich,
ob er als achtbarer Mann, als Geistlicher und leuchtendes Licht — wenn auch nur
vou der Qualität der Dreierkerzen — in solchem Tun ganz gerechtfertigt wäre.
Ein Niesen entschied die Frage. Nachdem das feurige Getränk durch den Zusatz
einer zwei- bis dreifachen Menge Wasser verdünnt worden war, sand er darin eine
der angenehmsten Kuren für Schnupfen, die er je kennen gelernt hatte, besonders
dn es in der kalten Jahreszeit war.
So saß Stockdale wohl zwanzig Minuten lang im Lehnstuhl, nippend und
nachdenkend, bis schließlich die Dinge ein freundlicheres Ansehen bekamen, und er
den Morgen herbeisehnte, wo er Frau Newberry wiedersehe» würde. Dabei fühlte
er, daß dieses Morgen im chronologischen Sinne zwar nicht weit, aber für seine
Gefühle doch sehr fern war, und darum ging er ruhelos im Zinnner auf und ab.
Da siel sein Blick auf ein Sticktuch unter Glas und Rahmen, auf dem, von einem
fortlaufenden aus Tannenbäumen und Pfauen gebildeten Ornament umgeben, der
folgende niedliche Vers eingestickt war:
Das ist ihres, sagte er für sich. Himmel, wie gern mag ich diesen Namen!
Ehe er fertig war, darüber nachzudenken, daß von Abigail bis Zenobia kein
andrer Name so gut für seine junge Wirtin gepaßt haben würde, klopfte es wieder
tapptapp an die Tür. Der Prediger fuhr zusammen, als ihr Gesicht noch einmal
zum Vorschein kam; dabei sah es so gleichmütig aus. daß der schärfste Beobachter
nicht hätte behaupten können, sie sei gekommen, um mit ihren verführerischen Augen
seine Gefühle in Aufregung zu bringen.
Wünschen Sie Feuer in Ihrem Zimmer, Herr Stockdale. weil Sie doch so
erkältet sind?
Der Prediger, den sein Gewissen noch ein wenig plagte, weil er ihr geholfen
hatte, den Rum zu verwässern, sah hier ein Mittel zur Selbstkasteiung. Nein, ich
danke Jhre». sagte er bestimmt; es ist nicht notwendig. Ich bin von klein an nicht
daran gewöhnt, und man darf sich nicht zu sehr gehn lassen.
Dann will ich nicht darauf bestehen, sagte sie und verschwand zu seiner Ent¬
täuschung sogleich.
Er zerbrach sich den Kopf, ob seine Weigerung sie geärgert hätte, und wünschte,
er hätte sich für das Feuer entschieden, selbst wenn ihn die Hitze aus dem Bett
getrieben und seine Selbstzucht für ein Dutzend Tage gefährdet haben würde. Jedoch
tröstete er sich mit der Vorstellung, daß er unter demselben Dach mit Lizzy sei, für
einen Liebenden in der Tat ein seltener Trost. Wenn er den Begriff Mieter poetisch
auffaßte, war er ihr Gast; und morgen würde er sie ganz gewiß wiedersehen.
(Fortsetzung folgt)
Wie es nicht anders sein kann, bewegen sich alle politischen Erörterungen
jetzt hauptsächlich in Betrachtungen über den Ministerwechsel im Reich und in
Preußen. Über die Bedeutung dieses Personenwechsels kann natürlich nirgends ein
Zweifel bestehen. Fürst Bülow hat die vollständige Einheitlichkeit und Stetigkeit seiner
Politik und seinen festen Entschluß, auf dem eingeschlagnen Wege bleiben zu wollen,
bekundet und ist überall richtig verstanden worden, auch da, wo man sich die größte
Mühe gibt, den Anschein zu erwecken, als habe man ihn nicht verstanden.
Ist man über die Bedeutung dieser Entscheidungen klar, so wird man auch
bei der Frage nach ihrer Notwendigkeit auf eiuen ganz bestimmten Standpunkt ver¬
wiesen sein. Politische Maßregeln lassen sich nicht nach allgemeinen Erwägungen,
sondern nur nach ihrem bestimmten Zweck beurteilen. Darum kann man es schmerzlich
bedauern, daß ein so ausgezeichneter Staatsmann wie Graf Posadowsky seiner bis¬
herigen Tätigkeit entzogen worden ist, und doch dabei vollkommen Würdigen, daß
Fürst Bülow nicht anders handeln konnte, wenn er nicht die Grundlagen seiner
Politik schwer gefährden wollte. Wie man diese Politik selbst bewertet, ist Ansichts¬
sache. Wir verkennen ihre Schwierigkeiten und bedenklichen Seiten nicht, und doch
meinen wir, daß sie gegenwärtig die einzig mögliche ist. Ein leitender Staats¬
mann in einem Verfassungsstaate kann nicht ohne weiteres in einem Sinne regieren,
der im Parlament nur durch eine Minderheit gestutzt weiden würde. Er kann das
am allerwenigsten bei Beginn seiner Amtsführung, wenn er nicht — wie einst
Bismarck— ganz besondre moralische Momente für sich hat, die sogar einen Ver¬
fassungskonflikt rechtfertigen. Es gehört aber auch ein Bisniarck dazu, einen solchen
Konflikt durchzukämpfen, und vielleicht hätte auch er es nicht gekonnt oder — richtiger
gesagt — überhaupt gar nicht versucht, wenn damals nicht der preußische Liberalismus
den schweren Fehler gemacht hätte, die geschichtliche Stellung des preußischen König¬
tums und die sich daraus ergebenden Folgerungen für den preußischen Volksgeist
gänzlich zu verkennen, und wenn Bismarck nicht in seiner genialen Weise voraus¬
gesehen hätte, daß gerade auf der Erhaltung dieser Momente der Erfolg für die
Zukunft ruhte. Die weitere Politik Bismarcks nach der Erkämpfung der deutschen
Einheit lehrt, daß auch er die Voraussetzungen eines Konflikts nicht wieder für ge¬
geben hielt. Er hat die parlamentarischen Mehrheiten und Möglichkeiten respektiert
und war der erste, der sich mit dem Zentrum verständigte, als die politischen Ver¬
hältnisse es erlaubten und die parlamentarischen es forderten.
Fürst Bülow war bei der Machtstellung, die das Zentrum im Reichstage
gewonnen hatte, darauf angewiesen, mit einer Mehrheit zu rechnen, deren be¬
deutendster Bestandteil das Zentrum war. Er selbst sah sich einer Reihe von
gesetzgeberischen Aufgaben gegenüber, die er sich nicht aus freier Wahl gestellt
hatte, sondern deren Lösung durch die Umstände in seine Hand gelegt worden war.
Er hat diese Aufgaben mit Hilfe der ihm gegebnen Reichstagsmehrheit gelöst, nicht
ohne die Mithilfe des Zentrums durch kleine Geschenke, die bekanntlich die Freund-
schaft erhalten, zu erkaufen. Dann aber mußte er darauf bedacht sein, das Reichs-
schisf in einen: festen Kurs zu steuern, für den er selbst die Verantwortung über¬
nehmen konnte. Danach sehnten sich die besten Kräfte im Reich; es war die
Bedingung künftigen Vertrauens. Bis dahin hatte man seine Geschicklichkeit erkannt
und gerühmt, aber das rechte Vertrauen war noch ausgeblieben. Zwei Klagen
waren es hauptsächlich, die für einen großen Bruchteil der nationalgesinntcn
Deutschen als Hindernis dazwischen standen. Die eine Klage beruhte darauf, daß
das Verhältnis des Reichskanzlers zum Zentrum gründlich mißverstanden wurde.
Auf Schwäche und persönliche Vorliebe wurde zurückgeführt, was in Wahrheit der
Forderung praktischer Staatszwecke entsprungen war. Die zweite Klage, die dem
Reichskanzler seine Tätigkeit erschwerte, ist durch die Schlagworte „Zickzackkurs"
und „Persönliches Regiment" bezeichnet. Man wollte damit sagen, daß man die
scheinbare Programm- und Prinzipienlosigkeit schwer empfand und sie darauf zurück¬
führen zu können glaubte, daß der Reichskanzler gegenüber der starken Persönlichkeit
des Kaisers nicht die normale Stellung eines Verantwortlicher Staatsmanns habe,
sondern sich einem stets wechselnden persönlichen Willen anpassen, infolgedessen auch
allerlei unberechenbare Einflüsse neben sich dulden müsse. Wir wollen hier nicht
darauf eingehen, worin der Irrtum und Fehler dieser weitverbreiteten Anschauung
steckte. Wir stellen hier nur ihr Vorhandensein fest, und zwar ihr Vorhandensein
in Kreisen, deren willige und vertrauensvolle Unterstützung und Mitarbeit der
Kanzler auf die Dauer nicht entbehren konnte.
Fürst Bülow konnte, ja mußte bei der Natur der ihm obliegenden Aufgaben
diese Klagen lange Zeit über sich ergehen lassen, ohne ihnen durch die Tat zu
begegnen. Dann aber kam die Zeit, wo er handeln mußte, wenn er nicht ans die
Bezeichnung eines Staatsmanns dauernd verzichten wollte. Er mußte der lähmenden
Verstimmung der nationalen Kreise über den immer stärker triumphierenden Ultra-
montnnismus ein Ende machen, und er mußte ferner zeigen, daß er nach wie vor
der Vertrauensmann des Kaisers und der Verantwortliche Leiter einer einheitlichen
und entschlossen auf ein Ziel gerichteten Politik sei. Das waren die beiden nächsten
Aufgaben, die es zu lösen galt.
Wie die erste gelöst worden ist, zeigt die Reichstagsauflösung. Man streitet
sich noch immer darum, ob Fürst Bülow auf den Bruch mit dem Zentrum lauge
hingearbeitet oder ob er nur die ihm durch fremdes Verdienst gebotne Gelegenheit
ergriffen hat. Auch hier wird wohl, wie es beim Staatsmann und Feldherrn die
Regel ist, die Wahrheit in der Mitte liegen: es ist nicht alles Zufall, was als
Zufall erscheint, aber auch nicht alles Berechnung. Der Entschluß für eine be¬
stimmte Richtung war gefaßt, aber unter den verschiednen Möglichkeiten der Aus¬
führung wurde ruhig auf die gewartet, die durch die Gelegenheit als die günstigste
geboten wurde. Wenn man aber auch annimmt, daß diese Gelegenheit den Reichs¬
kanzler selbst überraschte, so wird damit sein Verdienst kaum verkleinert. Denn
das entschlossene Zufassen bedeutete in diesem Augenblick immer noch sehr viel; es
zeigte sich darin jener Zusammenklang der eignen berechnenden Überlegung mit dem
allgemeinen Volksempfinden, der den echten Staatsmann kennzeichnet. Wer dieses
intuitive Erfassen des rechten Augenblicks versteht, behält in der Staatskunst fast
immer Recht, auch gegenüber einer sonst viel tiefer dringenden, intellektuellen Er¬
fassung der politischen Probleme. Das darf man bei Beurteilung des Konflikts
Bülow—Posadowsky nicht vergessen.
Nun galt es die zweite der beiden Aufgaben zu lösen, die für den Reichs¬
kanzler nach unsrer Meinung eine Notwendigkeit waren. Dies um so mehr, als
das Zentrum nach seiner Niederlage sehr richtig erkannt hatte, daß die ganze Reichs¬
tagsauflösung vergeblich bleiben werde, so lange er nicht auch den andern Teil
seines Plans verwirklicht hatte, das heißt den Beweis geliefert hatte, daß er der
wirkliche und alleinige Führer auf dem angekündigten Wege sei und die Zustim¬
mung des Kaisers für sich habe. Für den Fürsten Bülow gestaltete sich die Lage
geradezu gefährlich, wenn er auf halbem Wege stehn blieb. Denn die erbitterten
Gegner hatten mit Scharfblick die beiden schwachen Punkte erkannt, gegen die sie
ihr Geschütz richten konnten. Der eine schwache Punkt war die Schwierigkeit, den
bisherigen Kurs in der Sozialpolitik ohne das Zentrum beizubehalten, der andre
lag in dem Verhältnis der Reichspolitik zur preußischen. Hier waren allerdings
Schwierigkeiten zu überwinden, die aber keine unübersteiglichen Hindernisse waren,
sobald nur der Reichskanzler einen entschiednen Beweis seiner vollen Entschlossen¬
heit in dieser Richtung lieferte. Das Zentrum jedoch benutzte jedes kleine Symptom,
um Zweifel an dieser Entschlossenheit zu erregen und zu befestigen.
Unter solchen Umständen geschah es, daß der Hauptträger der Sozialpolitik
des Reichs, Graf Posadowsky, leider bei verschiednen Gelegenheiten allzu deutlich
merken ließ, daß er der neuen Parteikonstellation in kritischer Stimmung gegenüber¬
stand, wie es denn bekannt genug war, daß er die Reichstagsauflösung uicht
gebilligt und von den Neuwahlen nichts erwartet hatte. Nun hätte sich Graf
Posadowsky, der über die Grundsätze seiner Sozialpolitik mit dem Reichskanzler
nach wie vor einig war, gewiß trotz mancher Bedenken in die Lage gefunden, aber
er wurde bei der Eigentümlichkeit der Umstände, ohne es zu wollen und zum Teil
wohl auch ohne es zu wissen, das Werkzeug und die Hoffnung einer Fronde gegen
die neue Blockpolitik. Sorgfältig wurden in den Zeitungen alle kleinen Ab¬
weichungen seiner Anschauungen registriert, um daraus zu beweisen, daß Fürst
Bülow seine Politik gar nicht durchführen könne, weil sich Graf Posadowsky doch
stets auf das Zentrum stützen müsse. Wie weit Gegner des Fürsten Bülow außer¬
dem noch in der Stille und hinter den Kulissen geschäftig waren, den Gegensatz
der beiden Staatsmänner größer erscheinen zu lassen, als er wirklich war, und
politische Kreise glauben zu machen, Graf Posadowsky könne vielleicht den Fürsten
Bülow ersetzen, entzieht sich der öffentlichen Beurteilung und Nachprüfung. Tat¬
sache ist nur, daß sich dem Fürsten Bülow allmählich die Überzeugung aufdrängen
mußte, daß der Rücktritt des Grafen Posadowsky eine der Voraussetzungen sei,
wenn er der Welt beweisen wollte, daß er die Zügel wirklich in der Hand habe.
Dazu kam der Mißklang zwischen Reichspolitik und preußischer Politik, den
die Liberalen mit wachsender Unruhe, die Klerikalen mit Spott und Hohn ver¬
merkten. Hier lag die schwerste Gefahr für die Blockpolitik, und im preußischen
Ministerium saß ein Mann, der für diese Gefahr völlig unempfindlich schien. Das
Auftreten des Herrn von Stube im Abgeordnetenhause wurde von den Liberalen,
— wenn auch wohl nicht ganz mit Recht — dahin gedeutet, als wolle er sie in
einem Sinne provozieren, der die Blockpolitik direkt durchkreuzen, ihre Festigkeit
mindestens stark in Frage stellen mußte. So galt der Minister als Träger einer
Politik, die mit der im Reich eingeschlagnen Richtung schlechterdings unvereinbar
war. Es war überdies allgemein bekannt, daß sich gerade Herr von Stube der
besondern persönlichen Wertschätzung des Monarchen erfreute.
Hiernach waren für den Fürsten Bülow die Erfordernisse der Lage gegeben.
Nur die Entlassung der beiden Minister konnte eine Klärung bringen, wie er sie
brauchte. Nur ein Ministerwechsel, der die persönliche Entscheidung des Königs ent¬
hielt, konnte zugleich den unumstößlichen Beweis liefern, daß die Politik des Kanzlers
zugleich die des Monarchen war. Der Reichskanzler hat diesen Sieg über seine
Gegner erfochten. Graf Posadowsky und Herr von Stube sind gegangen, und
dem Nachfolger des Staatssekretärs, dem bisherigen Minister des Innern, Herrn
von Bethmann-Hollweg, ist das Vizepräsidium des preußischen Staatsministeriums
übertragen worden. Deutlicher konnte die Absicht dieser Entscheidungen nicht gezeigt
werden. Fürst Bülow steht jetzt an der Spitze eines preußischen Staatsministeriums,
das durchaus homogen seine Politik zu unterstützen geneigt ist, und der Vizepräsident
dieses Ministeriums, in Preußen ohne Portefeuille, ist zugleich der Leiter des wich¬
tigsten Reichsamts, mit dessen Staatssekretariat die allgemeine Stellvertretung des
Reichskanzlers verbunden ist. Damit ist die Grundlage hergestellt, die Fürst Bülow
brauchte, und die er erstrebt hat.
Die Parteien urteilen natürlich von ihrem Standpunkt aus anders. Sie fragen,
was sie von den neuen Männern im Sinne ihrer besondern Bestrebungen zu erwarten
haben. Die Konservativen können der ganzen Sachlage nach keine besondre Un¬
zufriedenheit zeigen; sie müssen sich um die Tntsache halten, daß die neuen Minister,
die alle keine ausgesprochnen Parteimänner sind, im allgemeinen von einer kon¬
servativen Anschauungsweise ausgehn. Freilich trauern sie Herrn von Stube auf¬
richtig nach, aber sie müssen abwarten, wie sich sein Nachfolger, Minister Holle,
mit den besondern Fragen, die ihnen am Herzen liegen, abfinden wird. Auch das
Zentrum kann gegen die neuen Männer nichts Wesentliches vorbringen, es kann
mir den Weggang ihrer Vorgänger möglichst für sich ausnutzen, und so sieht es
denn gegenwärtig nach der klerikalen Presse beinahe so aus, als sei Graf Posadowsky
ein echter und rechter Zentrumsmann gewesen, eine Auffassung, die nicht nur für
den cmsgeschiednen Minister selbst, sondern auch für die ganze politische Welt, soweit
sie sich noch nicht das Denken abgewöhnt hat, höchlich überraschend sein muß.
Bleibt noch die Stellung der Liberalen. Man sollte meinen, der Liberalismus
müßte erkennen, daß der Ministerwechsel ihm einen Weg bahnt, seine Lebensfähig¬
keit und Überzeugungskraft aufs neue zu zeigen. Dazu gehört freilich, daß man
aus einem großen Zusammenhange heraus die Richtung einer Entwicklung zu er¬
kennen vermag. Und tatsächlich scheu wir, daß die Liberalen, die diese Fähigkeit
haben, zufrieden sind und sich bereit zeigen, in Zukunft ihre Kräfte nach Möglich¬
keit einzusetzen, um ein liberales Regiment vorzubereiten. Daneben stehn freilich noch
die Schattierungen des Liberalismus, die nur zu vergleichen vermögen, ob die An¬
sichten der neuen Männer mit dem Parteikatechismus übereinstimmen, und danach
ihr Urteil sprechen. Für sie steht es natürlich fest, daß der Rücktritt des Grafen
Posadowsky die Abkehr von einer freiheitlichen Sozialpolitik bedeutet, und daß im
übrigen alles beim alten bleibt, weil die neuen Mitglieder des Ministeriums „kon¬
servativ" seien. Solchen Meinungen gegenüber bemerkte ein freisinniges, gut na¬
tionales Blatt mit Recht, daß es lieber eine liberale Politik durch konservative
Minister gemacht sähe, als eine konservative Politik, zu der sich liberale Minister
gezwungen sähen. Ein teilweise liberales Ministerium würde jetzt nur Verwirrung
schaffen und die Voraussetzungen der Blockpolitik zerstören. Nicht um eine liberale
Schwenkung, sondern um Festhalten der Blockpolitik handelt es sich. Diese aber
ist nur möglich, wenn zwar die konservative Grundrichtung beibehalten wird, aber
die starre Einseitigkett einer verbitternden, rückständigen, von Mißtrauen ans die
sich regenden neuen Kräfte erfüllten Regierungsweise vermieden wird, bestimmte,
Wohl erfüllbare Forderungen der Liberalen Berücksichtigung finden. Dieses Zurück¬
drängen der Strömungen, die im Volke mit einem viel gemißbrauchten Schlagwort
als „Reaktion" empfunden werden — ein Zurückdrängen, das durchaus noch im
Rahmen eines vernünftigen Konservatismus liegt —, ist allerdings die Bedingung
für das Zusammenwirken der Liberalen mit den Konservativen in allen den Fragen,
die die Ausschaltung der antinationalen Elemente wünschenswert machen. Darum
kann die Blockpolitik ohne praktische Zugeständnisse an den Liberalismus keinen Be¬
stand haben. Darin liegt eine starke Garantie für die Liberalen, die sich zur ehr¬
lichen Mitarbeit an dieser Politik entschließen. Sie ist zugleich eine gute Schule
für die Partei, die nur auf diesem Wege dazu kommen kann, ohne Preisgabe ihrer
Überzeugungen sich von ihrer Neigung zum Doktrinarismus zu kurieren und den
Weg aus der alten Scheuklappen- und Philisterpolitik früherer Tage zu einem
kräftigen, vorurteilsloser, mit Freiheitsbedürfnis und Individualismus wohl verein¬
baren Staats- und Nationalgefühl zu finden. Hier eröffnet sich gerade dem
Liberalismus die Aussicht auf eine große Zukunft und auf Wiedergeburt und Er¬
starkung
Ein starker Vorstoß ist neuer¬
dings gegen die so wagemutig organisierende und agitierende Idee der künstlichen
Hilfssprache des Esperanto gemacht worden, und zwar von einer Seite, die man
als die Antipodin jener Idee bezeichnen kann, von zwei Hauptvertretern der indo¬
germanischen Sprachforschung (K. Brugmann und A. Leskien, Zur Kritik der
künstlichen Weltsprachen. Straßbnrg. Trübner, 1907. 38 S. 80 Pf.). Antipoden
muß man sie nennen, insofern sie rückwärts gewandt an der Erschließung älterer
gemeinsamer Sprachformen und Sprachstufen theoretisch arbeiten, während die
Esperantisten vorwärts gewandt an der Herbeiführung einer jüngern gemein¬
samen Sprnchform praktisch arbeiten. Vergangenheit und Zukunft, Theorie und
Praxis steheu sich also hier schroff gegenüber. Kein Wunder daher, daß der histo¬
rische Sprachforscher den unhistorischen Sprachmacher und seine Bestrebungen rund¬
weg ablehnt, was Brugmann für die Idee der Weltsprachen im allgemeinen
(S. 5—29), Leskien für das Esperanto im besondern (S. 30—38) tut. Es kann
auch nicht anders sein: der streng historische Sprachforscher hat es nur mit der
Vergangenheit zu tun, selbst die Gegenwart ist ihm nur Mittel zum Zweck der
Kontrolle der historischen Entwicklung, die Zukunft der Sprache aber läßt ihn
vollends kalt. Für ihn genügt es, daß das Esperanto etwas Unorganisches ist,
um es als etwas Unmögliches zu bezeichnen: es gibt nur gewordne, keine gemachten
Sprachen.
Es gibt also zwischen beiden Anschauungen keine Versöhnung, und doch scheint
manchen eine solche denkbar zu sein: die Esperautisten tun im Grunde dasselbe
nach der einen Richtung, was die Indogermanisten — wenigstens früher — nach der
andern taten: wie diese aus den ältesten Formen der indogermanischen Sprachen
eine gemeinsame indogermanische Grundsprache konstruierten, so konstruieren die
Esperantisten aus den jüngsten Formen derselben Sprachen eine gemeinsame inter¬
nationale Kompromißsprache, und wenn dies den verschiednen Vertretern der Welt¬
sprachidee bisher nicht gelungen ist, so mögen sie sich damit trösten, daß ihren
Antipoden die Erfüllung ihres Ideals auch nicht beschieden war: es gibt so viel
indogermanische „Grundsprachen", wie es Forscher gab, die sich mit ihrer Auffindung
beschäftigten. Hier können die Esperantisten von den Fehlern der Indogermanisten
lernen.
Eine weitere Verständigung wäre möglich, wenn sich die Sprachforscher ent¬
schließen würden, die Ergebnisse aus den Sprachzuständen der Vergangenheit auf die
der Zukunft anzuwenden. Hier hätte für den Indogermanisten, der das ausdrücklich
ablehnt, der allgemeine Sprachpsychologe einzutreten, dessen Aufgabe es ist, die
großen psychischen Grundgesetze zu finden, die für die Sprachentwicklung maßgebend
sind, und diese für die Schaffung einer allgemeinen Zukunftssprache fruchtbar zu
machen. Besonders scheinen mir diejenigen Sprachpsychologen für die Entscheidung
der Frage, ob eine allgemeine Zukunftsmischsprache möglich sei, geeignet zu sein,
die sich mit den sogenannten Kreolensprachen beschäftigen, d. h. solchen, die
nicht durch organische, sondern durch unorganische Vorgänge entstanden sind. Darum
scheint es mir auch kein Zufall zu sein, daß sich unter den zünftigen Sprachforschern,
die für eine Weltsprache eintraten, gerade ein solcher befand, der besonders die
Kreolensprachen studiert hat, nämlich H. Schuchardt. Warum studieren also die
Esperantisten nicht die Kreolensprachen, ehe sie ins Blaue hinein ihren neuen
babylonischen Turm bauen?
Nach einer dritten Richtung hin wäre ein Verständnis möglich, wenn die
Indogermanisten sowohl wie die maßvollen unter den Esperantisten bedächten, daß
es sich nicht um eine wirkliche organische Sprache handelt, sondern um ein Hilfs¬
mittel zur praktischen Verständigung. Brugmcmn betrachtet, wie aus einem Satze
Seite 27 oben hervorgeht, das Esperanto so, als wolle es eine Sprache sein, die
mit den bestehenden Sprachen konkurrieren wolle. An dieser Auffassung sind freilich
die Esperantisten selbst schuld durch die Torheit, mit der sie Werke der dichterischen
Phantasie auf „esperantisch" wiedergeben zu können meinen. Gegen solche Ver¬
kennungen der innern Seite des Sprachlebens wendet sich Brugmann mit vollem
Recht und läßt das Esperanto nur gelten für den schriftlichen Verkehr in ge¬
wissen engern Sphären, wie im Handel, also jedenfalls nur da, wo es sich um
rein verstandesmäßige Mitteilungen handelt.
Das so in sein Recht eingesetzte, aber auch in seine Schranken verwiesene
Esperanto nähme also zu den wirklichen Sprachen eine ähnliche Stellung ein wie die
Stenographie zur historischen Schrift; es wird ein Notbehelf sein wie diese und
ebenso der beständigen Verbesserung und Vereinfachung bedürftig wie diese.
Ebensowenig wie Stolze und Babelsberger in ihren Systemen etwas unverbrüchlich
Giltiges und Festbestehendcs geschaffen haben, ebensowenig gilt dies auch für die
Weltsprachsysteme der Herren Schleyer und Zamenhof. Es mag zugegeben werden,
daß dieser sein System viel geschickter aufgebaut hat, entsprechend dem logischen
Prinzip möglichster Regelmäßigkeit und daher möglichst leichter Erlernbarkeit. Über
diese ist nun freilich Leskien andrer Meinung (S. 37s), und er hat durchaus
Recht, wenn er verschiedne Bildungen als überflüssig und manche geradezu M
verdreht bezeichnet, zum Beispiel xaärino für Mutter. An diesem Beispiel kann
man sich übrigens gut die Stärken und die Schwächen des Systems klar machen;
Logik und Psychologie liegen hier miteinander im Konflikt: rein logisch ist xaäriiio
vortrefflich entsprechend dem Prinzip möglichst weniger Stammbildungen und mög¬
lichst vieler Suffixbildungen. Zamenhof schließt offenbar so: im Latein haben wir
Wus — Mg,; im Griechischen «6e/>,f/,oL — «of/i^/, also warum soll das Esperanto
nicht bilden: x^Äro — xs.ärwc>? Der Fehler liegt aber hier im Psychologischen,
wie Leskien mit Recht hervorhebt (S. 34); denn es gibt keine Sprache und kann
keine geben, die die Mutter als eine Nuancierung des Vaters auffaßt. Hier liegen
die — psychologischen und praktischen — Schwächen des Systems deutlich zutage; denn
nur ein Mensch, der weder Sprachgefühl noch Sprachkenntnisse hat, kann mit dem
Wort x^äriko den Begriff „Mutter" verbinden, und nur der ganz mechanisch
Lernende wäre dazu imstande. Wollen sich aber die Esperantisten auf diese stützen? —
Sie wollen möglichst praktisch sein; das ist aber nur der, der sich nicht einer
Doktrin zuliebe von dem Natürlichen entfernt. Die Sprachmittel kann man ver¬
einfachen, aber nicht auf Kosten des Sprachgefühls. Manche Weltsprachler scheinen
übrigens schon bescheidner zu werden. So ist es immerhin zu beachten, daß sich
ein Philologe (E. Beermann) gegen das willkürliche Mischmasch des Esperanto ge¬
wandt hat, aber nicht nur theoretisch und negativ, sondern praktisch und positiv in
seinem NovilatiQ (Leipzig, 1907), worin er aus romanischen Mitteln eine allgemeine
Zukunftssprache konstruiert. Man wird sich aber nicht wundern dürfen, wenn
diesem Versuch demnächst ein RoviAsrirmn entgegengestellt wird, und wenn dieses
Eine Studie für Töchter¬
mütter. Ein angehender Fünfziger, der nebenbei glücklicher Ehemann und Vater,
aber nicht Tochtervater ist, bekommt obige Frage schon hier und da zu hören.
Nicht von den schlimmsten, sondern von guten, treuen, um das Wohl einer oft
wirklich liebenswerten Tochter besorgten Müttern, die darüber mit dem Verfasser
einig sind, daß eine gute Ehe nicht das einzige, aber das höchste und reinste Glück
für ein junges Mädchen ist. Nur von solchen Müttern und solchen Töchtern wollen
wir sprechen. Die Töchter sollen ausscheiden, die durch arge Charakterfehler oder
durch Mangel an Erziehung von vornherein jeden feiner Empfindenden abstoßen,
und auch die Mütter sollen hier ausscheiden, die durch Schroffheit, Unliebens-
würdigkeit, Geiz oder den Fluch der Lächerlichkeit den jungen Freier ihrer Tochter
abschrecken. Der werdende Freier, der das Mädchen schon liebgewann (vielleicht,
weil er es ohne die Mutter an fremdem Orte kennen lernte), läßt sich auch durch
dergleichen Mängel von Rechts wegen nicht mehr abschrecken.
Bei solcher Begrenzung des Kreises der Mütter und der Töchter wird auf obige
Frage meist die Antwort laut: „Einfach, weil sie kein Geld hat. Schlimm genug,
aber es ist so."
Gemach, gemach! Verfasser kennt liebenswürdige, wohlerzogne, wohlhabende
und kluge junge Damen, die auch in ihrem Aussehen keinen Wettbewerb zu scheuen
brauchten, deren Familie, der ersten Gesellschaft angehörend, in keiner Hinsicht und
in keinem Gliede zu bemängeln ist, aus deren Schwesternkreise gleichwohl nicht
eine geheiratet hat. Und er kennt mehr als eine Familie, deren Töchter zwar die
übrigen obengenannten Eigenschaften auch hatten, aber arm waren wie die Kirchen¬
mäuse, so arm, daß sie zum Teil nicht einmal eine Aussteuer erhalten konnten,
und die dessenungeachtet sämtlich, ohne Ausnahme, und zwar in frischester Jugend¬
blüte, im Brautkränze prangten. Das Geld allein tuts also Wohl doch nicht. Wo
blieben denn auch die — nach Behauptung erster Autoritäten nicht nur nicht aus¬
gestorbnen, sondern in Zunahme begriffnen — einzigen Söhne reicher Familien?
Sie heiraten — Gott sei Dank! — doch nicht alle erst nach Empfang genügender
Auskunft über den Vermögensstand des Schwiegervaters. Der unbegüterte junge
Mann verfährt mit Recht nach dem Worte: „Nicht nach Geld, aber auch nicht
ohne Geld"; bei dem reichen erweitert sich der Kreis der wählbaren jungen Damen
in großem Maße, und der Kluge wird hierin einen weitern Vorteil seines Reich¬
tums sehen.
Wo also liegt der Grund? Überwiegende Heiratsunlust der jüngern männ¬
lichen Generation? Verfasser hat den Eindruck, als ob, wie in manchen andern
Dingen, so auch hierin seit einigen Jahren eine Wendung zum Bessern eingetreten
wäre. Nicht mehr so häufig hört man am Biertisch, im Junggesellenkreise
Äußerungen, die materiellen Sinn und Hang zum Wohlleben als Grund der
Ehescheu erkennen lassen, und der Prozentsatz der verheirateten Männer scheint
mir auch in den Kreisen der ersten Gesellschaft wieder zuzunehmen.
Nicht nur, ja nicht einmal hauptsächlich wegen der im Weibe vermuteten
prophetischen Gabe wurde es von den wildesten Völkern des Altertums verehrt;
seine Herzensgüte, seine Liebenswürdigkeit schuf ihm bei den Starken Verehrung.
Diese Eigenschaften bilden den Grundzug des weiblichen Seelenlebens; sie sind
sozusagen die Scheidemünze, in der das junge Mädchen die Zinsen seines großen,
noch unangebrochnen Kapitals an Liebe im Alltagsleben ausgibt, bis der große
Tag kommt, an dem auch das Kapital selbst angegriffen und flüssig gemacht wird
und werden muß. Der Kundige aber weiß schon vorher nach den Zinsen das
Kapital zu berechnen, und solche Berechnung ist erlaubt und wird häufig geübt.
Nach den eingangs erwähnten Qualitäten des Verfassers wird man ihm
glauben, daß er diese Betrachtung ohne eignes Interesse, aber aus warm mit¬
fühlenden Herzen anstellt. Wer gern Seelenregungen (und deren Erfolg: die
Schicksale) seiner Mitmenschen beobachtet und prüfend wägt, dem liegt auch nahe,
sich — und andern! — die oben gestellte Frage zu beantworten.
Welcher Zug war also den jungen Mädchen gemeinsam, die trotz Armut früh¬
zeitig glückliche Ehefrauen wurden, was fehlte denen, die trotz Wohlhabenheit, ja
Reichtums ehelos blieben? Ein gemeinsamer Zug war jenen eigen: sie wollten
gern heiraten. Bitte, keine Empörung, aber auch nicht die Entgegnung: das wollten
diese auch, das will im Grunde jedes junge Mädchen. Gewiß, aber nicht so ernstlich,
nicht so gleichmäßig, nicht so, ich möchte sagen: unbewußt zielsicher. In diesem
Punkte glaube ich den Lehren Ralph Waldo Trines und der andern Neudenker,
daß stetig und still, aber ernstlich gehegter Wunsch den Erfolg verbürgt.
Nicht als ob die zuerst erwähnten jungen Mädchen etwa heiratswütig gewesen
wären. Nichts weniger als das. Aber steter Wunsch und Gedanke prägt sich im
Wesen und Sinn aus, und ihr ganzes Wesen in all seiner harmlosen, liebens¬
werten Natürlichkeit zeigte, daß sie es als das Gegebne ansahen, dermaleinst zu
heiraten. Nichts von der Affektation mancher jungen Damen, die da tun, als sei
es unter ihrer Menschenwürde, zu erwarten, ob ein Mann sie zur Gattin begehren
werde. Dabei eine verständige Begrenzung ihrer Wünsche. Sie sahen sich, wenn
ich so sagen darf, nur in ihrem Kreise um, nicht über, nicht unter ihrem Stande,
und warteten nicht auf einen Märchenprinzen. Aber die Liebe läßt sich doch nicht
gebieten! In ihren ersten Anfängen doch. ?rire!ixii8 obsts,. Wem aber solche
Moral allzu hausbacken scheint, dem sage ich, daß ich die große und starke Liebe,
die auf den ersten Blick kommt, und die über alle Standesunterschiede hinweghebt,
keineswegs leugne. Aber sie kommt jäh und unvermutet wie der einschlagende
Blitz, und erwarten darf man sie nicht.
Und die jungen Damen der zweiten Kategorie? Auch sie hegten den bewußten
Schicksalswunsch, aber Laune oder der Gedanke an einen andern, geringern, aber
gegenwärtigen Wunsch hindert die Erfüllung des erstem. Ein hübsches, verwöhntes
junges Mädchen hatte einen in jeder Hinsicht annehmbaren Freier, den sie vielleicht nicht
gerade schwärmerisch liebte, aber achtete und im Verkehr offenkundig bevorzugte. Er
engagierte sie, in der festen Absicht, sich zu erklären, zu einem Sitztanz. An seinem
ganzen Wesen mußte sie merken, daß die Entscheidung bevorstand. Da, gerade als
er sprechen will, kommt einer der besten Walzertänzer der Stadt und bittet sie
um einen Tanz. Sie kann nicht widerstehen — und der Freier verzichtet. Wie
konnte er noch glauben, daß ihr etwas an ihm gelegen sei? Das junge Mädchen
der ersten Kategorie hätte das nicht getan. Sie hätte gewußt, den kleinen Wunsch
dem größern zu opfern, und wäre eine glückliche Frau geworden.
Nicht selten geht es so, und der stille Beobachter könnte wohl mancher Mutter
auf die den Titel bildende Frage ausreichende Antwort geben. Des Wunsches
Stetigkeit hatte gefehlt, allzuviel Eventualwünsche waren vorhanden.¬
Doch genug! Die «laste, die, wenn ich nicht irre, Walter von der Vogel
weide den Deutschen nachrühmt, wünsche ich allen liebenswerten Mägdelein, auf daß
sie, wenn die Zeit gekommen ist, ebenso liebenswerte und geliebte Frauen werden.
Siebente, gänzlich neubearbeitete
und vermehrte Auflage in sechs Bänden. Mehr als 130000 Artikel und Nachweise
mit etwa 520 Bildertafeln, Karten und Plänen sowie etwa 100 Textbetlagen. Erster
Band A bis Cambrics. Leipzig und Wien, Bibliographisches Institut, 1906. Die
sechste Auflage des kleinen Meyerschen Konversations-Lexikons bestand nur aus drei
Bänden; daß es nicht möglich war, die reichen Schätze der Wissenschaft, der Technik,
der Literatur und Kunst in diesem Umfange einigermaßen befriedigend darzustellen,
ist klar. Das dreibändige Werk konnte nur ein unzulänglicher Notbehelf sein. Der
Verlag hat sich deshalb veranlaßt gesehen, den Stoff ganz neu, in erweiterter Form
zu bearbeiten und in sechs Bänden unterzubringen, sodaß hiermit ein vortrefflicher
Ersatz für das große zwanzigbändige Werk geboten wird. Die Aufgabe, die Massen
in dieser Form zu bewältigen, ohne in einen abgerissenen Telegrammstil zu geraten,
ist vortrefflich gelöst worden. In den Artikeln sind oft größere Gebiete des Wissens
anschaulich, erschöpfend und in populärer Darstellung behandelt worden; in den
technologischen finden wir nicht nur die Maschinen und Apparate erklärt, sondern
auch die Prozesse in fesselnder Darstellung geschildert. Von großem Werte sind die
statistischen Übersichten über Handel, Verkehr, Heerwesen, Bevölkerung usw. Und
jeder Zeitungsleser wird in den Artikeln über die Fragen und Probleme der
modernen Kultur, der Politik und der wirtschaftlichen Kämpfe zuverlässige Führer
und gediegne Berater finden. Die Ausstattung ist musterhaft, die Aufnahme von
kunstvollen Reproduktionen ausgezeichneter Gemälde in Autotypien ist eine Bereiche¬
rung, die wesentlich dazu beitragen wird, dem Werke einen großen Abnehmerkreis
zu sichern. Als Betspiel einer kurzen und doch faßbaren Erklärung diene folgendes:
Autotypie (griech. Tonätzung), photographisches ReProduktionsverfahren für Halb¬
tonoriginale, bei dem das Bild durch Vorschalten eines sogenannten Rasters, d. h.
eines auf Glas eingeritzter Netzes undurchsichtiger Linien, vor der photographischen
Platte in einzelne Punkte zerlegt wird. Bei Kopieren des Rasternegativs auf eine
mit lichtempfindlicher Emaille überzogne Zink- oder Kupferplatte und folgendem
Aezen bleiben die Punkte stehn und bilden eine Hochdruckplatte (s. auch Hoch¬
ätzung). Die ersten Versuche machte Talbot (1852). Zu hoher Leistungsfähigkeit
wurde das Verfahren durch Meisenbach in München (1882), Angerer und Göschl
in Wien und Oves in Nordamerika ausgebildet. Vgl. Cronenberg, Die Praxis
der Autotypie (Düsseldorf, 1895); Albert, Verschiedene ReProduktionsverfahren
(Halle, 1900).
pät und aus wirren Stürmen ist vor vier Jahrzehnten das Deutsche
Reich entsprossen mit einer Schnelligkeit und Herrlichkeit, die das
Volk mit einem Rausche der Begeisterung erfüllte. Aber Goethe
sagt schon in Wilhelm Meisters Lehrsahren: „Das Geschehene hat
auf die Gemüter der meisten eine unwiderstehliche Gewalt, und
was uns unmöglich schien, nimmt sogleich, als es geschehen ist, neben dem Ge¬
meinen seinen Platz ein." Nur zu rasch ist der Rausch der Begeisterung ver¬
flogen, die jüngere Generation hat ihn überhaupt nicht erlebt, die Mehrzahl der
ältern hat nur einen Jugendeindruck davon, und die Zahl der sechzigjährigen
und darüber, die persönlich angetan und mitgelitten haben, nimmt rasch ab.
Was vorher gewesen ist, wissen nur uoch wenige aus bewußtem Erlebnis, die
jetzt Lebenden nehmen das Reich als etwas Selbstverständliches hin, an dem
man sogar schon oben und unten ein wenig wackeln könne. Die Tiefe einer
großen Glücksempfindung über den ersten Frühlingsreiz des Reichs haben sie
nicht empfunden, und darum bestehn sie nicht immer die mannigfachen Prüfungen,
die an das Vaterland herantreten, und bei denen wir zu beweisen haben, ob
unsre politische Erkenntnis jener Höhe des Glücks gewachsen ist, mit der die
Vorsehung unser Volk gesegnet hat. Wäre es sonst möglich, daß die öffent¬
liche Stimmung seit Jahren zwischen einer gewissen Prahlerei und dann wieder
einer starken Nervosität gegenüber dem Auslande, zwischen Hurrastimmnng und
Reichsverdrossenheit hin und her pendelt? Die Pflicht der ernsten Tagesarbeit
ist an uns herangetreten, den blühenden Baun,, den die Anstrengung unsrer
eignen Väter in einem öde erscheinenden Boden gepflanzt hat, vor Stürmen
und andern Gefahren zu behüten und ihn sorgsam zu Pflegen, damit er die
erhofften Früchte bringe; denn ohne Pflege trägt kein Fruchtbaum, man darf
ihn auch nicht verwildem lassen oder nach Belieben daran herumschnitteln. Man
muß sein Wesen kennen und ihn nach dieser Erkenntnis, nicht aber nach Lehr¬
meinungen behandeln. Das Deutsche Reich ist eben ein ganz besondrer Baum,
der nach deutscher Weise behandelt werden muß und weder einen französischen.
englischen noch russischen Zuschnitt verträgt, aber von seinem ersten Gärtner,
dem Altreichskanzler, richtig gepflanzt worden ist.
Es ist der geschichtlich sehr verspätete Versuch, unserm Volke die Form der
politischen Macht zu verleihen, ohne die in Zukunft selbständige Staaten mit
eigner Kultur überhaupt nicht bestehn können. Der Versuch ist bis heute
geglückt. Aber Moltke sagte schon am 16. Februar 1874 im deutschen Reichs¬
tage: „Ein großes weltgeschichtliches Ereignis, wie die Wiederaufrichtung des
Reiches, vollzieht sich kaum in einer kurzen Spanne Zeit. Was wir in einem
halben Jahre mit den Waffen errungen haben, das mögen wir ein halbes Jahr¬
hundert mit den Waffen schützen, damit es uns nicht wieder entrissen wird.
Darüber, meine Herren, dürfen wir uns keiner Täuschung hingeben; wir haben
seit unsern glücklichen Kriegen an Achtung überall, an Liebe nirgends gewonnen."
Das halbe Jahrhundert ist noch nicht um, aber ein Blick über unsre Grenzen
zeigt, wie richtig Moltke prophezeit hat. Er schloß seine Rede mit den Sätzen:
„Ich hoffe, wir werden eine Reihe von Jahren nicht nur Frieden halten, sondern
auch Frieden gebieten; vielleicht überzeugt sich dann die Welt, daß ein mächtiges
Deutschland in der Mitte Europas die größte Bürgschaft ist für den Frieden
von Europa. Aber, meine Herren, um Frieden zu gebieten, müssen wir zum
Kriege gerüstet sein." Und am 14. April ergänzte er, daß er „auch jetzt sicher
glaube, daß ein starkes Deutschland in Mitte Europas die größte Bürgschaft für
den Frieden ist. Aber, meine Herren, ein starkes Deutschland!" Eine weitere
Ergänzung gab er in seiner Rede vom 10. März 1886: „Aber, meine Herren,
eine solche Politik läßt sich nur durchführen gestützt auf ein starkes und kriegs¬
bereites Heer. Fehlte dieses gewaltige Triebrad in der Staatsmaschine, so würde
sie stocken. Die Noten unsers Auswärtigen Amts würden des rechten Gewichts
entbehren. Die Armee, meine Herren, ist das Fundament gewesen, auf dem
eine solche Politik des Friedens sich hat aufbauen lassen, die Armee ist es,
die den diplomatischen Noten Nachdruck und Rückhalt gewährt; aber nur so
lange, wie sie auch wirklich bereit und imstande ist, da einzutreten, wo der
friedliche Zweck nicht erreicht werden kann."
Es find seitdem mehr als dreiunddreißig Jahre vergangen, vieles hat sich
während dieser Zeit geändert, aber die Worte gelten heute noch, und ihre Richtig¬
keit wird vielleicht in unsern Tagen schon in weitern Kreisen anerkannt als
damals, wo mancher hergebrachte Doktrinarismus noch nicht durch die geschicht¬
liche Erfahrung geläutert worden war. Jedenfalls hat das Verständnis für
Machtfragen inzwischen ziemlich gewonnen, während zu jener Zeit die Meinung
hingenommen wurde, Moltke habe „als Militär" nicht anders sprechen können.
Und doch sind die Geschicke der Völker stets und zu allen Zeiten endgiltig
nicht etwa von den Kabinetten oder auf den Nednerbühnen, sondern auf den
Schlachtfeldern entschieden worden. Gerade die Entstehungsgeschichte der beiden
jüngsten Großstaaten Europas beweist das von neuem. Trotz eifriger Be¬
mühungen war es der europäischen Diplomatie nicht gelungen, die Bildung
eines nationalen Staats in Deutschland und in Italien zu hindern, ebenso¬
wenig aber hatten die tiefgehendsten Volksbewegungen, Agitationen, nationale
Vereine, Beschlüsse und Vaterlandslieder mehr bewirken können, als die Ge¬
müter vorzubereiten. Erst als die militärische Entscheidung gefallen war, stand
der Nationalstaat im Handumdrehen fix und fertig da, etwas anders vielleicht,
als ihn die nationalen Bestrebungen gedacht hatten, aber jedenfalls mächtiger.
Daß Italien dabei aus den deutschen Erfolgen einen größern Vorteil gezogen
hat als aus den eignen, ändert an der Tatsache nichts. Was Hütte aber die
größte Staatskunst Bismarcks vermocht, wenn die Entscheidungen auf dem
Schlachtfeld nicht so unwiderstehlich ausgefallen wären? Die Einmischung des
Auslands stand 1866 wie 1870 vor der Tür und wäre nicht ausgeblieben,
wenn man dem siegreichen Heere etwas Ebenbürtiges entgegenzustellen vermocht
Hütte. Daß Bismarck die gegebne militärische Lage zugleich mit sorglicher Rück¬
sichtnahme auf die Zukunft wie im übrigen rücksichtslos ausgenützt hat, bleibt
sein unvergängliches Verdienst, aber die militärischen Entscheidungen gaben ihm
erst die feste Grundlage, auch für die weitere Zukunft, solange ihre Nach¬
wirkung anhielt.
Diese unerbittliche Tatsache wird in sichern Friedenszeiten leicht und gern
wieder vergessen, aber kein Volk hat es öfter und bitterer bereuen müssen, sie
vergessen zu haben, als gerade das deutsche. Mit Abrüstung und dergleichen
hätten wir weder ein Deutsches Reich errungen, noch würden wir es erhalten
können, denn wir sind wegen unsrer geographischen Lage zu vielen im Wege.
Es wird auch auf die Dauer nicht gelingen, weltbewegende Fragen, die noch
auf der Tagesordnung stehn, ausschließlich mit friedlichen Noten zu lösen.
Diese Noten werden überhaupt nur bewertet nach dem militärischen Nachdruck,
der zu ihrer Unterstützung angewandt werden könnte; ob sie gerecht und sach¬
lich begründet sind, steht erst in zweiter Linie. Gewalt geht vor Recht, sagt
schon das Sprichwort; jedenfalls gibt es ohne Macht kein Recht. Auch im
bürgerlichen Leben nicht, nur wird dabei die Macht des Staats angerufen. Ohne
sie würde sich kein Mensch der richterlichen Entscheidung fügen, die ja doch nur
begehrt wird, weil im jeweiligen Falle die Anschauungen über das Recht ver¬
schieden find. In internationalen Fragen ist Recht ohne Macht überhaupt ein
inhaltsleeres Gebilde. Was würde uns das uralte geschichtliche Recht auf die
Reichslande nützen, wenn es nicht durch unsre Armee gewährleistet würde? Die
Abrüstler und Pazifisten würden uns nicht dazu verhelfen, heute nicht und in
aller Zukunft auch nicht. Gerade wie in den Jahren, die auf den letzten großen
deutschen Krieg folgten, ist die Erhaltung des Friedenszustandes auch heute noch
wesentlich von dem Grade der Achtung bedingt, den das deutsche Heer und der
leitende deutsche Staatsmann den Nachbarn einzuflößen vermögen. Wegen unsers
guten Rechts tut uns ebensowenig jemand einen Gefallen wie um unsrer „schönen
Augen" willen. Wie Moltke zutreffend bemerkte, ist nur auf der Grundlage der
kriegerischen Erfolge und aus Furcht vor der Schärfe des deutschen Schwerts
hauptsächlich die bisherige Friedenspolitik dem Auslande gegenüber möglich ge¬
wesen. „Man muß handeln können, wie man will, um zu handeln, wie man
soll", sagte schon Zachariä vor siebzig Jahren in seinen „Vierzig Büchern vom
Staate". Eine ernsthafte Friedenspolitik kann man nur treiben, wenn man in
der Lage ist, den Friedensstörer nachdrücklich zur Rechenschaft zu ziehn, und
das kann nur der Mächtige. Die Friedenspolitik Mindcrmüchtiger ist nur ein
politischer Zustand, keine politische Handlung. Internationale Fragen und Ent¬
scheidungen, die gesamteuropäische und auch außereuropäische Verhältnisse und
Lebensfragen betreffen, treten gegenwärtig bei regelmäßigem Verlauf der Dinge
an die mittlern und kleinern Staaten gar nicht mehr heran, seit die Zugehörig¬
keit zum internationalen Areopag von dem Besitz einer großen Wehrmacht
abhängig geworden ist. Goethe sagte am 23. August 1827 zum Kanzler
von Müller: „Was ist Kultur andres als ein höherer Begriff von politischen
und militärischen Verhältnissen? Auf die Kunst, sich in der Welt zu betragen
und nach Erfordern dreinzuschlagen, kommt es an bei den Nationen."
Daß die Bedingungen des Deutschen Neichsbestandes und die Aufgaben der
deutschen Entwicklung einfacher seien als die unsrer Nachbarn, hat noch niemand
behauptet, im Gegenteil gilt es als ausgemacht, daß die Schwierigkeiten unsrer
internationalen Lage viel größer als in England, Frankreich und Italien sind
und höchstens mit denen Österreich-Ungarns verglichen werden können. Hierin
liegt auch mehr als in der ehemaligen Jahrhunderte dauernden politischen Zu¬
sammengehörigkeit der wahre Grund des engen Bündnisses beider Staaten. Daß
die vorherrschende Stellung, die das Deutsche Reich noch immer im europäischen
Konzert einnimmt, von der Mehrzahl der Mitwirkenden als eine Anomalie
angesehn wird, die nächstens wieder zu beseitigen sei, sagen uns Russen und
Franzosen, Polen und nach Rußland schielende West- und Südslawen alle Tage.
Nicht der bewährte Wille, den Frieden aufrecht erhalten zu Wollen, und politische
Freundschaftsbeweise gewährleisten den friedlichen Zustand uuter den Nationen,
sondern die großen Heere und Flotten, die den Einsatz beim Bruch der freund¬
schaftlichen Beziehungen für beide Teile allzuhoch erscheinen lassen. Darum ent¬
behrt jede Politik, die sich nicht auf ein starkes Heer stützen kann, eine Politik,
hinter der uicht der klar erkennbare Wille der Nation steht, unter allen Umständen
militärisch stark bleiben zu wollen, ihres wirksamsten, weil gefürchtetsten Mittels
dem Auslande gegenüber. Nur was die eigne Macht und Arbeit eines Volks
gewinnt und verteidigt, bleibt sein dauernder Besitz, alle Vorteile, die bloß die
Gunst des Augenblicks gewährt, fallen bei nächster Gelegenheit wieder andern
zu. Außerdem bleibt es eine unumstößliche Wahrheit, daß eine Summe, die ein
Volk nicht übrig hat, um zur Wahrung seiner nationalen Güter stark zu bleiben,
ihm bei der nächsten Gelegenheit von einem siegreichen Feinde um das Zehnfache
als Kriegsbeute abgenommen wird.
Für Leute, die die Begebenheiten der Geschichte und die Fragen der Politik
nüchtern und praktisch beurteilen, sind das alles nur Binsenwahrheiten; sie können
aber wegen der vielen andern, die die Geschichte mit ihren Lehrmeinungen messen
und die Politik nach ihren Gefühlen geführt sehen möchten, nicht oft genug
ausgesprochen werden. In Deutschland ist sogar in den mit höherer Bildung
ausgestatteten Schichten das Verständnis für die Mnchtfragen der modernen
Politik allgemein nicht so weit ausgebildet, daß es bei Anwendung der durch
die Verfassung dem Volk verliehenen Befugnisse nützlich zur Geltung käme.
Wegen aller durchgreifenden Heeresfragen hat der Reichstag aufgelöst werden
müssen. Die Parlamente andrer Staaten brauchen nicht erst durch bedrohliche
Volksbewegungen bewogen zu werden, die unentbehrlichen Mittel für die nationale
Wehrkraft zu bewilligen. Man darf sich dann aber nicht wundern, wenn die
Achtung vor einer Nation sinkt, die doch schließlich für die Taten ihrer Er¬
wählten verantwortlich ist, wenn diese zur Bewilligung des in andern Staaten
selbstverständlichen erst durch das Äußerste gezwungen werden müssen. Solche
Selbstherabsetzung in der Achtung des Auslands kann auch der bedeutendste
Staatsmann nicht wieder gut machen; man braucht die Schuld also gar nicht
darauf zu schieben, daß kein Bismarck mehr da ist. Flotten und Heere stampft
man nicht aus der Erde, die müssen in langer Friedensarbeit mühsam geschaffen
werden. So war es 1866: militärisch, finanziell und diplomatisch war alles
sorgsam vorbereitet worden, ohne daß das Ausland viel davon bemerkt hatte.
Dann gelang das große Werk überraschend schnell und über alle Erwartung
hinaus. Freilich hatte das preußische Abgeordnetenhaus auch den heftigsten Wider¬
stand geleistet, aber der dadurch hervorgerufne Lärm trug glücklicherweise nur dazu
bei, daß sich das Ausland über die durchschlagende Kraft des im stillen Ge¬
schaffnen täuschte. Uuter den neuern Umstünden ist das Reich viel weniger zu
einer gleichüberraschenden Machtentfaltung imstande. Bei einem Parlament, wie
es das Reich gewöhnlich hat, und bei einer Wählerschaft, die kein besseres zu
wünschen scheint, denn sonst würde sie anders wählen, läßt sich nicht mehr still
und sachlich arbeiten. Hat man nicht wegen der Truppenstärke für Südwest¬
afrika den letzten Reichstag auflösen müssen? Was nicht mit allen Hilfsmitteln
der öffentlichen Agitation eingeleitet wird, fällt bei unsrer Fraktionswirtschaft
unter den Tisch. Nur mächtige Wellenschlage der Begeisterung, des Einigkeits¬
gefühls und des allgemeinen Unwillens haben bedeutungslose Parlamente in
respektable Versammlungen umgewandelt — bis zur nächsten Wahl.
Man hat doch sogar für die notwendige Weltpolitik erst das Endziel
programmatisch aufstellen müssen, um auch nur nach und nach von widerwilligen
Parteien kürgliche Bewilligungen zu erreichen. Noch heute machen sich Mei¬
nungen breit, als habe Deutschland die Wahl, ob es eine europäische Gro߬
macht bleiben oder erst eine sogenannte Weltmacht werden wolle. Die Sache
liegt aber doch ganz anders. Wir sind dnrch den Zwang der Verhältnisse, und
nicht etwa durch eine kaiserliche Laune oder dergleichen, zur Weltmacht geworden,
und es handelt sich in der Gegenwart nur noch darum, ob wir die Macht¬
mittel aufbringen und erhalten wollen, die diese Stellung für die Zukunft sichern.
Davon steht leider in allen Parteikatechismen nichts, und darum mußte an die
im deutschen Volk schlummernde, aber niemals gänzlich erloschne Sehnsucht nach
Seegeltung appelliert werden. Man hat dabei freilich mit in den Kauf nehmen
lnüssen, daß das Ausland dadurch aufmerksam geworden ist und daraus zwar
keinen triftigen Grund, aber doch einen Vorwand gezogen hat, sich gegen Deutsch¬
land zusammenzuschließen. Dafür will man nun auch wieder in unzähligen
Zeitungsartikeln und Parteireden den Kaiser verantwortlich machen. Aber wäre
denn überhaupt etwas erreicht worden, wenn er nicht gewissermaßen als Heer¬
rufer aufgetreten, wenn er nicht durch eingehende Privatarbeiten über die Flotte
dem höchst mangelhaften Machtverständnis der Auserwählten des Volks zu Hilfe
gekommen wäre? „Ein großes Volk hat Leidenschaften Vonnöten, um in die
starke und anhaltende Bewegung gesetzt zu werden, die zu seinem politischen
Leben erfordert wird", sagte Wieland im „Goldner Spiegel". Ein politisches
Ideal, dessen Verwirklichung, wenn auch nur in ferner Zeit, als erreichbar hin¬
gestellt wird, gibt erst die werbende Kraft. Nicht umsonst hat die Sozialdemo¬
kratie mit ihrem gänzlich unerfüllbaren „Zukunftsstaat" gegenüber den alten
Parteien einen so großen Einfluß auf die Wähler ausgeübt. Und die deutsche
Geltung zur See, die deutsche Weltmacht sind nicht einmal ein chimärischer Zu¬
kunftsstaat, sie sind schon da, es gilt nur, sie zu erhalten und zu entwickeln.
Der Sinn dafür ist auch dem deutschen Volke nicht fremd.
Zu einer Zeit, wo man noch mit idealer Phantasie, aber nicht mit den
verschnörkelten Parteimeinungen unsrer Tage an die nationalen Fragen heran¬
trat, auf dem deutschen Reichstage in Frankfurt, traf Nadowitz die Stimmung
der damals Versammelten, die wirklich eine Auswahl der Gebildetsten des
deutschen Volks darstellten, am 3. Juni 1848 mit den Worten: „Wir wollen
die Einheit Deutschlands gründen. Es gibt kein Zeichen für diese Einheit, das
in dem Maße innerhalb Deutschlands und außerhalb Deutschlands diesen Be¬
schluß verkündet, als die Schaffung einer deutschen Flotte. Die Schaffung der
Flotte ist nicht bloß eine militärische Frage, eine kommerzielle Frage: sie ist im
höchsten Grade eine nationale Frage." In gleichem Sinne sprachen alle Redner
der verschiednen Parteirichtungen, und es zeugt von dem tiefen Verständnis
aller über den notwendigen Zusammenhang der künftigen Seemachtstellung mit
der Bildung eines Deutschen Reichs überhaupt, daß das Flottengesetz das einzige
war, das in Frankfurt nahezu einstimmig Annahme gefunden hat. Goethe läßt
den Faust, der unbefriedigt aus der antiken Welt und der mittelalterlichen
Romantik zurückgekehrt ist, als selbstschöpferischen Kolonisator und Beherrscher
des Meeres sterben. „Dein hoher Sinn, der Deinem Fleiß erwarb des Meers,
der Erde Preis", sagt ihm Mephistopheles, und Faust stirbt befriedigt: „Es
kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Äonen untergehn." Herwegh
sang in den politisch müden vierziger Jahren von der zukünftigen deutschen
Seeherrschaft: „Es wird geschehn! Sobald die Stunde ersehnter Freiheit für
uns schlägt, ein Fürst den deutschen Purpur trägt", und er grüßte den deutschen
Kaiser der Zukunft: „Wie dich die Lande anerkennen, soll auch das Meer dein
Lehen sein!" Sie hatten in der Seele des deutschen Volks gelesen, das nicht
bloß aus Neugierde für die Übersee begeistert war und heute noch der Kolonial¬
politik und der Flotte mit größerer Wärme gegenübersteht, als die Parteiweisen
meinen. Die schlichten Erzählungen unsrer Chinakrieger, südwestafrikanischen
Mitkämpfer und Matrosen finden in den noch gesunden Volksschichten mehr
Anklang als die künstlichsten Parteiredeu. Das haben die letzten Reichstags¬
wahlen bewiesen. Die Flotte ist sogar populärer als das Heer, das doch Unver¬
gleichliches geleistet hat. Es ist das Verdienst der leitenden Männer im Reiche,
daß sie an diese kräftige Strömung im Volk appelliert haben, Deutschland ist
dadurch um einen gewaltigen Ruck vorwärts gekommen. Das deutsche Volk
will seinen „Platz an der Sonne" behaupten, und darum wird es gelingen.
Damit wird auch der Parteijammer überwunden werden, an dem Deutschland
krankt, wenn auch nicht auf einmal.
Die Entstehung und die erste Blüte der Hansa wie die Ausbreitung des
Deutschtums im Osten fielen zusammen mit der Größe des deutschen Kaisertums
im Mittelalter. Jetzt ist Deutschland wieder ein Staat, eine Großmacht ge¬
worden. Geeinigt durch die glorreichen Siege des Heeres, das immer daheim
die Basis schützen wird, darf es sich nun auch auf die Meere wagen. Man
scheint aber wirklich in gewissen Parteikreisen noch der Meinung zu sein, daß
das Ausland den Deutschen den freien Wettbewerb auf dem Weltmarkt unge¬
hindert und ohne Kampf gönnen würde, selbst wenn sie nicht einmal den Willen
und das Ehrgefühl hätten, den einmal erworbnen Kolonialbesitz festzuhalten.
Canning rief seinen Briten zu: „Die Zeit und der Zufall können nichts für
die tun, die für sich selbst nichts tun wollen. Sogar die Vorsehung kann kaum
ein Volk retten, das sich nicht darauf gefaßt macht, selbst seine eigne Sicherheit
zu erkämpfen." Das deutsche Sprichwort: „Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!"
drückt das wohl noch kürzer aus, wird aber nicht immer beachtet. Die Existenz
Deutschlands steht und fällt mit der Unabhängigkeit seiner auswärtigen Politik
von den Wechselfällen des parlamentarischen Lebens und mit dem Bestände einer
starken Wehrmacht. Es muß ein Militärstaat bleiben oder hört überhaupt auf, ein
Staat zu sein. Das Elend der „Reichsarmee" hat das erste deutsche Kaiserreich
zugrunde gerichtet. England ist ein Inselreich, das des Schutzes eines stehenden
Heeres nie bedürfte und seit acht Jahrhunderten keinen feindlichen Einfall er¬
litten hat; dort mag man vielleicht anders darüber denken, aber für Deutschland
gibt es nur die eine Möglichkeit, stark zu bleiben; dann hat es Frieden. Es
leidet eben unter dem unvermeidlichen Lose eines erst vor wenig Jahrzehnten
in den ersten Rang der Großmächte eingetretnen Reiches, das auch unter guten
Freunden noch Neider findet. Seine wirtschaftliche Tätigkeit bringt es in enge
Berührung mit andern Nationen, zwischen denen es einen Platz suchen und
ihn behaupten muß. Die zunehmende Verstimmung im Auslande zeigt noch
mehr als die Statistiker, daß Deutschland in Industrie, Handel und Schiffahrt
auf dem Weltmarkte in stetem Aufsteigen begriffen ist. Seine Wehrmacht ist
aber nicht in gleichem Maße entwickelt worden.
Man ist sich in weiten Kreisen der Bevölkerung nicht hinreichend klar
darüber, in welchem Maße sich die Machtverhältnisse seit dreißig Jahren ver¬
schoben haben, man verschließt sich der Erkenntnis, daß Deutschland nicht mehr als
alleinige Macht mit der allgemeinen Wehrpflicht allen Nachbarn weit überlegen
gegenübersteht. So war es in den großen Entscheidungsjahren 1866 und 1870,
aber es ist nicht mehr so. Alle die großen Vorteile, die damals Deutschland
seiner Überlegenheit der Zahl an Truppen und Geschützen, der raschen und plan¬
mäßigen Mobilisierung, der musterhaften Kriegsvorbereitung, der festen Orga¬
nisation der Truppen der zweiten Linie und des Ersatzwesens verdankte, haben
sich inzwischen die großen Nachbarstaaten auch angeeignet, und es ist ihnen
meist in hohem Maße gelungen. Daß Deutschland bei einem Zukunftskriege
hinter der feindlichen Hauptarmee nur auf eilig zusammengeraffte Gambettasche
Truppenbildungen treffen würde, ist gänzlich ausgeschlossen. Die allgemeine
Wehrpflicht ist überall durchgeführt worden, und Frankreich namentlich hat dabei
Anstrengungen gemacht, die die deutschen weit überboten. Ende der achtziger
Jahre war Frankreich sogar schon stärker an ausgebildeten Mannschaften als
Deutschland, was zu dem bekannten Boulangerrummel führte. Erst seit der
Einführung der zweijährigen Dienstzeit und der Vermehrung der deutschen Re¬
gimenter hat der Wettlauf um die Truppenzahl aufgehört, und das deutsche
Heer nimmt entsprechend der Überzahl der Bevölkerung wieder den ihm gebüh¬
renden Vorrang in der Truppenzisfer ein. Eine Überlegenheit, wie sie 1870
bestand, ist aber keineswegs erreicht worden und würde nicht einmal erreicht
werden, wenn Deutschland mit der gleichen Schärfe rekrutieren wollte wie
Frankreich. Das ist auch nicht nötig, da die einfache Überlegenheit genügt,
und da Deutschland nur verteidigen und nichts erobern will. Wie weit es in
den andern Kriegsvorbereitungen von andern Mächten eingeholt oder gar über¬
boten worden ist, entzieht sich der öffentlichen Kenntnis, So unvorbereitet und
unfertig wie 1870 werden aber Deutschlands Gegner in keinem Falle wieder
sein. Daß die Franzosen vor zwei Jahren bei der plötzlichen Zuspitzung der
marokkanischen Frage eine außerordentliche Ausgabe von mehr als 200 Mil¬
lionen für Heeresbedürfnisse machen mußten, läßt allerdings den Schluß zu,
daß Deutschland noch einen größern Vorsprung hat. Aber eine Überlegenheit
in dem Maße, wie sie Deutschland infolge der allgemeinen Wehrpflicht noch
vor dreißig Jahren hatte, besteht nicht mehr. Das ist eine Tatsache, die auch
in den politischen Beziehungen und Verhältnissen zum Ausdruck kommen muß.
Trotz allem ist aber Deutschland immer noch der mächtigste Militärstaat, den
niemand ungestraft anzugreifen wagen wird, in kontinentalen Angelegenheiten
nimmt es darum noch genau die Stellung ein wie zu den Zeiten Bismarcks.
Das hat sich deutlich bei der marokkanischen Frage gezeigt. Infolge Del-
casses Versuch einer geflissentlicher Beiseiteschiebung Deutschlands war eine Lage
eingetreten, die eine Kriegsandeutung notwendig erscheinen ließ. Von dem
früher üblichen Mittel einer Mobilmachung mußte abgesehn werden, denn eine
solche zieht nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht unbedingt den Kriegs¬
ausbruch nach sich; man schritt darum zu dem andern gebräuchlichen Mittel
einer Flaggendemonstration, und zwar sogleich mit Anwendung der Kaiser¬
standarte bei dem Besuch in Tanger. Das war sehr praktisch, denn es war
billiger als eine Flottendemonstration, entzog die Geschwader ihren Übungen
nicht und war nicht mißzuverstehen. Die Franzosen ließen auch sofort Delcasse
fallen und bequemten sich auch trotz ihrer Anlehnung an England nach langen
Verhandlungen zu der von Deutschland geforderten Konferenz über Marokko.
Dieser diplomatische Erfolg beruhte unstreitig auf dem Schwergewicht unsrer
Heeresmacht, deren Kriegsschauplatz abzugeben sich Frankreich scheute trotz der
sagenhaften 100000 Mann, die irgend jemand in England zugesagt haben
sollte. Die deutsche Armee ist demnach in der Lage, Deutschland ebenso wie
früher vor jedem Landkriege zu sichern, und darauf beruht die Stärke der
deutschen Diplomatie in Europa, und das hat sich also seit Bismarcks Zeiten
nicht geändert. Wenn aber die Konferenz von Algeciras in ihren Endergebnissen
nicht dem Erfolg der deutschen Diplomatie bei ihrer Einberufung entsprach, so
lag das eben an Einflüssen, die die deutsche Armee nicht zu fürchten brauchen.
Es ist hier nicht am Platze, die Möglichkeiten zu erörtern, die Deutschland
wegen seiner Schwäche zur See noch jeden Augenblick zu befürchten hat. So
viel ist aber klar, daß die Konferenz von Algericas einen ganz andern Ausgang
genommen hätte, ja daß es überhaupt nicht einmal zu einer marokkanischen
Frage gekommen wäre, wenn Deutschland zur See ebenso mächtig gewesen wäre
wie zu Lande. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß so mancher, von der öffent¬
lichen Meinung übel gedeutete Vorgang in unsrer auswärtigen Politik seine
Erklärung und dadurch auch seine Rechtfertigung in diesen Machtverhältnissen
findet, die um so mehr hervortreten, seitdem sich unsre Politik infolge unsrer
eignen Entwicklung wie infolge der geänderten Weltlage nicht mehr auf die
Fragen des Weltteils beschränken kann, sondern zur Weltpolitik geworden ist. In
dieser fallen aber die Entscheidungen zunächst zur See, und auf dieser nimmt
Deutschland wohl eine geachtete, aber keineswegs eine so mächtige Stellung ein
wie zu Lande. Die von vielen Seiten bekrittelte Zurückhaltung der neuern
deutschen Politik schreibt sich darum durchaus nicht vom Fehlen eines Bismarcks
her, sondern liegt einfach in den Machtverhältnissen. Man darf eben in der
Politik nur verlangen, was man im Notfall auch durchsetzen kann. Das hat
Frankreich 1870 schmerzlich genug erfahren müssen.
Hierher gehört auch ein politischer Vorgang, der vor nicht langer Zeit der
deutschen Presse so stark auf die Nerven gefallen war, daß sie sich in ganz auf¬
fälligen Kleinmütigkeiten erging. Das sind die Reisen des britischen Monarchen.
König Eduard, der eben nicht nach dem überlieferten Standpunkte der deutschen
Witzblätter zu betrachten ist, hat es nicht nur verstanden, seit der Thron-
besteigung seinen heimischen Berufspolitikern die eigentliche Leitung der Politik
aus der Hand zu nehmen, sondern seiner persönlichen Geschicklichkeit ist es auch
gelungen, mit überraschender Schnelligkeit England aus seiner sxlsnäiä Isolation
heraufzuführen, die die schikanöse Torypolitik geschaffen hatte, und bei deren Lob¬
preisung die englischen Blatter bemüht gewesen waren, aus der Not eine Tugend
zu machen. Es ist nun in Deutschland vielfach mit Unbehagen aufgenommen
worden, daß diese Politik, namentlich infolge des englisch-französischen Ab¬
kommens, eine deutschfeindliche Spitze bekommen hatte, aber man wird zugeben
müssen, daß sie im britischen Interesse liegt und nicht einmal durch eine dauernde
Absicht hervorgerufen worden zu sein braucht, Intriguen gegen Deutschland zu
schmieden. Es lag am wenigsten ein Grund vor, die Begegnungen von Car-
tcigena und Gcieta nervös aufzufassen. Ähnliche Zusammenkünfte hat doch
Kaiser Wilhelm oft genug herbeigeführt, und die sind gerade von Zeitungen,
die letzthin so nervös taten, damals als bedeutungslose Fürstenbegegnungen
auszulegen versucht worden. Warum nun gerade die des englischen Königs
so viel bedeutsamer sein sollten, ist schwer einzusehen. König Eduard gilt gewiß
mit Recht als der erste Gentleman seines Landes, aber gerade Franzosen sagen
vom Kaiser Wilhelm, er wisse die Leute geradezu zu berücken. Sollte König
Eduard noch mehr vermögen? Die Sache ist einfach die, daß England durch
die Bemühungen seines Königs den Platz einnimmt, den eine ungeschickte
Politik verscherzt hatte. Heute handelt es sich nicht mehr allein um Kontinental¬
fragen, sondern auch um die Weltpolitik, bei der hauptsächlich die Seestreit¬
kräfte in Betracht kommen. England ist doch unbestritten die erste Seemacht,
die darum nicht geringer wird, weil seine Landmacht, nach europäischen Ver¬
hältnissen gemessen, auffällig klein ist. Es ist deshalb kein Wunder und noch
weniger eine Drohung gegen Deutschland, wenn sich in Aussicht auf Ent¬
scheidungen über Welthündel die anlehnungsbedürftigen Staaten der ersten
Seemacht nähern und selbst mit ihr in ein enges Verhältnis zu treten versuchen,
sobald sie nur will. Das ergibt sich einfach aus den Machtverhältnissen.
Deutschland steht zu Lande an der Spitze des Dreibundes, England führt zur
See; das könnte auch Bismarck nicht ändern.
Man muß sich eben in Deutschland an die bestehenden Machtverhältnisse
und ihre Folgen zu gewöhnen suchen. Eine Gefahr liegt in diesen Verhält¬
nissen für uns nicht, wenn wir sie nicht heraufbeschwören, was ausgeschlossen
ist. Zu Lande ist Deutschland unangreifbar wegen seines Heeres und seiner
Bündnisse; seine im Vergleich mit England noch schwache Flotte ist so anerkannt
tüchtig an Material und Mannschaft, daß sie auch einer überlegnen Scestreit-
macht einen sehr nachdrücklichen Widerstand leisten würde. Das weiß man auch
in England, das mit gutem Bedacht seit einem Jahrhundert keinen Krieg mit
einer größern Seemacht geführt hat. Man weiß auch dort ganz gut, daß das
deutsche Volk selbst in der nächsten Generation noch kein ebenbürtiger Gegner
der britischen Weltmacht zur See sein wird. Man darf sich nur in Deutschland
keiner falschen Illusion hingeben, muß dafür aber mit allen Kräften danach
streben, die deutsche Flotte auf einer Höhe zu erhalten, die auch dem starken
Gegner seinen Einsatz bei einem Vergewaltigungsversuche zu groß erscheinen
läßt. Darauf beruht der Weltfriede, namentlich für Europa. Wenn im ver¬
flossenen Jahre in England, in den Vereinigten Staaten und in Japan betont
worden ist, daß die Flotten in der bisherigen Stärke erhalten, d. h. erneuert
werden müßten, so dürfte der Grund dafür weniger in der Rücksicht auf den
nötigen Schutz der erweiterten Handelsbeziehungen zu suchen sein als vielmehr
in dem Ausblick auf die Möglichkeiten der Weltlage, deren Entscheidungen zur
See ausgekämpft werden müßten. Für jeden, der zu sehen versteht, verspricht
das englisch-japanische Bündnis keine ewige Dauer. England könnte dann
leicht in die Lage kommen, daß ihm die Unterstützung Deutschlands in Ostasien
nicht unangenehm wäre; denn beide haben dort gleiche Interessen. Es würde
schon aus diesem Grunde praktisch unklug sein, wenn England den Versuch
unternehmen wollte, die deutsche Flotte zu vernichten.
MT>
W
M> le sich aus meiner frühern Darstellung in den Grenzboten (1906,
Heft 6 und 7) ergibt, war es in Preußen im vorigen Jahr¬
hundert schon recht bald dahin gekommen, daß sich in der Ver¬
waltung überall, in den Zentral- wie in den Provinzial-
!und den Kreisbehörden in steigendem Umfang ein verderblicher
Dilettantismus oder sagen wir in ehrlichem Deutsch: ein verderbliches Pfuscher¬
und Stümpertum breit machen konnte, das verkörpert wurde durch vollständige
Laien auf dem Gebiete der Verwaltung, durch einseitige Privatrechtsjuristen
und durch ungenügend ausgebildete Verwaltungsbeamte, denen namentlich die
für sie unerläßliche persönliche Anschauung vom praktischen Leben immer mehr
abhanden gekommen war.
Jede Neuordnung des Verwaltungsdienstes, an die man endlich nach
langem Zögern Mitte der siebziger Jahre heranging, hätte also dieses Pfuscher¬
und Stümpertum rücksichtslos hinwegräumen müssen. Aber das Gesetz von
1879, das die Reform bringen sollte, hat umgekehrt die bestehenden Mi߬
stände fast für ein weiteres Menschenalter geradezu gesetzlich festgelegt. Indem
es nur für wenige Stellen, zu denen die leitenden nicht gehörten, eine be¬
sondre Vorbildung forderte, gestattete es auch weiterhin, gerade in die
wichtigsten Stellen des höhern Verwaltungsdienstes Laien hineinzunehmen.
Vollends seine Bestimmungen über die Aufnahme von Juristen in die Ver-
waltung standen theoretisch in einem ganz vollkommnen Widerspruch mit dem
Zweck und dem sonstigen Inhalt des Gesetzes und stellten praktisch eine
Schraube ohne Ende dar, die fortgesetzt daran arbeitete, der Verwaltung weit
über den Bedarf hinaus Juristen zuzuführen, auch wenn es dabei überall
mit rechten Dingen zuging. Ferner sorgte das Gesetz keineswegs für eine
genügende Ausbildung der eigentlichen Verwaltungsbeamten, wie jetzt alle
Welt zugibt; namentlich tat es nichts dafür, diesen die Verlorne Kenntnis des
praktischen Lebens wiederzugeben.
Als besonders schädlich erwies sich aber in der Folge, daß man im An¬
schluß an die bisherige Ordnung die Entscheidung über die Personalangelegen¬
heiten der höhern Beamten der Verwaltung unten den etwa drei Dutzend
Regierungspräsidenten, oben den Ministern des Innern und der Finanzen oder
eigentlich dem Minister des Innern und seinem Personalienrat*) weiter beließ.
Die unausbleibliche unmittelbare Folge dieser Versäumnis war, daß eine ein¬
heitliche, planmüßige, nur von Rücksichten auf die Verwaltung selbst geleitete
Personalienpolitik weiter unmöglich wurde, und daß statt dessen allerhand
Zufälligkeiten in diesen Sachen den Ausschlag gaben: Herkunft und Namen,
verwandtschaftliche Verhältnisse, Konfession, Landsmannschaft, Schul- und
Universitätsfreundschaften, Korpsbeziehungen, sonstige Beziehungen zu einflu߬
reichen Persönlichkeiten inner- und außerhalb der Verwaltung, wobei auch
das Ewig-Weibliche eine Rolle spielte, oder schließlich der Zufall schlechthin.
Besonders schlimm wirkte von allen diesen unberechtigten Einflüssen natürlich
die parlamentarische Patronage, die sich ja auch bei uns herausgebildet hat.**)
Die ganze Laufbahn des Verwaltungsbeamten wurde nun vom Zufall
bestimmt: seine Annahme als Referendar oder Justitiar, seine Verwendung in
bestimmten, besonders gesuchten Dezernaten oder bevorzugten Stellungen, die
Verleihung von Auszeichnungen außer der Reihe, vor allem natürlich die
Beförderung in Landratsstellen oder in andre höhere Stellen oder die Ein¬
berufung in Zentralbehörden, aber leider auch die Erfüllung bescheidner persön¬
licher Wünsche, wie etwa die Entscheidung über Versetzungsgesuche. Es ist
keine Übertreibung, daß in den letzten Jahrzehnten keiner ohne die Hilfe
solcher Zufälligkeiten in die Verwaltung hineingekommen ist oder darin außer¬
halb der sogenannten Ochsentour etwas erreicht hat. Die hervorragendsten
Fähigkeiten, die ausgezeichnetsten Kenntnisse, Erfahrungen und Leistungen,
mit einem Wort die größte Tüchtigkeit reichten nicht aus, das Fehlen solcher
zufälliger Beziehungen zu ersetzen. So erwuchs allmählich ein unerhörter
Nepotismus. Hierauf näher einzugehn, muß ich mir aus leicht begreiflichen
Gründen versagen. Übrigens sind diese Dinge ja auch genugsam bekannt.
Sie sind oft in der Presse und in den Parlamenten behandelt worden, be¬
sonders lebhaft im Zusammenhang mit den schon erwähnten Gesetzentwürfen
von 1903 und 1905, aber auch sonst, und bekanntlich ist der Entwurf von
1903 gerade an dieser Frage gescheitert. Man hat bei den Erörterungen
allerdings oft darin geirrt, daß man alle diese unerfreulichen Erscheinungen
auf gewisse persönliche Verhältnisse zurückführte. Schuld daran war vielmehr
nur die ungeeignete Organisation der Personalienverwaltung, und auch der
gründlichste Personenwechsel allein hätte an der Sache selbst nichts geändert.
Höchstens würde der Nepotismus andern Bevölkerungskreisen zugute gekommen
sein, aber auch das ist nicht sicher.
Auf den Verwaltungsdienst hat diese ganze Entwicklung geradezu ver¬
heerend gewirkt. Aus äußern Gründen kann ich nur einiges hervorheben,
das sich allenfalls in der Öffentlichkeit erörtern läßt. Vor allem ging in der
Beamtenschaft mit der äußern Einheit auch die innere verloren. Schon die
verschiedne Vorbildung mußte dazu beitragen. Aus Laien, Juristen und Ver-
waltungsbeamten von Beruf ließ sich keine Einheit bilden, deren einzelne An¬
gehörige sich mit derselben Lebendigkeit als Berufs gen offen fühlten und be¬
handelten. Und die Vorbildung war leider nicht das einzige, das die höhern
Beamten der Verwaltung äußerlich und innerlich trennte. So wurden denn
zwischen ihnen Schranken der verschiedensten Art aufgerichtet, die die persön¬
lichen Beziehungen, zum Beispiel den 'geselligen Verkehr, ebenso wie das
dienstliche Zusammenarbeiten, oft genug auf das schwerste schädigten.
Schlimmer war, daß zahlreichen Verwaltungsbeamten, zu denen wahrlich
nicht die schlechtesten ihres Berufs gehörten, die Dienst- und Arbeitsfreudig¬
keit genommen wurde, ohne die gerade in der Verwaltung ein gedeihliches
Wirken nicht möglich ist, indem sie unnötigerweise in ihrem berechtigten Selbst¬
gefühl verletzt, in ihrem Ehrgeiz gekränkt, in ihren Hoffnungen getäuscht und
materiell geschädigt wurden. Schon daß Außenseiter, wie Laien und Juristen,
die Stellen besetzten, die für die Verwaltungsbeamten bestimmt waren, oder
daß bei der Auswahl aus den eignen Reihen nicht die Tüchtigkeit, sondern
der Zufall entschied, mußte dies bewirken. Dazu kamen aber noch allerhand
bedauerliche Nebenumstände, zum Beispiel jener Mangel an Stetigkeit in den
Grundsätzen für die Behandlung der Personalangelegenheiten, den ich früher
erwähnt habe. Diese Grundsätze wechselten nicht nur mit jedem neuen Minister
des Innern, auch derselbe Minister verwarf plötzlich das, was er bis dahin
vielfältig geübt hatte. Übel war auch, daß sich in Personalangelegenheiten
häufig eine Nebenregierung einzelner Stellen geltend machte, denen ein Ein¬
fluß auf diese Dinge verfassungsmäßig nicht zustand. Man hatte manchmal
den Eindruck, als ob die allein verantwortliche Stelle dieser Nebenregierung
gegenüber auf eine eigne Personalienpolitik vollständig verzichtet habe. Für
die Beamten hatte dies zunächst die unerfreuliche Folge, daß sie gänzlich von
dem Wohlwollen, dem Verständnis, der Urteilsfähigkeit, der Fürsorge und
dem Grade des Einflusses ihrer jeweiligen unmittelbaren Vorgesetzten abhängig
wurden. Was das unter Umständen bedeuten konnte, läßt sich zum Beispiel
daraus ersehen, daß ein Präsident der Merseburger Regierung in den vier¬
zehn Jahren seiner Amtstätigkeit keinen seiner Beamten zur Beförderung vor¬
geschlagen hat, obwohl sie nach dem Zeugnis seines Amtsnachfolgers alle
eine solche verdient hätten. Als sie dann schließlich in diesem Nachfolger
einen Präsidenten erhielten, der für seine Untergebnen zu sorgen bereit und
imstande war, hatten die meisten ein Lebensalter erreicht, wo sie keine Aus¬
sichten mehr hatten, befördert zu werden!*) So wirkte also jene Neben¬
regierung vor allem ganz ungleichmäßig; gelegentlich artete sie in die reinste
Willkür aus.
Als geradezu unerträglich mußte aber endlich die Art und Weise
empfunden werden, wie die Juristen in der Verwaltung bevorzugt wurden.
Ich habe früher erwähnt, daß die Bestimmungen des Gesetzes von 1879 über
die Aufnahme der Juristen in die Verwaltung dem Zweck und Sinn dieses
Gesetzes zuwider von selbst zu einer übermäßigen Vermehrung der Juristen
im Verwaltungsdienst führen mußten, auch wenn es dabei überall mit rechten
Dingen zuging. Das genügte aber vielen Vorgesetzten nicht, wobei namentlich
der Umstand mitwirkte, daß so viele Beamte in den leitenden Stellungen des
Verwaltungsdienstes aus der Justiz hervorgegangen waren. Man beschäftigte
also per melas, wie der Minister von Hammerstein in diesem Zusammenhang
einmal sagte, gegen Gesetz und Recht, wie ich sage, häufig Juristen von vorn¬
herein oder doch, bevor sie die Befähigung für die höhere Verwaltung er¬
worben hatten, auch in Verwaltungsdezernaten und steigerte so künstlich den
Bedarf an Justitiaren. Oft waren dies Dezernate, die selbst ein geschulter
Verwaltungsbeamter nicht ohne weiteres zu erhalten pflegt, weil sie ein reiferes
Urteil und eine gewisse praktische Erfahrung in Verwaltungssachen voraus¬
setzen, wie etwa das Polizeidezernat. In solchen Füllen trat dann zu der
materiellen Schädigung der Verwaltungsbeamten noch die Kränkung. Noch
verletzender mußte aber für die Verwaltungsbeamten sein, daß man Juristen
aus SpezialVerwaltungen zu dem durchsichtigen, gelegentlich auch offen aus-
gesprochnen Zweck in die allgemeine Verwaltung herübernahm, ihnen hier die
Gelegenheit zum Weiterkommen zu verschaffen, die sie in ihrer bisherigen Lauf¬
bahn wegen Mangel an höhern Stellen oder aus andern Gründen nicht hatten.
So wurden bisher die in der Verwaltung der direkten Steuern tätigen Juristen
fast ausnahmslos und zwar häufig recht bald in die allgemeine Verwaltung
versetzt und darin zum Teil schon weiter befördert. Einer dieser Herren wurde
sogar nach kurzer einseitiger Tätigkeit als Justitiar und Verwaltungsgerichts¬
direktor über den Kopf eines Verwaltungsbeamten hinweg Stellvertreter des
Präsidenten einer der größten und schwierigsten Regierungen im Westen der
Monarchie. Ein besonders starkes Stück dieser Art war, daß man vor etwa
zwei Jahren einen Konsistorialrat unmittelbar aus dieser Stellung heraus zum
Abteilungsdirigenten an einer westlichen Regierung machte, obwohl er die Be¬
fähigung für diese Stellung nicht hatte. Dieser Fall bedeutete also geradezu
eine Gesetzesverletzung. Ein andres Bild: Als vor Jahresfrist die Behörden
für die Leitung des Baues der neuen Schiffahrtskanäle eingerichtet wurden,
besetzte man die sämtlichen Verwaltungsstellen daran mit Juristen. Zwei von
diesen Herren, die beide noch recht jung waren, erhielten den Titel und den
Rang eines Oberregierungsrats und die Zulage eines Stellvertreters eines
Regierungspräsidenten. Auch die andern Beamten erhielten allerhand Vor¬
teile — außerdem natürlich eine befriedigende selbständige Tätigkeit. Ein
sachlicher Grund für diese auffallende Bevorzugung des Juristentums ist nicht
erkennbar; sie ist vielmehr offenbar nur ein Beispiel jener früher geschilderten
Nebenregierung.
Welchen Umfang der Mitbewerb der Juristen bei der Besetzung der hohem
Stellen in der Verwaltung angenommen hat, habe ich in meinem ersten Artikel
für das Oberverwaltungsgericht und die Stellen der Verwaltungsgerichts¬
direktoren zahlenmüßig gezeigt*); hier einige weitere Zahlen. Von den 129 Ober¬
regierungsräten, die es im Herbst 1905 in der allgemeinen Verwaltung gab,
waren mindestens 71 (55 vom Hundert) Juristen, wahrscheinlich aber noch vier bis
fünf mehr. Daß diese überwiegende Besetzung einer Stelle, die den Ver¬
waltungsbeamten vorbehalten sein sollte, mit Juristen nicht eine Nachwirkung
jeuer Zeit war, wo es keinen Verwaltnngsnachwuchs gab, zeigt die Entwicklung
der letzten Jahre. Denn unter den 76 Oberregierungsräten, die in den sechs
Jahren vom 1. Oktober 1900 bis zum 30. September 1906 neu ernannt
worden sind, waren 24 (31,5 vom Hundert) Juristen, also sicherlich weit mehr, als
der Gesamtzahl der Juristen unter den Beamten der Verwaltung, die in der
Zeit nach dem Inkrafttreten des Gesetzes von 1879 in den allgemeinen Ver¬
waltungsdienst eingetreten sind, entsprach. In den einzelnen Jahren schwankte
der Anteil der Juristen an den Beförderungen zum Oberregierungsrat zwischen
14,2 vom Hundert (1905/06) und 61.5 vom Hundert (1903/04). Ähnlich über¬
wogen nach dem Staatshandbuch für 1904 damals in den Zentralbehörden der
allgemeinen Verwaltung die Juristen über die Verwaltungsbeamten. Es waren von
den 94 Unterstaatssekretären, Ministerialdirektoren und etatsmäßigen Räten bei
diesen Behörden, die nicht Techniker waren, mindestens 53 (56,4 vom Hundert)
Juristen und höchstens 41 Verwaltungsbeamte. Das Kultusministerium hatte
fast nur Juristen (17 : 4), auch das Finanzministerium hatte sehr viele (14 : 6).
Unter den fünfzehn Unterstaatssekretüren und Ministerialdirektoren waren nicht
weniger als elf (73,3 vom Hundert) Juristen und nur vier Verwaltungsbeamte.
Nur fünf von sämtlichen Juristen (9 vom Hundert der Juristen) hatten als ehe¬
malige Landräte Fühlung mit dem praktischen Leben gehabt, während von den
Verwaltungsbeamten 19 (46,3 vom Hundert der Verwaltungsbeamten) Landräte
gewesen waren. Von den Juristen waren zwei als Assessoren in die Zentral¬
behörde eingetreten, einer davon ist jetzt Unterstaatssekretär!*) Außer diesen
beiden Assessoren waren noch weitere fünf Juristen unmittelbar aus der Justiz,
also nicht durch eine Stellung in der Verwaltung in die Zentralbehörde gekommen;
einer von ihnen ist jetzt Dirigent einer gerade praktisch sehr schwierigen Ver¬
waltungsabteilung. Um diese Zahlen richtig zu verstehn, muß man überall fest¬
halten, daß wohl keiner dieser Herren ausschließlich als Justitiar tätig war, daß
aber die meisten nur in Verwaltungssachen arbeiteten. Nur ein paar Beispiele aus
dem Gebiet, das uns hier beschäftigt. Bis vor wenigen Jahren war fast ein halbes
Menschenalter ein Jurist Personalienrat im Ministerium des Innern. Ein
andrer Jurist war Kommissar des Finanzministeriums für die Verhandlungen
über den Entwurf von 1903. Da er unmittelbar aus dem Kammergericht in
das Ministerium gekommen war, so kann er nicht einmal die bescheidensten
Vorstellungen von der praktischen Verwaltung gehabt haben. Das wird ihn
aber nicht gehindert haben, maßgebend über die Ausbildung der zukünftigen
Verwaltungsbeamten zu urteilen. Auch bei den Verhandlungen über den Ent¬
wurf von 1905 war der eine der beiden Vertreter des Finanzministeriums ein
Jurist, der vor seinem Übertritt in das Ministerium ganze zwei und ein halbes
Jahr an einer Regierung und an einem Oberpräsidium gearbeitet hatte, das
heißt, von der Verwaltung höchstens einen kleinen Ausschnitt der Verwaltung
am grünen Tisch kennen gelernt hatte. Mit andern Worten, nicht einmal
über die Ausbildung unsers Nachwuchses durften wir unter uns beraten und
beschließen! Ist das nicht hahnebüchen?
Das Verletzendste aber für die Verwaltungsbeamten war, daß alle diese
Bevorzugungen einer Beamtenklasse zufielen, denen die berufensten Vertreter
der Regierung selbst bei zahlreichen Gelegenheiten feierlichst bescheinigt hatten,
daß sie für die Verwaltung gänzlich ungeeignet und unbrauchbar sei.
Ich meine, wer alles dies ehrlich und vorurteilsfrei betrachtet, wird sich
nicht wundern, daß in der Tat gerade unter den tüchtigem Verwaltungsbeamten
in den letzten Jahren eine Niedergeschlagenheit und eine Hoffnungslosigkeit
herrschten, die ihre Dienstfreudigkeit und damit Leistungsfähigkeit unmöglich
günstig beeinflussen konnten. Treitschke verlangt vom Staatsmann neben der
Kraft des Willens einen massiven Ehrgeiz, eine leidenschaftliche Freude am
Erfolg. An einer andern Stelle weist er darauf hin, daß nach einer alten
Erfahrung mit dem Stande, dem man den höchsten Ehrgeiz nehme, immer
eine oaxitis clkininntio vorgehe. Er fragt, was Wohl aus unserm Offizierkorps
würde, wenn man die Generale aus einem andern Stande nehme; ob es dann
nicht anders würde?*) Nun, alles dieses gilt doch wohl auch vom Verwaltungs-
beamten. Wie kann ein Verwaltungsbeamter Gedeihliches leisten ohne Ehrgeiz,
ohne Freude am Erfolg? Aber wie kann er sich diese Grundlagen einer er¬
sprießlichen Tätigkeit erhalten, wenn die Früchte, der Erfolg seiner Arbeit
andern zugute kommen, wenn ihm Außenseiter in den Weg treten und ihm so
den höchsten Ehrgeiz nehmen — die Aussicht, einmal an höherer Stelle eine
ausgedehntere Tätigkeit zu entfalten? Muß mit ihm da nicht auch alles
anders werden?
Eine dritte schlimme Nachwirkung der früher geschilderten Verhältnisse
war, daß sich innerhalb der Verwaltung eine bedenkliche Schwäche der Auf¬
fassung, des Willens, des Entschlusses und des Handelns zeigte. Für derbe
Charaktere, für Männer, die zu raschem und durchgreifenden Handeln, zum
rücksichtslosen Einsetzen der eignen Meinung und Persönlichkeit fähig sind, wie
sie Friedrich Wilhelm der Erste geschaffen hat, für Negierende mit einem festen
Willen, einer festen Hand, die auch einmal ein kategorisches Nein sagen können,
wie sie der Herzog von Trachenberg in seiner geistreichen Plauderei über die
Kunst des Regierens verlangt hat, für Leute endlich, die scharf bis zur Grob¬
heit sein können, wie sie jüngst eine angesehene Leipziger Zeitung forderte,
war schon lange kein Platz mehr in der preußischen Verwaltung. Im Gegen¬
teil, keiner wagte mehr selbst uuter gewöhnlichen Verhältnissen nach oben oder
nach unten seine Meinung frei zu sagen oder einmal fest durchzugreisen,
natürlich erst recht dann nicht, wenn er erwarten mußte, damit irgendwo an¬
zustoßen. Wer aber solche ketzerische Neigungen hatte und zu erkennen gab,
kam gar bald in den Ruf eines unbrauchbaren, mindestens unbequemen Menschen
oder schwierigen Untergebenen, der möglichst zurückgedrängt und verhindert
werden müsse, diese unerwünschten Neigungen zu betätigen. Gewöhnlich war
es dann auch mit seiner weitern Laufbahn vorbei. Psychologisch ist das alles
ja leicht zu erklären. Aber gerade darum war diese Entwicklung der Ausdruck
eines innern Schwächezustands, ähnlich dem, der in Frankreich nach den neuern
Forschungen**) eine der Hauptursachen der großen Revolution war, oder dem,
der bei uns mit zu dem Zusammenbruch von 1806 geführt hat. Wer die
neuern Darstellungen dieser Zeit liest, zum Beispiel das bekannte Buch des
Generals von der Goltz, findet auf Schritt und Tritt Ähnlichkeiten mit den
Zuständen innerhalb der Verwaltung in den letzten Jahren, die erschrecken
müssen. Ich halte gerade diese Schwäche für ein besonders bedenkliches Zeichen
der Zeit.
Seit dem 1. September 1906 ist das Gesetz von 1879 ersetzt durch ein
Gesetz vom 10. August 1906, das aus dem Entwurf von 1905 hervorgegangen
ist. Das neue Gesetz sollte im allgemeinen nur die Ausbildung der Regierungs¬
referendare und die zweite Prüfung neu ordnen. In Wirklichkeit hat es aber
diese Enthaltsamkeit gar nicht geübt, sondern eine ganze Reihe von Bestimmungen
getroffen, die viel weiter gehn und dahin führen müssen, daß manche der
größten Mißstände des bisherigen Zustands nicht nur erhalten bleiben, sondern
noch verschärft werden.
Dahin gehört vor allem, daß das Gesetz dem Lciientum zu den schon
vorhandnen eine neue Einbruchspforte eröffnet hat, indem es die Minister des
Innern und der Finanzen ermächtigte, Landrüte, die eine mindestens fünfjährige
Dienstzeit in dieser Stellung zurückgelegt haben, als befähigt für den höhern
Verwaltungsdienst zu erklären. Diese Bestimmung ist bei den Kommissions¬
beratungen über den Entwurf von 1903 in diesen hineingebracht und aus ihm
von der Regierung in den Entwurf von 1905 hinüber genommen worden.
Sie war ursprünglich das Ergebnis eines kleinen artigen Kuhhandels. Praktisch
bedeutet sie, daß nunmehr jeder, der einmal fünf Jahre Landrat war, ohne
Rücksicht auf seine Vorbildung, also vielleicht ein ehemaliger Offizier mit dem
Fähnrichexamen, Regierungsrat, Oberregierungsrat und Oberpräsidialrat werden
kann — vorausgesetzt, daß er die nötigen „Beziehungen" hat. Damit sind
also nunmehr glücklich sämtliche Verwaltungsstellen dem Laien zugänglich
geworden, und wiederum ist damit ausgesprochen worden, daß jeder Laie gerade
gut genug für die Verwaltung ist.
Auf einer ähnlichen Grundlage sind die neuen Bestimmungen über die
Übernahme von Juristen in die Verwaltung erwachsen. Sie bedeuten einen
weitern schweren Schlag für die Verwaltungsbeamten und die Verwaltung.
Wer seit zehn Jahren Gerichtsassessor war, kann jetzt ohne weiteres in jede
Verwaltungsstelle übernommen werden. Nach dem Vorgang mit dem Kon-
sistorialrat, den ich früher erwähnt habe, werden wir also nächstens erleben,
daß irgendein Amts- oder Landgerichtsrat — wohlverstanden nur einer mit
guten „Beziehungen", etwa ein Abgeordneter — zum Verwaltungsgerichts¬
direktor oder Oberregierungsrat ernannt wird, um, wie die Begründung des
Entwurfs von 1903 so wunderbar schön sagte, „das Personal der Verwaltung
durch tüchtige und für den Verwaltungsdienst als geeignet erkannte Beamten-
krüfte mit juristischer Durchbildung in fruchtbringender Weise zu ergänzen".
Und warum auch nicht! Würde er doch in seiner zehnjährigen Tätigkeit als
Justizbeamter ganz zweifellos ausgezeichnete Gelegenheit gehabt haben, sich „als
für den Verwaltungsdienst geeignet" zu zeigen! Wer das Unglück hat, noch
nicht zehn Jahre Gerichtsassessor zu sein, muß noch eine Probezeit überstehen,
bevor ihm die Befähigung für die höhere Verwaltung zuerkannt werden kann.
Aber man ist gnädig gewesen; man hat die Probezeit von drei Jahren auf ein
Jahr verkürzt. Und außerdem kann sie nunmehr bei jedweder Verwaltungs-
behörde in jedem beliebigen Verwaltungszweig abgeleistet werden. Früher
waren bekanntlich nur wenig Behörden mit diesem Vorrecht begnadet. In
Zukunft brauchen sich also zum Beispiel die Herren aus der Verwaltung der
direkten Steuern nicht mehr erst einige Jahre als Justitiarien oder Vcrwaltungs-
gerichtsdirektoren zu bemühen, sie können jetzt gleich Vertreter eines Regierungs¬
präsidenten werden. Noch mehr bevorzugt sind aber die Juristen aus andern
deutschen Bundesstaaten und aus Elsaß-Lothringen — wie sich auch gehört,
denn diese Staaten eröffnen ja auch den preußischen Justiz- und Verwaltungs¬
beamten mit der größten Freude ihre besten Verwaltungsstellen. Diese „Kollegen"
können ohne irgendwelche Beschränkung in jede Verwaltungsstelle übernommen
werden. Wartezeit, die vorherige Ableistung einer zehnjährigen Dienstzeit und
dergleichen unnötige Dinge bestehen für sie nicht. Es kann zum Beispiel jetzt
ein Rechtsanwalt aus einem süddeutschen Bundesstaat ohne weiteres einem
Oberprüsidium zugeteilt und dort von vornherein ausschließlich in reinen Ver¬
waltungssachen beschäftigt werden — natürlich immer vorausgesetzt, daß er etwa
in der Wahl seines Vaters und dieser in der Wahl seines Korps besonders
vorsichtig war —, während er sich bisher bedauerlicherweise trotz solchen schönen
„Beziehungen" erst einige Jahre in einem Justitiariat abquälen mußte. Wie
man sieht, handelt es sich hier um eine höchst erstaunliche Sache. Ein Herren¬
hausmitglied wollte diese Bestimmungen deshalb auch gestrichen wissen. Auf
die geheimnisvolle Andeutung, daß dies politisch bedenklich sei, verzichtete der
Herr jedoch wieder darauf. Nun, wer einigermaßen mit unsern Verhältnissen
bekannt ist, wird auch ohne die Hilfe der höhern Politik den Zusammenhang
verstehen.
> lebet Breal, der verdiente Sprachforscher und Genercilinspektor des
höhern Unterrichtswesens in Frankreich, erzählte einst dem Philo¬
sophen Lazarus: „Da bekomme ich neulich ein dickes Buch von
einem deutschen Gymnasiallehrer aus Gumbinnen oder Meseritz
I oder dergleichen, eine außerordentlich wertvolle Forschung zur Ge¬
schichte der lateinischen Sprache. Wenn in Lyon oder Montpellier ein Franzose
derartiges zustande gebracht hätte, dann wäre es doch selbstverständlich für ihn
und alle Franzosen, die davon erfahren, daß er nach Paris kommt und früher
oder später Mitglied der Akademie wird. Der deutsche Gymnasiallehrer aber
ist schon zufrieden, wenn er nur sein dickes Buch vor sich sieht, und wird ver¬
mutlich bis an sein seliges Lebensende in Meseritz oder Gumbinnen sitzen
bleiben!" Es ist diese völkerpsychologische Bemerkung ein feines Kompliment
für die Tüchtigkeit des deutschen Lehrerstandes und seinen idealistischen Zug,
und sie kam mir unwillkürlich ins Gedächtnis, als ich mit dem Gefühle leb¬
haften Dankes die Lektüre von Professor Karl Vorländers neuestem Werke:
Kant —Schiller—Goethes beendet hatte. Der Verfasser ist der Gelehrten¬
welt als hervorragender Kantforscher vertraut; seine vor vier Jahren erschienene
„Geschichte der Philosophie" füllt glücklich die Lücke aus zwischen den bis
dahin vorhandnen umfänglichen Werken und kleinen Kompendien und dürfte
berufen sein, Studenten und Freunden der Philosophie zum Führer zu werden.
Das Interesse aller Gebildeten aber darf sein Kant — Schiller — Goethe bean¬
spruchen, eine Sammlung von Aufsätzen über das Verhältnis unsrer beiden
großen klassischen Dichter zu dem klassischen deutschen Philosophen. Diese Auf¬
sätze blieben in weitern Kreisen fast unbeachtet, denn sie erschienen in philo¬
sophischen Zeitschriften. Um so reicher wird sicher der Erfolg des Buches sein,
das übrigens in seiner Geschlossenheit nicht an einen Sammelband erinnert,
und dessen Klarheit sich in der Erörterung philosophischer Fragen ebenso bewährt
wie in dem Aufbau des weitschichtigen historischen Materials.
Der Titel des Werkes ist zu bescheiden; es bildet überhaupt ein lehrreiches
Bild der philosophischen Entwicklung der beiden Dichterfreundc, die sich in Kant
fanden, zu dem Schiller, sein begeisterter und kritischer Schüler, Goethe führte.
Für Kant—Schiller fehlte es nicht an verdienstlichen Vorarbeiten; anders für
Goethe, dessen Beziehungen zur Philosophie durch einen Zeitraum von weit
über sechzig Jahren Vorländer zum erstenmal im Zusammenhange dargestellt
hat. Die Reihenfolge Kant—Schiller—Goethe ist eine kontinuierliche. Trotz der
Verschiedenheit von Kants und Goethes Natur lassen sich Kantische und Goethische
Elemente in ein und derselben Weltanschauung vereinigen: Schiller ist das Binde¬
glied zwischen beiden.
Es kann kein interessanteres Schauspiel geben, als einen Einblick in eine
geistige Werkstätte zu tun. Vorländers höchst anregendes Buch gewährt dies
in vielfacher Beziehung. Wir erkennen, wie Schiller Philosoph geworden ist;
Körner führt ihn auf Kant, aber die beiden Freunde vertauschen bald die Rollen,
und Schiller redet als Kantianer. Mit der Wendung zur Philosophie, so bekennt
er, hat er einen völlig neuen Menschen angezogen. Wir sehen, wie Schiller
Kants Wirken verfolgt, die Sittenlehre des Philosophen tief erfaßt und mit
„Anmut und Würde" seinen ersten Exkurs in das philosophische Feld macht,
einem Werke, das ungemein wichtig für die Kenntnis Schillers und das Ver¬
ständnis seiner Werke ist.
Der Dichter verleugnet sich auch im Philosophen nicht; es ist bezeichnend,
daß er zunächst die Kritik der Urteilskraft studiert; mit demselben Eifer erfaßt
er kritisch das systematische Hauptwerk des ethischen Rigorismus. Kant stellte
die Ethik auf sich selbst, wie ja auch seine Untersuchungen über theoretische Er¬
kenntnis in der Kritik der reinen Vernunft die Empirie wesentlich einschränkten.
Die historische Betrachtung, die der ohne alle Rücksicht auf Erfahrung gebildeten
Kantischen Ethik entgegensteht, lag auch Schiller fern; er huldigt, wie Vor¬
länder lichtvoll zeigt, methodisch völlig der rigoristischen Lehre seines Meisters,
erachtet aber eine Ergänzung der reinen Ethik nach der Seite des Gefühls hin
für nötig. Wilhelm von Humboldt, Schillers erster und bedeutendster Jünger,
hatte recht, wenn er in des Freundes moralischen Ansichten das recht ver-
standne Moralsystem der kritischen Philosophie sah. Auch das Verständnis
Schillers insbesondre als Dramatiker wird uns erst recht erschlossen aus seinem
Verhältnis zu Kants Ethik, dessen „poetischer, aber doch echter Jünger der
Dichter der sittlichen Gesinnung, der moralischen Erhebung und Vertiefung war.
Er ist es zumeist, der den Zug der Sittlichkeit zum Ganzen hin dramatisch
gestaltet hat; ans Vaterland, ans teure, sich anzuschließen, den sittlichen Beruf
im Wollen für die Gesamtheit zu erfüllen, das ist die Begeisterung, aus welcher
seine Dichtung stammt und welche sie erzeugt." Lazarus, der diese Worte bei
einer Schillerfeier gesprochen hat, hat in seinen „pädagogischen Briefen" auf die
Eigentümlichkeit unsrer klassischen Periode hingewiesen, daß sich alle die großen
Dichter, die sie eben zu einer klassischen erhoben, zugleich unmittelbar mit dem
Gedanken der Erziehung, mit den wichtigsten Angelegenheiten menschlicher Ent¬
wicklung beschäftigt haben. Lessing und Schiller, Goethe und Jean Paul haben
am Werke der Erziehung des Volkes unmittelbar gearbeitet: Schiller in den
Briefen über ästhetische Erziehung, der schönsten Frucht seiner philosophischen
Studien, die alle Vorzüge der Jugend und des reifern Alters trägt. In ihnen
behandelt er den Gedanken von der Möglichkeit und der Notwendigkeit der
Menschen durch die Schönheit, ein heute wieder aktuell gewordnes Thema,
das Lazarus zuerst und zwar in seiner Doktorschrift Os eäueations asstdötieg.
(1849) wieder aufnahm, und für das er in Wort und Tat vielfach eingetreten
ist. „Ganz auf Kantischer Grundlage, sagt er in einer seiner Schillerreden,
führt hier Schiller seinen Bau auf. Und wenn von dem ganzen kunstvollen
Bau in der Folge kein Stein auf dem andern bleibt; für denjenigen, der ähn¬
liche Gegenstände philosophisch betrachtet, werden auch die Quadern hinreichen,
um wieder einen neuen Bau aufzurichten, so reich an idealen treffenden Be¬
merkungen, an einer solchen Erhebung edelster menschlicher Gesinnung und
Gesittung, daß auch, was so nur zerstreut ist, ein Wertvollstes für alle Zeiten
bleibt. Wir finden hier die höchste Schätzung der Kunst und des Schönen, welche
bis dahin in einem Menschengeiste gedacht, in einem Menschenherzen empfunden
worden ist. Schiller teilt ihr die große Aufgabe zu, den Bruch der Menschheit
zu heilen, den Riß im Gemüte eines jeden auszufüllen, das Bruchstück Mensch,
welches er wäre ohne die Schönheit, zu einem Ganzen zu machen. Unermüdlich
ist er in Aufzählung der Gegensätze, denen Geist und Gemüt unterworfen sind.
Hier Harmonie zu schaffen, Vereinigung herzustellen, das sei die Aufgabe des
Schönen, und darum hänge alle wahrhafte Entwicklung und Harmonie unter
den Menschen ab von der ästhetischen Erziehung."
Auch über Goethes philosophische Entwicklung seien nur einige Hauptpunkte
und Sätze aus Vorländers gründlichen Forschungen herausgegriffen. Diese
begründen, wie gesagt, die erste umfassende Darstellung von Goethes Beziehungen
zur Philosophie und namentlich zu Kant. Sie sind ganz anders gestaltet als
die Schillers. Goethe trat in kein Schulverhältnis, er schrieb keine philosophische
Abhandlung und fühlte nicht den Beruf zum philosophischen Systematiker. Eine
besondre Schwierigkeit für Vorländer lag in der UnVollständigkeit des Quellen¬
materials. In drei Perioden zeichnet er uns Goethes Entwicklungsgang. Wir
sehen, wie trotz der Bekanntschaft mit Herder in der ersten Periode, nämlich
vor seiner Verbindung mit Schiller (1794), Kant noch keinen bemerkbaren Ein¬
fluß auf ihn übt. Er hatte sich allerdings schon Anfang 1789 zu Kant gewandt.
Als er 1788 aus Italien heimkehrte, fand er Jena voll von Kants Philosophie,
und es drängte ihn, zu ihr Stellung zu nehmen. Zu ihrem eindringlichen
Studium hatte er jedoch nicht genug Ausdauer und Geduld, und es stand
immer etwas Fremdartiges zwischen ihm und Kant. Er ist philosophisch ab¬
hängig von Herder, und beide sind Verehrer Spinozas. Solange Herder ihn
beeinflußt, bleibt er Schiller und Kant fern.
Reinholds begeisterte Briefe über die Kantische Philosophie bereiteten den
Umschwung in Goethe vor. Die Kritik der Urteilskraft verbreitete ihm Helles
Licht über sein bisheriges Schaffen, Tun und Denken. In ihr fand er die
gesuchte philosophische Fundamentierung; die Hauptgedanken dieses Werkes fand
er seinem Denken analog, freilich faßte er sie nach seiner besondern Weise auf.
Seit Kant bei Goethe Fuß gefaßt hat, ist von Spinoza lange nicht mehr die
Rede. Schiller brachte ihm die ersehnte Versöhnung mit der Philosophie, und
diese half den Bund unsrer beiden größten Dichter begründen, während vorher
gerade Schillers Begeisterung für die Kantische Philosophie ein inneres Ver¬
hältnis zwischen ihnen nicht hatte aufkommen lassen. Erst die bekannte Begeg¬
nung in Jena in der Naturforschender Gesellschaft (Sommer 1794) brachte sie
einander näher, als reife Männer schon, aber „mit um so größerem Gewinne,
schreibt Schiller, da die letzten Gefährten auf einer langen Reise sich immer am
meisten zu sagen haben". Sie rechneten von da eine neue Periode. Goethe
war, was Philosophie anlangt, der Empfangende, Schiller führte ihn in das
Verständnis des kritischen Idealismus ein. Dessen ästhetische Briefe erregen
sein höchstes Entzücken und atmen doch Kantische Grundsätze. Die fortschreitende
Beschäftigung Goethes mit Kant ist gleichbedeutend mit der Entfremdung von
Herder und dem Zusammenwachsen mit Schiller, in dessen Auffassung er sich
Kants Philosophie zu eigen machte, ohne daß sich Goethe jedoch, wie es
Schiller getan hatte, gründlich in die Einzelheiten eines philosophischen Systems
vertieft hätte. Niemals hat er sich einem Philosophen von Fach ganz ergeben,
niemals sich in die Fesseln eines Systems eingesponnen. Er nahm sich, wie
Schiller ihm einmal schreibt, von seinen Ideen nur das. was seinen An¬
schauungen zusagte. Der beste Beweis dafür, daß Goethes „anschauende
Natur" keine Feindin wahrer Philosophie war, ist gerade die vertraute Freund¬
schaft mit Schiller, die durch den von diesem ihm nahe gebrachten Kantischen
Kritizismus belebt und gestärkt wurde. Durch Schiller wurde Goethe Philosoph
mit Bewußtsein; vorher war er es, ohne es zu wissen. Schiller war der
Mentor, der den philosophischen Dämmerungszustand Goethes gelichtet, ihm die
Philosophie zu einem notwendigen Bestandteil seines Ich gemacht hat. Seit
der Bekanntschaft mit Schiller zählt er die Philosophie ganz anders als vorher
zu den Gegenständen seines Interesses und Studiums.
Gegen Kant eiferte der ganze Herdersche Kreis, nicht am wenigsten Herder
selbst, dessen gehässiger Ton Goethe abstoßen mußte; auch Jean Paul, der alte
Klopstock, Dalberg, Vater Gleim und andre fallen gegen ihn aus, und mit der
Feindschaft gegen Kant ist die gegen Schiller und Goethe verwachsen. Die
Genien zeigen, daß die beiden Dioskuren mit dem Königsberger Weisen die¬
selben Gegner haben. Es ist keineswegs ein erquickliches, aber ein ungemein
plastisches, ja dramatisches Bild des geistigen Lebens jener Zeit, das in jener
Fehde an uns vorüberzieht.*)
Nach Schillers Tode trat Goethes Beschäftigung mit der Philosophie
zurück, und es blieb nur das philosophische Interesse. Von einer vertrautem
Beschäftigung mit philosophischen Problemen, wie sie durch die Freundschaft
und den innigen Geistesaustausch mit Schiller in ihm wachgerufen worden
war, ist nach dessen Tode nicht viel mehr zu merken. Auch hier gibt Vor¬
länder interessante Ausblicke auf das Geistesleben der ersten Jahrzehnte des
neunzehnten Jahrhunderts: Hegel und Steffens, Fichte, Schelling und Schopen¬
hauer treten uns vor Augen. Jacobi führt Goethe wieder zu seiner alten Liebe,
zu Spinoza, zurück, dem er nun aber, wie überhaupt philosophischen Systemen,
dank der durch Schiller vermittelten Einführung in die kritische Philosophie ein
besseres Verständnis entgegenbringt.
Das Verhalten unsrer beiden größten Dichter zur Philosophie: Goethes,
der nach seinem eignen Bekenntnis bei den mannigfaltigen Richtungen seines
Wesens nicht an einer Denkweise genug haben konnte, und Schillers, der Kants
Schüler geworden war, ist für ihr Verständnis überaus wichtig. Wir finden
bei Goethe tiefen Einfluß des kritischen Idealismus einerseits, immer wieder¬
kehrendes Ablenken und eigenartige Auffassungsweise andrerseits, die auf dem
unverlierbaren Gegensatz zwischen der anschauenden, immer zum Ganzen hin-
strebenden Natur des Dichters und der zergliedernden Strenge des Philosophen
beruhen, dem kritische Scheidung immer das erste Erfordernis bleibt. „Schiller,
so sagte Goethe, pflegte mir immer das Studium der Kantischen Philosophie
zu widerraten: Kant könne mir nichts geben. Er selbst dagegen studierte ihn
eifrig, und ich habe ihn auch studiert, und zwar nicht ohne Gewinn."
Vervollständigt wird das Bild Kant—Schiller—Goethe durch die Darstellung
der freilich dürftigen persönlichen Beziehungen beider Dichter zu dem Philo¬
sophen und dessen, was sie ihm waren oder vielmehr nicht waren. Dem großen
Kunsttheoretiker fehlte es an poetischem Gefühl. Er hat unsre beiden Dichter¬
heroen nicht geschätzt. Goethe wußte, daß Kant nie Notiz von ihm genommen
hat. Er, der so tief in das Wesen des dichterischen Genies eingedrungen ist,
der das Fundament der klassischen Ästhetik gelegt hat, der unsre großen Dichter
nachlebten, wurde den beiden Männern nicht gerecht! Ihre Werke erschienen,
als ihn selbst die eigne Geistesarbeit in Anspruch nahm und später die Schwäche
des Alters befiel. Es hat etwas Tragisches, daß ihm der Genuß an ihren
Schöpfungen versagt blieb, daß er die Genugtuung nicht empfand, zu deren
Reife beigetragen zu haben. Er hat sie kaum gekannt, noch weniger gewürdigt.
Vorlünders Werk ist ein wertvoller Beitrag zur Geschichte der Literatur
sowohl als der Philosophie in der bedeutungsvollsten Periode deutschen Geistes¬
lebens. Die Form, in die er seine Forschungen gegossen hat, macht sie nicht nur
zu einem Besitz der Gelehrten, sondern die weitesten Kreise der Gebildeten können
sich ihrer erfreuen und aus ihnen genußvolle Belehrung schöpfen.
-H^i>>^
MMin die Tatsache, daß die redenden Tiere des Märchens unmittel¬
bar auf die Anschauungen und das Verhältnis des primitiven
Menschen zu den Tieren zurückgehen, brauchen wir nicht die wissen¬
schaftliche Forschung hcrbeizuziehn. Darüber wird sich jeder, der
uur eine bessere Reisebeschreibung gelesen hat, ohne Mühe selbst
überzeugen können. Verborgner liegen jedoch die Beziehungen auf andern Ge¬
bieten des primitiven Glaubens.
Die älteste Religionsform des Menschen ist der Seclenglaube, wenn wir
von dem sicher voranimistischen Zauberglauben absehen. Der Seelenglaube
durchdringt und bestimmt das ganze Leben und Denken des primitiven Menschen.
Es ist deshalb kein Wunder, daß ein sehr starker Bruchteil des Übernatürlichen
im Märchen mit dem primitiven Seelenglauben in direktem Zusammenhang steht.
Viele Märchenzüge haben sich unmittelbar aus ihm entwickelt. Der Natur¬
mensch denkt sich die Seele gern als ein spannlanges Männchen, das leibhaftige
aber verkleinerte und verfeinerte Ebenbild des Menschen. Weil es nun ein
Grunddogma der natürlichen Religion ist, daß sich die Seele frei von dem
Körper lösen und ungebunden umherschweifen könne, wann es ihr beliebt, be¬
sonders aber im Schlaf, so fabelte man wohl schon früh von den Erlebnissen
des winzigen Seelenmännchens außerhalb des Gefängnisses des Leibes. Hier
haben wir die Wurzel der Däumlingsmärchen. Man dachte sich auch die Seele
als Vogel, frei in der Natur umherfliegend. Das ist die Erklärung für den
hilfreichen Vogel auf dem Baume, der aus dem Grabe der Mutter wächst
(Aschenbrödel). Dieses Vögelchen ist nichts andres als die Seele der toten
rechten Mutter. In dem Märchenkreise von der untergeschobnen Braut erscheint
die getötete rechte Braut als Ente in der Küche, denn die Seele hatte im
Augenblick des Todes den Leib als Vogel verlassen. Ebenso weit verbreitet
ist der Glaube, daß die Seele Schlangengestalt hat. Wir werden dabei an das
Motiv erinnert, daß ein Kind zusammen mit der am Herde gehegten und mit
Milch gefütterten Hausschlange aufwächst. Verläßt diese das Haus oder stirbt
sie gar, dann welkt das Kind dahin.
Das Dogma von der außerkörperlichen Seele hat auch dem schönen
Mürchenzuge das Leben gegeben, wonach das Leben des ausziehenden Helden
an das Wachstum und Gedeihen eines Baumes geknüpft ist, oder einem andern
Motive, wonach die getötete oder die verwandelte Braut als Blume in das
Zimmer des Helden gebracht wird, und wie sie alltäglich zu bestimmter Stunde
aus der Blume in wahrer Gestalt schlüpft, das Zimmer reinigt und ordnet
oder von den aufgetragnen Speisen nippt.
Die Seele oder ein Teil davon manifestiert sich auch in gewissen Teilen
des Körpers, so vor allem in den Haaren. Hier ist die Wurzel des bekannten
Simsonthemas. Der Held verliert alle Kraft, sobald ihm die Haare geschoren
werden. Auch im Speichel ruht ein Teil der Seelenkraft, darum weiß ein
gewiß uralter Märchenzug von dem Speichel zu erzählen, den die aus der Haft
des Zauberers entfliehende Heldin auf der Schwelle zurückläßt, damit er für sie
antworte. Blut aber ist ein ganz besondrer Saft. In ihm ruht die Seelen¬
kraft unmittelbar, denn mit dem ausströmenden Blute fließt auch das Leben aus
dem Leibe. Wie das Blut deshalb die Quelle von außerordentlich mannig¬
faltigem Aberglauben geworden ist, so auch von vielen Erzählungsmotiven. Die
Mutter gibt dem in die Fremde reisenden Kinde drei Blutstropfen mit, die so
unmittelbar die schützende Macht der Mutterseele mit sich führen, daß sie in
Augenblicken der Gefahr zu reden und zu warnen beginnen. (Jalada oder die
Gänsemagd.) Der Wilde sieht nichts Ungereimtes darin, daß ein Mensch im¬
stande sein kann, seine Seele aus dem Leibe zu ziehn (der Sinn des Totem-
glaubens ist wahrscheinlich der, daß bei deu Weihen der Kandidat seine Seele
aus dem Körper nimmt und sie in den Leib des Totemtieres überleitet, dafür
aber die Seele des Tieres in sich aufnimmt), um sie irgendwo sicher aufzu¬
bewahren So erklärt sich das über die ganze Erde verbreitete Motiv von der
eingeschachtelten Seele des Riesen oder des Dämons, der unsterblich ist, so¬
lange der Held nicht den Zugang zu der fünf- und mehrfach eingeschachtelten
Seele findet.
Als der Gipfel der Märchenphantastik wird dem Märchenleser die Fahrt
des Helden in das Wunderland erscheinen, wo er nach Überwindung furchtbarer
Gefahren einen Wundergegenstand erkämpft. Erst gilt es, einen weiten, schwie¬
rigen, pfadlosen Weg zurückzulegen, von dem Ziel trennt den Helden ein breites
Wasser, über das eine sonderbare Brücke führt, oder über das ein Fährmann
den Helden widerwillig rudert. Am Eingang des Wunderlandes halten grim¬
mige Tiere Wache, oder ein auf- oder zuschlagendes Tor macht den Eintritt
schwierig. Die Schwierigkeiten häufen sich, je näher der kühne Eindringling
dem Zentrum kommt, wo sich das Wunderding oder eine wunderschöne Jung¬
frau befindet. Es gelingt ihm, alle Widerstände zu überwinden, aber noch auf
dem Rückwege entrinnt er nur mit Mühe dem Geschick, auf ewig in dem Land
eingeschlossen zu werden; das zuschlagende Tor schlägt dem Davoneilenden
einen Teil der Ferse ab. Hier ist jedoch nichts von willkürlich ausgesonnener
Phantastik. Das Märchen gibt Zug um Zug die Reise der Seele ins Jenseits
wieder, wie sie sich der Wilde ausmalt. Die Schotten geben dem Toten Schuhe
mit, weil der Weg der Seele über eine große mit Dornen und Pfriemenkraut
bewachsne Heide geht. Nach allgemeinem deutschem — und ähnlich schon an¬
tikem — Volksglauben findet der Tote, wenn er im Leben Brot an die Armen
gegeben hat, nach dem Tode Brot bereit, das er dem vor dem Tore des
Seelenlandes wachehaltenden Hunde in den Rachen werfen muß. Der über¬
fahrende Fährmann findet sich nicht nur in dem modernen und dem mittel¬
alterlichen Volksglauben und in der antiken Mythologie, sondern auch bei höhern
und niedern unzivilisierten Völkern. Die Azteken gaben ihren Toten Pässe mit,
mit deren Hilfe sie auf der Seelenfahrt durch alle Stationen hindurchgelangten.
Während sie den ersten Paß in den Sarg legten, riefen sie dem Gestorbnen zu:
„Mit diesem wirst du zwischen den Bergen hindurchkommen, die sich aneinander¬
stoßen." (Hier haben wir etwas, das dem auf- und zuschlagenden Tor ent¬
spricht.) Nach einer Überlieferung der Indianer des Algonkinkreises kommt der
Held auf der Fahrt in das Jenseits an den Rand des Himmels, der in ge¬
wissen Zwischenräumen auf die Erde aufschlüge. Nur mit genauer Not gelangt
er hindurch. Wenn nach dem Glauben der Tschoktahindianer die Seele in das
Jenseits will, so muß sie über einen Fluß voll stinkender Fische und toter Kröten.
Über ihn gelangt man auf einem schlüpfrigen Ballen. Die Bakwiri in Kamerun
glauben, daß bevor die Seele in die Unterwelt kommt, sie auf einem Baum¬
stamm über eine tiefe Schlucht wandern muß, worin der Mukasse (der böse
Geist) haust, der die Seelen herunterzuziehn trachtet. Hat um jemand Angst,
so packt ihn der Mukasse am Unterkiefer und rente ihn ihm aus; hat aber der
Wandrer keine Furcht, so faßt ihn schließlich der Dämon selbst bei der Hand
und leitet ihn hinüber. (Dem furchtlosen Märchenhelden öffnen sich von selbst
die Tore, die wachehaltenden Ungeheuer tun ihm nichts zuleide usw.) Diese
Beispiele, die man unbeschränkt vermehren könnte, zeigen wohl zur Genüge, wie
aus uralten Anschauungen über die Reise der Seele in das Totenland die Er¬
zählung von der Fahrt des Helden in das Märchenwunderland erwachsen ist.
Wollen wir diese Anschauungen der primitiven Menschen nun noch weiter auf
ihren Ursprung zurttckverfolgcn, so stoßen wir auf Traumerfahrnngen. Im
Traum oder im Rausch der Ekstase glauben besonders dazu disponierte Indi¬
viduen, vor allem also die professionellen Zauberer, in das Seelenland ein¬
gedrungen zu sein, und was sich ihnen im Traum oder in der Ekstase offenbart
hat, erzählen sie nachher den staunend lauschenden Zuhörern. Es ist geradezu
ein Teil der praktischen Zauberkunst, von Zeit zu Zeit die Seele in das Jen¬
seits zu schicken, wobei Personen, die geheime Dinge oder die Zukunft zu er¬
fahren wünschen, dem Zauberer Fragen mitgeben, die er sich von den Seelen im
Jenseits beantworten lassen soll. Von solchen Fahrten der Medizinmänner in
das Seelenland weiß die ethnologische Forschung viele interessante Berichte an¬
zuführen. Man sieht leicht, daß hier der Keim zu der Märchenerzählung liegt,
in der der Held in die Hölle zum Teufel fährt und von ihm Antworten auf
Fragen, die ihm unterwegs mitgegeben worden sind, erhält.
Auch die einfachen, kindlichen Anschauungen des Wilden über die Natur
— die primitive Naturmythologie — kehren im Märchen wieder. Der Urmensch
dachte sich das Himmelsgewölbe als ein festes Gewebe, das wohl ein besonders
geschickter Mann einmal besteigen konnte. Viele Märchen wissen davon zu er¬
zählen, wie der Jüngling oder die Jungfrau zu der Sonne oder zu dem Mond
emporsteigt, um sich von ihnen Rat oder Hilfe zu holen. Der Glasberg des
Märchens ist nichts andres als die blaue Himmelskuppel. Sonne, Mond und
Sterne gelten auf der ganzen Welt als persönliche Wesen. Die Sonne wird
vielfach als alte Frau aufgefaßt oder als grausames männliches Wesen, das
seine eignen mit dem Mond erzeugten Kinder, die Sterne, verfolgt, um sie zu
fressen. Hieraus wird nun verständlich, wie im Märchen erzählt werden kann,
daß die Jungfrau, als sie zur Sonne wandert, nicht eben freundlich empfangen
wird; die Sonne wittert Menschenfleisch und freut sich auf die unverhoffte Beute.
Im Monde glauben so ziemlich alle Völker der Erde ein menschliches Wesen
zu sehen, meist eine Frau, die da oben spinnt oder Gewänder webt. Diese
Anschauung hat den Anlaß zu dem Thema gegeben, daß die Heldin von dem
freundlichen Monde drei wunderschöne Kleider erhält. Wenn der Mond eine goldne
Henne mit sechs goldnen Küchlein schenkt, so ist damit das Siebengestirn gemeint.
Das Zauberwesen des Märchens geht in seiner Gesamtheit auf die uralten
Primitiven Zaubervorstellungen zurück. Die Haupteigenschaft, die die Wilden
dem Zauberer zuschreiben, ist die Fähigkeit, seine Seele mit Leichtigkeit aus dem
Körper zu lösen und sie entweder auf die Wanderschaft zu schicken, bis ins
Jenseits hinein, oder sie in andre Menschen oder in Tiere einfahren zu lassen.
Das letzte ist die Fähigkeit der Selbstverwandlung, die auch den Zauberern im
Märchen zukommt. Schritt für Schritt kann man die Verzauberung des Mürchen-
helden in Tiere auf den primitiven Glauben vom Übergange der menschlichen
Seele in Tierleiber zurückleitcn. Das Grunddogma der Zauberkunst lautet:
Da der Leib mit allem, was an ihm ist, eine innerlich untrennbare Einheit
bildet, so ist jedes einzelne Teilchen des Körpers der Lebenskraft teilhaftig,
auch nachdem es vom Körper losgelöst worden ist. Was einer also mit einem
Körperteilchen eines Menschen, sei es mit einem Haare, einem Zahn, einem
Nagelabschnitt, ja sogar mit der Fußspur vornimmt, das spürt der Besitzer,
auch wenn er weit entfernt sein sollte. Diese urälteste Zauberanschauung wirkt
noch lebendig in dem Märchenzuge nach, wonach der Held ein Haar, eine
Feder oder eine Schuppe von einem hilfreichen Tier erhält mit der Anweisung,
dieses Teilchen im Augenblicke der Not zu verbrennen, um durch diese Mani¬
pulation das Tier augenblicklich herbeizurufen.
Auch rein gesellschaftliche Einrichtungen aus der primitiven Vorzeit der
Völker (die ja allerdings immer mit religiösen Anschauungen durchtränkt sind)
hat das Märchen bewahrt. Bei den meisten Völkern herrscht der Brauch, daß
bei den Mädchenweihen die Jungfrau eine gewisse Zeit in einem dunkeln ab¬
geschlossenen Raum, in den kein Sonnenstrahl dringen darf, eingekerkert gehalten
wird. Man wird dabei an den bekannten Märchenzug erinnert, daß ein König
seine Tochter auf Grund einer schlimmen Prophezeiung bis zum vierzehnten
Jahre (also bis zur Zeit der Mannbarkeit) in einen Turm einschließt (Danae-
motiv). Trifft ein Sonnenstrahl eine Jungfrau, der es prophezeit worden ist,
daß sie sich vor der Sonne hüten solle, so wird das Mädchen in ein Tier ver¬
wandelt. Dieses Motiv findet sich häufig in dem Märchenkreise von der unter¬
geschobnen Braut. Überhaupt spielen die primitiven Tabuvorschriften eine be¬
deutende Rolle in Märchen, worauf hier jedoch nicht weiter eingegangen
werden kann.
Die wenigen hier angeführten Beispiele müssen genügen, zu zeigen, daß
der Stoff, aus dem unsre Märchen bestehn, aus dem Leben, den Natur¬
anschauungen und den abergläubischen Vorstellungen der Urzeit der märchen¬
erzählenden Völker gewonnen worden ist. Das, was uns märchenhaft im
eigentlichen Sinne, d. h. übernatürlich und auf der Tätigkeit der Phantasie be¬
ruhend erscheint, war früher einmal wirklich lebendige Weltanschauung, fest ge¬
glaubte Lebenserfahrung. Wir verstehn nun, daß die Menschen der Vorzeit,
wenn sie eine besonders interessante Begebenheit erzählen wollten, im Banne
dieser religiösen Vorstellungen und der Zauberanschauungen stehend, gar nicht
anders erzählen konnten, als daß sich fortwährend diese übernatürlichen Bestand¬
teile ihrer täglichen Erfahrungen in ihre Vorstellungen eindrängten. Erfinden
konnte der Naturmensch nicht selbsttätig, sondern nur verbinden, und was er
verband, waren die ihm geläufigen Erscheinungen und Vorgänge des täglichen
gesellschaftlichen Lebens mit jenen Bestandteilen seiner illusionistischen Welt¬
anschauung.
Um einen klarern Einblick in diesen Prozeß zu gewinnen, müssen wir
einmal versuchen, uns im Geiste zu einer abendlichen Unterhaltung einer wilden
Dorfgemeinschaft zu versetzen und an der Hand der Berichte von Forschungs¬
reisenden und einiger konkreter Beispiele von primitiven Märchen ermitteln, was
dort etwa erzählt werden mag. Des Abends versammeln sich die Männer im
Gemeinschaftshause oder am Dorffeuer, und die professionellen Erzähler oder
besonders begabte Stammesmitglieder erzählen abwechselnd. Wir sehen hier
ab von den Stammessagen und den ätiologischen Sagen und beschränken uns
nur auf märchenhafte Erzählungen. Der eine erzählt von einem Manne, der
auf die Jagd ging und im Walde ein Rencontre mit einem Baumdämonen
hatte. Ein andrer erzählt, wie eine Frau, die zum Wasserschöpfen an einen
Teich gegangen sei, eine schreckhafte Begegnung mit dem Dämon des Teiches
gehabt habe. Ein dritter erzählt, wie eine Frau auf wunderbare, unnatürliche
Weise schwanger geworden sei und ein mit besondern Kräften begabtes Kind
zur Welt gebracht habe. Ein vierter unterhält die Gesellschaft mit der Geschichte
eines Jünglings, der von einem großen Tiere verschluckt worden sei, sich aber
mit dem Messer einen Weg aus dem Leibe des Ungeheuers gebahnt habe.
Dieser verwendet dabei die gewiß allen Hörern bekannte mythische Fabel vom
Sonnenheros, der von dem Ungeheuer Nacht verschluckt, am Morgen aber aus
der dunkeln Haft entlassen wird. Ein vierter berichtet von einem Häuptlings¬
sohne, der auf eine gefährliche Werbung bei einem fern wohnenden Häuptling
ausgezogen sei, wie er nach harter Arbeit die Braut errungen habe, die ihm
aber alsbald auf geheimnisvolle Weise entschwunden oder geraubt worden sei,
und wie er sie schließlich nach vielen Mühen und mit Aufbietung seiner ganzen
Zauberkunst oder mit Hilfe eines Zauberers wiedererrungen habe. Zauberer
werden gern erzählen, wie sie in der Ekstase in das Seelenland gewandert seien,
und was für Schrecknisse und Gefahren sie auf dem Wege zu bestehn gehabt
haben. Vielleicht wird später diese Geschichte auf einen besonders mutigen
und zauberkundigen Häuptlingssohn übertragen oder — bei seeanwohnenden
Stämmen — auf einen Mann, der beim Fischen in seinem Boote von widrigen
Winden auf eine ferne Insel verschlagen worden war und erst nach monate¬
langer Abwesenheit zurückkehrte. Beliebt ist das Thema von Verwandlungen
und EntWandlungen. Häufig wird es auch wohl in der Urzeit vorgekommen
sein, wie es noch jetzt bei den Wilden der Fall ist, daß ein Erzähler, der be¬
sonders lebhaft zu träumen pflegte, seine Träume zum besten gab. Die Er¬
fahrungen des Traumes haben bekanntlich für den primitiven Menschen dieselbe
Realität wie die Erfahrungen des wachen Zustandes. Einer hat vielleicht von
einem nächtlichen Kampf mit einem Unholde geträumt, der ihn mit dem Tode
bedrohte, wenn er ein aufgegebnes Rätsel nicht zu lösen vermochte. Solche
Träume weiter und weiter erzählt, mußten bald zu Märchen oder märchen¬
haften Erzählungen anwachsen. Im Mittelpunkt aller dieser Erzählungen
steht — das ist sehr beachtenswert — immer ein Kampf in irgendeiner Form,
ein Überwinden von Widerständen. Das Denken und das Fühlen des Natur¬
menschen ist ganz erfüllt von der Idee des Kampfes. Der ganze Inhalt seines
Lebens ist, wie er instinktiv fühlt, ein Kampf, sei es gegen die natürlichen
Widerstände, sei es gegen die Welt der unsichtbaren bösen Mächte, die seine
eigne Einbildungskraft geschaffen hat. Und überall, wohin er in der Natur
sieht, gewahrt er, daß alles Leben und Bestehn ein Ringen um die Existenz
ist, in der Tierwelt, in der Vegetation und in den täglichen Phänomenen der
Natur. Es ist kein Wunder, daß dieses tägliche Erleben, wenn auch unbewußt, sein
Denken beeinflußt und sich in seinen Erzählungen widerspiegelt. Hier haben wir
die Erklärung für die Tatsache, daß die zentrale Idee im Abenteuermärchen ebenso
wie in der stoffverwandten Heldensage das Überwinden von Widerständen ist.
Die kurzen Proben der Erzählungsstoffe, wie sie hier angeführt worden
sind, zeigen alle eine ursprüngliche Verbindung eines natürlichen Vorgangs mit
übernatürlichen Bestandteilen. Ihnen mag nun noch eine ausgeführtere märchen¬
hafte Erzählung der Papuas auf Neu-Guinea folgen. Ich wähle mit Absicht
eine ganz unscheinbare Geschichte, worin der Märchencharakter erst im Werden
begriffen ist. Zum Verständnis sei vorausgeschickt, daß nach dem Glauben der
Papuas die Augen der Sitz der Seele sind. „Ein selbstsüchtiger Mann Pflegte
sich überall, wo eine Schmauserei stattfand, einzustellen. Er bekam auch jedes¬
mal sein Teil mit. Aber damit begab er sich nicht zu seiner Familie, sondern
setzte sich in den Wald und verzehrte alles allein, daheim vorgebend, er Hütte
nichts erhalten. Frau und Kinder erfuhren jedoch bald den wirklichen Tat¬
bestand. Wenn er nun mit seinem Essen allein war, hatte er die Gewohnheit,
beide Augen herauszunehmen und sie von sich zu werfen (offenbar eine Tabu¬
handlung; mit den Augen tat er also die Seele von sich), und rief sie nach
Beendigung des Mahles wieder zu sich. Als er nun einmal wieder das eine
Auge gegen die Mündung des Baches, an dem er ruhte, das andre flu߬
aufwärts geworfen hatte, nahmen seine beiden Söhne diese auf und eilten
damit in das Dorf zurück, wo sie sie in eine Schale mit Wasser legten. Der
selbstsüchtige rief nun wie gewöhnlich seine Augen, aber diesesmal ohne Erfolg,
und nun tappte er, überall anstoßend, nach seinem Hause und wälzte sich davor
auf dem Boden, wehklagend um seinen unersetzlichen Verlust. Erst nachdem er
seine Selbstsucht zugestanden und Besserung gelobt hatte, gab ihm die Familie
am Abend die Augen zurück."
Wir haben hier also im Kern einen einfachen Vorgang, wie er sich jeden
Tag in dem Gesellschaftsleben der Papuas ereignen konnte, erweitert jedoch
durch einen Zug, der uns wunderbar, märchenhaft dünkt, der aber aus dem
Seelenglauben dieses Volkes beruht, und der sich anderswo zu einem frucht¬
baren vielverwandten Motiv, dem von den ausgestochnen Augen, die durch
wunderbare Geschenke wiedergewonnen werden, entwickelte.
Fassen wir nun noch einmal das Ergebnis der vorstehenden Betrachtungen
in Kürze zusammen, so können wir über die Entstehung des Märchens etwa
folgendes aussagen: Die primitiven Urväter der Kulturvölker waren, ebenso wie
die heutigen Wilden, sobald sie eine gewisse Stufe des Gemeinschaftslebens er¬
reicht hatten, fabelfrohe Menschen, die es über alles liebten, die Zeit mit
Geschichtenerzähler hinzubringen. Die Beschränktheit ihrer unentwickelten Geistes¬
anlagen brachte es mit sich, daß sie nicht zusammenhängende, motivierte Er¬
zählungen, sondern formlose Sprunghafte Geschichten hervorbrachten. Was den
Stoff anlangt, so hielten sie sich dabei entweder an ihre Träume oder an ein¬
fache Erlebnisse des täglichen Lebens, besonders an solche, die den gewöhnlichen,
durch Sitte und Brauch vorgeschriebnen Verhältnissen zuwiderliefen und dadurch
einen besonders interessanten Gegenstand darboten; vor allem fühlten sie sich
durch solche Geschehnisse angezogen, die in irgendeiner Weise einen Kampf dar¬
stellten. Weil nun das ganze Denken des primitiven Menschen durchdrungen
ist von abergläubischen Vorstellungen jeder Art, drängte sich die mannig¬
faltige Jdeenmasse ihres religiösen Glaubens, besonders die Anschauungen
über die Seele und ihr Leben sowie über die unsichtbare Welt übernatürlicher
Geister und Dämonen, über die Natur und schließlich über das Zauberwesen
in ihre Erzählungen ein. Wenn sie erzählten, so vermischte sich von selbst
Natürliches mit Übernatürlichem, rannen ihnen beide Reiche entsprechend ihrem
allgemeinen Unvermögen, verschiedne Vorstellungen voneinander zu sondern, in
ein untrennbares Ganzes zusammen. So entstanden formlose Geschichten, die
wesentlich illusionistischen, oder wie wir es von unserm Standpunkt bezeichnen,
märchenhaften Charakter tragen, und die sich überall ähnlich sein mußten, weil
die allgemeine Gleichheit der menschlichen Anlagen überall nicht nur zu ähnlichen
Gesellschaftsformen, sondern auch zu überraschend gleichartigen religiösen Vor¬
stellungen und auf Grund dieser beiden Faktoren zu ähnlichen Erzählungen
führte. Diese Geschichten sind nun die Keime zu den kunstvollem Märchen¬
erzählungen, die einer spätern Stufe angehören.
Diese Hypothese scheint mir die natürlichste und einfachste zu sein und
darum den Vorzug vor solchen zu verdienen, die mehr oder minder künstlich
den Ursprung der Märchen nicht aus dem Wesen und dem Zustande der Er¬
zähler, sondern aus andern vielleicht ursprünglichem Geisteserzeugnissen der
primitiven Zeit ableiten. So wurde versucht, das Märchen aus der Zauber¬
handlung oder vielmehr aus dem diese begleitenden Zauberspruch, sofern er sich
in der Form einer symbolischen Erzählung kundgibt, abzuleiten, oder aus un-
verstandnen Riten, die später durch eine hinzugedichtete Erzählung erklärt oder
gerechtfertigt werden sollten. Man kann unbedenklich zugestehn, daß sich in
spätern Stadien der Entwicklung auch aus Zaubersprüchen oder Riten märchen¬
hafte Erzählungen entwickelt haben können, und man muß dabei beachten, daß
zur Erklärung der Kultgebräuche meist uralte bekannte und verbreitete Erzählungs¬
stoffe verwandt wurden. Auch mag hier und da ein alter Mythus zu einem
Märchen herabgesunken sein. Ich habe schon das Beispiel von dem Mythus
des Sonnenheros und dem Ungeheuer Nacht angeführt. Die schöne tiefsinnige
Mythologie der Polynesier kehrt bei den tieferstehenden Melanesiern in märchen¬
hafter Form wieder. Ja es ist nicht ausgeschlossen, daß Märchen in neuerer
Zeit entstanden sind. Ein besonders begabter, erfindungsreicher Mann mag auf
Grund der vorhandnen Mürchenbestandteile ein wesentlich neues, kunstreiches
Geschichtchen zusammengedacht haben, das dann seinen Weg durch die Welt
angetreten hat. Aber im Prinzip muß an der — jetzt übrigens von den meisten
Märchenforschern anerkannten — Tatsache festgehalten werden, daß die Märchen
in ihren Wurzeln und Keimen ein Erzeugnis der primitiven Vorzeit sind. Ich
betone jedoch uoch einmal, daß wir uns diese märchenhaften Urgeschichten nicht
als fertige kunstvolle Mürchenerzählungen vorstellen dürfen, sondern als kürzere
oder längere Geschichten mit mehr oder minder bedeutendem mythisch-religiösem
Einschlag, Rudimente, aus denen sich später kunstgerechtere Formen der Er¬
zählungskunst entwickelten. Und hier liegt nun die eigentliche Schwierigkeit des
Problems. Wir haben einerseits fertige ausgebildete Erzählungen vor uns
mit durchaus spezifischem Charakter, unsre Volksmärchen; andrerseits können
wir die Anfänge dieser Erzählungsgattung aus den primitiven Einzelheiten, die
in unsern Märchen klar zutage liegen, erschließen, über das aber, was dazwischen
liegt, über die lange, lange Zeit der Entwicklung, die unsre Volksmärchen von
den Erzählungskeimen der Urzeit trennt, wissen wir nichts.
in Vier Uhr Nachmittags führte uns der Zug aus der Station
Ssamarkcmd heraus unter der Höhe mit dem Denkmal der Schlacht
am 13. Mai 1368 entlang, dann über den tief eingewühlten Haupt-
aryk Obi-Ssiab hinweg, dessen mehrere Meter hohe senkrechte
Ränder die Schichtung des Lößbodens überraschend deutlich zeigen.
Bald erreichten wir den Serafschan, in dessen felsigen Talrand die
Bahn eingeschnitten ist. Ein eigentümliches Bauwerk ist die sogenannte Brücke
des Tamerlan; es stammt aus der Zeit der Scheibaniden, steht, zum Teil er¬
halten, mit zwei rechtwinklig zueinander angesetzten Gewölbebogen im Flusse:
man hält es für die Reste eines die Strömung und die Wasserabgabe regu¬
lierenden Wasserwerks. Bald dahinter überschreitet unser Zug die auch für
Fuhrwerk brauchbare Brücke über den Serafschan und steigt allmählich zum
Ssansar hinan, der in einer Höhe von 860 Metern über dem Meere über¬
stiegen wird. Jenseits Miljutinstaja tritt der Schienenweg in das Tal des
Ssansar und windet sich durch das Tor des Tamerlan, eine Felsenenge, in
deren einer Wand über zwei prahlenden arabischen Inschriften auf kupferner
Tafel der russische Doppeladler prangt und die wenigen Worte:
Nikolai II. befahl im Jahre 1895: Die Eisenbahn wird gebaut.
Im Jahre 1398 war sein Wille zur Tat geworden —
die Selbstherrlichkeit des Zaren vor Augen zu führen haben.
Es war Nacht, als wir in die Station Tschernjajewo in der Hunger¬
steppe einliefen, jene Station, von der die Bahn nach Ferghana abzweigt.
Wie man auch fährt, dort ist immer ein langer, langweiliger Aufenthalt. Ein
ungemütliches, unappetitliches, durch Lampenqualm verrußtes und verräuchertes
Wartezimmer voll Menschen und Tiere, das die Nowoje Wrernja in einem
Eingesandt in seinem ganzen Jammer noch nicht genügend zu schildern ver¬
mocht hatte, nahm uns auf, bis der Stationsvorsteher ohne Aufforderung und
ohne Trinkgeld uns einen für Andishan bestimmten Wagen öffnen ließ, sodaß
wir uns für den Rest der Nacht gemütlich einrichten konnten.
Als wir erwachten, waren wir im Lande Ferghana, in der von hohen
Randgebirgen umrahmten Tallandschaft des obern Ssyr-Darja, dem besten
Teil der russischen Besitzungen in Asien. Seines Wertes wohl bewußt haben
sich die Einwohner von jeher kräftig ihrer Haut gewehrt und um ihr Land
gestritten. Alexander der Große hatte bei Um tjube gegen die Bergvölker
von Ferghana eine heiße Schlacht zu bestehn und gründete nahe am Aus¬
gang des Ssyr-Darjci-Tales eine Zwingburg, die Alexandreia eschate, das heute
durch seine Seidenraupenzucht bekannte Chodshent. Mehrfach, sogar noch im
Jahre 1898 in Andishan, versuchten die Einwohner, die durch die Russen ge¬
brachte Umwälzung der Besitzverhültnisse rückgängig zu machen.
Vielerlei offenbart die sechzehn Stunden währende, 330 Kilometer lange
Fahrt bis Andishan, wenn man nur ein wenig Glück mit dem Wetter hat.
Uns fehlte es daran. Das südliche Gebirge, die Ausläufer der Alaikette, der
Wasserscheide zwischen Ssyr-Darja und Serafschcm waren mit dichten Wolken¬
vorhängen zugezogen und ließen wenig von ihren energischen Formen erkennen.
Sogar Schneegestöber verdarb gänzlich unzeitgemäß das letzte bißchen Aussicht
und ließ zunächst nur den Blick frei auf die Abwechslung zwischen Steppe
und Steinwüste, der jahrtausendealten Ablagerung der von Strom, Flüssen
und Bächen aus dem Gebirge zu Tal beförderten Massen. Hier und da
erhebt sich ein Grabhügel aus der Fläche der Talsohle. Allmählich aber
mehrt sich die Zahl der mit reichlicher Bewachsung umgebnen Anwesen. Die
Dörfer werden zahlreicher, weisen aber immer die charakteristische Lehmfarbe
in den Häusern, die Ställe eine primitive Konstruktion aus Holz und Lehm¬
schlag auf; ihre Südseite ist offen. Hohe Lehmmauern deuten auf die Not¬
wendigkeit, für den Schutz des Eigentums selber zu sorgen. Die Lage der
russischen Kolonisten mag, wo sie vereinzelter unter den Sardischer Khokandzen
sitzen, nicht immer erfreulich sein. Die Dörfer in der Nähe der Stationen,
die ihre Namen meist von frühern Generalgouverneureu oder Gebietschefs
entlehnt haben, entsenden ihre Frauen an die Züge, um Früchte und land¬
wirtschaftliche Produkte zu verkaufen. Es ist ein wahrer Segen, denn da
der Restaurationswagen fehlt, hätte eine Hungersnot bei uns ausbrechen
können.
Schon vor Poßjetowka haben reichbewässerte Felder der Gegend an der
Bahn ein andres Gepräge gegeben, nicht ohne daß gelegentlich wieder einmal
ein kleiner Rückfall kommt. An Wasser fehlt es nicht. Das Gefälle, das
die kleinen Wasseradern haben, kommt der Wasserwirtschaft zugute. Bei
Khokand schneidet die Eisenbahn sogar hoch geführte Aryks, die die terrassiert
angelegten Felder reichlich versehen. Hier bedarf es nicht mühsamen Schöpfers
und Begießens, wie in Buchara, sondern es wird das Nieselwasser in engen
Schlangenwindungen durch die schwach talwärts geneigten, schmalen Felder
geführt. Wir sehen schon, daß die Baumwollenkultur und der Reisbau hier
eine richtige Heimstätte gefunden haben. Wenn auch die von den Bergen
niederströmenden Schmelzwasser nicht zur Erwärmung beitragen, und die Schnee¬
luft von den Bergen her jetzt noch im Mürz die Frühjahrsentwicklung der
Pflanzenwelt hemmt, das können wir uns klar machen, daß in dieser durch
die Gebirge völlig vor rauhen Winden geschützten Landschaft eine sieghafte
Sommerwärme die Nutzpflanzen der subtropischen Klimate auf dem fruchtbaren
Lößboden bei dem reichlichen Wasserzuflnß zu großartiger Entwicklung bringt.
Und wenn wir es nicht wüßten, würden die großen Baumwolleuballen auf den
Stationen Gortschakow und Fedshenko darüber Aufklärung gegeben haben.
In den Kreisen Margelan und Andishan, wo die Landwirtschaft am weitesten
fortgeschritten ist, waren im Jahre 1900 mit Baumwolle etwa 47000 und
86000 Hektar bebaut worden.
Die entsprechenden Zahlen für Weizen sind 46000 und 23000, für Hirse
22000 und 6000, für Reis 2800 und 35000 Hektar. Dabei sind landwirt¬
schaftliche Großbetriebe fast gar nicht vorhanden, und gelten Flächen von
22 Hektar schon als größere Güter, während solche von 3^ Hektar als Durch¬
schnitt auf eine Familie von fünf bis sechs Köpfen zu rechnen sind. Diese
Zahlen sind ein recht gesundes Zeichen dafür, daß ein sehr großer Teil der
Bevölkerung*) an der Bodenausnutzung beteiligt ist. Jedoch die Baumwollen¬
kultur, für die Ferghana das gegebne Land ist, und die in den zentral¬
asiatischen Besitzungen Rußlands bis zur völligen Deckung des eignen Markt¬
bedürfnisses wird gesteigert werden, hat ihre zwei Seiten. Andre Zweige der
Landwirtschaft sind in Ferghana viel weniger ausgebildet. So die Viehzucht,
die durch Einfuhr aus den Nachbargebieten ergänzt werden muß, so auch
Gartenbau, Obst- und Weinkultur, für die die klimatischen Bedingungen eben¬
falls ausgezeichnet sind, sodaß sie ganz andre Erträge liefern könnten, als es
tatsächlich geschieht; so endlich die Seidenzucht, die noch viel größere Mengen
ausführen könnte.
Unleugbar hat die wirtschaftliche Erschließung des Gebiets durch die
Eisenbahn einen mächtigen Anstoß bekommen. Wenn sich nun jetzt die in der
Nähe der Gebietshauptstadt Margelan bei Tschimion erschlossenen Naphtha-
quellen wirklich auf die Dauer ergiebig erweisen, so ist damit eine weitere
Bedingung für die Entwicklung Ferghanas gegeben, insofern die Fabrikindustrie
zu den billigen Wasserkräften ein weiteres billiges Betriebsmittel am Ort ge¬
winnt. Und da auch andre Bodenschätze in den das fruchtbare Land um¬
gebenden Gebirgen voraussichtlich gehoben werden können — Reste früherer
Montanindustrie deuten darauf —, eröffnet sich die Aussicht, daß es in jeder
Beziehung zu einem wertvollen Besitztum, einem wirklichen Edelstein in der
Krone des Zaren wird.
Vorläufig fehlt noch einiges daran. Wenigstens äußerte sich ein russischer
Jngenieuroffizier, der Gehilfe des Chefs der „Jngenieurdistanz", womit man
ungefähr einen Baubezirk meint, nicht übermüßig befriedigt über seine dienst¬
liche Stellung und die Lebensverhältnisse, unter denen er gezwungen ist, einige
Jahre auszuhalten. Es sind immerhin kleine russische Kolonien, wenige ge¬
bildete Menschen, wenig Familien, die in ziemlich großer Entfernung von¬
einander verstreut sind. Urlaub wird nicht gern gegeben; besonders fühlbar
wurde dies in der Zeit des russisch-japanischen Krieges, in der alle verfügbaren
Kräfte an die Front gezogen waren und die merkbare Spannung in Inner-
asien die verbleibenden festzuhalten nötigte. In unsrer Unterhaltung spielte
die eben in Mulden gefcillne Entscheidung eine große Rolle. Wie der Russe
derartige Interpellationen überhaupt liebt, so legte der Kapitän uns die
kitzlige Frage vor, wie wir über die Kriegführung dort draußen dächten.
Kitzlig, denn man darf dem Fragesteller gegenüber in Fragen seiner Heimat
nicht allzu kritisch sein — er liebt, sich selbst und sein Land herabzusetzen,
hört es aber nicht gern bestätigt.
Der Bahnbau macht im Unter- und Oberbau, wenn auch der Strecke
nur eine geringe Belastung zugemutet wird, einen recht soliden Eindruck. Die
zahlreichen Brücken und Durchlässe sind schon Eisenkonstruktionen. Nur das
Geleisedreieck, mittels dessen die Gebietshauptstadt Neu-Margelan an den
Hauptstrang angeschlossen ist, ist eine vorsindflutliche ungeschickte Anlage, deren
Befcchrung durch die durchlaufenden Züge zu langweiligen Fahr- und Rangier¬
manövern nötigt und Zeitverlust verursacht. Auf diese Weise wird aber auch
der nicht unbeträchtliche Lokalverkehr zwischen der Russenstadt Neu-Margelan
und der Eingebornenstadt Alt-Margelan sowie deren nahegelegnen industriellen
Betriebsstätten bewältigt.
Erst auf der nächsten Station merkten wir, daß unserm Zuge ein Dienst¬
wagen angehängt worden war. Er sah aus wie ein ehemaliger Güterwagen
und beherbergte keinen Geringern als den neu ernannten Militärgouverneur
und Gebietschef von Ferghana. Auf sämtlichen Bahnhöfen, auch einer Halb¬
station waren zu seiner Begrüßung Abordnungen der Gemeinden aufgebaut
und wurden durch den örtlichen Polizeigewaltigen mit Hilfe eines Dolmetschers
vorgestellt. Die Gemeinde- und Ortsvorsteher — eine Gemeinde besteht
immer aus mehreren Orten oder Niederlassungen — waren in Landestracht,
mit Säbel, Amtsgürtel und Amtskette angetan, trugen auch Orden auf
dem Chalat und sahen sehr feierlich und würdig aus. Unter den miter¬
schienenen Volksgenossen allerdings tauchten einige verwegne Gesichter auf,
denen man nicht immer das Beste zutrauen würde. Die Chalate strahlten in
allen Farben des Regenbogens und noch einigen, doch waren rote und
braune bevorzugt. Als Kopfbedeckung wurde meist die kleine, sardische Mütze
getragen.
Sobald der Zug in eine Station eingeschlichen war — denn Einfahren
konnte man das langsame Tempo nicht nennen —, wurde der Gouverneur
aus seinem fahrenden Palast herausgehoben. Für die Komik dieses Verfahrens
hatten die Abordnungen anscheinend kein Verständnis, oder sie wußten ihr
Gesicht meisterhaft zu beherrschen. Sie erstarken in tiefer, demütiger Ver¬
beugung; der Gemeindevorsteher überreichte mit einer Ansprache einen riesigen
Teller mit Salz und Brot, der im Wagen verschwand und für ein paar
Familien gereicht hätte. Dann antwortete der General mit einigen sehr kurzen,
sehr nichtssagenden Worten seinen hochbeglückter Untertanen, die mit einer
unverständlichen Maulsalve quittierten.
Noch feierlicher gings in Andishcm selber zu. Hier war der Bahnhof
mit Teppichen und Blumen geschmückt und mit einer zahlreichen Menge von
Turbanträgern und Russen besetzt. Dahinter hielt eine Anzahl berittner
Volksgenossen, Gendarmen und die Meldereiter des in Andishcm stehenden
Schützenbataillons aufgesessen. Man war ungemein höflich zu uns und brachte
uns mit polizeilicher Hilfe durch das Gedränge, sodciß wir mit der Annahme
nicht fehl gehn konnten, daß wir überall angemeldet waren. Die Freundlich¬
keit und Fürsorge Hütte sich übrigens dreist noch etwas weiter erstrecken dürfen,
denn wir mußten unter Begießung aus den Schleusen des Himmels ziemlich
lange durch den tröst- und grundlosen Schlamm des Bahnhofsplatzes waten,
ehe wir eine freie Droschke fanden. Die Honoratioren hatten beinahe sämt¬
liche mit Beschlag belegt. Günstig waren die Auspizien eben nicht. Das
Haus Nomera Witte war das einzig mögliche, aber beileibe kein prunkvolles
Unterkommen. Und die Aussichten, weiterzureisen etwa mittels einer Mond¬
scheinpromenade zu Pferde oder mit der Post am andern Tage, wurden unter
der Mithilfe des Wirts zu Grabe getragen. Es wäre im Schlamm der von
mehrtägigem Regen aufgeweichten Straßen nicht möglich gewesen, in der zur
Verfügung stehenden Zeit nach Osch und zurück zu gelangen. Als am andern
Morgen ein unaufhörlich rieselndes Gemisch von Regen und Schnee auch die
letzte Möglichkeit nahm, von der nächsten Poststation aus einen Blick auf die
Gebirge zu erHaschen, mußten wir uns schweren Herzens zur Umkehr ent¬
schließen. Aber die Stunden bis zum Abendzug sollten wenigstens trotz
Jupiter pluvius nicht ungenutzt vorübergehn.
Andishan, das vorläufige Ende der Eisenbahn, ist nur noch 48 Kilometer
von Osch entfernt, dem klimatischen Luftkurort auf der Grenze zwischen Tal
und Gebirge, dem eigentlichen Ausgangspunkt für die Reisen nach dem Pamir
und nach Kaschgar. Wenn sich auch eine fahrbare Straße ohne allzugroße
Geländeschwierigkeiteu durch ungezählte, in malerischer Unordnung verstreute
Anwesen, Kukuruz-, Hirse- und Baumwollenfelder dahin windet, so übernimmt
doch der Karawanenverkehr viele Güter für Kaschgarien schon in Andishan,
um alsdann von Osch aus zumeist den Weg über den Terek-dawar-Paß und
die Grenzfestung Jrkeschtam zu verfolgen. Begreiflich, daß die Eisenbahn¬
endstation zur Bewältigung der Güteraus- und -einfuhr über eine nicht unbe¬
trächtliche Geleiseentwicklung verfügen muß, ganz abgesehen davon, daß sie
als Station eines Hauptmarktes für Rohbaumwolle für deren Massenabtrans¬
port auszukommen hat. Außerdem sind für den Eisenbahnbetrieb ein Materialien¬
depot, eine Reparaturwerkstätte und ein Naphthatank für etwa 5000 Zentner
Inhalt vorhanden. Freilich, die üblich gute Ausstattung und Ordnung auf
den Bahnhöfen der mittelasiatischen Eisenbahn hat eine starke Einbuße erlitten
dadurch, daß die Folgen des großen Erdbebens vom 16, Dezember 1902 noch
nicht beseitigt sind. Der Wasserkuren sieht aus wi<, <-in betrunkner Student
aus den Fliegenden Blättern: das Obergeschoß und Dach hängt schräg auf
dem Unterbau. Das Stationsgebäude ist ein Trümmerhaufen und wird durch
einen provisorischen Fachwerkschuppen ersetzt, der die heimtückische Attacke der
Mutter Erde besser überstanden hat, aber alles andre eher ist als ein
Empfangsgebäude. Etwas mehr amerikanische Energie wäre hier zu wünschen,
aber freilich, der Russe ist in Ideen „großzügig", in der ersten Ausführung
genial, in der Fiskalitüt schlimmer als unsre Oberrechnungskammer und im
Schlendrian unbezwinglich.
Die Stadt Andishan ist eine der ältesten Niederlassungen Mittelasiens.
Von den arabischen Geographen Andukan genannt, gewann sie ihre größte
Bedeutung unter der Herrschaft des berühmten Sultan Babur, des Gründers
des indischen Großmogulreiches, als Hauptstadt von Ferghana. Bezeichnender¬
weise nennen die Chinesen die Kaufleute aus der ganzen Landschaft immer
noch Andishaner. Im Khokandfeldzug 1875/76 wurde die Stadt erst nach
wiederholtem Angriff durch Skobeljeff in erbittertem Häuser- und Straßen-
kämpf genommen, und erst damit war die Unterwerfung des Khanats Khokand
Tatsache geworden. Unter russischem Zepter entwickelte sich die Stadt sehr
vorteilhaft. Der schon erwähnte Aufstand im Jahre 1898 wurde ohne schäd¬
liche Folgen durch die anerkennenswerte Energie der schwachen Garnison im
Keime erstickt. Schon vor fünf Jahren wurden fast 50000 Einwohner,
darunter freilich nur 800 Russen, 450 Juden und 100 Abkömmlinge andrer
Nationen gezählt.
Scharf sind der russische und der Eingebornenstadtteil geschieden durch einen
Prospekt von mindestens 80 Meter Breite mit chaussierter Fahrbahn in der
Mitte, Sommerwegen, Aryks und Seitenalleen, deren weißstümmige vier Baum¬
reihen merkwürdig stark und gleichmäßig, ob absichtlich? — nach der Außen¬
seite geneigt sind. Die andern Straßen der Nussenstadt zeigten ebenfalls die
auffällige, stadtsäckelschädigende Breite und regelmäßige Anordnung aller
russischen Neuschöpfungen in Zentralasien. Ganz charakteristisch war der
Schmutz. Es war tatsächlich nicht möglich zu gehn. Wir mußten uns an
Häusern und Grabenkanten hindrücken, als wir zu der am entferntesten Ende
gelegnen Post strebten, und einen Wagen nehmen, um über die Straße zu
kommen. Vollends unmöglich war jeder Verkehr über den breiten Basarplatz,
der sich zu einem Schlammmeer von einer Tiefe bis zum Wagenboden um¬
gewandelt hatte. Deshalb kann es nicht wundernehmen, daß die Bäume
an den Fahrstraßen bis zum Ästeansatz mit einer Schlammkruste bedeckt waren,
und daß wir trotz Verdeck und ländlich üblicher Schmutzleder von großer
Breite manches abbekamen. Da mögen sich die hohen Zwciräderarben mit
ihrer halbkreisförmigen, vielfach bunt beschlagnen und bemalten Überdachung
allerdings empfehlen, so hart sie auch stoßen. Es verkehrten ihrer sehr viele
auf den Straßen, aber auch Karawanen strebten von auswärts kommend zum
Basar, Bahnhof und zu den Handelshäusern. Meist waren es nur kleinere
Kamelzüge. Der Kara-kesch, der Saumtiertreiber war eine seltnere Erscheinung,
denn es ist für ihn lohnender, die kleinen Packlasten, die seine paar Tiere
bewältigen können, erst am Fuße des Gebirges, also in Osch von Fahrzeugen
zu übernehmen. Auf den fahrbaren Wegen kann er damit und mit den
Kamellasten nicht konkurrieren. An der schmalen Brücke, auf der der
Prospekt einen der vom Kara-darja ausgehenden Aryks überschreitet, staut
sich der Verkehr; zu beiden Seiten breitet sich der Aryk teichartig aus und
wird als Pferdeschwemme benutzt. Recht einfache Gartenhäuser verschließen
ihr Inneres durch die übliche graue fensterlose Lehmmauer gegen die Straße.
Weiter südlich sind Baumwollenfabriken und andre Etablissements beiderseits
vorhanden und in der üblichen Weise über riesige Höfe in einstöckigen Bau¬
werken verstreut. Einen Vorzug haben die Hauptstraßen, elektrische Beleuchtung,
leider allerdings Glühlampen an sehr hohem Mast in weiter Entfernung von¬
einander. Wenn nun auch trotz billiger Wasserkräfte die sich ans etwa
100000 Rubel belaufenden Einnahmen bei den vielen sonstigen Kulturauf¬
gaben der Stadtverwaltung die Beleuchtung nicht allzu glänzend einzurichten
gestattet haben, der Umstand, daß sich die A. E.-G. darin betätigt hat, bürgt
für das gute Funktionieren und ist für uns Deutsche eine sehr erfreuliche
Tatsache. Ohne die Baumwollenindustrie, die Bedürfnisse der Fabriken und
großen Lager wäre übrigens das elektrische Licht ein frommer Wunsch ge¬
blieben. Wenn die Fabriken auch keineswegs auf der Höhe der in Beiram Ali
stehn, sind sie doch leistungsfähig und auf Vergrößerung des Betriebes be¬
rechnet — anders wäre die Verschwendung fruchtbaren Bodens zu ihren
Höfen nicht zu erklären, überall waren ältere Reinigungsmaschinen, Hand¬
pressen und Handbeförderung üblich. Aus den Kernen wird wie dort ein Öl
hergestellt, das aber nur bei den unverwöhnten Eingebornen Gnade findet.
Die Kernreste werden als Brennmaterial in den Fabriken verwandt und ver¬
kauft. Fast durchweg war die nach der Ernte im September begonnene
Kampagne vorüber, aber noch lagerten große Vorräte unter Schuppen und
im Freien, was übrigens nicht schaden soll.
Der Basar in Andishan steht weit hinter den Märkten der andern großen
Städte zurück. Die offnen Holzbaracken waren der Jahreszeit wenig ange¬
messen. Die schmalen Steige an ihnen boten wenig Raum für schau- und
kauflustige Mengen. Und das sonst so anziehende Getriebe fehlte völlig,
vielleicht weil die Witterung es unmöglich machte. Vornehmlich versorgt der
Basar die Bevölkerung der reichen Gegend mit den Artikeln ihres schon an¬
spruchsvoll gewordnen Bedarfs, neben den landwirtschaftlichen Gebrauchs¬
gegenständen zum Beispiel mit Singerschen Nähmaschinen. Moskaner Manu¬
fakturen wurden stark vertrieben, und auch unter den anscheinend dem örtlichen
Geschmack entsprechenden Seidenwaren waren viele Erzeugnisse europäischer
Fabriken. Was aus China kommt, wird gleich auf den Khokander Basar ge¬
bracht, der sich infolgedessen des berechtigten Rufes erfreut, an Bedeutung
nur hinter dem Bucharischen zu stehn und in Seidenwaren diesen sogar zu
übertreffen. Viel Getreide- und Futtermagazine weisen darauf hin, daß sich
die Landwirtschaft wegen des Übergangs zum Baumwollenbau nicht selber er¬
nähren kann. Die Teebuden, die sonst ganz orientalisch nur mit Teppichen
belegte, überdachte Holzbühnen darstellen, haben doch schon den russischen
Ssamowar zur Heißwasserbereitung angenommen. Unter den fremden Herr¬
gottskindern fallen die bezopften moschusduftenden Söhne des Reiches der
Mitte unter der fast ausschließlich sardischen Bevölkerung auf. Eine Menge
faulenzende Subjekte treiben sich herum, die die Stadtverwaltung zu mancherlei
nützlicher Beschäftigung heranziehen könnte.
An Aufgaben würde es nicht fehlen. Andishan ist eine Gartenstadt.
Sie verlangt nur bei einer gewissen Wasserarmut eine geregelte Wasserwirt¬
schaft und Kulturenpflege. Was der Boden bringen könnte, zeigen einzelne
Straßenbilder und einzelne Gärten, in denen nach dem Erdbeben zunächst die
Mittel gefehlt haben, die Fülle des Wachstums zu bündigen, zeigt auch das
dichte Buschwerk auf dem Square, in dem die Ssergiuskirche sehr hübsch ge¬
legen ist. Eine andre sehr nützliche Arbeit wäre die Beseitigung der Erd¬
bebenruinen, die übrigens eine ganz wunderbare Launenhaftigkeit der in Auf¬
ruhr gekommnen Naturkräfte offenbaren. Da steht zum Beispiel eine wacklige
Mauer heil neben baulich fest erscheinenden Resten eines Hauses, da zeugen
die stehngebliebnen Öfen auf dem Fußboden einer auseinandergefallnen
Wohnung von verschwundner Pracht. Glücklich überstanden hat die Kata¬
strophe die Ssergiuskirche und die Hauptmoschee, die nur einige Risse davon¬
getragen hat. Sonst sind der auf tektonische Ursachen, Schiebungen im
Tim-schau und Hindukusch, zurückzuführenden Katastrophe eine Unmasse der
leichtgebauten Häuser und Medresen der Eingebornen zum Opfer gefallen und
4500 Menschen in den Kreisen Andishan und Margelan dabei umgekommen.
Die mancherlei stummen Zeugen boten uns natürlich Veranlassung, ein
wenig über das Naturereignis herumzuhören. Der Stationsvorsteher hatte
Zeit genug, es recht lebendig zu schildern. Schon einen Monat vorher hatten
sich Erdbewegungen bemerkbar gemacht. Am 3. (16.) Dezember 1902 um
8 Uhr Morgens kam bei trübem, windstillem Wetter der erste heftige Stoß
und dann eine Stunde spater ein 6 bis 7 Sekunden langes heftiges Schütteln,
das alles durcheinanderwarf. Man hatte das Gefühl einer tiefen Ohnmacht
und sah zum Bewußtsein gekommen mit Schrecken das Bild der Zerstörung.
Weil sich die Hauptbewegung aber durch einen Stoß angekündigt hatte, und
viele Menschen sich trotz leichten Frostes infolgedessen auf der Straße aufhielten,
ist die Zahl der Opfer noch in den oben angegebnen Grenzen geblieben.
Wenn auch das Zentrum in unbewohnter Gegend zu suchen ist, die Wirkung
muß doch grauenerregend gewesen sein, durchaus geeignet, daran zu er¬
innern, daß der dunkeln Mächte Gewalt dem Menschen ungestraft keine para¬
diesische Fruchtbarkeit gönnt.
Die Ansichtspostkartenindustrie hat sich der Folgen der Erscheinung be¬
mächtigt; eine Stargarder Firma vertreibt die Kartenbilder und illustriert auf
ihre Weise die neue Wahrheit, daß der deutsche Unternehmungsgeist heute
überall zu finden ist. Die russische Post hat während des Krieges zugunsten
des Roten Kreuzes die Postkartennarrheit auszuschlachten versucht und selber
alle möglichen Ansichtskarten mit sibirischen Luxus- und Sanitätszügen,
Kriegsszenen und Volkstypenbildern abzusetzen versucht. Man war auf der
— militärisch bewachten — Post in Andishan so liebenswürdig, daß wir
gern ein Scherflein zu dem guten Zweck beitrugen und ein paar Sätze der
um ein paar Kopeken verteuerten Kriegsmarken kauften, deren Preisaufschläge
ebenfalls dem Roten Kreuz zugeführt werden sollten.
Das unleidliche Wetter setzte schließlich trotz dem besten Willen unserm
Tätigkeitstrieb in Andishan selber häßliche Schranken. So vertrauten wir
uns denn schon dem gemischten Abendzug mit der Absicht an, während einer
halbtägigen Fahrtunterbrechung auch Khokcmd einen Besuch abzustatten. Der
Stationsvorsteher hatte uns zwar ein geschlossenes Abteil besorgt, aber die
Quadratur des Zirkels ist nicht schwerer als der Versuch, in einem zweit¬
klassigen Abteil für vier Personen Ruhe in ausgestrecktem Zustande für fünf
zu beschaffen, besonders wenn man in der dumpfen Luft des geheizten Abdens
zu ersticken meint und bei einem Lüftungsversuch erschrocken vor dem Dunst
zurückprallt, der aus dem nachbarlichen Durchgangsraum des Wagens entgegen¬
quillt. Der Russe nennt solche Luft „so zusammengepreßt, daß man ein Beil
daran aufhängen kann".
Etwa gegen zwei Uhr Nachts waren wir in Khokand. Der Versuch einer
Fortsetzung der begonnenen kümmerlichen Nachtruhe auf dem Bahnhof scheiterte
am Restaurateur und Vorstand. Es half nichts, wir mußten einen Wagen
nehmen und in das empfohlne Hotel Nossijci fahren, denn der Weg war
weit. Aber er war eben und trocken, und unser bisheriger Begleiter, das
Wetterglück, hatte sich wieder eingestellt. Ein paar Bassermannsche Gestalten
biwakierten sogar an irgendeiner Straßenecke um ein kleines Feuer. Das war
vielleicht poetisch, die Regelung unsrer Unterkunftsfrage jedoch schauderhafteste
Prosa. Denn die Gostinniza Rossija war nur eine von zwei unglaublich
schmutzigen Kellnern bediente, ursprünglich gar nicht schlechte Filiale. Müh¬
selig schleppten wir mit einem Kellner drei Betten — zwei Reisegeführten
hatten in Sehnsucht nach Taschkend ungewandterweise die Fahrt dahin fort¬
gesetzt — in ein Zimmer mit unverhüllten Fenstern zusammen, um uns durch
Schlaf für einen letzten ausgiebigen Basarbesuch zu stärken. Das Erwachen
war freilich übel, der Versuch, ein Frühstück herzustellen, ein verunglücktes
Unternehmen — nur der Ssamowar tat seine Schuldigkeit.
Khokcmd ist die größte, zugleich die wirtschaftlich bedeutendste und die
besteingerichtete Stadt in Ferghana, Die große Hauptstraße, der Rosenbach-
Prospekt, kann sich immerhin sehen lassen, und der zum Bahnhof führende recht¬
winklig anstoßende Skobeljeffprospekt hat auch seine Zukunft. Der Rosenbach-
Prospekt führt an einem kleinen Park mit alten Bäumen vorüber zum mächtig
ausgedehnten Urdaplatz, an dem der Palast des letzten Khans von Khokand
gelegen ist. Erst 1870 vollendet, ist er ein Bild mangelnder menschlicher
Voraussicht, wie wenig andre. Denn der letzte Khan versäumte die Gelegen¬
heit, mit Nußland einen ehrenvollen Frieden zu schließen. Als der General
von Kaufmann 1875 heranmarschierte, war es zu spät. Der Khan erhielt
Orenburg als Wohnsitz angewiesen und hat dort das ihm belassene Ver¬
mögen vergeudet. Von seinen Frauen leben noch einige in Dürftigkeit; sein
Sohn dient als Beamter für besondre Aufträge beim Generalgouvemeur
von Turkestan in Taschkend. Der stolze Palast aber, der seine Hauptfront
nach Osten kehrt, ist dem Kreistruppenchef als Wohnung und als Depot zu¬
gewiesen.
Die lange steinerne Rampe führt von dem Hof der ehemals von hoher
Mauer umschlossenen Residenz in das erste Stockwerk zu einer Terrasse, die
mitsamt dem Hauptbau auf einem mächtigen Fundament aufgebaut ist. Der
große Mittelportalteil zeigt über dem Eingang den Kielbogen, die Front
kleinere Alkoven mit ebensolcher Bogenform. Zwei Mittel- und zwei Eck-
türme gliedern die horizontale Zinnenkrönung des Bauwerks, das auf eine
gewisse Entfernung mit der Mosaikbekleidung der verschiedenfarbig glasierten
kleinen Ziegeln und der Verzierung der Türme einen ebenso stattlichen wie
prächtigen Eindruck macht. Freilich in der Nähe verliert der Bau. Da ist
nichts von der kunstvollen Arbeit der Portale von Schach-Sindah vor¬
handen. Vollends im Innern, in dem frühern, jetzt zu einer orthodoxen
Kapelle umgewandelten Thronsaal mißfallen dem Beschauer höchlichst die un¬
geschickten in schreienden Farben aufgestrichnen Muster und die Alabaster¬
verzierungen. Nichts, rein gar nichts Bemerkenswertes in Baustil und künst¬
lerischer Durchbildung bietet dieser Palast, ein Emporkömmling unter den
Denkmälern einer vornehmen und dabei doch reichen von wirklichen Herrschern
geförderten Baukunst.
Wir waren unbefangen genug gewesen, mit einer exerzierenden Abteilung
in den Hof zu gehn und bei den dort stehenden Offizieren um die Erlaubnis
zur Besichtigung des Palastes zu bitten. Sie wurde gern gewährt, und
sogar die Privatwohnung des Truppenchefs wurde durch den zur Führung
bestimmten Offizier gezeigt. Daran schloß sich ein Gang durch das Offizier¬
kasino, in dessen durchaus nach der Vorschrift eingerichteten Sälen die Bilder
der verschiednen Generalgouverneure, Gouverneure und Konquistadoren auf¬
gereiht waren. Die rund um den Palast und die Ssobranije stehenden alten
Bäume bildeten eigentlich den schönsten Schmuck des Ganzen. In dieser Be¬
ziehung, d. h. durch die Abwechslung von Bauwerken, Häusern, Mauern und
Läden mit uralten Kairagatschbäumen und mit Gurten ist Khokand überhaupt
ausgezeichnet. Seine ehemals ausgedehnten starken Mauern sind zum Teil
gefallen, und nichts hemmt mehr die vorauszusehende weitere Entwicklung,
als die nicht ganz günstigen sanitären Verhältnisse. Der Fluß Ssoch, der
eine Masse Wasser vom Gebirge herabführt, speist zwanzig Hauptkanüle und
durch diese ein fächerartiges Aryksystem, das die tief gelegnen Striche feucht
zu halten und die Abwässer und Unreinlichkeiten aufzunehmen hat. Diese
Feuchtigkeit, hoher Grundwasserstand und starke Sommerwärme machen Khokand
zu einem schlimmen Malarianest,
Die 87000 Einwohner (nach der Feststellung des Jahres 1900) sind
größtenteils Garten (fast 76000). Wer auch Tadshiken, Kaschgarzen, Juden
sind stärker vertreten, und der Handel hat neben den Abkömmlingen der andern
innerasiatischen Völker eine nicht unbeträchtliche russische Kolonie (2600 Köpfe)
zusammengeführt. An der Kreuzung der uralten Völkerwcmder- und Verkehrs¬
straße aus dem Tarhmbecken nach dem westlichen Turkestan mit mehreren süd¬
nördlichen Verbindungen gelegen, mußte Khokand ein wichtiger Handelsplatz
werden, wo die Erzeugnisse des Landes ihren Absatz finden. Darum ist der
Basar sehr belebt und ebenso von den Händlern aus dem Osten wie aus
Nußland besucht. Unter ihrem Einfluß hat der Handel andre Formen an¬
genommen als in Buchara. Das Geschäft hat manches von dem freund¬
schaftlichen Austausch von Ware gegen Geld verloren. Mit Pfiffigkeit und
Geschäftskniffen jeder Art sucht man einander zu übervorteilen, preiswert
kaufen ist sehr viel schwerer.
Der Basar ist viel geräumiger, die Straßen sind breiter und wenn auch
überdeckt, nicht so kellerartig als in Buchara. Alles ist neuer, frischer, von
der am Registcin gelegnen blitzblanken, ockergelb glänzenden Medrese Malad-
Khan im ungefähren Stil der Tilla-Karl in Ssamarkand an bis zu den gar
nicht so weit entfernten Grabstätten. Der genannten Medrese fast gegenüber
sind europäische Handelshäuser entstanden, und in den Kaufreihen sind ganze
Striche russisch oder in jüdischen Händen. Die Vielfältigkeit der zum Verkauf
stehenden Waren scheint größer als auf dem Basar in Buchara, in dem
mehr orientalische Erzeugnisse, weniger europäische verhandelt werden. Mir
hatten es die Gelbgießer angetan, die in ihren Läden gössen, hämmerten,
ziselierten, seitdem und polierten, auch mit Emaille arbeiteten und sehr schöne
Platten, Teller und Gefäße zum Verkauf stellten. Der berühmte Seiden¬
handel hat dagegen weniger Eindruck hinterlassen. Es ist ja auch vornehmlich
der Großhandel, der sich damit befaßt. Tee, Zucker, vor allem aber Baum¬
wolle, deren Bearbeitung zwanzig Fabriken in der Stadt und Umgegend über¬
nehmen, endlich Manufakturen sind die übrigen Artikel, mit denen große
Häuser von gutem Namen Ein- und Ausfuhrhandel treiben, und die haupt¬
sächlich vom August an zahlreiche Handeltreibende in Khokand vereinigen.
Filialen der Reichsbank, Russisch-Chinesischen und Moskaner internationalen
Bank sind mit einem Jahresumsatz von hundert Millionen Rubel an diesem
Handel beteiligt; die großen Transportgesellschaften wie Nadjeshda, Kaukasus
und Merkur verdienen dabei beträchtlich. Anscheinend auf den starken Fremden¬
verkehr sind die ganz vorzüglichen Phaethons zugeschnitten, deren Kutscher mit
großer Geschicklichkeir durch das Gewühl steuern. Immerhin berührt es etwas
fremdartig, die bunt kostümierter Asiaten in den modischen Wagen zu sehen.
Der Fremdenverkehr und starke Zuspruch auf dem Basar zeitigt als Eigen¬
tümlichkeit die Bereitstellung von Bänken vor einzelnen Läden, namentlich
solchen, in denen weibliche Bedarfsartikel feilgehalten werden. Die Frauen
haben sich nämlich so weit emanzipiert, daß sie sich, allerdings unter dem
Noßhaarschleier, mehr ins öffentliche Leben wagen; sogar weibliche Ver¬
käuferinnen in sardischer Tracht waren in ein paar Exemplaren vorhanden.
Alles in allem machte Khokand einen freundlichen Eindruck. Auch ein
Spaziergang durch eine Anzahl Straßen, zu dem der Sonnenschein heraus¬
forderte, konnte ihn nur verstärken. Zwar die grauen Lehmmauern gleichen
denen in Buchara. Auch hier öffnet sich kein Fenster auf die Straßen; nur
schmale Türen schlagen gelegentlich auf und gestatten einen flüchtigen Ein¬
blick in einen Sartenhof, auf die Hallen unter den übergebauten flachen Dächern.
Eine Straße gleicht der andern, und diese Gleichheit erschwert die Orientierung
so sehr, daß man sich bei der Ausdehnung der Stadt auf 23 Quadratkilometer
sehr wohl verlaufen kann, da aus den engen Straßen kein Orientierungspunkt
zu erblicken ist; auch der berühmte Hinrichtungsturm für Ehebrecherinnen hinter
der Registcm-Medrese ist nicht allzuweit zu sehen, und andre bedeutende Bau¬
werke von historischem Wert sind wenig vertreten.
Befriedigt wird man nach mehrstündigem Basarbesuch an den vielen Tee¬
stuben, auch den in den Ssoch gebauten, an den Bäcker- und Fleischerladen
vorüber dem Mittagessen im Grand Hotel zustreben. I^neuf a mein luoöuäo.
Groß ist es nicht und Hotel eigentlich auch nicht. Mangelnde Überein¬
stimmung zwischen Besitzer und Polizei nötigt den Durstigen, noch nicht auf
das Blaue Kreuz eingeschwornen Gast zum sehnigen Braten den Apanagen¬
wein aus Tassen zu trinken und die Flasche unter den Tisch zu stellen.
Unser noch nicht gestilltes Sehnen des seit einigen Tagen nicht verwöhnten
Magens ließ sich aber in einer Konditorei einigermaßen befriedigen. Eine
gewisse Verwunderung werden die Portionen wohl erweckt haben, die wir
dort vertilgten. Mit dieser Grundlage ließen sich selbst die zwei Stunden
Aufenthalt in Tschernjajewo ertragen, wo wir nach sechsstündiger Fahrt wieder
den Zug wechseln mußten. Dank einiger Verspätung kamen wir am folgenden
Morgen zu nicht allzu früher Stunde in Taschkend an.
Die Hungersteppe mit ihren interessanten Bewässerungsanlagen, durch
die ein ausgedehntes Kolonisationsgebiet gewonnen werden soll, und die
Brücke über den Ssyr-Darja haben wir freilich verschlafen und leider auch
der geschichtlich seit den Zeiten des Kyros und seiner großen Feindin
Tomira so interessanten Gegend kaum das gebührende Verständnis entgegen¬
gebracht. _
er Morgen kam. Stockdale stand früh auf; sein Schnupfen war ganz
weg. Nie in seinem Leben hatte er so die Frühstückszeit herbei¬
gesehnt wie an diesem Tage, und Punkt acht Uhr trat er, nach einem
kurzen Spaziergang, auf dem er die nächste Umgebung rekognosziert
hatte, wieder in seine Zimmertür. Das Frühstück ging vorüber,
Martha Sara bediente, aber niemand ließ sich sehen, um wie am
Abend vorher zu fragen, ob er noch weitere Wünsche hätte, die zu erfüllen man
versuchen könnte. Er war enttäuscht und ging aus, in der Hoffnung, Lizzy beim
Mittagessen zu sehen. Die Mittagszeit kam; er setzte sich zu Tisch, speiste, zögerte
eine volle Stunde, obwohl zwei neue Lehrer an der Kapellentür nach Verabredung
auf ihn warteten. Es hatte keinen Zweck, sich noch länger aufzuhalten; so ging er
langsam das Gäßchen hinunter, gutes Muts bei dem Gedanken, daß er sie schließlich
am Abend sehen würde, und beiß sie vielleicht wieder das nette Faßanzapfen im
benachbarten Kirchturm unternehmen würden. Er beschloß, diesmal die Moral zu
retten, nämlich hartnäckig darauf zu bestehen, daß kein Wasser nachgefüllt würde,
wenn das Tönnchen anch gluckste wie sämtliche Hennen in der ganzen Christenheit.
Daß es immerhin eine sonderbare Geschichte blieb, war eine nicht zu beschönigende
Tatsache; und ein Schatten ging über sein Gesicht bei dem Gedanken, daß er für
diese Angelegenheit mehr Interesse hatte als für die Pflichten seines Amtes.
Jedoch nahm der sinkende Tag seine Reue mit weg. Die Nacht kam und sein
Tee und Abendessen; aber keine Lizzy Newberry und keine süßen Versuchungen.
Endlich konnte es der Prediger nicht länger aushalten und sagte zu der drolligen
Kleinen, die ihn bediente: Wo ist denn heute Frau Newberry? wobei er ihr wohl¬
weislich einen Groschen gab.
Hat zu tun, sagte Martha.
Es ist doch nichts passiert? fragte er und gab ihr einen zweiten Groschen;
noch mehr Münzen derselben Art ließ er dabei sehen.
O nein — ganz und gar nichts! sagte sie in überstürzter Zutraulichkeit. Ihr
Passiert nie was. Sie ist nur oben in ihrem Bett, wies so manchmal ihre Art ist.
Da er ein junger Mann von Ehre war, wollte er nicht weiter fragen und
nahm an, daß Lizzy arges Kopfweh oder sonst ein leichtes Unwohlsein haben müsse,
obgleich das Kind das Gegenteil behauptet hatte. Unzufrieden ging er zu Bett;
sogar die alte Frau Simpkins hatte sich nicht blicken lassen. Gestern Abend sagte
ich, ich würde sie morgen sehen, überlegte er; aber es sollte nicht sein.
Am folgenden Tage hatte er besseres oder schlimmeres Glück; er begegnete
ihr Morgens unten an der Treppe und wurde tagsüber mit ein paar Besuchen
beglückt — der eine bezweckte freundliche Nachfrage in bezug auf seine Bequem¬
lichkeit, wie am ersten Abend, und beim zweitenmal stellte sie einen Strauß Winter¬
veilchen auf seinen Tisch mit dem Versprechen, sie zu erneuern, sobald sie welkten.
Bei diesen Gelegenheiten war etwas in ihrem Lächeln, das zeigte, wie sie sich des
Eindrucks, den sie machte, bewußt war, obwohl zugegeben werden muß, daß es eher
ein belustigtes als pläneschmiedendes Bewußtwerden war, und daß mehr Stolz als
Eitelkeit darin lag.
Was Stockdale betrifft, so erkannte er sein unbegrenztes Talent, auf Abwege
zu geraten, recht deutlich und hegte den Wunsch, daß den Nonkonformisten Schutz¬
heilige nicht versagt wären. Anderthalb Stunden lang hütete er gewissenhaft Zunge
und Augen, dann fand er, es hätte keinen Zweck, weiter zu kämpfen, und ergab
sich in sein Schicksal. In einem Monat wird der andre Geistliche hier sein, sagte
er vor sich hin, als er am Feuer saß. Dann bin ich auf und davon, und sie kann
meinen Geist nicht mehr irreleiten!... Und dann, werde ich denn immer für mich
allein leben? Nein! Wenn meine zwei Probejahre um sind, werde ich ein wohl¬
ausgestattetes Wohnhaus haben mit einer lackierten Tür und Messingklingel. Und
dann geh ich schnurstracks zurück zu ihr und frag sie gerade heraus — sobald der
letzte Teller im Schrank steht!
So verlebte der junge Stockdale zwei unruhvolle Wochen, während welcher
Zeit alle Begebenheiten viel schneller vorüber huschten, als es seit Beginn der
Geschichtschreibung jemals geschehen ist. An einem Tage sah er den Gegenstand
seiner Zuneigung mehrmals, am folgenden gar nicht. Er traf sie, wenn er es am
wenigsten erwartete, und verfehlte sie, wenn Winke und Andeutungen, wo sie zu
einer bestimmten Stunde sein würde, fast einer Verabredung nahe kamen. Diese
leichte Koketterie war in Anbetracht, daß sie so dicht beieinander wohnten, wohl
ganz angemessen, und Stockdale nahm sie, so philosophisch er konnte, mit in den
Kauf. Da er in ihrem Hause war, konnte sie, nachdem sie ihn mehrfach durch ihre
Abwesenheit geärgert und enttäuscht hatte, ihn leicht zurückgewinnen, indem sie ihn
mit kleinen Aufmerksamkeiten umgab, die sie als Wirtin ihm recht wohl erweisen
konnte. Wenn er den halben Tag lang im Hause geblieben war, um sie zu sehen,
und nach der Entdeckung, daß sie sich nicht sehen lassen wollte, davongestürmt war
und sich den ödesten, nassesten Weg gesucht hatte, den er entdecken konnte, stellte
sie am Abend das Gleichgewicht wieder her mit einem: Ich habe gedacht, es müsse
von Ihrem Schlafzimmerfenster her Nachts ziehen, Herr Stockdale, und da habe ich
heut Nachmittag, während Sie aus waren, dickere Vorhänge angemacht; oder: Ich
habe Sie heut Morgen wieder zweimal niesen hören, Herr Stockdale. Verlassen Sie
sich darauf, der Schnupfen ist noch nicht gut. Ganz gewiß nicht, ich habe immerzu
daran denken müssen. Und heute Abend werde ich Ihnen Warmbier machen.
Manchmal fand er beim Nachhausekommen sein Wohnzimmer umgeräumt, Stühle
dorthin gerückt, wo der Tisch gestanden, und den Tisch selbst geschmückt mit den
wenigen frischen Blumen und Blättern, deren man um diese Jahreszeit habhaft
werden konnte; alles, um dem Zimmer ein neues, frisches Ansehen zu geben. Zu¬
weilen stand sie draußen vor dem Hause auf einem Stuhl und suchte einen Zweig
der Monatsrose festzunageln, den der Winterwind losgerissen hatte; natürlich kam er
sofort, ihr zu helfen, und ihre Hände berührten sich beim Zureichen der Blechstreifen
und Nägel. Auf diese Weise wurden sie nach einem Mißverständnis wieder Freunde.
Sie murmelte bei solchen Gelegenheiten eine liebenswürdige kleine Abbitte, daß sie
ihn wieder bemühen müsse, worauf er dann gerade heraus antwortete, er würde
noch hundertmal mehr für sie tun, sofern sie es verlangte.
Da nun die Dinge so im Fluß waren, wurde Stockdale, an einem bewölkten
Abend in seinem Zimmer sitzend, einigermaßen überrascht, einen leisen Wortwechsel
zwischen ihr und jemand an der Tür zu hören. Es war beinahe dunkel, doch die Läden
waren noch nicht geschlossen, und die Kerzen noch nicht angezündet. Stockdale fühlte
sich versucht, den Kopf nach dem Fenster zu drehen. Er sah vor der Tür einen
jungen Mann in weißlichem Anzug und erkannte nach einigem Besinnen in ihm den
stämmigen und recht ansehnlichen Müller, der weiter unten wohnte. Seine Stimme
war bald gedämpft, bald lauter und erreichte hin und wieder den Tonfall dringender
Bitte; doch von den Worten konnte Stockdale nicht das geringste verstehen.
Ehe das Zwiegespräch beendet war, wurde des Predigers Aufmerksamkeit durch
einen zweiten Zwischenfall erregt. Gegenüber von Lizzys Hause stand eine Gruppe
Lorbeerbüsche, die einen dichten, ununterbrochnem Schatten warfen. Einer der Zweige
schwankte jetzt gegen den hellen Hintergrund des Himmels, der Kopf eines Mannes
lugte hervor und verharrte bewegungslos. Die Unterhaltung an der Tür schien
ihn ebenfalls sehr zu interessieren, und augenscheinlich war er da, um aufzupassen
und zu lauschen. Hätte Stockdale zu Lizzy in irgendwelcher andern Beziehung als
der eines Liebenden gestanden, so hätte er hinausgehn und untersuchen können, was
dies zu bedeuten hätte. Doch da er bisher ohne Vorrechte war, konnte er nichts
tun, als aufstehen und sich im Feuerschein zeigen, worauf der Horcher verschwand,
und Lizzy und der Müller leiser sprachen.
Stockdale wurde durch den Vorfall so beunruhigt, daß er, sobald der Müller
gegangen war, sagte: Frau Newberry, wissen Sie auch, daß Sie eben beobachtet
wurden, und daß man Ihr Gespräch belauscht hat?
Wann? fragte sie.
Als Sie mit dem Müller sprachen. Aus dem Lorbeergebüsch guckte ein Mann
heraus, so eifersüchtig, als wenn er Sie fressen wollte.
Sie zeigte sich betroffner, als das unbedeutende Vorkommnis zu rechtfertigen
schien, und er fügte hinzu: Vielleicht sprachen Sie über etwas, das niemand
hören sollte?
Ich besprach nur etwas Geschäftliches, sagte sie.
Lizzy, seien Sie offen! rief der junge Mann. Wenn es nur Geschäftliches
war, weshalb sollte dann jemand Sie belauschen wollen?
Sie sah ihn neugierig an. Was glauben Sie denn, daß es sonst sein könnte?
Nun — das einzige Gespräch zwischen jungen Leuten, das einen Horcher
amüsieren kann.
Ach sol sagte sie und lächelte trotz ihrer Unruhe. Ja, mein Vetter Owlett
hat mir hin und wieder vom Heiraten gesprochen, das ist wahr; aber jetzt eben hat
er nichts davon gesagt. Ich wünschte von ganzem Herzen, er hätte es getan. Es
wäre viel weniger ernst für mich gewesen.
O, Frau Newberry!
's ist wahr. Nicht daß ich ihm Ja und Amen sagen würde — deshalb
natürlich nicht. Ich wünschte es aus andern Gründen. Nur gut, daß Sie mir
von dem Horcher gesagt haben, Herr Stockdale. Es war eine rechtzeitige Warnung,
und daraufhin muß ich meinen Vetter noch einmal sehen.
Gehn Sie aber nicht weg, ehe ich gesprochen habe, sagte der Prediger. Es
soll im Nu heraus sein, ich will nicht länger hinter dem Berge halten. Lassen Sie
es Ja oder Nein zwischen uns sein, bitte, bitte! Er hielt ihr die Hand hin, in
die sie die ihrige freimütig hineinlegte, jedoch ohne zu sprechen.
Sie meinen Ja damit? fragte er, nachdem er ein Weilchen gewartet hatte.
Sie mögen mein Schatz sein, wenn Sie wollen.
Warum sagen Sie nicht gleich, daß Sie auf mich warten wollen, bis ich ein
Heim habe und zurückkommen kann, um Sie zu heiraten?
Weil ich an — an etwas andres denke, sagte sie verlegen. Es kommt alles
so auf einmal, und ich muß eins nach dem andern ins reine bringen.
Können Sie mir auf alle Fälle, liebe Lizzy, versichern, daß Sie dem Müller
nicht gestatten wollen, über andre als geschäftliche Dinge mit Ihnen zu reden?
Haben Sie ihn nie geradezu ermutigt?
Sie parierte die Frage, indem sie sagte: Sehen Sie mal, er und seine
Kameraden haben sich daran gewöhnt, ihre Sachen manchmal auf meinem Grund
und Boden unterzubringen, und weil ich es ihm nicht abgeschlagen habe, ist er ein
bißchen dreist.
Ihre Sachen — was für Sachen?
Fässer — die nennt man hier Sachen.
Aber warum, meine liebe Lizzy, warum verbieten Sie 's ihm nicht?
Das kann ich nicht gut.
Sie sind zu schüchtern. Es ist unehrenhaft von ihm, Sie in dieser Weise zu
beeinflussen und Ihren guten Ruf durch seine Schmugglertricks in Gefahr zu bringen.
Versprechen Sie mir, wenn er wieder seine Fässer hierher bringen will, dann lassen
Sie sie mich mitten auf die Straße rollen.
Sie schüttelte den Kopf. Das würde ich gar nicht wagen, die Nachbarn so
zu beleidigen, sagte sie, ich würde nichts derartiges tun; da käme ja der arme
Owlett in die Hände der Zollbeamten.
Stockdale seufzte und sagte, er hielte das für eine falsche Großmut, wenn sie
soweit ginge, denen beizustehn, die den König um seine rechtmäßige Steuer betrogen.
Wollen Sie mir jedenfalls erlauben, daß ich ihn in seiner Eigenschaft als Freier
Ihnen vom Halse halte und ihm kurz und gut sage, daß Sie nicht für ihn sind?
Bitte, jetzt nicht, sagte sie. Ich will meine alten Nachbarn nicht beleidigen.
Es ist Owlett nicht allein, den es trifft.
Das ist aber zu arg, sagte Stockdale ungeduldig.
Auf meine Ehre, ich will ihn in seinem Werben nicht ermutigen, entgegnete
Lizzy ernst. Ein verständiger Mann wird damit zufrieden sein.
Nun — ich bins auch, sagte Stockdale, und sein Gesicht bellte sich auf.
Stockdale fing nunmehr an, in den Lebensgewohnheiten seiner hübschen Wirtin
einen merkwürdigen Zug wahrzunehmen, den er zwar zufällig bemerkt, über den
er aber bisher kaum recht nachgedacht hatte. Es war eine sonderbare Unregel¬
mäßigkeit in der Zeit ihres Aufstehns. Ein oder zwei Wochen lang war sie einiger¬
maßen pünktlich und erschien ein paar Minuten vor halb acht unten im Hause.
Dann plötzlich war sie nicht vor zwölf Uhr Mittags sichtbar, und zwar drei bis
vier Tage hintereinander. Zweimal hatte er den sichern Beweis, daß sie ihr Zimmer
erst um halb vier Nachmittags verlassen hatte. An dem Tage, wo ihm diese außer¬
gewöhnlich späte Stunde zum zweitenmal auffiel, hatte er besonders gewünscht, mit
ihr über seine Zukunftspläne zu beraten, und wie immer schloß er daraus, daß sie
eine Erkältung, Kopfschmerzen oder dergleichen hätte, falls sie nicht etwa unsichtbar
blieb, um einer Begegnung oder einem Gespräch mit ihm aus dem Wege zu gehn,
was er jedoch kaum glauben konnte. Die frühere Vermutung wurde jedoch ein
paar Tage später widerlegt, indem sie, als von Gesundheit die Rede war, un¬
schuldig sagte, sie hätte seit dem vergangnen Januar nie einen Augenblick Übelkeit,
Kopfschmerz oder irgendeine Art Krankheit gehabt.
Das freut mich, zu hören, sagte er. Ich dachte ganz das Gegenteil.
Wie? Sehe ich denn kränklich aus? fragte sie, ihm ihr Gesicht zuwendend,
um ihm zu zeigen, daß sie sehen und eine solche Vermutung nur einen Augenblick
festhalten eine Unmöglichkeit war.
Durchaus nicht; ich meinte nur, weil Sie manchmal gezwungen sind, den
größten Teil des Tages Ihr Zimmer zu hüten.
O, das — hat nichts zu bedeuten, murmelte sie mit einem Blick, den man
kalt nennen konnte, und den er am wenigsten gern bei ihr sah. Es ist nur Schläfrig¬
keit, Herr Stockdale.
Nicht möglich!
Gewiß, wie ich Ihnen sage. Wenn ich bis halb vier in meinem Zimmer
bleibe, dann können Sie sicher sein, daß ich bis drei Uhr fest geschlafen habe, sonst
bliebe ich nicht oben.
Das ist schrecklich, sagte Stockdale und dachte an die unheilvolle Wirkung
solches Sichgehnlassens auf den Haushalt eines Geistlichen, falls eine alltägliche Ge¬
wohnheit daraus würde.
Aber, fuhr sie fort, seine guten, vorsorglicher Gedanken erratend, es geschieht
nur, wenn ich die ganze Nacht gewacht habe. Manchmal komme ich nicht vor fünf
oder sechs Uhr Morgens zum Schlafen.
O, das ist dann etwas andres, sagte Stockdale. Schlaflosigkeit in so be¬
unruhigend hohem Grade ist wirklich eine Krankheit. Haben Sie mit einem Arzt
darüber gesprochen?
O nein — das ist nicht nötig — es ist alles ganz natürlich bei mir. Und
ohne eine weitere Bemerkung ging sie weg.
Stockdale hätte lange warten können, die wahre Ursache ihrer Schlaflosigkeit
zu erfahren, wenn er nicht zufällig in einer dunkeln Nacht in seinem Schlafzimmer
gesessen hätte, Notizen für eine Predigt zusammenstellend, was ihn noch für eine
beträchtliche Zeit, nachdem sich die Hausgenossen zurückgezogen hatten, beschäftigte.
Er ging nicht vor ein Uhr zu Bett. Ehe er eingeschlafen war, hörte er ein Klopfen
an der vordem Haustür, erst etwas zaghaft, dann lauter. Keiner meldete sich; es
klopfte wieder. Da auch jetzt noch im Hause alles still blieb, stieg Stockdale aus
dem Bett, trat an sein Fenster, von dem er die Tür sehen konnte, öffnete es und
fragte, wer da wäre.
Eine junge, weibliche Stimme antwortete, daß es Susanne Wallis wäre; sie
wollte fragen, ob Frau Newberry ihr etwas Senf für ein Pflaster geben könne,
ihr Vater litte so sehr an Atemnot.
Da der Prediger weder Klingel noch Diener hatte, war er gezwungen, selbst
zu handeln. Ich werde Frau Newberry rufen, sagte er. Er zog sich oberflächlich
an, ging den Gang hinunter und klopfte an Lizzys Tür. Sie meldete sich nicht,
und an ihre seltsamen Gewohnheiten beim Schlafen denkend, trommelte er beharrlich
gegen die Tür. Plötzlich öffnete sie sich infolge seines Klopfens weit, woran er
erkannte, daß sie nur leise angelehnt gewesen war. Da seine Stimme nun genügend
durchdringen konnte, klopfte er nicht weiter, sondern sagte klar und deutlich: Frau
Newberry, Sie werde« gewünscht.
Im Zimmer war es mäuschenstill; kein Atmen, kein Rascheln in der fernsten
Ecke. Stockdale schrie jetzt geradezu zur offnen Tür hinein: Frau Newberry! —
auch jetzt keine Antwort, nicht die geringste Bewegung drinnen. Darauf hörte er
im gegenüberliegenden Zimmer, wo Lizzys Mutter schlief, ein Geräusch, als wenn sie
von seinem Rufen, das bei Lizzy vergeblich gewesen war, aufgewacht wäre und
sich nun hastig ankleidete. Stockdale schloß leise die Tür des Zimmers der jungen
Frau und ging auf die andre zu, die von Frau Simpkins geöffnet wurde, noch
ehe er davor stand. Sie war in ihrem gewöhnlichen Anzug und hatte ein Licht
in der Hand.
Was will denn die Person? fragte sie erschrocken.
Stockdale wiederholte des Mädchens Bitte und fügte ernsthaft hinzu: Ich kann
Frau Newberry nicht wecken.
Es tut nichts, sagte ihre Mutter. Ich kann ebenso gut wie meine Tochter
dem Mädchen geben, was es haben will. Damit verließ sie das Zimmer und ging
nach unten.
Stockdale zog sich nach seinem eignen Gemach zurück, sagte jedoch, als wenn
er sichs besser überlegt hätte, vom Treppenabsatz zu Frau Simpkins: Ich hoffe,
Frau Newberry ist nichts passiert, daß ich sie nicht wecken konnte.
O nein, sagte die alte Dame hastig. Ganz und gar nichts.
Aber der Prediger war noch nicht befriedigt. Möchten Sie nicht einmal
nachsehen? sagte er. Ich würde sehr viel ruhiger sein.
Frau Simpkins kehrte auf der Treppe um, ging in ihrer Tochter Zimmer
und kam fast in demselben Augenblick wieder heraus. Lizzy fehlt durchaus nichts,
sagte sie. Sie ging darauf wieder hinab, um die Wartende zufriedenzustellen, die
sich, sobald sie das Licht gesehen, ruhig verhalten hatte.
Stockdale ging in sein Zimmer und legte sich wieder hin. Er hörte, wie
Lizzys Mutter die Vordertür öffnete, um das Mädchen einzulassen, und wie beide
miteinander flüsterten, als sie nach dem Vorratsschrank gingen, um das verlangte
Mittel zu holen. Das Mädchen ging wieder, die Tür wurde verriegelt, Frau
Simpkins kam nach oben, und dann wurde es im Hause wieder ganz still. Doch
der Prediger schlief nicht ein. Er konnte einen sonderbaren Argwohn nicht los¬
werden, der ihn um so mehr quälte, als er, wenn begründet, das unerklärlichste
War, was ihm bisher vorgekommen. Daß Lizzy Newberry in ihrem Schlafzimmer
gewesen, als er an ihrer Tür Lärm schlug, konnte er sich nicht einreden, obwohl
er gehört hatte, daß sie zur gewöhnlichen Zeit heraufgekommen, in ihr Zimmer ge¬
gangen war und sich ganz wie sonst eingeschlossen hatte. Dennoch sprachen alle
Gründe dagegen, daß sie anderswo sein könnte, sodaß er gezwungen war, auf die
unwahrscheinliche Annahme eines festen Schlafes zurückzugreifen; und doch hatte
er zwischen seinem Rufen und Klopfen, das die Siebenschläfer aufgeweckt haben
würde, keinen Atemzug und nicht die geringste Bewegung gehört.
Ehe er zu einem abschließenden Urteil gekommen war, schlief er selbst ein und
erwachte erst, als es Tag war. In der Frühe, vor seinem bei schönem Wetter
üblichen Morgenspaziergang der aufgehenden Sonne entgegen, sah er nichts von
Frau Newberry; aber da dies durchaus nichts ungewöhnliches war, beachtete er es
nicht weiter. Um die Frühstückszeit wußte er, daß sie nicht weitab war, denn er
hörte sie in der Küche, obwohl er sie nicht zu sehen bekam, da dieser Raum seinen
Blicken immer streng entzogen wurde. Sie sprach, traf Anordnungen und wirt¬
schaftete mit Töpfen und Blechlöffeln in so alltäglicher Weise, daß er keine Ver¬
anlassung sah, sich noch weiter fruchtlos den Kopf zu zerbrechen.
Der Geistliche litt unter diesem Grübeln, und seine freien Predigten wurden
dadurch auch nicht besser. Schon sagte er oftmals auf der Kanzel Römer statt
Korinther und suchte Lieder mit sonderbar kniffligem Versmaß heraus, die bisher
immer überschlagen worden waren, weil die Gemeinde keine dafür passende Melodie
finden konnte. Er beschloß endlich, die Angelegenheit, sobald die paar Wochen seines
Aufenthalts zu Ende gingen, zur Entscheidung zu bringen und sich durch eine definitive
Verlobung zu binden, die er ja dann nachher nötigenfalls mit Muße bereuen konnte.
Mit diesem Ziel vor Augen lud er sie am späten Nachmittag nach ihrem
geheimnisvollen Schlaf zu einem gemeinschaftlichen Spaziergang ein, kurz vor Ein¬
bruch der Dunkelheit, damit sie unbemerkt heimkehren konnten. Sie willigte ein,
und so gingen sie eine Stiege hinunter in einen schattigen Fußweg, der für den
Anlaß geeignet war. Doch trotz ihrer beiderseitigen Bemühungen waren sie nicht
imstande, ihren Spaziergang besonders vergnüglich zu gestalten. Sie war etwas
blasser als sonst und wandte manchmal den Kopf ab.
Lizzy, sagte Stockdale vorwurfsvoll, nachdem sie ein weites Stück stillschweigend
zurückgelegt hatten.
Ja, sagte sie.
Sie gähnten eben — meine Gesellschaft scheint Ihnen viel wert zu sein! Er
deutete es so, aber tatsächlich überlegte er, ob ihr Gähnen mehr mit körperlicher
Müdigkeit von der Nacht als mit augenblicklicher Langeweile zu tun haben könnte.
Lizzy bat um Entschuldigung, gab zu, daß sie etwas müde sei, was ihm Anlaß zu
einer direkten Frage über diesen Punkt geboten hätte. Aber sie zu stellen, ließ
seine Bescheidenheit nicht zu, und er entschloß sich unruhig, zu warten.
Der Monat Februar verging, und das Wetter wechselte zwischen Frost und
Tau, Regen und Hagel. Ostwinden und Nordweststürmen. In den gepflügten
Feldern zeigten sich die tiefen Stellen als Wasserlachen, die von den höhern zu¬
sammengelaufen waren und nicht Zeit zum Einsickern gefunden hatten. Die Vögel
fingen an lebendig zu werden, und eine einzelne Drossel kam jeden Abend kurz vor
Sonnenuntergang hervor und sang hoffnungsvoll auf der großen Ulme dicht bei
Frau Newberrys Haus. An Stelle der eisigen Winde und des brüchigen Erdreichs
war morastige Nässe getreten, die noch unangenehmer war als der Frost. Aber
sie deutete auf den kommenden Frühling und gehörte deshalb zu den Unannehm¬
lichkeiten, die sich ertragen lassen.
Stockdale war wenigstens ein halb Dutzend mal bemüht gewesen, mit Lizzy
ins reine zu kommen; aber das Geheimnis ihrer augenscheinlichen Abwesenheit in
jener Nacht, als die Nachbarin gekommen war, sowie ihre sonderbare Manier, zu
ungewöhnlichen Zeiten im Bett zu liegen, hielt ihn immer zurück, wenn er mit
der Sprache heraus wollte. So gingen sie nebeneinander her, als ungewiß Ver¬
lobte, und eins erkannte seinen Anspruch auf das andre kaum recht an. Stockdale
redete sich ein, daß sein Zögern in dem noch immer hinausgeschobnen Kommen des
angestellten Geistlichen begründet wäre, wodurch seine eigne Abreise verschoben und
in seiner Werbung keine Eile notwendig sei. Doch vielleicht war es auch nur seine
Vorsicht, die sich wieder zu behaupten anfing und ihm sagte, er müsse erst einen
klarern Begriff von Lizzy haben, ehe er das große Bündnis seines Lebens mit ihr
schlösse. Sie ihrerseits schien immer bereit, sich in der Angelegenheit weiter treiben
zu lassen, als er bisher versucht hatte; aber sie war nichtsdestoweniger unabhängig,
und zwar in einem Grade, der eines viel wankelmütigern Mannes Leidenschaft vor
dem Erkalten bewahrt haben würde.
Am Abend des ersten März ging er in der Dämmerung zufällig in sein
Schlafzimmer und sah auf einem Stuhl einen Überzieher, Hut und ein paar Bein¬
kleider liegen. Da er sich nicht erinnerte, etwas von seinen Kleidern dort gelassen
zu hoben, ging er hin und untersuchte sie, soweit es ihm im Zwielicht möglich war,
und fand, daß sie ihm nicht gehörten. Er stand einen Augenblick still, um zu über¬
legen, wie sie dahin gekommen sein könnten. Er war der einzige männliche Haus¬
bewohner; und doch waren dies nicht seine Sachen, wenn er sich nicht etwa geirrt
hatte. Nein, sie gehörten ihm nicht. Er rief Martha Sara.
Wie kommen diese Sachen in mein Zimmer? fragte er und warf die strittigen
Gegenstände auf den Fußboden.
Martha sagte, Frau Newberry hätte sie ihr zum Ausbürsten gegeben, und sie
hätte sie hier heraufgebracht im Glauben, sie gehörten Herrn Stockdale, weil doch
sonst kein Herr hier wohnte.
So! sagte Stockdale. Nun trag sie hinunter zur Frau und sag ihr, es
wären ein paar Kleidungsstücke, die ich hier gefunden hätte, und von denen ich
nichts wüßte.
Da die Tür offen blieb, hörte er das Gespräch unten mit an. Wie dumm!
sagte Frau Newberry in verlegnem Ton. Hab ich dir etwa gesagt, Martha Sara,
du sollst sie in Herrn Stockdales Zimmer tragen?
Ich dachte, es wären seine, weil sie so schmutzig waren, sagte Martha kleinlaut.
Du hättest sie auf dem Kleiderbügel lassen sollen, sagte die Hausfrau streng.
Sie ging mit den Sachen über dem Arm die Treppe hinauf, schritt schnell an
Stockdales Zimmer vorüber und warf sie ungestüm in einen Wandschrank am Ende
des Ganges. Damit war der Zwischenfall abgetan und das Haus wieder ruhig.
Im Hause einer Witwe solche Kleidungsstücke anzutreffen, wäre nicht auffallend
gewesen, sofern sie sauber waren oder auch von Motten zerfressen, verdrückt oder
muffig vom langen Liegen; daß sie aber eben erst mit Schmutz bespritzt gewesen,
quälte Stockdale sehr. Wenn ein junger Pastor im Espenstadium seiner Liebe steht
und ihn die geringsten Kleinigkeiten beunruhigen, wirkt eine so unerklärliche Tat¬
sache äußerst aufregend. Um jene Zeit jedoch passierte nichts weiter; aber er wurde
wachsam, zu allerlei Mutmaßungen geneigt und konnte die Sache nicht vergessen.
(Fortsetzung folgt)
Der neue Dreibund der Westmächte scheint wirklich ein viel harmloseres Ge¬
sicht zu haben, als viele zuerst geglaubt haben und — andre glauben machen
wollten. In der Erkenntnis, im östlichen Teil des Atlantischen Ozeans und im
westlichen Mittelmeer gewisse gemeinsame Interessen zu haben, sind England, Frank¬
reich und Spanien übereingekommen, sich gegenseitig Garantien zu geben, daß sie
bei der Wahrung ihrer Interessen aufeinander Rücksicht nehmen wollen. Wenn
dieser Vertrag wirklich eine Spitze gegen eine außerhalb des Bundes stehende
Macht kehren sollte, dann müßte er als ein Versuch mit untauglichen Mitteln be¬
zeichnet werden. Es ist deshalb der Gedanke aufgetaucht, daß die einzelnen Ab¬
kommen zwischen den drei Mächten vielleicht geheime Paragraphen enthalten könnten.
Das wird nun freilich von den beteiligten Regierungen in Abrede gestellt, und
— was mehr sagen will — sehr gewichtige sachliche Gründe sprechen dagegen.
Wahrscheinlich besagen diese Verständigungen auch wirklich nicht mehr, als in
ihrem veröffentlichten Wortlaut zu lesen ist, eine Politik, deren Inhalt und Zweck
hier schon früher auseinandergesetzt worden ist. Aber sensationsbedürftige, chauvi¬
nistische Unruhestifter in den drei Ländern haben allerhand Phantasien in diese
Beziehungen hineingetragen und sie dadurch den ruhigen Politikern verdächtig ge¬
macht. Ihrem Wortlaute nach durchaus vernünftig, verständlich und berechtigt,
gewinnen diese Abmachungen erst durch die phantastischen Glossen der deutschfeind¬
lichen Kreise den Charakter des bins. Für das Deutsche Reich, das friedlich
seinen Weg geht, aber dabei freilich sein Pulver trocken halt, kann das ziemlich
gleichgiltig sein; die deutschfeindlichen Heißsporne schädigen damit nur die Interessen
ihrer eignen Länder, von denen sie die Aufmerksamkeit ablenken, um der Welt den
Glauben an eine Politik der Abenteuer und der Hinterhältigkeit beizubringen.
Es scheint, als ob jetzt die Verträge, Bündnisse und Verständigungen kein
Ende nehmen wollten. Aber schließlich muß eben das an der Bedeutung dieser
vielen Abmachungen Zweifel hervorrufen. Und allmählich scheint man auch in
England erkannt zu haben, daß die Vielgeschäftigkeit, die die britische Politik dabei
entwickelt hat, ein Fehler gewesen ist. Und daraus ergibt sich auch die Notwendig¬
keit, der Allerweltsfreundschaft die deutschfeindliche Spitze zu nehmen. Daß die
Eindrücke der englischen Journalistenfahrt nach Deutschland den Wünschen der
britischen Regierung entgegenkommen, ist ein angenehmes Zusammentreffen. Dies
und der Umstand, daß man im westlichen Mittelmeer und im Atlantischen Ozean
glücklich ins reine gekommen ist, wird aller Wahrscheinlichkeit nach einen günstigen
Einfluß auf die deutsch-englischen Beziehungen ausüben.
England ist jedoch zugleich von der geheimen Sorge beseelt, daß die neue
Freundschaft mit Deutschland in Frankreich Verstimmungen erwecken könnte. Das
berührt aber einen sehr wichtigen Punkt in dem politischen Programm Gro߬
britanniens. Es will seine guten Beziehungen zu Frankreich nicht gefährden lassen,
und niemand wird leugnen können, daß die britische Negierung von ihrem Stand¬
punkt aus kaum anders handeln könnte. So taucht denn gerade in England der
Gedanke auf, man müsse Frankreich und Deutschland miteinander aussöhnen. Mit
der Tendenz könnten wir sehr einverstanden sein, nur ist es leider unmöglich, an die
Ausführung in absehbarer Zeit zu denken. Eben jetzt hat sich das deutlich gezeigt.
Einer der auswärtigen Gäste während der Kieler Woche war nämlich Herr
Etienne, der frühere französische Kriegsminister und jetzige Vizepräsident der
Deputiertenkammer. Er wurde, wie sich das bei einer solchen Gelegenheit von selbst
Versteht, mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt. Noch mehr aber, er wurde dem Kaiser
vorgestellt und hatte mit ihm zwei lange Unterredungen, über deren Inhalt sich
natürlich nur Vermutungen ausstellen lassen. Herr Etienne selbst hat durchaus die
Diskretion gewahrt und nur vertraulich an die Persönlichkeiten berichtet, denen er
Rechenschaft schuldig war, nämlich an den Präsidenten der Republik, an deu
Ministerpräsidenten und den Minister des Auswärtigen. Im übrigen hat er nur
angedeutet, das Gespräch habe sich um alle möglichen Fragen von Bedeutung ge¬
dreht, sei aber doch gänzlich unpolitischen Charakters gewesen. Das versteht sich
eigentlich von selbst, denn Herr Etienne weilte als Privatmann in Deutschland, und
zum Überfluß wurde ihm diese Eigenschaft auch von Frankreich aus in einer wenig
freundliche» Weise bescheinigt. Immerhin ist die Stellung des Herrn Etienne in
Frankreich derart, daß seine Ansichten und Eindrücke ins Gewicht fallen, und so
wurden seine Anwesenheit in Kiel und seine Unterhaltungen mit dem Kaiser in
Wahrheit sehr beachtet, um so mehr, als Herr Etienne auch noch einen Abstecher nach
Berlin machte und vom Fürsten Bülow mit derselben Auszeichnung wie in Kiel
empfangen wurde. Dergleichen Unterredungen haben, auch wenn sie zu einem be¬
stimmten politischen Zweck veranstaltet werden, natürlich nur den Charakter unver¬
bindlicher Vorbesprechungen, aber sie schienen dem französischen Staatsmann doch
von Bedeutung für die Beziehungen der beiden Völker zu sein.
Es ist in der letzten Zeit viel von einer Verständigung zwischen Deutschland
und Frankreich in kolonialen und überseeischen Fragen die Rede gewesen. Diese
Politik hat ja auch Fürst Bismarck eine Weile zu treiben gesucht, als er sich mit
Jules Ferry verständigte, aber die Franzosen haben das damals sehr übel genommen.
Das war freilich zu einer Zeit, wo der Rcvanchcgedanke noch ganz im Vorder¬
grunde stand. Seitdem ist ja die revnnchelustige Stimmung in Frankreich stark
zurückgedrängt worden, aber sie ist noch keineswegs erloschen und bricht jedesmal
hervor, wenn von Deutschland aus der Anschein erweckt wird, als rechne und warte
man bei uus auf die französische Freundschaft. Nach den ersten Berichten der fran¬
zösischen Presse über Etieunes Erlebnisse in Kiel hatten sich einige deutsche Blätter
etwas zu weit vorgewagt und ihrer Hoffnung auf eine französische Annäherung
Ausdruck gegeben, anstatt sich mit der Bemerkung zu begnügen, daß wir unsrer¬
seits keinen Groll gegen Frankreich hegen, freundschaftliche Schritte von dort also
gern vermerken und erwidern, aber auch keine Ursache haben, um die französische
Freundschaft zu werben. Aber schon dieser geringfügige Versuch von deutscher Seite,
sich etwas herzlicher zu Frankreich zu stellen, fand ein eigentümliches, nervöses
Echo in einem angesehenen französischen Blatt. Schon das Auftauchen des Ge¬
dankens, als könnten Deutsche und Franzosen in absehbarer Zeit Freunde sein,
wurde mit bemerkenswerter Schroffheit zurückgewiesen. Man wird sich das zur
Lehre dienen lassen. Unsre Beziehungen zu Frankreich können durchaus korrekt,
friedlich und wohlwollend sein, aber noch für lange Zeit werden wir nicht darüber
hinaus irgendwelche freundschaftliche Gesinnung von unsern westlichen Nachbarn
erwarten dürfen.
Während unsre auswärtigen Beziehungen noch immer Anlaß zu vielen Er¬
örterungen geben, wird im Innern an dem Versuch weitergearbeitet, die Blockpolitik
zu stärken und zu befestigen. Noch gibt es eine Hochflut von angeblichen Ent¬
hüllungen und Kommentaren zu dem Ministerwechsel. Immer neue Einzelheiten
werden beizubringen versucht, wobei vor allem das Mißtrauen zutage tritt, als
könne mit dem Rücktritt des Grafen Posadowsky eine Kursänderung an der Sozial¬
politik beabsichtigt sein. Es liegen jedoch die bündigsten Versicherungen vor, daß
das nicht der Fall sein wird, und jede Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß der
bisherige Kurs beibehalten werden wird.
Eine neue politische Organisation müssen wir übrigens hier noch erwähnen,
den kürzlich gegründeten „Nationalverein für das liberale Deutschland", der in
Heidelberg dieser Tage seine erste Hauptversammlung abgehalten hat. Die Neu¬
gründung stellt sich als ein Versuch dar, die nachgerade mythisch gewordne „große
liberale Partei" endlich ins Leben treten zu lassen. Aber es wird diesmal ebenso¬
wenig glücken wie sonst, weil innere Gründe dagegen sprechen. Auch der große,
historische Name wird diesen neuen Nationalverein nicht retten. Der alte National¬
verein sammelte einstmals die Elemente des deutschen Liberalismus, die nicht in
doktrinärer Verranntheit stecken geblieben waren, die so viel Staatsgefühl hatten,
um praktisch an den nationalen Zielen mitarbeiten zu können. Der neue National¬
verein scheint eher die umgekehrte Tendenz zu haben, mit Hilfe der alten Formeln
des Liberalismus den Schein einer Einheit herzustellen, die praktisch gar nicht
existieren kann. Die Heidelberger Verhandlungen zeigen, daß eine wirkliche Klar¬
heit über die Stellung des Liberalismus zum Sozialismus nicht erreicht worden
ist. Das ist aber gegenwärtig die Hauptfrage für die weitere Entwicklung des
Liberalismus. Deshalb verhält sich die nationalliberale Partei, besonders in Nord¬
deutschland, völlig ablehnend gegen den neuen Verein. Die süddeutsche Demokratie
dagegen sucht die Anlehnung der gesamten Linken an die Sozialdemokratie herbei¬
zuführen. Bei so starken Verschiedenheiten in den Grundsätzen ist das dauernde
Zusammenhalten der Vereinigung schwerlich möglich.
Eine große Erregung der Gemüter hat der Münchner Petersprozeß gebracht.
Ob aber in dieser Frage schon das letzte Wort gesprochen worden ist? Es sieht
nicht danach aus. Noch bestehen Unklarheiten darüber, wie die Mitglieder der
Disziplinarkammer und des Disziplinarhofs eigentlich zu ihrem Urteilsspruch ge¬
kommen sind. Es ist behauptet worden, daß in diesem Disziplinarverfahren ge¬
heime Akten vorhanden seien, die für die Motive des Urteils den Schlüssel ent¬
halten. Nach den Zeugenaussagen, die jetzt in dem Münchner Prozeß zutage
gekommen sind, kann man sich eigentlich keine rechte Vorstellung machen, welche
besondern, noch unbekannten Tatsachen etwa geeignet sein könnten, das Urteil der
öffentlichen Meinung über den Fall Peters umzustoßen. In dem letzten Prozeß
sind die härtesten Urteile über die Richter in dem Disziplinarverfahren gefällt
worden. Es ließe sich also wohl rechtfertigen, wenn jetzt ans dem Material, das
den beiden Diszivlinarurteilen zugrunde gelegen hat, kein Geheimnis mehr gemacht
würde. Daß die Richter in diesem Disziplinarverfahren korrekt Verfahren haben,
wird man einstweilen glauben können, aber auffallend bleibt es, daß sie anscheinend
ohne die Zeugen zu hören ihr Urteil gefällt haben. Mit dem Tatbestande, den die
Münchner Zeugenaussagen ergeben haben, sind die Urteile schwer vereinbar.
Die schwierige Frage, ob Dr. Peters richtig gehandelt hat, als er die bekannten
Hinrichtungen vollziehen ließ, wird, wie es scheint, viel zu sehr von allgemeinen
Gesichtspunkten der Negerbehandlungsfrage beurteilt. Man kann sich denken, daß
jemand prinzipiell eine sehr humane Behandlung der Neger vertritt und in der
geordneten Verwaltung eines Schutzgebiets oder auch bei Forschungsreisen praktisch
zur Anwendung bringt und sich dabei doch in einer so eigentümlichen Lage, wie
Dr. Peters auf seiner Emin-Pascha-Expedition, gelegentlich hart zeigen muß.
Der Münchner Prozeß hat sicherlich manches an Dr. Peters begangne Unrecht
gut gemacht und eine richtige Würdigung seiner Persönlichkeit angebahnt, aber es
bleiben noch viele Fragen übrig, und es wäre im Interesse sowohl des Dr. Peters
als auch der kolonialen Sache, wenn eine vollständige Aufklärung nach den Akten
des Disziplinarverfahrens erfolgte.
icht mit Unrecht beobachtet man in Europa sorgfältig die mili¬
tärische Entwicklung, die das chinesische Reich an der Seite des
japanischen Nachbarn allmählich nimmt, denn die Freundschaft
dieser beiden Mächte im Fernen Osten könnte im Laufe der Zeit
der Lage in Ostasien eine völlig neue Gestalt geben trotz aller
Vertrüge und Bündnisse, die den se^tus ano in Ostasien garantiert haben. Es
ist aber nicht leicht, sich ein ganz zuverlässiges Bild von dem wirklichen Stande
des heutigen Heerwesens in China zu machen, da von dorther, wohl nicht ohne
Absicht, sehr viel unrichtige Mitteilungen verbreitet und namentlich über die
Fortschritte der Neuorganisation der Armee falsche Zahlenangaben ausgestreut
werden.
Um sich nun ein zutreffendes Bild von dem auch heute noch recht kompli¬
zierten Heerwesen in China und von den zur Landesverteidigung verwendbaren
Truppen zu verschaffen, tut man am besten, wenn man zwischen der alten und
der neuen Armee streng unterscheidet und jede für sich der Kritik unterzieht.
Zur alten Armee gehören, abgesehen von dem mongolischen Landsturm und der
tibetanischen Miliz, die hier außer Betracht bleiben köunen, die „Mandschu- oder
Vannertruppen" und die „Truppen der grünen Fahne" oder „Provinzialtruppen".
Die Bannertruppen, ursprünglich die Nachkommen der ehemaligen Jnvasions-
armee der Mandschus aus dem Anfange des siebzehnten Jahrhunderts, sind
zwar eine Kriegerkaste geblieben und stehn auch heute uoch unter den Befehlen
der kaiserlichen Gouverneure, haben aber im Laufe der Zeit durch Aufnahme
von Mongolen und Chinesen die Reinheit der Rasse und damit viel von ihrem
frühern kriegerischen Geiste verloren.
Wenn auch mit der Auslösung der Bannertruppen bereits begonnen worden
ist, und wenn sie nach und nach ganz durchgeführt werden wird, so dürfte darüber
doch noch einige Zeit vergehen. Man darf deshalb diese Truppen vorderhand
noch nicht ganz außer Betracht lassen, weshalb hier eine kurze Charakteristik
über sie folgen mag.
Eingekeilt werden die Bannertruppen in acht Korps, von denen die drei
ersten (gelbes, rotgelbes und weißes Banner) ausschließlich aus Mongolen und
Tataren gebildet werden und unter andern die Kaiserliche Garde formieren;
sie stehn auch theoretisch unter dem direkten Befehl des Kaisers im Gegensatz
zu den fünf andern Bannerkorps (weiß-rot, rot, rot-weiß, blau und blau-rot),
die zum Patronat der Prinzen des Kaiserlichen Hauses gehören.
Die acht Banner gliedern sich in 25 Divisionen von ganz ungleicher Stärke.
Die 1. Division, die Kaiserliche Garde, ist 3000 Mann (Infanterie und Kavallerie)
stark und wird von 25 Mandarinen erster und zweiter Stufe sowie von drei
Prinzen befehligt, die zu ihrer Unterstützung und Ausführung ihrer Befehle
1000 Subalternoffiziere zur Seite haben. Der Vorzug der Gardedivision vor
den andern Divisionen besteht unter anderm darin, daß sie ihr eignes Straf¬
gesetzbuch hat. Die geringste Strafe besteht in hundert Stockschlägen, die schwerste
in „langsamem Tode" wegen Landesverrat oder Achtungsvcrletzung gegen den
Kaiser.
Die 2. bis 10. Division der Bannertruppen gehören zur Besatzung der
Provinz Petschili. Ihre genaue Stärke läßt sich kaum feststellen. In den
Frontrapporten, die gelegentlich der aller drei Jahre abzuhaltenden Paraden
vorgelegt werden, sind 150000 Mann ausgeführt. In Wirklichkeit kann man
jedoch höchstens 80000 Mann zählen, da einzelne Divisionen durch Deserteure,
Kraute usw. große Abgänge haben.
Auch die Stärke der Divisionen 11 bis 25 ist ganz verschieden. Die 12. Di¬
vision in Schankung zum Beispiel ist insgesamt 3000 Köpfe stark, während
die 24. Division, die vor der Ankunft der Russen in der Mandschurei stand,
mit 30000 Mann die Höchstzahl erreicht. Der 25. Division ist die Bewachung
der Kaiserlichen Gräber in den Provinzen anvertraut. Zusammen sollen die
fünfzehn Divisionen etwa 100000 Mann aufbringen.
Ebenso ungleich wie die Stärke der einzelnen Divisionen der Bannertruppen
ist auch ihre Zusammensetzung nach Waffengattungen. So besteht z. B. die
zweite Division nur aus Infanterie, die dritte zur Hälfte aus Infanterie und
Kavallerie, die vierte ebenfalls aus Infanterie und Kavallerie und dazu noch
ans einigen zwanzig Batterien, die sechste bildet nur Fußartilleristen aus, und
der siebenten ist die Exekutivstrafgewalt übertragen.
Obgleich ohne feste militärische Organisation, verfügen die Bannertruppen
doch über Reserven, die zu Kriegsdiensten herangezogen werden. Eine Kontrolle
über sie wird seitens der Ortsbehörden geführt, indem sie von sämtlichen
Familienangehörigen von Geschlecht zu Geschlecht genaue Listen anlegen und
für die Ausbildung der in diese Listen eingetragnen Leute Sorge tragen, je
nachdem Zeit und Mittel dazu vorhanden sind.
Weit schlechter als mit diesen Bannertruppen des alten Heeres ist es mit
den Provinzialtruppen bestellt, die als Neste einer um die Mitte des siebzehnten
Jahrhunderts geschaffnen stehenden Armee anzusehen sind. Sie sind über
die achtzehn Zentralprovinzen des chinesischen Reiches sowie über Chinesisch-
Turkestan und den Bezirk von Peking verteilt und stehen unter den Befehlen
und zur freien Verfügung der betreffenden Generalgouverneure. Über die tat¬
sächliche Stärke dieser Truppen lassen sich genaue Zahlen nicht aufstellen;
angeblich sollen 400000 Mann vorhanden sein, doch steht fest, daß die Pro-
vinzialvcrwaltungen die hohen Ziffern deswegen angeben, damit sie der Regie¬
rung in Peking einen möglichst hohen Betrag für ihren Unterhalt in Rechnung
stellen können, der dann zum großen Teil wieder ihren eignen Taschen zugute
kommt. Militärischen Wert hatten diese Truppen als Ganzes bisher nicht,
und ihrer Bestimmung, „zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung im
Lande beizutragen", kamen sie so gut wie gar nicht nach, sodaß auch ihre all¬
mähliche Auflösung beschlossene Sache ist.
Es leuchtet ohne weiteres ein, daß die Mehrzahl der genannten Heeres¬
teile keinen Anspruch auf eine kriegsbrauchbare Truppe nach modernen Begriffen
erheben kann, und daß darum eine ganz neue Armee auf moderner Basis geschaffen
werden mußte, wenn das militärische Ansehen des Reiches der Mitte irgend¬
welche Bedeutung gewinnen wollte. Zur Lösung dieser schwierigen Aufgabe
wurde im Jahre 1901 der alte Li-Hung-Tschang berufen, der sich schon oft
als Retter in der Not bewährt hatte, und dessen Einfluß es auch früher schon
gelungen war, die ersten deutschen Instrukteure für die Ausbildung des chine¬
sischen Heeres zu gewinnen. Unter solcher Leitung wurden nach und nach aus
den besten Elementen der Banner- und der Provinzialtruppeu zwei Armeen
formiert, die unter der Bezeichnung Peiyang-Armee (in der Provinz Petschili)
und Hupei-Armee (in der Provinz Hupei am Mittellauf des Jangtse) den Kern
des heutigen chinesischen Heeres bilden und bestimmt sind, die Wehrkraft des
Landes einer neuen Blütezeit entgegenzuführen. Li - Hnng - Tschang hat die
Vollendung seines Werkes nicht erlebt, denn er starb, als es die ersten Früchte
zu tragen anfing, und Zucht und Ordnung in die Reihen der neu zusammen¬
gestellten Truppen kamen.
Von allen Nachfolgern dieses großen Staatsmannes hat Unan-Schikal, der,
nachdem er eine Zeit lang in Ungnade gefallen war, jetzt wieder der Höchst¬
kommandierende der chinesischen Truppen in der Provinz Petschili ist, das Werk
Li-Huug-Tschcmgs mit Eifer und Verständnis fortgesetzt, und reiche Erfolge
sind nicht ausgeblieben.
Schwierigkeiten, die Heeresorganisation schnell durchzuführen, macht der
Umstand, daß in China die allgemeine Wehrpflicht noch nicht eingeführt ist und
die Truppen nur angeworben werden. Infolge der guten Besoldung ist der
Andrang zwar sehr groß, aber im Gegensatz zu früher wird heute nicht jeder
Mann angenommen, sondern nur gesunde kräftige Leute vom besten Ruf, für
die das Heimatdorf Bürgschaft zu leisten hat, kommen für die Anwerbung in
Frage. Auch wird einige Kenntnis im Lesen und Schreiben verlangt. Die
Provinzen Honan und Shcmtung liefern die meisten und besten Rekruten. Der
Ncuangeworbne muß sich verpflichten, drei Jahre aktiv bei der Fahne zu dienen,
dann wird er zur Reserve entlassen, in der er sieben Jahre bleibt, und erhält
als Reservist eine monatliche Pension von einem Tael, die er sich aus der
Kreiskasse seines Wohnsitzes unter Vorlegung seiner Dienstpapiere abzuholen hat.
So kennt die Negierung stets den Aufenthalt aller Reservisten und kann sie im
Bedarfsfalle leicht einziehen.
Was den Offizierersatz anlangt, so hat er in letzter Zeit bedeutende
Änderungen erfahren, die, allmählich durchgeführt, gute Resultate zeitigen und
auf die Kriegstüchtigkeit des Heeres vorteilhaft einwirken können.
Früher, noch bis zum Jahre 1900, war der Ersatz der in der Front
stehenden Offiziere höchst mangelhaft. Man bevorzugte Tschi-jeu-Bannerleute
zu den Stellen als Vorgesetzte, die eine Reihe von Jahren dem Heere angehört
hatten, sich nichts besondres zuschulden kommen ließen und in Besitz einer kleinen
Summe Geldes gelangt waren, die genügte, um eine „Stelle" zu erhalten.
Sie brauchten weder schreiben noch lesen zu können und hatten bei ihren
Prüfungen nur eine gewisse Fertigkeit in einigen praktisch-militärischen Übungen
nachzuweisen, die einer ganz alten Zeit entstammten. Die Examina, in Peking
oder in den Provinzialhauptstädten abgehalten, bestanden früher:
Hierbei hatte der zu Prüfende nur eine gewisse, durch Übung erlangte
Körperkraft und etwas Geschicklichkeit zu zeigen, theoretische Fragen kamen nicht
zur Erörterung.
Waren diese Exerzitien bestanden, und die nötige Summe Geldes in die
richtigen Hände geflossen, so wurde der Geprüfte Offizier (von-grau) und hatte
sich weitern Prüfungen zu unterwerfen oder mußte sich im Kampfe auszeichnen,
wenn er befördert werden wollte.
Nach den letzthin erlassenen Edikten des Kaisers und den neuen Vorschriften
des Kriegsministeriums, das mit allem Eifer und mit tatkräftiger japanischer
Unterstützung Reorganisationen durchführt, sind die Bedingungen, deren Er-
füllung zum Offizier befähigt, andre geworden. Der Offizieraspirant muß aus
guter Familie sein, gutes körperliches Ebenmaß und die nötigen Kräfte haben,
um Anstrengungen ertragen zu können; ihm soll so viel Selbstbeherrschung an¬
erzogen sein, daß er Entbehrungen, die der Krieg mit sich bringt, erträgt und
seinen Untergebnen ein tüchtiges Vorbild bleibt.
Es ist nicht notwendig, daß er schon in den Reihen des Heeres gedient
hat, er muß aber die obengenannten Fähigkeiten nachweisen, um in eine Militür-
schule eintreten zu können. In diesen Militärschulen, von denen es bis jetzt je
eine in zwanzig Provinzen mit zusammen mehr als fünftausend Zöglingen
gibt, wird auf die wissenschaftliche Ausbildung Hauptwert gelegt, die praktische
aber nicht vernachlässigt; sie entsprechen in mancher Hinsicht unsern Kadetten¬
korps, ohne jedoch die hier erreichten Resultate zu zeitigen. Mit dem zwanzigsten
Lebensjahre durchschnittlich betritt der Offizieraspirant die Militärschule, wo zunächst
nur einige Fertigkeit im Lesen und Schreiben von ihm verlangt wird. Die
theoretische Ausbildung geht mit der praktischen Hand in Hand. Im ersten Jahre
wird mit den einfachsten Grundsätzen der Waffen- und Schießlehre, mit der Er¬
klärung des modernen Gewehrs begonnen und praktische Übungen im Schießen
mit dem Jnfanteriegewehr vorgenommen. Der Schüler wird ferner in die ersten
Grundsätze des Planzeichnens eingeweiht, das in den höhern Klassen zur Ge-
lündelehre heranwächst. Auch im Rechnen, Lesen und Schreiben wird er geübt.
In den Vorschriften wird besonders hervorgehoben, daß sich die Schüler
eine umfassende Kenntnis von Geschichte und Geographie aneignen sollen, und
zwar nicht nur ihres Heimatlandes, sondern der europäischen Mächte, die eine
besondre Rolle auf der Welttribüne spielen, sei es in bezug auf ihre Leistungen
auf dem Kriegsgebiet, in der Politik oder in Handel und Industrie. Merkwürdiger¬
weise fällt das Studium fremder Sprachen in dem Lehrplan weg, und man
kann wohl vermuten, daß es dem eignen Fleiß und der Neigung des Schülers
überlasten bleibt, sich wenigstens in einer Fremdsprache auszubilden. Schließlich
bestehen die praktischen Übungen im täglichen Exerzieren mit und ohne Gewehr,
in Felddienst, Turnen, Freiübungen und im Schießen. Hierbei ist das japanische
Exerzierreglement zugrunde gelegt, das sich bekanntlich auf dem deutschen auf¬
baut. Lehrer und Exerziermeister sind fast ausschließlich Japaner. Am Schluß
eines jeden Jahres wird eine Art Tentamen (seuo-Kao) abgelegt, je nach dessen
Ausfall der Schüler in eine höhere Klasse versetzt wird. Wenn er sich durch
besonders hervorragende Kenntnisse auszeichnet, bekommt er außerdem eine Geld¬
prämie, die aber acht bis zehn Taels nicht übersteigt.
Sind die sämtlichen Klassen absolviert, und ist das Schulexamen gut
bestanden worden, so hat der Schüler Anwartschaft auf eine Offizierstelle, wird
zum Offizier (vu-Zuan) befördert und nach einem dreimonatigen Urlaub in die
Front eingestellt.
Mit diesem System ist seit kurzer Zeit der Anfang gemacht worden, man
hofft, es werde sich mehr und mehr auswachsen und befestigen und mit der Zeit
einen guten Ersatz an Offizieren schaffen.
Für die weitere Fortbildung der aus den Militärschulen hervorgegangnen
Offiziere ist kürzlich in Peking eine Militärakademie errichtet worden. Neben
dieser Akademie gibt es noch eine besondre Schule für Strategie und Taktik in
der Hauptstadt, an der seit dem Mai 1905 japanische Instrukteure tütig sind.
Außer der Militärakademie und Strategieschule ist vom Armeereorganisations¬
departement noch die Errichtung einer Militärschule in Peking zum ausschlie߬
lichen Besuch durch den chinesischen Adel in Aussicht genommen. Die Kaiserin-
rcgentin hat aus ihrer Schatulle 50000 Taels zu diesem Zweck hergegeben,
und als Vorbild für diese Schule soll die Adelsschule in Tokio genommen
werden. Die nähern Bestimmungen sind abgefaßt und unterliegen zurzeit noch
der Prüfung des Vizepräsidenten des Armeedepartements Hsu-Chih-chang.
Nachdem auf diese Weise innerhalb eines verhältnismäßig kurzen Zeitraums
drei Militärerziehungsanstalten in Peking entstanden sind, rechnet man schon
jetzt in chinesischen Heereskreisen mit der Möglichkeit der baldigen Gründung
von Bezirksmilitärvorbereitungsschulen, einer Zentralmilitärvorbereitungsschule,
von Artillerie- und Ingenieurschulen und einer Militärmusikschule.
Über die Heranbildung des Offizierersatzes, den Stand des heutigen
Militürerziehungs- und Bildungswesens in China und vor allen Dingen über
die Ausbildung der Truppe kann man aber nicht hinweggehn, ohne nicht der
endigen Teilnahme zu gedenken, die deutsche Jnstruktionsoffiziere unter großen
Schwierigkeiten daran gehabt, und wenn auch nur in beschränktem Umfange,
auch heute noch haben.
Besonders Mitte der siebziger Jahre des verflossenen Jahrhunderts wurden
die ersten Instrukteure eingestellt; ihre Zahl wuchs rasch, und bald waren sie
sowohl in Nord-, Mittel- wie in Südchina tütig.
Der für China unglückliche Krieg in Tonking machte den militärreforma-
torischen Bestrebungen der südlichen Provinzen ein Ende, da ein Sondervertrag
mit Frankreich andre europäische Offiziere als französische als Instrukteure an¬
zustellen untersagte. Später gelang es allerdings auch Rußland, sich dieselben
Vorteile in bezug auf die Provinz Petschili zu sichern.
Die höchste Zahl deutscher Jnstruktionsoffiziere war in den neunziger
Jahren in China tätig, und es ist nicht zuviel gesagt, daß mit ihrer Hilfe
die Grundlage eines brauchbaren Heerwesens geschaffen worden ist. Man schwang
sich in jener Zeit dazu auf, eine Lehrtruppe in Woosung zu formieren, bei der
fast sämtliche Offizierstellen durch deutsche Offiziere besetzt wurden.
Erst vor zwei Jahren ist der deutsche Militärinstrukteur im Norden ganz
verschwunden, und auch an allen übrigen Plätzen kann er sich nur mit Mühe
gegen den geschlossenen japanischen Ansturm halten. Heute sind nur noch an
drei Militürschulen Deutsche angestellt, und zwar in Wuchcmg drei, in Nanking,
in Tsinanfu zwei (davon ein Österreicher), außerdem befinden sich noch einige
Herren in Arsenälen und Pulverfabriken in Stellung.
Die Kontrakte dieser Instrukteure sind mit den Provinzialregimentern ab¬
geschlossen worden und laufen drei Jahre. Werden sie nach Ablauf dieser Zeit
nicht erneuert, so gilt das Verhältnis als gelöst. Was die Gehalte anlangt, so
haben sie sich in Wuchcmg und Nanking auf 1000 Mark monatlich gestellt, im
Norden dagegen und in Tsinanfu sind sie bis auf 700 Mark herunter-
gegangen. Zu dem baren Gelde treten noch einige Entschädigungen, wie freie
Wohnung, hier und dort Reitpferde und Dienstpersonal.
Die Anstellung dieses Lehrpersonals erfolgt fast ausschließlich an Militär¬
schulen — nicht in Lagern —, und der zu erteilende Unterricht erstreckt sich
auf den praktischen Dienst und die Militärwissenschaften. In allem muß mit
den einfachsten Dingen begonnen werden, da meist jede Vorkenntnis fehlt, und
die Anschauungen von Grund auf einer Korrektur bedürfen. Häufig werden
den Lehrern große Schwierigkeiten von ihren Vorgesetzten in den Weg gelegt.
Am schlimmsten soll es sein, wenn sich hohe Beamte, die nie in ihrem Leben
militärische Stellungen bekleidet haben, bemüßigt finden, Befehle und An¬
ordnungen zu erlassen, die allen Grundsätzen der Kriegskunst und militärischer
Disziplin zuwiderlaufe». Oft soll es auch vorkommen, daß hohe und höchste Zoll¬
beamte wie Oberrichter, Salztaotai u. a. Paraden und Besichtigungen abhalten
oder gar im Nebenamt die Stellung höherer Truppenkommandenre bekleiden.
Der Kursus auf einer Militärschule dauert nach einer Verordnung der
Zentralregierung vier Jahre, doch wird diese Zeitdauer nicht streng innege¬
halten, da es sowohl solche Zöglinge gibt, die acht und mehr Jahre eine
Militärschnle besuchen, als auch solche, die durch Protektion erst kurz vor der
Entlassung Aufnahme finden. Eine Lebensaltersgrenze zur Aufnahme in die
Schule ist nicht vorgeschrieben, und so kommt es, daß neben jungen Leuten
von sechzehn Jahren auch solche von sechsundvierzig und darüber dem Unter¬
richt folgen.
Wenn nach erfolgter Heeresreorganisation auch die Verhältnisse besser
werden mögen, so ist es bis jetzt doch Tatsache gewesen, daß nach absolvierter
Schule nur ein geringer Prozentsatz (10 bis 12) aller Aspiranten auf eine An¬
stellung im Provinzheere rechnen konnte. Dadurch verlieren die Militärschulen
natürlich an Bedeutung, und die aufgewandte Mühe der Lehrer muß ver¬
loren gehn, wenn die Mehrzahl der für den Militärberuf bestimmten und darin
ausgebildeten Zöglinge nach beendeter Lehrzeit nicht in der Armee unterkommen
kann. Aber auch das wird vielleicht anders werden, wenn erst die Reform der
Militärschulen festen Fuß gefaßt haben wird.
Was die Art der Lehrmethode in theoretischer Hinsicht anlangt, so ist
sie nicht leicht zu nennen, denn es müssen zum Beispiel die vorzutragenden
Reglements Wort für Wort ins Chinesische übersetzt und dann an die Klassen¬
tafeln geschrieben werden, von denen es die Schüler in ihre Hefte übertragen
und dann auswendig lernen. Erschwert wird der Unterricht auch durch den
Umstand, daß einschlägige chinesische Bücher meist fehlen oder noch nicht all¬
gemein vorhanden sind, sodaß jedes Wort, wenn es gelernt werden soll, zuvor
auf die Tafel gezeichnet werden muß. Auf diese Weise geht natürlich viel Zeit
verloren, und Fortschritte werden nur langsam gemacht.
In praktischer Beziehung sind die Resultate besser und mitunter auch ohne
so viel Schwierigkeiten zu erreichen, wie sie in der Schulstube bestehn. Ein
interessanter Bericht über eine kürzlich in der Militärschule in Tsinanfu abge¬
haltene Besichtigung beweist dies und ist zugleich lehrreich für die Überein¬
stimmung, die in der Ausbildung auf den Militärschulen und in den Truppen¬
lagern herrscht.
Das Sanitätswesen im chinesischen Heere liegt noch sehr im argen;
europäisch ausgebildete Ärzte befinden sich nur bei der ersten Division in
Dungpingfu und in Paotingfu, wo auch schon ein großes Militärlazarett erbaut
worden ist. Eine Schule zur Heranbildung von Ärzten, die zurzeit unter fran¬
zösischer Leitung steht, ist in Tientsin begründet worden.
Einen Generalstab in unserm Sinne kennt die chinesische Armee bis jetzt
noch nicht, doch sind dahingehende Schritte vom Generalgouvemeur Juan-Schikal
schon eingeleitet worden, und auch die in Peking begründete Militärakademie soll
dazu dienen, eine Art Generalstabsvorbildungsschule zu werden.
Was nun die Neuorganisation der Truppe anlangt, von der eingangs die
Rede war, so sollen nach einem kaiserlichen Reskript vom Jahre 1902 bis zum
Jahre 1922 insgesamt 36 Divisionen neu aufgestellt werden. Davon sind bis
jetzt gebildet worden:
Diese sechs Divisionen sowie die 29. gemischte Brigade in der Provinz
Honan und die südlich von Peking im Jagdpark stehende schwache Brigade (eben¬
falls Honcmtruppen und ohne Nummer) bilden die Nord- oder Peiyaugariuec
unter Juan-Schirm.
Die Südarmee wird in den Provinzen Kiang su, Anhui, Klang si gebildet.
Es sind davon bis jetzt vorhanden eine gemischte Brigade der 7. Division und
der 9. Division sowie je eine gemischte Brigade (noch ohne Nummer) in den
Provinzen Kiang su, Anhui und Kiang si. Die 8. Division und eine gemischte
Brigade der 11. Division stehen in Wutschang. Ferner steht je eine gemischte
Brigade in den Provinzen Hnnan und These klang, eine gemischte Brigade der
10. Division in der Provinz Fu lieu und eine gemischte Brigade in Canton.
Jede der vollzähligen Divisionen setzt sich aus 2 Jnfanteriebrigaden zu je
2 Regimentern zu 3 Bataillonen, 1 Kavallerieregiment zu 3 Eskadronen, 1 Ar¬
tillerieregiment zu 3 Abteilungen zu je 3 Batterien zu 4 und 6 Geschützen,
1 Pionier- und 1 Trainbataillon zusammen; diese Truppen erreichen eine etats¬
müßige Stärke von 9650 Mann. Rechnet man dazu noch einen Troß von 140 Mann
an Pferdewärtern, Köchen usw., die in China nicht in den Stand der Regimenter
mit eingerechnet werden, so zählt jede Division auf Friedensfuß etwa 1100 Mann.
Die noch nicht vollzähligen Divisionen mit eingerechnet, beläuft sich die Friedens¬
stärke des stehenden chinesischen Heeres gegenwärtig auf etwa 100000 Mann.
In der wichtigen Frage der Bewaffnung geht das Bestreben der Heeres¬
leitung augenscheinlich dahin, das Heer einheitlich zu bewaffnen. Bei der In¬
fanterie ist das Ziel fast schon erreicht, denn sieben der neuen Divisionen sind
mit deutschen Manscrgewehren und Karabinern Modell 88 ausgerüstet, nur
die 1. und die 9, Division führen zurzeit noch das Meidji- oder 30-Jcchr-Gewehr
von 6,5 Millimeter Kaliber, mit dem gegenwärtig die japanische Armee bewaffnet
ist. Die Prüfungskommission soll sich aber jetzt endgiltig für das Mauser¬
gewehr entschieden haben, sodaß auch die 1. und die 9. Diviston schon alsbald mit
dieser Waffe versehen sein werden. Bei der Artillerie hat sich eine einheitliche
Bewaffnung bisher nicht durchführen lassen. Neben modernen Geschützen finden
sich bei einzelnen Divisionen noch alte Modelle verschiedner Herkunft aus den
siebziger und achtziger Jahren. Der hauptsächlichste Hinderungsgrund an der
Gleichmäßigkeit der artilleristischen Ausrüstung ist der Umstand, daß die Artillerie-
Prüfungskommission noch keine Wahl eines bestimmten Geschützmodells getroffen
hat. In Frage steht Material von Krupp, von Schneider-Creuzot und aus
Japan. Ganz besondre Anstrengungen macht Japan, seine durch den Krieg
mit Rußland stark angegriffnen Kanonen in China anzubringen, um sich dann
von diesem Erlös neues Material in Deutschland zu kaufen. Bei einem in
Wuchcmg abgehaltnen Probeschießcn haben sich jedoch diese Geschütze augen¬
scheinlich schlecht bewährt. Aus einem uns darüber vorliegenden Bericht geht
hervor, daß, obwohl an diesem Schießen ausschließlich Japaner unter Leitung
eines japanischen Oberstleutnants vom Hcmycmger Arsenal teilnahmen und ab¬
sichtlich kein Chinese an die Geschütze gelassen wurde, kein einziger Treffer ge¬
macht wurde. Auch die abgelagerten japanischen Geschosse scheinen nichts zu
taugen, da bei der Schießübung von zwanzig Granaten elf nicht krepierten; die
Kartusche und die Pulverladung waren nur angesengt. Da auch die französischen
Geschütze, angeblich ihres komplizierten Mechanismus wegen, der Prüfungs¬
kommission chinesischer Sachverständiger nicht gefallen sollen, so dürfte die
deutsche Industrie wohl die meiste Aussicht haben, mit größern Geschütz¬
bestellungen bedacht zu werden.
Es muß übrigens zur Kennzeichnung der Fortschritte, die China in mili¬
tärischer Hinsicht macht, am Schluß noch hinzugefügt werden, daß der Staat
fortgesetzt an der Arbeit ist, seine eignen Waffenarsenale zu vergrößern und zu
verbessern, vermutlich, um mit der Zeit in dieser Hinsicht zu völliger Un¬
abhängigkeit vom Auslande zu gelangen.
Große Arsenale sind zurzeit in China an folgenden Plätzen:
Von diesen Wasserplätzen steht Hcmycmg am höchsten in Ansehen, da es
am besten mit Material und Personal ausgestattet ist und in seinen Leistungen
andauernd Fortschritte macht. Neben einem großen Dampfhammer, zwei Hoch¬
öfen, Bessemer- und Martinstahlwerk sind hier eine Geschützdreherei, eine
Gewehrfabrik und eine Metallpatronenfabrik vorhanden, und 1100 Arbeiter sind
gegenwärtig beschäftigt, die zahlreichen Aufträge auf den Gebieten der Waffen¬
ausrüstung auszuführen.
An Handfeuerwaffen wird hier das deutsche Gewehr Modell 98 ohne
Laufmcmtel hergestellt. Während es jedoch in frühern Jahren nur möglich
war, 15 Stück täglich anzufertigen, können jetzt, nachdem im Vorjahre die Zahl
der Maschinen durch Ankäufe in Deutschland ergänzt und vermehrt worden ist,
deren 25 abgeliefert werden. Die Leistung könnte 50 sein, soll aber nur 35 be¬
tragen. Von Patronen stellt die Fabrik täglich 20000 Stück her. Auch das
Geschützarsenal ist in reger Tätigkeit und hat sich seit Beginn dieses Jahres
sehr wesentlich vervollkommnet. In der Hauptsache werden 3,7- und 5,7-Zenti-
meter-Schnellfeuergeschütze gebaut mit dem Erfolg, daß in jedem Monat etwa
15 Stück zur Ablieferung gelangen.
Auch die Arsenale in Canton und Schanghai erfreuen sich guten Rufes.
Allerdings heißt es jetzt mit Bestimmtheit, man wolle diese waffentechnischen
Anlagen schon demnächst verlegen, und zwar das Ccmtoner Arsenal den Westsluß
hinauf nach Wuchou und das von Schanghai nach Pirg-Hsiang in der Provinz
Kiang si. Als Grund für diese immerhin sehr kostspieligen Projekte wird an¬
geführt, daß für die Fabriken im Innern des Landes mehr Schutz und Sicherheit
vorhanden sei als nahe an der Küste, wo sie feindlichen Angriffen ausgesetzt
seien und im Kriegsfalle möglicherweise ihre Tätigkeit ganz einstellen müßten.
Ganz besondre Schwierigkeiten scheint die Absicht der Verlegung des Arsenals
von Kiangnan bei Schanghai gemacht zu haben. Hier war der Vorschlag des
Vizekönigs Chang-Chih-tung zunächst dahin gegangen, eine neue Anlage in
Wanchih, etwa zwanzig Meilen von dem großen Hafen Wuhu, in der Provinz
Ambin liegend, in großem Stil auszuführen. Eine nähere Besichtigung jedoch,
die der Vizekönig mit seinem benachbarten Kollegen, dem Vizekönig Wai-
Kuang-tao von der Provinz Liang-Kiang, an Ort und Stelle vornahm, über¬
zeugte ihn von den ungünstigen Aussichten seines Projekts und führte zu¬
gleich zur Wahl von Pirg-Hsiang in der Provinz King si. Entscheidend für
diesen Entschluß soll auch gewesen sein, daß Pirg-Hsiang nicht nur von der
Natur aus sehr leicht verteidigungsfähig ist, sondern auch so liegt, daß es, nach
Ansicht chinesischer Ingenieure, durch einige künstliche Werke zu einer unein¬
nehmbaren Feste ausgebaut werden kann. Auch finden sich hier die wertvollen
Kohlenminen von Sheng-Kuug-pao, die unter europäischer Leitung stehen, und
ferner führt eine Eisenbahn nach der Provinz Hunnen, mit direkter Verbindung
nach dem Flußgebiet des Jangtse.
Außer den beiden für Canton und Kiangnan vorgeschlagnen Neuanlagen
von Wuchou und Pirg-Hsiang sind aber noch eine Anzahl andrer großer
Arsenale im Bau und in mehr oder weniger vorgeschrittner Vollendung.
Das größte dieser Arsenale befindet sich in Tetschou am Kaiserkanal in der
Provinz Schankung. Es verdankt sein Entstehen dem Vizekönig Auen-Schikal,
der hier ein großes Etablissement zur Herstellung von Gewehren und Geschützen
nebst der dazugehörenden Munition schaffen will. Hierfür liegt Tetschou ganz
besonders günstig, denn der Kaiserkanal vermittelt eine gute Verbindung
sowohl nach Norden wie nach Süden, und ferner ist beabsichtigt, die Eisenbahn
Tientsin-Tsi-nan-fu über Tetschou gehn zu lassen. Die für das Arsenal in
Tetschou bestimmten Gebäude, die im vergangnen Winter schon nahezu voll¬
endet waren, sind inzwischen fertig worden. Infolgedessen konnte auch schon
mit der Aufstellung der Maschinen begonnen werden, von denen ein Teil ans
dem ehemaligen Arsenal von Tientsin stammt.
Neben Tetschou sind von nennenswerten, im Bau begriffnen Arsenälen
uoch aufzuführen: das Arsenal von Nantschang-fu in der Provinz Kiang su,
das von Tschcmg-sha-fu in der Provinz Hunan und das von Tscheng-tu-fu in
der Provinz Szetchoucm. Von diesen drei Anlagen ist die zuletzt genannte am
weitesten vorgeschritten und mit Maschinen teilweise schon ausgestattet.
Um vollzählig in der Aufzählung der chinesischen Waffenarsenale zu sein,
müssen außer den großen Plätzen auch die wichtigsten der kleinern genannt
werden, da nach zuverlässigen Nachrichten auch in ihnen zurzeit ein sehr reger
Betrieb herrscht. Es sind dies die Arsenale von Kaiteng-su in der Provinz
Hunnen, von Hsi-ein-fu in Shassi und Kweitschou in der Provinz Kweitschvu,
von Lokou bei Tsi-nan-fu in der Provinz Schankung und Tay-yücm-fu in der
Provinz schaust.
Die in der Mandschurei liegenden Arsenale von Mutter, Kirin und Tsi-
tsi-kcir sind seit dem Jahre 1900 nicht mehr in Betrieb.
^MS
WMlie war nun bis dahin die Haltung Österreichs, die Haltung
seines leitenden Staatsmannes gewesen? Er hatte, von gleichen
Gefühlen über den Aufschwung Preußens erregt, den Eröffnungen
des Kaisers Napoleon sein Ohr geliehen, aber er war jeder be¬
istimmten Verpflichtung ausgewichen. Er hatte sich zu einer ge¬
meinsamen Politik bereit erklärt, aber zugleich im Fall eines Krieges aus¬
drücklich die Neutralität Österreichs vorbehalten. Er war zum Zustandekommen
eines Dreibunds behilflich, aber aus dessen Bestimmungen entfernte er sorg¬
fältig jeden Schein aggressiver Absichten. Er ließ sich in die Erörterungen
von Plänen ein, deren Durchführung unzweifelhaft den Krieg bedeutete, aber
er hütete sich, einen Pakt zu unterschreiben, der seinen freien Willen vor¬
zeitig gebunden hätte: „für jetzt" war die tätige Mitwirkung Österreichs nicht
zu haben. Und nun, wenn sich die österreichische Politik nicht von dieser
Linie abdrängen ließe, wie war ihre Wirkung auf die über Sadowa brütenden
Gedanken des Kaisers Napoleon? War sie geeignet, ihn in kriegerischen Ab¬
sichten zu bestärken oder diese zu dämpfen? Ihm jede Aussicht auf eine
tätige Allianz zu benehmen oder ihm diese doch immer als möglich, ja wahr¬
scheinlich erscheinen zu lassen? Hier liegt das Problem, Nicht Österreich
trug die Schuld, daß der erste Entwurf eines Bündnisvertrags unvollzogen
blieb, der, wie unbestimmt immer sein Inhalt war, doch die drei Mächte in
einem gemeinsamen, kaum verborgnen Ziel vereinigte. Man wird zugeben, daß
diese Politik zum mindesten zweideutig gewesen ist. War sie friedlich gemeint,
so konnte sie auch anders verstanden werden. Beust selbst hat später seine un¬
verbrüchliche Friedensliebe beteuert. Sein Bestreben sei gewesen, dem Kaiser
Napoleon jede Illusion zu benehmen und ihn dadurch von einer kriegerischen
Politik zurückzuhalten, und Sybel wie auch Busch sind geneigt, ihm Glauben
zu schenken: Beust habe nur deswegen den Faden nicht abreißen lassen, um
Napoleon den Dritten an die österreichische Friedenspolitik zu binden, und dies
sei ihm auch gelungen, denn die Monarchenbriefe seien ein Rückzug von der
Allianzpolitik gewesen, das Bündnisprojekt sei zunächst ganz fallen gelassen
worden. Nun ist ohne weiteres einzuräumen, daß auf feiten Österreichs starke
Gründe in die Wagschale einer friedlichen Politik fielen: die Abneigung der
Ungarn gegen die Rückkehr eines österreichischen Präsidialgescmdten an den
deutschen Bundestag, wie die Abneigung der Deutschösterreicher gegen einen
Krieg mit dem stammverwandten Deutschland, vor allem aber die Notwendigkeit,
nach der Erschütterung des Jahres 1866 die Kräfte der Monarchie wieder zu
sammeln und das Heer in einen bessern Stand zu versetzen. Man versteht also
vollkommen, daß Beust einer kriegerischen Entscheidung für die nächste Zeit mit
allen Kräften vorbeugen wollte, aber es beweist dies noch nichts für seine auf¬
richtige Friedensliebe. Er konnte die Einwilligung zu einem Kriegsbündnis so
lange als möglich hinausziehn, gerade um dessen Erfolg um so besser zu sichern.
Beusts Freund, der hessische Minister von Dalwigk, der es wissen konnte, sagte
im Oktober 1868 in Straßburg zum General Ducrot: „Mein Freund von Beust
glaubt, daß der Krieg allein Osterreich wieder emporbringen kann, aber er will
noch warten, da er meint, Österreich gewinne von der Zeit mehr Vorteil als
Preußen." Daß in Wien eine einflußreiche Partei zum Krieg drängte, ist doch
unzweifelhaft, und schließlich, was bedeutete überhaupt die Erhebung Beusts
zum Lenker des Kaiserstaats, wenn nicht die Absicht der Vergeltung für König-
grätz? Und was bedeutete der Allianzvertrag, der allerdings ununterschrieben in
den Kabinetten lag, was bedeutete er andres, als daß sich die Genossen zu einer
gemeinsamen Politik mit Napoleon dem Dritten verbanden, dessen Absichten nach
den ersten Aufforderungen zu einer Defensiv- und Offensivallianz nicht zweifel¬
haft waren? Daß trotz der bis jetzt konsequent festgehaltnen Friedenspolitik in
Wien noch ganz andre Gedankengänge verfolgt wurden, beweist der Besuch, den
der Erzherzog Albrecht im März und April 1870 in Paris machte.
Über die militärischen Verabredungen, die der Sieger von Custoza in Paris
einleitete, und die dann im Juni durch den General Lebrun in Wien fortgesetzt
wurden, hat dieser in seinen Souvenirs Mitteilungen gemacht, denen nicht wider¬
sprochen worden ist. Es ist hiernach ein förmlicher Kriegsplan gegen Preußen
vereinbart und bis in seine Einzelheiten durchgesprochen worden, und die Frage
ist bloß die: war dies eine rein akademische Beschäftigung, wobei man nur den
irgend einmal möglichen Ausbruch eines Krieges in Rechnung nahm, oder war
es die Vorbereitung für eine sicher und in bestimmter Frist in Aussicht ge-
nommne Aktion? Der Erzherzog schlug einen raschen Frühjahrsfeldzug vor, den
Frankreich mit dem Einbruch in Süddeutschland eröffnen sollte. Österreich bei
seiner langsamern Mobilmachung sollte sechs Wochen später in Aktion treten,
in der Gegend von Nürnberg würde sich die französische Hauptarmee mit den
heranrückenden Österreichern und Italienern vereinigen, worauf in den Ebenen
Sachsens die Hauptschlacht geschlagen würde. Dieser Plan war aber nicht im
Sinne des Kaisers und seiner militärischen Ratgeber. In einem Kriegsrat, den
er am 19. Mai mit dem Kriegsminister Leboeuf und den Generalen Frossard,
Lebrun und Jarras hielt, wurde einmütig festgestellt, daß man von Österreich
und von Italien nicht bloß gleichzeitige Mobilisierung, sondern auch gleichzeitige
Kriegserklärung und gleichzeitigen Beginn der Operationen als vouMio sine
<iug. Qoii verlangen müsse. Diese Weisung nahm der General Lebrun mit, der
am 6. Juni in Wien ankam, und der hier zwar die lebhaftesten Sympathien
für Frankreich antraf, aber zugleich auf starke Einwendungen gegen den von ihm
überbrachten Plan stieß. In fünf Konferenzen, die er mit dem Erzherzog hatte,
wurden die Einzelheiten einer Militärkonvention besprochen, die Grundbedingung
Napoleons aber, die gleichzeitige Eröffnung der Feindseligkeiten, bestimmt zurück¬
gewiesen, und als Lebrun am 14. Juni vom Kaiser Franz Joseph in Laxen-
burg empfangen wurde, erklärte dieser ausdrücklich, daß er den Frieden wolle,
die innere wie die äußere Lage seines Reiches nötige ihn zu einer Friedenspolitik,
und nur gezwungen würde er sich zum Krieg entschließen können. Würde er
zugleich mit Frankreich den Krieg erklären, so wäre dies Wasser auf die Mühle
Preußens, denn es würde dadurch das Nationalgefühl in ganz Deutschland und
in Österreich selbst aufgereizt werden, und nur dann könnte er gemeinsame Sache
mit Napoleon machen, wenn dieser mit seiner Armee nicht als Feind, sondern
als Befreier in Süddeutschland erschiene.
Man ersieht aus diesem Bericht des Generals Lebrun, wie, je mehr es
mit der Verschwörung ernst wurde, um so mehr sich die österreichischen Staatsleiter
der schweren Verantwortlichkeit eines kriegerischen Entschlusses bewußt wurden,
und wie sich wenigstens der Kaiser mit dem äußersten Widerstreben in eine
Politik hineinziehn ließ, deren Folgen sich schwer berechnen ließen. Aber man
wird doch nicht sagen können, daß die mehrtägigen Konferenzen über einen ge¬
meinsamen Feldzug gegen Preußen lediglich eine akademische Bedeutung gehabt
Hütten. Auf österreichischer Seite wies man die Aufforderung zu einer kriege¬
rischen Mitwirkung nicht rundweg zurück, man machte diese nur von ganz be¬
stimmten Bedingungen abhängig, und Lebrun wurde nicht mit allgemeinen Ver¬
sicherungen des guten Willens und „lebhaftester Sympathie" abgespeist, sondern
er konnte dem Kaiser Napoleon ausgearbeitete Entwürfe des Erzherzogs Albrecht
überbringen. Diese Vorschläge fanden allerdings nicht den Beifall des Kaisers
Napoleon, der nach den vorausgegangnen Verhandlungen auf ein größeres Ent¬
gegenkommen gerechnet hatte. Eine Einigung ist nicht zustande gekommen, die
militärischen Besprechungen sind nicht durch einen Pakt besiegelt worden. War
doch der Kaiser selbst vermöge seiner natürlichen Scheu und Unentschlossenheit
noch weit davon entfernt, mit geradem Blick auf eine kriegerische Entscheidung
loszusteuern. Aber die Frage ist die, ob die Ergebnislosigkeit der Sendung
Lebruns von der Art war, daß sie dem Kaiser die Hoffnung auf Österreichs
Mitwirkung überhaupt benehmen mußte. Darüber war kein Zweifel, daß die
Zusage gleichzeitige» Losschlagens von Österreich nicht zu erlangen war. Aber
die paar Wochen bis zur Vollendung der österreichischen Rüstungen dachte man
sich doch mit französischen Siegen ausgefüllt. Sogar in Deutschland war man
überwiegend der Meinung, daß im Fall eines Krieges im Anfang den fran¬
zösischen Waffen das Glück lächeln würde. Kamen dann die Österreicher sechs
Wochen später, so war es immer noch Zeit, mit ihrer Hilfe die entscheidenden
Schläge zu führen. Und so konnte auch die andre Bedingung, hinter der sich
der Kaiser Franz Joseph verschanzt hatte, kaum als ein unübersteigliches Hinder¬
nis erscheinen. War es denn damals so gar undenkbar, daß die französischen
Heere in Süddeutschland als Befreier aufgenommen wurden? War nicht die
Haltung der süddeutschen Regierungen so, daß sie in Frankreich die Meinung
erwecken konnte, die Allianzverträge, die sie an Preußen banden, seien ihnen
wider Willen aufgezwungen, und sie harrten nur auf den Erlöser, der sie von
diesem Joch befreie? Und die Gesinnung der Bevölkerung, war sie eine andre?
Am lautesten vernehmlich machten sich doch die Demokraten in Württemberg
und die Patrioten in Bayern, die auch in den Kammern das große Wort
führten. Und hörte man damals nicht die schimpfliche Losung: Lieber französisch
als preußisch? So viel ist gewiß: gelang den Franzosen der beabsichtigte rasche
Einbruch in Süddeutschland, so wurde die politische Haltung der vom Norden
abgetrennten Staaten ans eine schwere Probe gestellt. Wenn -also der Kaiser
von Österreich den Abfall Süddeutschlands zur Bedingung des Eintritts in den
Krieg machte, so mußte dies damals, im Jahre 1869, nicht als eine unerfüll¬
bare Forderung erscheinen. Jedenfalls sah der General Lebrun, wenn er auch
kein unterschriebnes Abkommen mitbrachte, seine Sendung keineswegs als ge¬
scheitert an. Er war des Glaubens, nach den militärischen Verabredungen hänge
es nur noch an der Diplomatie, das Schutz- und Trutzbündnis der drei Mächte
vollends zum Abschluß zu bringen. „Niemals kam mir der Gedanke, daß der
Kaiser nicht auf diplomatischem Wege das Werk vollendet hätte, das ich mit
dem Erzherzog Albrecht eingeleitet hatte."
Bis dahin war also das Ergebnis der Verhandlungen dieses: die Tripel¬
allianz war vorbereitet, aber sie war nicht zum Abschluß gekommen, teils wegen
der Forderungen Italiens in der römischen Frage, teils wegen der Zögerungs-
politik Österreichs, das bindende Verpflichtungen ablehnte und im Falle des
Kriegs erst den Beginn der französischen Operationen abwarten wollte, zum
Teil auch wegen der Scheu des Kaisers Napoleon, auf folgenschwere Ent¬
scheidungen das letzte Siegel zu drücken- Aber man hatte sich doch über eine
gemeinsame Politik verständigt, die Preußen um Main festhalten wollte, man
war sich bewußt, daß diese Politik zum Kriege führen konnte, ja führen mußte,
und man hatte deshalb militärische Verhandlungen gepflogen, einen gemeinsamen
Kriegsplan zwar nicht festgestellt, aber erwogen und bis ins einzelne durch¬
gesprochen. Und zwar hatte man dabei, aller Wahrscheinlichkeit nach, den Aus-
bruch des Krieges im Frühjahr 1871 ins Auge gefaßt.
An diesem Punkt erhebt sich eine neue, nicht leicht zu entscheidende Streit¬
frage, deshalb schwer zu entscheiden, weil es doch im wesentlichen mündliche Be¬
sprechungen waren, in denen diese Dinge behandelt wurden. Auch hier stehn
sich Delbrück und Oncken auf der einen Seite, auf der andern Sybel, dem auch
Busch folgt, gegenüber. Nach Lebrun bestand nämlich der Erzherzog Albrecht
auf einem Frtthjahrsfeldzug: Frankreich, Österreich und Italien sollten sich bereit¬
halten, um gemeinschaftlich in einem Feldzug im Frühjahr, naus une oaraxg-Zris
als prircksinvs in Aktion treten zu können. Vielleicht ist der Ausdruck mit
Absicht zweideutig gewählt. Man kann ihn so verstehn: es sei, wenn es irgend
einmal zum Kriege komme, dafür die Frühjahrszeit als die für die Verbündeten
günstigste zu wählen; oder aber die Meinung war die, daß der Krieg im nächsten
Frühjahr zum Ausbruch kommen solle. Für die erste Annahme wird der Um¬
stand ins Feld geführt, daß der Erzherzog Albrecht in Paris einmal zu fran¬
zösischen Offizieren sagte, Osterreich brauche noch ein bis zwei Jahre bis zur
Vollendung seiner neuen Heeresorganisation. schlagend ist jedoch dieses Ar¬
gument schon deshalb nicht, weil die österreichische Bedingung, wie sie der Erz¬
herzog den Franzosen gegenüber formulierte, dahin lautete, daß der Befehl zur
Mobilisierung zugleich von allen drei Mächten erfolgen solle, daß Österreich
aber, das sechs Wochen zu seiner Rüstung brauche, dementsprechend später als
Frankreich in die Aktion treten würde. Von einer längern und unbestimmten
Fristerstreckung ist hier nicht die Rede, wie ja auch später bei den Verhand¬
lungen im Juli Österreich seinen Eintritt in die Aktion für September in Aus¬
sicht stellte. Das Entscheidende scheint doch dies zu sein, daß überhaupt schon
über eine Militärkonvention verhandelt wurde. Politische Vereinbarungen können
mit langer Frist getroffen werden; anders, wenn es sich einmal um eine Militär¬
konvention handelt, bei der doch vorauszusetzen ist, daß eine bestimmte, nicht
allzu kurze bemessene Frist in Aussicht genommen ist. Es ist deshalb mit Wahr¬
scheinlichkeit anzunehmen, daß bei den militärischen Verabredungen mit einem
Feldzug im nächsten Frühjahr, im Frühjahr 1871, gerechnet worden ist.
ich (im vorjährigen 4l>, und 47, Heft) über den gegen-
Stand der Biologie nach Eduard von Hartmann be-
sahe, ist mir wieder mancherlei zugegangen, das um so
mehr Berücksichtigung fordert, weil die Herrenhansrede des Pro-
zWM^sMV fessors Reinke dem Gegenstande das Interesse der Politiker zu¬
gewandt hat. Dr. Theodor Simon, Pastor an Se. Lukas in Berlin, beweist
in einer scharfsinnigen Untersuchung des Begriffs der Entwicklung (Entwicklung
und Offenbarung. Berlin, Trowitzsch <K Sohn, 1907), daß die Entwicklung,
für die heutzutage ein halbgebildetes Publikum unter der Führung einiger
Biologen schwärmt, gar keine Entwicklung ist, und daß dieser Begriff mit der
naturwissenschaftlichen Methode gar nicht gewonnen werden kann. Entwicklung
ist kein naturwissenschaftlicher, sondern ein historischer Begriff. Sie setzt eine
von innen treibende Kraft voraus und besteht in der von dieser Kraft erzeugten
Bewegung nach einem Ziele hin. Die Naturwissenschaft nun geht darauf aus,
die unendliche Vielheit und Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zu vereinfachen,
sie nach einem Gesetz von einem letzten Einfachen abzuleiten, „das gleichgiltig
gegen alle Qualität, doch alle Verschiedenheiten der Natur durch bloße
rechnerisch konstruierbare Zusammensetzung erklären ließe". In einem ihrer
Spezialgebiete, in der Mechanik, ist dieses Ideal der Naturwissenschaft schon
verwirklicht. Die Mechanik „sieht ab von allen qualitativen Verschiedenheiten
der Körperwelt und behandelt sie nur unter einem allgemeinen Gesichtspunkt:
als Masse. . . . Die Gesamtheit der Natur einer ausschließlich mechanischen Er¬
klärung zu unterwerfen, ist das letzte Ziel und höchste Ideal der Naturwissen¬
schaft, derjenigen Wissenschaft, die von Anfang an die Betrachtung der Welt
in Rücksicht auf das Allgemeine war." So kennt die Optik eigentlich keine
Farben mehr, sondern nur noch Ätherwellen von verschiedner Schwingungs¬
dauer. Das Anschauliche, das Individuelle wird verbannt. Gerade dieses
aber ist der Gegenstand der historischen Betrachtung, die aus der Masse der
Erscheinungen das Wertvolle heraushebt und dessen Entwicklung verfolgt,
während die naturwissenschaftliche Erklärung eine Methode ist, „der Wirklichkeit
berechnend Herr zu werden". Sie fragt nicht nach Wert, Ziel und Zweck,
nicht nach dem warum? und wozu?, sondern nur nach dem Kausalzusammen¬
hänge, nach der Ursachenverkettung, nicht nach Gründen. Es gibt keinen „streng
naturwissenschaftlichen" Entwicklungsbegriff, wie ein Theologe ihn annimmt,
gegen den Simon polemisiert; „sondern dieser Begriff tritt nur da auf, wo
ein geschichtliches Interesse sich regt, und der einheitliche Kausalzusammenhang
der Natur ist gleichgiltig gegen jedes Besondre, dessen Entwicklung zu betrachten
allein einen Sinn hat. Unter dem Gesichtspunkte des einheitlichen Kausal¬
zusammenhangs zerfließt die ganze Welt in ein nach allen Richtungen wahllos
gehendes, in keiner Weise abgegrenztes Geschehen." Deshalb sehen sich die
Biologen, die den Zweck leugnen und trotzdem ihre Lehre eine Entwicklungs¬
lehre nennen, zur Inkonsequenz genötigt. „Haeckel, der geharnischte Kämpfer
gegen den Zweckgedanken, der nicht müde wird, zu betonen, daß in der Ent¬
wicklungslehre nur der Mechanismus das Wort habe, spielt fröhlich mit theo¬
logischen Begriffen und ahnt nicht, wie sehr er seinen Monismus durchlöchert,
wie weit in seinem mechanisch-monistischen Gebäude die Türen für den
dualistischen Fremdling Zweck offen stehn. Haeckel redet unbedenklich von
Stufenleitern, höhern und niedern Stufen, nennt zum Beispiel das Auge eiuen
höchst vollkommnen Apparat gegenüber dem Pigmentfleck, der bei niedern Wesen
das Sehorgan vertritt. Mitten in die Sätze hinein, in denen er die Teleologie
bekämpft, geraten ihm eine Menge ausgesprochen teleologischer Begriffe: „Wie
die natürliche Züchtung nach allen Richtungen planlos wirkend eine allmähliche
Vervollkommnung langsam herbeiführt, aber erst nach vielen vergeblichen
Versuchen zuletzt etwas halbwegs zweckmäßiges erreicht. . . . Wir erblicken in
der stufenweise aufsteigenden Entwicklung des Menschen aus den niedern Wirbel¬
tieren den höchsten Triumph der Menschennatur über die gesamte übrige
Natur. Wir sind stolz darauf, unsre niedern tierischen Vorfahren so unendlich
überflügelt zu haben, und entnehmen daraus die tröstliche Gewißheit, daß auch
in Zukunft das Menschengeschlecht im großen und ganzen die ruhmvolle Bahn
fortschreitender Entwicklung verfolgen und immer höhere Stufen geistiger Voll¬
kommenheit erklimmen wird. Aufsteigen, fortschreiten, Stufen, Stolz, doch
wohl auf eine Leistung, nämlich auf die Annäherung an das Ziel der Voll¬
kommenheit, was kann man noch mehr verlangen? ... Es tritt immer deut¬
licher hervor, daß der einzige haltbare Entwicklungsbegriff der ist, der schon
herrschend gewesen war, ehe die Versuche auftauchten, alles, auch diesen Begriff,
lediglich naturwissenschaftlichen, mechanischen Erklüruugsprinzipien zu unter¬
werfen. Der Entwicklungsbegriff der idealistischen deutschen Philosophie ist es,
auf den wir zurückkomme» müssen, wenn wir überhaupt von Entwicklung reden
wollen." Das ist richtig. Aber Simon faßt den Begriff „naturwissenschaftlich"
zu eng. Seine Definition paßt nur auf die mathematischen Naturwissenschaften,
also auf die Physik und Chemie. (Auf die Astronomie, die ebenfalls zu den
mathematischen gehört, schon nicht mehr.) Den beschreibenden Naturwissen¬
schaften, die es mit lauter Individuen und Qualitäten zu tun haben, der
Botanik, der Zoologie, der Mineralogie, der Geographie kann man doch den
Namen Naturwissenschaften nicht verweigern; die Biologie aber ist eben eine
historische Naturwissenschaft, und darum darf, ja muß in ihr von Entwicklung
die Rede sein. Es gibt also verschiedne Arten von Naturwissenschaft und
demnach nicht eine, sondern verschiedne naturwissenschaftliche Methoden. Der
Fehler der antitelevlogischen Biologen besteht darin, daß sie den Zweckbegriff
auszuschalten versuchen, den die Entwicklung voraussetzt (der Zweck ist, wie
Simon richtig sagt, der Grund jeder Reihe von Erscheinungen, (zausa llnküis
nannten ihn darum die Scholastiker), und daß sie die organischen Wesen
lediglich durch Anstöße von außen umbilden lassen, während deren Entwicklung
eine wirkliche Entwicklung ist, das heißt Auswicklung, Auscinanderfaltung des
in den Keim Eingewickelten, die Struktur und Gestalt des fertigen Organismus,
die der ihm innewohnende Drang nach dem ihm eignen Gesetz hervortreibt.
Der zweite Teil von Simons Schrift, der zeigt, wie der Entwicklungsbegriff
auf die Offenbarung angewandt werden könne, ist theologischer Natur und be¬
rührt unser Thema nicht.
Einen sehr originellen Denker lernen wir aus dem Buche kennen: Der
göttliche Ursprung des Menschen und sein Beweis durch die Evolution
und Psychologie von Thomson Jciy Hudson. Autorisierte Übersetzung aus dem
Englischen von Eduard Hermann. (Leipzig, Arwed Strauch, ohne Jahreszahl.)
Dieser Amerikaner nimmt die Darstellung Haeckels in seiner Anthropogenie als
richtig an und beweist eben daraus den göttlichen Ursprung des Menschen.
Seine Psychologie wird von den deutschen Fachmännern wahrscheinlich schon
deswegen abgelehnt oder ignoriert werden, weil er zu ihrer Begründung an¬
gebliche Tatsachen aus dem Gebiete des Okkultismus heranzieht. Ich glaube
jedoch, er hätte auch ohne diese bedenklichen Stützen auskommen können. Er
unterscheidet das objektive und das subjektive NZo. Die Bezeichnung L^o finde
ich unpassend, weil er diese beiden Bestandteile der Psyche auch in den Tieren
bis zu den allerniedrigsten annimmt, die doch kein Ich haben. Wir wollen
das also lieber objektiven und subjektiven Intellekt nennen. Der objektive ist
der induzierende, das, was wir gewöhnlich den Verstand nennen, reiner kalter
Intellekt ohne Gefühl, und ist an das Gehirn gebunden, kann ohne dieses
Organ nicht vorkommen. Der subjektive (auch die beiden Eigenschaftswörter
objektiv und subjektiv bezeichnen nicht das, was gemeint ist; man müßte sagen:
der diskursive und der intuitive Intellekt) ist der intuitive Intellekt und äußert
sich als Instinkt. Er ist mit Gefühl verbunden. Der vom Gehirn abhängige
diskursive Intellekt verschwindet, wenn das Gehirn zerfällt; der intuitive kann
dieses Geschick nicht erleiden, da ja eben sein Dasein und seine Tätigkeit nicht
an das Gehirn gebunden sind, wie an dem Verhalten der hirnlosen niedern
Tiere und solcher höherer Tiere gezeigt wird, denen man das Hirn heraus¬
genommen hat. Er lebt also nach dem Tode des Menschen fort. Der intuitive
Intellekt war schon den allerersten Lebewesen verliehen. Er genügte ihnen
nicht, als sie das gleichförmige Element, das Wasser, verließen und in eine
Umgebung gerieten, die eine große Mannigfaltigkeit von Lebensbedingungen
enthielt. Dort mußten sie ein Gehirn ausbilden, das sie befähigte, zu unter¬
scheiden und zu wählen. Die beiden primären Instinkte sind der Selbster¬
haltungstrieb und der Trieb zur Fortentwicklung; zu ihm gehört der Zeugungs¬
trieb. Der erste ist egoistischer, der zweite altruistischer Natur. sekundäre
Instinkte entstehn aus überlegten Handlungen durch deren oftmalige Wieder¬
holung und Einübung (das bekannteste Beispiel dafür ist das Klavierspiel des
Virtuosen, der blitzschnell die richtigen Tasten instinktiv trifft). Der diskursive
Intellekt erzieht den intuitiver durch Suggestion bis zum vollendeten Altruismus.
Der Beweis, den Hudson zu liefern verspricht, lautet nun in Kürze folgender¬
maßen. Wie die Biologie lehrt, können wir keine andern leiblichen und
seelischen Eigenschaften und Kräfte haben als ererbte. In unserm Urahn muß
der Anlage nach alles enthalten gewesen sein, was wir besitzen. Unser Urahn
ist die Monere (das von Haeckel beschriebne strukturlose Protoplasmaklümpchen,
das noch tiefer steht als die Urzelle, denn diese ist organisiert. Andre Natur¬
forscher bestreiten die Existenz der Monere, Hudson glaubt daran). In der
Tat besitzt das niedrigste Lebewesen die Kenntnis von allem, was zu seiner
Erhaltung notwendig ist, und die Fähigkeit, es sich anzueignen, eine Kenntnis
und Fähigkeit, die, potenziert gedacht, göttliche Allwissenheit und Allmacht ist.
(Wer sich der wunderbaren Leistungen der Zelle erinnert, wie sie Hartmann
beschrieben hat, der wird gestehn, daß sie mit menschlichem Wissen und Können
verglichen schon an sich, ohne Potenzierung, als Beendigungen eines göttlichen
Wissens und Könnens erscheinen.) Warum macht nun Haeckel, der die Ver¬
erbung durch eine lange Ahnenreihe bis zur Monere zurückgeführt Hut, bei
dieser Halt? Warum fordert er an dieser Stelle einen Bruch mit dein Natur¬
gesetz, nach dem auch die Monere ihre Eigenschaften und Fähigkeiten geerbt
haben muß? Weil es nur ein Wesen gibt, von dem sie die Monere geerbt,
empfangen haben kann, nämlich Gott, und weil Haeckel dessen Existenz um
keinen Preis zugeben will. Darum schließt er an dieser Stelle das Natur¬
gesetz aus und dekretiert: die Monere ist durch Urzeugung entstanden. Dieser
Beweis ist, wie man sieht, nur eine neue Form für den alten Gedanken, daß
aus nichts — nichts entstehn kann, und daß darum die psychischen und die
Lebenserscheinungen einem lebendigen, einem geistigen Quell entsprungen sein
müssen. Hudsons Psychologie aber fällt im wesentlichen mit Hartmanns
Lehre vom Unbewußten zusammen. Dieses vollziehe nicht allein ohne unser
Wissen alle Verrichtungen, die zur Erhaltung unsers leiblichen Lebens gehören,
und die uns die Wahrnehmung der Außenwelt durch die Sinnesorgane ver¬
mitteln, sondern vou ihm empfingen wir auch unsre Inspirationen und die
Antriebe zum bewußten Handeln. Diese Wirkungen des „Unbewußten" be¬
kunden nun die denkbar höchste Intelligenz, und ich bin mit Hudson der An¬
sicht, daß unbewußte Intelligenz eine (zontiMictio w Ach'sow und völlig un¬
denkbar sei. Daß das, was auf diesem Gebiete geschieht, uns unbewußt bleibt,
kaun ja nicht bestritten werden. Hartmann gesteht ein, es ließe sich denken,
daß das, was ohne unser Bewußtsein in uns geschieht, von einem bewußte»
Wesen gewirkt werde, aber er gibt das nicht zu: die höchste Intelligenz soll
und muß nun einmal unbewußt sein- Hier entsteht nun die Frage: bewirkt
die höchste Intelligenz die Lebenserscheinungen unmittelbar in den lebenden
Wesen, sodaß diese nur Schauplätze und Organe oder Werkstätten seiner Wirk¬
samkeit, seiner immerwährenden Schöpfertätigkeit sind, oder hat ihnen der
Schöpfer relative Selbständigkeit und die Fähigkeit verliehen, ihr Leben selbst
zu erhalten? Nur im zweiten Falle kann von einer Fortdauer des „subjektiven
I^o" nach dem Zerfall seines Leibes die Rede sein. Hudson setzt das voraus,
ohne es zu begründen.
Einiges aus dein Gedankenschatz andrer Forscher mitzuteilen, macht uns
Dr. E. Dennert bequem, der in seinem neusten Buche: Die Weltanschauung
des modernen Naturforschers (Stuttgart, Max Kielmann, 1907) die An¬
sichten von sieben Gelehrten kritisch darstellt. Wir nehmen die beiden Engländer
zuerst vor. Über den einen haben wir schon im fünften Heft des Jahrgangs
1900 der Grenzboten berichtet. Der Biolog George John Romanes, ein
Schüler von Darwin, der ihn mit seiner Freundschaft beehrte, war ursprünglich
gläubiger Christ, verlor aber den Glauben, ähnlich wie Darwin selbst, durch
die Betrachtung der Leiden der Geschöpfe. Er nahm Darwins Theorie voll¬
ständig an und kam dem Monismus Haeckels nahe, ohne dessen unwissen¬
schaftliche metaphysische Folgerungen zu ziehen. Er schreibt unter anderm: „Die
natürliche Ursächlichkeit kann nicht dazu verwendet werden, sich selbst zu er¬
klären, und die bloße Erhaltung der Kraft kann, selbst wenn sie zur Erklärung
einzelner Fülle einer natürlichen Folgenreihe genügte, kein zureichender Grund
für die allgegenwärtige und ewige Leitung der Kraft bei dem Aufbau und der
Erhaltung der Weltordnung sein. Durch kein logisches Kunststück können wir
uns dem Schluß entziehen, daß diese Weltordnung einem sie ergänzenden Prinzip
den Ursprung verdanken muß, und daß dieses Prinzip geistiger Natur sein
muß. Wenigstens aber muß zugegeben werden, daß wir die Weltordnung unter
keinem andern Gesichtspunkt begreifen können, und daß, wenn irgendeine be¬
sondre Anpassung in der organischen Natur auf die Tätigkeit eines solchen
geistigen Prinzips hinweist, die Gesamtsumme aller Anpassungen im Universum
dies in noch unvergleichlich höherm Maße tun muß." Himmelweit entfernt
war er von dem fanatischen Hasse Haeckels und seiner Jünger gegen das
Christentum. Den christlichen Glauben schätzte er als ein Gut, das aufgeben
zu müssen ihm Schmerz bereitete. „Von allen Seiten, ausgenommen von
törichter Unwissenheit und niedriger Gemeinheit, wird es anerkannt, daß die
vom Christentum im Menschenleben hervorgerufne Umwälzung mit keiner andern
erreicht wird. . . . Was hat die ganze Naturwissenschaft oder die ganze Philo¬
sophie für das Denken des Menschen getan, das sich mit dem einen Satze:
Gott ist die Liebe, vergleichen ließe? . . . Nur einem Menschen, der jeder
geistigen Empfindung bar ist, kann das Christentum nicht als die großartigste
Darstellung des Schönen, des Erhabnen und alles dessen erscheinen, was sich
an unsre geistliche Natur wendet." In seinen letzten Lebensjahren hat Romanes
einige seiner theoretischen Bedenken gegen das Christentum aufgegeben und sich
mit ihm wieder ausgesöhnt.
Sir Alfred Rüssel Wallace. der bekannte Freund Darwins, der die
Grundgedanken ihrer beiderseitigen Theorie schon vor Darwin in einer Ab¬
handlung dargelegt hat, ist, wie die gelehrte Welt zu ihrer Überraschung vor
drei Jahren erfahren hat, Vertreter nicht zwar der geozentrischen aber der
anthropozentrischen Weltansicht. Er begründet sie in dem 1904 veröffentlichten
Buche: Des Menschen Stellung im Weltall (deutsch von F. Heinemann,
Berlin, Vitaverlag). In seiner Untersuchung der Zahl, Natur und Stellung
der Gestirne und der Bedingungen für die Existenz organischer Wesen gelangt
er zu folgenden Ergebnissen. „Alle diese Beweisketten laufen in dem Hinweis
auf die Wahrscheinlichkeit zusammen, daß unsre Erde der einzige bewohnte
Planet unsers Sonnensystems ist; ferner ist aber auch die Vorstellung weder
unfaßbar noch auch nur unwahrscheinlich, daß zur Hervorbringung einer Welt,
die zur Entwicklung organischen Lebens und besonders des Menschen geeignet
sein sollte, ein ungeheures und kompliziertes Universum unbedingt notwendig
war." Die Beweise werden in folgenden Sätzen kurz zusammengefaßt: „1. Das
ungeheure gestirnte Weltall bildet eine große Einheit. Bei aller wundervollen
Mannigfaltigkeit in Anordnung und Verteilung der Sterne und Nebel zeigt es
eine großartige Symmetrie, die auf ein einziges, zusammengehörige Teile um¬
fassendes System hinweist. 2. Diese Ansicht wird durch Erscheinungen unter¬
stützt, die darauf deuten, daß die Zahl der Sterne eine endliche ist. 3. Wir
befinden uns mit unserm Sonnensystem nahezu im Zentrum und in der
mittlern Ebene des Milchstraßenringes. Sowohl die Materie des Weltalls
wie auch seine physikalischen und chemischen Gesetze zeigen eine nahezu voll-
kommne Gleichförmigkeit. Diese Tatsache macht es zur Gewißheit, daß überall
dort, wo organisches Leben besteht oder sich entwickeln soll, sehr ähnliche, wenn
nicht gleiche Vorbedingungen herrschen müssen joie auf unsrer Erde). 5. Die
Myriaden von Lebensformen verlangen, um bestehn zu können, sehr verwickelte,
zarte Bedingungen. 6. Zu den absolut unentbehrlichen Bedingungen gehören:
Sonnenlicht und Wärme, das auf der Erde und in der Luft gleichmäßig ver¬
teilte Wasser, genügende Dichtheit und geeignete Zusammensetzung der Atmosphäre,
der Wechsel von Licht und Dunkelheit jdieser fehlt z. B. auf dem Planeten
Venus). 7. Auf der Erde sind diese Bedingungen in sehr verwickeltem Gefüge
und genauer Abmessung vorhanden, und zwar so, daß sie fast unverändert
während der gewaltigen Zeiträume bestehn blieben, die zur Entwicklung des
Lebens nötig waren. Diese Bedingungen sind so mannigfaltig und hängen
Von so ausnahmsweisen physikalischen Verhältnissen ab, daß es höchst unwahr¬
scheinlich ist, daß sie alle zusammen noch einmal im Weltall vorkommen sollten.
Diese Vorbedingungen sind: a) Eine gewisse Entfernung des Planeten von der
Sonne, v) Eine bestimmte Masse des Planeten, e) Die schräge Stellung der
Achse, ä) Das Vorwiegen des Wassers, e) Die Verteilung von Wasser und
Land, k) Die Beständigkeit dieser Verteilung. Die genügende Dichtigkeit
und geeignete Zusammensetzung der Atmosphäre. n) Ein günstiger Gehalt von
Staub in der Luft, i) Die Luftelektrizitüt. 8. Diese verwickelten Bedingungen
zeigt sonst kein Planet unsers Sonnensystems, dagegen zeigt jeder eine Eigen¬
tümlichkeit, die ihn zur Wiege des Lebens ungeeignet macht. 9. Nur bei sehr
wenigen Sternen ist es möglich, daß sie lebentragende Planeten besitzen, aber
daß bei diesen dann alle Bedingungen jfür die Erzeugung höhern Lebensj so
wie bei der Erde zusammentreffen, ist höchst unwahrscheinlich. 10. Die
Strahlungen der Sterne haben vielleicht eine wichtige Bedeutung für die Ent¬
wicklung des Lebens auf der Erde. Durch die Anordnung des gestirnten
Universums ist eine große Stabilität gewährleistet, und unser Sonnensystem
befindet sich dort, wo am ersten eine ruhige und lange andauernde Entwicklung
möglich war und ist. Das wichtigste Ergebnis der ganzen Arbeit ist nun aber,
daß der Mensch als der Gipfel des bewußten Lebens sich in dem ganzen un¬
geheuern Weltall nur hier auf der Erde entwickelt hat und entwickeln konnte.
Beweise dagegen, ja auch nur irgendwelche Gründe, die es unwahrscheinlich
machten, gibt es nicht. Ist es so, nun, dann ist das Universum zu dem
einzigen Zweck entstanden, daß hier auf der Erde Menschen werden könnten,
zahllose Scharen lebender, vernünftiger, mit Sittlichkeit und Geist ausgestatteter
Wesen mit unbegrenzten Lebens- und Glücksmöglichkeiten. Ist das unsinniger,
als daß man komplizierte Maschinen herstellt, um winzige Stecknadeln, Dinge
von ganz geringem Wert, herzustellen?" Gehirnschwund infolge hohen Alters,
wird Haeckel dekretiert haben, falls er das Buch gelesen hat; das vermutet auch
Denuert. Dieselbe Diagnose hat ja Haeckel gewonnen bei Kant, K. E. von Baer,
Virchow und Wundt.
Dann macht uns Dennert mit zwei deutschen Forschern bekannt, die, reli¬
giöser Vorurteile unverdächtig, den materialistischen Monismus bekämpfen. Der
Physiolog? Verworn meint, die Hypothese seines hochverehrten Lehrers und
Freundes Haeckel, daß „Plastidule" (kleinste organische Massen) beseelt seien,
scheine ihm die Forderung, die der Naturforscher stellen müsse, nicht ganz zu
erfüllen. Denn sie trage ja nur den Dualismus von Körper und Geist oder
Seele in die kleinsten Weltelemente hinein, anstatt ihn aufzuheben; eine wirklich
monistische Erklärung dagegen, wie sie von der Naturforschung gefordert werde,
müsse „die Dinge in hypothesenfreier Weise auf ein einziges bekanntes Prinzip"
zurückführen. Dieser Satz enthält zwar einen dreifachen Irrtum, denn erstens
ist es nicht die Naturwissenschaft, sondern die Philosophie, die das fordert. Die
Naturwissenschaft hat keine andre Aufgabe, als die materielle Welt, ihre Er¬
scheinungen und Veränderungen richtig zu beschreiben, ihre Kausalzusammenhänge
aufzudecken und die Gesetze zu ergründen, nach denen die verschiednen Arten
von Veränderungen verlaufen. Zweitens vermag sie nicht einmal diese Aufgabe
ohne Hypothesen zu lösen. Die Physik und Chemie, die exakte Wissenschaften
sind, was die Biologie nicht ist, und deren Ergebnisse darum viel fester stehen,
als die der Biologie jemals stehn werden, haben ihre bewunderungswürdigen
technischen Leistungen vollbracht mit Hilfe von lauter hypothetischen Wesen, deren
wirkliche Existenz durch die Erfahrung nicht nachgewiesen werden kann: Äther,
Atome, Moleküle, Elektronen, Ionen. Wie könnte da die Philosophie ihre die
Wirklichkeit überschreitende Aufgabe, die letzten Gründe und den innersten Zu¬
sammenhang der Wirklichkeit aufzuspüren, hypothesenfrei lösen? Endlich fordert
die philosophische Vernunft zwar die Zurückführung der Erscheinungen auf einen
letzten Grund (und außer dem hypothetischen Wesen, das die Religion Gott
nennt, ist bis jetzt kein solcher gefunden worden), nicht dagegen die Zurückführung
aller innerweltlichen Substanzen auf eine Substanz. Wie sich die Philosophie
den Zusammenhang etwaiger verschiedner Substanzen mit der Weltursache oder
dem Weltgrunde denken will, das ist ihre Sache; die Naturwissenschaft hat, wenn
sie verschiedne Substanzen oder Erscheinungen, die auf verschiedne Substanzen
deuten, vorfindet, diese Tatsache einfach anzuerkennen. Sie strebt nach Verein¬
fachung, das ist richtig, und es wäre ein philosophischer Gewinn — ob auch
einer für die Praxis, der die Naturwissenschaften zunächst zu dienen haben, kann
man im voraus nicht wissen —, wenn es der Chemie gelänge, ihre Elemente,
deren Zahl sich durch Entdeckung neuer immer noch mehrt, auf eins zurückzu¬
führen; aber solange es nicht gelingt, hat sie die Vielheit der Elemente einfach
anzuerkennen. Also Verworn hat zwar dreifach Unrecht, aber Haeckel gegenüber,
der sich einbildet, den Geist aus der Materie erklärt und so den materialistischen
Monismus verwirklicht zu haben, hat er entschieden Recht, und es ist ihm un¬
bedingt beizupflichten, wenn er schreibt: „Man muß radikaler vorgehn und die
ganze materialistische Anschauung bis auf die Grundlage hinab preisgeben, wenn
man zu einer monistischen Weltanschauung gelangen will." Er konstruiert
darum seinen Psychomonismus. „Der Gegensatz zwischen Körperwelt und Psyche
existiert in Wirklichkeit gar nicht; denn die ganze Körperwelt ist nur Inhalt
der Psyche. Es gibt überhaupt nur Eins, das'ist der reiche Inhalt der Psyche."
Nun, das haben andre Leute, wie Leibniz, Fichte, Hegel und Lotze, vor ihm
schon gesagt. Während es nur stumpfsinnigen Burschen von schwacher Denkkraft
einfallen kann, den Geist aus der Materie heraus destillieren zu wollen, drängt
sich dem wirklichen Denker die Tatsache auf, daß sein eigner Bewußtseinsinhalt
das einzige ist, von dessen Vorhandensein er wirklich überzeugt sein muß, und
für den ersten Augenblick erscheint es ihm nicht undenkbar, daß die gesamte
Außenwelt nur sein Traum sei. Bei genauerer Überlegung findet er dann
freilich, daß sich sein waches Leben von einem Traume deutlich unterscheidet,
daß seinem Bewußtsein der wechselnde Inhalt von außen aufgedrängt wird — daß
dieser von draußen kommt, bezweifelt er am wenigsten, wenn er eine Ohrfeige
kriegt —, und daß der regelmäßige, gesetzmüßige Ablauf gewisser Reihen von
Erscheinungen, die ganz unabhängig von ihm und oft sehr gegen seinen Willen
eintreten, auf eine Außenwelt hindeuten, die unabhängig ist von seinem Bewußt¬
sein, die anders geordnet ist als seine Innenwelt, und aus der der Inhalt
seines Bewußtseins stammt. Beide Tatsachen: daß unsre Innenwelt das uns
allein Bekannte und für uns Gewisse ist, die Ursache unsrer Wahrnehmungen
aber draußen liegen muß, hat Kant mit dem uns unbekannten Ding an sich
ausgedrückt. Nachdem dann die Physik zur Auflösung der Materie in Atome
fortgeschritten war, hat Lotze diese Atome als immaterielle Kraftzentren beschrieben.
Die Aufgabe, den Materialismus zu beseitigen, ist also seit einem halben Jahr¬
hundert auf das befriedigendste gelöst, und Verworn hätte sich seinen neuen
Lösungsversuch, der seinem Namen alle Ehre macht, lieber sparen sollen. Er
ist nämlich gleich den meisten heutigen Naturforschern von der Angst besessen,
an die Unsterblichkeit seiner Seele und dann am Ende gar an Gott glauben zu
müssen, wenn er dieser Seele die Existenz einräumt, und darum benutzt er seinen
Psychomonismus zunächst dazu, die Psyche tötzuschlagen. „Nicht eine Seele
wohnt im menschlichen Körper, nicht ein Mensch ist Sitz von Empfindungen,
sondern ein Mensch ist ein Komplex von Empfindungen, für andre sowohl wie
für fich selbst, er besteht aus Empfindungen." Hat der Mann wirklich ein so
schwaches Daseinsgefühl, daß er aufrichtig auf die Ehre zu verzichten vermag,
der Denker seiner Gedanken, der Täter seiner Taten, der Verfasser seiner Werke
und der Erfinder seines Psychomonismus zu sein? Und wird er sich fügen,
wenn ihm ein Raubmörder das Messer an die Kehle setzt und aus seine Klage
oder den Ausbruch seines Unwillens erwidert: Wie kannst du dich auflehnen
wollen? Du existierst ja gar nicht. Du bist ja nur ein Komplex, und diesen
Komplex bin ich eben jetzt im Begriff zu lösen. Die Aussicht auf die Auflösung
findet übrigens Verworn sogar erfreulich, natürlich nicht im Sinne des Apostels
Paulus, der aufgelöst und bei Christus zu sein wünschte. Sondern er findet
seine Ansicht darum „tröstlich", weil nach ihr mit dem Tode alles aus sei für
uns, da der Tod die Verknüpfung der Empfindungen löse. Die Empfindungen,
Gedanken und Gefühle aber (die Hypothese kennt eigentlich nur Empfindungen,
das ist Wahrnehmungen; Gedanken und Gefühle werden ihnen hier auf einmal
beigesellt, wohl weil sie sich eben nicht leugnen lassen) „leben weiter über das
vergängliche Individuum hinaus in andern Individuen, überall da, wo die
gleichen Komplexe von Bedingungen existieren. Sie pflanzen sich fort von
Individuum zu Individuum, von Generation zu Generation, von Volk zu Volk.
Sie wirken und weben am ewigen Webstuhl der Seele. sKcmn sich unter dieser
Phrase jemand etwas vorstellen? Wie gut läßt es sich dagegen vorstellen, daß
der Erdgeist am Webstuhl der Zeit der Gottheit lebendiges Kleid wirke.j Sie
arbeiten an der Geschichte des menschlichen Geistes. fWie kommt der auf einmal
hinein? Wer, was ist er?j So leben wir ^vielmehr die Bestandteile des Komplexes,
auf den das persönliche Pronomen nicht angewandt werden darfj alle nach dem
Tode weiter als Glieder in der großen, zusammenhängenden Kette geistiger Ent¬
wicklung." Dennert bemerkt dazu: „Welch ein großartiger Trost! Nach mir
Wird noch weiter »blau« und »hart« und »kalt« empfunden werden: die Empfindungen,
der Inhalt der Psyche, sind ja ewig," Und ich füge die Bemerkung hinzu, daß
man schon sehr gelehrt sein muß, um sich Empfindungen ohne ein empfindendes
Wesen, ohne ein Subjekt, das sie hat, vorstellen zu können; Empfindungen, die
im Weltall herumschweben und sich mitunter zu Komplexen verbinden, weil gewisse
Komplexe äußerer Bedingungen entstehen, welche Bedingungen, zum Beispiel
organische Zellen, aber selbst nichts andres sind als Empfindungen einer nicht
vorhandnen Psyche.
Der andre Gegner des Materialismus ist der große Chemiker Ostwald. Er
verwirft die Materie und die mechanistische Auffassung der Natur auch in der
vergeistigter Form, die beiden Lotze gegeben hat, und will nur die verschiednen
Energieformen als das einzig Wirkliche gelten lassen. Ob mit seiner Hypothese,
von der er glaubt, daß sie keine Hypothese, sondern nur Beschreibung der Wirk¬
lichkeit sei, die Physik besser wird arbeiten können, als sie bisher mit der Atom-
Hypothese gearbeitet hat, das werden die Physiker zu entscheiden haben. Uns
geht das hier weiter nichts an. Außer der entschiednen Verwerfung jeder Form
des Materialismus ist für uns nur die Art und Weise interessant, wie sich Ostwald
über die Organismen äußert. Auch die Lebenserscheinungen sind nach ihm
Energievorgänge; aber während das unorganische Gebilde mir solche Energie¬
änderungen erführe, die aus seiner und der Umgebung Beschaffenheit folgen,
Wasser zum Beispiel sich ganz passiv verhält, wenn es durch den Temperatur-
Wechsel in Eis und dann wieder in Wasser zurückverwandelt wird, behauptet sich
das Lebewesen seiner Umgebung zum Trotz. Die Organismen „haben die
Fähigkeit, sich der Energievorräte selbsttätig zu bemächtigen, deren sie zur Auf¬
rechterhaltung ihres stationären Zustandes bedürfen. Sie sind einer Lampe zu
vergleichen, die sich das Öl, das sie braucht, auf irgendeine Weise immer wieder
neu beschafft." Ostwald will das Leben dadurch, daß er es als das Ergebnis
eines Stromes chemischer Energie auffaßt, noch nicht erklärt haben, glaubt aber,
daß es die fortschreitende Chemie mit der Zeit werde erklären können, und lehnt
darum den Vitalismus ab. Doch gesteht er nach einer Darstellung des energetischen
Haushalts der Organismen, er habe die Lebenserscheinungen so behandelt, als
ob im Organismus „ein denkender, urteilender und insbesondre vorsorgender
Geist von der Art des menschlichen" süße, der „anscheinend auf Grund eiuer
sehr tiefen Kenntnis der chemischen und physikalischen Gesetze die Einrichtungen
so trifft, daß die Ergebnisse dem Organismus einen möglichst dauernden Bestand
und eine möglichst vorteilhafte Vermehrung sichern". Er stellt fest, daß der
Zweckbegriff keineswegs unwissenschaftlich ist, daß wir berechtigt sind, ihn an¬
zuwenden, und daß er sich zwar noch nicht in der unorganischen, wohl aber in
der organischen Welt aufdrängt. Der Annahme, daß eine höhere menschenähnliche
Intelligenz die Organismen geschaffen habe, stünden allerdings große Schwierig¬
keiten im Wege. Dennert bemerkt, Ostwald nenne diese angeblichen Schwierig¬
keiten nicht; sie möchten sich wohl auf eine beschränken, darauf nämlich, daß
130
man auf dem Wege solcher Betrachtungen wieder zu dem fatalen Gottesbegriff
zurückgelange, den man loswerden will.
H. Driesch ist ein junger Zoologe, der uns von Dcnnert damit empfohlen
wird, daß ihn Haeckel als „unzurechnungsfähigen Sophisten" abgetan hat. Er
hat als der erste die von verschiednen Vorgängern ausgesprochnen Vitalistischen
Gedanken zur Ausarbeitung eines Vitalistischen Systems auf der Grundlage der
modernsten Forschungsergebnisse verwandt. Sein vernichtendes Urteil über den
Darwinismus habe ich in dem ersten der eingangs erwähnten Artikel über
Hartmanns letztes Buch S. 368 angeführt. Mit jedem unverschrobnen Beobachter
sieht er das Kennzeichen des Organischen in der es durchwaltenden Zweckmäßig¬
keit, die sich in der Harmonie (Zusammenpassung der Teile, der Organe und
ihrer Funktionen) und in der Regulativ» betätigt. Unter dieser versteht er die
Wahrung des normalen Zustandes und seine Wiederherstellung nach innern oder
äußern Störungen. Am auffälligsten sind die Regulationen nach einer aller-
gröbsten Störung, zu denen die niedern Tiere fähig sind, die nicht allein gleich
den höhern ihre Wunden verbellen, sondern auch abgeschnittne Körperteile wieder
wachsen lassen. Weil diese Neubildung aller Körperteile, auch des Kopfes, nach
dem Durchschneiden des Tieres an beliebigen Körperstellen, und nicht bloß von
der Wundfläche, sondern auch von nicht verletzten Stellen des Körpers aus vor¬
kommt, schwindet die an sich schwer denkbare Möglichkeit, den Organismus als
Maschine aufzufassen, vollständig. Man könnte sich allenfalls den Organismus
als eine bis ins Märchenhafte zusammengesetzte und verwickelte Maschine vor¬
stellen und außerdem an jeder Stelle seines Leibes eine kleine Maschine angebracht
denken, die in Tätigkeit träte, so oft das ihr benachbarte Teilchen des Organismus
abgerissen würde, und die dieses aus dem ihr gelieferten Material wieder her¬
stellte — aber nicht mehr; denn die Maschine leistet immer nur das eine, das
zu leisten sie eingerichtet ist. Doch viele niedere Tiere stellen die abgeschnittnen
Glieder, ja den abgeschnittnen größern Teil ihres Leibes von den verschiedensten
Stellen aus wieder her. Das wäre, wie Driesch zeigt, nur möglich, wenn der
Organismus eine unendliche Anzahl unendlich komplizierter Maschinen enthielte,
in deren jeder die Bedingungen für die Herstellung des ganzen Organismus
enthalten sein müßten.
Dennert behandelt auch Haeckel und Reinke. Den zweiten lassen wir nächstens
selbst reden, und bei dieser Gelegenheit kommen wir auch noch einmal auf Haeckel
zu sprechen. Für diesmal sei darum nur mitgeteilt, wie Dennert auf die im
Titel seines Buches liegende Frage antwortet. Die Musterung der vorgeführten
Forscher zeigt, daß es „die Weltanschauung des modernen Naturforschers" nicht
gibt. Die Forscher haben nicht einmal ein gemeinsames oder übereinstimmendes
Weltbild. Der eine stellt sich die Welt vor als einen körperlichen Mechanismus,
der andre als ein Gewebe tätiger Energien, der dritte als einen Komplex
Psychischer Elemente. Und wenn sich die Naturforscher einmal über das Welt¬
bild einigen sollten, so könnten auf dieses eine Bild noch immer die verschiedensten
Anschauungen gebaut werden. Die Entscheidung in der Alternative namentlich,
ob man sich die Welt durch Zufall entstanden oder von einem allmächtigen,
intelligenten Wesen geschaffen denken soll, hängt nicht von dem Maße oder der
Art naturwissenschaftlicher Erkenntnisse ab, sondern von Herzensbedürfnissen und
Neigungen. Allerdings stellt uns die heutige Naturerkenntnis eine solche Fülle
der wunderbarsten Zweckmäßigkeiten vor Augen, daß es ungemein schwierig ist,
die Vernunft zum Schweigen zu bringen, die den zwecksetzenden und nach Zwecken
waltenden Ordner des Weltalls fordert. Daß jedoch anch dieses Schwierige
geleistet werden kann, das sehen wir ja täglich an Haeckel und seinen Jüngern.
HM
ZVV> er das Lebenswerk des am 10. Dezember 1906 im achtundfünf¬
zigsten Lebensjahre verstorbnen Schriftstellers Ferdinand Brunetiere
einer genauern Prüfung unterzieht, fühlt sich nicht wenig be¬
troffen von dem Mangel an Einheitlichkeit, der innerhalb dieser
! nicht allzuweit ausgedehnten Lebens- und Arbeitsfrist zutage
tritt. Man wird nicht leicht eine zweite Persönlichkeit nennen können, deren
Ansichten eine gleiche Fülle von Paradoxen und Widersprüchen anhaften. Auch
in Brunetiere ist die ruhige Lebensanschauung, die große Denker früherer
Jahrhunderte auszuzeichnen pflegte, der modernen Unrast zum Opfer gefallen.
Die geistige Hast der Neuzeit zieht leider immer schlimmere Folgen nach sich,
insbesondre verwickelt sie produktive Schriftsteller in Widersprüche, deren
spezieller Ursprung sich oft nicht genau bestimmen läßt. Gewiß spielen dabei nicht
an letzter Stelle auch Gedächtnisfehler mit, die vorübergehender Erschöpfung
zuzuschreiben sind, aber der Nachweis andrer Motive ist doch nur mit großer
Behutsamkeit zu erbringen. Bei Brunetiere bedarf es einer besonders gewissen¬
haften Sichtung auftauchender Probleme, wenn man seine anscheinenden
Schwankungen und Schwenkungen enträtseln will. Handelt es sich bei diesem
rastlos strebenden Forscher doch vor allem nicht um Charakterschwäche oder
um wenig ehrenvolle Zugeständnisse an den krankhaften Ehrgeiz, für dessen
Befriedigung das heutige Frankreich die trefflich ironisierende Bezeichnung
arrivisiQö in Aufnahme gebracht hat. Diesen Vorwurf könnten nicht einmal
die erbitterten Gegner des unermüdlichen Kämpfers erheben. Auch die hoch¬
moderne Form seiner Publikationen ist wohl eher den Verhältnissen als ihm
selbst zur Last zu legen. Vorlesungen, die neue Theorien in akademischen
Kreisen verbreiten sollten, Vorträge, die im Inlande und im Auslande bei
einer zahlreichen, bunt (nicht bloß nach Geschlechtern) gemischten Zuhörerschaft
Anklang fanden, kritische Beurteilungen von wichtigen Neuigkeiten auf dem
Büchermarkt, oft nur das Produkt weniger Stunden intensiver Lektüre, all
diese Früchte wechselnder Anspannung der Geisteskräfte drängen in die Öffent¬
lichkeit, bisweilen in einer Form, der ohne Schuld des Autors die letzte Feile
fehlt. Es gibt ja auch Sammelbände, in denen Schriftsteller eine Auswahl
von Essais und kürzern Aufsätzen, die der Entstehung nach zeitlich und räum¬
lich weit auseinander liegen, schützend zu bergen suchen, damit kostbare, bisher
vereinzelte Körner nicht schließlich doch noch mit der Spreu nach allen
Richtungen verfliegen. Solche Sammelbände nötigen eigentlich zur Revision
und Selbstkorrektur, aber auch diese Pflicht wird im Drange neuer Pläne
häufig vernachlässigt.
Brünetteres Sammelbände unterscheiden sich um allerdings von andern
ähnlichen Veröffentlichungen durch den schwerwiegenden Umstand, daß er nur
nahe verwandte Stoffe, oder doch solche, die ein Kausalnexus in der Behand¬
lung zu verbinden scheint, zusammeugruppierte und zwischen der Entstehungs-
zeit und der Drucklegung, unter Umstünden dem Neudruck seiner Schriften keine
allzu lange Frist verstreichen ließ. Für dieses dem Autor günstiger liegende
Verfahren genügt die Anführung vou zwei Beispielen: seine 1890 veröffentlichte
Lvolution as8 6hors8 cliui3 l'Hiiztoirs all ig, I^ittörg-das gibt den revidierten
Inhalt von zehn Vorlesungen wieder, die Brnnetiere im November und De¬
zember 1889 in der Ecole Normale superieure gehalten hatte; seine später
gesammelten visooms as <Ü0irida,t, von deuen die erste Serie 1900, die zweite
1903 erschien, umfassen den ebenfalls kurzen Zeitraum von 1896 bis 1902.
Jedenfalls wird schon aus diesen wenigen Daten klar, daß die Hauptzahlen
dieser zusammeugetragncn geistigen Rubriken noch als ziemlich frische Einträge
im Hirn des Denkers haften mußten.
Will man sich durch die zahlreichen Seitensprünge dieses originellen
Geistes nicht in der Erkenntnis der von ihm beschrittnen Hauptbahnen irre¬
führen lassen, so muß man zunächst mehrere kleinere Steine des Anstoßes
wegräumen. In einem am 18. Januar 1902 in Freiburg in der Schweiz
gehaltnen Vortrag über: I^'Wuvro (zritiauo Ah kams plädiert Brunetiere un¬
bewußt für sich, indem er von kleinen Gebrechen spricht, die bei der Gesmnt-
beurtcilung eines Autors nicht allzu schwer in die Wagschale fallen sollten.
Er sieht nicht ein, warum dem Gesamtwert Taines allerlei Widersprüche
nachgesagt werden: ^6 us pg-rio pas, vous ra/önteiicke? bien, as ez«8 vontraclio
lions as et^tail kmxquollos nous sommss tous sxxosvs, <zru u'-z-ttoiMoiit pg.8
Is kennt als3 obo8L8> se alone rien n'sse xla8 prLMinptuöUX «in<z et<z vouloir
ki tont prix Lvitsr 1s rexrooluz, xaros «zu'on us en g'öiivral «in'lux
äüxsri8 as ig. v«Zrito. Es kommt nun freilich sehr viel darauf an, was man
nnter «zontracliotions als <!et-u> verstehen soll und will. Es wird ja zum
Beispiel sicherlich Literarhistoriker geben, die dem Literarhistoriker Brünettere
Nachsicht angedeihen lassen, wenn er 1882 in einer polemischen Schrift über
die Sprachforschung der Gegenwart mit Bezug auf die französische Literatur
im Mittelalter zur Verteidigung der französischen Renaissance einen Ausspruch
Du Bellays zitiert, den er acht Jahre später als zu schwer verständlich zurück¬
weist. Wenn er sich ursprünglich über den jugendfrischem Wagemut der
Plejade freut, die alle strebsamen Dichter aufforderte, sich die Werke des
klassische« Altertums so völlig zu eigen zu machen, daß sie förmlich in Fleisch
und Blut übergingen, fast zwei Jahrzehnte später aber die betreffende Stelle
des poetischen Manifestes der Plejade nochmals genauer im ursprünglichen
Wortlaut zitiert, jedoch mit dem übellaunigen Zusatz: Nais eoinmsnt
rsussiiÄ-t-on? L'est c>6 an'it g. ils^Il^L as clirs, et «'stille eexenclMt 1a 8su1s
eüoss (mi nous importM. Wer böswillig ist, könnte sogar noch einen Schritt
weitergehn und Äußerungen zum Vergleich heranziehen, die 1904 in der un¬
vollendet gebliebner Nistvirs als 1a I^nes'rg.to.i'L dran-Mös Äg,88iciuö ebenfalls
der Plejade gewidmet sind. Aber schließlich ließe sich hier wie bei hundert
andern Fällen der Vorwurf der Inkonsequenz durch den Einwand entkräften,
daß die durch unausgesetzte Übung gesteigerte kritische Schärfe allmählich und
im stillen Wandlungen des Geschmacks und des Urteils herbeigeführt hat, die
dann plötzlich unvermittelt zutage treten. Jedenfalls hat sich Brunetiere aber
in der Beurteilung eines Zweiges der literarhistorischen und sprachlichen
Forschung, der Arbeit der französischen Medievisten, in einen schroffen Wider¬
spruch verwickelt, der tief zu beklagen ist. Allem Anschein nach hatte wohl
die etwas aufdringliche Ruhmredigkeit Leon Gauklers seine leidenschaftliche
Kampflust so stark angeregt, daß sie zu Gereiztheit und Gehässigkeit ausartete.
Der bei diesem Anlaß unverhüllt hervortretende Groll steht mit Brünetteres
sonstiger vornehmen Haltung in recht grellem Widerspruch. Da er sich über¬
dies bei dieser Gelegenheit auf ein Terrain wagte, das er kaum oberflächlich
sondiert hatte, war es vielleicht gerade diese Unsicherheit, die ihn zur Wahl
von wenig loyalen Waffen verführte. Heute fragt man sich vergebens, welchen
Zweck er eigentlich verfolgte, als er wahrhaft treue Hüter der Wissenschaft,
insbesondre die unermüdlichen Schatzgräber auf altfranzösischen Gebiete mit
Kränkung förmlich überschüttete. Diese erbitterte Kriegserklärung an die mittel¬
alterliche Sprachforschung arbeitete nicht mit logischen Gründen, sondern mit
zersetzenden Spott, dem glücklicherweise die überstarke persönliche Färbung die
Spitze abbrach. Für den unparteiischen Beobachter schnellte der giftige, ohne
berechtigte Veranlassung abgedrückte Pfeil auf die Brust des überreizten
Schützen zurück. Vielleicht war es auch die Reue über dieses Unrecht, die
Brunetiere am 12. März 1903 die Worte diktierte, mit denen er den edelsten
Pfleger der französischen mittelalterlichen Literatur, Gaston Paris, im Namen
der ^vgMi-ins 1?rÄnvg.i8E zur letzten Ruhestätte geleitete. Wer den Inhalt
dieses äisocmrs lunövro mit den Äußerungen vom Jahre 1882 vergleicht, ver¬
fällt in ein berechtigtes Staunen über diese radikale Wandlung des Urteils.
Sie läßt sich nur konstatieren, aber nicht beschönigen. Es steht bloß fest, daß
sie von echter, redlicher Regung diktiert scheint: der Evolutionist Brunetiere
aber hat weise gehandelt, gerade die weihevolle Stätte des Todes zum Anlaß
seines feierlichen, wenn auch indirekten Widerrufs zu wählen.
Der Literarhistoriker Brunetiere hat etwas von einem Irrlicht an sich,
der Kritiker und Moralist steht ungleich höher. Denn der Kritiker hat sich
nicht ausschließlich auf literarischem Gebiet bewegt, und der Moralist brachte
allen ethischen Fragen der Zeit nicht bloß warmes Interesse entgegen, sondern
bekundete als beredter Theoretiker eine erstaunliche Hilfsbereitschaft im Kampfe
gegen Kulturschäden, die er mit untrüglichem Blick aufzudecken verstand. Diese
intensive Geistesrichtung des übereifriger Professors an der Ecole Normale
beweist, daß er nicht zum Fachgelehrten prädestiniert war. Deshalb belebt er
auch alle Gebiete, die er betritt, mit einem frischen Hauche. In wohlüber¬
legten und berechneten Abständen nahm er einen bewunderungswürdigen Auf¬
stieg zu den höchsten Höhen des Geistes und eröffnete mit echt divinatorischer
Begabung mannigfache Ausblicke auf die Kulturentwicklung der Menschheit,
Einige Phasen dieser Denkreife zu verfolgen ist ungemein lehrreich. Sie
heben an mit dem eigenartigen Gedanken, der die Evolution ass Kenres aeus
I'Histoirs as ig. I/ittsraturs (1890) ins Leben rief. Der angehende Vierziger
steckte sich hier ein kühnes Ziel, das der Zeit zu weit vorauseilte. Mitten
im ersten Anlauf aber brach er ab, weil sein ehrlicher Sinn auf Hindernisse
stieß, die ihm noch rechtzeitig die Augen öffneten. Denn es ist nicht so ein¬
fach, die Methoden der Naturwissenschaften ohne weiteres auf andre Geistes¬
gebiete zu verpflanzen, sich die Produkte der Literaturen nach Prinzipien ein¬
geordnet und etikettiert vorzustellen, die dem Zoologen oder dem Botaniker
bei ihren Klassifizierungen unentbehrliche Dienste leisten. Vor den letzten
Konsequenzen, die zu ziehen waren, um Ideen Darwins und Haeckels frucht¬
bringend auf die Kritik literarischer Erzeugnisse wirken zu lassen, ist Brunetiere
zurückgeschreckt. Aber er hat eine neue Perspektive eröffnet für jüngere, wage¬
lustige Generationen. Auch ist ihm die Vorstufe seiner Betrachtung, die
Skizzierung einer Geschichte der französischen literarischen Kritik in einigen
Hauptzügen geglückt. Zugleich erscheinen die wichtigsten, längst abgegrenzten
Perioden der französischen Literatur in eine neue Beleuchtung gerückt. Am
klarsten beleuchtet ist das neunzehnte Jahrhundert. Hier ist der Stoff ver¬
einfacht oder vielmehr an einzelne machtvolle Persönlichkeiten angegliedert,
weil sich das Kritikeramt in Frankreich offenkundig zum ausfüllenden Haupt¬
beruf starker Intelligenzen ausgebildet hat. Madame de Stael und Chateau¬
briand bilden den notwendigen Übergang zu den kritischen Herrscherzeitcn eines
Villemain, eines Sainte-Beuve, eines Taine, denen sich Brunetiere mit stolzem
Selbstbewußtsein und aus eigner Machtvollkommenheit als Thronerbe im
Reiche der Kritik anschließt. Spötter haben behauptet, für die Namenfolge:
Sainte-Beuve, Taine, Brunetiere sei nach Brunetieres eigner Ansicht jeder
Zuwachs der Zukunft ausgeschaltet gewesen. Doch das heißt zu weit gehn.
Brunetiere hielt sich nur mit Recht für einen kühnen Entdecker, dessen Kraft
von dem persönlich errungnen Horizont vollständig, ja über Gebühr in An¬
spruch genommen war. Denn von allen Seiten beleuchtete, bespürte, betastete
er die wesentlichsten Gewinne der kritischen Forschung seit 1550. Sein
genialer Blick vereinigte nur das Wesentliche zu einer Skizze, zugleich aber
wandte er sich mit einer glänzenden Rechtfertigung an die Detailforscher, von
denen er wohl wußte, daß sie von vornherein jeden kühnen Aufflug mit dem
Stempel der Ungenauigkeit und Oberflächlichkeit brandmarken möchten: Ne
N0U8 (Mons xg,8 ac8 iac^s A6n6rg.1ö8: es 8vnd elles ani tont xroZres8er ig.
seisuee. 5e us in'iiitöiesss Zusre aux r6vns as oorg.it, et xsu as olioses
su soi me 8örg.leve plus inZiMrentss eins les exoi)A68 egles-ires. Nais
sais aus ig UonoZraxdiö ach öxon^hö oglog.irs8 est ac Hgeckel, et js nie
rg-xpelle c^us v^rav, tout co oossrvant los reoiks as vorgil, nisältgit son
OriNng et«Z8 ssxsoss^ VoilZ. ve a.ni in'imxorts, se voilZ. os c^ni in'intörssss.
Brunetiere weist die unverdiente Geringschätzung zurück, womit so viele
auf die läse-8 ^örwralss herabschauen. Solche Ideen dürfen seiner Ansicht nach
sogar verfrüht, willkürlich, bisweilen falsch sein. Ihr Zweck aber ist Staunen
zu wecken, zum Widerspruch zu reizen und zum Ausgangspunkt neuer Unter¬
suchungen zu werden. Sie sollen angesichts großer Probleme jene Aufregung
der Geister heraufbeschwören, die als Bedingung jeglichen Fortschritts und
weiterer Entdeckungen vorhanden sein muß. Sie ausschließen, heißt der
Wissenschaft den Sauerteig entziehen, dem Unterricht den Lebensnerv unter¬
binden, denn wir sind nicht nur verpflichtet, künftigen Generationen Wissen
zu übermitteln, sondern ihnen die Mittel selbst an die Hand zu geben, wie
dieses Wissen weiter zu fördern ist. Kalte Gelehrsamkeit setzt uns höchstens
in den Stand, rauhe Steine zu beHauen und brauchbares Material aus dem
Rohzustand zu glätten. Ein solches nützliches Nebenverdienst aber wird durch
das Hauptverdienst des Baumeisters überstrahlt. Dieser Satz hat für alle
Wissensgebiete Geltung. Aus diesem Grunde darf eine wirklich wertvolle
Literaturgeschichte auch nicht aus einer bloßen Aneinanderreihung von Mono¬
graphien bestehen, auch wenn das schwache Band der Chronologie von einer
zur andern führt, deshalb soll der Wust unermüdlich zutage geforderter Neben¬
dokumente nicht in kundiger Hand überwuchern, und interessante Betrachtungen
soziologischen und andern Wertes sollen nicht über die Hauptfassade des
eigentlichen Baues hinaus verlängert werden. Denn die Bedeutung und der
eigentliche Kern des Wesens der Literatur ist und bleibt rein künstlerischer
Art. Längst wären die Dichter wie alle andern Künstler es müde geworden,
zu schaffen und zu wirken, wenn ihnen keine höhere Aufgabe zuerkannt würde,
als den Seelenzustand ihrer Zeitgenossen zu spiegeln, über ihr Zeitalter
nüchtern Bericht zu erstatten. 1,3, re^lisation cle ig. deguts, voilZ. on it8 out
tsnclu; et HuieonHue prswucl Iss juZsr 8»r 863 tsuäg-noss g lui, xlutöt aus
sur 1s8 lkurs, js no Zg>i8 xg>8 of an'it kg.it, mu.i8 ve n'est xg.s <is ig. oritiaus.
Der Kritiker kann nicht genug Wissensschätze erringen, it <toit g-voir lÄt is
tour als8 las68. Aber eines muß ihm angeboren sein, die Sympathie, das
Kunstverständnis. Diese angeborne Begabung führt zur Selbstprüfung, damit
nicht unbewußt zuviel von seiner persönlichen Eigenart in seine Eindrücke und
Urteilsbegründungen einschleicht. Auch der Überschwenglichkeit der Sympathie
ist Einhalt zu gebieten, um der Gerechtigkeit und Wahrheit treu zu bleiben.
Vieles ist zu bedenken. Denn so sicher es Farbenblinde gibt, so sicher gibt
es auch Unempfängliche, denen gewisse Seiten der Kunst vollständig entgehen,
ein Mangel, den sie selbst fühlen und begreifen lernen sollten. Man begreift,
daß der Verfasser der Evolution ass Oizuros schon früher der Autor des Romg-u
^Ätura-Jlheo (1884) geworden ist.
In der Evolution äos teures setzte gelegentlich ein Tastversuch des
Moralisten Brünettere ein. In dem hauptsächlich Tanne gewidmeten Schlu߬
kapitel tauchte schon die schwierige Frage nach dem Verhältnis von Kunst und
Moral auf, die 1898 in einem Vortrag für die Looiötö clef OonM-suvss aus¬
führliche Behandlung erfuhr. Das Thema: se 1a Noralv schwindet
nicht mehr so leicht von der Tagesordnung. Es fragt sich , ob Brünettere
Originelles dazu geäußert hat. Kleinlich und prüde äußerte er sich selbstver¬
ständlich nirgends. Er brachte auch keine praktischen Mittel in Vorschlag,
wie den durch Kunstwerke hervorgerufnen sittlichen Schäden abzuhelfen sei.
Jedoch hielt er an der Ansicht fest, daß vollendete Kunstschöpfungen nnter
Umständen zu starksinnliche Regungen wachrufen können, und zwar erstens,
wenn ihre forme suclnotivs zu ausgeprägt ist, zweitens, wenn die Wiedergabe
der Natur buchstäblich treu ausfällt. Der Künstler soll nicht außer acht lassen,
daß die Ausübung seiner Kunst einer sozialen Verpflichtung gleichkommt, zu
deren strengen Erfüllung sein Gewissen mahnt. Alle wahre Kunst wirkt als
starke Macht neben der Religion und neben der Wissenschaft, und in einem
wohlgeordneten Staate hat sie diesen andern wichtigen Kräften das Gleich¬
gewicht zu halten. Es ist nicht Sache des Künstlers oder des Schriftstellers,
das Amt eines Moralpredigers auszuüben, aber auch nicht sein gutes Recht,
nach Art von Nietzsches Übermenschen Zucht und Sitte als lästige Fessel von
sich abzustreifen. Über das Künstlertum soll keine religiöse Autorität als
Aufsichtsbehörde eingesetzt werden, denn die Geschichte des Papsttums im
Mittelalter hat uns zur Genüge über die Vorzüge sowie auch über die Ge¬
fahren der Theokratie aufgeklärt. Mit andern Worten, der Künstler selbst
ist moralisch verpflichtet, dem „Ausleben" seiner Individualität bestimmte
Hemmungen aufzuerlegen. Geschieht dies nicht, so wird es dahin kommen,
daß sich in seinen Schöpfungen, auch als unbewußte Reflexe, rein tierische
Instinkte statt seelischer Regungen spiegeln, daß der Geschmack der großen
Menge nicht geläutert und nicht erzogen wird. Wird der Künstler sich seiner
hohen Mission bewußt, so wird er die Selbsterziehung folglich als eine
wichtige Aufgabe seines Lebens betrachten. Denn das künstlerische Können
allein reicht nicht aus.
Wer diese letzte Konsequenz aus Brünetteres Betrachtung zieht, folgt
ihm unmerklich auf ein angrenzendes Gebiet, zu einem Thema, das er 1895
ebenso streug logisch unter dem Titel MuoÄticm et Instruotiou in der liövue
ass, clcwx Nouäss behandelte. Mit Recht wurde der Artikel auch als Broschüre
in Umlauf gesetzt. In dieser Denkschrift legte Brunetiere den Finger auf einen
Krebsschaden der Neuzeit. Die Rücksichtslosigkeit des erschwerten Daseins¬
kampfes breitet ihre düstern Schatten schon mehr und mehr über die Kinder¬
zeit, das Schulalter, unsern ganzen Bildungsgang. Jeder wird ermahnt,
vorwärts zu streben, möglichst der Erste zu sein, Wissen zu erwerben, um eine
Stellung zu erringen. Die Pflege des Verstandes absorbiert alle Aufmerksam¬
keit und Kraft, Herz und Gemüt bleiben unentwickelt, denn Güte ist ja keine
Eigenschaft, die zu einer glänzenden Laufbahn verhilft. Wenn es irgend an¬
geht, wird der Verstand in die dürren Fächer eines SpezialWissens hincin-
gedrillt, um den Wettbewerb mit andern aufnehmen und aushalten zu können.
Wer täte dem Rennen und Haften wohl Einhalt? Die Mitglieder der höchsten
Unterrichtskommissionen überbieten sich ja gegenseitig nur an Forderungen,
die Lchrprogramme immer komplizierter zu gestalten, teils als eifersüchtige
Vertreter der ihnen obliegenden Disziplinen, teils in der versteckten Absicht,
einen Teil der allzu zahlreichen Stellenbewerber durch verschärfte Bedingungen
abzuschrecken. Man fühlt die bestehenden Mißstände und will den Universi¬
täten Lehrstühle für Pädagogik einfügen, ohne sich zuvor darüber klar ge¬
worden zu sein, was auf diesen Kathedern zu „lehren not tut". Die Neuzeit
unterrichtet zu viel und erzieht zu wenig. Der einseitig geübte Verstand übt
an allen Grundfesten des Staates Kritik, weigert den Gehorsam, erkennt keine
Autoritäten an und verschließt sich der Erkenntnis, daß es Pflichten gegen
unsre Mitmenschen gibt, daß die ins Schrankenlose wachsenden Begierden und
Wünsche alle Disziplinierung eines edlern Menschentums lockern. Allenthalben
zeigt sich das Schreckgespenst der Anarchie, in wechselnder Gestalt als Frucht
des Ungehorsams. Plastische, grnuenerweckende Form hat sie in der Hand
politischer Wahnwitziger angenommen. Offner und geheimer aber wühlt sie auf
allen Gebieten des Lebens und unterhöhlt alles, was die Tradition geheiligt
hatte. Brunetiere sucht ihr Wirken in den Erzeugnissen der naturalistischen
Kunst, in dem Dünkel einer übertriebnen Pflege der Wissenschaft und in dem
Rütteln an der Autorität der Kirche. Zu diesem Jdeenkreis gehört sein viel
genannter und viel beanstandeter Artikel aus dem Jahre 1895 ^xrös ruf
'Visite an VMean. Über ein Jahrzehnt hat sich über dem Groll gelagert,
den seine angeblich feindselige Haltung gegenüber den Vertretern der Wissen¬
schaft entsandte. Wer die Streitschrift heute liest, wird milder urteilen. Wenn
Brunetiere das Verhältnis von Religion und Wissenschaft auf Grund seiner
eignen Lebenserfahrung charakterisiert, wird er nicht ungerecht. Er begegnet
sich sogar mit dem eifrigen Wunsche Renans, der beide Gebiete als „unab¬
hängiges Nebeneinander" aufgefaßt haben wollte. Auch Brunetiere erklärt:
U n'^xx^rtisut xg,s plus g. Ja soisnoe et'inüririer on ac tortiüer Iss xreuvW
als ig, rsligion, izm'it n'axxÄrtisnt Z. 1a rsliZion cle nior ein as cliscmtsr leg
lois cle 1a xesallteur ein los kecMsiticms cle l'o^xtoloNö. Luaonne et'elles
«ein rc^g,unis 5 part.
Die römisch-katholische Kirche kann sich keine festere Stütze und keinen
bessern Hüter ihrer Interessen wünschen. Seine reichen Wissensschätze, seine
scharfe Denkkraft hat ihn nirgends mit der Kirchenlehre in Konflikt verwickelt.
Als er 1902 in einem Vortrag: I,e, ?roZre8 rsliZisux (in Florenz) die Starr¬
heit des Dogmas in Abrede stellte, sprach er aus der vollen Überzeugung
eines redlichen Denkers heraus, der selbst den anscheinend toten Buchstaben¬
glauben fruchtbringend in Bewegung gesetzt hat. Unerschrocken weist er seinem
Lieblingsschriftsteller Bossuet Anklänge an Calvins Institution enrstisnns nach,
offenherzig widmet er dem Genfer Reformator das redliche Apostelwort:
oxortst ng,srk86L Sö8s. Er hatte immer den Mut seiner Überzeugung. Neben¬
buhlerschaft, Neid, Sophismus blieben seiner Seele fern. Frankreich aber hat
in der schweren Krisis seines Kulturkampfes einen treuen Sohn verloren,
dessen redliche Stimme im Kampfe der Parteien verhallte. Viele haben ihm
nicht vergessen, daß er der I^i^us as ig?Ätris trg.ncMss beigetreten war; er
selbst hatte die neue Ära, die nach dem Tode Leos des Dreizehnter im
Vatikan angebrochen ist, nicht mehr verstanden. Die versöhnliche Milde
der Kirche, auf die er bis kurz vor seinem Tode hoffte, war sein letzter —
Trugschluß.
Sein stark entwickeltes Nationalgefühl (nicht Nationaleitelkeit) tritt am
schönsten zutage in einer kritischen Anzeige vom Jahre 1900, die den Titel
Amen-log-imo trägt. Die Vaterlandsfreunde aller Nationen könnten von
ihm lernen, wenn er einsichtsvoll äußert, daß ein Herd, von dem geistiger
und insbesondre moralischer Einfluß ausgehn soll, um so mehr Wärme aus¬
strahlen wird, je intensiver seine Flamme unterhalten wird, «ü'sse pourquoi,
ein ^.insriqus, c»u ailleurs, si mens voulons <zus ig. tali^us se I'ssxrit traue/ais
8? rspanäsut, us non8 vrooeeuvvns tant ach wo^eus as iss rs'nÄnärs an
llöliors ans as 1iZ8 inNntcmir sux-mSins8, et su?rsnos, clam8 Is 8su8 as Isur
ti'g,clition.
! cum im folgenden einige Andeutungen über die ersten Entwicklungs-
stadien des Märchens gegeben werden, so kann es sich dabei
nur um Möglichkeiten handeln, und zwar um Möglichkeiten, die
nur aus gewissen innern Tendenzen des Märchens erschlossen
! werden können. Über die äußerlichen Entwicklungsgesetze kann
ich hier nur einige kurze Bemerkungen vorausschicken. Als den ursprüng¬
lichen Kern der Märchen haben wir kürzere, formlose Geschichtchen voraus-
gesetzt, so wie sie sich noch heute bei tiefstehenden Völkern vorfinden. Nun
ist es das Grundgesetz aller epischen Poesie, daß sie nach Verlängerung
strebt. Das ist ein ganz natürliches Gesetz der oralen Erzählungsliteratur.
Jeder Erzähler will möglichst lange am Worte bleiben. Daher ist wohl das
nächste, was sich mit einer Geschichte ereignet, wenn sie wiedererzählt wird, daß
sie gedehnt wird. Das geschieht nun, da es dem Naturmenschen an der Er¬
findungsgabe mangelt, entweder durch mehr oder minder geschickte Wieder¬
holung oder durch unbeholfne Zusammenfügung zweier und mehrerer Geschichten,
die irgendwelche Berührungspunkte miteinander haben. Solcher schließlich endlos
langen Erzählungen könnte man eine Menge aus der primitiven Literatur an¬
führen. Hier finden wir also schon ein grundlegendes Gesetz aller Märchen¬
literatur, die Kompilation, auf der ersten Entwicklungsstufe vor. Die Vereinigung
von zwei Motiven in eine Erzählung mag nun zunächst innerhalb der Dorf¬
gemeinde vor sich gegangen sein. Je weitere Verbindungen aber ein Stamm
hat, desto mehr rinnen die Geschichten zusammen. Da bringt der Botenläufer
neue Stoffe von einem Nachbarstamm mit, an dessen Maurerversammlung er
teilgenommen hat. Die Vorschrift der Exogmme, die über alle Teile der Erde
hin wirksam ist, bringt mit den stammesfremden Frauen neue Märchen in die
Dorfgemeinschaft. Auch Handelsbeziehungen und andre friedliche Besuche tragen
das ihrige dazu bei, den Erzühlungsschatz der Männer und der Frauen eines
Stammes zu erweitern.
Ein zweiter Punkt liegt in einem allgemeinen Gesetz aller Evolution be¬
gründet, in der Auslese des Lebensfähigsten, hier natürlich des Interessantesten.
Die besten Geschichten werden wieder- oder weitererzählt, die langweiligen ver¬
geh« im Entstehn. So bildet sich allmählich ein Stamm von Wundererzählungen
aus, der immer wieder hervorgeholt wird und immer neuen kleinen Ver¬
änderungen und Erweiterungen ausgesetzt ist. So kann man überzeugt sein,
daß zum Beispiel die Geschichte von der Fahrt des Zauberers in das Toten-
land besonders beliebt war und immer von neuem zum Vortrag gekommen ist,
denn diese Geschichte ist unglaublich weit verbreitet.
Je reifer sich nun das religiöse Leben eines Volkes entwickelt, und je
mehr sich die sozialen Einrichtungen differenzieren, desto mehr erweitert sich
auch der Horizont des Märchens. Wenn nun einerseits die Entwicklung des
Märchens zunächst auf eine zusammenhanglose Häufung von Episoden hinaus¬
läuft, so kommt das märchenerzählende Volk doch mit der steigenden Ent¬
wicklung wieder davon ab, und zwar aus verschiednen Ursachen. Hier sei nur
darauf aufmerksam gemacht, daß der epischen Erzählung im allgemeinen und
dem Märchen im besondern die Neigung innewohnt, sich um eine Person, einen
einzelnen Helden zu gruppieren. Vermutlich wirkte dabei das Beispiel der
Stammesheldensage und der Göttersage mit ein. Dazu kommt, daß mit der
Häufung eine entgegengesetzte Erscheinung parallel geht, nämlich das Bestreben,
eine längere Episodenerzählung wieder in ihre einzelnen Episoden auseinander-
fallen zu lassen und die Motive in andre Verbindung zu bringen. So bildet
sich neben den Götter-, Stammes- und Tiersagen eine feste Tradition von
Erzählungen, in denen ein Held nacheinander eine oft endlos ausgedehnte Reihe
von Abenteuern zu bestehn hat. Solche Helden sind Zauberer, große Jäger,
tapfere Häuptlingssöhne, schöne junge Mädchen, es kommen auch überirdische
Personen als Helden vor. Auf diese vereinigen sich nun die bekannten Märchen¬
motive — soziale, zauberische, religiös-mythische —, wie sie oben gekennzeichnet
worden sind.
Solche Erzählungen müssen wir also als die Vorstufe des Märchens be¬
trachten.
In diesem ganzen Prozeß sind nun noch einige andre Dinge wirksam, auf
die wir unsre Aufmerksamkeit richten müssen, ehe wir daran gehn, einige der
Richtungslinien aufzudecken, in denen die Entwicklung des Märchens weiter
verläuft, sobald das märchenerzählende Volk den gebundnen Zustand primitiver
Lebensform überwunden hat. Diese Dinge sind die Neigung zur Verallge¬
meinerung, zur Typisierung und zum Extrem. Schon in der primitiven Zeit
wird die Geschichte gern in die Vergangenheit verlegt; dadurch werden die zu¬
grunde gelegten individuellen Verhältnisse allgemein und unpersönlich. Die
Handlung spielt in einer Zeit, „wo die Väter unsrer Väter Kinder waren", oder
„wo der weiße Mann noch nicht im Lande war", oder schließlich in einer
fernen, unbestimmten Vergangenheit. Wenn der Naturmensch auch gern an
dem Namen seines Helden festhält, so zeigt sich doch schon die Tendenz, ganz
allgemein von einem Mann, einem Häuptling, einem Mädchen zu sprechen und
im übrigen den Helden keinen persönlichen Eigennamen, sondern eine Appellativ¬
bezeichnung beizulegen. Der Schauplatz des Märchens ist nicht ein bestimmtes
Dorf, sondern allgemein ein Kraal, eine Hütte usw. Schon hier ist der Wald
im allgemein gefaßten, unbestimmten Sinne der beliebteste Schauplatz der
Mürchenhandlung. Nirgends findet man einen Versuch zur nähern Charak¬
terisierung oder gar zur Beschreibung eines Schauplatzes, denn das ist ganz
entgegen der Denkanlage und der Einbildungskraft des Naturmenschen. Aus
der Enge des triebhaften Denkens heraus werden auch die persönlichen Hand¬
lungen des Helden und ihre seelischen Grundlagen verallgemeinert. Von der
Verallgemeinerung zur Typisierung ist nur ein Schritt. Und auch dieser
Schritt ist in gewissem Maße schon im primitiven Märchen vollzogen. Der
Naturmensch vermag zwar nicht aus der Fülle der Erfahrung heraus durch
einen angestrengten Denkakt das Gemeinsame, Typische aus der Fülle des Indi¬
viduellen zu abstrahieren, sondern er gelangt zum Typischen auf die entgegen¬
gesetzte Weise. Die wenigen Kategorien, über die er verfügt, müssen die ganze
Masse der Erscheinungen und der Erfahrungen umfassen. Dazu kommt, daß im
Wesen der Tradition schon eine Tendenz der Typisierung liegt. Die immer
wiederholte Verwendung derselben Helden und derselben Situationen mußte
notwendig zum Typischen führen. Wir haben typische Personen, typische Hand-
lungen, einen typischen Märchenschauplatz. Typisch sind auch die seelischen
Grundlagen der Handlung. Immer kehren dieselben Personen wieder, Jäger,
Fischer, Schiffer (bei den seeanwohnenden Völkern), Zauberer, Häuptlinge,
Häuptlingssöhne, der Mann, die Frau, das Mädchen, das Kind schlechthin.
Wir haben immer dasselbe Fundament der Handlung: eine Person wird auf
irgendeine Weise zum Verlassen des Ortes gebracht, und auf dem Wege oder
am Ziele begegnet ihm sein Abenteuer oder eine Reihe von Abenteuern. Es
sind immer dieselben allgemein menschlichen Handlungen, die den novellistischen
Kern des Märchens ausmachen, und die zumeist auf einer Störung der Ord¬
nung des Gemeinschaftslebens beruhen: eine gefährliche Werbung, gewaltsamer
Vrautraub, verfloßne Kinder, durch Sturm Vertriebne Schiffer, in die Gewalt
von Kannibalen geratne Jünglinge oder Mädchen, Auszüge auf die Jagd oder
in den Krieg usw. Ebenso haben die übernatürlichen Motive durch Auslese und
immer wiederkehrende Verwendung schon bei den Wilden typischen Charakter
bekommen. Ich habe schon eine Auslese dieser Märchenbestandteile gegeben, hier
kommt es nur darauf an, zu betonen, daß sie schon auf der primitiven Ent¬
wicklungsstufe durch ihre häufige Anwendung typisch geworden sind.
Wir haben nun noch den dritten Punkt in Betracht zu ziehn, der für die
Entwicklung des spezifischen Charakters des Märchens von größter Bedeutung
ist, und der ebenfalls in der primitiven Zeit schon im Werden ist, das ist die
Neigung zum Extrem. Im allgemeinen sind die primitiven Menschen noch
sparsam mit der Hyperbolisierung von Handlungen und Eigenschaften, weil ihre
Phantasie noch gebunden ist, und weil sie den Gegensatz des Natürlichen und
des Übernatürlichen noch nicht bewußt empfinden. Doch legen auch sie schon
ihren Helden über das gewöhnliche Maß hinausragende Stärke und gewaltigen
Mut bei. Auch sie wissen schon von Stöcken, die in die Erde gesteckt bis in
den Himmel wachsen. Aber eigentlich wirksam zu werden fängt dieses Prinzip
erst an, nachdem das Märchen über den primitiven Kreis hinausgewachsen ist,
und das Übernatürliche als solches empfunden wird.
Das Märchen gehört zu der mündlichen Erzühlungsliteratur. Aus dieser
Tatsache ergeben sich nun noch einige weitere Entwicklungsbedingungen, die
wenigstens kurz skizziert werden müssen. Erzähler und Hörer stehn im engsten
Kontakt miteinander, im Banne einer gemeinsamen Stimmung. Im Banne
dieser Stimmung werden die stärksten Gefühle im Hörer wach, die um so ele¬
mentarer sind, je triebmäßiger das Seelenleben ist. Der Ausbruch der Gefühle
wird weder beim Kinde noch beim Naturmenschen durch den hemmenden Willen
und den regulierenden Verstand eingeengt. Teilnahme und Mitleid auf der
einen, Haß und Furcht auf der andern Seite begleiten den Verlauf der Er¬
zählung von den Abenteuern des Helden. Diese innere Erregung der Hörer
wirkt nun belebend auf den Erzähler zurück; sie steigert seine eigne Teilnahme
zu erhobner, rauschähnlicher Stimmung, die zu unmittelbarem, momentanen
Schaffen aufregt. Zunächst wird diese Gemeinsamkeit der erregten Stimmung
auf die äußere Form einwirken, indem sie den Erzähler zu immer lebendigerer,
eindrucksvollerer Darstellung aufreizt. Und in Wahrheit ist das primitive Märchen
lebendiger, anschaulicher, wenn man so sagen könnte, aktueller als das Märchen
der Kulturvölker. Es fehlt ihm durchaus der epische Fluß, aber auch Ordnung
und Zusammenhang.
Nun überträgt sich aber auch die innere Teilnahme der Erzähler wie der
Hörer — die, wie gesagt, immer aufeinander einwirken — auf die handelnden
Personen, und zwar in der Form, daß sich beide mit dem Helden identifizieren,
sich unbewußt an seiue Stelle träumen und so seine Erlebnisse und Gefahren
gleichsam als eigne mitempfinden. So wird das ganze Gebiet der selbstischen
Gefühle lebendig, die dann in die Person des Helden überfließen und auf ihn
alle Liebe und alles unmittelbare Interesse vereinigen, während sich auf das
böse, widerstreitende Prinzip aller Haß und alle Abscheu häuft. Dies führt
nun unmerklich dazu, daß die guten Seiten des Helden wie die bösen des
Gegenspielers im Extrem dargestellt werden. Wenn sich nun Erzähler und
Hörer mit dem Helden identifizieren, so führt die Losbindung des Mit- und
des Selbstgefühls dazu, daß der Hörer am Ende nach einem Lustgefühl ver¬
langt, das nur durch den endlichen Sieg des Helden hervorgerufen werden kann.
Deshalb ist es zu einem Prinzip des Märchens geworden, und zwar von An¬
fang her, daß es immer einen glücklichen Ausgang hat.
Und noch ein andres ist hier zu beachten. Wenn der Erzähler diese Ge¬
meinsamkeit der Stimmung, die ihm so notwendig ist, herbeiführen will, so muß
er für spannende Darstellung sorgen. Der langweilige Erzähler ist bald allein.
Deshalb ist die Spannung, die das Hauptwesen der Märchentechnik ausmacht,
ebenfalls vom Ursprung an eine der bedeutendsten technischen Bestandteile des
Märchens.
In der innern Teilnahme an dem Geschick des Helden liegt nun schon
ein ethisches Prinzip verborgen, und dem müssen nun noch einige Worte ge¬
widmet werden, weil das Ethische im Werdegange des Märchens eine bedeutende
Rolle spielt. Natürlich ist im ersten Ursprung die Erzählung noch nicht ethisch
im eigentlichen Sinne des Wortes. Das Wertungsvermögen des Primitiven
erhebt sich kaum über die Bewunderung des Kraftvollen im rein physischen
Sinne und des überlegnen Verstandes oder Witzes. Das Gute ist ihm identisch
mit dem nutzbringenden, das Böse mit dem schadenbringenden. Auf dieser
sinnlich eudämonistischen Stufe steht zum Beispiel das schon angeführte Papua-
mürchen vom bestraften Selbstsüchtigen. Hier kollidiert die Selbstsucht des
besitzesfrohen Familienvaters mit dem ebenso selbstsüchtigen Begehruugstriebe der
Familie. Bei höherstehenden Naturvölkern jedoch entwickeln sich bald sittliche
Beziehungen der Einzelnen zueinander und zu der Gemeinschaft. Brauch und
Sitte erhalten ethischen Wert. Sittlich ist die Übereinstimmung mit den For¬
derungen der Stammessitte, unsittlich der Widerspruch dagegen. Jener versteht
sich von selbst, dieser wird geahndet. Hier fließt nun schon eine reiche Quelle
für das primitive Märchen. Es sind ja immer nur Jndividualtngenden, die
ihren Platz im Märchen finden, und so finden wir denn schon in den primitiven
Geschichten die Verwandtenliebe, besonders die Affekte der Kindesliebe, wir
finden die Tugend der Hilfsbereitschaft, der Dankbarkeit, der Geselligkeit in rein
Primitiven Märchen. Zu eigentlicher Entfaltung kommt jedoch die fortschreitende
Ethisterung des Märchens erst in den höhern Entwicklungsstufen.
Hiermit hätten wir denn in flüchtigen Umrissen den Ursprung und die
erste Entwicklung des Märchens bis an die Schwelle der primitiven Zeit dar¬
gestellt. Und in der Tat bieten die entwickeltem Märchen der weiter fort-
geschrittnen Naturvölker alle wesentlichen Grundzüge unsers Volksmärchens im
Kerne wenigstens dar. stofflich: ein Abenteuer oder eine gewisse Reihe von
Abenteuern; dem Wesen nach: Verbindung von Natürlichem und Übernatürlichem
und Anfang einer ethischen Durchdringung; technisch: Sprunghafte Darstellung,
Gruppierung der Handlung um einen einzigen Helden, Verallgemeinerung und
Typisterung, Neigung zum Extrem. In dieser Richtung geht dann die Ent¬
wicklung des Märchens weiter. Der geläuterte Geschmack eines höher gebildeten
Volks vermag sich nicht mehr an endlos langen Erzählungen zu vergnügen.
Unter dem Einfluß der Typisierung erstarren die Motive zu stereotypen Formeln,
der Prozeß der Ethisterung schreitet fort. Sobald das Märchen in die Sphäre
der höhern Kultur tritt, verliert das Wunderbare seinen Wirklichkeitswert. Man
empfindet das Übernatürliche als solches, und die Neigung gibt sich kund, es
zu steigern und zu häufen, und doch andrerseits wieder, um die Illusion fest¬
zuhalten, der Wirklichkeit dadurch anzunähern, daß es, wenn auch nur roh,
motiviert wird. So wird das im Papuamärchen unmotivierte Motiv von den
herausgenommnen Augen im höhern Märchen zum Thema von den gewaltsam
ausgestochnen Augen. Die übernatürlichen Motive des primitiven Glaubens¬
lebens werden Bausteine einer phantastischen Welt, der Märchenwelt, die ihren
eignen Gesetzen unterliegt. Natürlich kommt jetzt auch die Tätigkeit der freien
ungebundnen Phantasie zur Geltung. Gar manche Züge werden frisch und frei
erfunden, andre phantastisch weitergebildet. Die Entwicklung des Märchens geht
Parallel mit der Kulturentwicklung des Volkes. Es nimmt die Einzelheiten
des Kulturschatzes in gewissem Grade in sich auf. Aus den Häuptlingen werden
Könige, aus den Häuptlingssöhnen und -töchtern Prinzen und Prinzessinnen.
Jäger und Fischer kennen schon die primitiven Märchen, dazu kommen Bauern,
Schneider, Schuster, Schmiede als Trüger der Handlung. Sind einmal die
Motive zu festen Formeln erstarrt, so ist damit nicht alles Leben aus dem
Organismus des Märchens entwichen. Eben in diesem Einströmen der Kultur¬
werte, das schließlich das Märchen zu einer literarischen Kunstform, wie in
Arabien und in Indien, erhöhen kann, liegt die Beweglichkeit des innern
Mürchengefüges. In einem Lande wird dasselbe Märchen so, in einem andern,
was die Umkleidung der Handlung anlangt, ganz anders erzählt. Es erhält
eine andre Lokalfarbe. Auch die persönlichen Anschauungen und die individuellen
Eigentümlichkeiten der Erzähler kommen hier in nicht geringem Maße zur Gel¬
tung. Schließlich liegt auch in der kaleidoskopartigen Verknüpfung der einzelnen
Motive, die die Möglichkeit unzähliger Kombinationen erlaubt, eine Zeugungs¬
kraft, die eben jahrtausendelang fortgewirkt hat, und die erst der allem Volks¬
tümlichen feindliche Geist des technischen Zeitalters bei den europäischen Völkern
hat vernichten können.
LI^VS^«>^is Stockdale eines Morgens eins dem Fenster guckte, sah er Frau
Newberry selbst die Schöße eines langen, flauschigen Überziehers aus¬
bürsten, wenn sein Auge ihn nicht trügte, dasselbe Kleidungsstück, das
den Stuhl in seinem Zimmer geziert hatte. Er war über und über
bis in die Rückenhöhlung hinauf bespritzt mit nachbarlichem Nieder-
I Moyntonschmutz, was man nach der Farbe der vom Sonnenlicht hell
beleuchteten Flecke deutlich unterscheiden konnte. Ein oder zwei Tage lang war nasses
Wetter gewesen, und so war die Schlußfolgerung unwiderleglich, daß der Träger
des Rockes ganz kürzlich eine bedeutende Entfernung über Feld- und Landstraße
zurückgelegt hatte. Stockdale öffnete das Fenster und sah hinaus; Frau Newberry
drehte den Kopf. Ihr Gesicht wurde langsam rot; sie hatte niemals hübscher,
niemals rätselhafter ausgesehen. Er winkte zärtlich mit der Hand und sagte guten
Morgen; sie antwortete voll Verlegenheit, hörte im Augenblick, als sie ihn er¬
blickte, mit ihrer Beschäftigung auf und rollte den Rock, halb gereinigt, zusammen.
Stockdale schloß das Fenster. Zweifellos lag eine einfache Erklärung ihres
Tuns in den Grenzen der Möglichkeit, aber ihm fiel keine ein. Er wünschte, er
hätte den Vorfall dem Bereich der Mutmaßungen entzogen und auf der Stelle eine
Bemerkung darüber gemacht.
Doch obwohl Lizzy im Augenblick keine Erklärung gegeben hatte, brachte sie
die Sache bei ihrer nächsten Begegnung zur Sprache. Sie plauderte mit ihm von
etwas andern: und bemerkte, das sei um die Zeit gewesen, als sie gerade die alten
Kleider, die ihrem armen Mann gehört hatten, reinigte.
Sie halten sie ans Pietät für ihn sauber? fragte Stockdale unsicher.
Ich lüfte und dürfte sie manchmal, sagte sie mit der entzückendsten Unschuld
von der Welt.
Kommen tote Männer ans ihren Gräbern, um im Schmutz spazieren zu gehn?
murmelte der Geistliche, dem bei ihrer Hinterlist der kalte Schweiß ans der
Stirn stand.
Was sagten Sie? fragte Lizzy.
Nichts, nichts, entgegnete er gramvoll. Bloß Worte — ein Satz, der in
meine Predigt für nächsten Sonntag paßt. Es war nur zu klar, Lizzy wußte nichts
davon, daß er auf den Schößen des verräterischen Überziehers dicke Schmutzspritzer
gesehen hatte, und sie wollte ihn glauben machen, er käme direkt aus einem Schrank
oder einer Schublade.
Hierdurch gewann der Fall ein bedeutend dunkleres Ansehen. Stockdale war
so niedergeschlagen, daß er weder Aufklärung von ihr forderte, noch ihr drohte,
als Missionar zu irgendwelchen in geistiger Umnachtung lebenden Insulanern auf
und davon zu gehn, noch überhaupt ihr irgendeinen Vorwurf machte. Er ging einfach
von ihr, nachdem sie ausgeredet hatte, und lebte mit seinen quälenden Zweifeln
weiter, bis allmählich sein natürliches Benehmen traurig und gezwungen wurde.
Der folgende Donnerstag war veränderlich, naß und bedeckt. Stockdale hatte
sich am Morgen nach Knollsea begeben, um einem Gedächtnisgottcsdienst beizu¬
wohnen; bei seiner Rückkehr begegnete ihm die reizende Lizzy im Flur. Sei es
nun. daß der auffallende Frohsinn, der ihm den ganzen Tag über eigen gewesen,
ihn beeinflußte oder die Fahrt in der frischen Luft oder auch natürliche Neigung.
Vergangnes ruhen zu lassen — er ließ sich betören, die Überzieherepisode zu ver¬
gessen. 'So verbrachte er einen ganz angenehmen Abend, zwar nicht gerade in ihrer
Gesellschaft, aber ihr doch nahe genug, daß er ihre Stimme hören konnte, während
sie mit der Mutter plaudernd in der Hinterstube saß, bis die alte Frau zu Bett
ging. Gleich nachher zog sich Frau Newberry zurück, und auch Stockdale schickte
sich an, nach oben zu gehn. Doch ehe er das Zimmer verließ, stand er ein Weilchen
vor der glimmenden Glut und dachte lange nach über dies und jenes. Erst als
seine Kerze in der Tülle aufflackerte, dunkel wurde und plötzlich erlosch, rührte er
sich. Er wußte, daß Zunderbüchse, Lunte und eine zweite Kerze in seinem Schlaf¬
zimmer waren, so tastete er sich ohne Licht die Treppe hinauf. In seinem Zimmer
angekommen, fühlte er in jedem erdenklichen Winkel oder Sims nach dem Feuer¬
zeug, jedoch lttugere Zeit vergebens. Nachdem er es endlich gefunden, schlug Stock¬
dale einen Funken, der den Zunder zum Glimmen brachte, als er im Gang ein
Geräusch zu vernehmen wähnte. Er blies stärker in den Zunder, der Schwefel¬
faden flammte auf, und bei dem blauen Licht durch die Tür blickend, die die Zeit
über offen gestanden, sah er zu seiner Überraschung die Gestalt eines Mannes nach
der Treppe gleiten, augenscheinlich in der Absicht, unbemerkt zu entkommen. Die
Person trug dieselben Kleider, die Lizzy ausgebürstet hatte, und ein Etwas im
Umriß und Gang brachte den Prediger auf den Gedanken, es sei Lizzy selbst.
Aber er war dessen nicht sicher. In höchster Aufregung beschloß er, das Ge¬
heimnis zu untersuchen, und zwar auf seine Weise. Er drückte den Schwefelfaden
aus, ohne die Kerze anzuzünden, trat hinaus in den Gang und schlich auf Zehen
nach Lizzys Zimmer. Ein mattes, graues Lichtviereck in der Richtung des Fensters
sagte ihm, sobald er näher gekommen, daß die Tür offen stand, und legte es ihm
sogleich nahe, daß die Bewohnerin weg war. Er drehte sich um und schlug mit
der Faust auf das Treppengeländer: Sie wars! In ihres toten Mannes Rock
und Hut!
Einigermaßen erleichtert, daß kein Eindringling im Spiele war, doch trotzdem
höchlich überrascht, schlüpfte der Prediger die Treppe hinab, zog leise die Stiefel
c>n, nahm Überrock und Hut und versuchte, die vordere Haustür zu öffnen. Sie
war wie sonst verschlossen; daraufging er zur Hintertür, fand diese offen und trat
in den Garten hinaus. Die Nacht war mild, kein Mond schien, es hatte eben erst
mit regnen aufgehört. Hin und wieder tropfte es stark von den Bäumen und
Büschen, wenn der vorüberstreifende Wind die Äste schüttelte. Zwischen die,em
Geräusch hörte Stockdale schwache Tritte draußen auf der Straße und erriet nach
dem Schritt, daß es Lizzy sein müsse. Er folgte dem Schall, und da der Wind
aus der Richtung wehte, nach der sich die Gestalt bewegte, kam er ihr ganz nahe
und hielt sich so, ohne Gefahr zu laufen, daß sie ihn hörte. So ging er ihr nach
die Straße oder Gasse entlang, wie man sie nun bezeichnen mag, da auf beiden
Seiten mehr Hecken als Häuser waren, als aus einer der Hüttentüren ihr jemand
entgegenkam. Lizzy blieb stehn; der Prediger trat auf das Gras und stand auch.
Frau Newberry? sagte der Mann, der herausgekommen war, und den Stock-
dale der Stimme nach als eines der frömmsten Mitglieder seiner Gemeinde
erkannte.
Ja, ich bins, sagte Lizzy.
Ich bin fix und fertig. Schon ne Viertelstunde hier.
Ach, Hans, sagte sie, ich bringe schlechte Nachricht. Unser Wagnis heut Nacht
ist in Gefahr.
Was Sie nicht sagen! Ich hab schon so was geträumt.
Ja, sagte sie hastig. Sie müssen sofort hin, wo unsre Leute warten, und ihnen
sagen, daß sie vor morgen Nacht um diese Zeit nicht gebraucht werden. Ich werde
gehn und den Lngger abbrennen.
Ich gehe auch, sagte er und machte sich im Augenblick durch das Gatter davon,
während Lizzy ihren Weg fortsetzte.
Weiter trippelte sie mit beschleunigtem Schritt, bis die Gasse in die Chaussee
mündete; sie kreuzte diese und bog in den Weg nach Ringsworth ein. Hier bestieg
sie ohne das geringste Zaudern den Hügel, ging an dem einsamen Weiler Holworth
vorüber und das Tal nach der andern Seite hinab. Nach dieser Richtung hatte
Stockdale niemals ausgedehnte Spaziergänge unternommen, doch wußte er, daß
sie dieser Weg schließlich in die Nähe der Küste führen mußte, die zwei bis drei
Meilen von Nieder-Moynton entfernt war; und da es bei ihrem Weggehn ein
viertel auf zwölf Uhr gewesen war, so schien ihre Absicht zu sein, die See gegen
Mitternacht zu erreichen.
Lizzy bestieg nun einen kleinen Erdhügel, den Stockdale gleichzeitig geschickt
zur Linken umging; ein dumpfes, einförmiges Brüllen schlug an sein Ohr. Der
Hügel war ungefähr fünfzig Mrds von der Spitze der Klippen entfernt und mochte
bei Tage ungehemmte Aussicht über die Bucht gewähren. Der Himmel war hell
genug, um deu Umriß ihrer verkleideten Gestalt zu zeigen, sobald sie den Gipfel
erreicht hatte, wo sie stehn blieb und sich gleich darauf hinsetzte. Stockdale, der
sie in diesem Augenblick um keinen Preis erschrecken, ihr aber doch nahe sein wollte,
ließ sich auf Hände und Knie nieder, kroch ein wenig höher hinauf und verhielt
sich dann still.
Der Wind war eisig, das Erdreich feucht, und seine Lage derart, daß er nicht
lange darin aushalten konnte. Ehe er jedoch darüber schlüssig geworden, sie zu
ändern, hörte er Stimmen hinter sich. Was sie bedeuteten, wußte er nicht; doch
er fürchtete, daß Lizzy in Gefahr wäre, und wollte eben hervorkommen, um sie zu
warnen, daß sie gesehen werden könne, als sie hinter einen kleinen Busch kroch,
der ans diesem dem Wetter ausgesetzten Platz ein kümmerliches Dasein fristete. Ihre
Gestalt verschwand in dem dunkeln, verkrüppelten Umriß des Busches, wie wenn
sie ein Teil davon geworden wäre. Augenscheinlich hatte sie die Männer so gut
wie er gehört. Sie gingen dicht an ihm vorüber und sprachen laut und achtlos
miteinander, sodaß das Gespräch den ununterbrochnem Anprall der Brandung über¬
tönte; offenbar schien ihr Unternehmen nicht auf eigne Gefahr. Dies erwies sich
als Tatsache. Einige Worte wehten zu ihm herüber und ließen ihn sogleich die
Kälte seines Lagerplatzes vergessen.
Was ists für 'n Schiff?
Ein Lugger zu etwa fünfzig Tonnen.
Wohl von Cherbourg?
Ja, ich glaube.
Aber ganz gehört er doch nicht dem Owlett?
O nein. Der hat bloß einen Anteil. Da sind noch einer oder zwei dabei
beteiligt — ein Farmer oder so was. Namen weiß ich aber keine.
Die Stimmen verwehten, und die Kopfe und Schultern der Männer wurden
kleiner, als sie nach der Klippe hin schritten, bis sie außer Sehweite waren.
Mein Lieb ist in Versuchung geführt worden, von dem ungläubigen Owlett
einen Anteil zu kaufen, stöhnte der Prediger, dessen Liebe zu Lizzy in diesen
Minuten, wo ihre Person und ihr guter Name in Gefahr waren, ihren Höhepunkt
erreichte. Deshalb ist sie hier, sagte er bei sich selbst. O, es wird ihr Ver¬
derben sein!
Seine Seelenangst wurde durch einen plötzlich aufflammenden und an Hellig¬
keit zunehmenden Lichtschein unterbrochen, der an der Stelle sichtbar wurde, wo
Lizzy im Versteck lag. Wenige Sekunden später, ehe es noch hoch aufloderte, hörte
er sie an ihm vorüber in die Senkung stürzen, wie ein Stein, der aus einer
Schleuder geschnellt wird, und weiter, in der Richtung heimwärts. Das Feuer flammte
jetzt hoch und breit und ließ seinen Ursprung klar erkennen. Sie hatte einen
Ginsterzweig angezündet und ihn in den Busch gesteckt, unter dem sie verborgen
gekauert hatte; der Wind blies die Flamme an, die heftig knisterte und sowohl den
Busch als den Zweig zu verzehren drohte. Stockdale blieb noch so lange, um dies zu
beobachten, und verfolgte dann eilig den Weg, den die junge Frau eingeschlagen
hatte. Seine Absicht war, sie zu überholen und sich als Freund zu erkennen zu
geben; aber so schnell er mich lief, er konnte nichts von ihr entdecken. Er stürzte
über das freie Feld um Holworth, verrenkte sich Beine und Knöchel in unvorher¬
gesehenen Löchern und Senkungen, kam endlich an das Gatter zwischen den Feldern
und der Landstraße, wo er stehn bleiben mußte, um wieder zu Atem zu kommen.
Weder vor noch hinter ihm war das leiseste Geräusch zu hören, und er schloß
daraus, daß sie nicht vor ihm hergelaufen war, sondern ihn hinter sich gehört und
im Glauben, es sei einer der Zollbeamten, sich irgendwo am Wege versteckt hatte,
um ihn vorbeizulassen.
In gemäßigteren Schritt ging er nun dem Dorfe zu. Seine Vermutung er¬
wies sich, sobald er das Haus erreicht hatte, als zutreffend; denn die Gartenpforte
war nur eingeklinkt, die Tür unverriegelt, ganz wie er sie verlassen hatte. Stock¬
dale schloß die Tür hinter sich und wartete schweigend im Gang. Nach ungefähr
zehn Minuten hörte er wieder den leichten Schritt wie vorher, als er das Haus
Waffen hatte; er hielt an der Gartentür inne, die geöffnet und leise wieder ge¬
schlossen wurde, dann bewegte sich die Türklinke, und Lizzy trat ein.
Stockdale kam hervor und sagte sogleich: Erschrecken Sie nicht, Lizzy. Ich
den ausgeblieben und habe auf Sie gewartet.
Sie fuhr zusammen, obwohl sie die Stimme erkannt hatte. Herr Stockdale,
nicht wahr? sagte sie.
Ja. antwortete er. Nun sie sicher im Hause war und sich nicht beunruhigt
zeigte, regte sich in ihm der Zorn. Und das ist ja ein nettes Unternehmen, bei
dem ich Sie heut Nacht ertappt habe. Sie sind in Mannskleidern, und ich schäme
mich für Sie!
Lizzy konnte kaum einen Ton in ihrer Kehle finden, um diesen unerwarteten
Vorwurf zu beantworten.
Ich bin nur teilweise in Mannskleidern, stammelte sie, nach der Wand zurück¬
weichend. Ich hab bloß seinen Überrock und Hut und Beinkleider an, und das ist
nichts Böses, weil er doch mein eigner Mann war. Und ich tus nur, weil ein
Mantel so fliegt, und man die Arme nicht brauchen kann. Und ich habe doch mein
Kleid noch darunter — es ist nur eingestopft! Wollen Sie nicht jetzt nach oben
gehn und mich vorbeilassen? Es ist mir gar nicht lieb, daß Sie mich zu solcher
Stunde sehen!
Aber ich habe ein Recht, Sie zu sehen! Wie können Sie denken, daß jetzt
noch eine Verbindung zwischen uns möglich ist? Lizzy schwieg. Sie sind eine
Schmugglerin, fügte er traurig hinzu.
Ich habe nur einen Anteil beim Umsatz, sagte sie.
Das macht keinen Unterschied. Wie konnten Sie sich nur auf solchen Handel
einlassen und mirs die ganze Zeit verheimlichen?
Ich tus ja nicht immer. Bloß im Winter beim Neumond.
Das wird wohl sein, weils zu keiner andern Zeit ausführbar ist. Sie haben
mich vollkommen aus der Fassung gebracht, Lizzy.
Das tut mir leid, entgegnete Lizzy sanft.
Nun denn, sagte er freundlicher, bisher ist ja noch nichts Böses geschehen.
Wollen Sie nnn um meinetwillen dieses tadelnswerte und gefährliche Gewerbe ein
für allemal aufgeben?
Ich muß mein Bestes tun, diese Ladung zu retten, sagte sie mit bedeckter
Stimme. Ich möchte Sie nicht aufgeben — das wissen Sie; aber meinen Einsatz
will ich auch nicht verlieren. Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll. Ich Habs
Ihnen verheimlicht, weil ich fürchtete, Sie würden zornig werden, wenn sich
wüßten.
Das sollte ich meinen! Und wenn ich Sie nun geheiratet hätte, ehe ich dies
herausbekommen, dann hätten sich vermutlich immer so weiter getrieben?
Das weiß ich nicht. So weit voraus denke ich nicht. Heute Nacht ging ich
nur, um den Jungens zu signalisieren, weil die Zollbeamten wußten, wo die Fässer
gelandet werden sollten.
Schöne Klemme das! Wahrhaftig! sagte der junge Geistliche in seiner Ge¬
wissensnot. Was werden Sie denn nun tun?
Zögernd berichtete Lizzy im Flüsterton die einzelnen Punkte ihres Planes,
der in der Hauptsache darauf hinauslief, in der folgenden Nacht ihr Glück an einer
andern Stelle der Küste zu versuchen. Drei Landungsplätze wurden immer fest¬
gesetzt, ehe der Schmuggelversuch unternommen wurde, mit der Verabredung, daß,
wenn das Schiff von der ersten Stelle, hier Ringsworth, wegsignnlisiert würde,
die Mannschaft in der nächsten Nacht es mit der zweiten versuchen sollte, in diesem
Falle in der Lulsteadbai. Wenn auch dort Gefahr drohte, daun würden sie in
der dritten Nacht an der dritten Stelle heranzukommen versuchen; sie lag hinter
einer Landzunge weiter westlich.
Wenn nnn aber die Zvllwache auch dort die Landung verhindert? sagte er,
ganz Ohr für dies interessante Programm, das seinen Unmut über ihren Anteil
daran für den Augenblick zurücktreten ließ.
Dann werden wir für diese Dunkelheit keinen Versuch weiter machen — so
nennen wir die Zeit zwischen zu- und abnehmendem Mond —, vielleicht binden
sie dann die Fäßchen an eine Logleine und versenken sie ein kleines Stück vom
Ufer ab und messen die Entfernung. Und wenn sie dann Gelegenheit haben,
kriechen sie danach.
Was ist das?
O, sie fahren mit einem Boot hinaus und lassen einen Kriecher — das ist
ein Enterhaken — auf dem Grunde nachschleppen, bis er die Leine gefaßt hat.
Der Prediger stand nachdenklich. Kein Ton war im Hause hörbar als das
Ticken der Uhr im Flur und Lizzys schnelles Atmen, teils durch ihren Weg, teils
durch die Aufregung verursacht. Sie stand dicht an der Wand, und es war nicht
so finster, daß er nicht den Überrock und den breiten Hut von der weißgetünchten
Fläche unterscheiden konnte.
Lizzy, all dies ist sehr unrecht, sagte er. Haben Sie die Geschichte vom Zins¬
groschen vergessen? „Gebet dem Cäsar/was des Cäsars ist." Das haben Sie doch
von Kind an oft genug vorlesen hören?
Cäsar ist tot, schmollte sie.
Aber der Geist dieses Wortes ist nichtsdestoweniger lebendig.
Mein Vater tat es, und mein Großvater auch, und fast alle Leute in Nieder-
Moynton leben davon. Und wenn dies nicht wäre, dann wäre das Leben so lang¬
weilig, daß ich gar nichts danach fragen würde.
Ich komme natürlich nicht in Betracht, erwiderte er bitter. Sie würden es
nicht für der Mühe wert achten, dies wilde Gewerbe aufzugeben und nur für mich
zu leben?
So hab ichs noch nie angesehen.
Und Sie wollen mir nichts versprechen und warten, bis ich so weit bin?
Ich kann Ihnen heut Nacht nicht mein Wort geben. Nachdenklich vor sich
hin schauend, schlüpfte sie allmählich von ihm weg, ging in das nächste Zimmer
und schloß die Tür zwischen sich und ihm. Dort blieb sie im Dunkeln, bis er, des
Wartens müde, in sein Zimmer hinaufgegangen war.
Den ganzen nächsten Tag war der arme Stockdale furchtbar niedergeschlagen
von den Entdeckungen der vergangnen Nacht. Lizzy war zweifellos eine bezaubernde
ringe Frau, aber als Gattin eines Geistlichen war sie kaum in Betracht zu ziehen.
Wenn ich nur bei meines Vaters Kanfmannsgeschäft geblieben wäre, statt in den
geistlichen Stand zu treten! Dann würde sie wunderbar zu mir gepaßt haben!
sagte er trübselig, bis ihm einfiel, daß er in diesem Fall niemals von seinem
fernen Heimatsort nach Nieder-Moynton gekommen sein und sie nie kennen gelernt
haben würde.
Die Entfremdung zwischen ihnen war zwar nicht vollkommen, genügte aber
doch, daß eines des andern Gesellschaft mied. Einmal im Laufe des Tages traf
er sie auf dem Gartensteig und sagte mit vorwurfsvollem Blick: Wollen Sie mir
versprechen, Lizzy? Aber sie gab keine Antwort. Der Abend kam heran, und er
wußte sehr wohl, daß Lizzy ihren nächtlichen Ausflug wiederholen würde — ihr
halb beleidigtes Benehmen hatte gezeigt, daß es nicht im geringsten ihre Absicht
war, gegenwärtig ihre Pläne zu ändern. Seine eigne Rolle bei dem Abenteuer
wünschte er nicht zu wiederholen; aber er konnte anfangen, was er wollte, seine
Unruhe um ihretwillen stieg, je mehr sich der Tag neigte. Wenn er sich vorstellte,
daß sie ein Unfall treffen könnte, würde er sichs nie verzeihen, nicht zu ihrem
Beistand zur Stelle gewesen zu sein, so sehr ihm auch der Gedanke, man könne
ihn der Begünstigung solcher gesetzwidrigen Streiche verdächtigen, verhaßt war.
Wie er erwartet hatte, verließ sie das Haus in der Nacht zu derselben
Stande, diesmal ohne Heimlichkeit an seiner Tür vorübergehend, wie wenn sie
recht gut wüßte, daß er wachte, und entschlossen wäre, seiner Mißbilligung zu trotzen.
Er war ganz bereit, öffnete rasch die Tür und erreichte die Hintertür fast gleich¬
zeitig mit ihr.
Sie wollen also gehn, Lizzy? sagte er, sobald er auf der Schwelle neben ihr
stand, die nun wieder als kleiner Mann erschien mit einem Gesicht, das durchaus
nicht zum Anzug paßte.
Ich muß, sagte sie, von seinem strengen Ton eingeschüchtert.
Dann werde ich auch gehn, sagte er.
Und ich bin überzeugt, Sie haben Ihre Freude dran! rief sie lebhafter. Das
hat jeder, der es einmal versucht.
Verhüte Gott, daß ich mich darüber freuen sollte! sagte er. Aber ich muß
auf Sie acht geben.
Sie öffneten das Pförtchen und gingen mit einem kleinen Abstand eins neben
dem andern die Straße hinauf, fast ohne ein Wort zu wechseln. Der Abend war
zum schmuggeln weniger geeignet als der vorige, da der Wind schwächer und der
Himmel gegen Norden ziemlich klar war.
Es ist etwas Heller, sagte Stockdale.
Ja, leider, sagte sie. Aber das machen nur die paar Sterne da drüben.
Heut um vier Uhr war Neumond, und ich glaubte, es würde wolkig werden. Ich
hoffe, Wir werden es während dieser Dunkelheit tuu können, denn wenn wir sie
für längere Zeit versenken müssen, dann nimmt das Zeug einen brackigen Geschmack
an, und das mögen die Leute nicht so gern.
Ihr Weg war ein andrer als in der vergangnen Nacht; sobald sie die Straße
verlassen und die Chaussee gekreuzt hatten, bogen sie linker Hand über die Herren¬
halde ab. Als sie die Chcildonniederung erreicht hatten, war Stockdale, bisher
voll Unsicherheit, was er zu ihr sagen sollte, zu dem Entschluß gekommen, jetzt
keine Ermahnungen zu versuchen. Sie war erregt über das Abenteuer; so wollte
er warten, bis es vorüber war, und sich bemühen, sie in Zukunft von solchem
Treiben zurückzuhalten. Ein oder zweimal fiel es ihm während ihres Marsches
ein, daß, sofern die Zollbeamten sie abfaßten, seine Lage schwieriger sein möchte
als die ihre, da es schwer halten würde, das wahre Motiv seiner Anwesenheit zu
beweisen; diese Gefahr siel jedoch neben seinem Wunsch, ihr nahe zu sein, nicht
schwer ins Gewicht.
Sie kamen nun an eine Schlucht an der Grenze von Chelidon, ein Dorf, das
zwei Meilen ans ihrem Wege nach dem gesuchten Küstenpunkt lag. Diesmal brach
Lizzy das Schweigen: Ich muß hier warten, um die Träger zu treffen. Ich weiß
nicht, ob sie schon gekommen sind. Wie ich Ihnen sagte, gehn wir heut Nacht
nach der Lulsteadbai, und die ist zwei Meilen weiter als Ringsworth.
Es erwies sich, daß die Männer schon da waren; während sie sprach, tauchten
zwei bis drei Dutzend Köpfe über der Linie des Abhangs auf, und ein Trupp kam
sogleich hinter den Büschen vor, wo sie versteckt gelegen hatten. Diese Träger
waren Leute, die von Lizzy und den übrigen Teilhabern regelmäßig damit betraut
wurden, die Fässer vom Schiff nach einem Jnlandversteck zu bringen. Es waren
lauter junge Bursche aus Nieder-Moynton, Chaldon und Umgegend, ruhige, gut¬
artige Leute, die den Transport der Ladung für Lizzy und ihren Vetter Owlett
ohne Umstände übernahmen, ganz so, wie sie jede andre Arbeit gegen entsprechende
Bezahlung verrichtet hätten.
Auf ein Wort von ihr traten sie zusammen. Besser, ihr nehmt es jetzt,
sagte sie zu ihnen und reichte jedem ein Päckchen. Es enthielt sechs Schillinge,
ihre Bezahlung für das nächtliche Unternehmen, die ohne Rücksicht auf Gelingen
oder Fehlschlag vorher verabfolgt wurde; außerdem hatten sie aber das Vorrecht,
als Agenten den Verkauf zu vermitteln, sofern der Schmuggel glückte. Als sie
fertig war, sagte sie ihnen: Es ist der alte Platz in der Lulsteadbai. Bisher
war ihnen aus klarliegenden Gründen nicht gesagt worden, wohin sie zu gehn
hatten. Owlett wird euch dort treffen, fügte Lizzy hinzu, ich werde hinter auch
gehn, damit ich sehen kann, ob wir nicht beobachtet werden.
Die Träger setzten sich in Bewegung, und Stockdale und Frau Newberry
folgten einen Steinwurf hinter ihnen. Was tun diese Leute am Tage? fragte er.
Zwölf oder vierzehn von ihnen sind Arbeiter. Einige Ziegelstreicher, ein Paar
Zimmerleute, Schuhmacher und Strohdachdecker. Ich kenne sie alle sehr gut. Neun
gehören zu Ihrer Gemeinde.
Dafür kann ich nichts, sagte Stockdale.
O, ich weiß es. Ich sage es Ihnen nur. Die andern sind mehr für die
Hochkirche, weil sie dem Pfarrer alle Spirituosen, die er braucht, besorgen, und
gegen einen Kunden wollen sie nicht unfreundlich sein.
Wonach suchen Sie sie aus? fragte Stockdale.
Nach ihrer Verschwiegenheit; auch müssen sie kräftig und sicher auf den Beinen
sein und imstande, eine schwere Last weit zu tragen, ohne müde zu werden.
Stockdale seufzte, als sie diese Einzelheiten aufzählte; es bewies, wie tief ver¬
strickt eine Frau sein mußte, die mit deu Bedingungen und Erfordernissen des
Gewerbes so vertraut war. Und doch fühlte er sich in diesem Augenblick zärt¬
licher zu ihr hingezogen, als den ganzen vorigen Tag lang. Vielleicht kam das
daher, daß ihre sichre Erfahrung und ihre kühne Kaltblütigkeit wider Willen seine
Bewunderung erregten.
Nehmen Sie meinen Arm, Lizzy, flüsterte er.
Ich brauche ihn nicht, sagte sie. Außerdem sind wir vielleicht nie mehr eins
dem andern das, was wir früher gewesen.
Das hängt von Ihnen ab, sagte er, und sie gingen weiter.
Die gedungnen Träger marschierten über die Chaldonniederung ohne das
geringste Zögern, als wenn es Heller Tag wäre. Sie vermieden den Fahrweg,
ließen das Dorf Ost-Chaldon links liegen, sodaß sie die Hügelkuppe an einer öden,
weglosen Stelle erreichten, nicht weit von einem alten Erdwall, der die Runde
Hürde genannt wurde. Ein einstündiger, rascher Marsch brachte sie in Hörweite
der See, ein paar hundert Dards von der Lulsteadbai. Hier machten sie Halt.
Lizzy und Stockdale holten sie ein, und sie gingen zusammen an den Rand der
Klippe. Einer der Männer zog nun eine Eisenstange hervor, trieb sie ein Mrd
vom Rand ab fest in den Erdboden und befestigte daran ein Seil, das er von
seinem Leib loswickelte. Darauf schickten sich alle zum Abstieg an, halb gehend,
halb gleitend, während das Seil durch ihre Hände schlüpfte.
Sie werden nicht bis in den Grund gehn, Lizzy? sagte Stockdale ängstlich.
Nein, ich bleibe hier und halte Wache, sagte sie. Owlett ist unten.
Die Männer verhielten sich vollkommen still, als sie den Strand erreichten;
was den beiden auf der Spitze zunächst hörbar wurde, war das Eintauchen
schwerer Ruder und das Anschlagen der Wellen gegen den Bug eines Bootes.
Einen Augenblick später berührte der Kiel leise das Geröll, und Stockdale hörte
die Tritte der sechsunddreißig Träger, die über die Kiesel nach der Landungs¬
stelle liefen.
Ein Plätschern im Wasser, wie wenn ein Entenschwarm taucht, ließ merken,
daß die Leute nicht besonders achtsam waren, ihre Beine oder sogar ihren Leib
Vor dem Salzwasser zu hüten; doch zu sehen, was sie leiten, war unmöglich, bis
nach ein paar Minuten wieder Tritte auf dem Kies knirschten. Die das Seil
haltende Eisenstange, ans der Stockdales Hand ruhte, fing an, sich ein wenig zu
biegen, und die Träger kamen einer nach dem andern zum Vorschein, hörbar
tropfend, als sie den Abhang hinaufkletterten und sich an dem führenden Seil fest¬
hielten. Sobald die einzelnen den Gipfel erreichten, sah man, daß jeder ein Paar
Fäßchen trug, eins auf dem Rücken und eins auf der Brust; beide waren mit
Stricken aneinandergebuuden, die dnrch die Schlußreden geleitet waren und auf
des Trägers Schultern ruhten. Einige der stärkern Männer trugen drei, indem
sie noch eins ans das Hintere gestellt hatten; aber die übliche Last waren zwei, die
schwer genug wogen, daß der Träger nach einem Marsch von vier bis fünf Meilen
das Gefühl hatte, als wären ihm Rückgrat und Brust zusammengewachsen.
Wo ist Owlett? fragte Lizzy einen von ihnen.
Der kommt nicht diesen Weg herauf, antwortete der Träger. Er muß am
Strande bleiben, bis wir sicher auf und davon sind. Darauf stiegen die vordersten
Leute, ohne auf die andern zu warten, in die Ebene hinab. Sobald der letzte
oben war, zog Lizzy das Tau nach, wand es um ihren Arm, drehte die Eisen¬
stange aus dem Boden und wandte sich um, den Trägern zu folgen.
Sie sind sehr besorgt um Owletts Sicherheit, sagte der Prediger.
Hat man je einen solchen Mann gesehen! rief Lizzy. Ja, ist er denn nicht
mein Vetter?
Ja ja. Schwere Arbeit für eine Nacht, sagte Stockdale bedrückt. Aber ich
Will Ihnen die Stange und das Tau tragen.
Gottlob, soweit sind die Fässer nun glücklich gekommen, sagte sie.
Stockdale schüttelte den Kopf, nahm die Stange und schritt an ihrer Seite
in die Ebene hinab. Das Murren der Brandung war nicht mehr hörbar.
Ist es dies, was Sie neulich meinten, als Sie mir sagten, Sie hätten Ge¬
schäftliches mit Owlett besprochen? fragte der junge Mann.
So ists, erwiderte sie. Ich sehe ihn niemals in einer andern Angelegenheit.
Ein derartiges Teilhabergeschäft mit einem jungen Mann ist sehr sonderbar.
Es wurde von meinem und seinen: Vater begonnen, die verschwägert waren.
Ihr Begleiter konnte sich gegen die Tatsache nicht blind stellen, daß, wo bei
Lizzy und Owlett Geschmack und Ziele so verwandt waren, wo bei jedem Unter¬
nehmen die Gefahr geteilt wurde, es durchaus angemessen sein würde, wenn sie
Owletts ständigen Heiratsantrag mit ja beantwortete. Dies beruhigte Stockdale
aber nicht; viel eher erregte es in ihm die Neigung, sich das Paar so ungleich
wie möglich vorzustellen und sie von dieser lichtscheuen Bande fortzulocken, zu
reputierlicher Lebensführung in ein Pfarrhaus, weit von hier in einer Jnland-
grafschaft.
(Fortsetzung folgt)
Am 9. Juli erneuerte sich das hundertjährige Gedächtnis des Friedens von
Tilsit, in dem der König von Preußen die Provinzen westlich von der Elbe und den
größten Teil seiner polnischen Lande nicht etwa abtrat, sondern von Napoleon die
alten ostelbischen Provinzen zurück erhielt, und auch das nur „aus Achtung vor dem
Kaiser aller Reußen". Demütigender, auch in den Formen, ist niemals ein Friedens¬
schluß gewesen. Heute scheinen wir von dem damaligen nationalen Tiefststande nicht
nur zeitlich, sondern auch sachlich Gott sei Dank sehr weit entfernt zu sein, und gewiß,
zwischen dem politischen Zustande Deutschlands im Juli 1807 und im Juli 1907
besteht eine breite und tiefe Kluft. Ob sie auch so breit und tief ist zwischen dem
deutschen Volke von damals und von jetzt? In vielen Beziehungen gewiß, in andern
zeigen sich leider beunruhigende Analogien, denn der Volkscharakter ändert sich nicht
so leicht. Man gibt den damaligen Zusammenbruch gewöhnlich zu ausschließlich der
Politik und den Einrichtungen des damaligen Preußen die Schuld, und diese wird
niemand leugnen. Aber das Volk, das ganze deutsche, trug eine reichliche Mitschuld.
Es war nicht nur ganz naturgemäß dem absoluten Staate entfremdet, politisch ohne
Einsicht und ohne Willen, woraus ihm kein Vorwurf erwächst, es war gerade in
seinen gebildeten Schichten grundsätzlich und bewußt staatenlos, ja staatsfeindlich, es
sah sein höchstes Ideal in der Ausgestaltung der Persönlichkeit, in dem Staate nur
einen Notbehelf, den man leidend ertrug, im Patriotismus eine Empfindung un¬
reifer Nationen, es war weltbürgerlich, einseitig in ästhetisch-literarischen Interessen
besangen; durch einen langen Frieden wohlhabend geworden und verwöhnt, konnte
es sich den schweren Ernst des Krieges und die notwendige Unerbittlichkeit seiner
Forderungen und der Opfer, die der Staat verlangte, nicht vorstellen, scheute vor
solchen ängstlich zurück, weil sie den Vorschriften der „Humanität" widersprachen.
Und doch, so unbeholfen sich dieses Volk in der Katastrophe selbst benahm, so un¬
barmherzig fiel seine Presse nachher mit leidenschaftlicher Kritik, mit Hohn und
Spott über die Institutionen und die Menschen her, die sie allein verschuldet haben
sollten. — Würde es heute in einem ähnlichen Falle nach einer schweren Nieder¬
lage des Reichs viel anders sein? Wir fürchten, nein! Welche Schlammflut bös¬
artigster Urteile und Verleumdungen hat sich bei den sogenannten „Kolonial¬
skandalen" — von dem jüngsten „Hofsknndal" reden wir aus Geschmacksrücksichten
lieber nicht — durch eiuen guten Teil unsrer Presse und leider auch durch den
Reichstag ergossen! Wie wird ewig an der kaiserlichen Politik herumgenörgelt ohne
jede wirkliche Sachkenntnis, wie wird sie bald als „ziellos", bald als „Zickzackkurs",
bald als erfolglos bezeichnet, alles ohne eine Spur von Anstandsgefühl dem Aus¬
lande gegenüber! Man denke sich nun den Fall, unsre Heere wären geschlagen,
unsre Flotte vernichtet, und der Feind stünde siegreich auf unserm Boden, wie würde
da dieselbe Presse alle Schuld auf die leitenden Männer und auf unsre „rück¬
ständigen" Institutionen werfen, welcher Hagel von Anklagen würde sich vor
allem gegen Preußen richten, an dem ja jetzt schon die liberale Presse außerhalb
Preußens kein gutes Haar läßt, weil seine innere Politik dem liberalen Stand¬
punkte — und was soll nicht alles die Flagge des Liberalismus decke», sogar die
Notwendigkeit der Feuerbestattung! — nicht entspricht und nicht entsprechen kann,
weil sie nicht jede liberale Mode mitmacht; daß Preußen das Reich geschaffen hat,
daß dieses ohne Preußen unmöglich wäre, daß das Reich nicht dadurch entstanden
ist, daß Preußen in Deutschland aufgegangen ist, wie die Phrase von 1848
lautete, vielmehr durch die Ausdehnung einer Reihe preußischer Institutionen über
das außerpreußische Drittel von Deutschland, daß der festgefügte Bau des preußischen
Staates das feste Bollwerk im Falle einer Niederlage sein würde, die einen
Bundesstaat viel schwerer erschüttern müßte als einen Einheitsstaat, das alles wird
vergessen oder wird absichtlich verschwiegen, weil es sehr unbequeme Wahrheiten
sind. Wie wenig namentlich der süddeutsche Liberalismus, dessen größte Schöpfung
die totgeborne Reichsverfassung von 1849 war, den preußischen Staat noch immer
begriffen hat, weil ihm der Sinn für die Macht noch immer fehlt, dafür gibt der
jüngst im Berliner Tageblatt veröffentlichte Brief des Freiherrn Franz von Roggen¬
bach, in dem manche Liberale während der Konfliktszeit den Nachfolger Bismarcks
sahen, einen wahrhaft monumentalen, aber auch erschreckenden Beweis. Und wird
dem Volke nicht immer nur von den Rechten des Bürgers und von der Pflicht
des Staates, für ihn zu sorgen, vorgeredet, und sehr wenig von seinen Pflichten
gegen den Staat? Sieht nicht ein großer Teil unsrer gebildeten Jugend ihr
einziges Ideal in dem „Sichausleben" des Einzelnen, ohne Rücksicht auf andre und
auf die große Gemeinschaft, in der er steht? Neigt nicht eine weitverbreitete Auf¬
fassung dazu, die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zu überschätzen, den
Staat, das Reich des bewußten Willens, zu unterschätzen? Bekämpfe nicht eine
starke Partei grundsätzlich unser erprobtes Heerwesen, die volkstümlichste Armee
der Welt, und rüttelt sie nicht fortwährend an den Grundlagen seiner Disziplin?
Der Krieg selbst gilt gar vielen nicht als die notwendige Folge der staatlichen
Souveränität, sondern als eine Barbarei, als ein Widerspruch gegen die „Humanität",
die man dnrch Schiedsgerichte und Friedenskongresse aus der Welt schaffen möchte.
Unsre Soldaten haben in Südafrika unter den schwierigsten Verhältnissen gezeigt,
daß der alte deutsche Soldatengeist noch in ihnen lebt, und sie werden das anch
auf europäischen Schlachtfeldern wieder zeigen; aber ob dieses täglich wohlhabender
werdende, durch einen langen Frieden seit mehr als einem Menschenalter ver¬
wöhnte und sittlich gewissermaßen verweichlichte Volk in seiner Masse bei einem
großen Kriege schwankenden Ganges, der uns vielleicht schwere Niederlagen bringt,
das notwendige Maß von Ausdauer und Opferwilligkeit bewähren wird, das
Volk, das schon die Opfer einer gründlichen Reichsfinanzreform scheut? Wer diese
und ähnliche Gedanken weiter verfolgen und sich über den Krieg 1806/07 von
Jena bis Tilsit, namentlich anch über das sozusagen psychologische Moment dieses
Krieges, genauer, als aus den landläufigen Darstellungen möglich ist, unterrichten
will, dem empfehlen wir angelegentlich das treffliche, vor kurzem erschienene neue
Buch des Generals Colmar von der Goltz: „Von Jena bis Preußisch-Eylau".
(Berlin, E, S. Mittler Sohn, 1907.)
Einen Zankapfel von einiger Dauerhaftigkeit zwischen Liberalen und Konservativen
scheint der Entwurf eines neuen Wahlgesetzes für die zweite sächsische Kummer
bieten zu wollen. Das übrigens mit Hilfe der Liberalen zustande gekommne Wahl¬
gesetz von 1896 hat sich so wenig bewährt und so viel Mißstimmung hervorgerufen,
daß der jetzt leitende Minister, Graf von Hohenthal und Bergen, gleich bei seinem
Amtsantritt eine Änderung in Aussicht stellte. Der von ihm bei dem sächsischen
Gemeindetage in Bautzen angekündigte Entwurf ist vor kurzem mit eingehenden
Erläuterungen amtlich veröffentlicht worden. Danach wird die zweite Kammer auf
sechs Jahre gewählt, erneuert sich also auch in diesen Fristen vollständig, nicht wie
jetzt immer nur zu einem Drittel. Weiter fällt der von den Liberalen viel¬
bekämpfte Unterschied zwischen städtischen und ländlichen Wahlkreisen weg, der ja
auch dem Halbstadtischen Sachsen mit dem Ubergewuh von Jndnstne und Handel
nickt mehr entsprach; statt dessen wird die kleinere Hälfte der 82 Abgeordneten (40)
von den Kommunalverbänden, das heißt den amtshauptmannschaftlichen Bezirks¬
verbänden und dem für diesen Fall in einem Wahlkollegium vereinigten Stadtrat und
der Stadtverordnetenversammlung der fünf größten Städte in schriftlicher, geheimer
Abstimmung gewählt, die größere Hälfte (42) in ebensoviel Wahlkreisen, die von
den fünf größten Städten (im ganzen 15) und den amtshauptmannschaftlichen Be¬
zirken gebildet werden. Die Wahl ist direkt und allgemein, insofern der Wähler
das fünfundzwanzigste Lebensjahr vollendet hat, eine direkte Staatssteuer entrichtet
und seit mindestens sechs Monaten in einem Orte des Königreichs wohnhaft ist,
aber nicht gleich; vielmehr hat jeder Wähler, der das Eigentum oder den gesetz¬
lichen Nießbrauch eines Grundstücks von mindestens 120 Steuereinheiten hat oder
ein Einkommen von mehr als 1600 Mark dem Staate versteuert oder endlich das
Einitthriafreiwilligenzcugms hat, zwei Stimmen, alle andern eine. Wählbar ist, wer
die sächsische Staatsangehörigkeit seit drei Jahren besitzt, eine direkte Staatssteuer
von mindestens dreißig Mark entrichtet und das dreißigste Lebensjahr vollendet hat.
Die Gesamtzahl der im Lande abgegebnen giltigen Stimmen wird vom Landes-
wahlkommissar durch dreiundvierzig geteilt und die so gefundne Zahl auf die nächst¬
höhere ganze Zahl gebracht. Mit dieser „Wahlzahl" wird die Zahl der von ^eder
Partei im ganzen abgegebnen Stimmen dividiert; sovielmal die Wahlzahl in der
Gesamtzahl der sür Kandidaten einer Partei abgegebnen Stimmen enthalten ist.
soviel Kandidaten der Partei müssen Abgeordnete werden. Offenbar soll durch
die Wahl der Kommunalverbände der Eintritt einer Reihe von erprobten Männern
der Selbstverwaltung in die Kammer gesichert, durch die Verhältniswahl ein ge¬
wisses, nicht schwer erreichbares, aber billiges Vorrecht nicht nur des Einkommens,
sondern auch der Bildung geschaffen, durch die Bestimmungen über die Dauer des
Wohnsitzes sür jeden Wähler die in einem Industriestaat wie Sachsen besonders
Itarke fluktuierende und mit dem Staate nur ganz lose zusammenhängende Be¬
völkerung an dem so häufigen Mißbrauch eines wichtigen politischen Rechts ver¬
hindert, durch die eigentümliche Verteilung der Abgeordnetensitze auf die einzelnen
Parteien nach ihrer Stärke nicht in dem Wahlkreise, sondern im ganzen Lande auch
den Minderheiten eine Vertretung gesichert, somit ein möglichst getreues Bub der
Volksstimmung gewonnen und allen Richtungen Gehör verschafft werden. Es
wird ganz und gar von den Konservativen, die seit 1896 in der zweiten Kammer
die weitüberwiegende, schlechthin ausschlaggebende Mehrheit haben, und wie ihren
Führern aus ihren eignen Reihen jetzt entgegengehalten wird, eine unstatthafte
..Nebenregierung" ausüben, abhängen, ob dieser scharfsinnige und von dem Be¬
streben, nach allen Richtungen Billigkeit zu üben, beseelte Entwurf Gesetz wird.
Wird er das in der Hauptsache, so könnte diese Wahlordnung auch sür andre
deutsche Staaten irnMtis wutanäis ein Vorbild werden, denn sie löst manches
schwierige Problem des Wahlrechts in glücklicher Weise, ohne dem Radikalismus
mechanischer Gleichheit zu verfallen, wie das Reichstagswahlrecht, und ohne längst
Unhaltbares halten zu wollen, wie das äsieWalgese von 1896.
Ein seltsamer Streit hat sich im deutschen Katholizismus erhoben. Die Ab¬
sicht einer Anzahl gebildeter Katholiken, darunter zweier bayrischer Bischöfe, dem
verstorbnen Professor Schelk in Würzburg, den der Vatikan zum Widerruf seiner
sehr gemäßigten Ansichten gezwungen hatte, ein Denkmal zu setzen, ist auf em
scharfes Verbot der Kurie gestoßen, und zugleich ist eine von Münster aus ein-
geleitete Bewegung im Gange, die eine Revision des Index erstrebt, da, Wie dle
,.Germania"^ sagt, auch treue Katholiken über die jetzigen Bestimmungen Zweifel
und Bedenken hegen. Es ist der deutsche Geist im Katholizismus, der die Freiheit
des Denkens erstrebt, weil er weiß, daß ohne diese die vielbeklagte wissenschaftliche
Inferiorität des Katholizismus nicht zu heben ist. Freilich hat bei solchen Konflikten
noch immer die kirchliche Autorität gesiegt, weil sie sich Selbstzweck ist, und weil
der echte Katholik eher seine Überzeugung opfert als die Einheit der Kirche gefährdet,
indem er ein Schisma provoziert. Aber Rom ist immer nur durch ein Schisma
zu besiegen gewesen, und die Wissenschaft beruht auf der Freiheit des Denkens,
nicht auf dem Gehorsam gegen irgendwelche Autorität. Aus diesem verzweifelten
Dilemma wird, fürchten wir, auch die gegenwärtige Bewegung um so weniger heraus¬
kommen, als die Freiheit des Denkens immer nur eine Forderung kleiner Kreise
ist und die Massen niemals ergreifen kann, am wenigsten die heutigen katholischen
Massen.
Inzwischen müht man sich in Ungarn weiter, die Quadratur des Zirkels zu
finden, d. h. einen „Nationalstaat" aus einem halben Dutzend verschiedner Nationali¬
täten zusammenzuschweißen, von denen keine für sich allein die Mehrheit hat. Dieses
widerspruchsvolle Streben hat jetzt zu einem Konflikte mit den Kroaten geführt,
denen die in Kroatien gar nicht verstandne magyarische Dienstsprache bei ihren Eisen¬
bahnen aufgezwungen werden soll. Infolgedessen haben die kroatischen Abgeordneten
den ungarischen Reichstag verlassen, und der kroatische Landtag ist vertagt worden;
Kroatien soll zunächst mundtot gemacht werden. In Österreich, wo bekanntlich nach
den entgegengesetzten Prinzipien, nämlich mit der grundsätzlichen Gleichberechtigung
aller „landesüblichen" Sprachen regiert wird, drohte die praktische Anwendung
dieses Prinzips im Reichsrate jüngst zum reinen Aberwitz zu führen. Schon fing
ein Ruthene, um die Polen zu ärgern, an, russisch zu sprechen, und das Wort
wurde ihm nur deshalb entzogen, weil das Großrussische bisher noch nicht zu den
in Österreich „landesüblichen" Sprachen gehört; hätte er seine kleinrussische Mutter¬
sprache angewandt, so hätte sich dieser Grund nicht gegen ihn geltend machen lassen.
Kein Wunder, daß sich nun die Tschechen anschickten, für ihr Idiom die Anerkennung
im Reichsrate durchzusetzen; ihnen hätten dann Polen, Slowenen, Rumänen, Italiener,
Dalmatiner folgen können, und der babylonische Sprachwirrwarr wäre zum Hohne
auf den gesunden Menschenverstand fertig gewesen. Wenigstens würden dann solche
alberne Forderungen ack adizorÄuiQ geführt worden sein, zur Erheiterung gebildeter
Europäer. Li'sse, 1s ricliorüs <mi tus sagt der Franzose, aber dieser Satz scheint
bei den kleinen österreichischen Völkern noch nicht zur Anerkennung gekommen zu
sein. Indes ist wenigstens für diese Tagung des Reichsrath durch ein friedliches
Abkommen der drohende Sprachwirrwarr abgewandt worden. In einem verdient
der Reichsrat Nachahmung. Die österreichischen Sozialdemokraten sind ruhig bei
der Thronrede erschienen, weil der Kaiser für das allgemeine Wahlrecht eingetreten
sei. Wann werden unsre Sozialdemokraten im Reiche, das für die handarbeitenden
Klaffen, die sie zu vertreten vorgeben, unter der Ägide des Kaisertums unendlich
mehr getan hat als jeder andre Staat, lernen, dem Kaiser zu geben, was des
Kaisers ist?
Am 7. Juli haben die Italiener den hundertjährigen Geburtstag Garibaldis
allerorten als ein Nationalfest gefeiert, ohne jeden Unterschied der Partei, soweit
diese Parteien überhaupt auf dem Boden des Nationalstaats stehen. Denn in diesen
Fragen gibt es für die Italiener keine Parteien. Mag der alte Freischarenführer
und radikale Idealist im Herzen auch immer Republikaner geblieben sein, er hat
sich der Monarchie des Hauses Savoyen unterworfen, er hat ihr das Königreich
Neapel geschenkt und ist dann wieder heimgezogen auf seine Ziegeninsel, er hat
niemals etwas andres erstrebt als die Einheit Italiens, für sein Volk das Höchste
gewollt, für sich selbst nichts. Und wie sie ihm deshalb überall Denkmäler errichtet
haben neben dem König Viktor Emanuel, Cavour und Mazzini, und Gedenktafeln
überall an ihn erinnern, wohin ihn seine Feldzüge geführt haben, von Como bis
Palermo, so hat jetzt alles, was italienisch spricht, einmütig den Volkshelden ge¬
feiert. Das recht kleinliche Verbot einer Garibaldifeier im österreichischen Trieft hat
freilich aufs neue irredentistische Gefühle erweckt und nur ihre Äußerungen unter¬
drückt, aber die Regierungen beider Reiche haben trotzdem soeben stillschweigend
ihr Bündnis erne
Eine der vielen landläufigen Tiraden, die
von oberflächlichen Beobachtern vorgebracht zu werden Pflegen, ist ein Loblied auf
die Sprache, die Bewunderung ihres Reichtums. Spenderin aus reichem Horne,
Schöpferin aus vollem Börne, Wohnerin im Sternenzelt! Alle Höhn hast du
erflügelt, alle Tiefen du entsiegelt und durchwandelt alle WeltI Du hast Worte
zu vielen Tausenden — unzählig, wie die Schneeflocken stieben sie umher, dieses
Gleichnis hat schon Homer gebraucht. Jedes Wörterbuch stellt daher einen Sprach¬
schatz, einen Thesaurus, eine Fundgrube dar; ein Lexikon der arabischen Sprache
nennt sich Al Kauns. das heißt der Ozean oder das Weltmeer. Es ist eine Lust,
darin zu plätschern.
Demgegenüber muß einmal gesagt werden, daß die Sprache arm, sogar sehr
arm ist, daß sie durchaus keinen Überfluß an Ausdrucksfähigkeit hat, und daß sie
oas kleine Kapital, das ihr wirklich zu Gebote steht, nicht einmal immer anrührt,
s/^ ^ ^ ^in begeisterter Lobredner vernehmen, tausend Farben und
?! M ^Mer. Sie hat ein Wort für das kleinste Bedürfnis der Minute und
R». 1 ^ d°s bodenlose Gefühl, das keine Ewigkeit ausschöpft. Nein, guter
nocki" >!' ^ '"^ viel Worte und macht auch nicht viel Worte, weder die deutsche,
qeben <7-
?^^' ^ eine. Sie kaun nicht alles benennen, nicht alles wieder-
laus?^ ^ kommt immer wieder auf ihre paar Pfennige zurück, mit denen sie alle
um^n 5 5 bestreitet, und die immer wieder herhalten müssen, wenn sie auch
genutzt sind. Sie ist ökonomisch im höchsten Grade und im besten Sinne.
„
oesj"s - r Worte! Zunächst darf man sich durch das famose Schnee¬
neu ^ n ^ täuschen lassen, daß man wähnte, die Schneeflocken seien alle
und es^ki / ""^ Schriften kehren naturgemäß gewisse Worte beständig wieder,
dürsp» ^ ^ ^ Hand, daß sie nicht jedesmal von neuem gutgeschrieben werden
deuten ^ mühevollen wie unnützen Häusigkeitsuntersuchuugen der
oeannn n ^ von einem aus der Stolzescheu Stenographenschule hervor-
Gesanni ^itsausschuß unter Mitwirkung von freiwilligen Mitarbeitern, ja von
der 3K1 n^"^'^^ ^°^en sind, ist zum Beispiel ermittelt worden, daß der Artikel
das? datz im ^ ^'"tA die 358054 mal in dem Zählstoff vorkommt, und
auf ub-.^ °^ und die dritte Stelle einnimmt. Dann folgt ein. zu, in,
ver chwendunn"^^""^ ^° """er, ein geringes Resultat und eine heillose Zeit-
Worte rec5 5- c> s° ^el wird allerdings dadurch bewiesen, daß sich einzelne
denn nnn wiederholen, und daß die Sprache wenig Abwechslung hat. Sind
Auch sie s"? die gebuchten Worte alle verschieden und wirklich eigne Worte?
47 631 M»^. s"^MK und zum Beispiel gefunden, daß die deutsche Sprache
als noM^ Im sind von 2680 Wortstämmen hergeleitet, also nicht
reckt wen ^ sie reduziere» sich auch wieder. Es bleiben
Le n ac?^? ^ ^rig; daher sie dann gewöhnlich zwei oder mehr Be-
oeulnngen haben, auch wenn diese darauf passen wie die Faust aufs Auge. Aus
alledem sieht man, daß es mit dem Reichtum der Sprache nicht weit her sein kann,
daß sie sich sehr einrichten und es zusammennehmen muß, um auszukommen, daß
sie nicht allzuviel übrig hat. Wirtschaft, Horatio, Wirtschaft! Wäre die Sprache
reich, sie würde in erhabner Verschwendung Worte bilden und verschleudern.
Wenn sie dem Laien reich erscheint, so liegt das eben daran, daß sie eine gute
Wirtin ist, die sich zu helfen weiß, bescheidne Mittel gut verwertet und bis auf das
letzte Restchen ausnutzt. Ihr ganzer Reichtum beruht auf unablässiger Denkarbeit;
sie selbst ist arm. Bei der Sprache fällt einem unwillkürlich das Sprichwort ein:
Mit vielem hält man Haus, mit wenig kommt man ans.
Geschieht es nicht, daß ein armer Mann seinen Rock wenden läßt, anstatt einen
neuen zu kaufen? Auch die Sprache läßt wenden. Man spricht dann von angewandten
Bedeutungen. Die Gelehrten nennen es einen Tropus. Das ist so viel wie Wendung.
Dabei wird demi Hörer oft ohne weiteres zugemutet, daß er die Anwendung
verstehe und den Gedankensprung von einem zum andern mitmache; kann ers nicht,
so ists sein Schade. Gewöhnlich aber nimmt man Rücksicht; es werden Zusätze
gemacht, die ihm auf deu Trichter helfen und das Verständnis erleichtern sollen.
Durch Zusammensetzung, durch nähere und immer nähere Bestimmung entstehen dann
die unförmlichen Wortklnmpen, die notwendig sind, weil es an einfachen Begriffen
fehlt. Auf einer solchen Zusammensetzung beruht die gesamte Ableitung, ja schon
die Flexion, und nur weil der Laie die fortwährende Wiederholung der Pronomina,
der Hilfsverba, der Suffixe nicht durchschaut, wiegt er sich in Illusionen über seine
Sprache. Aber ich will ein paar ganz naheliegende, triviale Beispiele aufs Gerate¬
wohl herausgreifen und einem Schuljungen nachsehn, der nach Hause geht und sich
eine Tute Kirschen kauft. Nur zwei oder drei von seinen Worten sollen vor¬
genommen werden.
Da ist zunächst die Tute. Welch ein sonderbarer Begriff, die Tute! Eine
Tute ist eigentlich ein Blasinstrument, ein Ding, auf dem man tutet. Ein Horn;
die Franzosen nennen eine Zuckertüte: rür Ooinst. Und weil nun ein kegelförmig
zusammengedrehtes Stück Papier wie ein Blashorn aussieht, so sind die Menschen
naiv genug, diesem Papier den Namen Horn zu geben, so unpassend er auch
ist, denn niemand will drauf blasen. Oder sollte die Tute etwa ein Bild des Füll¬
horns sein, wie man die Wörterbücher auch Oornu Loxias betitelt? An jeder Butter¬
glocke, an jeder Kaffeetrommel sieht man doch, wie die bloße äußere Ähnlichkeit
hier maßgebend gewesen ist. Eine Tute sieht auch aus wie eine Kapuze, darum
nannten sie die alten Römer: Ououllns. Und wir selbst, sprechen wir nicht von
einem Papiersack, wenn das Papierbehältnis die Form einer Tasche hat? Ein
Sack! Ein Leinwandsack! Eine Kapuze! Ein Horn! Da haben wir unsern Reichtum.
Besagter Schuljunge ißt seine Kirschen und nimmt eine nach der andern zwischen
Daumen und Zeigefinger. Zwischen Daumen und Zeigefinger? Da hapert es
schon wieder. Der Daumen hat einen eignen Namen, wie er ihn auch in andern
Sprachen führt; die Namen der übrigen Finger werden umständlich durch nähere
Bestimmung des allgemeinen Begriffs Finger gewonnen. Zeigefinger, Mittelfinger,
Goldfinger, kleiner Finger. Im Griechischen hat nicht einmal der Daumen eine
besondre Bezeichnung, er heißt: der große Finger; auf ihn folgt der Zeigefinger
als der zweite Finger, es wird gezählt wie bei den Häusern auf der Straße. Ja
in den beiden klassischen Sprachen, daher auch in den romanischen werden nicht
einmal die Zehen von den Fingern unterschieden. Die Italiener lächeln über das
deutsche Wort Handschuh; sie müßten von Rechts wegen Handschuhe an ihren Füßen
tragen. Wir aber brauchen uns auf unsre Zehen auch nichts einzubilden; jedes Huhn
hat Zehen. UnVollkommenheit! Eigentlich müßten wir für die Füße aller Tiere, die
wir kennen ja für jede Gangart, jede Bewegung Spezialausdrücke haben, wie sie
der Weidmann wenigstens in einzelnen Fällen hat; der Sportsmann hat solche für
das Pferd, der Indianer für die Bären, der Grönländer für die Robben. Aber
wie weit sind wir im allgemeinen von einer solchen Genauigkeit entfernt!
Beim Essen spuckt unser Schuljunge die Kerne aus und wirft sie auf die
Straße. Die rundlichen Steine nennt er also Kerne. In den Kirschkernen steckt
bekanntlich wieder ein Kern, der nach bittern Mandeln schmeckt, und das ist der
eigentliche Kern; es erscheint aber doch ungereimt, den harten Kirschkern, der das
Gehäuse des darin enthaltnen Pflanzenkeimes darstellt, mit demselben Worte zu be¬
zeichnen, das wir für den Sammlern verwenden. Die Franzosen sind uns in diesem
Punkte voraus; den Stein nennen sie Xoznu, den Sammlern: ^.uis-iräs, das heißt
Mandel, und unterscheiden davon wieder drittens den ?sxin, ein Wort, das sie für
Apfelkerne oder Weinbeerkerne brauchen, während wir immer nur von den sterotypeu
Kernen reden. Darüber, daß noch unzählige andre Dinge einen Kern haben, will
ich mich schon gar nicht mehr verbreiten. Ans großen Reichtum aber läßt diese
ewige Wiederholung nicht gerade schließen.
Wir wollen nun den Schuljungen laufen lassen und ein wenig in das Haus
hineinsehn, dem er angehört, und wo er der Junge oder der Kleine ist. Die
Kleinheit und die Jugend sind nämlich Eigenschaften, die uns alle Augenblicke dienen,
ans alten Namen neue zu fabrizieren; anstatt sie ausdrücklich hinzuzusetzen, kann die
Sprache auch Diminutiv« bilden, was auf dasselbe hinausläuft. Bei lebenden Wesen
ist die Verkleinerung am natürlichsten. Der Frau vom Hause steht die Jungfrau
oder die Jungfer gegenüber, wie der Magd das Mädchen, dem Herrn der Jung¬
herr oder Junker; einen Zuwachs an Begriffen erhält die Sprache freilich dadurch
»icht. Jungfrau und Junker sind keine neuen Worte wie im Lateinischen Vu-Zo,
oder wie Knabe und Page; sie sind aus den alten Titeln wie aus Eiern hervor¬
gekrochen und tragen noch die Eierschalen an sich. Draußen ans dem Hof ist es
gerade so; für die jungen Gänse haben wir keine neue, ursprüngliche Bezeichnung
wie für die jungen Hühner, die Küchlein heißen; so wenig wie die Franzosen, die
die Gänschen: visons nennen. Aber die Italiener haben eine, ste nennen sie:
^e-ri. Mx ^s Junge der Kuh. der Stute, des Schafes und der Hunden gibt
es überall einen Spezialausdrnck. aber nicht für das Junge der Katze und des
Schweins. Ferkel ist kein neues Wort, sondern das Verkleinerungswort von F°rk
und dies der uralte Name des Schweins. Schwein selbst ist ein Verkleinerungswort
und eigentlich das Junge der Sau (3u!n).
<.Wie die Sprache spart und aus Alten Junge gleichsam züchtet, sieht man recht
deutlich am Kalender. Wenn sie um eiuen Monatsnamen herumkommen und lin ans
einem frühern bilden kaun, so tut sie es uur zu gern. Der deutsche Name d s
Februars ist bekanntlich Hornung; er wird auch als ein Kie nes oder als ein
Junges angesehn. nämlich als der kleine Januar, der: H°rü heißt. Genan so würd
der Juni der andre Mai, der November der andre Dktober oder Herbstmonat
genannt; der Juli aber ist wieder der kleine Juni. So hieß der Juli ursprünglich
auf französisch, nämlich: lui^t; erst später ist Rü^se dem großen Julins zuliebe
in ^Mök verwandelt worden. Auch die Tschechen betrachten den Juli als e n
Innichen; der Juni heißt bei ihnen ?8(-u^su, der Juli ^ouer^uoe. In Deutsch-
l°ut hielt man sich lieber an den Angust; man nannte den Juli den erste» Angst,
den August den andern Angst. Der Schulmeister Huber von Eggenfelden mNleder-
bayern zählte noch im Jahre 1477: Jenner. Hornung. Merz Ayrt Ma. der
in-der Mai. der Angst, der ander Angst, der Herbst, der ander Herbst, der Winter,
der ander Winter. Hier bedeutet der Herbst den September, der andre Herbst den
Oktober. Aber kann es einen deutlichern Beweis für die Ökonomie der Sprache
geben? Sogar von den Wochentagen wurde gelegentlich etwas abgeknapst: der
Dienstag erscheint in den Urkunden als der Aftermontag, vgl. auch Sonnabend und
Sonntag. Der Übergang vom Alten zum Jungen, vom Großen zum Kleinen ist der
Sprache natürlicher als umgekehrt das Namhaftmachen der großen, dicken, langen
Dinge, obgleich es ebenfalls oft vorkommt. Schon vorhin hieß der Daumen der große
Finger, und wir selbst haben eine große Zehe, Großvater und Großmutter. Der
Großvater liebt es vielleicht, sein Haar lang zu tragen, sodaß ihm die Locken auf den
Nacken herabwallen. ?ortÄ 1a. ^^fra, würde man ans italienisch sagen, ein
Wort, das wir nicht übersetzen können. Der Postbote übergibt ihm einen großen,
dicken Brief mit mehreren Einlagen; so einen Brief nennt der Italiener I?1ioo,
das wir wieder nicht übersetzen können, wie uns auch die Vergrößerungsbilduugen
des Jtalieners abgehn. Aber wir helfen uns mit einer Umschreibung und kommen
ebenfalls zum Ziel. Bald ist die eine, bald die andre Sprache im Vorteil, durch
den Verstand wird alles wettgemacht. Oos ir^mea, naturf,, arts xroourg..
Diese Denkarbeit, von der wir hier nnr einige Proben gegeben haben, geht
unablässig und auch dann noch fort, wenn bereits in der eignen Sprache Spezial-
ausdrücke vorhanden und gebräuchlich sind; lieber wird sich das Volk mit seinen
alten Begriffen behelfen, als daß es die neuen Worte anwendete. Sagt es nicht noch
heute: das große Wasser, der große Teich, ja die große Pfütze für den Atlantischen
Ozean? Der Tunichtgut wird über den großen Bach nach Amerika spediert. Unsre
Vettern jenseits der großen Pfütze. Stehen uns nicht die Augen voll Wasser anstatt
voll Tränen, färbt den Fuchs nicht die rote Tinte anstatt das Blut, ziehen wir nicht
vom Leder anstatt aus der Scheide? Oft ist das bloß Witz; im großen und ganzen
aber ist es Bequemlichkeit, Gewöhnung an die alten ausgetretnen Geleise, das Hängen
an alten Sachen. Die neuen schont die Sprache so viel wie möglich. Das nennt
n demselben Maße, wie sich das Deutsche Reich von einer Gro߬
macht zur Weltmacht entwickelt hat, sind auch die Aufgaben
gewachsen, die ihm aus der pflichtmäßigen Rücksichtnahme auf die
Interessen der im Auslande lebenden Deutschen erwachsen. Während
noch in den sechziger Jahren Bismarck in einem diplomatischen
Erlaß den preußischen Vertreter in einer der interessanten latino-amerikanischen
Republiken anwies, die Reklamation eines dort lebenden Deutschen gegen die
fremde Regierung amtlich nicht zu unterstützen, da jeder, der sich in solche Länder
begäbe, selbst das Risiko dafür tragen müsse, wird jetzt grundsätzlich jede begründet
erscheinende Reklamation von den diplomatischen Missionen im Auslande mit
Nachdruck vertreten und in der Mehrzahl der Fülle auch von der Rechtsabteilung
des Auswärtigen Amtes genau verfolgt.
Leider durchkreuzt unsre in internationalen Fragen so wenig geschulte und
infolge des großen Mangels guter Korrespondenten oft durch unzuverlässige
Quellen gespeiste Presse häufig die Absichten der Reichsregierung, die natürlich
nur dann das ganze Gewicht der Großmachtstellung für eine Reklamation ein¬
setzen kann, wenn Aussicht auf eine erfolgreiche Erledigung vorhanden ist. So
lange hierin kein Wandel eintritt, und die großen deutschen Blätter nicht das
Beispiel der britischen Zeitungen nachahmen und überall in der Welt zuverlässige
Korrespondenten bestellen, werden die Reklamationen immer zu den dornenvollsten
Aufgaben der deutschen Diplomaten gehören, da diese nur in den seltensten
fallen von der heimischen Presse richtig beurteilt und nur zu oft dazu benutzt
werden, einen nach bestem Wissen und Gewissen handelnden Gesandten vor der
osfentkchen Meinung in ein ungünstiges Licht zu setzen.
Der seit einigen Jahren von den verschiednen Ressorts der Reichsregierung
und der Bundesregierungen vorberatne und demnächst zu erwartende Entwurf
eines neuen Reichsangehörigkeitsgesetzes wird eine wichtige Etappe auf dem Wege
zu einem verstärkten Schutze der Auslandsdeutschen bedeuten, da diese in vielen
Punkten günstiger als bisher gestellt werden sollen. Große Schwierigkeiten
'
bereitet nur die Frage, wie sich die aus der allgemeinen Wehrpflicht ergebenden
gesetzlichen Erfordernisse mit den Bedingungen über den Verlust der Reichs¬
angehörigkeit werden vereinigen lassen. Die Differenzen über diesen Punkt sind
die Ursache für die Verzögerung, die zu allgemeinem Bedauern in der Vor¬
legung des Gesetzentwurfs eingetreten ist.
Zur Förderung deutscher Schul- und Unterrichtszwecke im Auslande sowie
zur Unterstützung von deutschen Bibliotheken und andern zu gemeinnützigen
Zwecken im Auslande bestehenden vaterländischen Unternehmungen ist im Etat
des Auswärtigen Amtes ein jährlicher Reichszuschuß vorgesehen, der jetzt auf
650000 Mark erhöht worden ist. Merkwürdigerweise sind aber die Anforderungen
an diesen Fonds noch immer verhältnismäßig sehr gering, da offenbar viele
Auslandsdeutsche der Ansicht sind, daß er lediglich für Schulen bestimmt ist,
weil ihn die Presse immer „Reichsschulfonds" zu nennen pflegt.
Dagegen ist der Fonds, der zur Unterstützung mittelloser Deutscher im
Auslande gebildet ist, um ihnen die Erfüllung der Militär- und Wehrpflicht
zu erleichtern, nur deshalb so wenig benutzt worden, weil die bureaukratischen
Ausführungsbestimmungen dies verhindert haben. Es müßte den Konsuln ein
viel weiterer Spielraum hinsichtlich der Verwendung dieses Fonds gelassen
werden, wenn er wirklich zum Segen der Auslandsdeutschen gereichen soll, für
die er bestimmt ist.
Unzulänglich war auch bis jetzt die kirchliche Versorgung der evangelischen
Auslandsdeutschen. Das Reich, kann für diese Zwecke aus dem einfachen Grunde
nichts ausgeben, weil es keine Reichsreligion gibt. Nur die Bundesstaaten, an
deren Staatskirche sich deutsche evangelische Gemeinden des Auslandes an¬
geschlossen haben, sind in der Lage, hier helfend und fördernd einzugreifen.
Insbesondre hat es sich die preußische Landeskirche angelegen sein lassen, mög¬
lichst vielen Auslandsgemeinden, die darum baten, den Anschluß zu gewähren.
Vorläufig ist dies allerdings nur für die evangelische Landeskirche der ältern
preußischen Provinzen geschehn, während sich die neuern preußischen Provinzen
aus formellen Gründen bisher außer mit gelegentlichen Kollekten nicht be¬
teiligt haben.
Gesetzlich geregelt sind diese Verhältnisse durch Paragraph 2 des preußischen
Kirchengesetzes vom 7. Mai 1900 (Kirchliches Gesetz- und Verordnungsblatt,
Verlag des Evangelischen Oberkirchenrath in Berlin, Jahrgang 1900, S. 27),
der von dem Anspruch der angeschlossenen Auslandsgemeinden auf Fürsorge
und Förderung ihrer Interessen durch die Landeskirche handelt. Auf Grund
dieses Gesetzes und des Paragraphen 34, Nummer 3 der Generalsynodalordnung
ist am 22. April 1907 ein königlicher Erlaß ergangen, wodurch der durch
Kirchengesetz vom 16. August 1898 gebildete Hilfsfonds für die Auslands¬
gemeinden vom 1. April 1907 ab um jährlich Prozent der von den Mit¬
gliedern der evangelischen Kirche der ältern Provinzen zu zahlenden Staats¬
einkommensteuer erhöht wird. Bisher war der Evangelische Oberkirchenrat für
die Beschaffung der Mittel zu einer solchen Diasporapflege ausschließlich auf
die Erträge der für diesen Zweck in seinem Aufsichtsbezirk abgehaltnen Kollekten
angewiesen, die jährlich ungefähr 32000 Mark brachten.
Von jetzt ab werden jährlich ^ Prozent von 94085752 Mark (Steuerjahr
1905), also vorläufig 235214 Mark zur Erhöhung des Hilfsfonds bereit gestellt
werden. Diese Summe wird natürlich mit Zunahme der Staatseinkommensteuer
steigen. Der Mehrbetrag verteilt sich auf die einzelnen Provinzen wie folgt:
Die Erhöhung des Hilfsfonds, dessen Unanfschieblichkeit auch der General¬
synodalvorstand anerkannt hatte, zeugt von dem feinen Verständnis, das der
Evangelische Oberkirchenrat den kirchlichen Interessen der evangelischen Aus¬
landsdeutschen entgegenbringt, die fast alle in katholischer Umgebung und zum
großen Teile in katholisch-evangelischen Mischehen leben, wodurch sie selbst und
ihre Kinder der steigenden Gefahr ausgesetzt sind, in den Schoß der alleinselig¬
machenden Kirche hinübergezogen zu werden.
Welche ungeheuern Mittel die Jesuiten und andre ultramontane Orden im
Auslande und insbesondre in Amerika jährlich zur Ausbreitung ihrer Lehren aus¬
geben, ist jedem bekannt, der einige Jahre dort gelebt hat. Der Erfolg ist nicht
ganz so glänzend, wie man nach ihrer Bekehrungsstatistik annehmen könnte, denn
vielen Heiden ist das ultramontane Christentum nur oberflächlich angefirnist
worden, und in Amerika werden den heimischen Priestern so viele Konzessionen mit
Rücksicht auf die Landesgewohnheiten gemacht, daß eigentlich nur der äußere
Ritus derselbe bleibt. Der Papst hat begonnen, für das abtrünnige Frankreich und
den dadurch gefährdeten Petcrspfennig einen Ersatz in Amerika zu suchen und
schon bei Brasilien, Argentinien und Chile Nuntien, bei einigen andern Re¬
publiken Jnternuntien beglaubigt, die mit allen möglichen machiavellistischen
Künsten, vor allem mit dem dort fast nie versagenden Mittel gröbster
Schmeichelei einen stetig wachsenden Einfluß auf die Regierungen und auf das
Volksleben erlangen. In den Vereinigten Staaten hat der Papst zwar noch
kemen offiziell anerkannten diplomatischen Vertreter, sondern nur einen offiziösen
Legaten, aber wie sehr auch dort der Einfluß des Ultramontanismus im
Steigen begriffen ist, beweist die Tatsache, daß Roosevelts letzte Wahl zum
Präsidenten hauptsächlich deshalb so glänzend war, weil zahlreiche katholische
Stimmen für ihn abgegeben wurden.
Welchen schweren Kampf die evangelischen Deutschen in vielen ameri¬
kanischen Ländern mit den ultramontanen Orden zu kämpfen haben, ergibt sich
aus den Berichten über die Gemeindeschulen. Die Ordensschulen erheben kein
Schulgeld, da die Mönche keinen Gehalt beziehen, während die evangelischen
Schulen natürlich ihre Lehrer besolden und deshalb auch Schulgeld erheben
müssen. Trotzdem ist es durch eine Verkettung unglücklicher Umstände bisweilen
vorgekommen, daß an demselben Orte evangelische Schulen keinen Neichszuschuß,
dagegen Ordensschulen einen solchen erhielten. Daß auch die kirchliche Ent¬
wicklung der evangelischen Auslandsdeutschen durch den Einfluß, den die ultra¬
montanen Ordensschulen ausüben, schwer geschädigt wird, liegt auf der Hand.
Um so freudiger ist es zu begrüßen, daß jetzt die finanzielle Unterstützung der
Diasporagemeinden so viel besser sein wird als bisher.
Es ist ein großes Verdienst des Präsidenten Voigts, daß er die mannig¬
fachen und dringenden Bedürfnisse der evangelischen Auslandsgemeinden so klar
erkannt hat, wie es aus seinem Runderlaß an die Konsistorien hervorgeht.
Danach stehen etwa 150 Kirchengemeinden außerhalb Deutschlands mit der
Landeskirche in Verbindung. Von diesen haben sich 101 Gemeinden der Landes¬
kirche förmlich angeschlossen und dadurch einen Anspruch auf finanzielle Unter¬
stützung erlangt. Bei einer Reihe weiterer Gemeinden find die Anschlu߬
verhandlungen im Gange. Die Wochenschrift Das Echo, das Organ der Deutschen
im Auslande, bringt fast in jeder Nummer eine Notiz über den Anschluß einer
weitern Gemeinde.
Viele von diesen angeschlossenen Auslandsgemeinden können die not¬
wendigsten kirchlichen Einrichtungen nur mit Hilfe dauernder Unterstützung aus
der Heimat aufrecht erhalten, teils weil sie zu arm sind, teils weil sich die
reichen kaufmännischen Mitglieder ganz vom kirchlichen Leben fern halten und
ihre Zugehörigkeit fast nur dadurch bekunden, daß sie ihre Kinder taufen lassen.
Das gehört nun einmal oft zu einem modernen 8öltmg,äöwg.ii! Und evangelische
Auslandsgemeinden, die sonst sehr wohl in der Lage wären, finanzielle Opfer
zu bringen, können lediglich wegen des gänzlichen Versagens der reichen Mit¬
glieder keine eignen Gotteshäuser errichten, während die Engländer und die
Amerikaner an denselben Orten seit Jahren eigne evangelische Kirchen besitzen.
Das für den Zusammenhalt der Gemeinde gerade unter den Verhältnissen der
latino-amerikanischen Länder besonders wichtige Pfarrhaus fehlt ebenfalls in
zahlreichen Fällen. Vor allem aber ist die Verbesserung der materiellen Lage
der Geistlichen in einer großen Zahl von Diasporagemeinden ein unaufschieb¬
bares Bedürfnis geworden.
Die in einzelnen Gebieten des Auslandes, wie zum Beispiel in Rio Grande
do Sui, in den La Plata-Staaten, in Chile, in den Vereinigten Staaten von
Amerika, in Großbritannien und in Rumänien bestehenden fynodalähnlichen Ver¬
bände der deutschen evangelischen Gemeinden bedürfen kräftiger finanzieller
Unterstützung, wenn aus ihnen der erstrebte festere Zusammenhalt des evange¬
lischen Deutschtums hervorgehn soll.
Große finanzielle Anforderungen stellen ferner die vom Reiche nicht ge¬
nügend unterstützten Gemeindeschulen, die Kinderheime, die Diakonissenanstalten
und andre gemeinnützige Institute, die für Diasporaverhältnisse besonders wert¬
voll sind.
Die stark aufsteigende Entwicklung, die die Beziehungen der preußischen
Landeskirche zur evangelischen Diaspora außerhalb Deutschlands genommen
haben, stellt fortdauernd neue Aufgaben in bezug auf Schaffung weiterer Kirchen¬
gemeinden, Pfarrämter und Reisepredigteinrichtungen. Besonders dringend ist
dies in den Schutzgebieten, in Kleinasien, in Brasilien und in den La Plata-
staaten hervorgetreten.
Die Aufgaben sind aber nicht nur dem Umfange nach, sondern auch in
bezug auf die Art der Fürsorge gewachsen. Die neuere Entwicklung weist darauf
hin, organische Einrichtungen ins Auge zu fassen, um einmal eine geeignete
Vorbereitung der Geistlichen auf die besondern Aufgaben ihres Amtes zu ge¬
währleisten, und ferner, um ihnen durch Fürsorge für eine angemessene Er¬
ziehung ihrer Kinder ein längeres Verbleiben im Auslande zu ermöglichen.
Die unmittelbare Pflege der gesamten Diaspora ist bisher vom Evange¬
lischen Oberkirchcnrat in Berlin aus besorgt worden, der nur in Ausnahmefällen
durch entsandte Kommissare einen Einblick in die persönlichen Verhältnisse er¬
hielt. Mit der Zahl der angeschlossenen Gemeinden ist aber auch die Schwierigkeit
gewachsen, alles von einer Zentralstelle aus zu erledigen, und es liegt darum
nahe, für einzelne Diasporagebiete, wie zum Beispiel für Südbrasilien, ständige,
in ihrem Bezirk wohnende Vertrauensmänner des Kirchenregiments zu bestellen.
Neue Pflichten haben sich für die preußische Landeskirche auch aus dem
Zusammenschluß der deutschen evangelischen Landeskirchen zum Deutschen
Evangelischen Kirchenausschuß ergeben, der sich unter anderm zum Ziele ge¬
steckt hat: die kirchliche Versorgung der Evangelischen in den deutschen Schutz¬
gebieten und die Förderung kirchlicher Einrichtungen für die evangelischen
Deutschen im Auslande sowie die Seelsorge unter deutschen Auswandrern und
Seeleuten. Der Kirchenausschuß kann dieser Aufgabe nur gerecht werden, wenn
er auf die finanzielle Hilfe der in ihm verkrallten Landeskirchen, in erster Linie
natürlich der preußischen als der größten Landeskirche, zurückgreift.
Vor allem erfüllt aber die preußische Landeskirche eine nationale Aufgabe
in der von ihr übernommnen kirchlichen Fürsorge für die evangelischen Deutschen
im Auslande, denn die dortigen Gemeinden sind die Pflegestätten deutscher Art,
deutscher Sitte, deutsch-evangelischen Glaubenslebens und deutscher Sprache. Es
rst deshalb zu hoffen, daß auch die Landeskirchen der andern deutschen Bundes¬
staaten dem preußischen Beispiele folgen und für die Diasporapflege endlich
größere Beiträge aufbringen werden.
ÄWW
'MM-MF^sM! le 1903 hat die Negierung auch jetzt ihr Bestreben, den Eintritt
der Juristen in die Verwaltungslaufbahn zu erleichtern, damit
begründet, daß es sonst nicht möglich sei, solche Beamte in ge¬
nügender Anzahl zum Übertritt in die Verwaltung zu bewegen.
! Demgegenüber muß es eigentümlich berühren, daß amtliche An¬
gaben über die Zahl der höhern Justizbeamten in der allgemeinen Verwaltung
nicht bekannt geworden sind. Man hat danach sowohl in der Kommission des
Herrenhauses als in der des Abgeordnetenhauses gefragt, aber aus keinem der
beiden Kommissionsberichte ergibt sich, daß diese Frage beantwortet worden ist.
Wahrscheinlich ist es geschehen, aber man hat dafür gesorgt, daß nichts in den
Bericht gekommen ist. Aus alle Fälle läßt also dieser Vorgang tief blicken. Ich
muß jedenfalls dabei bleiben, daß die Verwaltung schon bisher mit Juristen
geradezu überschwemmt worden ist. In Zukunft wird der Zufluß aber noch weit
stärker werden. Man wird schon wegen der Verschlechterung der juristischen Vor¬
bildung der zukünftigen Verwaltungsbeamten später gezwungen sein, mehr Juristen
zu übernehmen, wie die Regierung mit anerkennenswerter Offenheit nun selbst zu¬
gestanden hat.*) Und diese Entwicklung wird durch eine Bewegung unter den
Juristen selbst sehr gefördert werden. Einem aufmerksamen Beobachter mußte es
schon längst auffallen, daß die Herren Kollegen von der Justiz in den letzten
Jahren eifrig bemüht waren, die Verwaltung für sich zu erobern — indem man
bei jeder Gelegenheit der Verwaltung klar zu machen suchte, daß sie nichts besseres
tun könne, als möglichst viele Juristen unter ihre Beamten aufzunehmen.
Dieser Gedanke ging zum Beispiel wie ein roter Faden durch die Verhand¬
lungen des 25. Deutschen Juristentags über die Neuordnung des juristischen
Vorbereitungsdienstes in Deutschland. Seiner Begründung war ferner gewidmet
ein wissenschaftlicher Vortrag des damaligen Vortragenden Rats im Justiz¬
ministerium, jetzigen Oberlandesgerichtspräsidenten Vierhaus worin er geradezu
vorschlug, weniger beschäftigten Amtsrichtern auf dem Lande einzelne Ver¬
waltungsgeschäfte zu übertragen, natürlich nur, um der Bevölkerung entgegen¬
zukommen und die mit Arbeit überhäuften Landräte zu entlasten. Vor allem
standen fast alle juristischen Landtagsmitglieder, die sich bei der Beratung der
Entwürfe von 1903 und 1905 hören ließen, auf diesem Standpunkte. Da der
Einfluß der Juristen in den Parlamenten sehr groß ist, so kann diesen Be¬
strebungen nunmehr, wo für sie durch das neue Gesetz ein so günstiger Boden
bereitet ist, der Erfolg gar nicht fehlen. Ich sehe jedenfalls sehr schwarz, wenn
es nicht gelingen sollte, den drohenden Schlag rechtzeitig abzuwehren.
Wer wissen will, wie alles dieses auf einen Verwaltungsbeamten einwirken
muß, lese einmal in dem zweiten Abschnitt dieses Artikels (Seite 336) nach,
was die Regierung schon Mitte der siebziger Jahre gegen die Besetzung der
höhern Verwaltungsbehörden mit Juristen alles einzuwenden hatte. Der er¬
innere sich der kräftigen Worte, die die Begründung des Entwurfs von 1903
gegen die Verwendung einseitiger Juristen in der Verwaltung zu sagen wußte.*)
Der berücksichtige, daß die Verhandlungen über den Entwurf von 1905 in
allen Abschnitten auf denselben Ton gestimmt waren: die Begründung des
Entwurfs führt in dreizehn Zeilen aus. daß die einseitige juristische Ausbildung
der Juristen unter den gegenwärtigen Verhältnissen ihre Übernahme in die
Verwaltung nicht mehr ratsam mache. Dasselbe klang aus den Erklärungen
der Regierungsvertreter in den Plenar- und Kommissionsberatungen und aus
den Ausführungen fast aller Redner aus dem Landtag heraus. Besonders
lebhaft betonte der frühere Oberlandesgerichtspräsident Hamm die Unzuläng¬
lichkeit der juristischen Vorbildung für die Verwaltungstätigkeit. Der Landes¬
hauptmann von Dziembowski brachte aus seinen Erfahrungen als Leiter der
Kommunalverwaltung der Provinz Posen Belege dafür bei, wie schwer es
sogar ausgesucht tüchtigen Juristen falle, sich in dem beschränkten Kreise der Ver¬
waltung eines Provinzialverbandes nur einigermaßen zurechtzufinden. Ein Mit¬
glied des Abgeordnetenhauses erzählte, daß sich nach den Mitteilungen berufner
Männer, von denen er den verstorbnen Minister Herrfurth nannte, die Leistungen
der Regierungen nach der Wiedereinführung einer besondern Verwaltungsaus¬
bildung wesentlich gebessert Hütten. Kurz, man war auch jetzt wieder darin
einig, daß der Jurist für die Verwaltung unbrauchbar sei, und dennoch machte
man ihm wieder so und so viele neue Türen dorthin auf. Soll man da weinen
oder lachen?
Die Vorschriften des Gesetzes vom 10. August 1906 über die Ausbildung
der eigentlichen Verwaltungsbeamten und die Ausführungsbestimmungen dazu
leiden an dem großen Mangel, daß sie die Studienzeit und das erste Examen
gar nicht berühren. Man hat dies damit begründet, daß einer solchen Reform
zurzett zu große Schwierigkeiten entgegenstünden; wir werden später sehen,
welcher Art diese Schwierigkeiten sind.
"5M übrigen sollen die neuen Vorschriften hauptsächlich eine bessere wissen¬
schaftliche Durchbildung der zukünftigen Verwaltungsbeamten sichern, und
zwar dadurch, daß die Ausbildung des Regierungsreferendars während seiner
praktischen Tätigkeit in besondrer Weise neu geregelt wird. Dieser Ausgangs¬
punkt der Neuordnung scheint mir verfehlt zu sein. Wissenschaftliche und praktische
Ausbildung müssen grundsätzlich getrennt sein. Hiervon ging das Gesetz von
1879 aus, und alle Welt hielt dies damals für eine wesentliche Verbesserung
gegenüber dem Regulativ von 1846, das ebenfalls die praktische Ausbildung mit
der wissenschaftlichen verquickt hatte. Das neue Gesetz bedeutet also in diesem
Punkt jedenfalls einen Rückschritt.
Im einzelnen ist es zunächst sehr zu bedauern, daß die praktische juristische
Ausbildung der Referendare künftig vollkommen ungenügend sein wird. Sie
soll nur neun Monate dauern, und der zukünftige Verwaltungsbeamte macht
infolgedessen nur die erste amtsgerichtliche Station des zukünftigen Richters
durch, die natürlich ganz nach dessen Bedürfnissen zugeschnitten ist. Daß dies
nicht ausreiche, hat die Negierung nicht leugnen können; die Gründe, die man
für die Notwendigkeit dieser Verkürzung der praktischen juristischen Tätigkeit
der spätern Verwaltungsbeamten vorbrachte, können einer schärfern Prüfung
aber nicht standhalten, einer kommt geradezu auf einen Trugschluß hinaus.
Ein Fehler scheint mir ferner gewesen zu sein, daß man die Regierungs¬
referendare bei einzelnen bestimmten Regierungen zusammengezogen hat. Zudem
gehören von den fünfzehn Regierungen, die man mit diesem Austrag beglückt
hat, allerhöchstens fünf zu den mittlern, die andern zehn aber zu den größern
und größten Behörden ihrer Art, zum Beispiel Breslau, Potsdam, Oppeln,
Düsseldorf. Man hat die kleinern Regierungen ausgeschlossen, weil sie für
Referendare nicht lehrreich genug seien. Das mag für einzelne Zwergregierungen
wie Sigmaringen, Stralsund, Aurich vielleicht gelten, im allgemeinen dürste es
aber nicht zutreffen. Dagegen haben wiederum die größern und größten Re¬
gierungen große Nachteile für die Ausbildung der Referendare. Zunächst den,
daß es ihnen bei der großen Zersplitterung der Dezernate an diesen Behörden
unnötig erschwert wird, das vorgeschricbne Ziel des praktischen Vorbereitungs¬
dienstes zu erreichen, nämlich einen Überblick über den ganzen Geschäftskreis
der Regierungen zu gewinnen. Das größte Bedenken gegen die großen Be¬
hörden ist aber, daß die Präsidenten hier bei der heutigen Geschäftslage — man
denke nur an Oppeln oder Düsseldorf — ganz außerstande sind, sich so um
die Referendare zu bekümmern, wie sie es nach den ministeriellen Anordnungen
sollen und auch unbedingt müssen, wenn der Zweck dieser Einrichtung erfüllt
werden soll.
Aus verschiednen Gründen kann ich es auch nicht für zweckmäßig halten,
daß die praktische Beschäftigung des Referendars in der Verwaltung mit einer
einjährigen Tätigkeit beim Landrat beginnen soll. Ich kann hier nur eins
hervorheben. Die Beschäftigung beim Landrat hat unter anderm den Zweck,
dem Referendar Gelegenheit zu geben, das praktische Leben kennen zu lernen.
Aber logischerweise kann die Beschäftigung eines Referendars bei einer Be¬
hörde doch nur das Ziel haben, die Tätigkeit dieser Behörde kennen zu lernen.
Soll er daneben noch etwas andres treiben, dann wird er sich zersplittern. Und
dann kann die Tätigkeit beim Landrat den Referendar gar nicht in dem wünschens¬
werten Maße mit dem praktischen Leben in Berührung bringen, wie ich schon
in meinem ersten Artikel behauptet habe und nun auch das Herrenhausmitglied
Dr. von Burgsdorf mit Zustimmung des Ministers des Innern bestätigt hat.*)
Dr. von Burgsdorf verlangte deshalb, daß die Referendare während der
Landratszeit auch bei Amts- und Gomeindevorstehern beschäftigt würden. Aber
dagegen spricht neben dem eben erwähnten grundsätzlichen Bedenken das praktische,
daß dadurch die Beschäftigung beim Landrat selbst wiederum verkürzt werden
muß, wenn die Tätigkeit bei den untern Behörden Nutzen bringen soll.
Erfreulich ist, daß die Ausbildung der Regierungsreferendare in Zukunft
unter der Oberaufsicht, und soweit sie sich bei der Negierung selbst vollzieht,
auch uyter der unmittelbaren Leitung eines ein für allemal bestimmten Re¬
gierungsmitglieds stehen soll, dessen Aufgabe ist, „die Tätigkeit der Referendare
zu überwachen und durch regelmäßige Abhaltung von Übungen und Kursen ihre
praktische Schulung und wissenschaftliche Fortbildung auf dem Gebiete des
Staats- und Verwaltungsrechts sowie der Volks- und Staatswirtschaftslehre
zu fördern". Diese Maßnahme ist ein bedeutender Fortschritt, der einen wesent¬
lichen Mangel des bisherigen Zustands beseitigt und eine Forderung in meinem
ersten Artikel erfüllt. Gegen einzelnes habe ich allerdings verschiedne Bedenken.
Die Kurse und Übungen, die der Mentor unsrer Referendare abzuhalten
hat, sollen die wissenschaftliche Fortbildung auf Gebieten fördern, mit denen
sich der Durchschnittsstudent entweder überhaupt nicht oder nur ganz oberflächlich
beschäftigt. In Wirklichkeit wird es sich bei jenen Kursen und Übungen also
nicht um eine Fortbildung, sondern um die erste Beschäftigung mit jenen
Gegenständen, also um Ausbildung handeln.
Der Leiter der Kurse tritt so an die Stelle des Universitätslehrers,
oder richtiger zweier solcher Lehrer, des Staats- und Verwaltungsrechtlers
und des Nationalökonomen. Das steht nun aber wieder in einem für mich
wenigstens unentwirrbaren Widerspruch mit dem Ausgangspunkt der ganzen
Reform. Diese soll, wie ich schon erwähnt habe, namentlich auch eine bessere
wissenschaftliche Ausbildung sichern. Nach den Ausführungen der Vertreter der
Königlichen Staatsregierung bei den Verhandlungen im Landtag haben sich
die Verwaltungsbeamten bisher nach Abschluß der praktischen Tätigkeit bei
einem gewerbsmäßigen Repetitor in Berlin rein gedächtnismäßig das für die
Schlußprüfung nötige Wissen „eingepaukt". Das soll nun anders werden, das
^"^en soll ersetzt werden durch planmäßige wissenschaftliche Arbeit. In
Wirklichkeit hat nun von den beiden Männern, denen die meisten der nach dem
Gesetz von 1879 ausgebildeten höhern Verwaltungsbeamten ihre Vorbereitung
auf die zweite Prüfung zu danken haben, der eine überhaupt nicht, der andre
nur so weit „gepaukt", als er dazu durch die — ich drücke mich höflich
aus — nicht sachgemäße Art des Fragens einiger Mitglieder der Prüfungs¬
kommission geradezu gezwungen war. Aber sei es, wie es sei — wie können
jene Beamten, die ihr Wissen selbst nur der Einpaukerei, das heißt nicht wissen¬
schaftlicher Arbeit verdanken, nun ihrerseits andre wissenschaftlich weiterbringen,
oder vielmehr ganz von vornherein ausbilden! Nun hat man allerdings vor¬
gesehen, auch Universitätslehrer heranzuziehen. Das wird jedoch nur in geringem
Umfang möglich sein. (Und ist es nicht überhaupt niedlich, daß man mit vielen
Kosten Universitätslehrer herbeiholt, um Referendaren Kenntnisse beizubringen,
die sie als Studenten im Rahmen ihrer sonstigen Studien bequem erworben
hätten, wenn sie durch verständige Einrichtung des Studiums und vor allem
der ersten Prüfung dazu gezwungen worden wären?) Die Hauptarbeit wird also
immer dem kursusleitenden Verwaltungsbeamten obliegen, der, ich wiederhole,
seine eignen Kenntnisse nur dem „Einpauker" verdanken soll. Wird er da nicht
unwillkürlich selbst dazu neigen, einzupauken, zumal da er in einer solchen
Neigung durch eine Reihe äußerer Umstünde bestärkt werden wird, zum Beispiel
dadurch, daß man nun in ihm jemand hat, den man für etwaige geringe
Leistungen der Regierungsreferendare seiner Behörde in der großen Prüfung
verantwortlich machen kann? Das hat man sich denn auch nicht verhehlt
und den Kursusleitern empfohlen, die Kurse gegen den Schluß des Vor¬
bereitungsdienstes zu einer Art Kontrolle über die für die mündliche Prüfung
nötigen Kenntnisse zu gestalten, also mit einem Wort „einzupauken" — oder
etwa nicht?
Kurz, die Kurse werden in Wirklichkeit Einpaukerei werden, deren Erfolg
zudem noch zweifelhaft ist. Die berufsmäßigen Repetitoren pflegten wenigstens
ihre Sache gründlich zu verstehn, was man von den Leitern jener Kurse mindestens
in den ersten Jahren nicht erwarten kann. Hütte man den Herren, denen
man das dornenvolle und unerquickliche Amt eines Repetitors — meist Wohl
gegen ihren Willen — übertragen hat, Zeit gelassen, sich vorzubereiten, sie
etwa in Berlin oder sonstwo zusammen genommen und ihnen durch Vorträge
von Universitätslehrern oder andern besonders tüchtigen Fachmännern das nötige
Wissen beigebracht und vor allem durch praktische Übungen gezeigt, wie sie die
Kurse anzulegen und durchzuführen Hütten, dann würden die Aussichten auf
Erfolg besser sein. Inzwischen hätten auch die alten Referendare die Vorbereitung
nach den frühern Bestimmungen zu Ende führen können. Statt dessen hat man
diese im allgemeinen schon den neuen Bestimmungen unterworfen und den neuen
Ausbildungsregierungen zugeteilt, sodaß zum Beispiel bei einer westlichen Ne¬
gierung sechsundzwanzig Referendare zusammengekommen sind, die nun alle von
einem Beamten „wissenschaftlich weitergebildet" werden müssen. Ich bezweifle
nicht, daß dieser Herr hierzu hervorragend befähigt ist, aber ich weiß, daß
trotzdem eine solche Massenausbildung von Regierungsreferendaren mit „Wissen¬
schaft" nichts zu tun haben kann.
Die zweite Prüfung zerfällt, wie bisher, in einen schriftlichen und einen
mündlichen Teil. Sie soll sich erstrecken „auf das in Preußen geltende öffentliche
und Privatrecht, insbesondre auf das Verfassuugs- und Verwaltungsrecht, sowie
aus die Volks- und Staatswirtschaftslehre". Dabei erhebt sich sofort die Frage,
was das Privatrecht in diesem Programm solle. Die privatrechtlichen Kenntnisse,
die der Regierungsreferendar von der Universität und aus seiner oberflächlichen
praktischen Tätigkeit beim Amtsgericht mitgebracht hat, sind längst vergessen.
Während des Vorbereitungsdienstes in der Verwaltung wird er sich mit Privat¬
recht nicht mehr beschäftigen können, auch soll dieses nach der früher hier
wörtlich mitgeteilten Vorschrift des Regulativs ja auch kein Gegenstand der
Kurse sein. Inwieweit es also in der Assessorprüfung gefragt werden kann, ist
mir nicht klar geworden.
Die schriftliche Prüfung besteht in einer größern freien schriftlichen Arbeit,
die während des Vorbereitungsdienstes anzufertigen ist, und aus zwei Klausur¬
arbeiten in der Prüfung selbst. Die freie Arbeit ist sehr wichtig für das Bestehen
der Prüfung, deren spätere Abschnitte auch mit Rücksicht auf sie bedeutend
verkürzt und erleichtert worden sind. Die Aufgabe zu dieser freien Arbeit wird
von dem Regierungspräsidenten gestellt. Sie kann rein praktisch sein oder einen
mehr wissenschaftlichen Charakter haben, auch ein Bericht aus der Tätigkeit des
Regierungsreferendars beim Landrat oder bei der Gemeindeverwaltung sein.
Die Arbeit ist von dem Leiter des Vorbereitungsdienstes eingehend zu zensieren
und von dem Regierungspräsidenten einzusehen. Diese Bestimmung scheint mir
den Wert dieser neuen Anordnung zum großen Teil wieder aufzuheben. Ein¬
gehend zensieren kann man eine Arbeit nur dann, wenn man den Gegenstand,
den sie behandelt, eingehend kennt. Deshalb wird es dem Leiter des Vor¬
bereitungsdienstes wahrscheinlich sehr schwer fallen, geeignete Aufgaben zu finden.
Er wird wohl überall kein praktisches Dezernat mehr haben und deshalb darauf
angewiesen, jedenfalls aber geneigt sein, einseitige theoretische Doktorfragen
zusammen zu tifteln. Besser wäre es gewesen, die Auswahl der Aufgaben und
zum mindesten die erste Beurteilung der Arbeiten den einzelnen Dezernenten,
bei denen die Referendare praktisch arbeiten, zu überlassen. Abgesehen hiervon
enthalten die Vorschriften über die zweite Prüfung wichtige Verbesserungen.
Aber ein grundsätzliches Bedenken habe ich doch noch. Die Prüfung wird im
ganzen wesentlich erleichtert, jedenfalls bequemer gemacht. Ich fürchte, daß dies
auf das Verhältnis zwischen Justiz und Verwaltung zurückwirken wird, und
glaube darum, daß es besser gewesen wäre, nicht auf einmal mit der Vergangen¬
heit so vollständig zu brechen.
Ich muß meine Ausführungen dahin zusammenfassen, daß die Neuordnung
der Ausbildung der jungen Verwaltungsbeamten kein wesentlicher Fortschritt
im ganzen ist, sondern ein Rückschritt. Namentlich hat sie gerade das nicht
gebracht, was man vor allem erstrebt hat: eine bessere wissenschaftliche
Ausbildung der Verwaltungsbeamten. Man hat eben nicht berücksichtigt, daß
die Wissenschaft auf die Universität gehört und nicht in die Neferendarzeit.
In dieser muß man auch noch theoretisch arbeiten, aber das scheint mir etwas
andres zu sein als wissenschaftliche Tätigkeit.
Es ist mir deshalb auch nur ein Verwaltungsbeamter bekannt geworden,
der mit der neuen Ordnung zufrieden war, dagegen kenne ich viele, die gleich
mir die größten Bedenken hatten, und darunter waren recht hochstehende,
erfahrne und urteilsfähige Beamte. Ja ich habe Grund anzunehmen, daß
man jetzt auch an maßgebender Stelle nicht mehr ganz so sicher ist, das
Richtige getroffen zu haben.
Alles in allem wird man also leider sagen müssen, daß das Gesetz vom
10. August 1906 den Niedergang, in dem sich der Verwaltungsdienst seit den
Glanzzeiten der preußischen Verwaltung unter den beiden großen Königen des
achtzehnten Jahrhunderts und in der Stein-Hardenbergischen Zeit befand, nicht
aufhalten, sondern fortsetzen wird. Bedauerlich ist namentlich auch, daß es
nicht möglich war, die Personalienverwaltung neu zu ordnen. Die Vorschläge,
die verschiedne Fraktionen des Abgeordnetenhauses bei den Verhandlungen
über die Entwürfe von 1903 und 1905 zu diesem Zweck machten, trafen
allerdings nicht den Kern der Frage. Aber wenn sie verwirklicht worden
wären, hätten sie doch vielleicht den Anstoß zu einer Prüfung geben können,
ob auf diesem Gebiet alles in Ordnung sei. Eine solche Prüfung scheint
vielen Verwaltungsbeamten nach verschieden Vorkommnissen der letzten Zeit doch
dringend nötig zu sein.
M ^ZWF,>och alle Berechnungen sind durch die spanische Thronkandidatur
des Hohenzollernprinzen über den Haufen geworfen worden.
Durch dieses plötzliche Ereignis wurde eine ganz neue Lage ge¬
schaffen, und es ist vollkommen richtig, daß der Krieg, der sich
! jetzt unaufhaltsam aus diesem Ereignis entwickelte, keinen un¬
mittelbaren Zusammenhang mit den bisher zwischen den drei Mächten ins¬
geheim geführten Verhandlungen hatte. Ganz anders brach er herein, als er
gedacht und geplant worden war. Aber man darf wohl sagen: er wäre nicht
mit so unaufhaltsamer Gewalt hereingebrochen, wenn er nicht vorbereitet ge¬
wesen wäre in der öffentlichen Meinung und in der Diplomatie, in den General¬
stäben und in den Allianzverhandlungen, wenn nicht vorher mit tausend
Zungen gepredigt worden wäre, daß Preußen für Sadowa der französischen
Nation eine Sühne schuldig sei. Busch hat ohne Zweifel Recht, wenn er sagt,
daß erst die durch die Hohenzollernsche Kandidatur geschaffne Lage die Allianz-
Verhandlungen wieder in Fluß gebracht hat. Aber man wird bezweifeln dürfen,
ob sich die Leiter des französischen Staats so kopfüber in das kriegerische
Abenteuer gestürzt hätten, wenn sie nicht aus den frühern Bündnisverhand¬
lungen den Eindruck erlangt Hütten, daß man im Ernstfalle leicht zu einem
vollständigen Einvernehmen mit den Bundesgenossen werde gelangen können.
Der Kaiser glaubte ein moralisches Anrecht an die Waffenhilfe Österreichs und
Italiens zu haben. Darum lag ihm und seinen Räten auch nichts daran, die
Hohenzollernkandidatur abzuwenden, vielmehr erschien ihnen der unvorher¬
gesehene Zwischenfall eine geeignete Handhabe, den Krieg herbeizuführen, ohne
den Frankreich nicht die schuldige Vergeltung für Sadowa erhielt. Mit Recht
sagt der neueste französische Beurteiler dieser weltgeschichtlichen Tage: „Alle
Schritte des französischen Kabinetts vom 6. bis zum 15. Juli waren viel mehr
von dem Verlangen eingegeben, Preußen, seinem König, Vismarck eine Nieder¬
lage beizubringen, als von der Sorge, Leopold von Hohenzollern vom spanischen
Throne fernzuhalten. Je mehr durch die Ratschläge Europas, durch die Zurück¬
haltung Prius und die Mäßigung des Königs von Preußen die Drohung
einer preußischen Monarchie in Spanien schwand, um so mehr steifte man sich
in Paris darauf, andre Beleidigungen aufzufinden in der Verzögerung der
Antwort Wilhelms des Ersten auf die französischen Forderungen, in seiner
Weigerung, für die Zukunft Bürgschaften zu geben, in der Abberufung des
Barons Werther, in der Verabschiedung Benedettis, in der Emser Depesche. Es
scheint, die kaiserliche Regierung brauchte durchaus eine Beleidigung, deren
öffentliche Sühne für die Hohenzollern eine Demütigung war."
Wie wenig aber die bisherigen Verhandlungen hingereicht hatten, Öster¬
reich und Italien an eine kriegerische Politik Frankreichs zu binden, sollte sich
bald zeigen. Schon am 5. Juli sondierte, dem erhaltnen Auftrage gemäß, der
damalige französische Geschäftsträger in Wien, Marquis von Cazaux, gesprächs¬
weise den Grafen Beust, ob die Mitwirkung Österreichs im Fall ein Krieges
über eine diplomatische Aktion hinaufginge. Nun lautete zwar, was Cazaux
berichtete, günstig genug: er empfing aus seinen Besprechungen mit Beust den
Eindruck, daß an einem Einverständnis mit Österreich nicht zu zweifeln sei. Am
9. Juli telegraphierte er nach einer langen Unterredung mit dem Reichskanzler:
„Trotz der etwas unbestimmten Ausdrücke in den Weisungen an den Fürsten
Metternich ist mein Eindruck der, daß Frankreich vollkommen auf den Kanzler
zählen kann, wie auch die Dinge laufen mögen. Graf Beust dringt nur auf
eine Verständigung, auf ein vorläufiges Übereinkommen über die verschiednen
Punkte,^ um nicht gezwungen zu sein, vor vollendete Tatsachen gestellt zu
werden." Allein Cazaux verstand sich offenbar schlecht auf die diplomatische
Sprache des Herrn von Beust. Er gab dessen Worten eine viel zu optimistische
Auslegung. Der Herzog von Gramont selbst hat im Januar 1873 in seiner
Polemik nut Beust diesem bezeugt: „Niemals habe ich behauptet, daß Sie uns
zum Krieg ermutigt haben. Ich gebe vollkommen zu. weil es die Wahrheit ist,
daß Sie uns vom Kriege abrieten, bis zu dem Augenblick, da Sie den Grafen
Vitzthum nach Paris schickten. (13. Juli.) Ich will sogar gern anerkennen, daß
Sie uns noch am 13. Juli anrieten, uns mit dem Verzicht des Prinzen von
Hohenzollern zufrieden zu geben." In der Tat war Beust mit der Überstürzung,
die sich in Paris seit dem 6. Juli zeigte, im höchsten Grad unzufrieden. Er
ließ keinen Zweifel darüber, daß Österreich nicht daran denke, sich über die
Grenze, die ihm durch seine Lebensinteressen und durch seine materielle Lage
gezogen sei, fortreißen zu lassen. „Die einzige Verpflichtung, die wir gegen¬
seitig eingegangen haben, besteht darin, uns nicht einseitig mit einer dritten
Macht ins Benehmen zu setzen. Diese Verpflichtung werden wir streng ein¬
halten. Der Kriegsfall ist wohl in den Vorverhandlungen erörtert worden.
Es ist jedoch nichts fest beschlossen worden, und selbst wenn man den skizzen¬
haft gebliebner Plänen, die übrigens zum erklärten Zweck nicht einen Krieg,
sondern die Aufrechthaltung des Friedens bezweckten, sowie dem Austausch der
Ansichten einen reellem Wert geben wollte, könnte man daraus nicht die
Folgerung ableiten, daß wir zu einer bewaffneten Demonstration verpflichtet
seien, wenn es Frankreich beliebte, sie von uns zu fordern." So in der De¬
pesche Beusts an Metternich vom 11. Juli. In dem begleitenden Privatbrief
wies Beust noch in bestimmterer Form die Zumutung zurück, sich wegen einer
Frage, „die uns nichts angeht", in einen Krieg hineinreißen zu lassen auf
Grund von angeblichen Stipulationen, die „nicht durch unsre Schuld" bloße
Projekte geblieben sind. Bis zur letzten Stunde hat Beust nichts versäumt,
den französischen Staatslenkern jede Illusion zu nehmen, nichts, sie zu warnen
vor einem Kriege, der in diesem Augenblick und über diese Frage herbeigeführt,
nur zum Nachteil ausschlagen konnte, vor einer Politik, die Süddeutschland in
die Arme Preußens treiben und somit gerade das herbeiführen mußte, was
Beust durch seine Verbindung mit Frankreich zu verhindern gedachte. Am
15. Juli schrieb Cazcmx von Beust: „er hat einen tiefen Haß auf Preußen ge¬
worfen und möchte es erniedrigen. . . . Aber als es zur Aktion kommen sollte,
war er überrascht und aus dem Konzept gebracht. Er glaubte nicht, daß die
Stunde, die er herbeisehnte und zugleich fürchtete, so rasch kommen werde. Das
sind seine eignen Worte."
Die Stunde, die eine Entscheidung verlangte, war gekommen, als in der
Nacht zum 15. Juli in Paris die Kriegserklärung beschlossen wurde. Es gab
kein Innehalten mehr auf dem eingeschlagnen Wege. „Haben Sie Allianzen?"
wurde der Herzog von Gramont in der Kommission gefragt, die der Gesetz¬
gebende Körper zur Beratung der Kriegsvorlagen einsetzte. Der Herzog gab
eine ausweichende Antwort, aber er hatte keine Zeit verloren, sich der Bundes¬
genossen zu versichern. In einer Konferenz, die er noch am Abend des 15. Juli
mit Metternich, Vitzthum und Vimercati hatte, wurde rasch ein vorläufiger
Bundesentwurf vereinbart, der, wie Busch wahrscheinlich gemacht hat, aus den
drei Punkten bestand: 1. Bündnis der drei Mächte, 2. als Vorstufe dazu eine
bewaffnete Mediation Österreichs und Italiens, die an Preußen eine Sommation
im Sinne der Aufrechthaltung des Prager Friedens richten sollten, 3. Rückkehr
zur Septemberkonvention. Zugleich wurde an Österreich das Ansinnen gestellt,
die süddeutschen Staaten zur Neutralität zu verhalten. Vitzthum und Vimercati
reisten nach Wien und nach Florenz, die Zustimmung der dortigen Höfe ein¬
zuholen. Mit welcher fieberhaften Ungeduld und zugleich mit welcher Bestimmt¬
heit Gramont günstige Nachrichten zunächst aus Florenz erwartete, geht aus
seiner Depesche vom 18. Juli an den dortigen Gesandten Malaret hervor:
„Graf Vimercati begibt sich nach Florenz, nachdem er sich mit dem Kaiser und
mir ins Benehmen gesetzt hat. Seine Reise hat zum Zweck, den Abschluß eines
Allianzvertrages zwischen Italien, Österreich und uns zu beschleunigen. Er wird
sich mit Ihnen ins Benehmen setzen und Ihnen die Bedingungen auseinander¬
setzen, über die wir einig geworden sind. .. . Italien sollte uns ein bestimmtes
Kontingent stellen. Damit seine Mitwirkung einen wirklichen Wert habe, muß
binnen einem Monat die königliche Negierung 80000 Mann nach Bayern
werfen, denen Österreich die Wege durch Tirol öffnet. Unterstützen Sie Vimercati
auf jede Weise. Keine Formalitüten. Beunruhigen Sie sich nicht wegen Ihrer
Vollmachten. Das wesentliche ist, sobald als möglich zum Abschluß eines Ver¬
trags zu gelange«. Vorwärts! Ich rechne aus Ihren Eifer und auf Ihren
Patriotismus, um diese Verhandlung zum glücklichen Ende zu bringen." Was
Vimercati jedoch in Florenz antraf, war nichts weniger als ein stürmischer
Kriegseifer. Auch von hier waren Ratschläge zur Mäßigung, Warnungen vor
Übereilung nach Paris ergangen. Jetzt sah sich der König genötigt, mit seinen
Ministern zu rechnen, die schon im Hinblick auf die mangelnde Kriegsbereitschaft
zum Frieden geneigt, auch mit der bloßen Rückkehr zum Septembervertrag, der
ja den Italienern die Hände band, wenig zufrieden waren. Man stellte zuletzt
einen Gegenentwurf von fünf Artikeln auf, der zwar die bewaffnete Vermitt¬
lung festhielt, aber durch verschiedne Klauseln das Ziel der möglichen Teilnahme
am Kriege deutlich hinausschob. Und nicht viel besser erging es dem Gramontschen
Vorentwurf in Wien. Gleichviel welchen Wert Herr von Beust den bisherigen
Verabredungen beimaß, mußte er sich sagen, nachdem der Ausbruch des Kriegs
zur Tatsache geworden war, könne er, wohl oder übel, diese Gelegenheit nicht
vorübergehn lassen, wenn er seine Absichten gegen Preußen zur Ausführung
bringen wolle. In seiner Haltung war seit dem 15. Juli eine entschiedne
Wendung eingetreten. Aber die Schwierigkeiten waren groß und nicht leicht
zu überwinden. In dem Ministerrat, der am 18. Juli unter dem Vorsitz des
Kaffers Franz Joseph stattfand, kam. nachdem Beust und Andrassy scharf an¬
einander geraten waren, ein einmütiger Beschluß zustande, der aber verschiedne
Auslegung zuließ und die eigentliche Entscheidung ebenfalls hinausschob; er
lautete auf Neutralität, aber auf kriegerische Vorbereitungen und Verhandlungen
mit Italien wegen einer Mediation. In Paris konnte dieser Beschluß keine
große Befriedigung erregen; man hatte im Geiste schon, wie 80000 Italiener
in Bayern, so 150000 Österreicher in Böhmen einrücken sehen. Die Sprache,
die Beust gegen die Vertreter Frankreichs führte, ließ aber durchblicken, daß
das letzte Ziel seiner Politik nicht das Verharren in der Neutralität war. Der
Marquis von Cazaux schrieb: „es heißt, daß die Neutralitätserklärung nur eine
Art Vorwand sei, um die Rüstungen zu decken; Tatsache ist, daß die Rüstungen
in großem Maßstabe beginnen." Als dann am 23. Juli der Fürst Latour
d'Auvergne, der neue Botschafter in Wien, seine erste Unterredung mit Beust
hatte, telegraphierte auch er nach Paris: „Beust mußte die Neutralität erklären,
um sich die Möglichkeit zu verschaffen, für uns zu handeln. Ich erklärte, diese
Neutralität, die den Hoffnungen nicht entspreche, zu denen uns Österreichs
frühere Haltung berechtigte, müßte mindestens von einer Handlung begleitet sein,
die uns gegenüber den entschiednen Willen, uns sobald als möglich zu Hilfe
zu kommen, bekundete, zum Beispiel der sofortigen Absendung eines Armeekorps
nach Böhmen. Beust verweigerte dies, weil er Rußland und deutschfreundliche
Kundgebungen in Österreich fürchtete. Aber er weist den Gedanken eines diplo¬
matischen Aktes nicht zurück, jedoch ohne einen Vertrag zu wollen. . . . Eine
Allianz der drei Höfe wird möglich sein durch eine vorläufige Verständigung
Österreichs und Italiens."
Mit diesen Berichten der französischen Diplomaten stimmt aber auch der
Inhalt der berühmten Depesche überein, die Graf Beust am 20. Juli an den
Fürsten Metternich sandte, und die am 24. dem Herzog von Gramont mitge¬
teilt wurde. Sie lautet ganz anders als jene Depesche vom 11. Juli, die
rundweg den Beistand Österreichs verweigert hatte, aber sie stellt auch die
Grenzen fest, innerhalb deren Österreich seine Hilfe anbot. „Wiederholen Sie
Seiner Majestät und ihren Ministern, daß wir treu unsern Verpflichtungen,
wie sie in den zwischen beiden Souveränen gewechselten Briefen niedergelegt
sind, die Sache Frankreichs als die unsrige betrachten, und daß wir zum Er¬
folg seiner Waffen in den Grenzen des Möglichen beitragen werden." Es folgt
dann die Aufzählung der Schwierigkeiten: die Besorgnis vor russischer Ein¬
mischung, die Haltung der Deutschen und der Ungarn, worauf es weiter heißt:
„Unter diesen Umständen ist uns das Wort Neutralität, das wir nicht ohne
Bedauern aussprechen, durch eine gebieterische Notwendigkeit und eine vernünf¬
tige Würdigung unsrer Interessen auferlegt. Aber diese Neutralität ist nur
das Mittel, uns dem wahren Zweck unsrer Politik zu nähern, das einzige
Mittel, unsre Rüstungen zu vollenden, ohne uns einem plötzlichen Angriff, sei
es Preußens, sei es Rußlands, auszusetzen. . . . Indessen haben wir keinen
Augenblick verloren, uns mit Italien über die Mediation, deren Initiative der
Kaiser Napoleon uns überließ, in Verbindung zu setzen. Werden die neuen
Grundlagen, die Sie uns übermitteln, den Zweck erreichen, den die französische
Regierung im Auge hat? Mit andern Worten, werden sie von Preußen unan¬
nehmbar gefunden werden? Wie dem sei, wir nehmen sie als Ausgangspunkt
einer kombinierten Aktion an, wenn Italien sie annimmt." Schließlich erklärt
Herr von Beust, daß die Septemberkonvention nicht mehr der Situation ent¬
spreche, und daß man den Italienern nicht verwehren könne, von den Päpst¬
lichen Staaten Besitz zu ergreifen. Österreich werde sichs zur Ehre rechnen,
wenn ihm Frankreich die Verantwortlichkeit für eine Lösung der römischen
Frage überlasse. Die zuletzt genannte Anregung ist wohl der sprechendste Be¬
weis dafür, daß dem österreichischen Reichskanzler alles daran lag, die einem
Einvernehmen entgegenstehenden Hindernisse aus dem Wege zu räumen, Italien
den Eintritt in die Aktion zu erleichtern und somit zum „wahren Zweck" seiner
Politik, an das Ziel einer wirksamen Tripelallianz zu gelangen.
Doch gerade die römische Frage wurde abermals zu einem Stein des An¬
stoßes. Vimercati, der in Florenz wenig Geneigtheit, in den Krieg einzutreten,
aber große Geneigtheit, nach Rom zu gelangen, gefunden hatte, kam am 24. Juli
von dort nach Wien, wo nun am folgenden Tag eine Konferenz mit Latour
d'Auvergne, Beust und Vitzthum stattfand. Wieder verlangte der französische
Botschafter die sofortige Mitwirkung Österreichs durch Absendung eines Armee¬
korps nach Böhmen. Wiederum erklärte dies Beust für unmöglich, dagegen
war er bereit, mit Italien eine gemeinschaftliche Mediation zu vereinbaren, die
sich nach Vollendung der Rüstungen und nach einer voraussichtlich fruchtlosen
Sommation an Preußen in eine endige Mitwirkung verwandeln sollte. Vimercati
erklärte sich ermächtigt, eine solche Übereinkunft: Neutralität und Mediation
abzuschließen, einen Zweibund, der, wenn der Zeitpunkt gekommen sei, zur
Grundlage des Dreibundes dienen sollte; dabei setzte er aber voraus, daß Italien
das Ziel seiner nationalen Wünsche erreiche und nach Abzug der Franzosen
in den Besitz seiner natürlichen Hauptstadt gelange. Der französische Botschafter
widersprach; er bezweifelte, ob dies im Sinne des Kaisers sei: „Räumung
Roms — ja, aber Besetzung durch Italien — nein." In einer Audienz, die
der Botschafter an demselben Tage bei Franz Joseph hatte, sagte dieser, er
schreibe an Napoleon den Dritten, die Neutralitätserklärung ändre nichts an
seinen guten Gesinnungen für Frankreich, und Österreich beschleunige seine
Rüstungen, um imstande zu sein, Frankreich tatsächliche Hilfe zu leisten. Der
Kaiser zweifelte nicht an der Einwilligung Viktor Emanuels und befürwortete
seinerseits, daß Napoleon den Italienern keine Schwierigkeiten in der römischen
Frage mache, wenn er auch in dieser Sache nach Latours Bericht geringern
Eifer zeigte als sein Kanzler. Wirklich gab Viktor Emanuel „mit Freuden"
seine Zustimmung, und Beust machte sich mit Vimercati ans Werk, den Ver¬
trag über die gemeinsame Mediation zum Abschluß zu bringen. Der Vertrag
bestand aus acht Artikeln; er verpflichtete zu einer für Frankreich wohlwollenden
Neutralität, und im Falle der Versuch einer Vermittlung fehlschlüge, zu
schleuniger Kriegsrüstung. In der römischen Frage hieß es. Österreich solle
sich bei Frankreich dafür verwenden, daß die sofortige Räumung des Kirchen¬
staates unter Bedingungen geschehe, die den Wünschen und Interessen Italiens
entsprächen und den innern Frieden des Königreichs sicher stellten.
Glaubte man wirklich, daß sich der Kaiser Napoleon zu diesem Zugeständnis
in Sachen Roms verstehen werde? Selbst in diesem Augenblick wagte er es
nicht, die weltliche Papstmacht preiszugeben. Die Ehre, hieß es im französischen
Ministerrat vom 25. Juli, gebiete es, Rom nicht zu verlassen, außer gegen das
Versprechen Italiens, den Septembervertrag zu halten. Weisungen in diesem
Sinne waren noch an demselben Tage nach Wien und nach Florenz ergangen.
„Frankreich kann nicht seine Ehre am Rhein verteidigen und am Tiber auf¬
opfern. Wir haben dem Heiligen Stuhl bereits den Abmarsch unsrer Truppen
angekündigt. Er wird nicht stattfinden, wenn Italien uns nicht offiziell seine
Absicht erklärt, seinerseits die Septemberkonvention zu beobachten." Daß sich
Beust, der Protestant, in dieser Frage vorgedrängt und sich erboten hatte, dem
Kaiser Napoleon die Verantwortung für die Lösung des römischen Problems
abzunehmen, wurde vom Herzog von Gramont mit Ausdrücken des Wider¬
willens und der Entrüstung zurückgewiesen. Er sprach vom Verrat des öster¬
reichischen Kanzlers, und am 27. Juli telegraphierte er an den Fürsten Latour:
„Keinerlei Erwägung vermag uns vom Boden der Septemberkonvention abzu¬
drängen; lieber verzichten wir auf die Allianzen, die wir gesucht haben." An
demselben Tage telegraphierte Gramont nach Florenz: „Wenn man die Sep¬
temberkonvention aufrecht halten will, werden unsre Truppen am 5. August die
päpstlichen Staaten räumen. Im andern Fall warten wir ab, bis die italie¬
nische Regierung uns wissen läßt, wie sie sich entschließen wird." Und jetzt
gab die italienische Regierung nach. Sie ließ am 28. Juli durch den Gesandten
Nigra erklären, daß, wie Frankreich, so auch Italien zur Ausführung des Sep¬
tembervertrags und seiner Verpflichtungen zurückkehre.
Das war ein überraschender Schritt und schien dem Herzog von Gramont
ein großer Erfolg der französischen Politik zu sein. Es war nicht die einzige
Täuschung, der er in diesen Tagen verfiel. In seiner Kurzsichtigkeit durchschaute
er nicht, daß die Nachgiebigkeit der Italiener noch eine ganz andre Deutung zuließ.
Wenn ihnen ihr Hauptwunsch, ihre Grundbedingung von Frankreich verweigert
wurde, so mußten sie sich fragen, ob sie dann noch irgendeinen Grund hätten,
für Frankreich die Waffen zu ergreifen. Insofern war ihre Nachgiebigkeit eher
ein Abrücken von der Tripelallianz. Durch die Rückkehr zum Septembervertrag
erlangten sie den Abzug der Franzosen aus Rom, und damit sahen sie ihr Ziel
in greifbarer Nähe, ohne daß sie sich dafür in ein kriegerisches Abenteuer stürzen
mußten. Denn die Tatsache des Abzugs der Franzosen wog mehr als die Be¬
dingung, die sich die Italiener für diesen Fall auferlegten. Wenn nur einmal
die Franzosen den Kirchenstaat geräumt hatten — das weitere konnte man der
Logik der Ereignisse überlassen. So sah es auch der Vatikan an, wo man von
der Aussicht, daß die Integrität des Kirchenstaats künftig durch die Soldaten
Viktor Emanuels geschützt werden sollte, nichts weniger als erbaut war.
Das war zu einer Zeit, wo die kriegerischen Operationen schon begonnen
hatten, aber nicht mit dem Erfolg, den man sich in Paris und auch bei den
Bundesgenossen versprochen hatte. Im Aufmarsch der Armee ergaben sich un¬
erwartete Hemmnisse, mit dem raschen Vorstoß über den Oberrhein war es nichts,
und es war auch nichts mit der Neutralität der süddeutschen Staaten, denen
die fränkischen Heere die Befreiung vom Joch der Allianzverträge bringen
sollten. Graf Bray meldete nach Paris, die süddeutschen Staaten könnten nur
unter der Bedingung neutral bleiben, daß Frankreich und Preußen die Ver¬
pflichtung übernahmen, die Neutralität Süddeutschlands, einschließlich Badens,
zu achten. „Aber, schrieb der Herzog von Gramont am 19. Juli an Beust,
das hieße, uns die ganze Kriegführung unmöglich machen, und übrigens hat
Preußen, indem es Mainz und Rastatt besetzt hält, diese Klausel unmöglich
gemacht. Ich schließe daraus, daß die süddeutschen Höfe marschieren werden,
aber ohne Schwung und sozusagen an den Haaren herbeigezogen. ... In
Württemberg kann man von oben bis unten auf niemand zählen. Die wahren
Gesinnungen wird man erst nach einem Sieg erfahren. Und Sie kennen Varnbüler
hinlänglich, um zu wissen, welche plötzliche Zuneigung er für die Sieger em¬
pfindet. Diese Gesinnungen beunruhigen mich keineswegs. Ich habe diese
Situation vollkommen vorausgesehen, und eigentlich wäre die Neutralität der
süddeutschen Höfe ein beträchtliches Hindernis für uns vom strategischen Ge¬
sichtspunkt. Werfen Sie einen Blick auf die Karte und sagen Sie uns, wo
wir Preußen angreifen könnten, wenn wir Belgien, Luxemburg, Pfalz, Baden
und Württemberg respektieren sollen." Schon zwei Tage zuvor hatte Cazaux
aus Wien der Wahrheit gemäß telegraphiert: „Man kann die süddeutschen
Höfe nicht mehr zurückhalten. Das deutsche Nationalgefühl hat in einem
Tage alle Dämme durchbrochen. Die Freunde Frankreichs und Anhänger der
Neutralität sind jetzt in München und in Stuttgart zum Schweigen gebracht."
Gramont gab sich die Miene, als sei er darüber leicht getröstet. Aber
das Ausbleiben einer erfolgreichen Offensive, auf die man so bestimmt gehofft
hatte, war dem Fortgang der Allianzverhandlungen begreiflicherweise wenig
günstig. Zwar dem Zustandekommen des Zweibunds Österreich-Italien schien
nichts mehr im Wege zu stehen, nachdem sich Italien mit der Wiederherstellung
der Septemberkonvention begnügt hatte, und die Klausel von der Einmischung
des Wiener Kabinetts in die römische Frage fallen gelassen war. Ob aber
dieser vorläufige Zweibund, der nach einem weitern diplomatischen Stadium
möglicherweise von praktischen Folgen war, überhaupt noch einen großen Wert
hatte, mag schon damals den Unterhändlern zweifelhaft gewesen sein. Schon
sah alles in höchster Spannung den nächsten Kriegsereignissen entgegen. Jeden¬
falls tat Eile not. Den Vertrag vollends zum Abschluß zu bringen, über¬
nahmen Vitzthum und Vimercati, die beide am 29. Juli von Wien abreisten,
Vitzthum nach Florenz, Vimercati nach Paris, um die Zustimmung des Kaisers
Napoleon einzuholen. In Florenz wurde kein weiterer Anstand erhoben, und
am 1. August konnte Vitzthum nach Paris melden, König und Minister seien
günstig gestimmt, und die Sache werde ins reine kommen. Artikel 6 bestimmte,
daß nach Verwerfung der Mediation ein gemeinsamer Kriegsplan studiert werden
solle. Hier verlangte Gmmont noch die Einsetzung der Worte: „mit Frank¬
reich", das heißt, der Kriegsplan der beiden Machte sollte gemeinschaftlich mit
Frankreich festgestellt werden. In dieser Form wurde nun der Vertrag von
Vimercati dem Kaiser vorgelegt, der sich damals schon in Metz befand. Am
3. August gab dieser seinen Bescheid. Er schlug noch einige Abänderungen vor,
so an Artikel 5, der nach der vorauszusehenden Ablehnung der Mediation
„sobald als möglich" die Aufstellung eines italienischen Korps in Tirol und
eines österreichischen in Böhmen stipulierte. Statt „sobald als möglich" ver¬
langte der Kaiser „unverzüglich" zu setzen. Man kann daraus ersehen, welche
Beunruhigung bereits die Nachrichten vom Kriegsschauplatz bewirkten. Nun
fragte sich noch, ob Osterreich mit diesen Änderungen einverstanden sei. Latour
d'Auvergne hatte bisher die beste Hoffnung gehabt. „Ich hoffe noch, tele¬
graphierte er am 3. August, die Allianz zu drei unterzeichnen zu können, be¬
sonders wenn die preußische Armee ernsthafte Schläge erleidet. Vom Sieg
wird der Erfolg meiner Sendung wesentlich abhängen." Am 5. August aber
mußte er nach Paris berichten, daß Beust die Änderungen ablehne, die auf Be¬
schleunigung des Eintritts in die Aktion zielten. Beust hatte eine feine Witterung
gehabt: am folgenden Tage gingen die Schlachten von Wörth und von Spichern
für die Franzosen verloren, und damit waren die Allianzverhandlungen end-
giltig zu Grabe getragen. „Mit Besiegten verbindet man sich nicht", sagte der
Herzog von Gramont. Die letzten verzweifelten Versuche des Kaisers, Italien
zur Hilfeleistung zu bewegen, können wir übergehn. Sie mußten schon darum
erfolglos sein, weil die Italiener jetzt den Weg nach Rom offen sahen.
Werfen wir einen Blick auf den Gang der Verhandlungen zurück, deren
Gelingen dem Krieg „vielleicht eine andre Wendung gegeben hätte". Vor allem
steht fest, daß auf feiten der drei Beteiligten der beste Wille vorhanden war,
zu einem politischen und voraussichtlich kriegerischen Bündnis zu gelangen zum
Zweck, „den Frieden Europas auf festere Grundlagen zu stellen". Frankreich
und Österreich verband der gemeinsame Haß gegen das siegreiche Preußen und
das werdende Deutschland. Italien war an Frankreich gebunden, weil dieses
die Hand auf den Kirchenstaat gelegt hatte, und das Schwert gegen den Ver¬
bündeten von 1866 zu ziehen, machte wenigstens Viktor Emanuel geringen
Kummer. Aus diesen Voraussetzungen entspannen sich die Bündnisverhandlungen,
die im Jahre 1869 gepflogen wurden. Sie blieben ergebnislos, weil Napoleon
der Dritte den Italienern jedes Zugeständnis in der römischen Frage ver¬
weigerte. Immerhin verstand man sich zum Versprechen einer gegen Preußen
gerichteten gemeinsamen Politik, und dies wurde bekräftigt durch die Monarchen¬
briefe, die das bisherige Stadium der Verhandlungen abschlossen und zugleich
als ein zwar nicht streng verbindliches, aber moralisches Band bei späterer Ge¬
legenheit einen Wiederanknüpfungspunkt darboten. Diese Gelegenheit brach
herein, allen Teilen überraschend, beim plötzlich auftauchenden Streit um die
spanische Krone. Aber jetzt bremste der österreichische Reichskanzler, so stark er
konnte, weil er weder den Anlaß zu einem Rachekrieg für günstig noch den
Zeitpunkt für erfolgversprechend hielt; er suchte den Krieg zu verhindern, indem
er seine Mitwirkung versagte. Allein er bremste nur so lange, als die Ent¬
scheidung noch nicht unwiderruflich getroffen war. Sobald der Krieg eine Tat¬
sache war, hielt er es für geboten, die Gelegenheit, im Bunde mit Frankreich
seine politischen Ziele zu erreichen, nicht zu versäumen, er erkannte auch infolge
der früher ausgetauschten Erklärungen eine moralische Verpflichtung zur Hilfe¬
leistung an. Nur sollte bei der Überstürzung, womit die Katastrophe herein¬
gebrochen war, der Eintritt in die Aktion erst vorbereitet werden durch eine
gemeinschaftliche Mediation Österreichs und Italiens, die sich später, nach
Vollendung der Rüstungen, in tätige Mitwirkung verwandeln sollte. Am Zu¬
standekommen dieses Zweibundes, der die Basis des Dreibundes werden sollte,
ist vom 26. Juli bis zum 4. August unter Mitwirkung Frankreichs in aller
Hast gearbeitet worden. Auch für ihn war zunächst die römische Frage eine
Klippe. Als dieses Hindernis glücklich beseitigt worden war, blieben noch
Differenzen zwischen Österreich und Frankreich, wobei jenes unter dem Eindruck
der ersten Kriegsereignisse dem Andrängen des Kaisers Napoleon auszuweichen
suchte. Diese Differenzen waren noch nicht beglichen, als die Kunde von den
Schlachten bei Wörth und Spichern den Verhandlungen ein jähes Ende
bereitete.
Also kurz gesagt: im ersten Stadium scheiterten die Allianzverhandlungen
an der römischen Frage, im zweiten an der berechnenden Zögerungspolitik
Österreichs, im dritten an dem Eindruck der deutschen Siege. Der Hauptsünder
in der Verschwörung aber, der eigentliche Faiseur der Verhandlungen war nicht
der Kaiser Napoleon, sondern der Herr von Beust. Er hat es verstanden, die
Fäden so lange in der Hand zu behalten — bereit, sie vollends zusammenzu¬
knüpfen, aber zugleich immer noch imstande, sie wieder aufzulösen —, bis er
einer letzten Entscheidung glücklich überhoben war. Wenn Viktor Emanuel
zuletzt erleichtert zum Grafen Vitzthum sagte: Nun sind wir fein heraus, nous
avons xar Kcmneur 6<zKg,xxö8, so hat Wohl Beust bei sich dasselbe gedacht. Aber
noch im Jahre 1873 sagte er zu dem damaligen Botschafter Herrn von Banneville:
„Wenn Sie nur trotz der ungenügenden Streitkräfte und der ungenügenden
Vorbereitung entschlossen und rasch in Deutschland eingebrochen wären, so konnte
alles anders gehn." Banneville hörte in Wien, daß noch nach den Schlachten von
Metz und Sedan, noch zu Ende des Jahres, eine ziemlich große Partei, an
ihrer Spitze der Kriegsminister Kühn, für einen Marsch nach Berlin war. Eine
Armee von 150000 Mann hätte für diesen Zweck genügt, man hätte sich in
Deutschland durch die 300000 französischen Kriegsgefangnen verstärken können,
und die Drohungen Rußlands nahm man nicht ernst. „Die Wahrheit ist, so
schloß Banneville seine Depesche vom 5. Januar 1873, daß es in Wien am
guten Willen nicht gefehlt hat. Aber man war nicht bereit, so wenig wie leider
wir selbst es waren. Der Unterschied war nur der, daß man es wußte." Heute
sind dies längst vergangne Dinge. Sie gehören der Geschichte an und können,
ohne bittere Gefühle zu erwecken, zum Gegenstand unparteiischer Untersuchung
gemacht werden. So begreiflich es ist, daß nach dem Jahre 1866 in Wien
Stimmungen die Oberhand gewannen, wie sie in diesen Bündnisverhandlungen
zum Ausdruck kamen, so erfreulich ist es, daß sie so rasch und so gründlich
überwunden worden sind. Zuversichtlich kann heute gesagt werden, daß eine
Wiederkehr der damaligen Konstellation zur Unmöglichkeit geworden ist.
^MMM'
/M>MA(y>U
WM
^l^Mlohcmnes Reinke hat seinem berühmten größern Werke „Die Welt
als Tat" ein kleines Buch*) ähnlichen Inhalts nachgeschickt, das
als zuverlässige und zugleich angenehme Einführung in die Natur¬
wissenschaften auf das wärmste und dringendste empfohlen werden
I muß. Es orientiert über den gegenwärtigen Stand der Forschung
in Physik, Chemie und Biologie, stellt die sichern Ergebnisse zusammen und
zerstreut die Nebel, die philosophische Vorurteile unter dem falschen Scheine
exakter Forschung über manche Gebiete, namentlich über das biologische, ver¬
breitet haben. Nur zweierlei mag daraus angeführt werden. Das Charakte¬
ristische des Organischen ist nach Reinke — nicht die Gestalt, wie Chamberlain
gesagt hat, sondern — die Selbstgestaltung. Eine Maschine darf man nicht
bloß, sondern muß man den Organismus nennen, wenn er auch die verwickeltste,
feinste und wunderbarste aller Maschinen ist. Das Maschinenhafte besteht darin,
„daß das Leben auf Bewegungen beruht, die zu ihrem Betriebe eine Zufuhr
von Energie erfordern, die durch die Gestaltung der Teile zu ganz bestimmten
Verrichtungen gezwungen wird". Ihre Arbeit kann als automatische gedacht
werden, nur darf mau nicht vergessen, daß jede Maschine nur bis zu einem
gewissen Punkte Automat ist. Ein Kriegsschiff würde nichts leisten ohne die
Seelentätigkeit des Kommandanten und die körperliche Arbeit des Steuermanns,
der Heizer und andrer Personen, eine chemische Fabrik steht still, sobald die
Chemiker und die Arbeiter sie verlassen. In den Zellen gehn chemische Prozesse
der verschiedensten Art gleichzeitig vor sich. In der Fabrik und im Laboratorium
ist das nur zu machen, wenn man für jeden Einzelvorgang einen besondern
Topf bereit hat. „Im Protoplasma der Zellen vermag das Mikroskop solche
Töpfe nur in einzelnen Fällen zu unterscheiden, z. B. die grünen Farbkörper
der Pflanzenzellen, in denen durch das Licht die Kohlensäure zersetzt wird."
Und ein geordneter Ablauf zahlreicher chemischer Reaktionen dicht nebeneinander
in einer Fabrik ist nur denkbar, „wenn jeder Topf von einem intelligenten
Arbeiter bedient wird. In der Pflanzen- und Tierzelle indessen sind keine
automatischen Einrichtungen erkennbar", von denen man denken könnte, daß sie
die intelligente Leitung ersetzten. „Wir können sie als unsichtbare Selbstregula-
tionen hinzudenken. Eine Maschine leistet nur etwas im Zustande der Be¬
wegung. Diese Bewegung besteht in der Verrichtung mechanischer Arbeit und
erfordert darum die Zufuhr von Energie. Die Energie vermag aber nur dann
das Beabsichtigte zu leisten, wenn ihre Arbeit gelenkt und geleitet wird durch
eine Struktur, deren Wirksamkeit als kausaler Faktor zur Arbeit hinzukommt."
An einer frühern Stelle ist dargelegt worden, daß Richtungsänderung als eine
Kraft bezeichnet werden muß, und zwar als eine, die nicht energetischer Natur
ist. Ein Nußknacker, der durch horizontalen Fingerdruck in Tätigkeit versetzt
wird, würde seine Arbeit nicht leisten, wenn nicht eine Schraube den horizon¬
talen in vertikalen Druck verwandelte. Jede Maschine wirkt nur dadurch, daß
ihre Formen die Energie zwingen, in einer bestimmten Richtung zu wirken.
Reinke nennt die in der Maschine zu einem System vereinigten Formen System¬
bedingungen oder Systemkrüfte. Kräfte müssen sie genannt werden, weil sie
wirken. Aber energetisch wirken sie nur insofern, als sie ohne zugeführte Energie
nichts leisten können. An sich sind sie nicht energetisch; denn die Energie ist
unzerstörbar, die Form, in der eben das wirksame der Systemkrüfte besteht, ist
zerstörbar, und während die Energie selbst arbeitet, arbeitet die Form nicht
durch sich selbst, sondern nur durch den Stoff, dem sie anhaftet, und der Energie
enthält, z. B. das Eisen. Dieselbe Form in Pappdeckel vermag nichts. Der
Punkt, an dem die Auffassung des Organismus als einer Maschine bestimmt
ein Ende hat (wenn man dieses Ende nicht schon beim Fehlen sichtbarer Leiter
der Arbeit und Bediener der Maschine gekommen sehen will), ist die Entstehung
der Organismen, ihre Fortpflanzung. „Es gibt keine Maschine, und sie ist auch
für die kühnste Phantasie nicht ausdenkbar, die ein El legte, aus dem in schritt¬
weiser Differenzierung die Teile einer neuen Maschine in harmonischem Zu¬
sammenhange hervorwüchsen____ Das Leben des Organismus besteht in
verwickelten Bewegungen, und diese sind der Ausdruck mannigfaltiger Arbeits¬
leistungen. Deren besondre Art ist gegeben in der Betriebsenergie und der
Konfiguration des Systems; diese setzt sich zusammen aus den einzelnen System¬
bedingungen. Die Energie ist nicht erblich; sie tritt von außen in den Organis¬
mus hinein. Die Systembedingungen vererben sich bei den Tieren und Pflanzen.
Sie werden aufgebaut in der Entwicklung, und hierfür sind besondre Kräfte
erforderlich, die gleichfalls vererbt werden, und die gleich den System¬
bedingungen nicht energetischer Art sind; ich habe sie Dominanten genannt.
Für den Organismus als arbeitendes und sich entwickelndes Wesen kommen
somit vier fundamentale Begriffe in Betracht: der Stoff, die Energie, die System-
bedingnngen oder Systemkräfte und die Dominanten."
In Beziehung auf die Abstammungslehre bekennt Reinke, daß er zu ihren
Anhängern gehört; aber er gibt mit der dem gewissenhaften Forscher gebotnen
Vorsicht das Hypothetische nicht für Gewißheit aus und scheidet von dem Be¬
weismaterial, das dafür angeführt zu werden pflegt, alles nicht Tatsächliche,
nicht wirklich Bewiesne aus. „Die Entstehung neuer Arten im Sinne Linnes
ist bisher experimentell nicht beobachtet worden." Gegen die Darwinische Selek¬
tionslehre wendet er ein, daß, wenn sie gelten sollte, die wundervolle und
komplizierte Zweckmäßigkeit im Bau der Tiere und Pflanzen durch den Zufall
hervorgebracht sein müßte. Der Zufall könne aber unmöglich eine Fülle
positiver Schöpfungen hervorbringen. „Alle vorliegenden Beobachtungen drängen
wohl zu dem Schlüsse, daß die Veränderung der Lebensbedingungen in einer
Pflanze Kräfte auslösen kann, die eine zweckmäßige Umgestaltung veranlassen;
aber diese Kräfte wirken von innen heraus und nicht von außen her auf die
Pflanze, wie der Kampf ums Dasein es tut. Ganz verfehlt aber scheint es
mir zu sein, die zufällige Wirkung des Kampfes ums Dasein zu vergleichen
mit der intelligenten Auslese eines Tier- oder Pflanzeuzüchters, der aus den
Einzelwesen einer Aussaat nur solche Individuen behält, die ihm nützliche Ver¬
besserungen der Nasse zu bieten scheinen, und diese allein fortpflanzt. Mensch¬
liche Intelligenz und Zufall sind inkommensurable Werte. Dabei lehrt die Er¬
fahrung noch, daß die durch menschliche Auslese gewonnenen neuen Kulturrassen
alsbald wieder schwinden und zugrunde gehn, wenn die Intelligenz des Menschen
die Züchtung nicht fortgesetzt überwacht." Die Abstammung des Menschen vom
Affen oder einem affenähnlichen Tiere ist bis jetzt durch keine Tatsachen bewiesen.
Angenommen auch, große anatomische Ähnlichkeit zweier Organismen bewiese
die Abstammung des einen vom andern, so sind doch bis jetzt Zwischenglieder
zwischen dem Menschen und dem von diesem im anatomischen Bau sehr bedeutend
abweichenden Affen noch nicht gefunden worden. Solche Zwischenglieder müßten
aber nachgewiesen werden, wenn der allmähliche Übergang der einen Art in die
andre glaublich erscheinen sollte. Die bis jetzt gefundnen Reste des Diluvial¬
menschen beweisen, daß er ein Mensch von ähnlicher Höhe der Organisation
war wie wir. Auch die Neandertal- und Krapinaschädel sind echte Menschen¬
schädel, die nur einer tiefstehenden Rasse angehören. „Ebensowenig kann davon
die Rede sein, daß die im Jungtertiär von Java gefundnen Knochen, denen
man den Namen Pithekanthropus (Affenmensch) gegeben hat, das ersehnte Binde¬
glied zwischen Mensch und Affe beweiskräftig darstellen. Schon Virchow hat
sich mit der Vorsicht eines echten Naturforschers dahin ausgesprochen, es stehe
nicht fest, ob jene Knochen von einem und demselben Tiere herrühren, auch
wären die Skelettreste zu unvollständig, um eine klare Vorstellung von der
Beschaffenheit des Tieres gewinnen zu lassen. Der wichtigste dieser Knochen
ist ein Schädeldach mit verhältnismäßig weiter Kapsel, die auf ein relativ großes
Gehirn schließen läßt, scheint aber einer Affenart anzugehören, nach R. Hertwig
einem ausgestorbnen Typus aus der Verwandtschaft des Gibbon---- In jedem
Falle bleibt eine tierische Abstammung des Menschen unbewiesen; sie ist eine
willkürliche Hypothese, ein Spiel der Gedanken, der Phantasie. Will man aber
aus der Ähnlichkeit zwischen Menschen- und Affengestalt auf den Ursprung aus
gemeinsamem Stamme schließen, so enthält die Hypothese der Abzweigung des
Menschen aus der Stammlinie eines Menschenaffen etwas überaus Gewalt¬
sames, weil die Entstehung eines Menschengehirns aus einem Affengehirn einen
ungeheuern Sprung bedeuten würde, wie er niemals erfahrungsmäßig bei
sonstigen Abänderungen von Tieren beobachtet worden ist. Es kann hierbei
nicht ankommen auf Umfang und Gewicht des Gehirns, sondern nur auf seine
feinste innere Organisation, die dem Menschen sein ganzes geistiges Leben
ermöglicht, während die seelischen Fähigkeiten den Affen unbedingt in die Tier¬
welt verweisen. Für den fundamentalen Unterschied der seelischen Eigenschaften
spricht genugsam die eine Tatsache, daß die Affen seit der Diluvialzeit keine
geistige und damit geschichtliche Fortentwicklung gezeigt haben, sondern ganz
und gar auf der Stufe der Säugetiere verharren." Dennert gibt in seinem
neuesten Buche eine Anzahl Proben davon, wie Haeckel mit den Tatsachen
umzuspringen sich erlaubt; eine davon bezieht sich auf den Pithekanthropus.
Das Ergebnis der Untersuchung der Knochenreste dieses „Affenmenschen" ist
heute etwa folgendes: für einen Menschenaffen halten ihn zehn, darunter
Virchow und Ranke; für einen Menschen sieben, für eine Zwischenform auch
sieben. Wie unterrichtet nun Haeckel seine Gläubigen von diesem Ergebnis?
Er behauptet in seinem Buche „Aus Jnsulinde", daß die Deutung dieser Knochen
„als Überreste eines wirklichen" Mittelglied es zwischen den ältern Menschenaffen
und den ältesten Urmenschen jetzt von fast allen sachkundigen Naturforschern
angenommen ist". Am Schlüsse seiner Betrachtung über die Darwin-Haeckelsche
Abstammungshypothese schreibt Reinke: „Bei dieser Auffassung bin ich mir
völliger Wunschlosigkeit bewußt. Wäre die Naturforschung imstande, den Ursprung
des Menschen tatsächlich aufzuklären, so wäre mir jede Lösung recht, die der Wahr¬
heit entspräche. Ich kann aber nicht verhehlen, daß nach meiner Ansicht die Männer,
die heute als Dogma verkünden, die Abstammung des Menschen von einem
Menschenaffen sei bewiesen, bewiesen durch den Pithekanthropus, den Neandertal-
schüdcl, die Ähnlichkeit des Blutes usw., von einem Vorurteile bzw. Wunsche sich
leiten lassen und, aller Regeln der Naturwissenschaft vergessend, da von Beweisen
sprechen, wo nur von fernen Möglichkeiten die Rede sein kann."
In jüngster Zeit hat sich Reinke veranlaßt gesehen, gegen das Haeckeltum
eine Broschüre zu veröffentlichen: Haeckels Monismus und seine Freunde.
Ein freies Wort über freie Wissenschaft. (Leipzig, Johann Ambrosius Barch,
1907.) Er erzählt darin, bisher habe er den Haeckelschen Lehren nur seine
eignen in positiver Form entgegengestellt, und zwar in der wissenschaftlich allein
gerechtfertigten Form, die deutlich hervortreten läßt, was wir wissen, was wir
nicht wissen, und was wir nicht wissen können, die zwischen Tatsachen und
Hypothesen unterscheidet und diese ehrlich als das bezeichnet, was sie sind.
Dieser echten Wissenschaft stehe eine Afterwissenschaft entgegen, „die Tatsachen
und Hirngespinste durcheinander mengt und daraus Dogmen knetet, die als
unfehlbare Weisheit verkündet werden". Obgleich er von Vertretern dieser
Afterwissenschaft wiederholt in beschimpfender Weise angegriffen worden sei,
habe er doch Haeckels Namen nur dreimal in der Öffentlichkeit genannt, das
einemal ihm gegenüber an die UnHaltbarkeit des biogenetischen Grundgesetzes
erinnert, dann in einem Vortrage die Behauptung Haeckels, daß der Mensch
erwiesn ermaßen von einem Affen abstamme, als Flunkerei bezeichnet, und in
einem andern Vortrage einige Urteile Chcimberlains über Haeckel zusammen¬
gestellt (aus dessen Kantbuche. Ich habe im zweiten Bande des Jahrgangs 1906
der Grenzboten auf S. 413 die Seiten des Kantbuches angegeben, auf denen
der Leser Chamberlains Haeckelkritik findet). Sich ausdrücklich gegen Haeckel
zu wenden, habe ihn auch dessen neuestes Buch: „Lebenswunder" noch nicht
bestimmt, das in der Unwissenschaftlichkeit die „Welträtsel" womöglich noch
überbiete; erst der Umstand, daß sich unter Haeckels Ehrenvorsitze der Monisten¬
bund konstituiert habe, lasse es ihm als Pflicht erscheinen, aus seiner Reserve
hervorzutreten. Am 10. Mai des Jahres habe er die Aufmerksamkeit des Herren¬
hauses auf den Gegenstand gelenkt.
Der Wortlaut seiner Herrenhausrede ist in die Broschüre aufgenommen
worden. Es heißt darin: Der am 11. Januar 1906 zu Jena unter Haeckels
Vorsitz gegründete Monistenbund verfolge den ausgesprochnen Zweck, die christ¬
liche Weltanschauung umzustürzen, „die nach Z 14 der preußischen Verfassung
bei allen Einrichtungen des Staates, die mit der Religionsübung zusammen¬
hängen, zugrunde gelegt werden soll". Das Programm freilich sei diplomatisch
und vorsichtig gehalten; einer deutlichern Sprache befleißigten sich die Flug¬
schriften des Bundes. In der ersten werde behauptet: durch die Herrschaft der
Naturgesetze seien die drei großen Zentraldogmen, der persönliche Gott, der freie
Wille und die Unsterblichkeit der Seele ausgeschlossen. In der zweiten heiße
es in Beziehung auf das Christentum: „Diese geistige Armseligkeit und jene
bewußte oder unbewußte Heuchelei, sie eben begründen die Weltherrschaft der
Gedankenlosen, 16 est der frommen Schafe mit ihren Hirten an der Spitze;
sie eben halten das geistige, gesellschaftliche und staatliche Leben Europas in
einer Sklaverei, die beschämend, die empörend ist. Und diese offenbare Kalamität,
die kein ehrlicher Mensch mehr zu leugnen wagt, sie wird nicht eher weichen,
als bis die Gebildeten unsrer Nation klar und deutlich erkennen:
Erstens: daß das Christentum als Weltanschauung völlig zersetzt und auf¬
gelöst, als Ethik heute völlig ungenügend ist;
zweitens: daß wir imstande sind, an die Stelle des Alten, Veralteten' eine
neue und entwicklungsfähige Weltanschauung zu setzen, die ein Ergebnis natur¬
wissenschaftlich-philosophischen Denkens ist und in ihrer Anwendung auf das
Einzel- und Gesellschaftsleben die segensreichsten Wirkungen verspricht;
drittens: daß dieses Neue und Bessere nicht nur das Recht sondern auch
die Pflicht hat, sich im organisierten Kampfe gegenüber dem organisierten Alten
diejenige Stellung im Geistesleben der Menschheit zu erringen, die seiner kulturellen
Bedeutung entspricht."
Weiterhin wird bemerkt, das Vorhandensein dieser Weltanschauung auch
noch in unsrer Zeit könne man nur noch nach Analogie mit rudimentären
Organen in einem Organismus beurteilen. „Wie diese, z. B. der Blinddarm,
dem Organismus in seiner Gesamtheit gefährlich, lebenhemmend, lebenvernichtend
werden können, so jene Weltanschauung für die Kultur eines Volksganzen.
LxeniM äovsnt: Italien, Spanien. Mogegen zu beachten ist, daß Italien
einen viel größern Prozentsatz von Atheisten hat als die Staaten der größten¬
teils bigott gläubigen Angelsachsen: England und die Vereinigten Staaten.)
Und wenn wir dies erkannt haben, wenn wir die christliche Weltanschauung als
für die Gegenwart irrig und kulturhemmcnd erkannt haben, so ist es unsre ver¬
dammte Pflicht und Schuldigkeit, diese Weltanschauung zu bekämpfen, wo sie
sich breit macht." Nach weitern Anführungen aus dieser Flugschrift fährt
Reinke fort: „Wenn ein Philosoph in seiner Studierstube ein noch so religions¬
feindliches System ausheckt und dies literarisch bekannt macht, so wird das für
die Organe des Staates, insbesondre für die parlamentarischen Körperschaften
höchstens ein indirektes Interesse haben. Wenn aber derartige grundstürzende
Gedanken von einer Schar von Fanatikern aufgegriffen werden, die unter ein¬
heitlicher Leitung in festgefügter Organisation damit zur Propaganda der Tat
schreiten, so stehn wir vor dem Versuch, den Monismus durch die Gewalt, die
jeder festverbundnen und zielbewußt geführten Masse von Menschen innewohnt,
in unserm Staate und in unsrer Gesellschaft gewissermaßen zwangsweise zum
Siege zu verhelfen. Meine Herren, ich glaube, daß hier der Punkt ist, wo
auch unser Staat auf der Hut zu sein hat, und wo wir als parlamentarische
Körperschaft zu mahnen haben: xrineixiis odsw! Meine Herren, es könnte
mir hier von weniger gut unterrichteter Seite der Artikel 20 der Verfassung
entgegengehalten werden, der lautet: Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei.
Auch ich halte diesen Artikel für ein wertvolles Palladium unsrer Freiheit, zu
denken und zu forschen, die ich mir nun und nimmer verkümmern lassen werde;
aber, meine Herrn, dieser Artikel trifft hier nicht zu. Im Gegenteil, der Monis¬
mus Haeckelscher Observanz sucht die wahre Wissenschaft unter das kaudinische
Joch der Unwissenschaftlichkeit zu beugen." Reinke erinnert daran, wie die
einzelnen Teile der „Welträtsel", dieses Korans des Haeckelschen Monismus,
von Fachmännern beurteilt worden sind. Professor Loofs hat die Unwissen¬
schaftlichkeit der theologischen Abschnitte, Paulsen die der philosophischen, Chwolson
(siehe das achte diesjährige Heft der Grenzboten) die der physikalischen nach¬
gewiesen. Der biologische Inhalt der Welträtsel könne aber kaum wissenschaft¬
licher genannt werden, als der physikalische, der theologische und der philo¬
sophische (obwohl Haeckel Professor der Zoologie an einer deutschen Uni¬
versität ist), „weil Haeckel auf biologischen Gebiet fortwährend Bewiesnes und
Unbewiesnes kritiklos durcheinander mengt und dadurch in den Köpfen seiner Leser
Verwirrung anrichtet. Durch diese Kritiklosigkeit scheidet Haeckel in den Augen
vieler aus der Schar der ernst zu nehmenden Naturforscher überhaupt aus".
Die Wirksamkeit der in zweihunderttausend Exemplaren verbreiteten Welträtsel,
die besonders von Primanern, angehenden Volksschullehrern und höhern Töchtern
eifrig studiert würden, dürfe ebensowenig unterschätzt werden wie die des Monisten¬
bundes. Reinke schlägt darum als Abwehrmaßregel vor: die Verbesserung und
Vertiefung des naturwissenschaftlichen Unterrichts am Gymnasium, speziell die
Einführung eines biologischen Unterrichts in der Prima. Seiner Überzeugung
nach hat dieser Unterricht als formales Bildungsmittel entschiedne Vorzüge vor
den alten Sprachen.
In der Broschüre demonstriert Reinke die Unwissenschaftlichkeit Haeckels an
zwei Proben. In dessen Entwicklungstheorie spielt die Monere, ein struktur¬
loses Protoplasmaklümpchen, eine entscheidende Rolle, und darum hält Haeckel
ein diesem Phantasiegebilde fest, nachdem von andern Forschern nachgewiesen
worden ist, daß sie nicht existiert. Zufällig gerät uns gerade eine Streitschrift
eines solchen in die Hände: Ernst Haeckel als Biologe und die Wahr¬
heit von Dr. Arnold Braß (Stuttgart, Max Kielmann, 1906). Haeckel ist
auch in der neuesten Auflage der 1878 erschienenen natürlichen Schöpfungs¬
geschichte seiner Monere noch treu geblieben; dazu bemerkt Braß: „Wenn man
so etwas liest, dann fragt man sich unwillkürlich, hat der Autor denn dreißig
Jahre hindurch Dornröschen gespielt?" Ebenso erklärt Braß die (übrigens von
Richard Hertwig vollendete) Gastrulatheorie Haeckels für widerlegt und auf¬
gegeben. Die Entwicklung der einfachsten mehrzelligen Organismen, die nur ein
kugelförmiger Zellenhaufen waren, zu höher organisierten soll überall damit
begonnen haben, daß die Kugel eine Einstülpung erlitt, die eine Höhlung: den
Urdarm oder Urmagen, herstellte. Von den zur Erläuterung dieser Theorie
beigegebnen Zeichnungen Haeckels wird gesagt: „Die von Haeckel fortwährend
wider besseres Wissen gebrachten, roh schematischen Darstellungen von gleich¬
müßig ausgebildeten Zellen und Zellenschichten sind geradezu eine Verhöhnung
unsrer mühsam errungnen physiologischen Erkenntnisse." Weiterhin erzählt Braß
von einer Spinne, die — ein Lungentier — es fertig bringt, ihre Eier zum
Schutz vor der Grabwespe unter dem Wasser abzulegen, indem sie mit wunder¬
barer Geschicklich reit eine Taucherglocke baut. Dazu bemerkt er richtig: „Solche
Fähigkeiten und Eigenschaften vermag ein Tier nicht durch natürliche Zucht¬
wahl, Kampf ums Dasein usw., also durch allmähliche Summierung unmerk¬
licher Fortschritte in langen Zeiträumen zu erwerben; denn sie können nur
nützen, wenn sie sofort ganz und vollkommen zutage treten." In Haeckels
Bahnen einzulenken, davor hat Braß das Auge seiner naturwissenschaftlich
gebildeten aber trotzdem frommen Mutter behütet. Es sei ihm nicht möglich
gewesen, „das Höchste, Reinste im Leben, das Mensch und Tier, trotz des
erstern »Säugetiernatur«, so scharf voneinander trennt, die selbstlose Mutter¬
liebe und Muttersorge, die bis zum Tode währt und dadurch unerreichbar weit
Von tierischen Trieben und Instinkten abrückt, zu mißachten. . . . Wenn die
größten Künstler so gern und so sinnig Maria mit dem Christuskinde darstellen,
so verherrlichen sie wahrlich nicht das Säugetier."
Als eine zweite Probe unglaublicher Leichtfertigkeit führt Reinke aus den
„Lebenswundern" den Satz an: „Diese Naturmenschen (z. B. Weddas, Austral-
neger) stehen in psychischer Hinsicht näher den Säugetieren (Affen, Hunden) als
dem hochzivilisierten Europäer." Neinke schlägt als Gegenbeweis ein Experiment
vor. „Man nehme von einem solchen Naturvolke mehrere Säuglinge (ein ver¬
einzelter könnte zufällig Idiot sein), bringe sie nach Deutschland, gebe sie
deutschen Familien in Pflege und lasse sie die Volksschule besuchen. Hätten sie
das vierzehnte Jahr erreicht, so würde man den Abstand ihrer Psyche einerseits
von der des heutigen Deutschen, andrerseits von Hunden und Pferden beurteilen
können. Umgekehrt, wäre Herr Haeckel als Säugling von den Weddas geraubt
worden und unter ihnen aufgewachsen, so hätte er unter ihnen vielleicht den
Rang eines Propheten oder Oberpriesters erreicht, aber ich gestatte mir zu
zweifeln, ob sich dann seine Geisteskultur sehr weit über die seiner wilden Um¬
gebung erheben würde." Haeckel sieht in der „Affensprache", über die bekanntlich
Garner ein albernes Buch geschrieben hat, die Vorstufe der menschlichen Sprache.
Andre, untern andern Hartmann, haben gefragt, warum denn die Affen, wenn
sie über die Fähigkeit, Sprache zu schaffen, verfügen, nicht ebenfalls gleich den
Menschen im Laufe der Jahrtausende ihre auch nach Garner sehr unvollkommne
aus Gewimmer und Schreien bestehende Sprache zu einer vollkommnen Laut¬
sprache ausgebildet haben, was um so auffälliger ist, weil sie alle zur Laut¬
bildung notwendigen Organe besitzen. Von den Aussprüchen der Anthropologen
über diesen Gegenstand, die Dennert zusammenstellt, mag nur einer angeführt
werden. I. Ranke schreibt: „Die Organe, die bei dem Menschen der Bildung
der Sing- und Sprechstimme dienen, besitzt der menschenähnliche Affe, wie alle
höhern Säugetiere, in einem Grade der Ausbildung, daß der Mensch, mit ihnen
ausgerüstet, sie in sehr vollkommner Weise zur Laut- und Sprechsprache würde
benutzen können. Unterschiede sind ja vorhanden, aber sie erscheinen zum Teil
zugunsten der menschenähnlichen Affen. Doch der Besitz dieser Organe begründet
noch nicht das Sprachvermögen, sie sind nur zum Reden in der Lautsprache
unentbehrlich; aber die Sprache des Menschen ist von dieser ganz unabhängig,
sie ist eine Eigenschaft unsers Geistes."
Den fachmännischer Gegnern Haeckels hat sich jüngst noch I. von Uxkull
zugesellt; in zwei Artikeln der Neuen Rundschau, einem kürzern im Maiheft,
einem sehr umfangreichen im Juniheft, bekämpft er den materialistischen Monismus.
Er hebt als das, was den Organismus von allem Unorganischen deutlich unter¬
scheide, die Struktur hervor, und schreibt im ersten Artikel unter anderm: „Es
läßt sich heute mit voller Sicherheit aussprechen, die Struktnrbildung ist selbst
ein unabhängiger Naturfaktor, der keine Struktur ist. Dieser Naturfaktor führt
die Entwicklung jedes Tieres vom Allgemeinen zum Besondern. Es entstehen
erst die typischen Formen, dann die Formen, die den Familien-, den Gattungs-
charakter tragen, schließlich die charakteristischen Formen der Art und endlich
das Individuum. So hat K. E. von Baer in allen Punkten Recht behalten,
und das biogenetische Grundgesetz Haeckels, jene halb physiologische halb historische
Zwitterbildung, löst sich in blauen Dunst auf." In dem längern Essay äußert
er sich über die Verbreitung des Haeckeltums. Er habe den Eindruck gewonnen,
„daß die Zeitungen ihren Leser für ein Konglomerat von ziemlich widerwärtigen
Eigenschaften und Instinkten halten, wie Eitelkeit, Hochmut, Ungerechtigkeit,
Neid und Habgier". Man dürfe sich demnach auch über die Verbreitung der
Lehren Haeckels nicht wundern, „denn der Haeckelismus ist seinem wahren
Wesen nach nichts als eine einzige Predigt gegen die Bildung". Uxkull schließt
mit dem Satze: „Ich halte es für meine Pflicht, als Fachmann dagegen Ver¬
wahrung einzulegen, daß Haeckel und seine Apostel immer noch die Natur¬
forschung als Autorität anrufen bei der Verkündigung ihrer Allerwelts-
unwahrheiten, nachdem die neuen Forschungen gerade das Gegenteil als richtig
erwiesen haben."
Reinkes Herrenhausrede hat selbstverständlich in der liberalen Presse einen
Sturm sittlicher Entrüstung hervorgerufen. Nicht bloß die Jugend und der
Kladderadatsch haben ihm schöne Verse gewidmet — die Witzblätter leben ja
zum großen Teil von der Verhöhnung der Religion und aller, die ein Wort
für die Religion wagen —, sondern sogar der Tag hat den Pegasus bestiegen.
Die Berliner Zeitung am Mittag hört schon den Scheiterhaufen knistern, und
das Jenaer Volksblatt überschreibt seinen Erguß: „Ein modernes Ketzergericht".
Wozu bemerkt werden muß, daß der Großinquisitor in Jena residiert und Haeckel
heißt, denn dieser und seine Trabanten sind es, die jedes noch so begründete
und klar erwiesne Forschungsergebnis als Ketzerei verdammen, wenn es der
orthodoxen Lehre des Jenenser Papstes widerspricht. Die Gegner zu verbrennen,
gelüstet heutzutage wohl keine der beiden Parteien, denn darin hat sich der
Volksgeschmack seit der guten alten Zeit wirklich gebessert; aber während der
Verkündigung des Haeckelschen Monismus als alleinseligmachenden Dogmas
von den Lehrstühlen der Hochschulen noch nie das mindeste Hindernis bereitet
worden ist, hat vor ein paar Jahren im Freien Wort ein Vertreter der unfehl¬
baren Wissenschaft die Forderung erhoben: einem Manne, der noch so borniert
sei, daß er an Gott glaube, dürfe keine Professur der Naturwissenschaften anver¬
traut werden. Von den Kathedern also würde das moderne Ketzergericht alle
Ketzer gegen die Haeckelsche Lehre aussperren, wenn es die Macht hätte. Will
man lernen, wies gemacht wird, so muß man den Artikel: „Haeckel als Umstürzler"
im Berliner Tageblatt lesen. Gegenstand der „lodernden Verfolgungssucht"
Reinkes sei Haeckel. Wenn Haeckel alle Forscher, die sich erlauben, von seinen
Dogmen abzuweichen, beschimpft, als Dummköpfe, Jesuiten, am w-u-ÄSUms
Lknilis siechende Schwätzer der Verachtung der studierenden Jugend und des
Zeitungspublikums preisgibt, so ist das ganz in der Ordnung. Wenn dagegen
einer der Gemißhandelten in ruhigen Worten gegen dieses Verfahren im Namen
der Wissenschaft protestiert, so ist das lodernde Verfolgungssucht. Reinke hat
erklärt, es verstoße nicht gegen den Artikel 20 der preußischen Verfassung, wenn
der Staat die Propaganda des Monistcnbundes abzuwehren versuche. Wie stellt
der Jesuit des Berliner Tageblatts die Begründung dieser Behauptung dar?
Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei, „gewiß; aber Irrlehren staatsgefähr¬
licher Tendenz gehören nicht zur Wissenschaft". Wie hat Reinke in Wirklichkeit
seine Behauptung begründet? „Der Monismus Haeckelscher Observanz sucht die
wahre Wissenschaft unter das kaudinische Joch der Unwissenschaftlichkeit zu
beugen." So wird das Zeitungspublikum im Interesse der Haeckelei belogen.
Paulsen ist ein Mann, der in vielgelesnen Zeitschriften schreibt, sehr schön
schreibt, und dessen Votum dem Publikum zu unterschlagen das Berliner Tageblatt
doch nicht mächtig genug ist. Darum wird vorsichtigerweise sein hartes Urteil
über Haeckels Philosophie erwähnt. Doch das sei etwas ganz andres als das
Auftreten Reinkcs. Paulsen sei ebenfalls persönlich dem Christentum befreundet,
aber kulturpolitisch verfechte er den Standpunkt, „daß es gefährlich sei, mit den
Mitteln der Staatsgewalt in Schule und Universität absichtlich bestimmt ge¬
richtete Gesinnungen zu züchten". Hat das Reinke verlangt? Er fordert nichts
als die Einführung des biologischen Unterrichts in der Prima, wofür ihm doch
die schwärmerischen Liebhaber dieser Wissenschaft dankbar sein müßten.*) Natürlich
würde das Unterrichtsministerium Haeckels Anthropogenie nicht als Lehrbuch
empfehlen; das dürfte deswegen nicht geschehen, weil die meisten Lehren dieses
Werkes von den Fachmännern teils für unbewiesen, teils für entschieden falsch
erklärt werden. In welchem Geiste Neinke die Biologie gelehrt wissen will,
zeigt er dadurch, daß er die Hauptstellen aus der Rede abdrückt, die Virchow
am 22. September 1877 in der Versammlung der Naturforscher zu München
gehalten hat, nachdem Haeckel die Frage angeregt hatte, ob nicht „die Deszendenz¬
theorie dem Schulunterricht zugrunde gelegt und die Plastidulseele als Grundlage
aller Vorstellungen über geistiges Wesen empfohlen werden solle". „Wenn die De¬
szendenztheorie so sicher ist, wie Herr Haeckel annimmt, erklärte Virchow, dann
müssen wir das verlangen, dann ist es eine stritte Forderung, daß sie auch in
die Schule muß." Leider sei sie dazu noch nicht gesichert genug. „Ehe man
mir nicht die Eigenschaften von Kohlen-, Wasser-, Sauer- und Stickstoff so
definieren kann, daß ich begreife, wie aus ihrer Summierung eine Seele wird,
eher kann ich nicht zugestehen, daß wir berechtigt sind, die Plastidulseele in den
Unterricht einzuführen. . . . Nichts ist den Naturwissenschaften gefährlicher ge¬
wesen, nichts hat ihre eignen Fortschritte und ihre Stellung in der Meinung
der Völker mehr geschädigt als die voreilige Synthese. Wir müssen uns die
Aufgabe stellen, in erster Linie das eigentlich tatsächliche Wissen zu überliefern,
und wir müssen, wenn wir darüber hinausgehn, den Lernenden jedesmal sagen:
»Dies ist aber nicht bewiesen, sondern das ist meine Meinung, meine Vorstellung,
meine Theorie, meine Spekulation.« Das können wir aber nur bei schon Ent¬
wickelten, bei schon Gebildeten. Wir können nicht dieselbe Methode in die Volks¬
schule übertragen, wir können nicht jedem Bauernjungen sagen: »Das ist tat¬
sächlich, das weiß man, jenes vermutet man nur.« Bei Ungebildeten mengt
sich das als sichere Erkenntnis und das als bloße Vermutung Mitgeteilte in
der Regel so sehr in ein einziges Gebilde zusammen, daß das, was man ver¬
mutet, als die Hauptsache, und das, was man weiß, als die Nebensache erscheint.
Um so mehr haben wir, die wir in der Wissenschaft leben, die Aufgabe, daß
wir uns enthalten, in die Köpfe der Menschen, und ich will es hier besonders
betonen, in die Köpfe der Schullehrer Dinge hineinzutragen, die wir bloß
vermuten."
Haeckel ist ein Mensch von bezaubernder Liebenswürdigkeit und großer
Herzensgüte, dem seine Schüler auch dann noch die Anhänglichkeit bewahren,
wenn sie seine wissenschaftlichen Irrtümer erkannt haben. Er verfügt über eine
lebhafte Phantasie, über die Gabe schöner Darstellung und die Gewalt der
Rede. Er hat seine Forschungsergebnisse mit Phantasiegebilden und philo¬
sophischen Spekulationen zu einem Epos der Menschwerdung des Tieres ver¬
webt, das gewaltige Anziehungskraft ausübt, unter anderm auch auf die nicht
kleine Anzahl von Leuten, denen es bei der Anhörung einer solchen Botschaft
ergeht, wie es Psychen bei der Predigt des Satyros erging, die ihr den Seufzer
auspreßte: „O, wie beschwert mich schon mein Kleid!" Und Haeckel hat dem
Bildungsphilister einen ungeheuern Dienst erwiesen. Der Bildungsphilister muß
natürlich Atheist sein oder wenigstens den Atheismus heucheln. Der Bildungs¬
philister will aber auch für wissenschaftlich gehalten werden und sich einbilden
können, auf der Höhe der modernen, der allermodernsten Wissenschaft zu stehen.
Und Haeckel demonstriert ihm nun in den Welträtseln und sagt, daß die Bio¬
logie die Nichtexistenz Gottes bewiesen hat, und daß der Glaube an Gott eine
Ketzerei gegen die unfehlbare Naturwissenschaft ist. Und so hat sich denn der
unerträgliche Zustand ergeben, daß die sehr zahlreiche Presse des Bildungs¬
philisters täglich mit Hunderttausenden von Stimmen verkündet: nirgends ist
wahre, echte und untrügliche Wissenschaft zu finden als bei Haeckel, und diese
Wissenschaft hat den Atheismus gegen jeden Zweifel sichergestellt. Und sie
dürfen dergleichen täglich verkündigen, ohne durch wirksamen Widerspruch ge¬
hemmt zu werden. Von den Naturforschern entbehren die einen der Gabe
populärer Darstellung. Andre sind mit Haeckel im Atheismus einig. Wenn
sie demnach auch mit seinen biologischen Ansichten nicht einverstanden sind, wagen
sie es nicht, ihm vor der breiten Öffentlichkeit entgegenzutreten, aus Furcht,
dadurch könnte die Sache der Gegner gefördert werden. Darum beschränken sie
sich darauf, die biologischen Ansichten Haeckels in Fachzeitschriften zu kritisieren.
Selbst die so überzeugende, dreißig Jahre lang unermüdlich fortgesetzte Polemik
und Kritik Eduards von Hartmann (der, nebenbei gesagt, ein entschiedner und
beinahe fanatischer Gegner der katholischen Kirche war) konnte nicht in weitere
Kreise dringen, weil er in wissenschaftlichen Abhandlungen niemals populär
sprach. Kein Gedanke daran, daß „Primaner, Seminaristen und Backfische"
Hartmanns biologische Schriften hätten lesen können; dergleichen Leutchen lesen
nicht einmal die Grenzboten, die sich bemühen, die Gelehrtensprache in verstündliches
Deutsch zu übersetzen. Und so herrscht denn Haeckel in den Köpfen des Bildungs-
philisteriums, der modernen Jugend und — der sozialdemokratischen Arbeiter¬
schaft unumschränkt.
Die kirchenfeindliche Stimmung der meisten Naturforscher ist nicht schwer
zu erklären! man braucht bloß die Worte Inquisition und Hexenprozeß auszu¬
sprechen und die drei Namen Servet, Giordano Bruno, Galilei zu nennen.
Die Weltgeschichte zeigt nun zwar, daß die Mißverdienste der Kirche durch ihre
Leistungen für das Wohl der Menschheit reichlich aufgewogen werden, jedoch
sind eingehende historische Studien den Spezialisten der verschiednen Natur¬
wissenschaften nicht zuzumuten. Dagegen könnten sie ohne mühsames Studium
durch bloße Beobachtung der Wirklichkeit etwas andres lernen: daß die
Kirchen, was sie auch immer in ältern Zeiten verbrochen haben mögen, heute
von Millionen Gläubigen als ein hohes Gut geschützt und als ein unentbehr-
uches Mittel zur Befriedigung seelischer Bedürfnisse empfunden werden. Gewiß
wäre so manche Reform der kirchlichen Praxis zu wünschen, gewiß möchten
wir so manches Kirchendogma beseitigt oder wenigstens in Vergessenheit ge¬
bracht sehen; Dogmen, aus denen die gröbsten Verirrungen der Hierarchie ent¬
sprungen sind; Dogmen, die nicht zwar der Biologie widersprechen — von den
Naturwissenschaften kann keine einzige mit einem Kirchendogma kollidieren —,
wohl aber der Geschichte, der Psychologie und dem Empfinden des modernen
Menschen. Nur steht einer solchen Verbesserung des Kirchenwesens kein ge¬
waltigeres Hindernis im Wege als gerade die weite Verbreitung und die Macht
der Haeckelschen Lehre. Bei einer andern Gelegenheit habe ich ausgeführt: auf¬
geklärte Katholiken sind keineswegs mit allem einverstanden, was ihre Kirche
lehrt, und was in dieser Kirche geschieht. Aber sie fürchten, das Herausbrechen
eines einzigen Steines aus dem Dogmengebäude könne den Zerfall des ganzen
Baues einleiten, und sie meinen: jedenfalls gefährde ein öffentlicher Protest
gegen kirchliche Lehren oder Bräuche die Einheit der Kirche, die sie als ein un¬
schätzbares Gut gewahrt wissen wollen. Darum unterdrücken sie ihre Zweifel
und Wünsche oder schließen sie wenigstens ins Herzenskämmerlein ein. Der
stärkste Grund für ein solches Verhalten ist nun eben die Herrschaft des Haeckel-
tums in den liberalen Kreisen. Die Katholiken sagen sich (gläubige Protestanten
natürlich ebenfalls): Wenn der Liberalismus zur Macht gelangt, dann werden
aus den Schulen alle gläubigen Lehrer verdrängt, und wird von Staats wegen
den Kindern nicht allein die natürliche Schöpfungsgeschichte eingebleut samt
allem, was drum und dran hängt, sondern es wird den Kindern auch als
Dogma eingeprägt, der Glaube an Gott, Willensfreiheit und Fortleben der
Seele nach dem Tode sei von der Naturwissenschaft als Irrtum nachgewiesen.
Auf dieser Lage beruht auch die zurzeit noch unerschütterliche Stärke des
Zentrums. Die katholischen Wähler halten zusammen, weil sie fürchten, ihre
Zersplitterung werde sofort wieder einen Kulturkampf zur Folge haben, und in
den Kundgebungen der Haeckeliciner sehen sie das Programm dieses neuen
Kulturkampfes: Verbannung des Katechismus und der Bibel aus der Schule
und Gründung des Unterrichts auf die Deszendenztheorie und den atheistischen
Monismus.
Möchten jedoch auch alle diese Wirkungen auf das religiös-kirchliche Leben
— sie sind, wie man sieht, keineswegs alle auflösender, sondern zum Teil in
unerwünschter Weise kräftigender Art — unberücksichtigt bleiben, vom rein wissen¬
schaftlichen Standpunkt aus betrachtet ist es ein schlechthin unerträglicher Zu¬
stand, daß eine kleine Gruppe von Biologen mit Hilfe einer zahlreichen Presse
die öffentliche Meinung in dem Vorurteil gebannt erhält, die in ihren meisten
Teilen längst widerlegte Haeckelsche Lehre sei nicht bloß echte und unwider-
legliche Wissenschaft, sondern sei die Wissenschaft, neben der keine andre Geltung
und Wert habe. Es ist die höchste Zeit, daß ein guter biologischer Unterricht
in den Schulen die Durchbrechung dieser terroristischen Herrschaft der Haeckelschen
>le Nähe von Taschkend macht sich bemerkbar durch die auffällige
Ordnung und Pflege des Anbaus. Das Gelände ist sorgfältig
bearbeitet, reichlich bewässert, durch Zäune und Mauern in scharf
getrennte Besitztümer zerschnitten, und je mehr man sich der
I Stadt nähert, um so mehr in Gärten parzelliert. Baumwuchs,
Obstpflanzungen, weinberankte Laubengänge, Gemüsebeete, alles zeugt von der
liebevollen Behandlung durch die Besitzer. Tatsächlich soll es unter der nahezu
130000 Köpfe zählenden Sartenbevölkerung kaum eine Familie geben, die
nicht ein kleines Stück Gartenland ihr eigen nennt. Nachdem der Ssalar, ein
Nebenfluß des die Gegend von Taschkend mit reichlichem Wasser versorgenden
Tschirtschik, auf solider Brücke überschritten ist, erweitert sich der Schienenweg
bald zu einer breiten Geleiseanlage, an deren Westseite das musterhaft schöne,
hohe luftige Gebäude des Personenbahnhofs zu einem schnellen Imbiß einladet.
Während wir uns an Tee und frischem Gebäck stärken und vergebens suchen,
uns über den Zugverkehr auf der Orenburg-Taschkend-Bahn zu unterrichten,
verschafft uns der Stationsgendarm die tröstliche Gewißheit, daß wir unter
scharfer Beobachtung reisen, und andrerseits wirklich alle Eisenbahnbeamten
angehalten worden waren, uns möglichste Förderung angedeihen zu lassen.
Die Fürsorge des Gendarmen erstreckte sich auf Bereithaltung eines Wagens,
worin wir bald durch die Frische des kühlen Morgens, aber sonnenbeschienen,
über den breiten Duchowskoi-Prospekt dem Grand Hotel zuführen. Dabei
lernten wir schon jetzt einen großen Teil der Russenstadt kennen und schätzen.
Wie in Ssamarkand fällt auf, was für eine gut angelegte, ausgedehnte,
mit öffentlichen Parks und Gärten geschmückte Stadt seit 1865 neben der alten
Asiatenstadt entstanden ist. obgleich sie erst vor acht Jahren für den Dampf¬
verkehr zugänglich geworden ist. Viele schöne im russischen Lcmdhausstil gehaltene
Gebäude, wie der Palast des Großfürsten Nikolai Konstantinowitsch und des
Generalgouvernenrs, zieren Straßen und Plätze, mancher elegante Laden lockt
den Käufer. Breit, mit Bäumen bepflanzt, mit Bürgersteigen versehen und in
der Fahrbahn zum Teil Haussiert sind die nach einem übersichtlichen Plan
angelegten Straßen, zu deren Sprengung ein reichlich Wasser führendes Aryk-
system auch im Sommer die nötige Feuchtigkeit liefert.
Gar nicht leugnen kann ich, daß ich solche Kulturfortschritte nicht vermutet,
daß ich andrerseits in der Asiatenstadt Taschkend sehr viel mehr orientalischen
Zuschnitt erwartet habe. Mag nun sein, daß die frühe Berührung der Russen
und der Taschkenter Sarten, die Verlegung des Regierungssitzes in die volk¬
reiche Handelsstadt die orientalischen Besonderheiten schon stark abgeschliffen
hat, oder daß ich gegen diese etwas abgestumpft war oder in der Hast des
durch allerlei Dragomangeschäfte noch mehr beeinträchtigten kurzen Aufenthalts
nicht die nötige Muße zum Schauen gefunden habe, was ich davon gesehen,
hat mir den Eindruck europäisch zivilisierten Orients gemacht. Wenn ich trotzdem
von meiner Reise nach Taschkend rede und schreibe, so geschieht das, weil
diese Stadt unser äußerstes Reiseziel war, und weil sie wie Tiflis ein Reise¬
ziel ist, an dem man sich über die historische Mission des Russentums im
Orient unterrichten kann. Ganz im Gegensatz zur Türkenherrschaft in Kon¬
stantinopel hat das Nussentum inmitten einer heißblütigen national und religiös
gemischten Gesellschaft in Tiflis und einer einheitlichen mohammedanischen
Sartenbevölkerung in Taschkend wirklich als Kulturträger gewirkt.
Jedenfalls zeichnet sich die aus vier Stadtteilen und 203 Revieren bestehende,
ausgedehnte, gartenumränderte Asiatenstadt in den verhältnismäßig breiten
Straßen durch eine gewisse Ordnung aus. Sie sind zwar gewunden, auch
nicht befestigt, aber mit regelmäßiger gestalteten, besser gebauten Häusern und
geräumigem Läden und mit Moscheen, Medresen und Heiligengräbern an den
Ecken besetzt. Die Stadtmauer und elf von ihren Toren sind teilweise erhalten;
nach der Russenstadt zu sind die trennenden Schranken gefallen. Eine Ver¬
wegenheit erster Klasse war es doch, diese 22 Kilometer im Umfang haltende,
von 30000 Kämpfern und 63 Geschützen verteidigte Stadt mit nur 9^ Kom¬
pagnien und 12 Geschützen anzugreifen! Bekanntlich gelang dem General
Tschernjajeff beim zweiten Sturm im Jahre 1865 die Eroberung. Damit trat
Taschkend in eine neue ruhigere Periode seiner Geschichte, nachdem es seit dem
Jahre 1500 in endlosem Wechsel zwischen Usbeken- und Kirgis-Kaissaken-
Herrschaft die verschiedensten Herrenfäuste hatte fühlen, auch die Chinesen aus
der Dsungarei hatte bekämpfen müssen. Hieraus ist ohne weiteres verständlich,
daß viel glanzvolle Bauwerke nicht haben entstehen, den Wechsel der Herrschaft
nicht haben überdauern können. So fehlt die Originalität im Baustil, die in
Ssamarkand und auch in der Stadt Turkestan nördlich von Taschkend entzückt.
Dafür kann sich Taschkend einer auf Alexanders des Dritten Geheiß erbauten
Zarenmoschee rühmen — die Kielbogcnform des Portals ist aber daran einiger¬
maßen verballhornisiert.
Der Basar ist ausgedehnt und an Hauptgeschäftstagen ungewöhnlich belebt.
Aber er dient vornehmlich dem örtlichen Bedürfnis der ziemlich kaufkräftigen
Eingebornenschaft. Auch der Russenbasar auf der Grenze zwischen den beiden
Hauptleiter hat etwas Kundschaft unter Sarten und Kirgisen aus der Steppe.
Vornehmlich zieht er jedoch die ärmere russische Bevölkerung an. Soldaten,
namentlich in der mir von früher vertrauten mit blauen Abzeichen versehenen
Uniform der Orenburger Kasaken. besuchten zahlreich den Fisch- und Fleisch¬
markt, auch zu Pferde mit dem Henkelkorb am Arm; andre ergötzten sich an
den schaurig schönen Bildern der Kriegsereignisse, die in offnen Ständen feil¬
gehalten wurden. Die Läden der elegantem Straßen sind durchaus auf
europäischem Fuße eingerichtet.
Europäisch ist das ganze Treiben auf den Straßen, europäisch der Anblick
der vielen Offiziere und Truppenabteilungen, die, melodisch singend, eine oder
die andre Straße durchziehen. Kasernen und Dienstgebäude der vielen Stäbe,
immer noch einstöckig, verraten ein wenig den Kommißstil der für das praktische
Bedürfnis arbeitenden ersten Zeit der Russenherrschaft nach der Besitzergreifung.
Dennoch ist Taschkend nicht mehr Militärkolonie als etwa unser Metz. Wie
sich hier leben läßt, so ists auch dort nicht übel. Ich bin von dem Bedauern
stark zurückgekommen, das ich für einen nach Taschkend versetzten General, eine
frühere Bekanntschaft, übrig hatte, zumal da sich jetzt nach Angliederung der
neuen Überlandbahn an das europäische Schienennetz eine bequeme Verbindung
mit Moskau ergeben hat.
Taschkend bietet als Residenz des Generalgouverneurs und Sitz einer
Anzahl Militär- und Verwaltungsbehörden im Winter eine rege Geselligkeit.
Mehrere gelehrte Gesellschaften wie eine geographische, archäologische und
technische Gesellschaft bringen geistige Anregung, und drei Zeitungen vertreten
die literarischen Interessen und verbreiteten den Stadtklatsch, da ihnen die Bes¬
tätigung auf politischem Gebiete bisher versagt war. Im Sommer flüchtet
alles, was dazu die Möglichkeit ersieht, in die kühle Sommerfrische Tschinngan
in den Bergen, wo ein Sanatorium für die Truppen des ersten Turkestcm-
Armeekorps eingerichtet ist. Junge Offiziere, die auch in der heißen, windstillen
Sommerzeit an die „Steinstadt" — das bedeutet Taschkend auf deutsch — gefesselt
sind, und die gerne mit einer Minderheit von Dienst auskommen können, finden
Taschkend greulich und führen Beschwerde über körperliche Überanstrengung.
Für uns ist die Erinnerung an Taschkend mit einigen persönlichen Er¬
innerungen meist angenehmer Art verwoben. Zunächst kann ich der Gesell¬
schaft Nadjeshda das'Zeugnis ausstellen, daß sie unsre Kollis sicher zur Ab¬
lieferung gebracht hat, und daß sich ihre Beamten durchaus höflich und ent¬
gegenkommend verhielten, als das kostbare Gut zunächst noch nicht zur Stelle
war. Weniger bewährte sich die Post, deren Beamte erst auf sehr energisches
Zureden einige Briefe und Karten für uns fanden. Fast gerührt war das
Wiedersehen mit unserm Generalstabsoffizier aus Geol-tepe. der zu einem
Vortrag und Kriegsrat aus Aschabad auf 1316 Kilometer herüber gefahren und
im Grand Hotel einquartiert war. Das Grand Hotel! Ein merkwürdig lang¬
gezogner Kasten, auf dessen breitem Korridor einige Oleander ein kümmerliches
Dasein fristeten, die Kellner, Stubenfeen und Hausknechte, dazu einige Offiziers-
burschen sämtliche Neinigungsarbeiten verrichteten und eine Unzahl Ssamowars
bereitstanden. An einem Flügel lag das Eßzimmer, der gewöhnliche Aufenthalt
der stark an Israel erinnernden glücklichen Besitzerin des Hotels und Mutter eines
schwarzlockigen Schlingels von zwanzig Jahren, der die ganze Unverschämtheit
eines frechen Judenjungen mit der Wichtigkeit eines technischen Hochschul¬
studenten vereinigte und nach Schluß des Instituts in Kursk über Orenburg
die Heimat mit einigen Aufenthalten erreicht hatte. Da war noch ein älterer
Herr, der richtige Typus eines russischen Liberalen, der für Revolution,
konstituierende Nationalversammlung, Republik und sonst etwas schwärmte und
die törichte Frage tat. ob es wahr sei, daß die Hälfte unsrer Armee zum
Einmarsch in Polen bereit stünde, im Falle das sogenannte Haus Nomanoff
entthront werden würde. Sein ganzer waschunechter doktrinärer Liberalismus
wurde aber sehr bescheiden, als ein Beamter des Generalgouverneurs das
erhellte Empfehlungsschreiben für unsre weitere Fahrt in Riesenformat über¬
brachte. Auch die Schwierigkeiten der Hotelabrechnung wurden unter dem
Eindruck dieser Erscheinung überraschend schnell behoben.
Ein erster Besuch beim inzwischen verstorbnen Generalgouvemeur Tewjascheff
machte mich mit dessen Gemahlin, einer sehr liebenswürdigen, tadellos deutsch
sprechenden Dame bekannt, war aber zunächst erfolglos, da gerade Kriegsrat
stattfand. Während ich am andern Morgen sehr früh meinen Besuch wiederholte,
war schon ein Oberstleutnant für besondre Aufträge bei uns vorgefahren, um
nach etwaigen Wünschen zu fragen. Exzellenz T. war zuerst etwas kurz an¬
gebunden, laute aber, russisch angeredet, sehr merklich auf und gab, anscheinend
nicht böse darüber, uns bald loszuwerden, eine Anweisung an seinen Kanzlei¬
chef, uns eine Empfehlung auszustellen. Der Kanzleichef, auch ein General,
zeichnete sich durch ganz besondre Freundlichkeit aus, und der oben erwähnte
Offizier ließ es daran ebenfalls nicht fehlen. In dessen Vertretung kam schlie߬
lich ein jüngrer Offizier auf den Bahnhof, um unsre standesgemäße Unter¬
bringung im Zuge dem Stationsvorsteher ganz besonders ans Herz zu legen.
Der Verkehr auf der neuen, noch auf Kosten der beiden Eisenbahnban¬
gesellschaften und erst seit Januar durchgehend betriebnen Eisenbahn Taschkent-
Orenburg mit nur vier Zügen in der Woche nötigte uns, den Aufenthalt in
Taschkend in unerwünschten Maße abzukürzen. Mit Bettwäsche, verschiednen
Vorräten und herrlichen Weintrauben und Obst versehen, fanden wir uns am
19. März etwa ein Uhr mittags auf dem provisorischen Bahnhof der neuen
Bahn ein. Die Ablassung eines Zuges war anscheinend immer noch ein Er¬
eignis, das außer den begleitenden Verwandten der Reisenden auch viele
müßige Gaffer angezogen hatte. Das Fahrscheinnehmen vollzog sich mit der
bekannten Umständlichkeit und hätte mich zum endlosen Queuestehen verurteilt,
wenn nicht der Stationsgendarm in feiner Witterung unsrer Würden und
Empfehlungen rücksichtslos Platz gemacht hätte. Auch bei Abwiegung unsers
Gepäcks waltete zarte Fürsorge ob. Der Stationsvorsteher, der mir schon
tags zuvor gute Plätze zugesichert hatte, sorgte für zwei freie Abteile neben¬
einander und nötigte eine Anzahl Frauen, die sich schon häuslich eingerichtet
hatten, erbarmungslos zur Räumung. Man sieht wieder, es reist sich mit
Empfehlungen recht gut in Nußland. Allerdings es bedürfte auch einer
gewissen Energie, um gelegentlich unbequeme Eindringlinge zu entfernen, die
sich mit der größten Harmlosigkeit einzuschleichen wissen. Die neuen Wagen
der Südstrecke Taschkend-Kasalinsk waren ganz vorzügliche Pullmanwagen,
die sehr sanft liefen und uns zu ungestörter Nachtruhe verhcilfen. Als wir
die Abteile mit unsern Teppichen einigermaßen wohnlich ausgestattet hatten,
fanden wir die ganze Situation für vier Tage mindestens so erträglich, wie
man bei uns eine vierstündige Eisenbahnfahrt ansieht. Insofern noch besser,
als die letzte ein notwendiges Übel ist, diese Fahrt aber eine Art Studienreise
war und uns wieder dem zivilisierten Europa zuführte. Sehr wichtig war die
Ubornaja neben unserm Abteil. Ein geregelter Aufsichtsdienst sicherte uns
ihre erste Benutzung am Morgen. Da Fr. die liebe Gewohnheit täglicher
Antlitzverschönerung nicht missen mochte, seinen Messertanz aber nur auf den
Stationen ausführen konnte und zwei Halte dazu gebrauchte, so war die
Unzufriedenheit der Mitreisenden über das allzugroße deutsche Reinlichkeits¬
bedürfnis allgemein und keineswegs unberechtigt.
Das Zugpersonal, das aus Brigaden besteht, die nach zwölfstündiger
Fahrzeit wechseln, war recht gefällig. Der Wagenschaffner und sein Gehilfe
hat uns manchen Teekessel voll Heißwasser besorgt auf den Stationen, auf
denen sonst für des Leibes Nahrung nichts zu haben war. Auch Andenken aus
den Ssaxaulkloben zurecht geschnitten, mit denen die Ofen geheizt wurden. Die
Heizeinrichtung, ein vorzüglicher Ofen am andern Ende des Wagens in blech¬
beschlagnem Raume, lieferte durch ein Röhrensystem etwas trockne Wärme, aber
erwies sich dringend geboten, als schon in der ersten Nacht die Taschkenter
Frühlingstemperatur einem stark winterlichen Frost Platz gemacht hatte, und
streckenweise ein kräftiger Wind über die baumlose Steppenlandschaft fuhr.
Als wir nach zweitägiger Fahrt auf der Übergangsstation zum Nord¬
abschnitt in Kasalinsk den Wagen wechseln mußten, trat in jeder Beziehung
eine Verschlechterung ein. Man konnte bemerken, daß die Baugesellschaft des
Nordabschnitts sehr viel weniger für die Bequemlichkeit des verkehrenden
Publikums getan hatte, obgleich sie im Anschluß an das europäische Bahnnetz
wesentlich geringere Bauschwierigkeiten zu bewältigen hatte. Das Urteil von
Mitreisenden lautete denn auch keineswegs zu ihren Gunsten; sogar das kräftige
Wort Maschenniki (Schufte) schlich sich in ihre Qualifizierung ein.
Von unsern Mitreisenden nahmen die besten Plätze natürlich einige an
ihren blausammetbestreiften Mützen kenntliche Beamte des Verkehrsministeriums
ein; weiter fielen uns auf ein Orenburger Kasakengeneral mit seiner Familie,
im Nebenabteil ein junger und jung verheirateter Sappeuroffizier von schlanker
Figur mit seiner ebenso schlanken Gattin, ein paar würdige Matronen, die sich
sofort mit aller Ungeniertheit wie bei sich zu Hause einrichteten, eine Rot¬
kreuzschwester, die aber trotz ihrer Erzählungen von selbsterlebten Heldenromancn
aus Port Arthur und der Mandschurei ganz unzweifelhafter Art und vielleicht
barmherzig, nur keine Barmherzige Schwester war, und dann die Dame mit
denk Fasan. Das war eine redselige, frische Frau von vielleicht ein paar mehr
als dreißig Jahren, eine Beamtengattin auf der Besnchsreisc, die trotz ihrer
anreihenden dreizehnjährigen Tochter ein lebhaftes Anlehnungsbedürfnis empfand
und Anknüpfung auf die Art suchte, daß sie uns Abends einen lebenden Fasan
im Bauer ins Abteil setzte und öfter nach ihm zu sehen kam. Mit unbedingter
ehelicher Treue es genau zu nehmen, paßt nicht in die „breitangelegte Natur"
des Russen. Unsre etwas ablehnende Haltung belohnte sie mit einem unsre
Männlichkeit stark in Zweifel ziehenden Epitheton.
Unterwegs kristallisierten sich immer mehr und leider nicht immer bessere
Menschen an. Man stelle sich unsern Schrecken vor, als wir am dritten Morgen
einen kleinen Bahnbeamten in Schmierstiefeln mit seinem schmutzigen in Filz
gehüllten Bengel und seiner Frau sowie der Erwartung auf demnächstigen
Zuwachs und den unzähligen Sachen reisender Nüssen bei uns eingenistet
erblickten. Wir hatten nämlich inzwischen die Idylle im Pnllmanwagen verlassen
müssen und im Zuge des Nordabschnitts zwar zwei Abteile, aber nicht ab¬
geschlossene, sondern zum Durchgang benutzte erobert, und Fr. hatte, um sich
die aufsteigende Wärme zu sichern, ein oberes Polster belegt. Das Teefrühstück
nach der Entdeckung war gräßlich. Glücklicherweise ließ sich der Eisenbahner
auf den Tausch gegen einen russischen Kapitän ein, der zu uns zog. Fr. hielt
aber in der nächsten Nacht Wache gegen ähnliche Überfülle, indem er sich mit
Teppichen und Decken auf der einen Fensterseite eine ganz schmale Klause
einrichtete, in der er die ganze Nacht studierte. Wir schliefen lieber langaus¬
gestreckt und ausgekleidet. Man wird erstaunlich unbefangen im russischen
Eisenbahnwagen und legt ab, was irgendwie stört.
Unser Kapitän war eine Seele von einem Menschen. Wir hatten ihn am
ersten Abend auf einer der Stationen kennen gelernt und uns mit ihm sehr
bald so angefreundet, daß er uns besuchen kam und Tee trinken half. Auf
einer der größern Stationen fühlte er sich plötzlich gedrungen, eine Flasche
Pommery zu stiften und auf Waffenbrüderschaft anzustoßen. Er war aus dem
ersten Turkestanschützenbataillon in das vierte vstsibirische Schützenregiment auf
den Kriegsschauplatz versetzt und reiste nun in seiner Feldzugsuniform mit der
mächtigen Schaffellmütze seinem Schicksal entgegen, während seine Frau nach
Petersburg übersiedeln sollte. In Anbetracht der billigen Fahrpreise auf der
sibirischen Eisenbahn und der Vergünstigungen für Offiziere bei Eiscnbahn-
fahrten scheint der russische Staat für seine Offiziere während des Krieges
gut gesorgt zu haben. Der Kapitän hatte 2600 Rubel Reisekosten, seine Frau
noch 300 Rubel, ferner Umzugskosten, drei Monate Friedensgehalt Und
Anspruch auf einen Burschen erhalten. Als Kricgsgehalt standen ihm 300 Rubel
zu, wovon er monatlich 200 Rubel zu erübrigen hoffte. Woher hatte Nu߬
land, das seine Offiziere und Beamten bisher so jämmerlich besoldete, das
viele Geld? Der Kapitän war rührend. Nicht nur, daß er uns durchaus von
seinen angenommnen Feldzugskonserven aufnötigte und jede Einladung unsrer¬
seits zu erwidern ängstlich bemüht war, er suchte auch seine paar deutschen
Brocken zusammen, um den Kameraden Angenehmes zu sagen, legte sich für
uns mit Bahnhofswirten und Kellnern an, bewachte auch gelegentlich unsre
Siebensachen und nahm tränenden Auges, uns alle nach russischer Sitte
küssend, am letzten Abend der gemeinsamen Fahrt von uns Abschied, nachdem
wir hinter Orenburg uns zu einer letzten Teestunde vereinigt hatten. Mehrfach
hat er von der Mandschurei geschrieben, ungeduldig unsre Gruppenbilder ver¬
langt und seinen Besuch in Aussicht gestellt. In den letzten Stunden vor
Orenburg lernten wir einen sehr gebildeten Stabsarzt kennen, der als Voll¬
blutrusse das Deutsch doch so rein sprach, wie man es nur auf guter Bühne
hört. Da er, wie alle Ärzte, durch sein Studium auf gründliche Kenntnis
unsrer Muttersprache angewiesen war und außerdem deutsche Universitäten
besucht hatte, wars erklärlich.
Gelegentliche Gäste in unserm Wagen waren zwei überaus stattliche
Chinesen. Sie radebrechten in lispelnder Sprechweise Russisch, verschworen sich
„bei Gott" und boten rohseidne Waren feil; sie erschienen immer wieder mit
neuen Stücken — wunderbar, wie sie die Massen über die Grenze geschmuggelt
und als Handgepäck befördert hatten — ergötzlich die Basarfiliale, die sie auf¬
laden, und die natürlich das weibliche Element besonders anzog. Da die gelbliche
Rohseide ein sehr beliebter Kleidungsstoff in den heißen Sommermonaten im
mittlern und südlichen Rußland ist, so war der Handel äußerst rege. Was
der Zug in der dritten Klasse beherbergte, war nur zum Teil durchreisendes
Publikum, zum andern Teil kleine Beamte, Sarten und Kirgisen, die ein paar
Stationen weit reisten. Hinter Kasalinsk waren die Sarten gänzlich verschwunden,
dagegen mehrten sich die in die Heimat fahrender Russen. Auch Reservisten
für die Mandschureiarmee fanden sich ein und — bettelten sich zu ihren kümmer¬
lichen achtzehn Kopeken täglicher Verpflegungsgclder noch etwas na tschai, zum
Tee, das heißt zum Wodka zusammen, liefen aber bei unserm Kapitantschik
übel an. Das Problem, in die kleinen Wagen dritter Klasse die üblichen vierzig
Mann zu stecken und ihnen trotzdem Schlafgelegenheit zu geben, war durch
Anbringung von zwei übereinander herauszuklappenden obern Pritschen an
jeder Längswand und einer Fensterwand des Abdens glänzend gelöst. Rätsel¬
haft blieb doch, wie das vom reisenden Russen unabtrennbare Massenhand¬
gepäck verstaut werden konnte. Die Luft in der Hölle kann aber kaum ärger
sein als das Gemisch von stinkendem Atem und dem Geruch von nie ge¬
lüfteten, dauernd getragnen Kleidern, ungereinigten Menschenleibern und aller¬
hand Speiseresten in diesen sorgfältig verschlossenen, mit Doppeltüren ver¬
sehenen Wagen.
le waren jetzt der Reihe der Träger nahe genug gekommen, sodaß
Stockdale bemerken konnte, wie sie sich beim Einbiegen in die Dorf¬
straße in zwei ungleiche Abteilungen teilten, deren jede eine andre
Richtung einschlug. Der eine Trupp, der kleinere von den beiden,
wandte sich nach der Kirche, und sobald Lizzy und Stockdale ihr
Haus erreicht hatten, überstiegen jene die Kirchhofsmauer und
schritten lautlos über das Gras.
Owlett läßt eine Schicht wieder in der Kirche unterbringen, wie ich sehe,
bemerkte Lizzy. Erinnern Sie sich noch, wie ich Sie dahin führte am ersten Abend,
als Sie kamen?
Ja, natürlich, sagte Stockdale. Kein Wunder, daß Sie Erlaubnis hatten, die
Fässer anzuzapfen -— es waren seine, nicht wahr?
Nein, seine nicht — es waren meine; die Erlaubnis hatte ich von mir selbst.
Den Tag darauf wanderten sie unter einer Wagenladung Dung viele Meilen land¬
einwärts und verkauften sich sehr gut.
In diesem Augenblick sprangen die Leute, die kurz vorher links abgebogen
waren, einer nach dem andern vom Zaun gegenüber von Lizzys Haus herunter,
und der erste, der keine Mßchen auf den Schultern hatte, trat vor.
Frau Newberry, nicht wahr? sagte er hastig.
Ja. Ilm, sagte sie. Was gibts?
Wir können heut Nacht nichts im Dachswäldchen verstecken, Lizzy, sagte Owlett.
Der Platz wird beobachtet. Wir müssen im Garten den Apfelbaum raufziehen,
wenn wir Zeit haben. Im Kirchengerümpel können wir nicht mehr unterbringen,
als ich hingeschickt habe, und mein Dunghaufen hat auch schon mehr in sich, als
sicher ist.
Ja ja, sagte sie. Machen Sie nur schnell — darauf kommts an. Kann ich
was helfen?
Ganz und gar nichts. Ach, es ist der Prediger! Sie können beide nichts
helfen. Besser wärs, Sie gingen ins Haus, damit Sie nicht gesehen werden.
Während Owlett so erfüllt von Schmugglerbesorgnis und frei von der leisesten
Eifersucht eines Liebenden sprach, waren die Männer, die ihm folgten, einer nach
dem andern über den Zaun geklettert. Doch als der hinterste heruntersprang, rutschte
zum Unglück der Strick, der seine Fässer zusammenhielt. Das Resultat war, daß
beide Tönlichen auf die Straße fielen und eins davon in Stücken ging.
Der Teufel hole das Zeug! rief Owlett, zurückeilend.
Es hat einen bedeutenden Wert, nicht? fragte Stockdale.
O nein — etwa zwei und eine halbe Guinee kostets uns jetzt, sagte Lizzy
erregt. Das ists nicht — aber der Geruch! Es ist so teufelsmäßig stark, ehe es
mit Wasser verdünnt ist, sodaß es furchtbar riecht, wenn es so auf der Straße ver¬
schüttet wird. Wenn bloß Latiner hier nicht vorbeikommt, ehe es verflogen ist!
Owlett und ein paar von den andern lasen das zerbrochne Mßchen auf und
scharrten und kratzten die Erde auseinander, um die Flüssigkeit so viel wie möglich
zu zerteilen. Dann gingen sie alle in das Pförtchen von Owletts Obstgarten, der
rechts an Lizzys Garten grenzte. Es lag Stockdale nichts daran, ihnen zu folgen,
denn einige, die ihn erkannten, hatten ihn, verwundert über seine Gegenwart, an¬
gesehen, obschon sie nichts gesagt hatten.
Lizzy ging von seiner Seite fort an das Ende des Gartens, schaute über die
Hecke nach den Obstbäumen, wo man undeutlich die Männer sehen konnte, die ge¬
schäftig hin und her gingen, augenscheinlich um die Fässer zu verstecken. Alles
geräuschlos, ohne Licht; als es getan war, zerstreuten sie sich nach verschiednen
Richtungen; die Männer, die ihre Last nach der Kirche gebracht hatten, waren schon
vorher nach Hause gegangen.
Lizzy kam zur Gartenpforte zurück, an der Stockdale noch in Gedanken ver¬
loren lehnte. Es ist alles getan, ich gehe jetzt ins Haus, sagte sie sanft. Ich
werde Ihnen die Tür offen lassen.
O nein — das brauchen Sie nicht, sagte Stockdale; ich komme auch.
Doch ehe eins von ihnen sich gerührt hatte, scholl das ferne Trappeln von
Pferdehufen an ihr Ohr; es schien von der Stelle zu kommen, wo der Fahrweg
aus der Niederung in die Chaussee einmündete.
Sie kommen doch zu spät! rief Lizzy triumphierend.
Wer? fragte Stockdale.
Latiner, der berittne Wstenwächter, und irgendein Kamerad von ihm. Es ist
besser, wir gehn hinein.
Sie traten ins Haus, und Lizzy verriegelte die Tür. Bitte machen Sie kein
Licht, Herr Stockdale, sagte sie.
Natürlich nicht, sagte er.
Ich dachte, Sie müßten auf feiten des Königs sein, sagte Lizzy mit einem
Anflug von Ironie.
Das bin ich auch, sagte Stockdale. Aber ich liebe Sie, Lizzy Newberry, und
Sie wissen das sehr gut. Sie sollten auch wissen, was mein Gewissen in diesen
letzten Tagen um Ihretwillen gelitten hat.
Ich errate es vollkommen, sagte sie rasch. Doch ich sehe nicht ein, warum.
Ach. Sie sind besser als ich!
Der Hufschlag schien wieder verklungen, und die beiden Lauscher reichten sich
die Fingerspitzen zu einem kalten Gutenacht, wie es Menschen tauschen, die eine
ernste Sache voneinander scheidet. Sie waren auf dem Treppenabsatz und hatten
noch keine drei Schritte weiter getan, als das Pferdegetrappel plötzlich wieder laut
wurde, fast unmittelbar vor dem Hause. Lizzy ging nach dem Treppenfenster,
öffnete es einen Zoll breit und legte ihr Gesicht dicht an den Spalt. Ja, der
eine von ihnen ist Latiner, flüsterte sie. Er reitet immer einen Schimmel. Man
sollte meinen, das wäre die am wenigsten geeignete Farbe für einen Mann von
seinem Beruf.
Stockdale schaute auch hinaus und sah die weiße Gestalt des Tieres vorüber¬
kommen; aber ehe die Reiter zehn Aards entfernt waren, zügelte Latiner sein
Pferd und sagte etwas zu seinem Gefährten, das weder Stockdale noch Lizzy ver¬
steh» konnte. Der Inhalt wurde jedoch sogleich offenbar, denn der andre hielt
ebenfalls. Sie machten scharf kehrt und ritten vorsichtig zurück. Als sie wieder
gegenüber von Frau Newberrys Garten waren, stieg Latiner ab, und der andre
auf dem dunkeln Pferde tat dasselbe.
Lizzy und Stockdale, die gespannt lauschten und ihr Vorhaben beobachteten,
legten natürlich die Köpfe so dicht wie möglich an den Spalt des ein wenig geöffneten
Fensterflügels; so geschah es, daß sich schließlich ihre Wangen berührten. Sie
horchten weiter, als wenn sie von dem wunderlichen Begegnen ihrer Gesichter nichts
wüßten, und der Druck vom einen zum andern nahm allmählich eher zu, als daß
er sich verminderte.
Sie konnten die Zollbeamten wie Hunde in der Luft schnüffeln hören, während
sie langsam dahinschritten. Als sie an den Fleck kamen, wo das Fäßchen geborsten
war, standen beide sofort still.
Jawohl, hier ist es ganz stark, sagte der zweite Beamte. Sollen wir mal
an die Tür klopfen?
Hin, nein, sagte Latiner. Vielleicht ist das alles bloß ein Trick, um uns von
der Fährte wegzulocken. Sie werden doch dies Stinkzeug nicht in der Nähe ihres
Verstecks kaputt schlagen. So was ist mir schon öfter passiert.
Jedenfalls müssen die Sachen oder wenigstens ein Teil davon diesen Weg
entlang getragen worden sein, sagte der andre.
Ja, gab Latiner nachdenklich zu. Wenn sich nicht alles bloß angestellt haben,
um uns irre zu führen. Ich denke, wir gehn heut Nacht nach Hause, ohne ein
Wort zu sagen, und kommen frühmorgens mit Hilfsmannschaft wieder. Ich weiß,
daß sie hier herum Lager haben, aber bei diesem Eulenlicht ist nichts zu machen.
Wir wollen rund ums Dorf und nachsehen, ob alle im Bett sind, Hans. Und wenn
alles ruhig ist, wollen wirs machen, wie ich gesagt habe.
Sie gingen weiter, und die beiden am Fenster konnten sie gemächlich durchs
ganze Dorf reiten hören, dessen Straße im Grunde eine Biegung machte und dann
mit einem andern Verbindungsweg in die Chaussee einmündete. Diesen Weg ver¬
folgten die Zollbeamten, und der Hufschlag ihrer Pferde verklang bald darauf ganz.
Was werden Sie tun? sagte Stockdale, sich aus seiner Stellung aufrichtend.
Sie wußte, daß er auf die bevorstehende Untersuchung seitens der Zollwache
anspielte, um ihre Gedanken von dem zärtlichen Zwischenspiel am Fenster abzulenken,
über das er hinwegzugehn wünschte, als sei es eher geträumt als geschehen. O,
nichts, antwortete sie mit so viel Gleichmut, als sie in ihrer Enttäuschung über sein
Benehmen zur Verfügung hatte. Wir haben oft solche Stürme. Sie würden nicht
erschrocken sein, wenn Sie wüßten, was für Narren das sind. Zu Pferde durch
den Ort zu reiten! Natürlich hören und sehen sie nichts, wenn sie solchen Lärm
machen. Aber sie haben immer Angst, rasch wegzukommen, falls ein paar von unsern
Burschen hervorstürzen und sie an den Türpfosten binden sollten, wie es schon
passiert ist. Gute Nacht, Herr Stockdale.
Sie schloß das Fenster und ging in ihr Zimmer. Eine Träne fiel aus ihren
Augen, und die galt nicht dem Scharfsinn der Zollbeamten.
Stockdale war von den Ereignissen des Abends und dem innern Kampf zwischen
Gewissen und Liebe so aufgeregt, daß er nicht schlafen konnte. Nicht der leiseste
Schlummer war möglich, sondern er blieb vollkommen wach wie am Mittag. Sobald
ein grauer Schein die Hellem Gegenstände in seinem Zimmer schwach hervortreten
ließ, stand er auf, kleidete sich an und ging hinunter auf die Straße.
Im Dorf war es schon lebendig. Einige der Träger hatten, während sie sich
im Dunkeln auszogen, den wohlbekannten Tritt von Latimers Pferd gehört, hatten
sich untereinander besprochen und Owlett Mitteilung gemacht. Nur die Sicherheit
der Fässer, die man unter der Chortreppe in der Kirche versteckt hatte, schien
zweifelhaft, und nach einer kurzen Unterredung im Mühlenwinkel kam man überein, sie
fortzuschaffen, noch ehe es Heller geworden war, und in der Mitte einer Doppelhecke,
die das angrenzende Feld einfaßte, unterzubringen. Ehe dies jedoch verwirklicht
werden konnte, hörte man im Gäßchen, das von der Chaussee herkam, die Tritte
eines größern Trupps von Männern.
Verflucht, da sind sie schon, sagte Owlett, der das Wehr schon aufgezogen und
seine Mühle für den Tag in Gang gebracht hatte und gleichgiltig und mehlbestäubt
an der Tür stand, als wenn seine ganze Seele im Interesse für die ratternden
Wände um ihn herum aufginge.
Die paar Burschen, mit denen er verhandelt hatte, gingen an ihre alltägliche
Arbeit, und als die Zollbeamten mit der furchteinflößenden Hilfsmannschaft, die sie
gedungen hatten, das Dorfkreuz zwischen der Mühle und Frau Newberrys Haus
erreichten, bot der Ort das gewöhnliche Bild eines Dorfes, das seine Morgenarbeit
beginnen will.
Jetzt sagte Latiner zu seinen Helfern, dreizehn an der Zahl: Was ich weiß,
ist, daß die Sachen irgendwo hier am Ort sind. Wir haben den Tag vor uns,
und es wäre schlimm, wenn wir sie nicht finden und noch vor Nacht nach dem
Zollhaus in Budmonth bringen können. Erst wollen wir die Holzstalle untersuchen,
uns dann durch die Schornsteine durcharbeiten, dann Heuschober und Ställe, hübsch
nach der Reihe. Als Führer habt ihr nichts als eure Nasen. Das merkt euch
und gebraucht sie heute, wie ihr sie nie im Leben gebraucht habt.
Damit begann das Suchen. Im Anfang sahen Owlett von seinem Mühlen¬
fenster und Ltzzy von ihrer Haustür mit vollkommner Selbstbeherrschung zu. Ein
Farmer, der weiter unten wohnte und auch seinen Anteil am Schmuggel hatte,
trieb sich zu Pferde umher, ein Auge auf seine Felder, das andre auf Latiner und
seine Myrmidonen gerichtet, bereit, sie von der Spur abzulenken, falls man eine
Frage an ihn richtete. Stockdale, der doch überhaupt kein Schmuggler war, hatte
mehr Angst als die schlimmsten unter der Bande und ging mit schwerem Herzen
an seine Studien. Häufig kam er an die Tür, um Lizzy hin und her auszufragen,
welche Folgen für sie entstünden, wenn die Fässer gefunden würden.
Die Folgen, sagte sie gelassen, sind einfach die, daß ich sie verliere. Da ich
keine im Hause oder Garten habe, können sie mir persönlich nichts anhaben.
Aber Sie haben doch welche im Obstgarten?
Den hat Owlett von mir gepachtet und vermietet ihn an andre. So wird
es schwer zu ermitteln sein, wer Fässer dorthin gebracht hat, falls sie gefunden
werden sollten.
Nie hatte man solch bedrohliches Schnüffeln mit angesehen, wie diesmal im
Dorf Nieder-Moynton und Umgegend angestellt wurde. Es war Methode darin
und wurde zum größten Teil auf Händen und Knien liegend ausgeführt. Ihr
Plan war nach den Stunden des Tages eingeteilt. Von Tagesanbruch bis Früh¬
stückszeit gebrauchten die Beamten ihren Geruchssinn nur in wagerechter, gerader
Richtung und hielten sich nur an solchen Stellen auf, wo die Fässer für den
Augenblick versteckt sein konnten, um in der folgenden Nacht wieder entfernt zu
werden. Unter den Plätzen, die so geprüft und untersucht wurden, waren: hohle
Bäume, Kartvffelgruben. Holzstalle. Schlafzimmer, Obstkammern, Schränke, Uhrgehäuse,
Rauchfänge, Wassertonnen, Schweineställe, Brückenübergänge, Hecken, Reisighaufen,
Heuschober, Kupferkessel und Backöfen.
Nach dem Frühstück fingen sie mit frischen Kräften nach einem neuen Plan
Wieder an. Das heißt, sie richteten ihre Aufmerksamkeit' auf Kleidungsstücke, die
während des Transports von der Küste mit den Fässern in Berührung gekommen
sein konnten, denn da der Alkohol durch die Dauben ausschwitzte, wurden solche
Kleider gewöhnlich fleckig. Jetzt berochen sie also: Fuhrmannskittel, alte Hemden
und Westen, Jacken und Hüte, Hosen und Gamaschen, Frauenschals und -rücke,
alte Schurzfelle von Schmieden und Schuhmachern, Kniewärmer und Lederhand¬
schuhe zum Heckenverschneiden, gefirnißte Wagendecken, Marktmäntel, Vogelscheuchen.
Sobald das Mittagessen vorüber war, suchten sie an Plätzen, wo die Rum¬
fässer im ersten Schrecken hingeworfen sein konnten: Pferdeschwemmen, Abzugskanäle
in den Ställen, Aschenhaufen, Düngerhaufen, nasse Gräben, Senkgruben, Aufgüsse
in den Höfen, Kehrichthaufen und Rinnsteine hinter den Häusern.
Trotzdem entdeckten die unermüdlichen Zollbeamten nichts weiter, als den ur¬
sprünglichen verräterischen Geruch auf der Straße gegenüber von Lizzys Haus, der
auch jetzt noch nicht verflogen war.
Ich will euch was sagen, Leute, rief Latiner ungefähr um drei Uhr Nach¬
mittags, wir müssen noch mal von vorn anfangen. Finden muß ich die Fässer.
Die Männer, die für den Tag gedungen waren, sahen ihre Hände und Knie
an, die vom vielen auf allen Vieren kriechen beschmutzt waren, und rieben sich die
Nasen, als wenn sie beinah genug davon hätten, denn die Menge schlechter Luft,
die in jedes einzelnen Nase gedrungen war, hatte sie fast so unempfindlich wie einen
Schornstein gemacht. Jedoch nach kurzem Zögern hielten sie sich bereit, wieder an¬
zufangen, mit Ausnahme von dreien, deren Geruchsfähigkeit den Strapazen des
Tages vollkommen erlegen war.
Mittlerweile war nicht ein männliches Wesen im Dorf sichtbar. Owlett war
nicht in seiner Mühle, die Bauern nicht auf ihren Feldern, der Pfarrer nicht in
seinem Garten, der Schmied hatte seine Schmiede verlassen, und in des Radmachers
Werkstatt war alles still.
Wo zum Teufel ist das Volk geblieben? rief Latiner, sobald ihm ihre Abwesenheit
zum Bewußtsein kam, und sah sich um. Ich will sie schon kriegen! Warum kommen sie
nicht und helfen uns? Kein Mann im ganzen Ort zu sehen als der Methodistenpsaffe,
und der ist ein altes Weib! Ich beanspruche Hilfe im Namen des Königs!
Wir müssen erst das Gros der Bevölkerung finden, ehe wir das verlangen
können, sagte sein Gehilfe.
Hin hin, wir richten mehr aus ohne sie, sagte Latiner, dessen Stimmung im
Nu umschlug. Aber diese Stille und dieses Sichfernhalten ist höchst verdächtig, ich
werde es im Gedächtnis behalten. Nun wollen wir nach Owletts Obstgarten rüber
und sehen, ob wir da was finden.
Stockdale, der an der Gartenpforte lehnend diese Reden hörte, war ziemlich
beunruhigt und hielt es für einen Mißgriff von den Bauern, daß sie allem so
ganz aus dem Wege gingen. Er hatte sich gleich den Zollbeamten während der
letzten halben Stunde den Kopf zerbrochen, was aus ihnen geworden sein könnte.
Einige waren mit notwendigen Arbeiten weiter draußen in den Feldern beschäftigt,
aber die Handwerksmeister hätten daheim sein müssen. Statt dessen waren alle
miteinander, nachdem sie sich eben nur in ihren Werkstätten gezeigt, anscheinend
für den ganzen Tag weggegangen. Er ging zu Lizzy hinein, die mit einer Näh¬
arbeit an einem der Hinterfenster saß, und sagte: Lizzy, wo sind die Leute?
Lizzy lachte. Wo sie meist sind. wenn man so scharf hinter ihnen her ist. Sie
richtete ihre Augen geu Himmel. Da oben, sagte sie.
Stockdale sah nach aufwärts.
Was — oben auf dem Kirchturm? fragte er, der Richtung ihres Blickes folgend.
Ja.
Nun, ich glaube, sie werden bald genug herunterkommen müssen, sagte er ernst.
Ich habe von den Zollbeamten gehört, sie wollen den Obstgarten noch einmal durch¬
suchen und dann jeden Winkel in der Kirche.
Lizzy sah zum erstenmal beunruhigt aus. Wollen Sie hingehen und es unsern
Leuten sagen? sagte sie. Dies müssen sie wissen. Und da sie sah, wie sein Gewissen
in ihm aufwallte wie ein überkochender Topf, fügte sie hinzu: Nein, lassen Sie
nur, ich gehe selbst.
Sie ging hinaus, schritt durch den Garten und kletterte über die Kirchhofs¬
mauer zu derselben Zeit, als die Zollwache den Weg nach dem Obstgarten einschlug.
Stockdale wußte nichts besseres zu tun, als ihr zu folgen. Am Turmeingang holte
er sie ein, und sie traten zusammen über die Schwelle.
Der Kirchturm von Nieder-Moynton war wie in vielen Dörfern ohne Fiale,
und der einzige Zugang zur Spitze führte über die Galerie für die Sänger und
von da eine Leiter hinauf bis zu einer viereckigen Falltür im Fußboden der Glocken¬
kammer, über dem dann wieder eine feste Leiter angebracht war, die zwischen den
Glocken hindurch in eine Öffnung im Dach mündete. Als Lizzy und Stockdale auf
der Galerie angekommen waren und hinauf schauten, war nichts zu sehen als die
Falltür und die fünf Löcher für die Glockenstränge. Die Leiter war weg.
Man kann nicht hinauf, sagte Stockdale.
O doch, sagte sie. In diesem Augenblick beobachtet uns einer durch das Astloch
in der Falltür.
Und während sie noch sprach, öffnete sich die Falltür, und man sah die schwarze
Kontur der Leiter an der weißgetünchten Mauer hinabgleiten. Sobald sie den Boden
berührte, stellte Lizzy sie zurecht und sagte: Wenn Sie hinausgehn wollen, komme
ich nach.
Der junge Mann stieg hinauf und befand sich gleich darauf zum erstenmal in
seinem Leben unter geweihten Glocken, da der Nonkonformismus seit Generationen
in der Familie Stockdales forterbte. Er betrachtete sie mit Unbehagen und sah sich
nach Lizzy um. Owlett stand oben und hielt die Spitze der Leiter.
Wie, sind Sie wirklich einer von uus? fragte der Müller.
Es scheint so, sagte Stockdale traurig.
Nein, sagte Lizzy. die das gehört hatte. Er ist weder für noch gegen uns.
Er tut uus nichts zuleide.
Sie stieg zu ihnen herauf, und dann gingen sie ins nächste Stockwerk, das,
nachdem sie über den staubigen Glockenstuhl geklettert waren, leicht zugänglich war.
Durch die Öffnung, durch die der blasse Himmel sichtbar wurde, ging es in die freie
Luft. Owlett blieb einen Augenblick hinter ihnen zurück, um die Leiter nachzuziehen.
Halten Sie den Kopf tief, rief eine Stimme, sobald Sie den Fuß auf die
Plattform gesetzt haben.
Stockdale erblickte hier sämtliche vermißte Pfarrkinder auf dem Bauch über
dem Turmdach gelagert, nur ein paar hatten sich auf Händen und Knien halb auf¬
gerichtet und guckten durch die Scharten der Brüstung. Stockdale machte es ebenso
und sah das Dorf wie eine Landkarte unter sich liegen, auf der sich die Figuren
der Zollbeamten hin und her bewegten; sie erschienen zu krabbenähnlicher Kleinheit
verkürzt, in deren Mittelpunkt die Hüte kreisförmige Scheiben bildeten. Einige der
Männer sahen sich um, als der junge Prediger in ihrer Mitte auftauchte.
Was, Herr Stockdale? rief Matt Grey in überraschten Ton.
Mi wier dat leiwer gewest, hei wier nich kamen, sagte Ilm Clarke. Wenn
de Pfarr em hier in sin Turm lau seihn treg, dünn wier dat ne Stimme Sal
für uus. as hei doch keen Kapellenvolk liber mag. Hei würd uns keen Turm mihr
afköpen. un hei wier doch de beste Kundschaft up bisse Sid von Warm'it.
Wo ist der Pfarrer? fragte Lizzy.
In sin Hus. dat hei rieth lau düren un lau seihn treg — un dor sulln alle
gaude Lüd sin, un bisse jung Mann ok.
Er hat uns aber Nachricht gebracht, sagte Lizzy. Sie wollen den Obstgarten
und die Kirche durchsuchen. Läßt sich irgendetwas tun, wenn sie es finden?
Ja, sagte Vetter Owlett. Wir haben eben darüber gesprochen, und unser Plan
ist fertig, El, verflucht!
Einige der Suchenden, die im Obstgarten hin und her krochen, hielten in der
Mitte still, wo ein Baum stand, der kleiner war als die andern. Dies schien die
Veranlassung zu Owletts Ausruf zu sein. Sie krochen dicht heran und hielten die
Köpfe tiefer als je.
O, meine Fässer! sagte Lizzy matt, als sie ihnen durch die Brüstung zusah.
Die haben sie, glaub ich, bemerkte Owlett.
Das Interesse für die Bewegungen der Zollwache war so gespannt, daß kein
Auge anderswo hinsah. Doch in demselben Augenblick lenkte ein Schrei von unten
aus der Kirche die Aufmerksamkeit der Schmuggler wie auch der Mannschaften im
Obstgarten ab. Diese sprangen auf und gingen nach der Kirchhofsmauer. Gleich¬
zeitig riefen die Regierungsleute, die von den Schmugglern unbemerkt die Kirche
betreten hatten: Hier haben wir endlich welche!
Die Schmuggler verhielten sich mäuschenstill, ungewiß, ob mit „welchen" Fässer
oder Männer gemeint waren. Als sie aber wieder vorsichtig über die Schutzwehr
schauten, wurde ihnen klar, daß von Fässern die Rede war. Und nun wurden
diese ihrem Verhängnis verfallnen Gegenstände eins nach dem andern aus dem
Versteck unter der Chortreppe in die Mitte des Kirchhofs geschleppt.
Sie packen sie alle auf Hintons Gruft, bis sie die übrigen finden! sagte Lizzy
hoffnungslos. Wirklich schichteten die Zollbeamten die Fässer auf eine große Stein¬
platte, die dort eingelassen war; und nachdem alle aus dem Turm dorthin getragen
worden waren, bliebe» ein paar Leute als Wache dabei, während sich der Rest
wieder nach dem Obstgarten begab.
Das Interesse der Schmuggler für die nächsten Manöver ihrer Feinde wuchs
zu peinvoller Spannung. Unter dem Gerümpel im Turm waren nur ungefähr
dreißig Fäßchen gewesen, während im Garten siebzig versteckt lagen. Das war alles,
was sie bisher herauftrcmsportiert hatten, der Rest der Ladung war an eine Lot¬
leine geschlungen, über Bord geworfen und für eine der nächsten Nächte aufgespart
worden. Bei ihrer Rückkehr in den Garten benahm sich die Zollwache ganz so, als
ob sie wüßte, daß hier der Rest der Fässer versteckt wäre, die sie vor Einbruch der
Nacht zu finden entschlossen waren. Sie zerstreuten sich über den ganzen Garten¬
grund, krochen wie vorher auf allen Vieren vorwärts und untersuchten auf diese Art
jeden Apfelbaum innerhalb der Umzäunung. Wieder machten sie bei dem Bäumchen
in der Mitte Halt, und schließlich versammelte sich dort der ganze Trupp, augen¬
scheinlich hatte die zweite Kette ihrer Schlußfolgerungen sie zu demselben Ergebnis
geführt wie die erste.
Nachdem sie minutenlang das Erdreich untersucht hatten, sprang einer der
Männer auf, lief nach einem nicht mehr benutzten Eingang der Kirche, wo Geräte
aufbewahrt wurden, und kam mit des Totengräbers Hacke und Schaufel zurück.
Damit gingen sie sogleich ans Werk.
Sind sie wirklich dort eingegraben? fragte der Prediger, denn das Gras war
so grün und glatt, daß man kaum glauben konnte, es sei berührt worden. Die
Schmuggler waren zu vertieft, um zu antworten, und sahen gleich darauf zu ihrem
Leidwesen, wie sich mehrere der Beamten rings um den Baum aufstellten. Sie
bückten sich, faßten mit den Händen in die Erde und hoben tatsächlich den Baum
samt dem darunter wachsenden Rasen in die Höhe. Es zeigte sich nun, daß der
Apfelbaum in einer flachen Kiste wuchs, die an allen vier Seiten mit Griffen zum
Ansehen versehen war. Wo der Baum gestanden hatte, wurde jetzt ein viereckiges
Loch sichtbar. Einer von der Zollwache trat näher heran und sah hinunter.
Jetzt ist alles aus, sagte Owlett gefaßt. Macht alle, daß ihr hinunter kommt,
ehe sie merken, daß wir hier sind, und haltet euch bereit für den nächsten Marsch.
Ich werde lieber hier bleiben, bis es dunkel wird; sie könnten mich sonst in Verdacht
haben, weils mein Grund und Boden ist. Sobald es schummrig wird, stoße ich
zu euch.
Und ich? sagte Lizzy.
Sehen Sie, bitte, nach den Vorsteckern und Schrauben; danach gehen Sie ins
Haus, und kümmern Sie sich um nichts weiter. Das übrige besorgen unsre Jungens.
Die Leiter wurde hinunter gelassen, und alle, außer Owlett, kletterten hinab;
die Männer schlichen einer nach dem andern hinten um die Kirche herum, und jeder
ging an sein Geschäft. Lizzy schritt dreist die Straße entlang, der Prediger dicht
hinter ihr.
Sie gehn ins Haus, Frau Newberry? sagte er.
"
Sie merkte aus der Anrede „Frau Newberry, daß die Kluft zwischen ihnen
noch weiter geworden war.
Ich gehe nicht nach Hause, sagte sie. Ich habe erst noch etwas zu tun.
Martha Sara wird Ihnen Ihren Tee besorgen.
O, deshalb meine ich nicht, sagte Stockdale. Was können Sie noch in dieser
gottlosen Angelegenheit zu tun haben?
Nur eine Kleinigkeit, sagte sie.
Was ist es? Ich will mit Ihnen gehn.
Nein, ich gehe allein. Wollen Sie, bitte, ins Haus gehn. In einer knappen
Stunde bin ich wieder da.
Sie werden sich doch nicht in Gefahr begeben, Lizzy? rief der junge Mann
mit wiedererwachter Zärtlichkeit.
Durchaus nicht — nicht der Rede wert, antwortete sie und ging nach dem
Dorfkreuz hinunter.
Stockdale trat durch die Gartentür ein, blieb stehn und sah zu. Die Zoll¬
mannschaften waren noch unter den Obstbäumen beschäftigt, und er fühlte sich
schließlich versucht, hineinzugehn und ihr Verfahren zu beobachten. Beim Näher¬
kommen sah er, daß der geheime Keller, von dessen Vorhandensein er keine Ahnung
gehabt hatte, aus Balken gebildet war, die man einen Fuß unter der Oberfläche
quer herüber gelegt und mit Rasen bedeckt hatte.
Die Zollbeamten warfen einen Blick in Stockdales freundliches, sanftes Gesicht,
hielten ihn augenscheinlich für erhaben über jeden Verdacht und fuhren in ihrer
Arbeit fort. Sobald alle Fässer herausgeholt waren, rissen sie den Rasen auf,
zogen die Balken heraus und zerbrachen die seitlichen Stützen, bis der Keller voll¬
ständig demoliert und halb verschüttet war. Der Apfelbaum blieb mit in die Luft
gestreckten Wurzeln liegen. Dies Loch aber, das seinerzeit so viel geschmuggelte Waren
geborgen hatte, wurde nie wieder ganz zugeschüttet, weder damals noch später, und
eine Senkung im Rasen macht die Stelle kenntlich bis auf den heutigen Tag.
(Schluß folgt)
Um die neue sächsische Wahlordnung ist der Kampf der Parteien schon hitzig
entbrannt. Das Gros der Konservativen verhält sich der Hauptsache nach ab¬
lehnend, begreiflich vom Parteistandpunkt aus, da niemand gern die Macht auf¬
gibt, die er lauge besessen und ausgeübt hat, aber egoistisch und darum kurzsichtig,
weil diese tatsächliche Parteiherrschaft im Lande durchaus unpopulär und deshalb
auf die Dauer unhaltbar ist; ja sie haben schon die Einbringung eines besondern
Gesetzentwurfs zum Wahlrecht angekündigt, der freilich auf der andern Seite wenig
Gegenliebe findet, weil er an der Unterscheidung zwischen städtischen und länd¬
lichen Wahlkreisen festhält, und ihre Organe fordern Beweise für die Existenz einer
konservativen „Nebenregierung", womöglich die Maßreglung des Beamten, der
offen ausgesprochen hat, was alle Welt glaubt und sich zuraunt. Die National¬
liberalen sind klüger gewesen; sie haben zwar mancherlei an dem Entwurf aus¬
zusetzen, namentlich gefallen ihnen die Wahlen in den Kommunalverbänden nicht,
weil sie fürchten, daß diese die Bedeutung der politischen Parteien verringern
würden (was wahrhaftig kein Unglück wäre!); aber sie erkennen doch in dem Ent¬
wurf eine brauchbare Grundlage für die Erneuerung des Wahlrechts und wollen
daran mitarbeiten. Entschieden auf den Boden der Vorlage haben sich die evan¬
gelischen Gewerkschaften gestellt, während die Sozialdemokratie natürlich wieder
ihr Allheilmittel, das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht empfehlen, das sie
ganz sicher nicht durchsetzen werden, sie verspielen höchstens die Chancen, die auch
ihnen die Vorlage bietet. Alles oder nichts! bleibt wie imnier ihre Parole. Die
Regierung hat sich bisher durchaus zurückgehalten; sie hat die Parteien nur darauf
aufmerksam gemacht, daß es mit der reinen Negation nicht getan sei, sondern daß,
wer ihre Vorlage verwerfe, zu andern positiven Vorschlägen verpflichtet sei. So
kann es kommen, daß der Entwurf von der Mehrheit des Landtags abgelehnt
wird, und daß dann die Regierung die zweite Kammer auflöst. Ob dann die
Neuwahlen für die Konservativen ausfallen würden, diese Frage wird niemand
ohne weiteres bejahen wollen.
Die Reise des Freiherrn von Ahrenthal nach Desto und Racconigi hat offenbar
zu einer vollkommnen Verständigung zwischen Österreich und Italien geführt, „auch
für die Zukunft". Diese Zukunft kann sich nur auf die Balkanhalbinsel beziehen,
an der beide Mächte gleichmäßig interessiert sind. Was man in Österreich fürchtet
und verhindern möchte und müßte, das ist die Festsetzung der Italiener in Albanien,
denn dann würden sie beide Küsten des Adriatischen Meeres an dessen engster
Stelle beherrschen, die seit dem Ende der Römerherrschaft niemals in einer Hand
gewesen sind, und den Ausgang aus der Adria den Österreichern unter Umständen
sperren können. Es wird also alles darauf ankommen, daß beide Staaten auf eine
politisch-militärische Ausbreitung nach dieser Seite verzichten, wozu die überaus
schwierigen Verhältnisse dieses rauhen, von einer unbezähmbaren, tapfern, wenn auch
in sich vielgespaltnen Bevölkerung bewohnten Gebirgslcmdes ohnedies raten, und
sich mit friedlichen Einwirkungen auf die Kultur dieser Stämme begnügen. Die
Italiener haben dort in der letzten Zeit eine Reihe wirtschaftlicher Unternehmungen
und italienischer Schulen ins Leben gerufen, wie denn überhaupt ihr Einfluß im
ganzen türkischen Orient gestiegen ist, seitdem die Schirmherrschaft über eine An¬
zahl kirchlicher Institute infolge des französischen Kirchenstreites auf Italien über-
gegangen ist, und sie haben für Albanien in den nicht unbedeutenden albanesischen
Kolonien in Süditalien bequeme Anknüpfungspunkte; Österreich aber ist in Bosnien
und der Herzegowina, die durch die absolutistisch-militärische Verwaltung, die beste
für diese religiös und national gespaltnen Stämme, in ein Kulturland verwandelt
worden sind, der unmittelbare Nachbar der Albanesen und durch die Geistlichkeit
von großem Einfluß auf deren katholische Stämme. Österreichs Rolle auf der Balkan¬
halbinsel ist eben noch keineswegs ausgespielt. Seine Politik ist dort im Gegenteil
seit einem halben Jahrhundert sehr glücklich gewesen. Es hat im Krimkriege, ohne
wirklich daran teilzunehmen, die Russen aus Rumänien hinausmanövriert und damit
die Möglichkeit zur Bildung eines selbständigen rumänischen Staats geschaffen, der
sich Rußland in den Weg legt; es hat 1878 Bosnien und die Herzegowina
okkupiert, während Rußland für ungeheure Opfer tatsächlich leer ausging, und es
hält seine Hand über Serbien. Möglich, daß die Verständigung mit Italien auch
die Mittelmeerfragen betrifft, denn gegen wen sollte sich denn der englisch-französisch¬
spanische Dreibund richten, wenn nicht gegen die beiden Mittelmeermächte, die ihm
nicht angehören, die sich aber doch nicht im Mittelmeer einfach einsperren lassen
können, und dann könnte die, wie es heißt, beabsichtigte Befestigung der Insel Elba
einer der ersten Schachzüge Italiens gegen die französische Mittelmeerpolitik sein.
Jedenfalls ist der mitteleuropäische Dreibund, wie schon die gemeinsame Depesche der
beiden Minister an Fürst Bülow zeigt, auf absehbare Zeit gefestigt, und das ängst¬
liche oder hämische Gerede von der Isolierung Deutschlands ist vollends gegen¬
standslos geworden.
Inzwischen steigt im fernen Osten langsam ein Konflikt herauf, den kein
Friedenskongreß wird verhindern können. So begreiflich es ist, daß Japan seine
Gleichberechtigung unter den Großmächten auch darin sucht, daß es seiner über¬
quellenden Bevölkerung auch außerhalb Japans in den Ländern europäischer Kultur
Zulassung verschaffen will, so begreiflich ist es andrerseits, daß sich diese Länder
gegen die Masseneinwanderung einer fremden Rasse sträuben, die sich die weiße
Rasse niemals assimilieren kann. Die Union hat das Negerproblem noch nicht
gelöst, und man sieht, was schlimmer ist, auch keinen Weg zur Lösung; sie wird
sich hüten, zu diesem sich an der Küste des Großen Ozeans ein Mongolenproblem auf
den Hals zu laden, und sie bereitet sich offenbar langsam auf das Äußerste vor.
Sie hat mit der Okkupation der Philippinen in die Machtsphäre Japans ein¬
gegriffen, sie will Hawai als Flottenstation einrichten, sie baut den Panama-
kanal und will im Herbst zu Manöverzwecken ein mächtiges Geschwader von
sechzehn Schlachtschiffen in den Großen Ozean senden, vermutlich vor allem, um
zu erproben, in welcher Zeit es die Westküste erreichen kann, vor der ein japanisches
Geschwader in knapp vier Wochen erscheinen könnte. Würde auch bei einem solchen
Konflikte England der Bundesgenosse Japans bleiben, und würde Rußland,
vorausgesetzt, daß es inzwischen seine innern Schwierigkeiten überwunden und seine
Flotte wiederhergestellt hat, ruhig zusehen können? So eröffnen sich weite Per¬
spektiven. Brennend freilich wird die Frage nicht werden, so lange der Panama¬
kanal nicht fertig ist, und so lange sich Japan nicht finanziell erholt hat. Auch
braucht es Zeit, um sein Verhältnis mit Korea auf der Basis einer möglichst
Der Reichsgerichtsrat a. D. öl'-Julius
Petersen in München hat in einem Buche von mäßigem Umfange (235 S.)i
Willensfreiheit, Moral und Strafrecht. (München, I. F. Lehmann, 1905)
eine sehr umfangreiche Stoffmasse durchgearbeitet. Es wird kaum einen für den
Gegenstand in Betracht kommenden Philosophen, Theologen, Kriminalisten, Psy¬
chiater von Bedeutung geben, dessen Ansicht nicht geprüft und gewürdigt oder kriti¬
siert würde. Petersen entscheidet sich für den Determinismus und weist den In¬
determinismus, die Wahlfreiheit, in jeder Form unbedingt ab. Soweit es sich um
die praktische Seite der Sache handelt, stimmen wir ihm mit einer später zu er¬
wähnenden Einschränkung bei. Es ist richtig: alles menschliche Handeln ist ent¬
weder Triebhandeln oder motiviertes Handeln, wobei das im Augenblick und unter
den obwaltenden Umständen stärkste Motiv den Ausschlag gibt. Alle Beeinflussung
des Menschen, namentlich die durch Erziehung, beruht darauf, daß die eingepflanzten
Vorstellungen und Grundsätze, die anerzognen Gewohnheiten als Beweggründe
wirken. Die Ordnung und die Sicherheit der Gesellschaft hängen davon ab, daß
man sich auf die Wirksamkeit der Beweggründe zur Pflichterfüllung bei Staats¬
und Privatbeamten und im freien Verkehr unbedingt verlassen kann; der Charakter
ist nichts andres als eine Gemütsverfassung, die auf Anforderungen, Einladungen
und Versuchungen immer in derselben Weise reagiert, sodaß ihr Verhalten in einer
gegebnen Lage vorausberechnet werden kann, und die sittliche Freiheit ist nichts
andres als die ein für allemal festgegründete Übermacht der vernünftigen Beweg¬
gründe über die Begierden und Leidenschaften. Und wie die Moral, so hat auch
das Strafrecht vom Determinismus nichts zu fürchten; vielmehr werden beide durch
ihn erst fest begründet. Am Strafrecht werden, wie der Verfasser zeigt, weder
metaphysische und psychologische noch kriminalistische Schulen viel ändern können.
Denn wie man auch über die Willensfreiheit und über die mancherlei Zwecke der
Strafjustiz denken mag, unabänderlich bleibt bestehn die Hauptsache, daß die Rechts¬
ordnung des Staates aufrecht erhalten werden muß — mit Zwang gegen solche,
die sich ihr nicht fügen wollen oder können. Müßte der Determinist, meint der
Verfasser, den Begriff der Vergeltung preisgeben — was jedoch nicht notwendig
sei — und den Strafzweck auf Abschreckung, Besserung und Unschädlichmachung be¬
schränken, so würde auch damit auszukommen sein.
Die Schwierigkeit liegt im Gemüt, in dessen metaphysischen Bedürfnis. Alle
Polemik des Verfassers gegen die Vertreter der Willensfreiheit, besonders gegen
Lotze, hat uns nur aufs neue davon überzeugt, daß das Problem: Kausalität,
Motivation, Freiheit zu den Geheimnissen gehört, die drunten bei den „Müttern",
den Urgründen des Daseins wohnen, wohin der Sterbliche, solange er lebt, höchstens
mit seiner Phantasie, aber niemals mit dem Verstände gelangt. Petersen sagt von
Kant, er habe sich zuzeiten sehr geringschätzig über die praktische Freiheit aus¬
gesprochen, die mich die Deterministen anerkennen, indem er einen Menschen, der
durch Vorstellungen, also „durch ein inneres Triebwerk" bestimmt werde, mehrfach
mit einem Automaten, die daraus entspringende Freiheit aber mit der eines Braten¬
wenders vergleiche, „der auch, wenn er einmal aufgezogen ist, seine Bewegungen
verrichtet". Wir wollen eben etwas mehr sein als Bratenwender. Dieses aber
sind wir, wenn unsre Handlungen das Produkt eines mit Notwendigkeit wirkenden
Motivationsmechanismus sind. Das Ich ist dann eine Illusion — eine Illusion
wessen? muß man freilich fragen. Die Persönlichkeit fällt ans. Von einer solchen
kann nur die Rede sein, wenn es eine Seele gibt, die nicht bloß Sammelname für
die durch Nerventätigkeit erzeugten und in den Naturmechanismns eingefügten Be¬
wußtseinsvorgänge ist, wie Lotze wunderschön im ersten Kapitel des zweiten Buchs
des Mikrokosmus zeigt. Und ist eine Seele vorhanden, so wird sie auch etwas
wirken, nicht bloß Versammlungsort oder Schauplatz der sich tummelnden und mit¬
einander ringenden Motive sein. Daß die Gesamtheit aller Wirklichkeit, schreibt
Lotze im fünften Kapitel desselben Buches, „nicht die Ungereimtheit eines überall
blinden und notwendigen Wirbels von Ereignissen darstellen könne, in welchem für
Freiheit nirgends Platz sei: diese Überzeugung unsrer Vernunft steht uns so un¬
erschütterlich fest, daß aller übrigen Erkenntnis nur die Aufgabe zufallen kann, mit
ihr als dem zuerst gewissen Punkte den widersprechenden Anschein unsrer Erfahrung
in Einklang zu bringen". Wie er diese nach unsrer Überzeugung unlösbare Auf¬
gabe zu lösen versucht, mag der folgende Satz andeuten: „Nicht darin besteht die
unbedingte Giltigkeit des Kausalgesetzes, daß jeder Teil der endlichen Wirklichkeit
immer nur im Gebiete dieser Endlichkeit selbst durch bestimmte Ursachen noch all¬
gemeinen Gesetzen erzeugt werden müßte, sondern darin, daß jeder in diese Wirklich¬
keit einmal eingeführte Bestandteil nach diesen Gesetzen weiter wirkt." Jede in
diese Kausalvorstellung eintretende Menschenseele ist also ein Quell neuer Wirkungen,
die aber nach dem allgemeinen Gesetz verlaufen: zu den vorhandnen Ursachen tritt
eine neue hinzu. Petersen selbst ist genötigt, sich in der Redeweise hie und da
dem aus dem Freiheitsglauben entsprungnen Sprachgebrauch anzubequemen, zum
Beispiel wenn er sagt, der Verbrecher werde sich freilich vom deterministischen
Standpunkt aus damit entschuldigen, er habe nicht anders gekonnt; aber darauf
sei zu erwidern, dann sei er eben ein schlechter Mensch und müßte sich bemühen,
anders und besser zu werden. Welcher „er"? Wenn die Motive allein bestimmen,
dann gibt es keinen „er" hinter oder über den Motiven. Gibt es aber einen
solchen „er", der den edeln Motiven zum Siege verhilft, so entscheiden eben die
Motive nicht allein, sondern die substantielle Seele, das Ich, der freie Wille, oder
wie man das tätige Subjekt sonst nennen will. Und es ist wohl keine Frage, daß
die Überzeugung: ich bin kein willenloser Mechanismus von Motiven, sondern eine
Person, die schlechte Motive zu bändigen vermag, mag diese Überzeugung auch bloß
eine den guten Motiven als neues Motiv zuHilfe kommende Illusion genannt werden,
das Handeln günstiger beeinflussen wird als die entgegengesetzte. Diese wird den
Schwachen und den Trägen verleiten, sich widerstandslos seinen Trieben zu überlassen.
Der Energische wird mit Freuden den Ruf des Dichters vernehmen: Der Mensch
ist frei geschaffen, ist frei, und würd er in Ketten geboren, und dieses „Wort des
Glaubens" wird seine Energie erhöhen. So ganz gefahrlos — das ist die ange¬
kündigte Einschränkung unsrer Zustimmung — würde sich demnach der Deter¬
minismus Wohl nicht erweisen, wenn er durch Presse und Volksunterricht, zum Bei¬
spiel durch einen an die Stelle des Religionsunterrichts tretenden Unterricht in der
Anthropologie, allgemeiner Volksglaube würde.
Das betont auch der Gießener Theologieprofessor O. Paul Drews in einem
Vortrage, den er (bei I. C. B. Mohr in Tübingen, 1905) unter dem Titel: Die
Reform des Strafrechts und die Ethik des Christentums herausgegeben
hat. Auf den ersten Blick, meint er, scheine die klassische, die positive Rechtsschule
mit dem Christentum besser zu stimmen, weil sie die Willensfreiheit voraussetze und
Physische Übel als Sühne einer sittlichen Schuld verhänge. Aber bei genaueren Zu¬
sehen bemerke man, daß auch die Anhänger dieser ältern Schule gleich den Ver¬
tretern der neuern Richtungen ihre Theorien nicht auf ethisch-idealistische, sondern
auf rein praktische Erwägungen gründeten. Und von den neuen Richtungen sei
zwar die rein biologische Lombrosos als verfehlt zu bezeichnen, von der soziologischen
dagegen, die nicht die Straftat, sondern den Täter ins Auge fasse und ihn zum
Gegenstand vorbeugender, bessernder und behütender Fürsorge mache, müsse man
geradezu sagen, daß sie aus dem Geiste des Christentums entsprungen sei, aus dem
Geiste, den Wiehern und die Innere Mission verkörpern. Zu tadeln sei nur, daß
sich die Neuern um die Willensfreiheit herumdrückten. „So wenig uns die Halb¬
heit der alten Schule behagt hat, die bald die Willensfreiheit setzt, bald verleugnet,
so wenig kann uns auch die kühle, neutrale Haltung der neuen Schule auf diesem
Punkte genügen. Damit packt man die Seelen der Menschen nicht. Warum in
aller Welt so ängstlich, fast hätte ich gesagt feige davor zurückschrecken, eine Wahr¬
heit auszusprechen, die für jeden sittlich lebendigen und sich selbst beurteilenden
Menschen ebenso eine Wahrheit ist wie dem logisch Denkenden irgendein logischer
Schluß? Freilich ist es prinzipiell falsch, die Frage nach der Willensfreiheit als
einen Satz der empirischen Wissenschaft zu behandeln. Das ist sie nicht, sondern
sie ist eine sittliche Frage; in ihrer Bejahung gibt der Mensch ein sittliches Urteil
ab, das genau so eine Wahrheit ist wie die Behauptung des Kausalitätsgesetzes."
Leser, die sich mit dem Problem beschäftigen, werden gut tun, neben dem gründ¬
lichen Buche Petersens das kleine Schriftchen von Drews zu Rate zu ziehn und von
den ältern — nicht den ganz unverständlichen Kant — wohl aber Lotze zu be¬
fragen. Seite 78 Zeile 21 von unten ist ein Druck- oder Flüchtigkeitsfehler stehn
geblieben; es soll offenbar heißen: die Zurechnungsfähigkeit, nicht die Unzurechnungs¬
fähigkeit, ausschließende.
In der empfehlenswerten „Sammlung von Lebens¬
bildern zur Geschichte der wissenschaftlichen Forschung und Praxis", „Männer der
Wissenschaft" betitelt, die Dr. Julius Ziehen herausgibt, erschien vor kurzem das
zehnte Heft.*) Der Gymnasialdirektor Professor Dr. R. Jonas, ein früherer Schüler
von K. Rosenkranz, stellt sich darin die dankbare Aufgabe, den Werdegang und die
geistige Entwicklung dieses Mannes, sein reiches Wirken als Universitätslehrer und
Schriftsteller zu schildern. In anziehender Weise bringt er weitem Kreisen die
hohe Bedeutung des vielseitigen Gelehrten zum Bewußtsein. Im ersten und im
zweiten Kapitel, die die erste Jugend, Schul- und Universitätszeit, akademische Lehr¬
tätigkeit und weitere Studien in Halle behandeln, benutzt er geschickt die Auto¬
biographie von Rosenkranz „Von Magdeburg bis Königsberg", im dritten Kapitel
„Akademische Lehrtätigkeit in Königsberg, Rosenkranz als Hegelianer. Schrift¬
stellerische Betätigung" hält er sich an Baumanns Geschichte der Philosophie und
an R. Quäbickers Studie über Rosenkranz. Dieses dritte Kapitel ist nicht recht
gelungen. Es fehlt jedes Eingehen auf den Literarhistoriker Rosenkranz, wir er¬
fahren nichts über den Publizisten und Journalisten, über den Politiker und Ver¬
waltungsbeamten. Für eine lebensvolle Schilderung des herrlichen Menschen hätte
das Buch „Aus einem Tagebuch. Königsberg, Herbst 1833 bis Frühjahr 1846,
von K. Rosenkranz" reiches Material geboten. Jonas gibt nur im Anhang auf
vier Seiten einige Proben daraus, die von der wirklichen Bedeutung des Tagebuchs
kaum eine Vorstellung geben.
Von den Königsberger Freunden sind nur K. Lehrs und L. Friedländer ge¬
nannt. Von dem vertrautesten Freunde, den Rosenkranz vor allen andern verehrte
und hochschätzte, von Alexander Jung, ist nirgendwo die Rede. Aus der Fülle
geistvoller Briefe von Rosenkranz an diesen Freund, die ich der Güte von Fräulein
Ottilie Jung verdanke, wähle ich einen aus Berlin vom zweiten Ostermorgen 1849
aus, um einige für den Briefschreiber und seine Freundschaft mit A. Jung charak¬
teristische Stellen daraus mitzuteilen.
„Glauben Sie mir, ich bin nicht eher wieder glücklich, als bis ich wieder in
Königsberg meinen Studien leben kann. Oft ergreift mich eine unbestimmte Angst,
als könnte etwas dazwischen kommen, als sei es unmöglich, mit Frau und Kind,
Meubeln und Büchern, den großen Raum, der uns trennt, wieder zurückzulegen.
Oft denk ich daran, daß ich hier plötzlich sterben könnte. Oft steigen die trüben
Bilder neuer revolutionairer Zustände vor meinen Augen empor — heftige Conflicte
zwischen den Kammern, zwischen Fürst und Volk, Staatsstreiche von Oben und von
Unten — und ich bin auf Alles gefaßt. Was für einen Wechsel des Geschicks habe
ich nicht seit dreiviertel Jahren durchlebt!
Denk ich aber nach Königsberg zurück, so setz ich immer voraus, Sie dort
zu finden, Ihnen zu erzählen, was ich erfahren, mit Ihnen dies seltsame Menschen¬
leben durchzudenken und dem Walten der Idee in ihm auf die Spur zu kommen.
Ohne Sie, ohne unser contemplatives Stillleben — ich allein am Landgraben —
ich ohne Sie in Sprechom, in der Wilkin — oh Gott vom Gnadenthrone sieh
darein! Nein, nein, diesen Schmerz wird er uns, die wir ihn so unendlich lieben,
doch nicht auferlegen. In meinem letzten Brief schon deutet ich Ihnen an, wie
ich im Innersten all mein Leben Ihnen immer zum Genuß zurichten möchte —
und suchte Sie durch die Vorstellung zu erheitern, daß ich einen unermeßlichen
Stoff zur Verarbeitung mitbringe, der auch Ihren Gesichtskreis in neue Uner¬
meßlichkeiten erweitern muß. Daß ich jetzt in der Ersten Kammer bin, muß ich
doch auch als eine große Huld Gottes anerkennen.
Ich lerne doch dadurch die constitutionelle Regierungsform gründlich kennen.
Ich lerne alle die Männer kennen, die gegenwärtig in die Geschichte unseres Staates
eingreifen. Ich lerne mich immer mehr über mein eigenes kleines Schicksal erheben
und werde, in Ansehung meiner Selbstschätzung, noch demüthiger, noch uneitler, lerne
immer mehr nur der Wahrheit, Freiheit, Uneigennützigkeit die Ehre geben.
Nemesis — im Guten, im Bösen, durch Glück und Unglück, durch Heben und
Stürzen, durch Leben und Tod — sie läßt ihrer nicht spotten und geht als die
xroviäsutig. spsoig-lissiiua. bis durch die kleinsten Zufälle der Biographieen hindurch.
Meine gottesfürchtige Bewunderung der Geschichte wächst täglich.
Das Treiben ist sehr anstrengend für mich, fast noch mehr als im Ministerium,
wo es lageweise, wochenweise allerdings mich fast vernichtete. Die Sitzungen der
Kammern, der Abtheilungen, der Commissionen, der Fractionen nehmen den ganzen
Tag von Morgens 10 bis Abends 10 Uhr und ich lese kaum noch die Zeitung.
Ein Buch zu lesen ist unmöglich, denn die etwa noch freie Zeit leidet man ent¬
weder an Abspannung oder muß Briefe schreiben oder hat Besuch . . .
Alle Weltmenschen finden es unbegreiflich, aus einer Stellung zu gehen, wie
ich sie hatte, und tausend Thaler zu opfern, allein daran kehre ich mich nicht und
weiß, was ich will. Die Universität ist etwas viel Solideres, als ein heutiges
Ministerium . . .
Man sieht sich hier sehr wenig. Varnhagen, Hotho, Kugler könnten jetzt
ebensowohl in Amerika leben. Durch meine Abgeordnetenschaft bin ich mit vielen
neuen Bekanntschaften überhäuft — und sogar Mitvorstand der Fraction des linken
Centrums (Rheinländer, Westphalen und Ost- und Westpreußen) geworden,
v. Wittgenstein ist der Präsident meiner Abtheilung."
Der gesamte Schatz der sehr lesenswerten Briefe, die Rosenkranz an A. Jung
geschrieben hat, wird demnächst gehoben werden, und beide, Rosenkranz wie A. Jung,
Als der damalige Pastor
Emil Blöhbaum seinen LKrisws rsäivivus veröffentlicht hatte, schrieben wir (im
4. Bande des Jahrgangs 1899 der Grenzboten S. 86): „Die Lutheraner werden
dem Manne sehr böse sein." In der Tat hat er sein Amt verloren. Er arbeitet
tapfer daran, sich eine neue Existenz zu gründen, und zeichnet vorläufig als es-na.
oksra. Als solcher hat er in Jena vier Vorträge gehalten, die er unter dem Titel:
Christentum oder Monismus (Jena, H.W.Schmidt, 1907) veröffentlicht. Er
beweist darin sehr gut, daß eine Fortentwicklung der Welt, der Natur zum Voll-
kommnern ohne göttlichen Einfluß nicht denkbar sei. Die Entwicklung, auch der
Religion, werde im Neuen Testament gelehrt. Gegner dieser Lehre seien auf der
einen Seite die Atheisten, sowohl die konsequenten, die Anarchisten, wie die in¬
konsequenten, zu denen Haeckel gehöre, auf der andern Seite die Orthodoxen. Die
starke Selbstgewißheit des Verfassers dürfte diesen Orthodoxen die Polemik gegen
ihn erleichtern. Er glaubt den unverfälschten Jesus und das unverfälschte Jesuswort
zu haben; man wird ihm jedoch vorwerfen, daß das Vermeintlichte unverfälschte
Neue Testament nur seine subjektive Auffassung des Neuen Testaments sei, zum
Beispiel an folgender Stelle: „Übrigens ist das Christentum der Orthodoxen
überhaupt kein Christentum, sondern Antichristentum; denn es heißt im ersten
Johannesbriefe: Der ist ein Antichrist, der leugnet, daß Jesus ist ins Fleisch ge¬
kommen, das heißt, daß er von Natur mit egoistischer, sündlicher Anlage behaftet
war." — Rudolf Burckhardt möchte die Biologie, die Lehre vom Leben, die
in trocknem Spezialistentum zu erstarren drohe, vor allem lebendig machen und
führt uns zu diesem Zweck in das Leben und Treiben der alten griechischen sowie
einiger spätern Biologen ein. — I. W. Camerer, Doktor der Medizin und
Ehrendoktor der naturwissenschaftlichen Fakultät zu Tübingen, behandelt in seinem
Buche: Philosophie und Naturwissenschaft (Stuttgart, Kosmosverlag, ohne
Jahreszahl): die Geschichte der Philosophie für den Naturforscher, das Seelenleben
des Menschen im Lichte der heutigen Naturwissenschaft und die exakten Wissenschaften
oder die Lehre von Kraft und Stoff in ihrer jetzigen Entwicklung. — Georg
Lasson, Pastor an Se. Bartholomäus in Berlin, erläutert in gemütvoller und
geistreicher Weise „das erste Blatt der Bibel für unsre Zeit" in dem Büchlein:
Die Schöpfung (Berlin, Trowitzsch u. Sohn, 1907). — Unter dem Titel: Natur
und Christentum (Berlin, Fr. Zillessen, 1907) sind vier Vorträge verschiedner
Autoren zusammengefaßt worden. Dr. Lasson behandelt: Gott und die Natur,
v. Lütgert: Christus und die Natur, v. Schäder: Der Christ und die Natur,
v. Bornhäuser: Die Vollendung der Natur. Der dritte Vortrag enthält eine
scharfe Kritik des jämmerlichen Christusbildes, das Frenssen sich zu entwerfen er¬
le Fülle und die Entschiedenheit der in den nunmehr vier Jahren
des neuen Herrn vom Vatikan ausgegangnen Kundgebungen war
eine Enttäuschung für alle die, die in Giuseppe Sarto den „nur
religiösen" Mann erkannt zu haben glaubten. Man muß den
Begriff des Religiösen seiner wesentlichsten Merkmale berauben,
um heute noch an dieser, vielleicht auf einen Papst überhaupt nicht recht an¬
wendbaren Charakteristik festhalten zu können.
Pius der Zehnte hat nicht unterlassen, des öftern auf die letzten Voraus¬
setzungen und die idealen Ziele der christlichen Kirche zurückzukommen. Die
Aufrichtigkeit und Unmittelbarkeit seiner Äußerungen über die Wege, die ein¬
zuschlagen sind, um das Leben der katholischen Kirche wieder mit dem ursprüng¬
lichen Geiste zu erfüllen, find nicht zu verkennen. Auch der heilige Ernst
dessen, der eine große Mission zu erfüllen sich vorgesetzt hat, beseelt seine
Arbeit. Aber dem Papste Pius dem Zehnten fehlt jene geistige Fähigkeit, die
zur Erkenntnis der Bedingungen und der Beziehungen aller geschichtlichen und
aktuellen Erscheinungen führt, und die bei jeder Bewertung und praktischen
Behandlung von Personen und Dingen unerläßlich ist. Jene geistige Fähig¬
keit, die durchaus nicht notwendig von dem Wesen eines „wahren" Katholiken
und ebensowenig von dem eines Papstes ausgeschlossen ist, und die zum Bei¬
spiel der heilige Augustinus und Papst Leo der Dreizehnte in hohem Grade
hatten und literarisch und politisch betätigt haben. Und eben wegen dieses
auf Anlage und Bildung zurückzuführenden Mangels ist das Walten Pius des
Zehnten weder in seinen Zwecken noch in seinen Wegen einwandfrei, auch ohne
daß man einen antikatholischen oder auch nur antiklerikalen Standpunkt ein¬
nimmt; auf ihn nicht zum wenigsten ist es zurückzuführen, daß wohl im Bereich
der Kurie selbst und im Kirchenbezirk Rom ansehnliche moralische und technische
Verbesserungen der Verhältnisse zu verzeichnen sind, daß aber im übrigen die
tatsächliche Geltung der Kirche nicht nur keinen Fortschritt gemacht, sondern
bedeutende Einbuße erlitten hat.
Es gibt eine Menge Episoden, die sich als Belege dieser Kennzeichnung
verwenden ließen. Allein der päpstliche Brief an den Wiener Professor Commer,
der Schelk und seine Arbeit verurteilt, wäre nach seinem Inhalt und seinen
Begleitumständen zureichend, um die Richtung und Methode Pius des Zehnten
zu erklären und anzudeuten, wie sich gerade unter ihm zum Beispiel die Kata¬
strophe in Frankreich überhaupt und mit solcher Heftigkeit hat ereignen können.
Hierbei wären jedoch sehr vielfältige Voraussetzungen und Einwirkungen in Be¬
tracht zu ziehen, die sich an sich und in ihrer Tragweite bei weitem nicht einfach
und präzis genug umschreiben lassen, als daß man sie im Gefüge einer ge¬
drängten Darstellung der Eigenart einer Persönlichkeit, und sei diese auch noch
so hervorragend und mächtig, überzeugend verwerten könnte. Es ist darum
richtiger, sich an die Äußerungen und Handlungen Pius des Zehnten zu halten,
die er ohne zwingenden äußern Anlaß und ohne wesentliche Beeinflussung
durch die nicht durchaus selbstgewählten Berater als planmäßige Kundgebungen
seiner Überzeugung und seines Willens getan hat.
, Die Enzyklika vom 4. Oktober 1903 snimni »xostol^tus eatlisära, mit
der Pius der Zehnte der Welt zum erstenmal die Kenntnis seines Gedanken¬
ganges vermittelte, macht im allgemeinen den Eindruck, daß sich der neue Papst
in seine große Rolle noch nicht recht hineingefunden habe, und zeigt das Be¬
dürfnis des Neulings, allenthalben zugleich ad c>?o zu reformieren und originale
Gedanken zu offenbaren; sie ist, mit andern Worten, bei allem Ernst naiv, bei
aller Systematik unsystematisch, bei aller Originalität doch der Ausfluß einer
geistigen Überlastung mit unpersönlichen überlieferten Begriffen. Im besondern
geht aus ihr zunächst hervor, daß Pius der Zehnte eine Religiosität neben dem
Bekenntnis des traditionell katholischen festen Dogmen- und Kultussystems oder
als wesentlich subjektives Erleben nicht kennt und nicht hat, also auch bei
andern nicht als faktisch oder berechtigt anerkennt. Er will als Papst durchaus
nicht sowohl ein Vorbild religiösen Verhaltens sein als vielmehr ein Regent
der Menschen in jeder Angelegenheit erkennenden und praktischen Verhaltens;
in jeder, da nichts der Universalität des Religiösen und damit der Autorität
der im Papste personifizierten Kirche entzogen sei. Die Menschheit ist ver¬
derbt, so klagt er, und geht ihrem Ruin entgegen; in der Menschenherde tobt
mit zunehmender „Kultur" ein immer heftigerer und hartnäckigerer Kampf
aller gegen alle. Das liegt, erklärt Pius, an dem sich ausbreitenden und ver¬
tiefenden „Abfall von Gott", und Friede, Heil und Ordnung sind nur dadurch
zu erreichen, das „alles" wieder aufgebaut werde „in Christo": alles soll
Christus sein, und in allem soll Christus sein. Der Papst faßt in diesem
Sinne seine eignen Pläne in die Worte: „Gottes Interessen werden auch
unsre Interessen sein", nachdem er es als seinen Beruf bezeichnet hat, Gottes
Autorität unter den Menschen zu repräsentieren.
Konkrete Folgen dieser Ideen und Prinzipien erkennt man natürlich am
klarsten auf dem staatspolitischen Felde. Der Papst, der für den Erdenbereich
Gottes Autorität für seine Person in Anspruch nimmt, kann natürlich nicht
umhin, sich als den berufnen Herrn und Lehrer der Staaten und Nationen zu
betrachten, alles Politische aus dem päpstlichen Willen abzuleiten- Also sind
ihm Staat und Kirche nicht bloß untrennbar, sondern der Staat ist ihm nichts
als die aus rein technischen Gründen in weitgehendem Maße emanzipierte
Organisation einiger der Lebensäußerungen der ursprünglich und eigentlich voll¬
ständig in die Sphäre der Kirche gehörenden Menschen. Dies ist die Quelle
der neuerdings wieder stark betonten kirchlichen Ansprüche auf die Schule und
der päpstlichen Bestrebungen nach Leitung und Gründung von politischen,
Berufs- und Standesvereinen, wie es die Quelle ist aller sonstigen Vor- und
Sonderrechte geistiger und materieller Art, die die Kirche — freilich nicht erst
seit heute — im bürgerlichen Leben beansprucht.
Die praktische Nutzanwendung dieser Auffassung ist am besten in Spanien
zu bemerken. Hier geht es der römischen Kirche gewiß recht gut: nur wenige
tausend Menschen sind in Spanien nicht Katholiken, und sogar diese wenigen
dürfen die Besonderheit ihrer Religion und ihres Kultus nicht öffentlich kund¬
geben; zwei Drittel der Bevölkerung ist analphabet und dem geistlichen Ein¬
fluß absolut hingegeben; Schulen und Erziehungsanstalten höherer und niedrer
Ordnung werden in verhältnismäßig sehr großer Zahl von Klöstern unter¬
halten und von Geistlichen geleitet; Ordensniederlassungen sind wenngleich
nicht gesetzlich, so in der Tat frei; das Staatsbudget stellt alljährlich für den
mit einem Übermaß von Personal versehenen Kultus nicht weniger als
33 Millionen Mark ein; König sowie Parlament und Negierung sind trotz
gelegentlicher bescheidner Einwände und Abwege dem Vatikan ergeben. Dennoch
hat der Papst in einem Briefe an den Primas von Spanien, Kardinal Saucha,
den Wunsch ausgesprochen nach einem engern Zusammenschluß der spanischen
Katholiken im spezifischen Interesse der politischen Geltung der Kirche; nach
einem Zusammenschluß, der analog der Gliederung der Bevölkerung in Diözesen
und unter der unmittelbaren Leitung der Bischöfe geschehen und verharren soll,
und dessen Ausschuß im Parlament die bisherigen Parteien der Konservativen
und Liberalen wo nicht absorbieren, so beeinflussen oder gegeneinander aus¬
spielen soll. Als Aufgabe dieser politischen Gruppierung ist vom Papste zu¬
nächst die Neuregelung des Unterrichtswesens in Aussicht genommen; erstens,
das verfassungsmäßige Recht eines jeden Spaniers, im Rahmen der gesetzlichen
Sonderbestimmungen Schulen zu gründen und zu unterhalten, soll beseitigt und
dieses Recht ausschließlich den Klöstern eingeräumt werden, zweitens, die
Klosterschulen sollen den staatlichen Prüfungskommissionen nicht mehr unterstellt
sein und alle Befähigungs- und Reifezeugnisse selbständig erteilen dürfen.
Was Frankreich und seine besondern Verhältnisse angeht, so ist der
Papst ja gerade bei der Gelegenheit einer in der Methode ganz und gar nicht
diplomatischen Verfechtung der Unabhängigkeit der Bischöfe von der Staatsregierung
und bei der Beanstandung des Rechts des französischen Präsidenten, den König
von Italien zu besuchen, allzuhart aufgestoßen, um sich nicht Schranken auf¬
zuerlegen auch dann, wenn ihm unter andern Verhältnissen kein Wort und keine
Entschließung scharf genug gewesen wäre. Was der Papst später in Reaktion
auf die Ausführung des Gesetzes betreffend die von ihm im Prinzip abgewiesne
Trennung von Staat und Kirche gesagt und gebilligt hat, das darf man nur
(min, Zrano hö-lis nehmen. Der ihm sehr nahe stehende Neapler Erzbischof Kardinal
Capecelatro hat nicht verfehlt, es mit besondrer Rücksicht auf die französischen
Vorgänge in einer Broschüre auszusprechen, daß eine Trennung von Staat und
Kirche praktisch unmöglich sei: Kirche und Staat, so erklärt er, stehn entweder
feindselig oder freundlich zueinander. Die freundliche Beziehung ist nach
Capecelatro, und wie ohne weiteres angenommen werden darf, dem Papste von
Konkordaten und Gesetzen, die es überhaupt erst seit Heinrich dem Fünften und
Calixtus dem Zweiten gibt, unabhängig; ja das Verhältnis zwischen Kirche und
Staat kann ohne Konkordate und bei einer ein Vertragsverhältnis absolut
ausschließenden Gesetzgebung vorzüglich sein auch im Sinne der Kirche, wie
namentlich Brasilien bewiesen hat, wo nach der Revolution von 1899 ein
Trennungsgesetz von Staat und Kirche gegeben worden ist, und wo sich dennoch
die Zahl der Diözesen verdoppelt hat, und aus einer Kirchenprovinz deren vier
geworden sind. Wenngleich also der Papst der französischen Regierung das
Eingeständnis der veränderten Rechtsverhältnisse nicht hat versagen können, so
ist er doch weit entfernt, die Kirche in Frankreich dem Willen der Republik
unterzuordnen. Der heutige rnoäus vivencli in Frankreich verrät davon mancherlei,
und wären die französischen Katholiken eine einheitlich ins Feld zu führende
Macht, wie sie es freilich bei weitem nicht sind — zwischen der Gruppe des
Monsignore Delassus und der des Abbe Laberthonniere, der des Monsignore
Turinaz und der des Abbe Naudet, der des Pater Fontaine und des Abbe
Loisy bestehn allzu tiefgehende Meinungsverschiedenheiten über den Inhalt des
Glaubens und den Beruf der Kirche —, so entspräche Verfassung und Kultus
der katholischen Kirche noch weniger als schon gegenwärtig den Normen und
Absichten des Trennnngsgesetzes der Republik.
In Italien ist es für Pius den Zehnten nicht ganz so einfach wie ander¬
weit — auch wie in Deutschland und Österreich, wo ja der Ultramontanismus
konsistent ist und dank einer großartigen Organisation das bürgerliche Leben
bedeutsam beeinflußt —, seinem politischen Prinzip zur Geltung zu verhelfe:,.
Hier hat sich der Papst ja noch nicht entschließen können, das Existenzrecht
des Königreichs anzuerkennen, da eine solche Anerkennung den Verzicht auf
den Kirchenstaat in sich schließt. Als Pius der Zehnte Papst geworden war,
erteilte er seinen erste»: Segen im Innern der Peterskirche und nicht von deren
äußerer Loggia aus, um so zu zeigen, daß er an dem Anspruch auf weltliche
Macht festhalte und sich gleich seinen beiden Vorgängern auf dem Heiligen
Stuhle als der zu Unrecht und mit Gewalt von dem Könige Italiens Ge¬
fangne betrachte. Und als er die Protestnote an die Mächte wegen Loubets
Besuch im Quirinal richtete, hatte er für den König von Italien keine andre
Bezeichnung als „jener Usurpator". Auch verschmäht er die Jahresrente von
31/4 Millionen Lire, die ihm der italienische Staat kraft des Garantiegesetzes als
Entschädigung für die Säkularisierung von Kirchengütern zu zahlen verpflichtet
ist. Doch macht sich unter den obwaltenden realen Verhältnissen der italienisch¬
nationalen und der internationalen Politik Pius der Zehnte noch weniger als
seine Vorgänger Illusionen über die Möglichkeit einer Wiederaufrichtung des
Kirchenstaates selbst in beschränktem Maße oder in modifizierter Form. Seine
Genugtuung bleibt es bis auf weiteres, der unverletzliche Herr des Vatikans
zu sein und urbi se ordi in mehr und minder bösen Formen zu sagen, wie
einmal Rampolla an den Kardinal Lavigerie geschrieben hat: die Kurie erkennt
in jedem Staate jede Regierungsform und jede gesetzlich bestehende Regierung
an, selbst wenn sie die Grundsätze nicht billigt, die zu ihr geführt haben — aber
mit Italien allein macht sie eine Ausnahme.
Es gilt darum für den Papst, unbeschadet der Aspiration auf den Kirchen¬
staat oder auf das Königtum von Rom, der Kirche die ihr seiner Meinung
nach gebührende tatsächliche Geltung auch in Italien zu schaffen. Leo der
Dreizehnte hat in einer gewissen negativen Jntransigenz davon fast völlig ab¬
gesehen. Pius der Zehnte beginnt mit einer energischen Förderung der Organisation
der Klerikalen, und zwar unter Betonung des orthodoxen Moments. Er hat das
Verbot der Beteiligung der Katholiken an den Wahlen zur Deputiertenkammer
aufgehoben, erstens um einem in deren Reihen schon allzulaut geäußerten Be¬
dürfnis zu entsprechen, zweitens weil das Interesse der Kirche durch die auf¬
steigende Flut der radikalistischen und revolutionären Elemente nicht minder
schwer gefährdet war wie das Interesse des Staates und die Errichtung eines
Dammes durch die kirchentreuen Elemente dringend nötig erscheinen ließ, drittens
und vornehmlich weil die Aufhebung die unumgängliche Voraussetzung war für
die wirksame politische Organisation der Katholiken. Das ist so wahr, daß Pius
die Beteiligung an den Politischen Wahlen keineswegs allgemein gestattete,
sondern nur vou Fall zu Fall gemäß der persönlichen Entschließung des Bischofs
der betreffenden Diözese, einer Entschließung, für die eben die Rücksicht auf die
Chancen der radikalistischen und revolutionären Massen und Kandidaten ma߬
gebend sein soll. Überdies ist zugleich an die Stelle der bisher die Klerikalen
vereinsmnßig zusammenschließenden OM-g. ciel ecmAi-sssi oattoliei, weil sie in
Verfolg von Leos des Dreizehnter sozialpolitischer Enzyklika Rsrum novarum
vom 15. Mai 1891 unter der Leitung des Grafen Grosoli in ein demokratisierendes
und modernisierendes Fahrwasser gekommen war, von Pius dem Zehnten
eine dem deutschen katholischen Volksvereine in vielen Punkten gleich geartete
Hinons sociale voxolars äei oattolioi ä'Itg.Ug. gesetzt wordeu. Diese Uniove
klerikaler Männer soll von sich fernhalten „alle Zwietracht säenden, in der
Strenge ihres Glaubens in Fragen der populären christlichen Aktion nicht un¬
bedingt verläßlichen Elemente, alle Freunde und Pfleger ungesunder Neuerungen,
die die Absichten und die Ansprüche des apostolischen Glaubens wenig eifrig
wahrnehmen und wenig aufrichtig sind in der steten Beobachtung der päpstlichen
Anweisungen" (Kardinal-Staatssekretär Merry del Val an die Huioue Ende
Juli 1904). Sie hat ferner gemäß einer päpstlichen Enzyklika an die Bischöfe,
denen die Genehmigung und Überwachung der Sitzungen der Lokal- und der
Provinzialvereine der Klerikalen überhaupt und des neuen Verbandes im be¬
sondern obliegt, das politische Verständnis und die Befähigung zur zielbewußter
und erfolgreichen politischen Beendigung bei den Katholiken heranzubilden und
wirkungsfähig zu erhalten, im besondern also auch Wahlagitation zu betreiben.
Jedes Mitglied der Iluioue, so will der Papst, hat sich jeder öffentlichen Kritik
der Organisationsleitung (lies: Kurie) zu enthalten, da diese „erhaben über jede
persönliche Ansicht, die sichern, pflichtgemäßen und unantastbaren Ideale der
Religion, der Gesellschaft und des Vaterlandes repräsentiert", und da nur die
unbedingte Ergebenheit des Einzelnen gegen das Ganze den päpstlichen Entschluß
verwirklichen kann, „daß in unserm Lande auf allen legitimen Wegen die von
der katholischen Kirche dargestellte christliche Gesellschaftsordnung gefördert, ver¬
teidigt und ausgebreitet werde, in Verfolg der Überzeugung, daß die göttliche
Autorität der katholischen Kirche und das unantastbare Recht zur vollen und
freien Ausübung ihrer allumfassenden religiösen Mission der Gesellschaft, der
Zivilisation und dem Vaterlande dient". Die Organisation hat schon bedeutende
tatsächliche Erfolge zu verzeichnen, indem sie einesteils in mehreren Wahlkreisen
rechtsstehenden Kandidaten über linksstehende zum Siege verholfen hat, und indem
vier ausgesprochen klerikale Männer in die Deputiertenkammer gewählt worden
sind. Es ist klar, daß unter solchen Umständen zwar eine Politik wie die des
deutschen Zentrums noch nicht gemacht werden kann, ja es ist begreiflich, daß
von vatikanischer Seite den vier Deputierten der Beruf bestritten wird, das
Rudiment einer klerikalen Partei zu bilden, aber der ansehnliche Anfang einer
Entfaltung der politischen Macht der Klerikalen ist dennoch tatsächlich da und
wird von den politischen Gegnern und der Regierung sehr ernstlich in Rechnung
gestellt. Namentlich die Regierung, die um ihrer Selbsterhaltung willen den Blick
immer auf die Wahlkreise gerichtet halten muß, nimmt die Erscheinung sehr ernst.
Nicht nur getraut sie sich nicht, den von einigen Deputierten in diesen Wochen
wieder hervorgezognen Entwurf eines im Jahre 1885 aus Anlaß von Streitig¬
keiten über die Opportunist der bestehenden juridischen Existenzform der Kirchen¬
güter erörterten Gesetzes über die nach dem französischen Schema gedachte
Trennung von Kirche und Staat irgend zu berücksichtigen, sondern sie läßt auch
die Einführung der Ehescheidung und den eine Elimination des Religionsunterrichts
aus dem Lehrpensum herbeiführender, sehr begründeten Vorschlag der Übernahme
des Elementarschulwesens aus das Staatskonto völlig außer Betracht. Auch was
man in der jüngsten Zeit die Annäherung von Quirinal und Vatikan heißt,
fußt auf wirklichen Vorkommnissen, die ein Werben der weltlichen Macht um die
Gunst der geistlichen bis zu einem gewissen peinlich berührenden hohen Grade
verraten.
Aber in dem Komplex der gegenwärtig in Italien gegebnen Verhältnisse
gibt es Dinge — und ich denke dabei namentlich an die Angelegenheit der
katholischen italienischen Missionare im Orient, die der Papst vielfach vor den
Missionaren andrer Nationalität bevorzugt, und deren Anstalten er nach dem
Konflikt mit Frankreich sich offen unter das Protektorat des Königreichs Italien
hat stellen lassen, sowie an die päpstliche Bekämpfung des slawischen Idioms in
den Kirchen Dalmatiens, Jstriens und Kroatiens zugunsten des lateinischen und
der Italiener —, die verraten, daß sich Pius der Zehnte bei aller durch seine
Papstrolle gebotnen intransigenten Pose sehr lebhaft als Italiener fühlt und
den italienischen nationalen Interessen nach Kräften zu dienen bestrebt ist. Es
ist auch keineswegs unwahrscheinlich, daß seine Vorliebe für die Berufung
italienischer Kardinäle auf die vakanten Posten des Kardinalkollegiums außer
von Geistesverwandtschaft zwischen ihm und ihnen auch von nationalistischen
Motiven stark bestimmt ist. Ebensowenig mag es ungern geschehen, daß die
konservativ-reaktionäre Wirksamkeit des Papstes auf sozialpolitischen Felde die
Schwierigkeiten mindert, die der Staatsregierung aus der fortschreitenden
revolutionären Bewegung erwachsen.
Es ist natürlich eine Frage für sich, wie weit des Papstes Pius sozial-
Politische Absichten vorhalten können, ohne in wesentlichen Bestandteilen ack
Adsurcluni gelangt zu sein. In einem Erlasse vom 21. Dezember 1903 hat sich
Pius der Zehnte genauer über sein sozialpolitisches „System" geäußert, und
zwar in Form von neunzehn Leitsätzen, denen man es anmerkt, daß sie normativ
gedacht und das Resultat einer Verschmelzung der in Leos des Dreizehnter drei
sozialpolitischen Enzykliken enthaltnen Forderungen mit den eignen Meinungen
Pius des Zehnten sind. Er behauptet hier 1, daß die menschliche Gesell¬
schaft aus ungleichen Elementen gebildet wird, die gleich zu machen unmöglich
ist. An diese Wahrheit reiht er s.et 2 und 3 die Sätze, daß eine Gleichheit der
Menschen nur bestehe in ihrem Ursprünge von Gott, und daß es eben zufolge gött¬
licher Ordnung — also in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft — Herrscher
und Untertanen, Herren (!) und Knechtes!), Reiche und Arme, Gelehrte und Un¬
wissendes). Adliges!) und Plebejer(!) gebe, 5 setzt er fest, daß der Mensch das
Recht des Gütergebrauchs und außer diesem das Recht auf Eigentum habe, und aä 6,
daß das Privateigentum, zumal da es auf einem unveräußerlichen Naturrecht
beruhe, vererbt und verschenkt werden könne. Er empfiehlt zugleich als Ver¬
söhnungsmittel der doch von ihm selbst auf göttliche Ordnung zurückgeführten
Klassengegensätze und vornehmlich des Gegensatzes von arm und reich „Gerechtig¬
keit" und „Werktätige Nächstenliebe". Gerechtigkeitspflichten des Proletariers
nennt er in Satz 7: die übernommene Arbeit treu zu Ende zu führen, dem'
Besitz und der Person des Arbeitgebers keinerlei Schaden zuzufügen sowie sich
jeder Gewalttätigkeit und drohenden Agitation in Massen zu enthalten. Dem
gegenüber sollen die Gerechtigkeitspflichten des Arbeitgebers bestehen (8) darin,
daß er richtigen Lohn zahlt, daß er seine Arbeiter nicht schädigt an ihren Er¬
sparnissen durch Gewalt oder Betrug oder Wucher, daß er sie vor religiösen
und moralischen Gefahren bewahrt, daß er sie dem Familienleben und dem Sparen
befreundet, daß er die Kräfte namentlich der weiblichen und der jugendlichen
Arbeiter nicht mißbraucht. Die Nächstenliebe besteht (9 und 10) für den Reichen
im Unterstützen der Armen und für den Armen in der Annahme der milden
Gaben der Reichen und darin, daß er ob seiner Armut nicht erröte. Im 11. Satze
erkennt Pius der Zehnte in offenbarem Widerspruch gegen seine voraufgehenden
Thesen die Tatsache und Berechtigung einer Arbeiterfrage an. Zu deren Lösung
empfiehlt er die Bildung von Gegenseitigkeitsgesellschaften, die Gründung von
Versicherungsanstalten, Maßnahmen für Kinderschutz und die Schaffung von
Gcwerkvereinen, er erklärt die Betätigung in dieser Richtung als die Aufgabe
und den alleinigen Beruf der „christlichen Demokratie". Diese „christliche
Demokratie", wie noch zu zeigen sein wird, das Sorgenkind des Papstes, läßt,
so will es Satz 13, im Gegensatz zur Sozialdemokratie das Privateigentum
unangetastet und gründet sich auf Evangelium und Naturrecht(I); sie darf sich
niemals mit Politik befassen und hat sich im besondern unter den gegenwärtigen
Umständen in Italien der sorgfältigsten Nachachtung der der staatsbürgerlichen
Betätigung aller Katholiken gesetzten Beschränkungen zu befleißigen, übrigens auch,
wie s,ä 14 und 15 betont wird, in allen sonstigen Dingen der kirchlichen Behörde
absoluten Gehorsam zu bewahren. Eben in diesem Sinne gebieten die vier letzten
Sätze des Erlasses allen katholischen Schriftstellern den absoluten Gehorsam gegen
die Bischöfe und den Papst, Zahmheit der Feder in jeder Beziehung und Unter¬
werfung ihrer sämtlichen religiösen, mvralistischen und sozialpolitischen Schriften
unter die Präventivzensur der Bischöfe.
Die Spitze dieser einer sachlichen Prüfung hier nicht bedürfenden und für
ihren Verfasser so charakteristischen Behauptungen und Ansprüche ist gegen die
„christliche Demokratie" insofern gerichtet, als diese tatsächlich weit ent¬
fernt ist von der Erfüllung dessen, was der Papst als ihren Beruf erachtet.
Zunächst streben die italienischen christlichen Demokraten, auch „die Modernisten"
und „die Jungen" genannt, nach Autonomie der Organisation, nach Freiheit
von der Aufsicht und Bestimmung der Bischöfe. Sodann sind sie der wahrlich
nicht unbegründeten Meinung, daß die Bischöfe und die Kirche auf sozial¬
politischen Felde zwar sehr viel versprochen, aber noch nichts gehalten haben,
und demzufolge erklären sie, daß die Bischöfe von Volkswirtschaft und sozialem
Leben viel zu wenig verstehen, als daß sie eine wirtschaftlich-soziale Organisation
leiten könnten, und daß es übrigens auch ihrem geistlichen Beruf nicht gemäß
sei, sich in den naturnotwendigen Zwist und Kampf der Volksparteien parteiisch
hineinzustellen. Endlich hat ihr erster Wortführer, der Geistliche Romolo Murri.
rund heraus bestritten, daß sich die Kompetenz des Papstes und der Bischöfe
zur Einmischung in die Angelegenheiten der Gläubigen über die rein religiöse
Sphäre hinaus in die bürgerlich-praktische erstrecke. Eine ganze Reihe „auto¬
nomer" Vereine, die die „Jungen" daraufhin gebildet haben, hat nun der Papst
aufs prompteste ohne weiteres aufgelöst, auch wo sie sich in ihren Zielen und
Wegen sehr maßvoll gehalten haben; ein Blick auf die moderne Welt mag
ihn gemahnt haben, daß der Weg von scheinbar unschuldigen, heutzutage
scheinbar selbstverständlichen wirtschaftlich und sozial emanzipatorischen Be¬
strebungen zu politischen, intellektuellen, religiösen Aspirationen liberalen
Charakters viel zu kurz sei, als daß er nicht so zeitig wie möglich gesperrt
werden müßte. Konnte er freilich trotz der Androhung schwerer Kirchenstrafen
nicht verhindern, daß sehr viele der „Jungen" nunmehr aus den klerikalen
Reihen überhaupt auftraten und sich in das religiös angeblich neutrale, sozial-
radikalistische Lager begaben, so hatte er andrerseits doch die Genugtuung, daß
die schweren Strafen, die er den Geistlichen und vor allen Nomolo Murri
wegen ihrer „rebellischen" Gesinnung und Betätigung tatsächlich auferlegte, diese
mit wenigen Ausnahmen zu „löblicher Unterwerfung" unter den päpstlichen
Willen zwangen.
Was man in Deutschland Toleranz nennt, spricht aus all dem nicht. Ob
das auf das persönliche Konto des Papstes Pius des Zehnten zu schreiben
oder ob die heute allerdings sehr gesteigerte Geltung der Jesuiten dafür ver¬
antwortlich zu machen sei, scheint mir in Rücksicht auf das so streng hierarchische
System des Vatikans einer Untersuchung nicht bedürftig. Allerdings ist Pater
Weruz, der jetzige General der Jesuiten und frühere Rektor der als Hochburg
ultrakonservativen Geistes bekannten Gregorianischen „Universität", ein Feind
alles modernen Bildungs- und Freiheitsstrebens und insbesondre ein grimmer
Gegner der demokratischen Bestrebungen. Aber auch Pius der Zehnte hat schon
als Patriarch von Venedig die eindeutigsten Proben derselben Gesinnung ge¬
geben. Sein ganz persönliches Werk ist also sicherlich auch der vor einem
Jahre geschehene Erlaß an die italienischen Bischöfe, der, fußend auf den
Äußerungen eines „Geistes der Insubordination", der in die jungen Priester
dringe und sogar schon neue Theorien über die Natur des Gehorsams selbst
gezeitigt habe, Normen der Ausbildung und Disziplin folgendermaßen aufstellt.
Der Lehrstoff der Klerikerseminare soll sich auf die „Mission und die christlichen
Bestrebungen" beschränken, und es soll über Lehrer und Lehren aufs strengste
andauernd gewacht sowie außerdem verhütet werden, daß sich die Kleriker philo¬
sophische, theologische oder wissenschaftliche Belehrung auf weltlichen Universitäten
verschaffen. Die Predigt soll sich auf das Evangelium, den Tadel der Laster
und das Lob der Tugenden beschränken und sich der Erörterung moderner
Probleme enthalten: „jede Äußerung, die im Volke Abneigung gegen die höhern
Klassen wecken kann, ist und muß gelten als völlig entgegen dem wahren Geiste
der christlichen Liebe; es ist in den katholischen Veröffentlichungen jedes Wort
zu tadeln, das die Vertrauensseligkeit der Gläubigen herabsetzt und anspielt auf
neue Orientierung des christlichen Lebens, auf neue Richtung der Kirche, auf
neue Aspirationen des modernen Geistes, auf neue soziale Berufe des Klerus,
auf neue christliche Kultur und dergleichen."
Es kann somit kaum wundernehmen, daß unter Pius dem Zehnten die
Kongregation des Inäsx librorum xrokibiwrurn emsig zu schaffen gehabt hat,
und daß ein neuer Syllabus der Verurteilungen von fünfundsechzig „modernen
Irrtümern" hat zur Welt kommen können. Pius der Zehnte sagt keiner
geistigen Entwicklung ein gutes Wort nach, er erachtet das Tridentiner Konzil
als der Erkenntnis letzten Schluß und lehnt jedes Produkt angeblich treuer
Bibelauslegung und Weltbeobachtung g, limiiw ab. Sechsmal hat er sich in
den vier Jahren seiner Herrschaft über das Vibelstudium geäußert: in einem
Schreiben vom 28. Februar 1904 Lorixwrag Lg-melas, in einem Briefe an den
Bischof Le Camus von la Rochelle vom 11. Januar 1906, in einem Schreiben
vom 27. März 1906 (juoniani in rs didliea und in drei Entscheidungen über
die stillschweigenden Bibelzitierungen (13. Februar 1905), die nur scheinbar
historischen Erzählungen (23. Juni 1905) und die mosaische Echtheit des Penta-
teuchs (27. Juni 1906). In allen zusammen aber ist ein „Studium" der
Bibel nur in dem Rahmen der mehr oder minder kleinlichen philologischen
Untersuchungen freigegeben, und von irgendwelcher ernstlichen Erörterung des
Gehalts der Bibel oder irgendwelcher durch sie nahegelegten naturwissenschaft¬
lichen Bemühung ist so wenig die Rede, daß Pius der Zehnte sogar das in
der letzten Zeit einigermaßen in Erkenntnisförderung „ausgeartete" Auslegen
der Lehren des heiligen Thomas von Aquino damit inhibiert hat, daß er die
„Auslegungen" künftig nur den speziellen päpstlichen Anweisungen gemäß er¬
laubt. „Der Heilige Vater, so schrieb ferner der Kardinalstaatssekretär Merry
del Val mit Bezug auf die feierlichst verdammten Schriften des Abbe Loisy an
den Erzbischof von Paris, hat, tief betrübt und besorgt um die unheilvollen
Wirkungen, die Schriften dieser Art angestiftet haben und noch anstiften können,
sie dem obersten Gericht des Heiligen Offiziums unterbreiten wollen und dessen
Verdammungsurteil voll gebilligt." Und was hatte Loisy in seinen Schriften
so „Unheilvolles" behauptet? Nach den Aussagen seiner Ankläger selbst nichts
Weiter als: „1. Die Heilige Schrift enthält historische, wissenschaftliche und selbst
Lehrirrtümer, die die Irrtümer der Umgebung und der Zeit widerspiegeln, worin
sie verfaßt wurde. 2. Die einzige Wahrheit, die man in der Heiligen Schrift
suchen muß, ist die religiöse Wahrheit; aber wenn es der Kirche allein zukommt,
diese Wahrheit auszulegen, so kann diese Auslegung doch mit den Jahrhunderten
wechseln. 3. Die Lehre der religiösen Wahrheit hat eine relative Seite, die
aus den Formeln besteht, die sie ausdrücken; die Formeln sind beständigen Ver¬
änderungen und Umgestaltungen unterworfen. 4. Die wesentlichen Elemente
des Evangeliums sind drei an der Zahl, der Begriff des Reiches Gottes, der
Begriff des Messias und der Begriff des Apostolats oder der Predigt des
Reiches Gottes. 5. Jesus hat sich im Evangelium damit begnügt, nur die
Hoffnung auf das Reich Gottes zu predigen: an die Stelle dieses Reiches ist die
Kirche gekommen, die nun fortfährt, diese Hoffnung zu predigen...." Nun
mag zugegeben werden, daß diese Thesen Loisys mit den Dogmen der katho¬
lischen Kirche nicht zusammenstimmen, und daß die Ablehnung der Thesen
nur die einfache Konsequenz der Einrichtungen und Traditionen der Kirche ist.
Aber die Thesen sind zugleich die Früchte eines in umfangreichen Veröffent¬
lichungen dokumentierten loyalen Bibelstudiums, und wenn wirklich die Päpst¬
liche Freigabe des Bibelstudiums ernst genommen werden dürfte, so hätte es
genügt, mors solido die Schriften Loisys von der Jndexkongregation in die
Reihe der verbotnen aufnehmen zu lassen, und es hätte nicht eines Prozesses
vor dem Heiligen Offizinen und einer ultraradikalen, die Lust an ernstlichem
Bibelstudium allen halbwegs kirchentreuen Leuten gründlich verleidenden Ver¬
dammung bedurft.
Daß „der Heilige" von Fogazzaro, der die Ergebenheit gegen die Kirche
und die Treue zur katholischen Religion bei aller Aufzeigung der das Wesen
der Kirche und der Religion heute alterierenden Erscheinungen wahrlich nicht
vermissen läßt, auch auf den Index gekommen ist, scheint einer Anzahl von
deutschen Katholiken, die in der Zugehörigkeit zum Zentrum ein unzweideutiges
Zeugnis ihrer Gesinnung haben, der Hauptanlaß gewesen zu sein, eine Petition
an den Papst vorzubereiten, in der in gehorsamster Weise Einwände gegen die
geltende Praxis der Jndexkongregation erhoben und Wünsche nach liberalem
Kriterien ausgesprochen werden. Die Vorbereitung der Petition ist bekannt ge¬
worden, und aus dem Vatikan ist die „peinliche Überraschung" so deutlich mit¬
geteilt worden, daß sich die Petenten alles weitere sparen und eines quos eZo
von päpstlicher Seite gewärtig sein dürfen. Ja man darf sagen, daß der neue
Syllabus vom 3. Juli mit seiner entschiednen Verdammung jedweden Bedenkens
gegen Recht, Vollkommenheit und Nützlichkeit des Index eigens auf die deutschen
Petenten berechnet sei.
Pius der Zehnte gestattet nicht den leisesten Zweifel an seiner päpstlichen
Unfehlbarkeit. Pius der Zehnte will nichts von Freiheit und will nichts von
Bildung im wissenschaftlichen Sinne wissen. Pius der Zehnte will kein lebendiges
Verständnis von Inhalt und Absicht der Religion Christi. Pius der Zehnte
hat und erkennt keine Überzeugung an außerhalb der Dogmatik und keine Moral
außerhalb der Befolgung der Gebote der nach den Kirchenvätern und den Be¬
schlüssen der Konzilien sowie im übrigen nach der Tradition der Jesuiten zu
begreifenden römisch-katholischen Kirche.
urch Dilettantismus und durch Nepotismus ist also, wie ich
gezeigt zu haben glaube, die innere Entwicklung des höhern
preußischen Verwaltungsdienstes in den letzten drei Menschen¬
altern und sein gegenwärtiger Zustand bezeichnet.
I Man hatte offenbar in den maßgebenden Kreisen schon früh ver¬
gessen, daß der höhere Verwaltungsdienst dank den unausgesetzten Bemühungen
des Königs Friedrich Wilhelm des Ersten und seines Sohnes genau so ein
besondrer, abgeschlossener Beruf geworden war wie etwa der höhere Justizdienst.
Demgemäß hatte man auch das Verständnis für die einfache Wahrheit verloren,
daß in der Verwaltung ebenso wie in jedem andern Berufe nur der geschulte
Fachmann etwas gedeihliches leisten kann, oder mit andern Worten, nur
jemand, der durch planmäßige Schulung die theoretischen und praktischen
Kenntnisse und Fertigkeiten erworben und die Erfahrungen gesammelt hat, die
der Verwaltungsdienst seinem Zweck und Wesen nach von seinen Angehörigen
logischerweise nun einmal fordert. So erklärt es sich, daß man Laien und
andre Dilettanten, denen diese Voraussetzungen für eine fruchtbringende Tätig¬
keit in der Verwaltung fehlten, ohne Bedenken in die wichtigsten Stellen nahm,
und daß man immer bescheidner wurde in den Anforderungen an das Wissen
und Können der eigentlichen Verwaltungsbeamten. Der Nepotismus schadete
dadurch, daß er die natürliche Auslese der Besten fast vollständig aufhob.
Und diese Entwicklung wirkte bedauerlicherweise weit über den preußischen
Verwaltungsdienst hinaus.
Sie hat zunächst den Reichsdienst ergriffen. Auch dieser ist vom Dilet¬
tantismus und nach den Enthüllungen der letzten Monate über die Personalien¬
wirtschaft in der Kolonialverwaltung und im Reichsamt des Innern auch vom
Nepotismus angesteckt worden. Es kommt zum Beispiel auch hier vor, daß
ein junger Assessor oder ein einseitiger Privatrechtsjurist dazu berufen wird, in
einem der obern Reichsämter die schwierigsten Referate wahrzunehmen, obwohl
ihm vielleicht jede Sachkunde und die bescheidensten Erfahrungen auf dem ihm
anvertrauten Gebiet fehlen.
Im auswärtigen Dienst des Reichs herrscht gegenwärtig ebenfalls vielfach der
Dilettantismus. In Preußen mußte nach zwei Kabinettsordern von 1327 und 1842
der Anwärter für die diplomatische Laufbahn unter allen Umständen das juristische
Studium abgeschlossen und die erste juristische Staatsprüfung bestanden haben.
Dann mußte er durch entsprechende Tätigkeit im Justizdienst die Reife für die zweite
juristische Staatsprüfung dargetan, die Aufnahmeprüfung für den Verwaltungs¬
dienst bestanden und schließlich ein und ein halbes Jahr bei einer Regierung
praktisch gearbeitet haben, ehe er überhaupt in den diplomatischen Vorbereitungs¬
dienst übernommen werden konnte, der dann auch noch mehrere Jahre dauerte
und mit dem diplomatischen Examen abschloß. Der junge Diplomat hatte also,
bevor er in den auswärtigen Dienst trat, immerhin Gelegenheit gehabt, im innern
Dienst einiges zu leisten, namentlich arbeiten zu lernen und sich in der Heimat
Kenntnisse und Erfahrungen zu sammeln, die ihm einen einigermaßen brauch¬
baren Maßstab zur Beurteilung der ausländischen Verhältnisse gaben. Über¬
dies scheinen aber auch viele der ältern Diplomaten Regierungsassessoren gewesen
zu sein. Seit etwa einem Menschenalter ist dies anders geworden. Es gab
seither noch immer einige Assessoren im diplomatischen Dienst. Aber in der
Regel waren dies Gerichtsassessoren, die also die wirtschaftlichen Verhältnisse,
die innere Verwaltung und das öffentliche Leben ihrer Heimat nicht kannten,
und denen so jeder Vergleichsmaßstab für die Beobachtung und die Beurteilung
des Auslandes fehlte. Die meisten Berufsdiplomaten des Reichs waren jedoch
ehemalige Offiziere, die sich günstigstenfalls einige Semester irgendwo studierens-
halber aufgehalten hatten, oder Gerichtsreferendare, die gewöhnlich unmittelbar
nach dem Referendarexamen in die diplomatische Laufbahn übergetreten waren.
Die einzige Leistung, die von diesen Herren zum Nachweis ihrer Befähigung für
den auswärtigen Dienst verlangt wurde, war das Bestehen der diplomatischen
Prüfung, die als letzter Rest jener alten preußischen Bestimmungen auf den
diplomatischen Dienst des Reichs übergegangen war. Aber diese Prüfung ist
längst eine leere Form gewesen; sie hat jetzt zugestcmdnermaßen hauptsächlich
nur noch den Zweck, persönlich mißliebig gewordne Anwärter zu beseitigen, und
soll oft von den unfähigsten Leuten bestanden worden sein. Auch jemand, der
nicht studiert hatte, konnte sich in Jahresfrist etwa auf die Prüfung ausreichend
vorbereiten. Bezeichnend ist denn auch, daß die meisten Vortragenden Rate der
Politischen Abteilung des Auswärtigen Amts nicht aus der diplomatischen Lauf¬
bahn, sondern aus einem andern Beruf hervorgegangen sind, meist aus dem
Konsulatsdienst.*)
Der andre Zweig des auswärtigen Dienstes, der Konsulatsdienst, wird nicht
nur äußerlich, sondern auch geistig so sehr vom Gerichtsassessor beherrscht, daß
man neulich einem Beamten, der zum Generalkonsul an dem für uns wichtigsten
Handelsplatz der Welt ernannt worden war, in einer halbamtlichen Zeitungs¬
nachricht keine bessere Empfehlung auf den Weg zu geben wußte, als daß er
em besonders genauer Kenner des Handelsrechts sei. Ein harmloses Gemüt
würde angenommen haben, daß ein Generalkonsul, zumal an einer solchen Stelle,
ein besonders genauer Kenner der wirtschaftlichen Verhältnisse seiner Heimat und
des Auslands und der Handelsbeziehungen beider zueinander sein müsse.
Und NUN unsre herrliche Kolonialverwaltung! Dilettanten oben und unten,
daheim und draußen. Vor allem natürlich wieder unzählige Juristen aller Art —
günstigstenfalls solche, die im diplomatischen oder im Konsulatsdienst wenigstens
einmal draußen gewesen waren. Meist hatten die Herren aber nur am grünen
Tisch der Justiz einige Jahre Beschlüsse und Urteile abgesetzt oder Anklage¬
schriften verfaßt, bevor sie berufen wurden, daheim Kolonien zu „verwalten"
oder hinausgeschickt wurden, um die Verwaltung einer Kolonie einzurichten, ihre
wirtschaftlichen Verhältnisse zu untersuchen und Vorschläge zu ihrer Hebung zu
machen. Ob sie das alles gelernt hätten, wurde nicht gefragt. So war im vorigen
Sommer beim Gouvernement in Südwestafrika ein Amtsrichter Referent für
Landwirtschaft, man denke sich, gerade für Landwirtschaft! Klingt das nicht
wie ein schlechter Scherz? Neben dem Gerichtsassessor gab es dann eine bunte
Fülle andrer Dilettanten aller Art: Offiziere, Staatsarchivare, Professoren und
Privatdozenten der Theologie und der Volkswirtschaftslehre und dergleichen mehr.
Einer dieser gelehrten Herren hat sogar, obwohl er niemals praktisch verwaltet
oder organisiert hatte, eine dicke Schrift über die Reform der Kolonialverwaltung
drucken lassen. Warum auch nicht? Ist es doch eine längst überwundne, gänzlich
rückständige Ansicht, daß ein Verwaltungsmann Fachkenntnisse brauche.
Und damit komme ich zu der schlimmsten Folge der geschilderten Entwick¬
lung. Sie besteht darin, daß zurzeit nicht nur bei dem großen Publikum, sondern
auch in sehr maßgebenden Negierungskreisen eine vollständige Verwirrung herrscht
in den Begriffen und den Anschauungen von dem höhern Verwaltungsdienst,
seinem Wesen, seiner Bedeutung und den Anforderungen, die man deshalb an
die im Verwaltungsdienst endigen Leute zu stellen habe.
Daß im Justizdienst, im Militärdienst, in der Industrie oder im Handel,
im Handwerk oder in einem andern abgeschlossenen Beruf nur der geschulte
Fachmann etwas leistet, hat noch niemand bezweifelt. Als die von Landwirten
gegründeten Getreideverkaufsgenossenschaften in Pommern und Sachsen, die von
einem Landwirt geleitete Milchzentrale in Berlin, die von dem Oberpräsidenten
von Goßler in Danzig angeregten Unternehmungen zur Hebung der Industrie des
Ostens in Schwierigkeiten kamen, da konnte man überall lesen und hören, daß dies
nur auf den kaufmännischen Dilettantismus der leitenden Persönlichkeiten zurück¬
zuführen sei. Zu dem Danziger Krach schrieb zum Beispiel eine große nord¬
deutsche Zeitung, daß der Dilettantismus nirgends mehr vom Übel sei als auf
dem Gebiet kaufmännisch-gewerblichen Schaffens. Immer mehr und immer dring¬
licher weisen andrerseits berufne Männer darauf hin, daß in der Landwirtschaft
nur der etwas vor sich bringe, der ein praktisch und theoretisch gründlich durch¬
gebildeter Fachmann sei.
Nur für den Verwaltungsdienst soll dies alles nicht gelten. Für diesen
hält man sogar in Kreisen, die es besser wissen müßten, den ersten besten für
hervorragend befähigt zur Bekleidung der schwierigsten Verwaltungsstellungen.
Da besetzt man neuerdings unter den Augen der höhern Stellen in einem Fach¬
ministerium mit beneidenswerten Mut reine Verwaltungsreferate mit Technikern.
Da schreit alles Hurra und schlägt Purzelbäume vor Genugtuung darüber, daß
endlich einmal der Assessorismus und Bureaukratismus durchbrochen worden
sei, sobald ein Offizier in eine wichtige leitende Verwaltungsstelle kommt, für
die er nichts mitbringt als eine allgemeine Bildung, also das Abc dessen,
was ein Verwaltungsbeamter wissen und können muß, oder sobald es heißt,
daß z. B. ein Professor der Dogmatik an die Spitze eines der schwierigsten
Verwaltungsministerien gestellt werden solle. Wenn umgekehrt jemand ernst¬
lich vorschlagen wollte, einen Regierungspräsidenten, der Reserveoffizier war
und also das Abc des Militärdienstes kennt, an die Spitze einer Brigade zu
stellen, dann würden dieselben Leute sofort bereit sein, ihn auf seinen Geistes¬
zustand untersuchen zu lassen.
Die wüstesten Orgien haben diese Begriffsverwirrung und Urteilslosigkeit
in den letzten Monaten in Verbindung mit den Erörterungen über die Neu¬
ordnung unsrer Kolonialverwaltung gefeiert. Da diese Vorgänge besonders
belehrend und bezeichnend sind, darf ich vielleicht etwas dabei verweilen. Irgend
ein kluger Kopf hatte entdeckt, daß die Mißstände in unsrer Kolonialverwaltung
darauf zurückzuführen seien, daß sie nicht nach kaufmännischen Grundsätzen geleitet
worden sei. Er zog daraus flugs den Schluß, daß also der Kaufmann die Ver¬
waltung der Kolonien übernehmen müsse. Wenn dieser kluge Mann oder einer
der Zehntauscnde, die ihm diesen Unsinn, denn nichts andres ist es, nach¬
geplappert haben, einmal versucht hätte, sich klar zu machen, was eigentlich die
kaufmännischen Grundsätze seien, und inwiefern in der Kolonialverwaltung über¬
haupt Gelegenheit sei, sie zu betätigen, dann würde man hoffentlich bald bemerkt
haben, daß der oberste Grundsatz jeder kaufmännischen Tätigkeit, Waren möglichst
billig zu kaufen oder zu erzeugen, um sie möglichst teuer zu verkaufen, überhaupt
in der Kolonialverwaltung nicht angewandt werden kann, denn deren Aufgaben
und Ziele sind ganz andre. Oder glaubt wirklich jemand heute noch ernstlich, daß
es Aufgabe und Zweck einer Staatsverwaltung sei, möglichst viel Geld aus dem
Lande herauszuschlagen? Aber ganz abgesehen hiervon ist jener kaufmännische
Grundsatz auch nur die besondre Anwendung eines allgemeinen wirtschaftlichen
Grundsatzes, der jede wirtschaftliche Tätigkeit leiten soll: mit dem geringsten Auf¬
wand den größten wirtschaftlichen Erfolg zu erreichen. Dies gilt für alle privaten
und öffentlichen Wirtschaften gleichmäßig und braucht für diese nicht erst entdeckt
zu werden. Und hoffentlich würde man bei weiteren Nachdenken noch ein zweites
gemerkt haben: daß nämlich nur der Kaufmann etwas dauerndes erreicht, der
sein Geschäft gründlich versteht, oder mit andern Worten, der ein geschulter
Fachmann ist. Das hätte dann hoffentlich zu der weitern Erkenntnis geführt,
daß in die Kolonialverwaltung, die nichts ist als eine besonders schwierige Art
der Verwaltung, nur der geschulte Verwaltungsbeamte hineingehört, weil nur
er der zuständige Fachmann ist. Zu demselben Ergebnis hätte ein leidlich klarer
Kopf auch auf einem andern Wege kommen müssen. Sieht man näher zu, dann
findet man bald, daß dem Gerede von der Anwendung kaufmännischer Grund¬
sätze auf die Kolonialverwaltung die dunkle Empfindung zugrunde liegt, daß
die Hauptaufgabe der Kolonialverwaltung die wirtschaftliche Erschließung der
Kolonien, die Förderung ihrer wirtschaftlichen Entwicklung sein müsse. Das ist
aber eben auch eine der Hauptaufgaben der Verwaltung, an deren Erfüllung
z. B. unzählige Landräte tagtäglich arbeiten, indem sie Wege, Kunststraßen,
Kleinbahnen banen, die Viehzucht, den Obstbau, überhaupt die Landwirtschaft
pflegen, elektrische Kraftstatiouen, Talsperren anlegen, das Handwerk fördern
und dergleichen mehr. Man hat ein starkes Buch von mehreren hundert Seiten
mit der Schilderung solcher Unternehmungen angefüllt.
Von welchem Ausgangspunkt aus man also die Frage auch erörtern mag,
man wird immer dahin kommen müssen, daß nicht Kaufleute, sondern geschulte Ver¬
waltungsbeamte als die berufnen Fachmänner in die Kolonialverwaltung hinein¬
gehören, und zwar besonders tüchtige, die sich daheim unter schwierigen Verhält¬
nissen bewährt haben. Das ist die einfache, auf der flachen Hand liegende
Wahrheit. Es haben sich denn auch die wenigen geschulten Verwaltungs-
beamten, die längere Zeit im Kolonialdienst gestanden haben, anscheinend durchweg
bewährt. Bezeichnend ist auch, daß in dem neu errichteten Kolonialamt die
drei höchsten leitenden Beamten unter dem Staatssekretär geschulte Verwaltungs¬
beamte sind. Auch sind fast alle andern geschulten Verwaltungsbeamten, die im
Kolonialdienst tätig waren, in diese Behörde einberufen worden. Daß dies nicht
Zufall, sondern wohlerwogne Absicht war, zeigt die bekannte Erklärung, die der
Staatssekretär des neuen Reichsamts vor einigen Wochen über seine Stellung
zu dieser Frage öffentlich abgegeben hat, wenn sie auch, vielleicht aus bestimmten
Gründen, den Gegensatz: Dilettant und Fachmann noch nicht scharf genug betont
hat, wie denn mich bei mancher der neuen Personalveränderungen im Kolonial¬
dienst jene Auffassung noch nicht maßgebend gewesen ist.
Wer also eine Formel zur Erklärung der Mißerfolge unsrer Kolonialverwal¬
tung wünscht, der schreibe diese nicht dem Assessorismus und Militarismus zu, wie
man immer getan hat — man müßte mindestens sagen: Gerichtsassessorismus —,
sondern dem Dilettantismus oder dem Pfuscher- und Stümpertum. Für jeden ge¬
schulten Verwaltungsbeamten, der sich die früher geschilderte Zusammensetzung der
Beamtenschaft der Kolonialverwaltung vor Augen hielt, war es ganz selbstver¬
ständlich, daß eine so eingerichtete und geleitete Verwaltung früher oder später
zusammenbrechen müsse. Alle die Enthüllungen der letzten Monate über die voll-
kommne Verwirrung der Zentralverwaltung, den merkwürdigen Geschäftsgang bei
dieser Behörde, der den leitenden Personen jede Übersicht über die Geschäfte und
damit jede Möglichkeit nahm, sie wirklich zu leiten;*) die Unfähigkeit, unter
den Untergebnen die bescheidenste Disziplin zu halten; die Hilflosigkeit den
nächstliegenden praktischen Aufgaben gegenüber — alles dies war eben nichts
andres als die unausbleibliche Folge des Dilettantismus, der sich leider von
Anfang an in unsrer Kolonialverwaltung zumal in den obersten, leitenden
Stellungen breit machen konnte. Es ist unnötig, nach andern Gründen zu
suchen, wie man häufig getan hat, dieser Dilettantismus erklärt alles, was
vorgekommen ist, vollständig.
Die Kolonialverwaltung bietet ein besonders handgreifliches Beispiel der
verderblichen Wirkung des Dilettantismus und damit weiter der Bedeutung der
Persönlichkeit in der Verwaltung. Kenner wissen, daß sich auch in der innern
Verwaltung aus denselben Ursachen dieselben Folgen entwickelt haben. Es ist
zwar bei den Verhandlungen über den Entwurf von 1903 von verschiednen
Seiten behauptet worden, daß den Verwaltungsbeamten nur die allgemeine
staatswissenschaftliche Ausbildung und Vertiefung, die Kenntnis der ausländischen
Gesetzgebung, der weite Blick und Horizont für neue Reformen und Gesetze
fehlten, daß sie aber den Anforderungen der Praxis noch immer genügt hätten.
Bei den Verhandlungen über den Gesetzentwurf von 1905 gab man schon zu,
daß infolge der unzulänglichen Leistungen der Verwaltungsbeamten Mißgriffe
vorgekommen seien. Wer mitten drin steht, weiß, daß die Beamtenschaft der
Verwaltung leider auch praktisch nicht genügt, daß auch im praktischen Dienst
nicht nur tagtäglich Mißgriffe vorkommen, sondern, was weit schlimmer ist,
zahlreiche Versäumnisse — weil eben die Beamten der Verwaltung im Durch¬
schnitt nicht mehr auf der Höhe stehn, auf der sie stehn müßten, und auf der
unsre Vorfahren unter den beiden großen Königen des achtzehnten Jahrhunderts
und in der Stein-Hardenbergischen Zeit auch standen.
Um die ganze Größe der Gefahr ermessen zu können, die hieraus für
unser Land entspringt, vergegenwärtige man sich einmal, welche Veränderungen
seit jenen Glanzzeiten der preußischen Verwaltung für uns nach außen und im
Innern eingetreten sind, und wie außerordentlich dadurch zugleich die Tätigkeit
der Verwaltung erschwert worden ist.
Nach außen ist unsre an sich gefährliche Lage inmitten Europas verschärft
worden durch die Gründung des Deutschen Reichs, das mit seiner Waffengewalt,
seiner wirtschaftlichen Macht, seinen Ansprüchen auf einen Platz an der Sonne
den Nachbarn überall in den Weg treten muß und diese jetzt geeinigt sieht,
um im geeigneten Augenblick über uns herzufallen und uns wieder zurück¬
zuwerfen in die alte politische und wirtschaftliche Ohnmacht.
Im Innern dann, um nur einiges hervorzuheben, vor allem jene gewaltigen
Umwälzungen unsrer wirtschaftlichen Verhältnisse mit ihren Folgen: den großen
Verschiebungen im Aufbau der Gesellschaft, dem Übergang vom Ackerbaustaat
zum Industriestaat, den wachsenden Gefahren des Kapitalismus, der Arbeiter¬
frage, dem Auftreten und Anwachsen der Sozialdemokratie.
Welche Fülle von verwaltungstechnischen und politischen Aufgaben erwachsen
nicht schon aus diesen wenigen, aufs Geratewohl herausgegriffenen Punkten. Ich
erinnere nur an die Kolonisation des Ostens und die Lösung der Wohnungs¬
frage, die Klonau in dem früher erwähnten Artikel über die Reform der preußischen
Verwaltung mit Recht zu den wichtigsten Aufgaben der nähern Zukunft rechnet,
oder die Zusammenfassung und Vereinfachung der Arbeiterversicherung, die noch
dringlicher ist und sicherlich nicht durch die Errichtung besondrer Behörden
geschaffen werden kann, wie man im Reichsamt des Innern anscheinend will,
sondern nach dem Vorschlage des verstorbnen Präsidenten Bödiker nur durch
Angliederung an die vorhandnen Behörden. Aber über allen solchen Einzel¬
aufgaben steht das gewaltige Werk der technischen und politischen Erziehung
des Einzelnen und des ganzen Volkes für die großen Aufgaben, die ihm
zugefallen sind, der Zusammenfassung aller Kräfte des Volkes zum geistigen,
zum wirtschaftlichen Kampfe, zum Kampfe mit den Waffen gegen alle, die seine
Entwicklung hemmen wollen — im Innern und von außen, wie es uns Fürst
Bülow noch neulich mit ernster Mahnung als dringendste Forderung des Tages
vorgehalten hat.
Und wer soll alle diese Arbeit leisten? Doch ebenso wie früher der Ver¬
waltungsbeamte, der berufne Vertreter der Staatsgewalt. Wieviel schwieriger
ist es aber jetzt für ihn, sachgemäß einzugreifen! Wir haben jetzt keinen absoluten
Staat mehr, sondern ein weitgehendes Mitbestimmungsrecht des Volkes im
Staate, in den Gemeindeverbänden, in der Kirche. Wir haben namentlich auch
keinen Polizeistaat mehr mit der Fülle seiner Machtmittel, vielmehr das gerade
Gegenteil, einen Rechtsstaat, der die Freiheit des Einzelnen, die Selbständigkeit
der großen Gemeinschaften innerhalb des Staats mit einem wirksamen Rechts¬
schutz umgeben und die Tätigkeit der Verwaltung auf Schritt und Tritt einer
weitgehenden, unparteiischen Nachprüfung unterworfen hat. Fürwahr das be¬
kannte Wort des Fürsten Bismarck, daß das Regieren jetzt etwas schwieriger
sei als zur Zeit Friedrichs des Großen, gilt schon längst auch von der Ver¬
waltung, die schließlich ja auch nur ein Teil der Regierung ist.
Auf der Tüchtigkeit der Verwaltungsbeamten beruht also alles. Gewiß
können sie ohne Hilfe und Unterstützung aus dem Volke heraus nichts dauerndes
erreichen, aber umgekehrt wird auch dieses allein ohne die Führung der Ver¬
waltungsbeamten jene Arbeit nicht leisten können. Es ist also mit beiden Händen
zu greifen, daß jetzt erst recht nur die besten Männer des Volks, „so geschickte
Leute, als weit und breit zu finden", gerade gut genug sind für den Verwal¬
tungsdienst, und daß es noch immer die erste und wichtigste Aufgabe sein muß,
die Besten herauszusuchen und an die richtige Stelle zu bringen. Nur dann kann,
wie es schon der alte Staatsminister von Hagen ausgesprochen hat, darauf ge¬
rechnet werden, daß die Verwaltung immer auf der Höhe ihrer Aufgaben steht.
Nun hat Professor Schmoller vor einiger Zeit gelegentlich bemerkt, daß
die Verwaltungsbeamten der absoluten Staaten immer besser seien als die der
Verfassungsstaaten. Ich weiß nicht, ob der verehrte Führer der neuern historischen
Schule der deutschen Nationalökonomie damit ein historisches Gesetz aufstellen
wollte; ich würde ihn sonst an seinen Fakultätsgenossen Eduard Meyer weisen
müssen, der historische Gesetze nicht anerkennt. Jedenfalls würde ich aber für
Preußen ein solches Gesetz leugnen müssen. Die Mißstände des höhern Ver¬
waltungsdienstes in Preußen, von denen ich hier leider soviel erzählen mußte,
sind nicht allein oder nicht einmal überwiegend durch den Parlamentarismus
verschuldet worden. Dieser hat sie sicherlich gefördert, sie haben anch durch die
parlamentarische Patronage, die sich bei uns ebenfalls in fortgesetzt steigendem
Umfang entwickelt hat, ihr besondres Gepräge erhalten, aber erwachsen sind sie
auf Grundlagen, die schon früh in der vormärzlichen Zeit gelegt worden sind.
Ich rechne dazu vor allem die unzweckmäßige Ordnung der Personalienverwal¬
tung. Ohne diesen günstigen Nährboden würden jene Mißstände nicht so üppig
gediehen sein. Deshalb verzweifle ich auch nicht an der Möglichkeit einer Besse¬
rung, zumal da das Ziel und die Wege dahin gegeben sind.
Ich muß auch hier von Professor Schmoller abweichen. Er meint in
seiner Einleitung zu den ^otis Lorussie,^ über die Behördenorganisation,
nachdem er geschildert hat, mit welchen Mitteln Friedrich Wilhelm der Erste
den preußischen Beamtenstand geschaffen und zu seinen glänzenden technischen
und politischen Leistungen befähigt hat, daß man ein solches Ziel nicht immer
auf denselben Wegen erreichen könne, es seien zeitweise auch einmal ganz ent¬
gegengesetzte Wege einzuschlagen. Ich glaube aber auf Grund meiner genauen
Kenntnis der innern Verhältnisse und der Triebkräfte des heutigen preußischen
Verwaltungsdienstes, daß wir immer noch nichts besseres tun können, als dem
Vorbilde zu folgen, das jenes Verwaltungstalent größten Stils auf dem preußischen
Königsthron gegeben hat; es ist auch heute noch brauchbar.
Wir müssen vor allem erstreben, daß der geschulte Fachmann in der Ver¬
waltung wieder die beherrschende Stellung erhält, die er zum Schaden des
Ganzen seitdem verloren hat. Wir müssen ferner, soweit dies menschlicher
Schwäche und UnVollkommenheit möglich ist, die unerwünschten Einflüsse ans
die Personalangelegenheiten beseitigen, die jetzt anders als früher die natürliche
Auslese der Besten verhindern.*) Bei der Auswahl der Wege zu diesem Ziel müßte
man freilich den veränderten Verhältnissen Rechnung tragen. Das habe ich mit den
Vorschlägen in meinem ersten Artikel versucht, und ich glaube mich keiner Über¬
hebung schuldig zu machen, indem ich diese Vorschläge auch jetzt noch als richtig
und brauchbar ansehe, obgleich sie inzwischen von meinen Kritikern ausdrücklich
und bei den Verhandlungen über die Gesetzentwürfe von 1903 und 1905 vielfach
stillschweigend zurückgewiesen worden sind. Weiteres hierüber ein andermal.
*) Ich kann mir nicht versagen, hier eine an den Minister von Boden gerichtete Kabinetts¬
order Friedrichs des Großen vom 12. Januar 1750 wiederzugeben, die in dem inzwischen
erschienenen achten Bande derL.vo Loi nWivs, über Behördenorganisation abgedruckt ist (S. 661).
Sie bedarf wohl keiner weitern Erklärung.
„Ihr könnt versichert sein, daß wegen der gnädigen Zufriedenheit, so ich von Eurem
treuen und guten Dienste habe, Ich Euch gerne in allen Gelegenheiten Narizusn der Gnade
und Protektion geben werde; soviel aber das in Eurem Schreiben vom 10. dieses gethane
Gesuch anbetrifft, daß ich Euren ältesten Sohn zum Ersten Direktor bei der Magdeburgischen
Krieges- und Domänenkammer ernennen möchte, so will mein Dienst schlechterdings nicht zugeben,
solches zu agreiren, da Ich Selbst weiß, daß derselbe nicht von der Oapaoits ist, ein so impor-
tantes Collegium, als wie die Magdeburgische Krieges- und Domänenkammer ist, zu dirigiren,
auch dessen in verschiedenen Stücken geführte Conduite nicht so beschaffen gewesen, daß ich ihm
sonder Nachteil meines Dienstes solchen Posten anvertrauen könnte" usw.
Aber freilich, wer soll eine solche Aufgabe losen? Von vornherein wird
niemand, der die verschiednen Verhandlungen des Landtags über die Neuordnung
des höhern Verwaltungsdienstes von den sechziger und siebziger Jahren an
verfolgt hat, zweifelhaft sein, daß aus der Volksvertretung heraus die Besserung
nicht kommen wird. Ebensowenig wird er aber zweifeln können, daß der Land¬
tag einem abgerundeten, logisch und sachgemäß aufgebauten Vorschlag der Regie¬
rung keine Schwierigkeiten machen würde. Aber da haperts. Die höhere Bureau¬
kratie wird nie imstande sein, einen solchen Vorschlag zu machen; dafür ist sie
viel zu sehr mit Juristen durchsetzt und in unmittelbarer weiterer Folge dieses
Umstands viel zu uneinig unter sich. Diese Uneinigkeit, das muß endlich einmal
vor dem Lande gesagt werden, ist der wirkliche und einzige Grund, der bisher
verhindert hat, daß einmal ganze Arbeit gemacht werden konnte. Sonst würde
zweifellos der treffliche Mann, der bisher an der Spitze des Ressorts des Innern
stand, etwas andres zustande gebracht haben als das Gesetz vom 10. August
1906. An einer umfassenden Neuregelung der Vor- und Ausbildung für den
höhern Verwaltungsdienst würden mindestens vier Ministerien beteiligt sein, die
des Innern, der Finanzen, des Kultus und der Justiz, vielleicht sogar noch das
Landwirtschaftsnnnisterium. Eine solche Vielheit von Ministerien unter einen
Hut zu bringen, ist heutzutage schier unmöglich. Es ist also der alte Krebs¬
schaden am Körper des preußischen Staats, der Krieg der Departements, wie
Treitschke sagt, der Nessortpartikularismus, wie man es schamhaft in den beteiligten
Kreisen selbst nennt, der hier sozusagen im Mittelpunkt des Staatslebens die
Gesundung verhindert.
Da bleibt denn nur die Hoffnung, daß sich ein Mann finde, der mehr
Macht hat als die Bureaukratie und das große Werk in die Hand nehme.
Und möge eine gnädige Vorsehung ihn uns bald schenken. Die größte Gefahr
ist im Verzug. Wer kann wissen, ob nicht die preußischen Verwaltungsbeamten
schon in kurzem vor die Aufgabe gestellt sein werden, die ihre Vorgänger in
den Jahren nach dem siebenjährigen Krieg und nach den Befreiungskriegen zu
lösen hatten, einen durch einen Kampf auf Leben und Tod bis in die tiefsten
Wurzeln seines Daseins und seiner Kraft erschütterten und erschöpften Staat
wieder aufzurichten? Und werden wir dazu ebenso befähigt sein wie jene?
Wenn uns aber eine solche Schickung erspart bleiben sollte, dann droht der
innern Verwaltung das Schicksal ihrer jüngern Schwester, der Kolonialverwaltung,
ein Zusammenbruch von innen heraus, wenn nicht bald eine gründliche Änderung
kommt. Das ist die Überzeugung aller Verwaltungsbeamten, die bekümmerten
Herzens die Entwicklung des höhern Verwaltungsdienstes in den letzten Jahr¬
zehnten verfolgt haben-
er Burenkrieg hat den Zeitungen und Zeitschriften Veranlassung
gegeben, ihre Leser über die Niederlassung der Holländer in Süd¬
afrika und ihre frühern Konflikte mit den Engländern zu be¬
lehren. Jetzt ist nun ein Werk erschienen, das die Geschichte dieser
ÄKonflikte ausführlich nach den Quellen erzählt: W. I. Leyds,
Die erste Annexion Transvaals. Mit einer Karte, einem Faksimile und
einer Tabelle. (Berlin, Emil Felder, 1907.) Im großen und ganzen bestätigt
es die Darstellung unsrer deutschen Universalgeschichten. Im einzelnen berichtigt
es manchen Irrtum, und die ausführliche Beschreibung der englischen Praktiken
und der Leiden der Buren erklärt uns hinlänglich nicht allein die Ereignisse
des Jahres 1899 — Leyds will sie in einem zweiten Bande erzählen —, sondern
auch so manches von dem, was wir noch zu erwarten haben, denn das nieder¬
ländische Element ist ja durch die letzte Niederlage weder vernichtet noch mit
dem englischen verschmolzen worden. Dem Verfasser, der bekanntlich während
des Krieges die Burenrepubliken im Auslande vertreten hat, kann man nicht
zumuten, daß er die Handlungsweise der Engländer beschönigen oder verteidigen
solle; aber gegen den Verdacht absichtlicher Entstellung hat er sich durch die
wörtliche Mitteilung aller in Betracht kommenden Aktenstücke, auch der den
englischen Blaubüchern entnommnen, geschützt.
Enkel der Helden, die im funfzigjährigen Freiheitskämpfe das spanische
Joch abgeschüttelt und ihr winziges Vaterland zur damals ersten See- und
Kolonialmacht der Welt emporgehoben hatten, haben 1652 die Niederlassung
am Kap, zunächst als Proviantierungsstation der niederländisch-Ostindischen
Kompagnie, gegründet. Der unaufhörliche Kampf mit einer nicht sehr freund¬
lichen Natur, mit wilden Tieren und nicht weniger wilden Schwarzen stählte
das so schon stahlharte Geschlecht noch weiter, und wir finden es selbstver¬
ständlich, daß es weder die Einschränkung durch Maßregeln einer modernen
Regierung ertrug, noch gesonnen we.>, sich in einem Würfelspiel der Diplo¬
maten an eine fremde Macht verschenken oder verschachern zu lassen und
aus freien Männern Untertanen zu werden. Der erste Angriff der nach dieser
bequem liegenden Station lüsternen Engländer wurde 1781 von einer franzö¬
sischen Flotte abgewehrt. Beim zweiten, 1795, spielten die Beamten der
Kompagnie den Engländern alle Verteidigungsmittel verräterisch in die Hände.
Die Kompagnie war bankrott und hatte schon, um Geld auszubringen, die
Ansiedler mit einer Monopolwirtschaft bedrückt. Diese ergaben sich darum, und
weil England versicherte, es nehme die Kolonie nur in Verwahrung (der
Prinz von Oranien war beim Einmarsch der Franzosen nach England geflohen),
vorläufig in ihr Schicksal. Als aber die Engländer die Maske abwarfen, sich
als Besitzer einrichteten und die Ansiedler noch ärger bedrückten, als es die
Kompagnie getan hatte, als der zweite Statthalter, Lord Macartney, nach
kurzer Amtsführung mit 2000 Pfund Ruhegehalt aus den Einkünften der
Kapkolonie belohnt wurde, da kam es zu Aufständen, die mit falschen Vor¬
spiegelungen beschwichtigt und dann grausam bestraft wurden. Auf die korrupte
englische Herrschaft folgte 1803 (nach dem Frieden von Amiens) die drei¬
jährige Herrschaft der Batavischen Republik, die die Kapkolonisten sowohl
materiell, durch gute Verwaltung, als ideell befriedigte, indem die republikanisch
gesinnten Buren auf feiten der franzosenfreundlichen Demokraten Hollands
standen und Gegner des Prinzen von Oranien waren. Aber schon 1806
wurde die Kolonie aufs neue von einer englischen Übermacht besetzt, und ihre
Hoffnung auf die Neuordnung der Dinge im Jahre 1814 erfüllte sich so
wenig, daß sie auch noch das bittre Bewußtsein, vom eignen Vaterlande „ver¬
kauft" worden zu sein, hinabwürgen mußten. Dieses Bewußtsein freilich ent¬
stand nach Leyds aus einer diplomatischen Täuschung, die auch in die historischen
Werke übergegangen ist. Die Bestätigung der englischen Besitznahme war nicht
das Ergebnis von Verhandlungen, sondern die Wirkung einer diktatorischen
Erklärung des Lord Castlereagh: „Diesen Teil der holländischen Kolonie be¬
halte ich, jenen gebe ich zurück", und das ohnmächtige Holland hatte sich ein¬
fach zu fügen. Gezählt hat allerdings England sechs Millionen Pfund, aber
nur zum Schein an Holland, in Wirklichkeit an Rußland, das für die eng¬
lische Politik gewonnen werden sollte. Die Tatsachen wurden deswegen falsch
dargestellt, weil die Zahlung der bedeutenden Summe im Parlament begründet
werden mußte, der eigentliche Zweck aber, die Gewinnung Rußlands für ein
geheimes Abkommen, nicht veröffentlicht werden durfte.
Als Hauptursache des großen Trecks von 1834 wird gewöhnlich die Auf¬
hebung der Sklaverei angegeben, die den Buren die Grundlage ihrer Wirtschaft
entzogen habe. Es handelte sich aber keineswegs bloß um die „Sklaverei",
sondern um fortwährende büreaukratische und gewalttätige Eingriffe in die
Wirtschaftsangelegenheiten des freiheitgewohnten Völkchens und um eine Ein-
gebornenpolitik, die ihm geradezu die Daseinsbedingungen raubte. Englische
Philanthropen und begeisterte Missionare malten die Schwarzen als halbe
Heilige und die niederländischen Farmer als grausame Ausbeuter, Menschen¬
schinder und Mörder, und nicht allein die farbigen Knechte, die bis dahin
willige und brauchbare Arbeiter gewesen waren, wurden gegen die Buren aus¬
gesetzt, sondern auch die unter ihnen und in ihrer Nachbarschaft wohnenden
freien Stämme. Es kam zu Gerichtsverhandlungen. Hundert Mordtaten sollten
einige Farmer begangen haben; nicht eine einzige wurde ihnen nachgewiesen.
Als dann die natürlich frech gewordnen Kaffern auf einem Raubzug eine
Anzahl Farmer umgebracht und viel Eigentum zerstört hatten, und der Gou¬
verneur Sir Benjamin d'Urban den Buren geholfen hatte, die Unholde zu
vertreiben, da wurde er vom Staatssekretär — getadelt; dieser verfügte die
Abtretung eines Grenzgebiets an die Kaffern, wodurch die Grenzfarmer den
Eingebornen förmlich ausgeliefert wurden. Was die „Sklaverei" betrifft, so
sind nach Leyds Nachweisungen die Buren niemals grundsätzliche Anhänger
dieser Institution gewesen, sondern haben sich nur eben die Arbeiter, die sie
brauchten, aus die in ihrem Lande allein mögliche Weise verschafft. Es wird
ihnen bezeugt, daß sie ihre farbigen Knechte besser behandelt haben als die
Engländer, daß sie deren Kinder taufen ließen, wodurch diese von selbst frei
wurden, wie sie denn überhaupt das Wirken verstündiger Missionare unter¬
stützten, und daß ihr farbiges Gesinde nicht sehr zahlreich war. Im Jahre 1848
schrieb der Gouverneur Sir Harry Smith an Sir George Napier: „Ich freue
mich, sagen zu können, daß ich auf meiner Reise ^nach Natal^ bei den Aus¬
gewanderten weder Sklaven noch Sklavenhandel gesehen habe, deren Vor¬
handensein irrtümlich behauptet worden ist. Im Gegenteil, es gibt nur wenig
Bedienstete auf den Farmer, und sie wechseln bestündig, während die Söhne
alle Gesindedienste leisten." Der englische Geschichtschreiber Südafrikas,
Theal, meint, die Berichte der Gouverneure über die Angelegenheit könnten
in dem Satze zusammengefaßt werden, den Lord Somerset in einer Depesche
an den Earl Bathurst ausgesprochen habe: „Kein Teil des Gemeinwesens ist
besser daran, vielleicht glücklicher, als der Haussklave in Südafrika." Immerhin
blieb die plötzliche Abschaffung dieser Hörigkeit — für die Kolonien wurde
der 1. Dezember 1834 als Termin angesetzt — ein empfindlicher Eingriff und
ein Verlust für viele Farmer. Die Regierung bewilligte zwanzig Millionen Pfund
Entschädigung für sämtliche Kolonien, wovon die Kapbauern 1247401 Pfund be¬
kommen sollten, aber niemals bekommen haben.
Die nächste Mailpost bestätigte die Kunde, daß die englische Regierung nicht
beabsichtigte, die Entschädigungsgelder nach Südafrika zu senden, sondern daß jeder
einzelne Anspruch vor Kommissären in London bewiesen und der daraufhin zuer¬
kannte Entschädigungsbetrag in dreieinhalbprozentigen Schuldscheinen ausbezahlt
werden sollte. Was dies für die Betroffnen bedeutete, kann man sich heute schwer
vorstellen. Damals war Kapland ein kleines, armes Gemeinwesen, und die plötzliche
Konfiskation von zwei Millionen Pfund Eigentum erzeugte unsägliches Elend. Ein
großer Teil der Sklaven war verpfändet, und die Höhe der auf diesen Pfändern
stehenden Summen überstieg bei weitem deu Wert des sonstigen Besitzes. Um die
Gläubiger bezahlen zu können, mußte man die gesamte Habe mit ungeheuerm
Verlust verkaufen. Infolgedessen kamen viele Familien, Witwen und Waisen, Alte
und Schwache, deren einziger Besitz Sklaven gewesen waren, an den Bettelstab.
Das zweite Unglück bestand darin, daß die Negierung, von den Missionaren falsch
berichtet, ihre Zustimmung zu einem Gesetze gegen Landstreicherei verweigerte.
Infolgedessen wurde die Kolonie von ehemaligen Sklaven überschwemmt, die überall
die Farmer plünderten.
Die Einführung des Englischen als amtlicher und Gerichtssprache, die
schon einige Jahre vorher erfolgt war, machte das Maß voll, und so ent¬
schlossen sich denn viele tausend Burghers schweren Herzens, über die Draken-
berge zu ziehen — die unsäglichen Leiden der Wanderung, die ihnen bevor¬
standen, kannten sie — und sich in Natal eine neue Heimat zu gründen.
Von nun an beginnt die raffinierte Politik, die sich die englischen Staats¬
männer nach dem Vorbilde der von den Römern Karthago gegenüber ange¬
wandten ausgeklügelt zu haben scheinen. Zunächst wird behauptet, daß die
Ausgewanderten auch auf nicht englischem Gebiet Untertanen Englands blieben,
dann, daß Natal englisches Gebiet sei. Kurz vor der Einwanderung der
Buren, 1834, hatten die englischen Behörden die Bitte kapländischer Kaufleute
um die Besitznahme von Port Natal der Kosten wegen abgelehnt, und als
dann doch aus einem besondern Anlaß der Hafen von Durham eine Besatzung
bekommen hatte, wurde ausdrücklich versichert, das geschehe nicht in der Absicht,
das angrenzende Gebiet zu besetzen. Die Regierung hatte „die feste Überzeugung
gewonnen, daß die Erwerbung neuer Gebiete in Südafrika keinen Nutzen
bringen würde". Aber so oft die Buren die Gefahren, Arbeiten und Leiden
einer Neubesiedlung auf sich genommen hatten, erschien ein solches Gebiet
jedesmal für die Okkupation geeignet, und diese wurde damit eingeleitet, daß
man den Ansiedlern Negerstümme auf den Hals hetzte, ihnen die Wasfenzufuhr,
ja die Lebensmittelzufuhr abschnitt, sie zu Feindseligkeiten gegen England zwang
und dann als Rebellen behandelte und des Vertragsbruchs anklagte. Diese
vielfach wiederholten Manöver werden in dem Buche ausführlich erzählt. Als
die Engländer ihre Herrschaftsansprüche auf Natal geltend machten, erschien
vor dem britischen Kommissar eine Abordnung von Frauen, die erklärten, sie
seien entschlossen, sich niemals der britischen Autorität zu fügen; sie seien sich
der Nutzlosigkeit jedes Widerstandes vollkommen bewußt und wollten nur be¬
kannt geben, daß sie lieber barfuß über die Drakenberge zurückwandern als
sich den Engländern unterwerfen würden, daß sie den Tod in Freiheit dem
Verlust der Freiheit vorzögen. Auf die Lage, die durch die englische Politik
herbeigeführt wurde, nachdem sich die Buren zu beiden Seiten des Vaalflusses
eingerichtet hatten, wirft der Leitartikel der Times vom 20. Dezember 1851
ein grelles Licht. Es heißt darin:
Wir können uns keine Ereignisse vorstellen, die geeigneter wären, unsern
Nationalstolz zu demütigen, den Ruf unsrer Waffenehre zu beflecken und unsrer
Politik und Glaubwürdigkeit ein unauslöschliches Brandmal aufzudrücken, als die
Vorkommnisse, deren Schauplatz gegenwartig das Kap der Guten Hoffnung ist.
Wir sind in einen Doppelkampf der List und Waffen gegen unsre eignen Unter¬
tanen sowohl wie gegen einen barbarischen Feind verstrickt, und es ist schwer zu
unterscheiden, ob wir auf dem Felde unsrer bürgerlichen oder unsrer militärischen
Tätigkeit eine schimpflichere Figur machen. Was neuerdings geschehen ist, hat uns
überzeugend bewiesen, welcher Verachtung sich der britische Name dank der Ver¬
waltung des Lord Grey und der Tätigkeit von Sir Harry Smith zu erfreuen hat.
Der Gouverneur ist nicht imstande, mit zehntausend unsrer besten Truppen die
marodierenden Kaffernbanden aus dem Innern der Kolonie zu vertreiben. Jenseits
der Grenze befindet sich eine Niederlassung von 12000 holländischen Farmern, die
als erklärte Rebellen dorthin in die trostlose Wildnis getrieben worden sind. Die
britische Regierung hat auf den Kopf ihres Führers, Pretorius, einen Preis von
1000 Pfund gesetzt ^nachdem die Buren im Gebiet des später gegründeten Oranje-
freistaats am 28. August 1848 bei Boomplaats geschlagen worden waren). Trotz
alledem sind diese Leute imstande, sich in trotziger Unabhängigkeit inmitten wilder
Völkerschaften zu behaupten, und eine Drohung ihres Führers, des geächteten Re¬
bellen, genügte, sie von einem Einfall in unser Gebiet abzuhalten, was der Furcht
vor den britischen Waffen nicht gelungen war.
Pretorius, der sich in Transvaal aufhielt, war sowohl von den Schwarzen
wie von den Weißen gebeten worden, in der durch die englische Mißwirtschaft
heillos zerrütteten „Souveränität", wie damals der Oranjestaat hieß, Ordnung
zu schaffen, und war dieserhalb mit den englischen Behörden in Unterhandlung
getreten. Diesen blieb nichts übrig, als am 17. Januar 1852 im Zandrivier-
vertrag die volle Souveränität des Transvaalstaats und zwei Jahre darauf
in der Konvention von Bloemfontein die des Oranjestaats anzuerkennen.
Die Entdeckung von Gold und Diamanten erregte aufs neue die englischen
Annexionsgelüste. Das Gebiet, das später Distrikt Kimberley genannt wurde,
hatten einige der ersten Burencmswcmdrcr von dem Korainahüuptling Dantzer
käuflich erworben. „Später — von 1848 bis 1834 — bildete er einen Teil
der für die Europäer bestimmten Sektion der Oranjefluß-Souveränität und
wurde im Jahre 1854 mit dem übrigen Gebiet der Souveränität durch Sir
George Clerk im Namen der britischen Regierung auf den neugegründeten
Oranjefreistaat übertragen." Daß der Distrikt diesem Staate gehörte, war gar
nicht zu bezweifeln. In einem Protest des Volksrats des Freistaats wird
u. ni. angeführt: „Über dieses Gebiet hat der Oranjestaat seit einer Reihe von
Jahren Jurisdiktion ausgeübt: seine Gerichtshöfe haben Streitigkeiten zwischen
den Bewohnern dieses Gebiets geschlichtet; es sind Steuern erhoben, alle mit
der Souveränität verbundnen Rechte und Verpflichtungen ausgeübt und erfüllt
worden." Sobald jedoch die ersten Diamanten gefunden worden waren, be¬
gann die Komödie, deren Genuß man sich mit ungemischter Heiterkeit hingeben
kann, weil sie nicht, gleich den meisten übrigen auf jenem Schauplatz aufge¬
führten englischen Komödien, tragisch verlief; außer dem schwärzlichen Pseudo¬
Helden ist dabei niemand ernstlich zu Schaden gekommen. Dieser war der
Griquahäuptling Waterboer, der mit seinen fünfhundert Seelen — die Weiber
und Kinder mitgezählt — außerhalb des Kimberleydistrikts ein sechstausend
englische Quadratmeilen großes Gebiet inne hatte. Im Kimberleydistrikt hatte
seit Menschengedenken niemals ein Griqua gewohnt. Allerdings hatte Waterboer
einmal Ansprüche darauf erhoben, aber kein Mensch hatte das beachtet. Nach
den ersten Diamantenfunden jedoch schickte die englische Regierung Beamte in
den Distrikt, die Waterboers Rechte wahrnehmen sollten; diese richteten in der
bis dahin wohlgeordneten Verwaltung die ärgste Konfusion an. Im Verlauf
der Verhandlungen schrieb der britische Kommissar einmal an den Staats¬
sekretär für die Kolonien: „Es scheint mir ganz unmöglich, die Fiktion, als
ob wir im Namen Waterboers gehandelt hätten, noch länger aufrecht zu er¬
halten." Waterboer trat seine „Rechte" an die Engländer ab für einen Jahres¬
gehalt von 1500 Pfund, von dem er jedoch nie einen Pfennig bekommen hat.
Vielmehr hat man ihm 3000 Pfund Gerichtskosten aufgeladen und ihn wegen
einer unbedeutenden Ursache eingesperrt. Einem Blaubuch ist ein Brief des
stellvertretenden Hohen Kommissars Hay einverleibt worden, in dem es heißt,
eine große Anzahl von britischen Untertanen habe in dem Distrikt mit Ein¬
willigung der Eingebornen ihren Wohnsitz aufgeschlagen. Kapitän Lindley
bemerkt dazu in seiner Geschichte der Diamantenfelder: „Wie diese farbigen
Eingebornen, die seit fünfzig Jahren ausgerottet waren, ihre Einwilligung
hätten geben können, hat General Hay zu erklären unterlassen. Ich selbst
habe mit Hunderten von Diamantsuchern in diesem Gebiete gewohnt. Ich sah
nie einen einzigen Eingebornen, wohl aber sah ich die alten Wohnstätten der
Freistaatburen und genoß den Schutz der Beamten des Freistaats, mit deren
Bewilligung wir uns dort aufhielten." Die englische Regierung annektierte
also einfach das Gebiet, und man muß es ihr hoch anrechnen, daß sie dem
Freistaat 90000 Pfund Entschädigung zahlte; sie Hütte ja das Land ganz
umsonst haben können, da die Buren zwar für ihre Freiheit, aber nicht für
Diamanten mit der Übermacht Krieg zu führen bereit waren. Die Diamant¬
sucher, die englischen nicht ausgenommen, haben schlecht abgeschnitten bei dem
Tausch, denn einer jener modernen Haie, die man Trusts nennt, frißt die
Niesengewinne der Ausbeutung allein. Kimberley bleibt nicht nur den unab¬
hängigen Diamantsuchern, sondern auch den unabhängigen Groß- und Klein¬
händlern verschlossen. Der beraubte Oranjestaat aber hat nach Leyds Ansicht
mehr gewonnen als der Räuber, nämlich einige Jahre ungestörten Daseins,
da die „anständige Armut", in die er zurückgeworfen worden war, die eng¬
lische Habgier nicht reizte.
Transvaal wurde seiner Goldfelder wegen 1877 ganz annektiert, und bei
dieser Gelegenheit wurde auch die Verleumdung wieder aufgewärmt, daß die
Buren die Eingebornen grausam behandelten; ja man behauptete, sie hätten
die gesetzlich abgeschaffte Sklaverei immer noch beibehalten. Der Geschicht¬
schreiber Südafrikas, Theal, konstatiert, daß bei der Annexion 1877 kein Sklave
freigelassen werden konnte, weil keiner gefunden wurde, und Bischof Colenso,
ein warmer Verfechter der Rechte der Eingebornen, hat beteuert, er habe sich
bemüht, diese ungerechten Anklagen gegen die Buren aus der Welt zu schaffen.
„Ich habe, schreibt er, auf die Tatsache hingewiesen, daß in Transvaal
800000 Farbige wohnten, ohne zu entfliehen und in Natal Schutz zu suchen,
daß sie also allem Anschein nach die Burenherrschaft der unsern vorziehen."
Die Verleumdung knüpfte an das von dem englischen verschiedne System an,
nach dem die Farbigen zur Arbeit angehalten wurden. Die Engländer trieben,
um die Kaffern zur Arbeit zu nötigen, eine Hüttensteuer von einem Pfund
für jeden erwachsnen männlichen Bewohner der Hütte ein. Die Kaffern aber,
die ihre Weiber als Arbeitstiere behandelten, bürdeten auch noch die hierdurch
notwendig gewordne Mehrarbeit den Weibern auf und blieben so faul wie
vorher. Die Buren dagegen zogen die Farbigen auf dreierlei Weise zur
Arbeit heran. Die Häuptlinge mußten für das ihren Stämmen überlassene
Land jährlich eine bestimmte Anzahl männliche Arbeiter stellen. Ferner ver¬
pachteten einzelne Buren an Farbige Land und ließen sich durch Hilfe bei der
Arbeit zur Erntezeit, oder wo es sonst nötig war, bezahlen. Drittens wurden
mittellose Kaffern, Waisen und verlassene Kinder auf eine Reihe von Jahren,
unter Aufsicht der Lokalbehörden, bei Buren untergebracht. Diese „Einge¬
schriebnen" (Jngebookten) wurden nach Theal beinahe ausnahmslos gut be¬
handelt. Sie bekamen Kleidung, Kost und Wohnung und gelegentliche Ge¬
schenke in Geld oder Vieh. Wenn man das, schreibt Leyds, Zwangsarbeit
nennen will, so ist es doch keine andre als die den Insassen der englischen
Arbeitshäuser auferlegte, die über die Lebensnotdurst hinaus weder Geschenke
noch Lohn erhalten.
Die Buren ließen sich die Annexion vorläufig gefallen, weil sie ihre
Freiheit auf dem Wege der Verhandlungen mit der britischen Regierung wieder
zu gewinnen hofften. Diese Hoffnung schlug fehl; sie griffen 1880 zu den
Waffen, und da das Kapland von den Zulu bedrängt wurde, so gab ihnen
die englische Regierung in dem Vertrage vom 27. Februar 1884 ihre Unab¬
hängigkeit zurück mit der geringen Einschränkung, daß England ein Einspruchs¬
recht gegen Vertrüge Transvaals mit auswärtigen Mächten zustehen solle.
Vor der Erhebung hatten sie dem Hohen Kommissar (Sir Henry Bartle Frere)
folgenden Beschluß übersandt:
In Gegenwart des Allmächtigen, des Kenners aller Herzen, dessen gnädige
Hilfe wir erflehen, haben wir Bürger der südafrikanischen Republik feierlichst be¬
schlossen, wie wir jetzt von neuem beschließen, für uns selbst und unsre Kinder
einen geheiligten Bund zu errichten, den wir mit feierlichem Eide bekräftigen. Vor
vierzig Jahren flohen unsre Väter aus der Kapkolonie, um ein freies und unab¬
hängiges Volk zu werden. Diese vierzig Jahre waren vierzig Leidens- und
Schmerzensjahre. Wir gründeten Natal, den Orcmjefreistciat und die Südafrikanische
Republik. Dreimal hat die englische Regierung unsre Freiheit mit Füßen getreten
und die Flagge am Boden geschleift, die unsre Väter mit ihrem Blut und ihren
Tränen getauft haben. Unsre freie Republik wurde uns von einem Diebe in der
Nacht gestohlen. Das können und wollen wir nicht ertragen. Es ist Gottes Wille,
und es ist uns durch die Ehrfurcht vor unsern Vätern und die Liebe zu unsern
Kindern geboten, daß wir den Kindern das Erbe der Väter unverkürzt übergeben.
Zu diesem Zweck kommen wir hier zusammen und reichen einander die Rechte als
Männer und Brüder, mit dem feierlichen Versprechen, unserm Land und unserm
Volke treu zu bleiben und mit zu Gott gerichtetem Blicke nach Wiedererlangung
der Freiheit unsrer Republik bis zum Tode zu streben.
Pretorius äußerte u. a. in einer Unterredung mit dem Hohen Kommissar:
„Wir haben Armut und Entbehrung erduldet, um ein freies Volk zu werden;
darum ist es uns unerträglich, zu britischen Untertanen gemacht und ange¬
schwärzt zu werden von denen, die in unser Land kamen, ihr Glück zu machen."
Und in einer der Königin überreichten Denkschrift sagen die Buren: „Muß es
zum Kriege kommen? Das kann Euer Majestät Wille nicht sein, so wenig
wie es unser Wunsch ist. Euer Majestät kann nicht das Verlangen haben,
über unwillige Untertanen zu herrschen. Denn wir werden zwar treue Nach¬
barn, aber unwillige Untertanen sein." Der Versuchung, der Einladung
Ketschewaios zu folgen und mit ihm verbündet über die durch die Niederlage
bei Jsandhlwana geschwächten Engländer herzufallen, widerstanden sie. Sie
haben sich niemals der Eingebornen gegen Weiße bedient, obwohl die Eng¬
länder niemals Anstand nahmen, Schwarze gegen die Buren zu bewaffnen.
„Die Bewaffnung Farbiger mag dem nicht so schlimm vorkommen, der nicht
weiß, was Kriegführen von südafrikanischen Eingebornen bedeutet, aber der
Bur, der es nur zu wohl weiß, verabscheut es als ein Verbrechen, für das
er keine Worte hat. Und wären die Engländer auch nur einmal in der Lage
gewesen, Landsleute zu sehen, die der von den Buren angestiftete Kaffer grau¬
sam verstümmelt hätte — nicht ein Fall ist vorgekommen —, dann könnten
sie vielleicht nachempfinden, was die Buren fühlen, die in mehr als einem
Kriege Brüder und Freunde in dieser Weise durch Eingeborne hingemordet
sahen, die von den Engländern angestellt und bewaffnet worden waren."
Interessant ist es zu sehen, wie englische Staatsmänner, namentlich Gladstone
und Chamberlain, wenn sie zufällig gerade der Opposition angehörten, die
Gerechtigkeit der Burensache erkannten und verfochten, aber, zur Regierung
gelangt, sofort vollständig alles vergaßen, was sie ein paar Wochen vorher
ganz genau gewußt hatten. Besonders die Bruchstücke aus Reden Chamberlains,
die Seite 330 bis 334 mitgeteilt werden, mögen der Beachtung empfohlen
werden.
Goethes bekannte Behauptung, daß der Mensch beim Handeln immer ge¬
wissenlos sei, und daß sich das Gewissen erst nachträglich, bei der Reflexion über
das Vollbrachte, zu melden pflege, ist, allgemein genommen, arge Übertreibung;
aber für die Politiker scheint es ausnahmslos zu gelten. Im Augenblick des
politischen Handelns hält der als Privatmann streng rechtschaffne Politiker
die ärgste Schufterei, wenn sie seiner Partei oder seinem Staate nutzt, für voll¬
kommen gerecht; hält sie aufrichtig dafür. Darum dürfen wir mit den Eng¬
ländern nicht ins Gericht gehn. Die auch in der Politik gewissenhaften Buren
sind eben nicht zu den Politikern zu rechnen. Sie waren in dem Grade Privat¬
menschen im altgermanischen Stil, daß ihr loser Verband nur ein Ansatz zu
einem Staate, aber nicht eigentlich ein Staat genannt werden konnte. Darin
eben bestand ihre Freiheit, die sie glühend liebten, und das eben war ihr
Verhängnis, denn diese Art Freiheit ist heute nirgends mehr möglich; sollte
sie sich in einem unzugänglichen Tale des Himalaja noch erhalten haben, so
wird die verbesserte Luftschiffahrt sie vollends ausrotten. Mancher Leser des
vorliegenden Buches wird über die bäuerliche Hartnäckigkeit und Verbissenheit,
mit der sich die Buren schon gegen das bloße Wort Suzeränitüt gewehrt
haben, spotten oder unwillig sein; besonders da seit der Mitte des vorigen
Jahrhunderts England allen seinen Ansiedlerkolonien einen Grad von Selbst¬
regierung bewilligt hat, der die Zugehörigkeit der Kolonisten zu seinem Welt¬
reich als eine Ehre und einen Vorteil erscheinen läßt, und der durch keine
Lasten und Leistungen erkauft zu werden braucht. Die Verhältnisse sind jetzt
ganz verschieden von denen im Anfange des neunzehnten Jahrhunderts. Die
Buren Hütten nach 1870 keinerlei tyrannische oder büreaukratische Eingriffe zu
fürchten gehabt und als Angehörige der Kolonie so frei gelebt wie in ihren
eignen Staaten. Aber eine Entschuldigung haben sie. Nicht zwar die eng¬
lische oder die Kapregierung, aber das Treiben der Uitlanders, der englischen
Minenbesitzer, Spekulanten und ihres Anhangs, der Krämer, Kneipwirte und
Tingeltangelunternehmer, bedrohte den ganzen moralischen Zustand und den
Wirtschaftsorganismus des Volkes mit Auflösung und Umsturz. Fortschritts¬
freunde sehen auch darin kein Unglück. Im Gegenteil meinen sie, es gereiche
der Welt und den Betroffnen zum Heil, wenn diese ihrer Rückständigkeit ent¬
rissen und in das Getriebe des modernen „Kulturlebens" hineingezogen werden.
Wir haben neulich (im 6. Heft S. 303 bis 304) vernommen, daß Dove die
Goldfelder dennoch für ein Unglück hält, weil sie eine vernünftige Besiedlung
des Landes verhindern, und wir haben dem Zweifel Ausdruck gegeben, ob bei
der Art Menschenmaterial, das dem heutigen England zur Verfügung steht,
landwirtschaftliche Kolonisation der südafrikanischen Ödländereien überhaupt
noch möglich sei. Wird mau nicht vielleicht, wenn auch das ganze Südafrika
industrialisiert und modernisiert sein wird, die Buren noch einmal anders be¬
urteilen? Man wird vielleicht finden, daß Männer und Frauen, die um der
Freiheit willen hungern und dürsten, sich in Einöden abrackern, von Löwen
fressen oder in Freiheitskämpfen totschießen lassen, auch etwas wert sind, und
daß ein musterhaftes Familienleben, willige Übernahme schwerer Arbeit, grund¬
sätzliche Menschlichkeit auch gegen Feinde und Kriegsgefangne, einfältiger
Christenglaube und durch kein Unglück zu erschütterndes Gottvertrauen immerhin
den Namen Kultur verdienen, wenn sie auch eine etwas andre Kultur als die
der Goldspekulanten darstellen. Vorläufig ist übrigens trotz der letzten Annexion
die alte Kultur der neuen noch keineswegs vollständig unterlegen. Mitte
Februar wurde gemeldet, daß bei den Wahlen für die Volksvertretung in Trans¬
vaal die Partei „Het Volk" die Mehrheit errungen habe, und daß die
„Progressiven", die Vertreter der Minenbesitzer, unterlegen seien. Die Frank¬
furter Zeitung bemerkte dazu: „Das Vurenelement kommt damit zu seinem
Recht, die Herrschaft der landfremden Spekulanten nimmt ein Ende. Die
legitimen Interessen des in den Minen von Transvaal investierten Kapitals
aber dürften bei diesem Wechsel durchaus nicht leiden." Und einen Haupt¬
rebellen läßt die englische Regierung, die sich darin wieder von ihrer besten
Seite zeigt, Premierminister werden. — Wir freuen uns auf den versprochnen
zweiten Band, der die Ereignisse nach 1894 erzählen soll. Werden wir doch
in ihm eine quellenmäßige Geschichte des letzten Burenkrieges erhalten.
riefe, sagt Ludmilla Ussing einmal, sind wie geöffnete Fenster,
durch die man in die Seele ihrer Verfasser blickt; und so ehrlich
sind Briefe ihrer Natur nach, daß, selbst wenn die Schreiber nicht
die ganze Wahrheit aussprechen, dem psychologischen Forscher sich
doch aus solchen Zeugnissen die volle Charakteristik siegreich ent¬
hüllt. In der Tat nehmen Briefe nach ihrem Zweck oder nach der Stellung
und Eigenart des Empfängers mitunter eine Art von Schutzfärbung an. Trotz¬
dem behalten sie, auch ohne bloß der Neugier zu dienen, oft Reiz und Wert,
besonders, wenn sie über die geistige Eigenart eines ganzen Kreises und seines
Mittelpunkts aufklären, und wenn dieser Kreis so einzig erscheint, daß man an
eine analoge Wiederholung nicht glaubt, wenn es auch sonst Analogien in der
Geschichte gibt.
Den Mittelpunkt eines solchen Künstlerkreises bildeten etwa seit der Mitte
des vorigen Jahrhunderts Liszt und Carolyne, die 1836, siebzehn Jahre alt,
nicht eigentlich mit vollen: Bewußtsein und ganzem Willen den Fürsten von
Sayn-Wittgenstein geheiratet und 1848 mit ihrer Tochter unter dem Vorwand
einer längern Badereise verlassen hatte. Sie folgte Liszt, den sie 1847 in einem
Konzert in Kiew kennen und lieben lernte. Obgleich sie sich 1876 in Rom eine
ihrer Güter beraubte Witwe nannte und als „Pfennig der Witwe" dreihundert
Gulden für zwei Denkmäler anwies, konnte sie doch beim Scheiden von der
teuern Heimat eine Million Rubel für ein verkauftes Gut mitnehmen. In
Weimar fand sie das Asyl des Exils. Sie bewohnte mit ihrer Tochter einen
Teil der „Altenburg", während Liszt in einem andern Flügel lebte. Das wäre
ja nun sehr schön gewesen, wenn nicht Carolyne mehr als ein Dutzend Jahre
die Scheidung von ihrem Manne vergeblich betrieben hätte. An klassischer Stätte
mochte sich Goethes Distichon aus den Vier Jahreszeiten, Sommer, 24, be¬
merklich machen: Sorge! sie steiget mit dir zu Roß, sie steiget zu Schiffe. ..
Auch Liszt erfuhr, daß es seine Tragik hat, die Frau eines andern zu lieben.
Immerhin war er auch diesmal, gerade wie früher bei der Gräfin d'Agonie,
ein ganz freier Freier gewesen und so im Vorteil gegen Wagner, der doch das
erstemal, als ihn die Neigung für Mathilde Wesendonk packte, seine Minna in
Zürich bei sich hatte. Ob diese Kollision mit dem zehnten Gebot zur Psycho¬
logischen Tragik der Künstler gehört, ließe sich nur durch eine schwierige Statistik
feststellen. Auch die heute so inbrünstig betriebne experimentelle Psychologie könnte
die Sache nicht entscheiden.
In ihrer Heimat und Jugend war Carolyne etwas exzentrisch gewesen.
In Weimar wich sie höchstens dadurch von der wohltemperierten Gewohnheit
ab, daß sie in ihrem Salon eine Zigarre rauchte, darin George Sand gleich,
die sich nicht ohne Grund ein Ztrs as gentiiusut nannte und sich mitunter in
ihrem Landhaus für ihre Trabukos von Chopin einen künstlerisch geweihten
Fidibus bringen ließ. Carolyne war eine kluge, feingebildete Frau. In den
Briefen*), die sie als vornehme Dame und Liszts Freundin von vielen hervor¬
ragenden Künstlern und Gelehrten erhielt, mag man mitunter etwas von dem
spüren, was sogar der weltfremde Beethoven wußte: „Die Welt ist ein König,
und sie will geschmeichelt sein." Aber offenbar erfuhr die Fürstin viel mehr
wahr empfundne Huldigung wegen ihres Geistes, ihrer Liebenswürdigkeit, Hilfs¬
bereitschaft und Freigebigkeit, Eigenschaften, die sie mit Liszt gemeinsam hatte.
Unter den Briefschreibcrn und Besuchern der Altenburg erscheinen z. B. Klara
Schumann, Schmorr von Carolsfeld, A. von Humboldt (dessen kleine französische
Briefe immer besonders fein und höflich sind), Schwind, der wahrheitsliebende
Friedrich Preller, Rietschel, Gutzkow, Genelli, Hoffmann von Fallersleben, das
Ehepaar Kaulbach, G. Freytag, A. Rubinstein, Rauch. Alfred Meißner, Berlioz,
G. Semper, Fr. Bischer, Hebbel, Wagner, Varnhagen. Welch reicher Himmel,
Stern bei Stern!
Die Fürstin betrachtete es offenbar als ihre Aufgabe, Liszt das Leben so
angenehm wie möglich zu machen. Seine Freunde und Verehrer waren nicht
nur die ihrigen, sondern sie zog noch ihrerseits eine Menge Leute in die von
geistigen, besonders künstlerischen Genüssen wundervoll gesättigte Atmosphäre
des Hauses. Sie und Liszt waren nicht Deutsche; gerade darum beweisen sie,
daß Wissenschaft und Kunst Gebiete sind, auf denen sich die feinen, gleichge¬
stimmten Persönlichkeiten zu einer andern Einheit als der der Staatsangehörigkeit
und Nationalität zusammenfinden. Von Politik hören wir fast gar nichts.
Nur Alfred Meißner läßt einige Stoßseufzer hören. Jene Zeit war für den
schönen, feinen Lebensgenuß geeignet, wie wohl nie wieder. Man zog sich von
der Politik zurück, wie Goethe in den Zeiten des Divans. Man stierte nicht
wie heute auf das Idol der Nationalität. Die Aristokratie des Geistes fand
sich zusammen, als man noch nicht für demokratische Gleichmacherei schwärmte.
Güte und Großmut (die Wagner wiederholt an der Fürstin rühmt) betätigten
sich, obgleich man noch nicht zur Kleinkinderei unsers Jahrhunderts gekommen
war. Menschen von Rang und Vermögen, aber zugleich fein gebildet, traten
zu kunstverklärten Kreisen zusammen mit einer Nuance jenes Bewußtseins, daß
der Sänger mit dem König auf die Höhen der Menschheit gehört. Die Gräfin
Kalergis erstattete z. B. Wagner aus eignen Mitteln die bei den Pariser
Konzerten eingebüßte große Summe. Der todkranke Chopin erhielt Tausende
von einer englischen Verehrerin. Zu demselben sagte, bezeichnend für die Formen
des Verkehrs, einmal die alte, gutherzige Gräfin Plater scherzend: Mein kleiner
Chopin, wenn ich jung und hübsch wäre, würde ich dich zum Manne nehmen,
Hiller zum Freund und Liszt zum Liebhaber.
Fast alle Briefschreiber reden die Fürstin als solche an; nur Wagner
nennt sie zum Beispiel liebe Kapellmeisterin. Als solche scheint sie in taktvoller
Weise Liszts musikalische Bestrebungen unterstützt zu haben. Seine Musik war
damals noch bestrittner als heute. Am 14. Januar 1859 waren in Berlin
unter Bülows Leitung die „Ideale" ausgezischt worden; am 27. Februar dirigierte
sie dagegen der Komponist selbst mit glänzendem Erfolg. Dennoch sind Alfred
Meißners exaltierte Vorhersagungen über Liszts Musik bis jetzt unerfüllt ge¬
blieben.
Da Carolyne mit so vielen Menschen in dauernde Verbindung trat, kann
sie sich nicht zu der einen Behauptung Wagners (November 1854) bekannt haben,
daß die Welt den Hellsehenden nur anWeinen kann. Wohl aber zu der andern,
daß es nur ein Glück gibt — Gemeinsamkeit mit gleichgesinnten Menschen.
Bogumil Dawison bezeugt ihr (November 1857): Niemand versteht, wie Sie,
einem etwas Anerkennendes zu sagen; denn bekanntlich gibt es nichts Schwierigeres
als Loben. Ähnlich äußert sich einmal Schmorr (Oktober 1854). Aber sie
interessierte sich nicht bloß für die Bücher dieses Kreises, machte den Leuten
nicht bloß Komplimente und schöne Redensarten in idealen Freundschaftsbriefen,
sondern sie nahm Anteil an persönlichen Angelegenheiten, kaufte und bestellte
Kunstwerke, zu denen sie mitunter die Ideen angab. Für Arbeiten Gcnellis,
der auch eine kleine Reise nicht unternehmen mochte, wenn er dazu nicht reichlich
mit Geld versehen war, suchte sie Käufer. Differenzen zwischen Kaulbach und
Cornelius suchte sie auszugleichen. Auf der Altenburg genoß man die wunder¬
vollste Musik, da Liszt, Rubinstein und Tausig (Hidalgo genannt) dort spielten.
Die Fürstin sammelte allerlei malerische Kunstwerke, erhielt solche zur Ansicht,
verhandelte mit den Künstlern über ihre Entwürfe, lauschte geduldig auf ge¬
legentliche Klagen, die aber nur zum geringsten Teil Geldfragen betrafen. Fest¬
liche Tage wurden erheitert durch eine zuweilen mit Bildern unterstützte, poe¬
tische Schilderung der zu diesem Kreise gerechneten Menschen, verschönert durch
poetische Zuschriften, die vorwiegend der Fürstin huldigten. Ihrer Tochter, der
Prinzessin Marie, schickte Hebbel zum 2. Juni 1859 ein Gedicht „Das Geheimnis
der Schönheit". In einer Anmerkung wird uns gesagt, Hebbel habe seinem
Biographen anvertraut, die Verse gälten eigentlich seinem Eichkätzchen. Wir
wollen dies lieber als Scherz Hebbels betrachten. Er liebte ja dieses Tier sehr;
er läßt Kriemhild (Kriemhilds Rache I, 3) sich eins halten und es rühmen als
Sonntagsstück des arbeitsmüden Schöpfers, das er lieblich, wie nichts, gebildet
hat, weil ihm der schönste Gedanke erst nach Feierabend gekommen sei. Aber
wenn wir schon Hebbel eine unartige Unterschiebung nicht zumuten mögen, so
sprechen auch manche Wendungen des Gedichts gegen das Eichkätzchen. So
heißt es zum Beispiel, daß der Duft in ihm verleiblicht wäre, den still der
Lotos in die Lüfte haucht.
Liszt selbst wird am meisten von Wagner gepriesen. Er schrieb freilich
(Wesendonk, Oktober 1858), er werde immer mehr inne, daß sich eigentlich doch
kein Mensch, namentlich kein Mann, so recht innig und ernst für ihn interessiere,
und glaubt die Unmöglichkeit zu erkennen, in der Freundschaft eines Mannes
das Ersehnte zu finden, die Sehnsucht, in einem Herzen, einer bestimmten
Individualität den bergenden, erlösenden Hafen zu finden. Dennoch erkannte
er wieder Liszts unerschütterliche Zärtlichkeit, sogar eine „zarte Frömmigkeit"
an, die nur Liszt habe. „Ich verschmachte nach ihm und beklage mich darüber,
ihm nicht das sein zu können, was ich zu sein wünsche." Jener bergende Hafen
war damals für Liszt die Fürstin Carolyne. Vielleicht liegt es in der geistigen
Organisation der Künstler, wenn gerade sie dem beistimmen, was uns im preis¬
lichen Rheingold gesungen wird: in der Welten Ring nichts ist so reich, als
Ersatz zu unter dem Mann für Weibes Wonne und Wert... Denn erstens
sind die Leistungen der Kunst der Frau leichter zugänglich als oft die der
Wissenschaft. Auch in diesem Sinne ist ihr Naturell so nah mit Kunst ver¬
wandt. Sodann aber gehört es zu ihren schützbarsten Eigenschaften, den Ehr¬
geiz des Mannes ganz den ihrigen sein zu lassen. Nach solchem, womöglich
noch verschönernden, Echo des eignen Selbst sehnen sich die Künstler. Auch
gewinnen oder gewannen die Frauen dadurch, daß sie nicht Konkurrentinneu
sind, sondern teilnehmend genießen. Auch der angehende Bildhauer Lyngstrand
findet es (in der Frau vom Meere) köstlich, daß Fräulein Bolette zu Hause
an ihn denken wird, und läßt es sich hoch und heilig versprechen.
Liszt fand, was er suchte, an Carolyne. Dagegen hat sich wohl Minna
geirrt, als sie (Januar 1859) einen gewissen Stolz nicht unterdrücken konnte,
daß Wagners Opern bis zum Tannhäuser während ihrer frühern Verheiratung
geschrieben waren. „Bei Nibelungen und besonders bei Tristan und Isolde
war ich leider nicht so glücklich, ihn beeinflussen zu können oder zu dürfen."
Als Carolyne 1860 Weimar verließ, um sich nach scheinbarer Überwindung
aller Hindernisse (ihr Mann starb allerdings erst 1864) in Rom am 22. Ok¬
tober 1861 — Liszt wurde gerade fünfzig Jahre alt — trauen zu lassen, als
schon die Kirche geschmückt war. erfuhr zufällig der in Rom weilende junge
Sohn eines der Verbindung mit dem „Klavierspieler" abgeneigten polnischen
Vetters von der Sache. Die Trauung unterblieb und wurde nie wieder ver¬
sucht, da die Fürstin in diesem Vorfall einen deutlichen Wink des Himmels zu
sehen glaubte. In den siebenundzwanzig Jahren ihres römischen Aufenthalts
stellte sie gelehrte Forschungen an und hatte ununterbrochen eine Druckerei zur
Verfügung, die ihr Manuskript sofort druckte. Das vierundzwanzig (!) Bände
umfassende Hauptwerk sollte erst fünfundzwanzig Jahre nach ihrem Tode (1887)
ans Licht treten: Des CÄUsss intsrisurss <Zo 1a lÄiolösss extsrisurs as I'LAliss.
Wer weiß
MW! ibd es denn überhaupt einen Unterschied zwischen deutschem Norden
und Süden? Vom politischen Standpunkt aus ist die Frage
verpönt, und das ist gut und heilsam für uns alle. Politisch ist
uns der Wille zur Unterschiedslosigkeit Pflicht und Bedürfnis.
Aber Unterschiede andrer Art könnten doch vorliegen? Das land-
! lausige Urteil des Nordens neigt dazu, auch jeden sonstigen Unter¬
schied mit Energie zu verneinen. Der Süden aber ist jederzeit um so lebhafter
bereit, ihn zu bejahen. Schon in dieser Stellung zur Existenz des Problems
liegt ein beachtenswerter Fingerzeig für seinen Inhalt und seine Lösung.
Es kann hier nicht der Platz und nicht die Absicht sein, in den Streit der
Meinungen parteinehmend einzugreifen. Nur um eine uninteressierte, objektive
Feststellung der Kontrasterscheinungen soll es sich handeln und allenfalls um
den Versuch, ihre Wurzeln und ihre letzten Gründe zu erforschen.
Aber schon die bloße Feststellung der äußern Kennzeichen des Gegensatzes
stößt auf bedeutende Schwierigkeiten. Denn erstens sind die Gegenstände der
Untersuchung keinerlei Art verlässiger Messung zugänglich. Sie können vielmehr
nur gefühlsmäßig und annäherungsweise erfaßt werden und beinahe nur unter
dem Anspruch subjektiver Geltung. Dann ist zu beachten, daß die Charakter¬
besonderheiten zweier benachbarten Bevölkerungsmassen nirgends in der krassen
Gegensätzlichkeit auftreten, wie sie zum Zweck einer Untersuchung notwendig
herausgeschält werden müssen. Im Laufe der Zeit haben da so viele Be¬
völkerungsschiebungen und wechselseitige Zuwandrungen stattgefunden, daß die
Reinheit der Arten heute davon stark beeinträchtigt ist. Das Zeitalter des
Verkehrs, in dem wir leben, hat diesem Vermengungsprozeß in außergewöhn¬
lichem Maße Vorschub geleistet, und zum Schluß darf auch die verschwenderische
Varietätenbildung der Natur nicht unberücksichtigt bleiben, die es verhindert,
daß die charakteristischen Besonderheiten der beiden Volkshälften ausnahmslos
und mit gleicher Stärke in allen ihren Individuen anzutreffen sind.
Noch größern Schwierigkeiten begegnet die Erforschung der Ursachen des
Unterschieds. Der Gegensätze zwischen deutschem Norden und Süden oder, wie
man richtiger sagt, deutschem Nordosten und Südwesten sind es mancherlei.
Es sind Gegensätze der politischen Gewalt und der politischen Auffassung,
Gegensätze der Religion, Gegensätze der Bodenbeschaffenheit und Gegensätze der
Nasse. Sie alle sind so innig miteinander verbunden, daß sie weniger einem
Konglomerat gleichen als einem chemischen Produkt von selbständiger Art, das
etwas völlig andres geworden ist, als seine Bestandteile waren. Sind es nun
die Gegensätze der Politik, der Konfession und des Bodens gewesen, die den
psychologischen Unterschied geschaffen haben, oder war es umgekehrt? Haben
überhaupt äußere und zufällige Einflüsse den innern Gegensatz gebildet, oder
war das Gegenteil der Fall, und tragen die politischen und konfessionellen
Gegensätze etwa lediglich den sekundären Charakter von Symptomen? Sind
vor allem die psychologischen Unterschiede in einer Gegensätzlichkeit der Rassen
begründet, oder finden sie im Unterschiede der geographischen Verhältnisse ihre
Erklärung? Sind weiterhin die Unterschiede ein Produkt der Gegenwart, oder soll
man annehmen, daß sie von altersher bestanden haben, daß sie latent immer
vorhanden gewesen und nur bei der jetzigen politischen und wirtschaftlichen Kon¬
stellation besonders aktuell geworden sind? Es sind außerordentlich viel Möglich¬
keiten gegeben, und die Theorien, namentlich die der sommerlichen Urlaubs¬
reisenden können sich auf dem weiten Felde nach Herzenslust herumtummeln.
Soviel ist sicher, mit dem, was man heutigentages als Partikularismus
bezeichnet, ist der Unterschied noch keineswegs charakterisiert. Dessen Begriff
ist viel zu eng, und es ist nur ein zufälliger und vorübergehender Umstand,
daß beide in ein Verhältnis der Nachbarschaft gerieten. Auch fallen die
Grenzen des beiderseitigen Gemeinsamkeitsbewußtseins keineswegs mit den
politischen Grenzen zusammen, was ja schon durch das Vorhandensein des
„Mußpreußen" widerlegt wird. Auch ist die Verschiedenheit nicht mit dem
Unterschiede der politischen Auffassung identisch. Die Schlagworte „Liberalismus"
und „Konservatismus", „Gouvernementalismus" und „Demokratismus" treffen
ihn nicht. Bei aller Übereinstimmung der politischen Ideenwelt wird der süd¬
deutsche Demokrat immer etwas empfinden, was ihn von seinem norddeutschen
Parteigenossen trennt, und auf den Inseln des norddeutschen Liberalismus
wird man sich der politischen Färbung wegen noch nicht als süddeutsch be¬
trachten. Auch über die Verbreitungsgrenzen des religiösen Bekenntnisses setzt
sich der Unterschied kühn hinweg. Die Protestanten südlich vom Main fühlen
sich ihrer Konfession wegen noch keineswegs als norddeutsche.
Versagen uns so alle äußern Momente eine befriedigende Erklärung, so
wird der Unterschied letzten Endes doch psychologischer Natur sein müssen. Er
scheint sich logisch und organisch entwickelt zu haben und wenigstens in gewissen
Resten nicht ausrottbar zu sein. Davon überzeugt man sich sehr gründlich,
wenn man Gelegenheit hat, die süddeutsche Abneigung da zu studieren, wo
sie noch von keinem Räsonnement geschwächt ist. Dort äußert sie sich mit
elementarer Stärke, wie sie nur natürlicher Instinkt zu erzeugen vermag. Ein
norddeutscher Südlandfahrer Ernst Otto Eichen ist davon in solchem Maße
belehrt worden, daß er sich allsogleich hinsetzte und zur Ehrenrettung seiner
Volksgenossen ein Büchlein schrieb „Die norddeutschen Stämme im Hausgewand."
(^uttgart. 1902.) Er leitet sein Werkchen ein mit folgenden Betrachtungen:
„^er spricht heute noch von der Mainlinie.... Und doch besteht sie in aller
stille fort, und zwar in einer Ausdehnung und Schärfe, daß die Hoffnung, sie
??^eklige zu sehen, noch auf lange hinaus unerfüllt bleiben wird." Von den
höchst drastischen Schimpfwörtern, die der Süden für den Norden aus Lager
hat, will ich hier nicht reden, sie sind bekannt. Der Begründer und frühere
Besitzer des Bayrischen Vaterlands ist ein wohlhabender Mann geworden. Die
Töne, die er anschlug, fanden einen geräumigen Resonanzboden, und das
Blatt existiert heute noch.
Es kann auch als ausgemacht gelten, daß die Abneigung nicht neu, sondern
alt. vielleicht sogar uralten Datums ist. Man kannte sie vor der Entstehung
des Reichs und der Errichtung der preußischen Hegemonie, man kannte sie vor
dem Jahre 1866. Der Hallische Professor Wachsmuth hat schon in seiner im
Jahre 1862 erschienenen „Geschichte der deutschen Volksstämme aus dem Ge¬
sichtspunkt der Nationalität" gegen König Ludwig den Ersten von Bayern
den Vorwurf erhoben, daß er den Gegensatz künstlich gesteigert und die Einigung
der verschiednen Stämme des jungen Königreichs, also der Altbayern, Schwaben,
Franken und Pfälzer betrieben habe auf Kosten des Verwandtschaftsgefühls
für den Norden. Noch ausgeprägter vielleicht zeigte sich der Gegensatz in den
Zeiten des Rheinbundes. Derselbe Wachsmuth treibet es dem süddeutschen
Historiker Pallhausen schwer an, daß er „in seiner Hypothese von der Abkunft der
Bayern deren ursprüngliche Stammbrüderschaft mit den Franzosen" verfocht,
und er verzeichnet zugleich, daß die von Norddeutschland nach Bayern berufnen
Gelehrten „haßvollen Anfechtungen" ausgesetzt waren. Das sind jedoch politisch
bewegte Zeiten gewesen, und man kann nicht leugnen, daß sich hier die Gier
nach Vorteilen der Lehre von einem Rassengegensatz als eines willkommnen Vor¬
spannes bedient hat. Auch das Gewissen, das sich in den germanischen Rhein-
bundstaaten regte, mag des Beruhigungsmittels dieser Theorie bedurft haben.
Aber schon viel früher, schon im tiefen Mittelalter, als die Hohenstaufen in
Macht und Ansehen waren, sollen die Oberdeutschen die Niederdeutschen leiden¬
schaftlich gehaßt haben. Also an der Existenz und an der tiefgehenden Weise
des Unterschiedes kann nicht gezweifelt werden.
Die weitere Frage ist jetzt nur die, wo die markanten psychologischen
Gegensätze ihren Wurzelboden haben. Merkwürdigerweise fällt ihre Abgrenzungs-
linie mit jenem diagonaler Strich zusammen, der vom sächsischen Erzgebirge
ausgehend, über den Thüringer Wald und Harz nach dem Niederrhein führend
das gebirgige Land im Deutschen Reiche vom Flachlande scheidet. Diese Tatsache
hat schon vielfach zu der Behauptung geführt, daß der landschaftliche Kontrast
den psychologischen ausreichend erkläre. Auch Wachsmuth zeigt eine gewisse
Schwäche für diese Theorie. Allein wie naheliegend jene Annahme auch ist,
stichhaltig dürfte sie doch nicht sein. Schon deswegen nicht, weil man dem
norddeutschen Flachlande allein nicht die Fähigkeit zutrauen darf, in einem
Volke von einer Herkunft und Abstammung so tiefgehende Unterschiede zu
bilden. Unter andern Himmeln aber und bei gleichen Voraussetzungen sind
ähnliche Wirkungen nicht konstatiert worden.
So bliebe wieder einmal nichts übrig, als den Rassegedankm, der sich
ohnehin heute einer so großen Beliebtheit erfreut, auch hier zu Hilfe zu rufen.
Und in der Tat kommt man mit ihm am weitesten. Enthusiastische Einheits¬
freunde wollen es nicht wahr haben, daß eine durchgreifende Rassenverschicdenheit
im heutigen Deutschland besteht. Zwar die dem Norden immer zum Vorhalt
gemachte Durchsetzung mit slawischen Volkselementen muß zugegeben werden.
Auch läßt es sich gar nicht bestreiten, daß der Süden von einem solchen Ein¬
schlag frei blieb. Es stünde also wenigstens ein slawogermanischer Nordosten
einem reingermanischen Südwesten gegenüber, und der Unterschied wäre da.
Aber dabei hat es noch nicht einmal sein Bewenden. Auch der Süden hat
seinen fremdrassigen Bestandteil. Die Aufstellung soll nicht richtig sein, daß er
keltisches Blut beherberge, aber der Süden hat fraglos heute noch viel Sympathie
und natürliches Verständnis für Frankreich. Und wenn es auch richtig ist, daß
Bayern, Schwaben, Franken und Thüringer rein germanische Stämme gewesen
sind, vor ihnen saßen auf demselben Boden doch einmal die Kelten, ebenso
wie in Österreich und auf einem Teil des Balkans. Wenn die Kelten auch
vertrieben wurden, starke Reste mögen doch wohnen geblieben sein und sich mit
den eindringenden Erobrern zu einer keltogermanischen Rasse verbunden und
vermischt haben. Auch später in der Merowinger- und Karolingerzeit mögen
solche Verschmelzungen stattgefunden haben. Mit besondrer Klarheit und Prägnanz
hat diese Antithese von slawisch-deutschem Norden und keltisch-deutschem Süden
H. Driesmans in dem Buche vollzogen: Das Keltentum in der europäischen
Blutmischung (Jena, 1900).
Aber überzeugen wir uns doch selber, indem wir einfach zusehen, durch
welche Eigentümlichkeiten sich die zwei großen deutschen Stammgemeinschaften von¬
einander abheben! Im großen und ganzen dokumentiert sich die Verschiedenheit
als ein Gegensatz von Verstand und Gemüt. Nicht als ob hier dieser, dort
jenes gänzlich fehlte, nur im Mischungsverhältnis kommt ein Unterschied zum
Ausdruck, insofern, als hier im Norden der Verstand, dort im Süden das
Gemüt prävaliert. Der Bayer, der ebenso der Repräsentant des Südens ist
wie der Preuße der des Nordens, wird im Norden stets der gemütliche Bayer
genannt; der Preuße ist im Volksvokabularium des Südens der gescheite Preuße,
der helle Preuße, der preußische Schlauberger usf. Die preußische Hauptstadt
an der Spree führt den Ehrentitel Stadt der Intelligenz und trügt ihn mit
Stolz. Von diesem grundlegenden Differenzpunkt aus gabeln sich dann zwei
lange Reihen entsprechender und korrespondierender Folgeerscheinungen ab. Der
Süddeutsche ist lässig, der norddeutsche stramm, dieser korrekt, jener ungezwungen.
Jener verlangt Freiheit, dieser vermag sich unterzuordnen, bei jenem wohnen
die Musen, dieser lädt sie zu Gaste M-isla, mein <zg.not). Jene sind leichtlebiger,
sanguinischer, überhaupt temperamentvoll, diese ernst, jene salopp, diese gravitätisch,
jene beweglich, diese steif (vgl. die süddeutsche Redensart: er hat einen Ladstock
verschluckt). Der Süden ist moralisch laxer, nachsichtiger und reuig, der Norden
ist puritanisch streng, kühl und sicher, der Süden ist sexueller als der Norden,
aber verschämt. Der Norden ist in diesem Punkte kälter, aber offenherziger.
Das Verbrechen ist im Süden geräuschvoll und wild, im Norden eisig berechnend
und raffiniert. Der Süddeutsche ist stets mit sich und seiner Innenwelt, der
norddeutsche mit der Um- und Außenwelt beschäftigt. Der norddeutsche ist
eine aktive, der Süddeutsche eine passive Natur.
Gerade diese letzte Antinomie liefert den Schlüssel zum Verständnis aller
übrigen. Unausgesetzt regt sich etwas in der Brust des Süddeutschen. Be¬
stimmungen und Zustünde lösen sich ununterbrochen ab. Eine Leere und Ruhe
des Herzens kennt er nicht. Stets ist er im Banne eines innern Zwanges, und
sein Unglück will es, daß diese Nötigungen ewig unverlüssig wechseln. Er stellt
sein Programm auf, aber er ist außerstande, es durchzuführen. In einer An¬
wandlung von Geschwätzigkeit und Gutmütigkeit gibt er ein wertvolles Geheimnis
preis in einer Sekunde aufbrausender Wut vertreibt er einen unentbehrlichen
Mitarbeiter für immer, er schämt sich der Tränen, aber er ist unfähig, ihr
ö» verhindern, die Stunde rückt heran, die die Vornahme einer ge¬
schäftlichen oder amtlichen Handlung fordert, aber der Süddeutsche vermag
das Stimnmngsvehikel. das mit ihm in einer andern Richtung davon rast,
nicht zum Halten zu bringen, und so wird das Geschäft oder die Amtshandlung
nicht erledigt, oder, wenn es noch gut geht, viel später. In Preußen kaun
man den Sekundenzeiger nach dem Eintreffen und Abfahren der Züge richten,
in Süddeutschland richten sich die Züge noch nicht einmal nach den Minuten¬
zeigern. Wie ganz anders hingegen, wenn ein Plan Schritt für Schritt ohne
Störung und Zwischenfall der vorher aufgestellten Berechnung entsprechend
durchgeführt werden kann! Den Süddeutschen dnrchmnschen unausgesetzt starke
Gefühlsströmungen, und sie nehmen ihn ohne Federlesens mit sich fort. Sie
rauschen auch im bangen Gewissenskonflikt feindlich aufeinander zu, ziehen
Strudel und zerren den Menschen mit in die Tiefe. Er ist ihnen wehrlos
ausgeliefert, nur tragen kann er sich von ihnen lassen, nicht sich ihnen wider¬
setzen, nur willenlos ihnen folgen, zum Zuschauer degradiert, „müßig und be¬
wundernd". Ist das Verfall oder Rückständigkeit? Eine verfängliche Frage!
Flüchten wir zu unserm Thema zurück! Das sind im Süden glühende Gefühls¬
farben, das sind tropische Seelengewitter, das ist im Vergleich zum Norden
äquatoriales Herzensklima. Und selbst wenn alle stürmenden Gewalten friedlich
ruhen, ist über diese Welt noch eine so hohe Temperatur ausgegossen, daß sie
statt zu energischer, straffer Aktion nur zu behaglichem Genuß und gemächlichen
Tun einlädt und jenen Typus schafft, der als der „gemütliche Süddeutsche"
im Norden immer gern gesehen ist.
Und in dieses Milieu, auf die Bühne dieses glutendurchzogncn Lebens
tritt nun der Sohn des Nordens! Kann das anders wirken, als wenn in
einem Münchner Nedoutensaal, wo alles heiß ist — von der Liebe und von
den Getränken, vom Tanz und vom Rauch der Zigaretten, von der Hitze der
Öfen und der Lichter —, der Wind der Winternacht ein Fenster sprengt und
messerscharfe Eiskristalle auf die Gesichter jagt. Schon das Exterieur dieses
Eindringlings! Alles an ihm ist säuberlich geordnet und gepflegt, alles „tip-
top!" Dieser Mensch kann nirgends in seiner ganzen Seele ein Winkelchen
haben, in dem er sich einmal gehn läßt, wo er sich selber kommandiert: rührt
euch! Mit den Händen an der imaginären Hosennaht geht er sogar wohl
schlafen. Eichen schreibt: „Das bequeme leichte Gehenlassen hat bis heute
noch keinen Platz im Wörterbuch des richtigen Preußen gefunden." Der
richtige Preuße ist immer in Haltung, nicht in der ästhetischen Haltung des
Aristokraten, sondern in der des sich selbst vergewaltigenden Energiemenschen,
ein endloser Komplex von kategorischen Imperativen!
Schon die Stimme! Sie ist scharf und schneidig wie pfeifende Winter¬
luft. Die Sprache bevorzugt das „e", das klingende alarmierende „e". Sie
hört sich an wie fallende Peitschenschläge. Und am süddeutschen Stammtisch
herrschte zuvor der tiefe Baß, der Zeit hatte. Und die runden Vokale rollten
durcheinander, das „a, o, va und ol". Die waren zwar auch ganz respektabel
und brachten sich nicht weniger zur Geltung. Aber es besteht doch zwischen den
beiden ein diametraler Unterschied. Man halte „Locmdioa" und „Loabltoag"
zusammen mit „manu", „Glaß", „Bald" (man, Glas, Bad), und man beachte
vor allen Dingen noch einmal das „e", das das Amt, der deutsche Hegemonie-
vokal zu sein, so recht zu Ehren tragen würde. Man hat es festgestellt, daß
in der menschlichen Kulturentwicklung mit dem Fortschritt des Denkens die
sprachlichen Bezeichnungen immer kürzere geworden sind. Die Gedanken folgen
sich rascher, und die Sprache muß mitkommen. Wie schwer und langsam
rundet und ballt sich aber ein „o, ol, va", und wie schnell dagegen ist ein
„e" gerufen! und wie schmetternd klingt es! Der norddeutsche hat es so
lieb gewonnen, daß er es ohne grammatische Nötigung anbringt, wo es irgend
möglich ist: Stille jestanden!, Fritze, Hemde, Bette. So kommt es, daß der
norddeutsche in süddeutscher Gesellschaft nur den Mund aufzutun braucht und
schon einen peinlichen Eindruck hervorruft.
Man kennt im Norden diese Wirkung, aber man will ihr nur für den
Märker, speziell sogar nur für den Berliner Geltung zuschreiben. Die süd-
deutschen Gehörsnerven machen aber diese Unterscheidung nicht mit. Eichen
sagt z. B. generell von den Ostelbiern: „Zwar tragen sie die Nase ein wenig
hoch und sprechen manchmal in etwas scharfem, schnarrendem Ton." Und
selbst Wachsmuth korrigiert die Behauptung, daß „das Preußentum" mit dem
„hochfahrenden Wesen" und dem „anfahrenden Ton" Monopol der Mürker
sei. Er erklärt es für „eingeschultes, rein staatliches Kunstprodukt" und sagt:
„Pommeraner, Ostpreußen, Schlesier, Magdeburger und Halberstädter, West¬
falen und Rheinländer haben so gut wie die Märker bei fortdauernder pro¬
vinzieller Eigentümlichkeit einen Anteil daran."
Charakteristisch wie die Sprache ist für die Psyche des Norddeutschen aber
auch schon seine äußere Erscheinung. Schon vorhin beim ersten flüchtigen
Anblick ist sie uns aufgefallen. Betrachten wir sie noch einmal ein klein
wenig näher! Schon der Anzug des „Preußen" ist viel sorgfältiger und
adretter als der des Süddeutschen. Dem „Preußen" geht es immer wider
den Strich, daß er im Süden Damen im Lodenrock und Herren im Jäger¬
hemd an der lapis Ä'bSte- oder im Theater findet. Die makellos weiße
Wäsche, der Stehkragen und die Bügelfalte, der mathematisch genau über die
Mitte des wohlpomadisierten Hauptes gezogne Scheitel, die Abneigung gegen
wellige Linien in der Frisur und Kleidung, die Spitze auf dem Kriegshelm,
alle diese Kleinigkeiten sind beachtenswerte Verräter norddeutschen Wesens.
Ein unnachsichtiger Polizeiverstand wacht rastlos auch über dem äußern Wesen.
Aber nur gerade Flächen, nur rechte Winkel sind leicht zu kontrollieren. So
zeigt die Kleidung nicht nur lobenswerte Sauberkeit, sondern auch kalt an¬
mutende Nüchternheit und Steifheit. Deshalb auch in der Kunst die Bevor¬
zugung des Klassizismus, der den freien Formen der neuen Richtungen heute
noch den Eintritt verwehrt.
Aber all derlei Eigentümlichkeiten würden doch nicht zu einer Gegner¬
schaft führen können, wenn nicht seit der Neugestaltung der politischen Ver¬
hältnisse Norden und Süden im Daseinskampf — vor ein und dieselbe
Schüssel gesetzt wären. Im Süden ist nicht die Arbeit, aber der Kampf um
das Brot eine höchst unangenehme Beigabe des Lebens. Dem Sohn des
Nordens ist gerade dieser Kampf das Element, in dem er sich wohl fühlt.
Dementsprechend ficht der Süddeutsche diesen Kampf auch mit hölzernen
Waffen aus. Es ist, wies Driesmans sehr richtig sagt, jeder der „humane
Krankenwärter seines Nächsten". Der Norden macht Ernst mit dem Kampf
aller gegen alle und führt ihn mit unbarmherzigen, geschliffnen Klingen.
Aber das Gefühl des Südens sträubt sich gegen deren Benutzung. Der
Kampf mag für die Rangordnung im Leben unter Umstünden noch ausschlag¬
gebend sein, aber das Leben selber darf er nicht antasten. Zur Ignorierung dieser
Mer großen Rücksicht sich aufzuschwingen, ist der Süddeutsche nicht hart genug.
^Jean kann es im Süden an jedem Tage erleben, daß man in ein Geschäft
tritt und vom Inhaber die Erklärung erhält, der gewünschte Artikel sei nicht
auf Lager oder wenigstens nicht in der gewünschten Qualität, der Konkurrent
iedoch dort in der Xstraße werde damit aufwarten können. Mit solcher Nück-
uht gegen seinen lieben Nebenmenschen und mit solcher Duldsamkeit gegen
innen Rivalen zu verfahren, ist nicht Sache des Niederdeutschen. Er spielt
acht mit Kindermünzen aus Pappe.«truls
Nun hat aber der politische Zustand beide in ein und dense ben W
Ms bunt durcheinander gewirbelt und stellt täglich in tausendfältiger Viel-
heit solche Kämpferpaare zusammen, die die ungleichen Waffen miteinander
kreuzen müssen. Kann man sich da verwundern, wenn Verstimmungen Platz
greifen? Und doch werden sich die Süddeutschen nicht für die zu Unrecht
unterliegenden halten dürfen. Sogar angenommen, sie hätten im übrigen den
andern deutschen Stämmen vieles voraus, dieser einen Gabe der harten, uner¬
bittlichen Auffassung des Lebens ermangeln sie eben, und es hilft ihnen nichts,
daß sie sich auf unleugbare Auswüchse dieser kräftigem, robustem niederdeutschen
Art berufen können.
Daß die energische und schonungslose Führung des wirtschaftlichen Ver¬
kehrs auch ihre Auswüchse zeitigt, gehört zu den Unvermeidlichkeiten auf
unserm unvollkommnen Planeten. Namentlich Berlin und Hamburg zeichnen
sich in dieser Hinsicht aus. In die Fallen der von hier ausgehenden Tricks,
Bluffs und sonstigen Gerissenheiten gehen die Provinzialen, aber nicht nur
die des Südens, sondern auch die einheimischen fast immer als arglose und
rettungslose Opfer. Aber diese Plätze mit ihrem weltstädtischen Durcheinander
von hunderterlei Rasseelementen und allen möglichen Existenzen und besonders
mit ihrem starken Bestandteil jüdischer Bevölkerung, das dem Ganzen ein
eigenartiges Gepräge geschäftlicher Agilität verleiht, können nicht als typische
Träger norddeutscher Stammeseigentümlichkeit betrachtet werden, wie es leider
zum Schaden des Nordens sehr häufig der Fall ist. Namentlich Berlin
muß ein großes Teil der Unbeliebtheit des Preußentums auf sein Konto
nehmen. Denn der Berliner und gerade der Berliner, den wir soeben ge¬
zeichnet haben, und nicht der provinziale Preuße ist es, der zum Vergnügen
und von Geschäfts wegen das obere Deutschland alljährlich in großen Scharen
bereist, während sich hinwiederum die Exkursionen des Südens zumeist auf
Berlin beschränken oder höchstens bis zu den Stationen Hamburg und Helgo¬
land weiter wagen. Eichen hat gewiß Recht, wenn er den Süddeutschen eine
bessere Meinung von ihren niederdeutschen Volksgenossen beizubringen glaubt,
indem er sie ihnen „im Hausgewande", das heißt in ihrer provinzialen Boden¬
ständigkeit und UnVerdorbenheit vorführt.
Aber von alledem abgesehen, der Süden stöhnt nicht nur unter der gesell¬
schaftlichen und geschäftlichen, sondern auch unter der politischen Überlegenheit
des Nordens. Das ist auch wieder sehr begreiflich. Dem Süden fehlen die
Qualitäten zur Errichtung fester und unerschütterlicher Staatsgefüge. Er hat
auch zum Staatsbürger kein sonderliches Talent, und seiner leichten Unlust
zum Untertanen steht geradezu eine Untertanenwonne des Nordens gegenüber.
Er haßt und befehdet den Staat nicht, aber er trägt ihn, wie man etwas
Unausweichliches, eine Last trägt. Vom norddeutschen Staatskörper ließe sich
vielleicht aussagen, daß die Menschen, die ihn als kristallische Einheiten bilden,
das Gesicht nach dem Staatskern gerichtet haben; im Süden haben die Kristalle
die Richtung nach außen. Der süddeutsche Affekts- und Stimmungsmensch
taugt nicht zum politischen Mauerstein, der sich ohne Bekundung eines eigen¬
willigen Lebens aufnehmen und einfügen läßt, wo und wann man will. Zur
Entstehung widerstandsfähiger, wohlorganisierter Gemeinschaften ist es aber
nötig, daß sich die Glieder und Atome ohne individuellen Willen dem Zweck
des Ganzen und dem Kommando der Leitung unterordnen, verwendungsbereit
für jeden Platz und für jede Verrichtung. Ein solcher Hang und Hunger zum
Dienen ist dem Süden nicht eigen. Am wenigsten findet man ihn bei den
Franken, die mit ihren entfernten Verwandten, den Franzosen, von jeher für
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit schwärmten, die eine Menge kleiner und
kleinster, ehemals freier Reichsstädte aufweisen können, die immer eine gewisse
Nivellierung der Gesellschaft anstrebten, und in deren Lande heute noch die
Hochburgen der Demokratie liegen. So kennt der Süden auch die scharfe
Absonderung der Schichten nicht, weder gesellschaftlich noch wirtschaftlich,
wie sie im Norden Platz gegriffen hat. Der Norden liebt die Gliederung.
Die Rolle, die hier der Beamte, der Unteroffizier und der Polizist spielen, ist
im Süden nicht denkbar. Jeder Preuße dagegen trägt, wie ein Offizier der¬
selben Nationalität gesagt hat, seinen Schutzmann mit sich in der Brust.
Dieser zentripetale Zug aber, dieser vehemente Angliederungsdmng ist es ge¬
wesen, der den heutigen preußischen Staatskörper geschaffen hat, an dessen
eherner Kohärenz alles zerschellt, was im Wirbel des Lebens mit ihm zusammen¬
gerät. Die politische Erstarkung des Deutschtums ist die Frucht seiner Ver¬
bindung mit dem Slawentum, ganz ohne Frage. Die Aufrüttelung, Sammlung
und Zusammenfassung der jahrhundertelang brach und verträumt liegenden
deutschen Kraft ist erst der erweckenden slawischen Rassenhilfe gelungen. „Die
Slawosaxonen können befehlen", rühmt Driesmans stolz und beglückt seinen
„lachenden Löwen" nach.
Aber er muß auch vermerken: „Dieser slawoscixonischen Rüstigkeit fehlte
es andrerseits freilich an einer Eigenschaft, die allen soldatischen tatkräftigen
Naturen zu mangeln pflegt: an dem Interesse für höhere geistige Dinge. Mit
einer gewissen zur Schau getragnen Geringschätzung wiesen sie Wissen und
Bildung von der Hand." Er fährt übrigens — ein höchst bedeutsames Zu¬
geständnis des vorhandnen Gegensatzes im deutschen Volke! — fort: „mit
einer Geringschätzung, die dem schärfer blickenden verdächtig erscheinen muß.
Sie kann nämlich unmöglich allein aus ihrer soldatischen Natur, sie muß mit
aus dem rassegegensätzlichen Verhältnis zu dem stammverwandten südwestlichen
Volkstum entstanden sein." Derselbe Autor zögert sogar nicht, zu bekennen,
die Geringschätzung der Bildung sei „altpreußische Tradition".
Damit wäre man zu dem Punkt geführt, wo man sich zu entscheiden
hätte, welcher von beiden Kulturen man den Vorzug geben soll. Die Ant¬
wort kann nicht zweifelhaft sein: keiner von beiden, sondern einer Verewigung
von beiden. Denn beide bilden an sich Halbheiten oder Übertreibungen.
Weist der Norden mit berechtigtem Selbstgefühl auf seine frische Aktwns-
freudigkeit hin, so betont der Süden mit Recht seine feinere, weichere, auch
ältere' und charitativere Kultur. Und wenn man der niedersüchsischcn Tat¬
kraft und Regsamkeit ein Loblied singt, so muß man sich dabei eingedenk
bleiben, daß auch Bescheidenheit, Gutmütigkeit, Innigkeit und Beschaulichkeit,
Idealismus und Stubenhockerei, schwerfällige Gründlichkeit und dulderisches
Micheltum als kerndeutsche Charakterzüge reklamiert werden, und daß es zum
guten Teil gerade diese Eigenschaften sind, die uns im Auslande das Ansehen
von dans oornpg.Flioll8, von moralisch verlässigen Leuten und von gediegnen
Arbeitern verschafften Heute sind die Niedersachsen der herrschende Stamm,
der ohne Weichherziakeit die andern unter seine Führung zwingt und mit dieser
Strammheit eine bewundrungswürdige Assimilierungskunst verbindet, kraft der
er. geschäftig und sieghaft alle Teile seines Machtbereichs durchdringt. Frut)er
Welten diese Rolle die andern. Zuerst von allen hatten W Frmiken eme
hohe staatsbildende Kraft an den Tag gelegt. Das heutige Deutsche Reich
lst nur ein Teil der Herrschaft, die sie aufgerichtet hatten. Nach ihnen
kamen die Bayern daran, die das Habsburgische Osterreich schufen, und die
Alemannen, die die schweizerische Republik begründeten, heute sind die Nieder¬
sachsen an der Spitze.
Der Welt zu trotzen hätte das Deutschtum aber weder früher noch jetzt
in der Gegenwart vermocht, wenn es als Gesamtheit in der Rüstkammer
seiner Qualitäten nicht doch immer alle die Fähigkeiten vereint hätte, die sich
im einzelnen auszuschließen scheinen und befehden. Aber mögen sie sich auch
feindlich zueinander stellen, ein Glück ist es, daß sie da sind. Auch als
Gegner werden sie ihr Gutes stiften nach dem Heraklitischen Satz: Der Kampf
ist der Vater von allem. Wer weiß, wieviel wir diesem Kampfe schon ver¬
danken. Aber der Kampf selber gehört nicht mehr zur Aufgabe dieser Aus¬
einandersetzungen. Also schließen sie hiermit.
> ni die Waren noch an demselben Abend nach Budmouth gebracht
werden mußten, war der Zollbeamten nächste Aufgabe, Pferde und
Wagen für den Transport zu finden; zu diesem Zweck gingen sie im
I Dorf auf die Suche. Latiner stelzte mit einem Stück Kreide in der
Hand hin und her und malte mit solchem Eifer Pfeilspitzen auf jedes
Fuhrwerk oder Geschirr, das ihm in die Quere kam, daß es schien,
als wenn er sogar die Zäune und Straßen antreiben wollte. Der Eigentümer jedes
so gezeichneten Gefährtes war verpflichtet, es zu Regierungszwecken abzutreten.
Stockdale, des Treibens überdrüssig, ging nachdenklich und niedergeschlagen
ins Haus. Er fand Lizzy, die zur Hintertür hineingekommen war, schon vor, ob¬
gleich sie noch nicht den Hut abgenommen hatte. Sie sah müde aus, und ihre
Stimmung war nicht viel froher als die seine. Sie hatten sich nur wenig zu
sagen. Der Prediger ging davon und versuchte zu lesen; da ihm dies aber nicht
gelingen wollte, klingelte er nach Tee.
Lizzy brachte selbst das Tablett hinein, denn das Kind war am Nachmittag
ins Dorf gelaufen, zu aufgeregt über die letzten Vorfälle, als daß es an seine
Pflichten hätte denken können. Ehe jedoch die betrübten Liebenden ein Wörtchen
miteinander gesprochen hatten, kam Mnrtha überhitzt herein.
O, solch ein Lärm! Frau Newberry und Herr Stockdale! Die königliche Zoll¬
wache kann mit den Wagen gnr nicht zurechtkommen! Sie haben Thomas Ballams
und Wilhelm Rogers und Stephen Sprakes Wagen auf die Straße geschoben, und
da sind die Räder abgegangen und die Wagen zusammengefallen. Und da waren
keine Vorstecker an den Achsen! Dann versuchten sich mit Samuel Shcmes Wagen,
aber von dem waren die Schrauben weg, und als sie dem Milchmann seinen
Wagen holten, hatte der auch keine! Nun sind sie hin nach der Schmiede, um
welche machen zu lassen, aber der Schmied ist nirgends zu finden!
Stockdale sah Lizzy an, die ein klein wenig rot wurde und das Zimmer
verließ. Martha Sara folgte ihr. Ehe sie aber bis an das Ende des Ganges
gekommen waren, klopfte es an der Vordertür, und Stockdale erkannte Latimers
Stimme. Er sprach zu Frau Newberry, die umgekehrt war.
Um Gottes willen, Frau Newberry, haben Sie Schmied Hartenau hier
vorüberkommen sehen? Wenn wir ihn nur beim Schlafittchen kriegen könnten! An
den Haaren möcht ihn an seinen Amboß zerren, wo er hingehört!
Er ist ein Müßiggänger, Herr Latiner, sagte Lizzy listig. Was wollen Sie
denn von ihm?
Ach, im ganzen Dorf ist kein Pferd, das mehr als drei Hufeisen hat, und
manche haben bloß zwei. Die Räder haben keine Reifen, und an den Wagen sind
keine Vorstecker. Dazu die Quälerei mit dem Geschirr — fast keins ist in Ordnung!
Ich sehe schon, wir kommen vor Dunkelwerden nicht sort — beileibe nicht! Bande
ist das hier herum, Frau Newberry; aber sie treibens zu arg, denken Sie an
meine Worte! Im ganzen Kirchspiel ist kein Mann, der nicht Prügel verdiente!
Zufällig war Hartenau in diesem Augenblick in demselben Gäßchen ein Stückchen
weiter hinauf und rauchte seine Pfeife hinter einem Stechpalmbusch. Latiner ging,
sobald er ausgeredet, in dieser Richtung weiter, und bei Hartenau, der den Schritt
des Zollbeamten hörte, überwog Neugierde die Vorsicht. Er guckte hinter dem
Busch hervor in demselben Augenblick, als Latiner hinsah. So blieb ihm weiter
nichts übrig, als voll Harmlosigkeit vorzukommen.
Eine geschlagne Stunde hab ich Sie gesucht! sagte Latiner mit einem wü¬
tenden Blick.
Tut mir leid, zu hören, sagte Hartenau. Bin ein bißchen rumgebummelt. Wollte
sehen, ob noch mehr Fässer wo versteckt wären, und sie der Regierung ausliefern.
O, wir wissen, Hartenau, sagte Latiner mit vernichtenden Sarkasmus. Wir
wissen, daß Sie sie der Regierung abliefern wollten! Wir wissen, das ganze Dorf
hilft uns — hat uns den ganzen Tag geholfen! Jetzt kommen Sie freundlichst
mit in Ihre Werkstatt, und lassen Sie sich gefälligst dingen in des Königs Namen!
Sie gingen zusammen die Gasse hinunter, und gleich darauf tönte ans der
Schmiede der Schlag eines eben nicht sehr eifrig geschwungnen Hammers. Jedoch
kamen Wagen und Pferde schließlich in gebrauchsfähigen Zustand, wenn auch nicht
eher, als bis die Uhr sechs geschlagen hatte, und die schmutzigen Wege im wage¬
rechten Licht des sinkenden Tages glitzerten. Bald waren die Fuhrwerke mit den
geschmuggelten Fässern bepackt, und Latiner fuhr mit dreien seiner Assistenten langsam
zum Dorf hinaus in der Richtung nach dem Hafen von Budmouth, der eine ansehn¬
liche Zahl von Meilen entfernt war. Die übrigen Zollbeamten wurden zurückge¬
lassen, um den Nest der Ladung zu bewachen, der, wie sie wußten, irgendwo
zwischen Ringsworth und der Lulsteadbai versenkt war; auch sollten sie Owlett
ausfindig machen, die einzige Persönlichkeit, die durch die Entdeckung des Kellers
unanfechtbar bloßgestellt war.
Frauen und Kinder standen vor den Türen, als die Wagen, von denen jeder
mit heugabelförmigen Strichen, dem Beschlagnahmezeichen der Regierung, angekreidet
war, in das zunehmende Zwielicht hineinfuhren. Und während sie so standen, be¬
trachteten sie das konfiszierte Gut mit einem melancholischen Ausdruck, der nur zu
deutlich ihre nahen Beziehungen zu der Angelegenheit kundgab.allt
Nun. Lizzy, sagte Stockdale. als das Knarren der Räder beinahe verh
war, dies ist ein würdiges Ende für Ihr Abenteuer. Aufrichtig dankbar bin M),
daß Sie ohne Verdacht davongekommen sind und nur den Rum eingebüßt papen.
Wollen Sie sich zu mir setzen und mich reden lassen?
Alles zu seiner Zeit, sagte sie. Aber jetzt muß ich hinaus.
Doch nicht wieder nach der gräßlichen Küste? fragte er bestürzt.
New, dahin nicht. Ich will nnr zusehen, welches Ende das heutige Erlebens
nimmt.
Er gab keine Antwort, und sie ging langsam nach der Tür. als ob sie wartete,
daß er noch etwas sagen sollte.
Sie bieten mir nicht an, mitzukommen, fügte sie endlich hinzu. Ich glaube,
ich bin Ihnen verhaßt, nachdem all dies geschehn ist?
Können Sie das sagen, Lizzy, wo Sie doch wissen, daß ich Sie nur aus
diesem Treiben retten will? Mitkommen! — natürlich will ichs, wärs auch nur,
um Sie in meiner Obhut zu haben. Doch warum wollen Sie wieder hinaus?
Weil ich zu Haus keine Ruhe habe. Es passiert etwas, und ich muß wissen,
was. Nun kommen Sie! So gingen sie zusammen in die Dunkelheit hinaus.
Sobald sie die Chaussee erreicht hatten, wandte sie sich rechts, und er bemerkte
bald genug, daß sie dieselbe Richtung einschlugen wie die Zollbeamten mit ihren
Fuhren. Er hatte ihr den Arm gegeben, und hin und wieder zog sie ihn plötzlich
zurück, um ihm zu bedeuten, er solle einen Augenblick stehn bleiben und lauschen.
Die erste Viertelmeile waren sie ziemlich rasch gegangen, und als sie zum zweiten
oder dritten male stehn blieben, sagte sie: Ich höre sie vor uns — Sie nicht?
Ja, sagte er; ich höre die Räder. Doch was soll das?
Ich will nur wissen, ob sie unangefochten aus der Gegend weggekommen sind.
Ah! sagte er, indem ihm ein Licht aufging. Sie wollen eine Verzweiflungs¬
tat wagen! Jetzt fällt mir ein — kein Mann war im Dorf zu sehen, als wir
weggingen!
Horch! flüsterte sie. Das Knarren der Wagenräder hatte aufgehört, und an
seiner Stelle wurde ein andres Geräusch hörbar.
Sie sind handgemein! rief Stockdale. Sie werden sich morden. Lassen Sie
meinen Arm los, Lizzy! Ich muß hin. Ich darf hier nicht bleiben und müßig
abwarten, bei meinem Gewissen nicht!
Da gibts keinen Mord, nicht mal blutige Köpfe, sagte sie. Es sind dreißig
von den unsern gegen vier, es geschieht ihnen kein Leid.
Es ist also ein Angriff! rief Stockdale, und Sie wußten, was geplant war!
O, warum ergreifen Sie Partei für Leute, die so die Gesetze brechen?
Warum ergreifen Sie Partei für Leute, die uns Händlern vom Lande weg¬
nehmen, was wir ehrlich für unser gutes Geld in Frankreich gekauft haben?
Das ist nicht ehrlich gekauft, sagte er.
Doch, widersprach sie. Ich und Owlett und die andern, wir haben dreißig
Schillinge für jedes einzige Fäßchen bezahlt, ehe es in Cherbourg an Bord ge¬
bracht wurde, und wenn ein König, der uns nichts angeht, seine Leute schickt, um
unser Eigentum zu stehlen, haben wir ein Recht, es uns wieder zurückzustehlen.
Stockdale hielt sich nicht mit Disputieren auf, sondern ging rasch weiter in
der Richtung, aus der der Lärm kam; Lizzy hielt sich an seiner Seite. Mischen
Sie sich nicht ein, bitte, bitte, lieber Richard! sagte sie ängstlich, als sie näher
kamen. Lassen Sie uns nicht weiter gehn; beim Warm'elk Kreuz gehen sie auf
sie los. Sie können nichts ausrichten und möchten vielleicht einen derben Schlag
abkriegen!
Erst wollen wir sehen, was vorgeht, sagte er. Aber ehe sie noch viel weiter ge¬
kommen waren, sing das Geknarre der Wagenräder wieder an, und Stockdale merkte
bald, daß sie ihnen entgegenkamen. In der nächsten Minute tauchten die drei Wagen
auf, und Stockdale und Lizzy traten in den Graben, um sie vorbeizulassen.
Statt der vier Mann, die Wagen und Pferde beim Verlassen des Dorfes
geführt hatten, war jetzt ein Trupp von zwanzig bis dreißig dabei, und alle hatten,
wie Stockdale mit Staunen bemerkte, geschwärzte Gesichter. In ihrer Mitte gingen
sechs bis acht riesige weibliche Gestalten, die Stockdale nach ihren großen Schritten
für verkleidete Männer hielt. Sobald die Gesellschaft Lizzy und ihren Begleiter
erblickte, blieben vier oder fünf zurück und traten, sobald die Wagen vorbei waren,
dicht an das Paar heran.
Diese Straße darf gegenwärtig nicht begangen werden, sagte eines der
Riesenweiber; sie trug fußlange Locken, die ihr nach der damaligen Mode zu
beiden Seiten ins Gesicht hingen. Stockdale erkannte die Stimme dieser Dame
als die Owletts.
Warum nicht? fragte Stockdale. Es ist die öffentliche Landstraße.
Ich sage dir, mein Jüngelchen, sagte Owlett — ach, es ist der Metho¬
distenprediger! — was, und Frau Newberry! Gehen Sie lieber nicht weiter,
Lizzy. Sie haben alle Reißaus genommen, und unsre Leute sind wieder zu dem
Ihrigen gekommen.
Damit eilte der Müller davon und stieß zu seinen Kameraden. Stockdale
und Lizzy kehrten ebenfalls um. Ich wünschte, sie hätten uns zu all dem nicht
gezwungen, sagte sie bedauernd. Aber wenn diese Zollmenschen mit den Fässern
abgezogen wären, hätte das halbe Dorf ein bis zwei Monate lang Not gelitten.
Stockdale achtete nicht sonderlich auf ihre Worte und sagte: Ich meine, so
kann ich nicht zurückgehn. Die vier Zollbeamten mögen ermordet sein, oder was
weiß ich!
Ermordet! rief Lizzy ungeduldig. Wir verüben hier keinen Mord.
Ich gehe bis zum Warm'eil Kreuz und sehe nach, sagte Stockdale mit Be¬
stimmtheit und kehrte um, ohne: Kommen Sie gut nach Hause oder sonst etwas
zu ihr zu sagen. Lizzy stand und sah ihm nach, bis seine Gestalt in der Dunkel¬
heit verschwunden war; dann schlug sie traurig den Weg nach Nieder-Moynton ein.
Die Straße war einsam, und zu dieser Jahreszeit konnte man nach Einbruch
der Nacht oftmals stundenlang gehn, ohne einem Menschen zu begegnen. Stockdale
verfolgte seinen Weg, ohne einen andern Laut als die eignen Tritte zu hören, und
kam in der entsprechenden Zeit unter die Bäume der Anpflanzung, die den Warm'eil
Kreuzweg umgab. Noch ehe er den Kreuzungspunkt erreicht hatte, hörte er Stimmen
aus dem Dickicht:
Ho! Joho! Hilfe! Hilfe!
Die Stimmen klangen keineswegs schwach oder verzweifelt, wohl aber un¬
verkennbar ängstlich. Stockdale hatte keine Waffe, und ehe er sich in die undurch¬
dringliche Finsternis der Anpflanzung begab, brach er eine Latte vom Zaune, um
sie im Notfall brauchen zu können. Sobald er unter den Bäumen stand, rief er:
Was gibts? Wo seid ihr?
Hier, antworteten die Stimmen, worauf er der Richtung folgend durch die
Brombeerbüsche stieg und den Gesuchten nahe kam.
Warum kommt ihr nicht vor? fragte Stockdale.
Wir sind an die Bäume angebunden!
Wer seid ihr?
Der arme Willy Latiner von der Zollwache! sagte der eine kläglich. Kommen
Sie doch, bitte, und schneiden Sie diese Stricke durch, o bitte! Wir fürchteten,
niemand würde heute Nacht hier vorbeigehn.
Stockdale machte sie bald los, worauf sie die Glieder reckten und eine bequemere
Stellung einnahmen.
Die Halunken! rief Latiner, plötzlich in Wut geratend, trotzdem er bei
Stockdales Kommen ganz sanft schien. Es ist dieselbe Baude. Samt und sonders
Kerls aus Moynton.
Aber wir können nicht drauf schwören, sagte ein andrer. Keiner von ihnen sprach.
Was werden Sie nun tun? fragte Stockdale.
Ich möchte am liebsten nach Moynton zurück und wieder auf sie los! sagte
Lateiner.
Wir auch! stimmten seine Kameraden bei.
Kämpfen, bis wir fallen! sagte Latiner.
Wir auch, wir auch! sagten seine Leute.
Aber — sagte Latiner abgekühlter, als sie aus der Anpflanzung heraustraten,
wir wissen nicht, daß diese Kerls mit ihren geschwärzten Gesichtern aus Moynton
waren! Und zu beweisen hales schwer.
Das ist wahr, bestätigten die andern.
Und deshalb wollen wirs nur ganz bleiben lassen, fuhr Latiner gefaßt fort.
Was mich betrifft, so wär ich lieber in ihrer als in unsrer Haut. Die Schwielen
an meinen Armen brennen wie Feuer von den Stricken, womit die beiden Weibs¬
bilder mich festgebunden hatten. Wo ich mirs jetzt mit Muße bedenke, mein ich,
man kann es zu teuer bezahlen, wenn man der Regierung dient. Diese beiden
Nächte und Tage habe ich keine Stunde geschlafen, und so Gott will, gehen wir
jetzt nach Hause.
Die andern Beamten stimmten diesem Plan von Herzen zu, und nachdem sie
Stockdale für seine rechtzeitige Hilfe gedankt, trennten sie sich beim Kreuz von ihm
und schlugen die westliche Straße ein, während Stockdale nach Nieder-Moynton
zurückging.
Auf diesem Wege war der junge Geistliche in schmerzvollstes Sinnen verloren.
Sobald er ins Haus getreten war, wandte er sich, ehe er in seine Zimmer ging, nach
der Tür der kleinen Hinterstube, wo Lizzy gewöhnlich mit ihrer Mutter saß. Er
fand sie allein. Stockdale trat ein und sah wie ein Träumender auf den Tisch
nieder, der zwischen ihm und der jungen Frau stand, die noch in Hut und Mantel
war. Da er nicht sprach, sah sie mit bangem Blick von ihrem Stuhl zu ihm auf.
Wo sind sie hingegangen? sagte er darauf gedankenlos.
Wer? — Ich weiß nicht. Ich habe seitdem nichts von ihnen gesehen. Bin
geradeswegs hier hereingekommen.
Wenn es Ihren Leuten glückt, mit den Fässern zu entkommen, bringt es Ihnen
vermutlich bedeutenden Gewinn?
Ein Teil ist mein, einen bekommt mein Vetter Owlett, jeder von den Farmern
je einen, und ein Teil wird unter die Leute verteilt, die uns geholfen haben.
Und Sie meinen noch immer, fuhr er langsam fort, daß Sie dies Gewerbe
nicht aufgeben werden?
Lizzy stand auf und legte die Hand auf seine Schulter. Verlangen Sie das
nicht, flüsterte sie. Sie wissen nicht, was Sie fordern. Ich muß es Ihnen sagen,
obwohl ichs erst nicht wollte. Was ich hierbei verdiene, ist alles, was ich habe, um
meine Mutter und mich zu ernähren.
Er war erstaunt. Das hab ich nicht im Traum geahnt, sagte er. Wenn ich
Sie gewesen wäre, hätte ich lieber die Straßen gefegt. Was ist Geld gegen ein
reines Gewissen?
Mein Gewissen ist rein. Meine Mutter kenne ich, aber den König habe ich
nie gesehen. Seine Zölle gehn mich nichts an. Aber es ist sehr wichtig für mich,
daß meine Mutter und ich zu leben haben.
Heiraten Sie mich und versprechen Sie, es aufzugeben. Ich will Ihre Mutter
mit erhalten.
Es ist sehr gut von Ihnen, sagte sie ein wenig zitternd. Lassen sich mich
für mich allein bedenken. Ich möchte jetzt lieber nicht antworten.
Sie schob die Antwort bis zum nächsten Tage auf und kam mit feierlichem
Gesicht in sein Zimmer. Ich kann Ihren Wunsch nicht erfüllen! rief sie leiden¬
schaftlich. Es ist zu viel verlangt. Mein ganzes Leben hab ich so zugebracht. Ihre
Rede und ihr Benehmen zeigten, daß sie noch kurz vorher im stillen mit sich selbst
gekämpft hatte, und daß es ein harter Kampf gewesen war.
Stockdale wurde blaß, aber er sprach ganz ruhig. Dann, Lizzy, müssen wir
uns trennen. Ich kann in dieser Angelegenheit nicht gegen meine Grundsätze handeln,
und ich kann meinen Beruf nicht zum Gespött machen. Sie wissen, wie ich Sie
liebe, und was ich für Sie tun würde; aber dies eine kann ich nicht tun.
Aber warum müssen Sie diesem Beruf angehören? sprudelte sie heraus. Ich
habe dieses große Haus; warum können Sie mich nicht heiraten und hier mit uns
leben und nicht mehr Methodistenprediger sein? Ich versichre Sie, Richard, es ist
nichts Böses. Ich wünschte nur, Sie könnten es so ansehen wie ich. Wir tun es
nur im Winter, im Sommer überhaupt nicht. Und es bringt Abwechslung in das
eintönige Leben um diese Jahreszeit und Aufregung. Daran bin ich so gewöhnt,
daß ich gar nicht wüßte, wie ich jetzt noch ohne das leben sollte. Statt langweilig
und dumm drinnen zu hocken und acht zu geben, obs draußen windig ist oder
nicht, ist man doch in stürmischen Nächten wenigstens mit seinen Gedanken draußen,
wenn auch nicht in Person. Und man zerbricht sich den Kopf, ob die Jungens
durchkommen, und geht im Zimmer auf und ab und sieht aus dem Fenster. Und
schließlich geht man selbst hinaus und findet seinen Weg in der Nacht so gut wie
am Tage und streicht um ein Haar breit am alten Latiner und seinen Kameraden
vorbei, die zu dumm sind, als daß sie uns jemals erschrecken könnten, und die uns
nur ein bißchen flinke Beine machen.
Immerhin hat er Sie vorige Nacht doch ein bißchen erschreckt, und ich möchte
Ihnen raten, davon abzulassen, ehe es schlimmer wird.
Sie schüttelte den Kopf. Nein, ich muß weiter leben, wie ich angefangen habe.
Ich bin dazu geboren. Es liegt mir im Blut, und niemand kann mich davon
heilen. O, Richard, Sie können nicht denken, wie Schweres Sie gefordert haben,
und wie Sie mich in Versuchung führen, da Sie mich zwischen diesem und meiner
Liebe zu Ihnen wählen lassen!
Stockdale lehnte mit dem Ellbogen auf dem Kaminsims, die Augen mit den
Händen bedeckt. Wir sollten einander nie begegnet sein, Lizzy, sagte er. Es war
ein Unglückstag für uns! Wie konnte ich denken, daß etwas so Hoffnungsloses und
Unmögliches in unser Verlöbnis treten würde wie dies. Ach, es ist zu spät, die
Folgen in dieser Weise zu bedauern. Wenigstens ist mir das Glück zuteil geworden,
Sie zu sehen und zu kennen.
Sie dissentieren von der Kirche, und ich dissentiere vom Staat, sagte sie. Und
ich sehe nicht ein, wieso wir nicht gut zueinander passen.
Er lächelte trübe, während Lizzy mit gesenkten Blicken stand und leise an zu
weinen fing.
Das war ein unglücklicher Abend für die beiden, und die Tage, die folgten,
waren unglückliche Tage. Beide gingen mechanisch ihren Beschäftigungen nach, und
seine niedergeschlagne Stimmung wurde von manchem in seiner Gemeinde, mit dem
er in Berührung kam, bemerkt. Doch daß Lizzy, die sich tagelang zu Hause hielt,
die Ursache sein könnte, wurde nicht vermutet. Denn man nahm allgemein an. daß-
zwischen ihr und ihrem Vetter Owlett eine heimliche Verlobung bestünde, und das
schon seit längerer Zeit.
So ging eine Woche in Ungewißheit hin, bis eines Morgens Stockdale zu
ihr sagte: Ich habe einen Brief bekommen, Lizzy. Ich muß Sie schon so anreden,
bis ich weg bin.
Weg? sagte sie bestürzt.
Ja, sagte er. Ich gehe von hier weg. Ich fühle, es ist besser für uns beide,
wenn ich nicht hierbleibe nach dem, was geschehn ist. Wirklich, ich könnte nicht
hier bleiben und Sie tagtäglich sehen, ohne in meinen Vorsätzen schwach und wankend
zu werden. Ich habe eben Nachricht: es läßt sich einrichten, daß der andre Prediger
in einer Woche hier sein kann, und dann kann ich anders wohin gehn.
Daß er all die Zeit so fest in seinem Beschluß beharrt hatte, überkam sie als
schmerzliche Überraschung. Sie haben mich nie geliebt! sagte sie bitter.
Ich könnte dasselbe sagen, gab er zurück, aber ich will es nicht. Tun Sie
mir eines zuliebe. Kommen Sie, meine letzte Predigt zu hören am Tage, ehe ich
fortgehe.
Lizzy, die Sonntags Morgens zur Kirche ging, besuchte Abends gleich den
übrigen Wankelmütigen häufig Stockdales Kapelle; so versprach sie es ihm.
Es wurde bekannt, daß Stockdale fortgehn würde, und auch außerhalb seiner
Sekte tat es vielen leid. Die dazwischen liegenden Tage waren rasch verflogen,
und an dem Sonntagabend, der seiner Abreise voranging, saß Lizzy in der Kapelle,
um ihn zum letztenmal« predigen zu hören. Das kleine Gebäude war überfüllt,
und er wählte ein Thema, das alle erwartet hatten, den Schleichhandel, der in
so großer Ausdehnung von ihnen betrieben wurde. Seine Hörer, die sich seine
Worte zu Herzen nahmen, merkten nicht, daß sie hauptsächlich an Lizzy gerichtet
waren, bis die Predigt bewegter wurde, und Stockdale vor Aufregung beinahe
zusammenbrach. Seine eigne ernste Überzeugung und ihre traurigen Augen, die
zu ihm aufschauten, waren in Wahrheit zuviel für die Selbstbeherrschung des jungen
Mannes. Er wußte kaum, wie er zu Ende kam. Wie durch einen Nebel sah er
Lizzy sich umdrehn und rin den übrigen Versammelten hinnusgehn, und bald nach¬
her folgte er ihr nach Hanse.
Sie lud ihn zum Abendbrot ein, und sie saßen allein beieinander, denn ihre
Mutter war, wie meist an Sonntagabenden, zeitig zu Bett gegangen.
Wir wollen als Freunde scheiden, nicht wahr? sagte Lizzy mit erzwungner
Heiterkeit und ohne ein einziges mal seine Predigt zu erwähnen — eine Zurückhaltung,
die ihn etwas enttäuschte.
Das wollen wir, sagte er und lächelte nun anch gezwungen. Damit setzten
sie sich zu Tisch.
Es war die erste Mahlzeit, die sie in ihrem Leben geteilt hatten, und möglicher¬
weise die letzte, die sie jemals teilen würden. Als sie beendet war, und das gleich-
giltige Gespräch nicht länger aufrecht zu erhalte» war, stand er auf und nahm
ihre Hand. Lizzy, sagte er, wollen sich wirklich, daß wir uns trennen —
wollen sich?
Sie wolleus, sagte sie feierlich. Ich kann nichts weiter sagen.
Ich auch nicht, sagte er. Wenn dies Ihre Antwort ist, dann leben Sie wohl!
Stockdale beugte sich über sie und küßte sie, und unwillkürlich erwiderte sie
seinen Kuß. Ich reise früh, sagte er hastig. Ich werde Sie nicht wieder sehen.
Und er reiste in der Frühe ab. Als er in das graue Morgenlicht hinaus¬
trat, um den Wagen zu besteigen, der ihn hinweg tragen sollte, wars ihm, als
wenn er zwischen den geteilten Vorhängen von Lizzys Fenster ein Gesicht sähe; aber
das Licht war ungewiß, die Scheiben glitzerten von Nässe, so war er nicht sicher,
ob er recht gesehen habe. Er bestieg das Fuhrwerk und war fort. Am folgenden
Sonntag sprach in der Kapelle der Moynton Wesleyaner der neue Prediger.
Zwei Jahre nach der Trennung kam Stockdale, der jetzt in einer mittel¬
englischen Stadt ansässig war, in der damals üblichen Weise mit Fuhrwerk durch
Nieder-Moynton. Den ganzen Nachmittag über im Wagen hin und her geschüttelt^
hatte er allerlei Fragen an den Fuhrmann gestellt, und die Antworten, die er bekam,^
hätten ihn lebhaft interessiert. Das Resultat davon war, daß er ohne das leiseste
Zaudern auf die Tür seiner frühern Wohnung zuging. Es war gegen sechs Uhr
Abends um dieselbe Jahreszeit, wo er damals fortgegangen war. Auch jetzt war
das Erdreich feucht und glänzend, im Westen lag ein Heller Schimmer, und Lizzys
Schneeglöckchen in der Rabatte unter der Mauer hoben die Köpfchen.
Lizzy mußte ihn vom Fenster gesehen haben, denn als er die Tür erreicht
hatte, war sie schon da und hielt sie offen. Dann, wie wenn sie ihr Heraus¬
kommen nicht recht überlegt hätte, trat sie zurück und sagte etwas gezwungen:
Herr Stockdale!
Sie wußten, daß ichs war, sagte Stockdale, ihre Hand fassend. Ich schrieb,
daß ich kommen würde.
Ja, aber Sie sagten nicht, wann, antwortete sie.
Nein. Ich war nicht sicher, wann meine Angelegenheit mich in diese Gegend
führen würde.
Sie kommen nur, weil Sie hier zu tun haben?
Eigentlich ja. Aber ich habe oft gedacht, wie gern ich kommen möchte, eigens
um Sie wiederzusehen.... Aber was ist das alles, was hier geschehn ist? Ich
sagte Ihnen, was daraus werden würde, Lizzy, aber Sie wollten nicht auf mich
hören.
Ich wollte es nicht, sagte sie traurig. Aber zu diesem Leben war ich erzogen,
es war mir zur zweiten Natur geworden. Jetzt aber ists vorbei damit. Die Be¬
amten bekommen Blutgeld, wenn sie einen Mann tot oder lebendig fangen, und
unser Geschäft wird zugrunde gerichtet. Sie haben uns gehetzt wie Ratten.
Owlett ist fort, wie ich höre.
Ja. Er ist in Amerika. Das gab damals einen schrecklichen Kampf, das letzte¬
mal, als sie ihn zu fangen versuchten. Wirklich, ein Wunder ists, daß er das
überlebt hat, und daß ich nicht erschossen wurde. Sie trafen mich in die Hand.
Hatten nicht auf mich gezielt, sondern der Schuß war für meinen Vetter bestimmt;
aber ich stand hinter ihm und sah wie gewöhnlich zu, und da bekam ich die Kugel.
Es blutete schrecklich, aber ich schleppte mich nach Hause, ohne ohnmächtig zu werden;
und nach einer Weile heilte es. Sie wissen, wie er zu leiden hatte?
Nein, sagte Stockdale. Ich hörte nur, daß er knapp mit dem Leben davon kam.
Er war in den Rücken geschossen worden, aber die Kugel sprang an einer
Rippe ab. Schwer verletzt war er. Wir wollten ihn nicht in ihre Hände fallen
lassen. Da trugen ihn die Männer die ganze Nacht hindurch über die Wiesen nach
Kingsbere, versteckten ihn in einer Scheune und verbanden seine Wunde, so gut
sie konnten, bis er so weit geheilt war, daß er sich wieder bewegen konnte. Seine
Mühle hatte er schon seit einiger Zeit aufgegeben; und schließlich entkam er nach
Bristol und kaufte eine Überfahrt nach Amerika. Er ist in Wisconsin angesiedelt.
Wie denken Sie jetzt über das schmuggeln? fragte der Prediger ernst.
Ich gebe zu, daß wir im Unrecht waren, sagte sie. Aber ich habe auch dafür
gebüßt. Ich bin jetzt sehr arm, und meine Mutter ist seit einem Jahre tot. Aber
wollen Sie nicht näher treten, Herr Stockdale?
Stockdale ging hinein, und vermutlich wurden sie einig. Denn vierzehn Tage
später wurden Lizzys Möbel verkauft, und danach gab es eine Trauung in einer
Kapelle der benachbarten Stadt.
Er führte sie hinweg von ihren alten Schlupfwinkeln in das Heim, das er
sich in der Grafschaft, wo er geboren war, bereitet hatte, und sie lernte mit lobens¬
wertem Fleiß ihre Pflichten als Frau eines Geistlichen. Man erzählt, daß sie in
spätern Jahren ein treffliches Traktat schrieb, betitelt „Gib dem Cäsar; oder die
reuigen Landleute". Darin war, was sie selbst erlebt hatte, ohne Namennennung
für die einleitende Geschichte verwertet. Stockdale ließ es drucken, nachdem er einige
Korrekturen vorgenommen und ein paar eigne kraftvolle Sätze hinzugefügt hatte;
und viele hundert Exemplare wurden von dem Paare im Laufe ihres Ehelebens
Längere Zeit hat das nördliche Grenzgebiet des Reichs die Aufmerksamkeit der
fernab wohnenden deutschen Landsleute nur wenig in Anspruch genommen. Vor
Jahren, als Herr von Köller das Oberpräsidium der Provinz Schleswig-Holstein
übernahm, war das anders gewesen. Damals stritt man sich lebhaft um die Zweck¬
mäßigkeit des Kurses, den der neue Oberpräsident eingeschlagen hatte. Die feste
Hand, mit der er die Zügel führte und die maßlose Agitation der Dünen in ihre
Schranken wies, erschreckte die weichmütigen Seelen, die von der wirklichen Lage
in der Nordmark des Reichs nur nebelhafte Vorstellungen hatten, indessen das Be¬
dürfnis empfanden, ihre Prinzipien auch in dieser Frage zur Geltung zu bringen.
Überdies wirkte der Name des Herrn von Köller bei gewissen Leuten wie das rote
Tuch auf den Kampfstier; was er tat, mußte selbstverständlich grundverkehrt sein;
man kannte es nicht, aber man mißbilligte es. Wirklich schienen die guten Leute
zu glauben, daß Herr von Köller in seiner Provinz die Rolle des Herzogs Alba
in den Niederlanden spiele. Unterdessen blickten die Deutschen in Nordschleswig
mit dankbarem Vertrauen zu ihrem Oberpräsidenten auf, und auch die Dänen, soweit
sie besonnene und vernünftige Leute waren und sich gegenüber den fanatischen
Führern der dänischen Hetzpartei ein eignes Urteil erlauben konnten, fanden ihn
so übel nicht, den wohlwollenden, vornehm denkenden Herrn, der jedem sein Recht
ließ, aber allerdings in Fragen der Staatsautorität keinen Spaß verstand. Nur
die freisinnige Presse der Provinz schimpfte anstandshalber ein bißchen weiter, aber
eigentlich nur um ihre Parteigenossen im Reich, die ja von Berufs wegen auf den
„Reaktionär" Köller schimpfen mußten, nicht zu arg zu blamieren; bös war es
nicht gemeint. Als einige Zeit später das „Berliner Tageblatt" einen eignen
Korrespondenten nach Nordschleswig schickte, um in farbenprächtigen Schilderungen
das Mitleid des liberalen Deutschlands mit den gemißhandelten dänischen Brüdern
wachzurufen, da ging es dem Manne wie dem Propheten Bileam. Er war aus¬
gezogen, um zu fluchen, und siehe da, er segnete! Denn wahrheitsgetreu mußte er
berichten, daß von einem Druck, der auf die Dänen angeblich ausgeübt werden
sollte, gar nicht die Rede war. So beruhigte man sich allmählich über den Kurs
der preußischen Dänenpolitik, und als nun Herr von Köller, dessen Persönlichkeit
dem rechtgläubigen Liberalismus natürlich trotzdem ein Greuel geblieben war, nach
Elsaß-Lothringen ging und in Schleswig-Holstein Herrn von Wilmowski Platz
machte, da sprach man kaum noch von der Sache, obwohl der neue Oberpräsident
die Praxis seines Vorgängers beibehielt und nur deshalb milder erschien, weil die
Politik schon ihre Wirkungen getan und die Agitation vorsichtiger gemacht hatte.
Der einzige dänische Abgeordnete im Deutschen Reichstage — bis zum vorigen
Jahre war es der inzwischen verstorbne Abgeordnete Jessen — hielt zwar pflicht¬
schuldig jedes Jahr seine Anklagerede gegen die Preußische Regierung wegen Ver¬
gewaltigung der dänisch sprechenden Nordschlesmiger, aber das machte wenig Ein¬
druck, und nur die für jede kleine Sensation dankbaren Tribünen nahmen davon
Notiz, weil es dabei nicht selten einen Ordnungsruf setzte. So schien die nord-
schleswigsche Frage zu denen zu gehören, die der nationale Politiker zwar mit
Interesse verfolgte, die aber kaum zu besondern Erörterungen Anlaß gab.
Nun ist diese Frage doch wieder in den Vordergrund getreten und hat in
gut nationalen Kreisen eine gewisse Aufregung hervorgerufen, weil man in ver-
schiednen Vorgängen der letzten Zeit einen Kurswechsel zu erkennen glaubte. Wie
ist nun die Lage zu beurteilen?
Die Deutschen in Nordschleswig urteilen begreiflicherweise aus den Erfahrungen
heraus, die sie in ihrer nächsten Umgebung alltäglich machen. Sie sehen die An¬
strengungen einer fremden Nationalität, mit Anmaßung und Fanatismus ihr ver¬
meintliches Recht in einem deutschen Lande zu behaupten. Sie sehen sich von einer
fremden Minderheit beständig in ihren heiligsten Empfindungen als Deutsche und
Staatsbürger verletzt. Sie sehen endlich mit Ingrimm, daß ihre Nation, der das
Land gehört, von jenem fanatischen Häuflein in eine Verteidigungsstellung gedrängt
wird. Kein Wunder, daß sie empfindlich werden gegen alles, was nach einem
Rückzug der Staatsregierung aussieht. Unwillkürlich ziehen sie Vergleiche mit andern
Grenzgebieten des Deutschen Reichs, und so erscheint ihnen ihre Lage ähnlich wie
die der bedrängten Deutschen in den Ostmarken.
Hierin liegt nun allerdings doch ein Irrtum, der sehr ins Gewicht fällt.
Man kann die polnische und die dänische Minderheit nicht ohne weiteres mit¬
einander vergleichen. Die Polen erstreben die Wiederherstellung der selbständigen,
politischen Geltung ihrer Nation, die sie verloren haben. Die Dänen dagegen bilden
einen unabhängigen Staat, der innerhalb des europäischen Staatensystems allgemein
anerkannt ist. Es braucht nicht erst ein Dänemark geschaffen zu werden, wie ein
neues Polen geschaffen werden müßte, wenn man die Wünsche der polnischen Nation
erfüllen wollte. Will also Dänemark eine Änderung in der Lage der außerhalb
seiner anerkannten Grenzen wohnenden Dänen herbeiführen, so muß es sich dazu
der Mittel bedienen, die jedem unabhängigen Staate zu Gebote stehen, das heißt
es muß entweder in Verhandlungen eintreten, um zu einem Vertrag zu gelangen,
oder es muß Krieg führen. Es ist also eine Macht vorhanden, die die volle, freie
und legitime Verantwortung für alle Entschlüsse übernehmen kann, die in der
Richtung der nationalen Wünsche liegen. Wie weit das wirklich geschieht, kommt
hier nicht in Betracht. Für die Polen liegt jedenfalls die Sache anders. Für
sie gibt es keine Macht, die im Namen der ganzen Nation verhandeln oder Krieg
führen kann. Hier gibt es nur den Weg der illegitimen Auflehnung gegen die
bestehende Staatszugehörigkeit.
Mit andern Worten: die Polenfrage ist für jeden der beteiligten Staaten
zunächst eine interne Frage; die nordschleswigsche Frage dagegen berührt die Be¬
ziehungen zu einem unabhängigen Nachbarstaat, kann also nicht ganz losgelöst
werden von den Rücksichten und Interessen der auswärtigen Politik.
Es braucht hier nicht zergliedert zu werden, welche Gründe für Deutschlands
auswärtige Politik vorliegen, mit dem kleinen Nachbarstaat im Norden, dessen Be¬
völkerung, der südlichste Stamm der Nordgermanen, der niederdeutschen Art so
nahe steht, gute Beziehungen zu Pflegen. Die Feindschaft zwischen Deutschen und
Dänen hat etwas Unnatürliches. Obwohl beide Völker im Mittelalter harte
Kämpfe ausgefochten haben, ist ein wirklicher Haß der Nationen niemals daraus
entstanden. Erst im neunzehnten Jahrhundert gewann die Schleswig-holsteinische
Frage ihre für Dänemark bedrohliche Gestalt. Der ohnehin kleine Staat mußte
den Verlust von fast einem Drittel seines damaligen Gebiets gewärtigen. Unter
dem Druck dieser Gefahr wuchs der Trotz und der Ehrgeiz der Nation. Sie
suchte gewaltsam festzuhalten, was ihr zu entschlüpfen drohte, wenn das alte Recht
Bestand haben sollte. Und nun fingen die Dänen an, in Schleswig-Holstein die
Herren zu spielen, und zwar die harten, eifrigen, brutalen Herren, die am liebsten
das Land über Nacht dänisch gemacht hätten. Mittlerweile aber war auch das
deutsche Nationalgefühl erwacht, und gerade die Schleswig- holsteinische Frage sollte
es sein, an der es sich immer mehr aufrichtete. Das fühlten die Deutschen in der
Nordmark sehr wohl, und mutig nahmen sie den Kampf um ihr gutes Recht auf.
Von den Dänen aber wurden sie immer leidenschaftlicher unterdrückt und als Re¬
bellen oder Verräter behandelt. In dieser Zeit wuchs der Haß zwischen Deutschen
und Dänen, bis die Kanonen die letzte Entscheidung brachten und das deutsche
Land endgiltig von Dänemark lösten. Seitdem sind 43 Jahre vergangen, und
nichts ist geschehen, was auch nur im geringsten als ein Anzeichen gedeutet werden
könnte, daß über das Schicksal Schleswig-Holsteins noch nicht das letzte Wort ge¬
sprochen wäre. Den Völkern sind neue und bessere Aufgaben gestellt, als in un¬
fruchtbarem Groll über die Vergangenheit auch dann nebeneinander herzugehn,
wenn Vernunftgründe und Rassenverwandtschaft in gleichem Maße dafür sprechen,
daß man in Zukunft Hand in Hand geht.
In der Tat beginnen in den maßgebenden Kreisen des unabhängigen dänischen
Staats die Wunden zu verharschen, die dem Selbstgefühl des stolzen, zähen und
ehrliebenden Volks geschlagen worden sind. Zwischen den beiden Herrscherhäusern
besteht schon eine herzliche Freundschaft, und auch sonst wächst im dänischen Volke
die Einsicht von der Nutzlosigkeit und Sinnlosigkeit des alten Grolls gegen die
geistesverwandte, mächtig aufstrebende Nachbarnation. Auf dieser Grundlage ist der
vielbesprochne „Optantenvertrag" zustande gekommen. Er bedeutet eine Anerkennung
des gegenwärtigen Besitzstandes, wie sie in vorbehaltloser-Form bisher von der
offiziellen dänischen Staatsgewalt noch nicht ausgesprochen worden war. Dafür hat
die deutsche Regierung einen Beweis vertrauensvollen Entgegenkommens gegeben,
indem sie die bisher in staatsrechtlichen Sinne heimatlosen Optantenkinder in den
preußischen Staatsverband aufnahm.
Das war ein Schritt, der vom Standpunkt einer weiterschauenden, großen
Politik aus gebilligt werden muß. Daß es in Dänemark auch intrcmsigente Stimmen
gibt, die von Versöhnung nichts wissen wollen, und die sich in der haltlosen Be¬
hauptung gefallen, der Verzicht auf den nördlichen Teil von Schleswig sei in dem
Vertrage von Dänemark gar nicht ausgesprochen worden, kann an diesem Urteil
nichts ändern.
Nun sehen wir aber auch die Deutschen Nordschleswigs nicht nur von starker
Besorgnis erfüllt, sondern zu einem großen Teil geradezu erbittert und tief gekränkt
und entmutigt. Haben sie ein Recht zu dieser Auffassung?
Wir haben der Leitung der auswärtigen Politik unbedingt Recht gegeben,
daß sie die Gelegenheit, die Beziehungen zwischen Deutschland und Dänemark wieder
auf einen gesunden Boden zu stellen, nicht von der Hand gewiesen hat. Aber wenn
wir den Zusammenhang der nordschleswigschen Frage mit den Rücksichten der aus¬
wärtigen Politik stark betont haben, so ist damit nicht gesagt, daß die Frage nur
von diesem Gesichtspunkt aus anzusehen ist. Sie ist vielmehr zugleich eine interne
Frage des preußischen Staats. Insofern hatten die deutschen Nordschleswiger ein
Recht darauf, daß die Empfindungen dieser kampfmutigen und treu ausharrenden
Männer geachtet wurden. War es nötig, nach dem Abschluß des Optantenvertrages
die „Politik der festen Hand", die nachgerade die Billigung aller Deutschen von
fester, nationaler Gesinnung gefunden hatte, aufzugeben? War es richtig, die
Herausforderungen der inländischen dänischen Agitatoren, den frechen Hohn, mit
dem sie sogar die dänische Regierung direkt zu einer illoyalen Auslegung und Hand¬
habung des geschlossenen Vertrages aufforderten, mit Versöhnungs- und Verbrüde¬
rungsversuchen und mit gänzlich überflüssigen Liebenswürdigkeiten zu beantworten?
Man wird auf diese beiden Fragen ruhig mit Nein antworten können. Die Pflege
der guten Beziehungen zu Dänemark, die loyale Ausführung des Vertrags, die
gerechte Behandlung der preußischen Staatsbürger dänischer Zunge schließen durch¬
aus nicht die Notwendigkeit ein, daß der preußische Staat von seinen besten Tradi¬
tionen abweicht und seine Autorität einer unverschämten Agitation Preisgibt. Die
„feste Hand" bedeutet kein Schema, das etwa eine rauhe, ungerechte Behandlung
der dänisch sprechenden Bevölkerung mit sich brächte; sie ist durchaus vereinbar mit
den Rücksichten, die die hohe Politik fordert, denn sie geht ja nicht angriffsweise
vor, sondern ist nur die natürliche Gegenwirkung der Staatsgewalt gegen die Tätig¬
keit der Agitatoren, die auch die dänische Regierung im Grunde nur kompro¬
mittieren, ohne ihr zu nützen. Nachdem der preußische Staat, dem Optantenvertrag
gemäß, eine nicht unbeträchtliche Anzahl national unzuverlässiger Elemente in seinen
Staatsverband aufgenommen, sich selbst freiwillig die Möglichkeit der Ausweisung
dieser Elemente abgeschnitten und so das Gleichgewicht zuungunsten der deutschen
Bevölkerung verschoben hatte, konnte er um so mehr mit ruhigem Gewissen die
Wirkung seines Entgegenkommens abwarten und den dänischen Hetzaposteln genau
in dem Maße entgegentreten, wie sie es selbst herausforderten. Mau war das
gerade unter diesen Umständen den Deutschen schuldig. Es ist gewiß recht gut,
wenn nicht der Eindruck entsteht, als ob das Dänentum nur durch besondre Ma߬
regeln der Regierung in Schranken gehalten werde. In Wahrheit liegt die Sache
so, daß das Deutschtum in Nordschleswig aus natürlichen Gründen im Vordringen
begriffen ist, und die Leidenschaftlichkeit und der Fanatismus der nordschleswigschen
Dänenführer erklärt sich gerade dadurch, daß sie sehr deutlich das Gefühl der Ohn¬
macht gegenüber einem unaufhaltsamen Entwicklungsprozeß haben. Die Deutschen
werden und können daher gern auf besondre Hilfe und künstliche Förderung durch
die Regierung verzichten. Aber in dem Augenblick, wo die feindliche Agitation
mit besondrer Gehässigkeit einsetzt, um die Wirkungen der beginnenden Versöhnung
und Beruhigung zu hintertreiben, sollte die Regierung gerade der unabhängigen
deutschen Bevölkerung freies Spiel lassen, nicht aber an dieser Stelle das Gefühl
erzeugen, daß die Regierung sie nicht nur im Stich läßt, sondern ihr auch in den
Arm fällt.
Wir sind also der Meinung, daß der neue Oberpräsident von Bülow — sein
in den Bahnen der Herren von Koller und von Wilmowski wandelnder Vorgänger
von Dewitz ist leider aus dem Dienst geschieden — einen schweren Fehler begangen
hat, als er eben jetzt den Augenblick für gekommen hielt, denselben Dänen, die
soeben noch der Staatsautorität ins Gesicht geschlagen hatten und wieder einmal
bis an die Grenze des Landesverrats gegangen waren, die Arme noch weiter zu
öffnen, als es ohnehin schon geschehen war, und diesen „Brüdergruß" mit einer
recht wenig angebrachten Ermahnung an die Deutschen zu begleiten. Er setzte sich
dadurch zunächst einer persönlichen Niederlage aus, denn sein Appell wurde von
den Deutschen, an die die Rede gerichtet war, mit vielsagendem Schweigen auf¬
genommen, während die folgende mannhafte und dabei besonnene Erklärung des
Grafen Rauchen mit dem alten deutschen Kampfliede der Nordmark: „Schleswig-
Holstein meerumschlungen" beantwortet wurde. Die weitere Folge der Rede des
Oberpräsidenten wird aber auch eine Verschärfung der Kampfstimmung sein, da
dem Übermut der Dänen die Erbitterung der Deutschen entspricht. Das ist das
Gegenteil von dem, was erreicht werden sollte. Ein festes Auftreten würde den
Zwecken der auswärtigen Politik besser gedient haben, denn die dänischen Hetzer
arbeiten ja gerade diesem Ziel entgegen und vertreten keineswegs die Bedürfnisse
und Interessen der friedlichen dänischen Bevölkerung. Hoffentlich sieht man das
noch rechtzeitig ein, denn wenn auch keine Gefahr für den Verlust dieses Grenz¬
gebiets besteht, so gehen doch von den dortigen Zuständen Rückwirkungen aus, die
im nationalen Interesse vermieden werden müssen. Das straffere Anziehen der
Zügel braucht nicht in einer Weise zu geschehen, die — wie einst bei Herrn von
Koller — Aufsehen und Widerspruch aus parteipolitischer Gründen weckt; man
kann die mildeste Form wählen, aber das Prinzip muß gewahrt werden.
Eine englische Übersetzung des Buches
von Aosaburo Takekoshi „Japanische Herrschaft auf Formosa" ist soeben bei Longmans
Green Co. erschienen, zu der Baron Shimpei Golo die Einleitung geschrieben
hat. Das japanische Experiment in Formosa ist für alle kolonisatorischen Mächte
von großem Interesse — namentlich auch da die aus Korea kommenden Nachrichten in
keiner Weise schmeichelhaft für die östliche Großmacht klingen —, sodaß wir, da das Buch
Takekoshis uns noch nicht zugänglich ist, einiges darüber amerikanischen und englischen
Wochenschriften entnehmen, von denen die amerikanischen gewiß den Japanern gern
etwas am Zeuge sticken wollen. Japan soll als kolonisatorische Macht beurteilt
werden, das ist der Zweck des Buches Takekoshis; aber da es natürlich ist, daß
der japanische Patriot darauf ausgeht, die Situation so schön wie möglich zu färben,
so müssen seine Schlüsse mit einer gewissen Reserve aufgenommen werden. Einst
wird Korea erzählen, was Japan in der Kolonisation leisten kann, sodaß ein
endgiltiges Urteil doch erst in Dekaden gefällt werden kann; vorerst spricht Formosa
allerdings zu Japans Gunsten, namentlich in finanzieller Hinsicht. Fast sieht es
aus, als ob die neue Großmacht bis 1910 alle auf Formosa ausgegebnen Millionen
wieder daraus hervorgeholt haben würde, ein Umstand, der wohl berechtigt ist, die
Amerikaner eifersüchtig zu machen, wenn sie an die für die Philippinen verschleuderten
Millionen denken, die unrettbar verloren sind. Was Eisenbahnen und Straßen, Telegraph
und Telephon und endlich Sanierung betrifft, so sind in der Tat gewaltige Fort¬
schritte auf Formosa gemacht worden. Es herrscht wirklich Ordnung auf der großen
Insel; und das sprichwörtliche junge Mädchen kann allein sicher dort reisen, selbst¬
verständlich abgesehen von den unzivilisierten Teilen, wo jetzt mit militärischer Macht
gegen die Eingebornen vorgegangen wird. Allerdings darf auch nicht vergessen
werden, daß der finanzielle Erfolg der japanischen Negierung nicht zum kleinen
Teil auf dem Opium-, Salz- und Kampfermonopol beruht. Eine Reform des
Gerichtswesens muß auch noch angebahnt werden. Takekoshis Buch enthält eine
ausgezeichnete historische Schilderung von Formosas Vergangenheit und eine
geographische Schilderung der Insel sowie eine Statistik ihrer Bodenschätze. In
dieser Eroberungsperiode ist es von Interesse, daß man die Anzahl der auf
Formosa lebenden Wilden festzustellen versucht hat.
An einer andern Stelle von liis Melon lesen wir darüber: Die Nachricht der
rimss, daß Japan achttausend Mann nach Formosa schickt, um die wilden Stämme
an der Ostküste von Formosa zu unterwerfen, zeigt, daß man von der Politik des
frühern Generalgouverneurs Viscount Kodmna abzuweichen gedenkt. Er hatte es
unternommen, diese Schwierigkeit zu lösen, indem er die Eingebornen sich selbst
überließ; Macht wurde nur angewandt, wenn die Eingebornen versuchten, ihre
Gebiete zu verlassen. Der zivilisierte Teil der Insel ist durch eine Grenze von
Blockhäusern geschützt, einem wahren japanischen Limes; und Viscount Kodmna hatte
die Absicht, hier noch im westlichen Teil weiterzukommen, ehe er an die Unterwerfung
der Wilden denken wollte. Japan hat das Gefühl, daß es in Formosa als kolonisatorische
Macht vor dem Gericht der Öffentlichkeit steht, und daß nach seinen dortigen Er¬
folgen seine Bestrebungen in Korea und der Mandschurei beurteilt werden würden.
Die Japaner sind von einer ganz besondern Empfindlichkeit gegenüber fremdem
Urteil; sie wollen darum ihre Leistungen auf Formosa genau gewürdigt haben,
wozu neben dem erwähnten erschöpfenden Buche von Takekoshi die japanischen
Blaubücher stets Gelegenheit gegeben haben. Man darf also wirklich sagen, daß
Japan auf vieles, was auf der Insel geschehen ist, stolz sein kann. Das Raub¬
unwesen, der Fluch der Jahrhunderte, ist beseitigt; die Zivilverwaltung war durch
Viscount Kodcima bald an Stelle des militärischen Gouvernements gesetzt worden.
Wenn man Formosa noch heute „die Insel der Schutzleute oder Polizeidiener"
nennen kann, so ist doch zu bemerken, daß diese Policemen dem Generalgouvemeur
direkt verantwortlich sind. Gewiß sind die Steuern unter der japanischen Herrschaft
bedeutend höher geworden; aber dies wird wohl dadurch aufgewogen, daß die
Zahlungen an die Briganten und die korrupten Beamten Chinas aufgehört haben,
daß Eisenbahnen und Straßen gebaut, Leben und Eigentum gesichert sind. Dazu
erhält der Pflanzer weit bessere Preise für seinen Reis, die Löhne sind höher, und
die Gelderwerbs- und Geschäftsmöglichkeiten sind gewachsen. Im Jahre 1904 hat
Japan den letzten Zuschuß zu der Verwaltung der Insel gezahlt, jetzt steht sie auf
eignen Füßen, und 1910 hofft Japan, wie schon bemerkt worden ist, sein Geld
wieder herausbekommen zu haben, ganz abgesehen von den dein Mutterlande für
alle Zeiten zuteil gewordnen Handelsvorteilen.
Im Jahre 1899 brachte Formosa 20529000 Bushels Reis hervor. 1904 sind
daraus 41598000 Bushels, mehr als das Doppelte, geworden. Die Eisenbahnen
mit 400 Kilometern Ausdehnung — gegen 95 — zahlen sich selbst; 9000 Kilo¬
meter gute Straßen, fast alle zwischen 1899 und 1902 gebant, durchziehen das
Land. Drahtloser Telegraph und Telephon sind eingeführt worden, und 3000 Kilo¬
meter Telegraphenlinien sind in Funktion. Hat nun auch Japan den besten
Beweis dafür geliefert, daß es eine kolonisierende Nation sein darf: liefert es eine
gerechte Negierung für Formosa, und sind die Jnselbewohner zufrieden? Takekoshi
sagt: „Neues Territorium kann durch das Schwert gewonnen werden, aber ohne
daß die erobernde Nation die Eigenschaften hat, die für die weise Administration
ihrer Besitzungen ein Bedürfnis sind, muß Enttäuschung und Auflösung unbedingt
folgen." Takekoshi läßt merken, daß die Erfolge Japans auf Formosa das Reich in
die Gemeinschaft der großen Kolonialmächte der Erde aufnehmen, er zweifelt nicht,
an dem endlichen Glück der Formoscmer unter japanischer Herrschaft, gerade so wie
er das Regierungsmonopol auf Salz, Kampfer und die ganze Tabakindustrie ver¬
teidigt. Klug genug wären ja auch die Japaner, wenn sie die folgende Maxime
verfolgten: „Jeder Versuch, unsre Gewohnheiten und sozialen Institutionen den
Formoscmer» aufzuzwingen und sie nach japanischem Modell umzuformen, wird unsre
Politik nur Gefahren aussetzen und uns in der Kolonisation der Insel gar keinen
Nutzen bringen. Vergessen wir nicht, daß der Erfolg in der Kolonisation von
Tropenländern darin liegt, daß man das Vertrauen der Eingebornen durch liberale
und weise Administration und ihre Heranziehung zur loyalen Mitarbeit gewinnt."
Wahre und beherzigenswerte Worte, die die Japaner hier für tropische Kolonial¬
gebiete — und nicht bloß ihre eignen — aussprechen: in Korea und der Mandschurei,
als nichttropischen Gebieten, machen sie auch wirklich keinen Gebrauch davon, und der
Ausblick auf die japanischen Erfolge in Korea ist ebenso düster, als er für Formosa
hell erscheint.
An der Leipziger Universität ist die
Bildung eines Seminars sür Kultur- und Universalgeschichte im Gange. Lamprecht,
der Schöpfer der neuen Einrichtung, ist schon seit mehreren Jahren dabei, von den
Studien und der Darstellung der deutschen Geschichte zu einer einheitlichen, psychologisch¬
historischen Erfassung der Entwicklung der Erdenvölker überzugehen. Das neue
Seminar soll zugleich dieser in ihrer gründlichen Art ersten Weltgeschichtsforschung
dienen und ihren Teildisziplinen, den Kulturgeschichten einzelner Nationen. Wir
wünschen heute hier auf einige literarische Vorposten dieser verheißungsvoller Be¬
strebungen aufmerksam zu machen. Lamprecht gibt neuerdings in zwei Serien die
besten der Arbeiten seiner Schüler heraus. Bei Perthes erscheinen „Geschichtliche
Untersuchungen" — darin volkspsychologisches, wie die guten Studien von Arms
„Das Tiroler Volk in seinen Weistümern", Markgraf „Das moselländische Volk in
seinen Weistümern" und Brandt „Der Bauer im Herzogtum Sachsen-Altenburg" —
und eine Anzahl trefflicher Untersuchungen zur Geschichte des historisches Denkens
(zum Beispiel über Mosheim, Gervinus, Luden, Boden, Abbe). Die andre Reihe
heißt geradezu „Beiträge zur Kultur- und Universalgeschichte" (Voigtländer), hebt
an mit einer verständigen, großzügigen und frisch geschriebnen Arbeit über Goethe
als Geschichtsphilosoph, die das Thema viel weiter und tiefer faßt als die wohl
manchem unsrer Leser bekannten Schriften von Wegele und Lorenz, und läßt dann
unter anderm zwei Studien über die Entwicklung des ältesten japanischen Seelen¬
lebens nach seinen literarischen Ausdrucksformen und über die altchinesische Ornamentik
folgen. Alles das ist methodisch sicher gearbeitet, und solange wir Lamprechts eigne
Darstellung der Weltgeschichte noch zu erwarten haben, wird man diesen überraschend
neuen Bausteinen zu einer uns befriedigenden Vorstellung von dem, was metu
Weltgeschichte nennt, volles Interesse nicht versagen können.
^^ Die Vei-bi-kitung r!k8 vuot übsr sie
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^c7/?c/s/-/? Ls/^o'e/? /?<?/.
eit meinem letzten Briefe sind äußerlich viele Veränderungen in
Rußland vor sich gegangen. Die zweite Reichsduma wurde auf¬
gelöst, ein Manifest verkündete am 3. (16.) Juni die Einführung
eines neuen Wahlgesetzes, der Reichskontrolleur von Schwanebach
mußte zu seiner großen Überraschung plötzlich aus dem Amte
scheiden, und — am Kopf der Moskowskija Wjedemosti prangt nicht mehr das
csteruM oenseo für die Auflösung der Duma, sondern es heißt: „Und nun
vor allen Dingen muß dem Aufruhr ein Ziel gesetzt werden!" Der deutsche
Leser wird wahrscheinlich das neue Wahlgesetz als das wichtigste aller dieser
Geschehnisse betrachten. Tatsächlich wäre das aber eine Überschätzung seiner
Bedeutung. Die Wahlrechtsünderung an sich hätte wohl die ihr zugedachte
positive Bedeutung, wenn sie nicht zugleich den Sieg einer ganz bestimmten
Gruppe aus der Gesellschaft über die Negierung darstellte, also wenn sie als
Zeichen und Ausfluß der Stärke der Regierungsgewalt hingenommen werden
könnte. Das Gesetz ist aber tatsächlich nicht das Werk einer tatkräftigen, weit-
schciucnden Regierung, wie viele meinen, es ist ein vorläufiges Ergebnis des
Kampfes einer verhältnismäßig kleinen Gruppe aus der Gesellschaft, die von
Reformen nichts wissen will, gegen die zu Reformen geneigte Regierung.
Darum darf auch das mit dem Gesetz verbundne Auftreten der Negierung nicht
schlechthin als ein Zeichen erstarkender Regierungsautorität aufgefaßt werden.
Es ist lediglich, wie schon gesagt, der augenblickliche Erfolg einer revolutionären
Partei über eine andre, erkämpft mit Hilfe einer geschwächten Regierungs-
gewalt. Das mag paradox klingen, ist aber tatsächliche Wahrheit. Nußland
ist kein durch das Zusammenwirken der Gesellschaft und der Exekutive regierter
Verfassungsstaat, worin sich die Regierungsautorität auf eine oder mehrere
Politische Parteien im Lande stützt. Es ist heute, wie vor 1905, ein von der
Bureaukratie selbstherrlich regierter Staat, worin allerdings die Regierung vom
Monarchen beauftragt ist, durch zweckentsprechende Reformen erst verfassungs¬
mäßige Zustände herbeizuführen. Das Maß und der Umfang dieser Reformen
waren durch den Kaiser im Manifest vom 17. (30.) Oktober 1905 vorgeschrieben
worden. Die Aufgabe konnte jedoch bisher aus verschiednen Gründen, deren
Ursprung in der Schwäche der Regierung liegt, nicht durchgeführt werden. Auf
der einen Seite versuchte die sozialistisch erzogne Intelligenz weit über das
hinauszugehn, was für den historisch entstandnen Staat zulässig ist, und auf
der andern suchte ein durch die Negierung seit dreißig Jahren verzogner Adel
jede gründliche Reform zu verhindern. Der Gegner von links ist hierbei als
die treibende, also gesundere, wenn auch leicht staatsgefährliche Kraft, der Gegner
von rechts aber, der unter allen Umständen zu den Verhältnissen zurückkehren
will, die früher zur Revolution geführt haben, ist als stagnierende und zer¬
setzende Kraft zu betrachten. Hier ist, wohlverstanden, nicht von liberal und
konservativ die Rede. Das sind Begriffe, die wohl noch recht lange in Ru߬
land nicht im westeuropäischen Sinne werden angewandt werden dürfen. Hier
heißt noch konservativ soviel wie asiatisch-roh, und liberal bedeutet Schwäche.
Beide kämpfenden großen Richtungen bedienen sich zur Erreichung ihrer Ziele
der Gewalt, beide sind unduldsam, wie es nur Dogmatiker sein können. Die
Regierung hat vor beiden die Waffen gestreckt. Vor der Intelligenz im
Winter 1905/06, vor dem reaktionären Adel am 3. (16.) Juni 1907. Von
diesem Standpunkt betrachtet kann das neue Wahlgesetz nur die Bedeutung
einer zeitweiligen Folgeerscheinung haben, während der Befehl W. Gringmuts
am Kopf der Moskowskija Wjedemosti gegenwärtig die schaffende Kraft an¬
deutet, die die Tätigkeit der Regierung und die Wirksamkeit des Wahlgesetzes
ausfüllen soll.
Trotz dieser Auffassung soll aber das Wahlgesetz zuerst besprochen werden,
weil sich aus manchem seiner Paragraphen das ergibt, was über die neuerdings
wieder zur Macht gekommene Partei weiter unten gesagt werden muß.
Das Wahlgesetz vom 3. Juni beruht im allgemeinen auf denselben Grund¬
sätzen, auf denen das Bulyginsche vom 6. (19.) August 1905 aufgebaut war.
Aber die Ziele sollen im einzelnen mit andern Mitteln erreicht werden als
früher. Die Aufgabe der Gesetzgeber war, wie vor zwei Jahren, eine der
Bureaukratie genehme Volksvertretung zu schaffen, also eine solche, die für die
Bauern keine Landzuweisung durch Enteignung, für die Nichtrussen keine der
Russifizierung entgegenstehenden Freiheiten fordern würde, und — last not
Isast — die sich nicht zu intensiv um die Finanzwirtschaft des Reiches
kümmerte.*) Im ersten Wahlgesetz sollte das Ziel, wie wir vor zwei Jahren
an dieser Stelle nachwiesen, erreicht werden mit Hilfe der Ungebildeten und der
Kapitalisten aller Grade — Großgrundbesitzer, Fabrikant und Kulak. Dem
Adel wurde nicht getraut, und er mußte sogar gegenüber den Bauern zurück¬
stehn, weil er sich in den Sjemstwo als unzuverlässig, d. h. konstitutionell er¬
wiesen hatte. Es wurde schon früher darauf hingewiesen, daß der Grund der
Unzuverlässigkeit des ganzen Standes hauptsächlich darin zu finden war, daß
sich eben nur die verhältnismäßig wenigen Konstitutionalisten in die Sjemstwo
drängten, während die damals viel zahlreichern Absolutisten keine gemeinnützige
Politik trieben; was jeder Einzelne von ihnen brauchte, erwirkte er direkt durch
seine Petersburger Verbindungen. Im neuen Wahlgesetz werden die Kapitalisten
im allgemeinen als zuverlässig bevorzugt. Dagegen gelten die Bauern nach
den Erfahrungen während der beiden ersten Wahlkämpfe als durchaus unzu¬
verlässig. Darum schenkt die Bureaukratie ihr Vertrauen wieder dem Adel.
Es handelt sich dabei nur um den absolutistischen Adel, der durch die Ansprüche
der Bauern aus seiner Apathie aufgeschreckt, sich politischen Organisationen
angeschlossen hat und nun aus der Abwehr der Konstitution zum Angriff gegen
sie vorgeht. Doch ganz traut der büreaukratische Gesetzgeber seinem adlichen
Bundesgenossen nicht. Darum hat er, wo er seines Erfolges nicht durchaus
sicher ist, durch eine große Anzahl von mechanischen Schiebungen, Erläuterungen,
Ergänzungen und Abweichungen von den Hauptrichtlinien des Gesetzes Hinter¬
türen geöffnet, mit denen das Gesetz den örtlichen Verhältnissen entsprechend
gehandhabt werden kann.
Die eben angedeutete Schmiegsamkeit gibt dem Gesetz vom 1. (16.) Juni ein
ganz eigentümliches Aussehen. Wir gewahren bei näherm Zusehen, daß wir
nicht ein in sich geschlossenes Werk vor uns haben, sondern drei miteinander
nur mechanisch verbundne, im übrigen selbständige Gesetze, von denen wieder
jedes einzelne mit einer so großen Zahl von schmarotzenden Klauseln und Aus¬
nahmen umgeben ist, daß man den Hauptgedanken leicht aus den Augen ver¬
liert. Aus diesem Grunde können wir nicht unbedingt behaupten, das Gesetz
beruhe auf ständischen oder proportionalen oder nationalen oder demokratischen
Prinzipien. Wenn wir ein wirklich durchgeführtes Prinzip überall erkennen,
dann ist es das der Zweckmäßigkeit. Aber es ist nicht die Zweckmäßigkeit, die
ein weitschauender Staatsmann handhabt, es ist eine solche, die aus der Hand
in den Mund lebt und sich lediglich als büreaukratische Geschicklichkeit darstellt.
Wir vermissen jeden großen, befreienden Gedanken, jeden Blick in die Ferne;
wir erkennen nur, daß für die nahe dritte Reichsduma gesorgt wird. Sie soll
unter allen Umständen und mit allen Mitteln zu einer der zur Macht gelangten
Adelsgruppe genehmen Einrichtung werden.
Wie schon angedeutet worden ist, tun wir gut, das Gesetz in seine drei
Bestandteile zu trennen, um eine Übersicht über die zur Anwendung gelangten
Prinzipien im Rahmen eines politischen Bildes zu gewinnen.
Das erste Gesetz (Artikel 2), zugleich das Hauptgesetz, findet Anwendung
in den 49 Gouvernements des europäischen Rußlands, die nach dem allgemeinen
Regulativ verwaltet werden (Gesetzsammlung Band II, Teil 1 von 1892), ferner
im Gebiet der Donkosaken, in dem zum Verwaltungsgebiet des Kaukasus ge¬
hörenden Gouvernement Stawropol, in den sibirischen Gouvernements Tobolsk
und Tomsk sowie schließlich in den Städten Petersburg, Moskau, Kijew,
Odessa und Riga.
In diesem Gebiete sind die Wühler eingeteilt in: 1. Großgruud- und
Jmmobilienbesttzer. die über eine bestimmte Menge Land (Artikel 28) verfügen,
2. städtische Wähler, die große Steuern bezahlen, 3. solche, die kleine Steuern
zahlen, 4. die Vertrauensmänner der Bauern, nach Wolosten oder Stanizen
geordnet, und 5. in den betreffenden Gouvernements die Vertrauensmänner
der Fabrik- und Bergarbeiter. Somit gibt es fünf Kurier. (Artikel 6.)
Der Hauptunterschied des neuen Wahlmodus gegen den frühern liegt nun
in zwei Richtungen. Zunächst hat der Minister des Innern das Recht, überall,
wo verschiedne Nationalitüten zusammenwohnen, die Zahl der gesetzlich festge¬
stellten Wahlmänner durch seine Organe (Gouverneure und Stadthauptleute)
auf die einzelnen Nationalitäten verteilen zu lassen (Artikel 29, 35 und 38).
Damit soll das nationale Prinzip mehr Geltung bekommen, als es bisher der
Fall war. Es wird nunmehr möglich sein, auch in solchen Gegenden Wahl¬
männer russischer Nationalität aufzustellen und durchzubringen, wo das Ver¬
hältnis der verschiednen Nationalitäten dem fremden Stamme günstiger ist als
dem russischen. So können die zahlreichen polnischen Gutsbesitzer, Pächter und
Verwalter im Nordwest- und Südwestgebiet (siehe Tabelle IX und X) gegen
früher ganz bedeutend in ihrem Wahlrecht beschnitten werden. Ferner werden
bei einer gewissen Kategorie von Jmmobilienbesitzern (Artikel 28, 4 und 5) die
Wahlmänner aus Vertrauensmünnerversammlnngen gewählt, wobei nicht die
Zahl der Stimmen, sondern Menge und Wert des Jmmobilienbesitzes den Aus¬
schlag gibt (Artikel 30 und 31). Dadurch werden sowohl die Kapitalisten wie
die Vertreter des Kirchenbesitzes bevorzugt. Denn die Vorversammlung hat
unter solchen Verhältnissen begreiflicherweise ein lebhaftes Interesse daran,
möglichst wohlhabende Vertrauensmänner für sich zu bestellen. Infolgedessen
ist theoretisch der Fall denkbar, daß zum Beispiel der Verwalter eines Kloster¬
gutes von 8000 Hektar sich selbst seine Stimme gibt und damit alle seine
gegen ihn stimmenden Mitbewerber schlüge, wenn deren Besitz zusammen¬
genommen kleiner als 8000 Hektar sein sollte! Die Tatsache, daß neben der
Größe auch der Wert des Unwesens eine Rolle spielt, hat auf mein Beispiel
keinen Einfluß.
Wie nach dem alten Wahlgesetz treten die Vertrauensmänner der Bauern,
der Grund- und Jmmobilienbesitzer sowie der Städter nach Kreisen zusammen,
um, jede Kurie für sich, die hierunter für die einzelnen Gouvernements aufge¬
führten Wahlmänner zu wählen.
Wie aus der Gegenüberstellung der Zahlen aus dem alten und dem neuen
Gesetz hervorgeht, sind hier bedeutsame Veränderungen eingetreten. Abweichend
von andern Kritikern des Gesetzes habe ich die Gouvernements nach Wirtschafts¬
gebieten geordnet, wie sie gewöhnlich nur volkswirtschaftlichen Betrachtungen
zugrunde liegen. Diese Einteilung hat den Vorteil, daß daran gezeigt werden
kann, wo die größten Gefahren für Nußland in sozialer Beziehung vorhanden
sind, und wo die Regierung durch ein besonders energisches Vorgehen glaubt
die revolutionäre Entwicklung aufhalten zu können. Bei oberflächlicher Durch¬
sicht der Gouvernements, wie sie im Gesetz aufgeführt sind, läßt sich zunächst
feststellen, daß die Zahl der bäuerlichen Wahlmänner im allgemeinen verringert,
die der grundherrlichen vergrößert worden ist. Die Zahl der städtischen Wcchl-
münner ist in einzelnen Gegenden vergrößert, in andern wieder verringert worden.
Die Gesamtzahl aller Wahlmänner hat sich in dem behandelten Gebiet um rund 720
verringert oder um durchschnittlich 14 auf jedes Gouvernement. Bei der Größe
dieser Verwaltungseinheiten könnte es somit scheinen, daß die kleine Verminderung
kaum politisch auszubeuten sei, da sie sich in jedem Gebiet auf etwa 150 bis
300 Wahlversammlungen verteilen würde. Etwas anders wird dagegen das
Bild, sobald wir uns die Gouvernements nach Wirtschaftsgebieten zusammen¬
stellen und in diesem neuen Rahmen jedes Gouvernement einzeln betrachten.
Da fällt uns zunächst auf, daß einzelne Gebiete (Ur. I, VII, VIII, IX) sogar
eine, wenn auch geringe Vermehrung der Wahlmünner überhaupt aufzuweisen
haben. Sie umfassen den Nordwesten und Westen des Reichs ohne Polen
sowie das Zentrum um Moskau. Im Westen teilen sich in die Vermehrung
Großgrundbesitz und Städte. Im Zentrum geht fast die gesamte Vermehrung
auf den Großgrundbesitz über, der obendrein noch neben den 89 Wahlmänner¬
mandaten von den Bauern 11 von den Städten übernommen hat, mithin um
106 gestärkt erscheint.
Im ganzen Ostgebiet (II, III, IV der Tabelle) vom Kaspischen bis zum
Weißen Meer schwankt die Verringerung der Zahl der bäuerlichen Wahlmünner
zwischen Zweidrittel bis Fünfsechstel gegen die frühere Zahl. Im Gouvernement
Wjatka, das dreizehn Sozialisten") in die zweite Reichsduma geschickt hat, ist
die Zahl der Wahlmänner von 148 auf 23 herabgesetzt worden. Im ganzen
Schwarzerdegebiet (V, VI, IX, XII der Tabelle) beträgt die Verminderung die
Hälfte bis Zweidrittel. Hierneben erscheint die Zahl der gutsherrlichen Wahl¬
männer zurückgeblieben. Sie ist meist nur um ein Drittel, vielfach aber auch um
das Doppelte gestiegen, so in Archangelsk von 13 auf 26, im Dongebiet von 47
auf 79, in Wladimir von 18 auf 38, in Moskau von 13 auf 42, in Stawropol
von 6 auf 24 usw.
Doch nicht genug. Um den Großgrundbesitzern, das heißt in Rußland dem
Adel unter allen Umständen das Übergewicht bei der Wahl der Abgeordneten
zu sichern, ist die Zahl ihrer Wahlmänner meist so hoch festgesetzt, daß die Summe
der bäuerlichen und städtischen Wahlmänner sie nicht erreicht. Die großen Ab¬
weichungen von dieser Regel finden sich in Gebieten mit verschiednen Nationalitäten.
So in Kurland, wo die Städter sogar ohne Hilfe der Bauern allein über den
Grundadel siegen können. Im Nordwestgebiet (Tabelle IX), wo Großgrundbesitzer
polnischer Nationalität in Frage kommen, stehen die Wahlmänner des Gro߬
grundbesitzes zu denen der Städter und Bauern in folgendem Verhältnis: in
Witebsk 48:58. in Mohilew 64:61, in Minsk 71:76^ in Wilna 38:58, in
Kowno 35 :40 und in Grodno 44:62. In den genannten Gouvernements bilden
die Polen 1 bis 3 Prozent der Gesamtbevölkerung in Minsk, Witebsk und
Mohilew, 10,1 Prozent in Grodno, 9 Prozent in Kowno und 8 Prozent
in Wilna. In den Städten setzt sich die Bevölkerung zu 60 bis 80 Prozent
aus Juden zusammen.*) In den russischen Gouvernements, wo der Adel un¬
zuverlässig erscheint wie in Kostroma, Smolensk, Moskau, Kaluga und Poltawa,
haben teils Städter, teils die Bauern freiere Hand bekommen.
Eine sehr wesentliche Veränderung des Wahlrechts für die Bauern liegt in
der Tatsache, daß sie nicht mehr aus ihrer Mitte und ohne Mitwirkung der
andern Stände besondre Abgeordnete wählen dürfen. Sie wählen ihre Abgeordneten
gemeinsam mit dem Großgrundbesitz und den Städtern. Da nun aber die Gro߬
grundbesitzer, wie gezeigt wurde, vielfach stärker vertreten sind als die Bauern,
so ist es denkbar, daß die Bauern nur solche ihrer Abgeordneten werden durch¬
bringen können, die den Großgrundbesitzern als ihnen gewogen und zuverlässig
bekannt sind. Die Bauern können somit durch das Wahlgesetz in die Lage kommen,
keine faktische Vertretung ihrer Interessen im Parlament zu haben. Nur dort
erscheint es möglich, daß die Bauern ihre Jnteressenvcrtreter in die Duma be¬
kommen werden, wo der Adel nicht geschlossen reaktionär zusammenhält.
Mit Hilfe des eben gekennzeichneten Gesetzes werden 407 Abgeordnete
gewählt werden. Es bleiben somit nur noch 35 Mandate übrig für die beiden
andern Wahlgesetze.
Das zweite Wahlgesetz (Artikel 3) hat Umwendung im Zartum Polen, bei
den Uralkosaken wie auch in den beiden sibirischen Gouvernements Jenessej und
Jrkutsk. Es werden dadurch 16 Abgeordnete gewählt. Die Hauptveränderung
gegen früher besteht in der Herabsetzung der Zahl der Abgeordneten und in der
Vorschrift, wonach in Warschau-Stadt ein Vertreter von der russischen Be¬
völkerung zu wählen ist. Die Vorschrift, daß in Ssedletz und Chota Abgeordnete
russischer Nationalität zu wählen sind, ist alt. Die Polen können nun im besten
Falle 12 Abgeordnete aus den zehn Weichselgouvernements in die Reichsduma
entsenden, das heißt, wenn nicht in Städten wie Lodz, Kalisch und Warschau
deutsche, russische und jüdische Wähler zusammen einen gemeinsamen Kandidaten
durchbringen. Im Gouvernement Ssuwalki, wo die Juden über großen Landbesitz
verfügen, könnten sie bei einiger Organisation sehr Wohl eigne Abgeordnete
durchbringen.
Das dritte Wahlgesetz (Artikel 4) gilt im Kaukasus ohne Stawropol. im
Amur- und Seegebiet, bei den Amurkosaken, in Transbaikalien sowie in den
Städten Wilna, Kowno, Warschau. Wie schon aus der Buntheit der aufgeführten
Gebiete zu erraten ist, handelt es sich hier nicht um ein einheitliches Gesetz. Es
ist vielmehr eine Sammlung von Vorschriften, die für jedes der Gebiete ver¬
schieden sind, nach denen die Wahlen vor sich zu gehen haben. Vielleicht sind
sie am kürzesten und richtigsten charakterisiert, wenn ich schreibe, daß in den
Vorschriften dem Ermessen der Gouverneure usw. ein besonders großer Spiel¬
raum gelassen wird. Für die Zusammensetzung der Reichsduma sind die Wahlen
in den genannten Gebieten unwesentlich, da aus ihnen nur 19 Abgeordnete
hervorgehen sollen.
Zusammenfassend kann man alle neuen Wahlvorschriften dahin kennzeichnen,
daß sie ein Prüfstein für die Gesinnung des russischen Adels sind. Ihm ganz
allein räumt der Gesetzgeber die Möglichkeit ein, sich tatkräftig an der Lenkung
der Geschicke Rußlands zu beteiligen. Es scheint mir darum vom höchsten
Interesse, einmal zu zeigen, wie eigentlich dieser Adel aussieht. Der nächste
Brief soll den russischen Adel in seiner Bedeutung für Kultur und Politik
Rußlands behandeln.
Grund¬
Ur.
Bauern
Stadiern
im ganzen
L
usw.
besitzern
8
Z
WZ
Z
L
L
ISO?
1906
1906
190S
isos
1g07
1307
1307
1907
N
G
I. Nord-Gebiet
19
9
10
32
46
26
Z
13
g
27
17
14
17
50
60
Z
26
9
3
Wologda.....
46
19
85
42
13
24
80
21
4
4
Petersburg . . .
14
8
25
54
70
21
31
19
3
6
5
16
16
25
92
Nowgorod....
31
55
98
2
4
45
18
3
24
14
27
38
10
61
70
13
4
161
83
218
72
119
369
429
9
10
136
II.
Nordost-Gebiet
200
148
23
53
34
29
109
4
13
18
g
30
120
12
86
26
58
59
52
196
25
234
86
59
396
229
9
49
76
112
III. Ost-Gebiet
150
110
9
26
19
3
4
88
30
36
58
Asa.......
H
13
105
20
19
32
23
66
10
63
2
5
Orenburg ....
180
131
21
11
31
10
97
33
52
76
3
80
53
435
307
248
11
3
83
107
1 6
16
IV.
Südost-Gebiet
12
23
50
Astrachan ....
29
10
16
46
2
12
18
29
177
37
142
3
9
Dongebiet ....
93
31
47
79
3
227
122
41
52
91
53
52
188
4
5
10
Mittlere Wolga
14
3
Riss.-Nowgorod.
42
21
30
90
4
50
18
27
100
2
139
117
93
33
23
50
18
32
6
80
16
90
Ssimbirsk ....
19
29
17
44
17
43
5
319
297
15
5
78
3
53
82
143
184
71
VI.
Mittl Schwarz¬
erde-Gebiet
21
90
15
92
28
47
17
22
2
Persa......
47
6
30
35
51
68
150
27
18
127
Ssaratow ....
64
2
11
70
26
62
27
180
26
Tambow.....
92
19
125
2
2
9
75
22
35
42
101
28
165
Woronesh ....
20
140
5
2
4
3
30
43
71
43
64
29
1Ü0
21
134
9
4
44
71
28
31
78
33
150
22
4
137
2
45
58
18
23
30
23
29
3
92
2
5
113
46
15
2
3
24
16
29
28
32
2
76
92
52
27
5
25
40
3
24
27
S4
121
104
229
20
558
49
12
384
253
5
234
1174
1064
19
561
ehr Jahre ist es her, seit der Zionismus seinen Einzug in die
Reihe der modernen Bewegungen gehalten hat. Viel älter freilich
als die straffe, konkrete Form ist die zionistische Idee in weitesten
Sinne; das Zionswort: „Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde
meiner Rechten vergessen" (Psalm 137, 5) ist dem jüdischen
Volke in allen Abschnitten seiner Leidensgeschichte lebendig gewesen. Aber
während diese Idee in den frühern Jahrhunderten vornehmlich aus den messia-
nischen Bewegungen Kraft und Leben schöpfte, ist sie in dem verflossenen Jahr¬
hundert von dem Boden des religiösen Mystizismus mehr und mehr auf den
der Wirklichkeit getreten und gibt sich als Äußerung bewußten Nationalgefühls.
Und demgemäß haben wir auch den Zionismus als moderne geschichtliche Er¬
scheinung in die Reihe der nationalen Befreiungskampfe einzugliedern, die im
neunzehnten Jahrhundert begannen und nach erfolgter Emanzipation des In¬
dividuums die Emanzipierung des Volksganzen anstrebten.
Dennoch kann man auch heute zwei verschiednen Ausgangspunkten in der
Bewegung nachgehn, der Judeuuot und der Palästinatrene. Aber der erste Be¬
weggrund darf nur einer unter andern sein und würde in seiner Triebkraft
versagen, sobald die Not einmal abstand, oder sich den Heimatlosen neue Sied¬
lungsmöglichkeiten eröffnen; er hat seinen Herd in den Ländern der jüdischen
Assimilation, das heißt in Westeuropa und in Amerika. Viel stündiger, und nicht
bloß nach Bedarf, fließt die zweite Quelle der zionistischen Bewegung, die un-
versiegliche Palästinatreue, die aus religiösen und nationalen Gründen für das
Land der Väter arbeitet und namentlich an den jüdischen Massen des östlichen
Europas ihren Rückhalt hat. Diese sieben Millionen, die die überwiegende
Mehrheit der gesamten Judenschaft darstellen, »vollen lieber alle Not ertragen,
als ihr Volkstum und ihre Hoffnungen verleugnen.
Aber obwohl ihrer Arbeit in Palästina und für Palästina das moderne
Prinzip der Selbsthilfe zugrunde liegt, war sie doch ungeregelt und planlos;
die Kolonisationsversnche, die genau vor einem Vierteljahrhundert zur Gründung
der erste» jüdische» Kolonie im Heiligen Lande führten, tränkten daran, daß sie
auf der Wohltätigkeitsform aufgebaut waren. Man nennt diese Art philan¬
thropischer Kleinkolonisation den Chowewe-Zionismus, er hat noch heute an der
Odessaer Gesellschaft zur Unterstützung jüdischer Ackerbauer in Palästina und
Syrien seinen Mittelpunkt. .
Das Ziel dieser Kolonisationszionistcn ist ungefähr das gleiche wie das
des politischen Zionismus, beide erstreben die Schaffung eines unabhängigen
jüdischen Gemeinwesens als eines nationalen Zentrums für die Judenheit. Aber
der Fehler jener Zionsfreunde war, daß sie dieses Ziel nicht offen vor aller
Welt proklamierten, vielmehr glaubten, es ohne eine gesicherte rechtliche Grund¬
lage der türkischen Verwaltung gegenüber in aller Stille, durch allmähliche
„Infiltration" des Landes, erreichen zu können. Infolgedessen überließen sie,
statt eine große nationale Organisation ins Leben zu rufen, die Aktion privaten
Kolonisationsvereinen und Einzelpersonen, unter denen sich namentlich der Baron
Edmund Rothschild in Paris mit seinem Fünfzigmillionenopfer ein rühmliches
Andenken gesetzt hat. Aber die Schäden dieses philanthropischen Systems zeigten
sich bald in allerlei Schwierigkeiten von seiten der türkischen Behörden, in öko¬
nomischen Übelstünden der Wirtschaft und in der Demoralisation der Kolonisten,
denen durch die ständige Kreditgewährung Verantwortlichkeitsgefühl und Arbeits¬
trieb mehr und mehr abhanden kamen. Es wurden hier dieselben Fehler ge¬
macht und erkannt, die z. B. Professor Kaerger in seiner Arbeit „Landwirtschaft
und Kolonisation im spanischen Amerika" (1901, Bd. 2, S. 72) hervorhebt, und
die überhaupt in der Jugendgeschichte der europäischen Siedlungen ziemlich regel¬
mäßig wiederkehren.
So richtig also vom Standpunkt des modernen politischen Zionismus das
Ziel der Chowewe-Zionisten war, so verfehlt war ihre Methode. Aber dennoch
hat diese Kolonisationstätigkeit Kraft- und Willen ausgelöst und auch in den
jüdischen Massen viel Energie aufgespeichert. Es bedürfte nur der starken Hand,
die Energie flüssig zu machen und den Willen in die zielbewußte Tat umzusetzen.
Da erstand aus einem Milieu, das die meisten Zionsfreunde längst als
entjudet angesehen hatten, zur rechten Zeit der rechte Mann. Theodor Herzl
lebte um die Mitte der neunziger Jahre als Vertreter der Wiener Neuen Freien
Presse in Paris. Zu jüdischen Fragen zog ihn nichts, er ging ganz in künst¬
lerischen und literarischen Neigungen auf. Da rief die Kollektivverleumdung,
die sich an die Drchfusaffäre knüpfte, den Juden in ihm wach. Über Nacht
wurde aus dem geistreichen Feuilletonisten ein jüdischer Staatsmann. Und in
wenigen Jahren wurde er, der mit fünfunddreißig Jahren seinem Volke noch
ein Fremdling gewesen war, dessen Stolz und Hoffnung. Aber da starb er,
am 3. Juni 1904. „Es war das größte Glück des politischen Zionismus,
Theodor Herzl gefunden, seine schwerste Prüfung, ihn so früh verloren zu haben."
Aber das Wort aus Herzls Selbstbiographie hat sich bewahrheitet: „Ich weiß
nicht, wann ich sterben werde, aber die Bewegung wird anhalten, der Zionismus
wird nie sterben." Sein Tod und die gleichzeitige Ostafrikakrise waren Kraft¬
proben für die Bewegung. Sie hat diese bestanden. Die „Seifenblase" ist nicht
zerplatzt. Und die erneute Rückkehr des letzten Kongresses zu dem alten Palästina¬
programm zeugt von der Macht der Idee und der Stärke der Organisation.
Die Ära des modernen politischen Zionismus läßt sich schon vom Jahre
1896 datieren, wo Herzl durch eine gleichnamige Broschüre die Losung des
„Judenstaates" ausgab. Drei Punkte in dieser Schrift trafen, mit Energie, ja
mit Radikalismus vorgetragen, seine Volksgenossen in das Herz, daß sie ihn
gegen seinen Willen in die Führung der politischen Bewegung hineindrängten;
es waren das Prinzip des Nationalismus; die Forderung, daß den Juden
wieder ein mit Souveränitätsrechten ausgestattetes Gemeinwesen werde; und der
Grundsatz, daß die Erwerbung dieser Heimstätte auf öffentlich politischem Wege,
im Einverständnis mit den Regierungen, zu erwirken sei. Hatte Herzl bei der
Heimstätte anfangs noch an Palästina oder an Argentinien gedacht, wo der
Baron Hirsch seit fünf Jahren jüdische Kolonien ins Leben rief, so rang er sich
in der Folge rapide zu der Einsicht durch, daß als Territorium nur Palästina
in Frage kommen könne. Und gleichsam als politisches Testament hinterließ er
auf der letzten Tagung des Aktionskomitees in Wien seinen Freunden das Wort:
„Das Problem des jüdischen Volkes kann nur in Palästina gelöst werden."
Der „Judenstaat" erhob die Judenfrage zu einer politischen Frage von
allgemeiner Bedeutung. Diese Auffassung brach gründlich mit der in den
führenden Kreisen des Judentums herrschenden. Hier regierte die Assimilations¬
politik. Das heißt, der „Jsraelit" — das Wort „Jude" war in den west¬
europäischen Salons verpönt — glaubte die Judenfrage dadurch zu lösen, daß
er sich als Deutscher, Tscheche, Pole, Magyare usw. mosaischer oder, nach der
Taufe, christlicher Konfession ausgab. Aber der Glaube, die Judenfrage werde
dadurch verschwinden, daß das jüdische Volk verschwinde — sei es durch die
Ausmerzung alles Jüdischen und das „Untertauchen in die Völkerwelt", sei es
durch die Leugnung einer Solidarität der jüdischen Interessen, sei es durch die
Errichtung hoher Grenzpfühle gegen die Not und Rückständigkeit des östlichen
Judentums —, ist längst als ein Irrtum erkannt worden. Das jüdische Volk
kann gar nicht verschwinden, selbst wenn es wollte, das zeigt das unwürdige
Assimilantentum des Westens; aber es will auch gar nicht verschwinden, das
zeigen die Verhältnisse des Ostens. Herzl und seine Freunde ließen sich also
durch das Geschrei und die Verdächtigungen des Reformjudentums und der
liberalen Rabbiner nicht irre machen, sondern sie fuhren in der Schilderhebung
des Jüdischen fort. Sie schufen sich zur publizistischen Vertretung ihrer Ideen
im Juni 1897 ein Wochenblatt, „Die Welt". „Dieses Blatt ist ein Juden¬
blatt. Wir nehmen das Wort auf, das ein Schimpf sein soll, und wollen daraus
ein Wort der Ehre machen", so verkündete es mit unerhörtem Freimut. „Die
Welt" ist noch heute das Zentralorgan der zionistischen Bewegung, und es ist,
ganz abgesehen von seiner Bedeutung für die Organisation, auch für den ein
interessantes und überraschendes Dokument, der vom Judentum nur das charakter¬
lose Schacherwesen und den liberalen Durchschnittsjudeu unsrer Tage kennt.
Denn es stellt dem Materialismus den Idealismus, der mammonistischen Auf¬
fassung die selbstlose großartige Arbeit, der Assimilation die Pflege jüdischer
Kultur, der Judenfeindschaft den Judenstolz entgegen und übt nach allen Seiten,
nicht zuletzt gegen die Schwächen der eignen Volksart, eme herbe und freimütige
Kritik.
Schon die erste Nummer der neuen Wochenschrift kündigte die Einberufung
eines Zionistenkongresses an, und am 29. August 1897 wurde unter Anwesen¬
heit von 204 Delegierten der erste Kongreß in Basel eröffnet, wo die Zivilisten
in der Folge immer eine gastliche Aufnahme gefunden haben. Die Zahl jener
Delegierten hat sich auf den bisherigen sieben Kongressen um mehr als das
dreifache gesteigert; sie vertreten heute etwa 200000 organisierte Zivilisten.
Dieser erste Kongreß bildet einen Merkstein in der Geschichte des Zionis¬
mus, vielleicht auch einen Wendepunkt in der jüdischen Geschichte überhaupt;
denn er proklamierte durch seine Zusammensetzung aus allen Ländern und Kultur¬
kreisen wie durch sein Programm die Solidarität der jüdisch-nationalen Inter¬
essen, und er schuf zugleich diesen Interessen die erste und einzige Tribüne, die
das jüdische Volk bisher gefunden hat. Die Kongresse sind das Parlament ge¬
worden, auf dem das Problem der heimatlosen Rasse unter steigender Aufmerk¬
samkeit der europäischen Öffentlichkeit, nicht immer ohne Leidenschaft und Sturm,
aber stets mit Ernst und Größe, behandelt wird.
Schon der erste Kongreß vereinte die Summe der Intelligenz, die das Kapital
der Zionisten bildet; manches feine Wort wurde gesprochen. So definiert
Herzl den von der Bewegung ausgehenden Nationalisierungsprozeß: „Der Zio¬
nismus ist die Heimkehr zum Judentum vor der Rückkehr ins Judenland."
Oder Max Nordau faßt die Judcnnot des Ostens in dem Wort zusammen:
„Wir sind ein Volk von geächteten Bettlern", und er analysiert die „sittliche
Judennot" des Westens, die „bitterer ist als die leibliche", dahin: „Innerlich
wird der emanzipierte Jude verkrüppelt, äußerlich wird er unecht und dadurch
lächerlich und für den höher gesinnten, ästhetischen Menschen abstoßend wie
alles Unwahre."
Die wichtigsten Leistungen jenes Kongresses waren die Schaffung des zio¬
nistischen Programms und der zionistischen Organisation. Das sogenannte
Basler Programm lautet: „Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die
Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina." Es
wurde nicht nur auf dem ersten Kongreß einstimmig angenommen, sondern es
steht noch heute, nachdem der Zionismus sehr bedeutende Entwicklungsstadien
durchgemacht hat, in unverändertem und unerschütterlichem Ansehen. Eine Ana¬
lysierung stellt deshalb am besten Mittel und Ziele der Bewegung ins Licht.
Eine „Heimstätte" wird erstrebt, das heißt nicht: Es soll der Zerstreuung
der Juden in allen Ländern durch die Begründung eines Staatswesens und
eine nachfolgende Massenkolonisation ein Ende gemacht werden — in der Ver¬
wirklichung dieses Gedankens sieht der heutige Zionismus eine Utopie —,
sondern das heißt: Es soll für einen Teil des Volkes eine Heimstätte geschaffen
werden, aber eine solche Heimstätte und in einem solchen Lande, daß von ihr
auf die Lage des ganzen Volkes, auch der zerstreuten Teile, eine Rückwirkung
ausgehn kann. Durch diese Schaffung einer jüdischen Metropole wird die Aus¬
nahmestellung beseitigt, die die Juden in allen Ländern aus dem Grunde ein¬
nehmen, weil sie ohne nationales Zentrum und darum ohne Halt und ohne
Schutz sind. In ihr kann sich das geistige Leben frei entfalten und das Bedürf¬
nis nach nationalem Leben erfüllen; von hier kann auch den zerstreuten Gliedern
politische Hilfe und frische nationale Kraft zufließen. Und wie hilff- und schutz¬
bedürftig die Juden des Ostens sind, das hat noch die jüngste jüdische Leidens¬
geschichte zur Genüge bewiesen.
Aber „öffentlich-rechtlich" gesichert muß die Heimstätte sein; das Volk darf
dort nicht wieder, wie bisher, ans Schutz und Duldung angewiesen sein, sondern
es muß in faktischen und rechtlichem Besitz der Stätte sein. Faktisch, indem
es die Mehrheit der dortigen Bevölkerung bildet; rechtlich, indem ihm von dem
Souverän des Landes die Selbstverwaltung gewährleistet wird. Darum richtet
sich das Bemühen der Zionisten auf einer Charter, d. i. ein Kolonisations¬
privileg auf Grundlage der administrativen Autonomie. Durch Erteilung des
Charters soll das Land natürlich von seinem Souverän ebensowenig verschenkt
werden, wie etwa England Gebiete verschenkt hat, wenn es der südafrikanischen
Gesellschaft oder der Nigerkompagnie einen Charter gewährte. Und auch die
lokale Autonomie, die angestrebt wird, ist nichts Unerhörtes; denn einem christ¬
lichen Territorium am Libanon eignet schon dieses Recht der Selbstverwaltung
ebenso wie der Insel Samos, und doch gehören beide Gebiete loyal zum tür¬
kischen Reich.
Ein Charter mit dem Recht der Selbstverwaltung und der Munizipalgesetz-
gebung ist der zionistischen Organisation auch schon von der englischen Negierung
im Jahre 1903 für ein Gebiet in Ostafrika angeboten worden; aber die jüdische
Heimstätte kann nur „in Palästina" liegen, und deshalb ist das sogenannte
„Ugaudaprojekt", das schon den sechsten Kongreß beschäftigte und dann bis zu
dem siebenten im Jahre 1905 das ganze innere Leben der Organisation ausfüllte
und schwere Krisen zeitigte, von diesem mit überwältigender Mehrheit endgiltig
abgelehnt worden. „Der siebente Zionistenkongreß erklärt: Die zionistische Or¬
ganisation hält an dem Grundprinzip des Basler Programms: »Schaffung
einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina«
unerschütterlich fest und lehnt — sowohl als Zweck wie als Mittel — jede
kolonisatorische Tätigkeit außerhalb Palästinas und seiner nächsten Nachbarländer
ab." So lautet dessen erste Resolution.
Palästina ist seit der Zerstreuung des jüdischen Volkes das Land seiner
Sehnsucht, in ihm wurzeln alle seine geschichtlichen, nationalen und religiösen
Traditionen. Nur für dieses Land steht deshalb, wenn man mit der Psycho¬
logie der Massen rechnet, eine Mobilisierung aller materiellen und moralischen
Kräfte zu erwarten, deren es bedarf, wenn die Heimstüttengründung Volkssache
werden soll. In jedem andern Lande würde der anzusiedelnde Teil nur eine
Gruppe von Juden bilden; Palästina allein kann als das historische Land
trotz der Teilsiedlung bei Juden und Nichtjuden die Autorität eines jüdischen
Zentrums in Anspruch nehmen; hier hat einst Esra mit 42000 Mann nach
seiner Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft das jüdische Reich wieder¬
hergestellt.
Aber ist das Land auch für eine Besiedlung durch Juden geeignet? Die
„Territorialsten", die für Uganda oder Kanada oder sonst eine Zufluchtsstätte
in der Welt eintreten, bestreiten es. Dagegen stimmen alle Palästinaforscher,
die deutschen wie die englischen, mit den Konsnlarberichten des Landes darin
überein, daß Palästina eine Zukunft hat und seiner wirtschaftlichen Erschließung
erst entgegengeht. Und die praktischen Erfolge, die die kolonisatorische Tätigkeit
der deutschen Templer seit vierzig Jahren gebracht hat, bestätigen es. Palästina
wartet nur auf Kultur und Menschenkraft, um die alte Blüte neu zu entwickeln
und zugleich eine ganz neue Bedeutung als Industrie- und Handelsstaat zu er¬
langen. Die „Zukunft Palästinas" forderte eine Abhandlung für sich.
Das ist das Programm, das in seiner knappen, klaren Fassung einen aus¬
nehmend glücklichen Wurf darstellt. Ebenso schwierig war für jenen Kongreß
die Ausarbeitung eines Organisationssystems. Denn zum erstenmal seit der
Zerstreuung der Juden sollte ein die Welt umspannendes national-jüdisches Land
geschaffen werden. Da hat sich der Gedanke der Schekelabgabe (1 Schekel —
1 Mary, der an die alttestamentliche Tempelstcucr anknüpft, als besonders volks¬
tümlich bewährt. Wer den Schekel zahlt und sich zum Basler Programm be¬
kennt, ist Zionist. Je hundert Schekelzahler stellen auf Grund des allgemeinen
und gleichen Wahlrechts einen Abgeordneten zum Kongreß und zu deu Landes¬
parteitagen. Durch diese demokratisch-parlamentarische Verfassung ist dafür ge¬
sorgt, daß die zionistische Bewegung die Volksideale nimmer verleugnet.
Die Leitung der Organisation wurde einem Engern und einem Weitern
Aktionskomitee übertragen, an dessen Spitze bis zu seinem Tode Dr. Herzl stand.
Schon vor dem zweiten Kongreß wurde dann als das „finanzielle Instrument"
der Bewegung in London ein Bankinstitut unter dem Namen IKs ^holst.
volonig-l Irust (Jüdische Kolonialbank) ins Leben gerufen. Für diese Bank
forderte Herzl als den kleinsten Betrag, der für finanzielle Verhandlungen mit
der Türkei in Betracht komme, ein Stammvermögen von 40 Millionen Mark;
in Wirklichkeit hat sie, dank der Teilnahmlosigkeit der jüdischen Finanzkreise, bis
auf den heutigen Tag nur eine Höhe von etwa 6 Millionen erreicht. Trotzdem
entwickelt sie sich zusehends. Im Jahre 1903 wurde von ihr ein Töchter¬
institut in Jaffa unter dem Namen L.n^1o-?Al68eins <üoinxg.Q^ gegründet, und
diese Gründung hat schon wieder Filialen in Jerusalem, in Beirut und Halfa
gezeitigt.
Auf dein vierten Kongreß wurde die Organisation durch ein neues Mittel,
den „Nationalfonds", verstärkt, dessen Schaffung der Heidelberger Professor
Schapira schon bei der ersten Tagung in Anregung gebracht hatte. Dieser Fonds
ist in der kurzen Zeit seines Bestehns zur populärsten Einrichtung im jüdischen
Volke geworden; seine Mittel, die bisher aus freiwilligen Spenden auf andert¬
halb Millionen Mark angewachsen sind, sind dazu bestimmt, nach Erlangung
genügender rechtlicher Garantien Grund und Boden in Palästina anzukaufen,
der für ewige Zeiten Eigentum des jüdischen Volkes bleibt. Ein Teil des
Kapitals ist schon zum Landkauf für die landwirtschaftliche Versuchsstation, für
die geplante Musterfarm und das genossenschaftliche Gut verwandt worden;
mindestens ein Viertel des Bestandes muß jedoch satzungsgemüß unantastbar
bleiben, bis bedeutungsvolle Augenblicke eine Kolonisation in größerm Stil er¬
möglichen.
Aber so unverrückt die Grundlinien des Ziels und der Organisation
sind, so ist der Zionismus doch nicht eine durch strenge Dogmen abgegrenzte
Theorie, sondern er ist eine sich dauernd im Flusse befindende Bewegung. Eine
solche geistige Strömung setzt nicht nur mit der fortschreitenden Vertiefung des
Programms und der Spezialisierung ihrer Tätigkeit Meinungsverschiedenheiten
und Gegensätze aus sich heraus, sondern sie macht selber in naturgemäßen
Wachstum eine Entwicklung durch. Das einigende Prinzip in dieser Entwicklung
ist für alle Gruppen und zu allen Zeiten das alte unveränderliche Basler
Programm geblieben.
Zu dessen Verwirklichung hatte der erste Kongreß vier Mittel in Aussicht
genommen:
1. Die zweckdienliche Förderung der Besiedlung Palästinas durch jüdische
Ackerbauer, Handwerker und Gewerbetreibende;
2. die Gliederung und Zusammenfassung der gesamten Judenschaft durch
geeignete örtliche und allgemeine Veranstaltungen nach Maßgabe der Landes¬
gesetze;
3. die Stärkung und Förderung des jüdischen Selbstgefühls und Volks¬
bewußtseins;
4. vorbereitende Schritte zur Erlangung der Negierungszustimmungen,
die nötig sind, um das Ziel des Zionismus zu erreichen.
Während nun die sechs ersten Jahre der organisierten Tätigkeit neben der
Vertiefung der Idee dem Ausbau der Organisation und der Anknüpfung von
Beziehungen zu politischen Kreisen und Persönlichkeiten, also der Auswirkung
der drei letzten Punkte gewidmet waren, blieb es dem jüngsten Stadium der
Bewegung vorbehalten, der praktischen Arbeit in Palästina, die früher nicht ge¬
nügend gewürdigt worden war, größere Geltung zu verschaffen. Infolgedessen
liegt gegenwärtig der Schwerpunkt aller Tätigkeit in der Gegenwartsarbeit.
Einen Merkstein in dieser Beziehung bildet der Beschluß des sechsten Kongresses
vom Jahre 1903, eine mit Geldmitteln dotierte „Kommission zur Erforschung
Palästinas" zu schaffen, deren Arbeitsprogramm der letzte Kongreß noch wesent¬
lich erweitert hat.
Die rein diplomatische Tätigkeit des „Charterismus" hat sich, wie heute
offen anerkannt wird, als verfehlt erwiesen, das Endziel ist auf diesem Wege
seiner Verwirklichung nicht um einen Schritt näher gerückt worden. Eines Tags
— im Jahre 1902 — schien Herzl freilich nahe daran, den Charter vom Sultan
zu erlangen. Aber die angebotne Konzession für eine zerstreute zusammenhang¬
lose Siedlung in verschiednen Teilen des Reiches konnte den jüdisch-nationalen
Bedürfnissen nicht genügen. So ist der „katastrophale" Zionismus, der Glaube
an die Schaffung eines Judenstaats mit einem Schlage, die Hoffnung auf die
plötzliche und radikale Lösung der Judenfrage, vor der Macht der Tatsachen als
Illusion erwiesen und dem Entwicklungscharakter der Bewegung zufolge ab¬
gelöst worden durch den „synthetischen" Zionismus, der in der gegenwärtigen
Palästinaarbeit die Synthese von Politischen und Praktischen findet.
Dieser Ruf nach Gegenwartsarbeit, der heute weit über die Kreise der
organisierten Zionisten hinaus die Stimmung des gesamten palästinatreuen
Judentums wiedergibt, ist aber so wenig als eine Reaktion gegen den soge¬
nannten „politischen" Zionismus oder als ein Rückfall in die unsystematische
Kleinkolonisation zu beurteilen, daß er vielmehr in Verwirklichung des ersten
Programmpunktes die notwendige Weiterbildung der zionistischen Idee darstellt.
Denn eine reale Politik, wie sie der Zionismus gegenwärtig bewußt treibt, um¬
spannt nicht allein die Idee, auch nicht allein die Wirklichkeit, sondern beides.
Erst Basis und Spitze ergeben zusammengenommen die Pyramide, der sich eine
realpolitische Bewegung vergleichen läßt. So soll durch die praktische Arbeit
der Boden der Diplomatie keineswegs verlassen werden; im Gegenteil, die diplo¬
matische Tätigkeit soll sich nicht auf die Forderung eines Charters im Sinne der
Maximalkonzession versteifen, sondern sie soll auch speziellere und geringere
Konzessionen anstreben wie etwa für die Palästinabank, für den Landkauf, für
die Einwanderung, für den Empfang des „Zehnten" usw. Und für diese ge¬
samte diplomatisch-politische Tätigkeit kann der reale Boden nicht besser geschaffen
und, wenn geschaffen, geebnet werden als durch eine planmäßige, energische, un¬
entwegte Arbeit in Palästina, die greifbare Ergebnisse zeitigt. Das Ziel dieser
Arbeit ist einerseits, den Komplex von Bedingungen zu schaffen, der für eine
natürliche, stetig wachsende Einwanderung nötig ist, andrerseits, den jüdischen
Massen einen entsprechenden Einfluß auf das kulturwirtschaftliche und soziale
Leben in Palästina zu sichern. Keins der beiden Ziele benötigt als Grundlage
des Charters. Der Charter schafft überhaupt nicht als solcher die Bedingungen
für eine jüdische Masseneinwandrung. Eine Großkolonisation wird nicht „ge¬
macht". Es liegt vielmehr in ihrem Wesen, daß sie mit einer systematischen
Tätigkeit in bescheidnen Umfange beginnt, und, von den natürlichen Bedingungen
des Kolonisationsgebiets begünstigt, fortschreitend den Boden für eine Massen¬
siedlung schafft. Das ist eine Erkenntnis, die sich aus der Betrachtung der
Geschichte der großen Wandrungen und Siedlungen in den letzten Jahrhunderten
ergibt. Und daß dieser Erkenntnis zufolge nun auch in Palästina eine der
Wirklichkeit entsprechende Kolonisationsmethode eingeschlagen ist, eröffnet für den
Zionismus verheißungsvolle Aussichten.
Denn schon gegenwärtig hat, obwohl wir erst im Anfang der Entwicklung
stehn, die praktische Palästinaarbeit die ökonomische Position der Juden im
Lande gestärkt. Ebenso wichtig aber sind die moralischen Erfolge, die die
Palästinakommission durch ihre umsichtige, methodische und praktische Arbeit in
der jüdischen wie in der nichtjüdischer Welt errungen hat; sie dürften namentlich
auch das Vertrauen der türkischen Regierung zu dem Willen und den Fähig¬
keiten des jüdischen Volks steigern. Und aus mancherlei Anzeichen läßt sich
schließen, daß in Stambul die Politik des Sultans Bajazet des Zweiten, der
1492 die aus Spanien Vertriebnen Juden aufnahm und dabei sagte: „Ihr nennt
Ferdinand von Aragonien einen weisen König! Er aber macht unser Land
reich und sein eignes arm!" noch heute nicht ganz verlassen und vergessen ist.
Das jüdische Kapital setzt neuerdings mit Unternehmungen industriellen,
kommerziellen und auch landwirtschaftlichen Charakters kräftig ein; es find das
natürlich Äußerungen der Privatinitiative, aber die Palästinakvmmission bahnt
ihnen den Weg, indem sie mit Eifer und Erfolg an die wissenschaftliche und
praktische Erforschung Palästinas gegangen ist. Ein landwirtschaftliches und
technisches Auskunftsbureau ist von ihr errichtet worden, eine Kunstgewerbeschule
blüht in Jerusalem und erzeugt die ersten palüstinischen Teppiche; eine land¬
wirtschaftliche Versuchsstation ist im Entstehn begriffen, ein hygienisches Labora¬
torium zur Bekämpfung der endemischen Krankheiten ist geplant, die Errichtung
einer hebräischen Mittelschule in Jaffa gesichert — kurz, Bedeutendes ist seit
dem Jahre 1903 geleistet, Bedeutenderes noch ist eingeleitet oder für die Zukunft
geplant worden. Vielleicht dürfen wir in einem besondern Aufsatz auf diese
Gegenwartsarbeit zurückkommen, die mit der Frage nach den wirtschaftlichen
Möglichkeiten, nach der „Zukunft" des so oftmals totgeglaubten alten Wunder¬
landes in engstem Zusammenhange steht.
Heute galt es einen Rückblick auf das erste Jahrzehnt des Zionismus und
seine Wandlungen. Die gärende Sturm- und Drangzeit ist in ihm zur Ruhe
gekommen; die Bewegung ist, wie es scheint, in das Stadium der Klärung und
der Reife eingetreten. Von einem uferlosen, über den Wolken wandelnden
Idealismus ist nicht mehr die Spur. Wirklichkeitswerte regieren die Bewegung,
und ein in gutem Sinne praktischer Idealismus schafft langsam aber sicher,
systematisch aber um so erfolgreicher eine täglich sich verbreiternde jüdische
Interessensphäre im Lande. So läßt sich schon heute mit Bestimmtheit sagen:
auch das ganze nächste Dezennium des Zionismus, das durch den achten
Kongreß dieses Jahres eingeleitet wird, wird — welche Erfolge auch immer
die diplomatisch-politische Tätigkeit zeitigen mag — unter dem Zeichen der
Palästinaarbeit stehn. Für dieses Dezennium aber gilt dasselbe, was überhaupt
für die zionistische Bewegung gilt: Arbeiten, Geld sammeln und Geduld haben.
as ganze soziale Problem der Gegenwart dreht sich um die Pole
Ethik und Kapitalismus. Der Stein der Weisen wäre gefunden,
wollte uns jemand die Frage lösen: Wie kann der Kapitalismus
alle ethischen Forderungen der menschlichen Gesellschaft erfüllen,
und wie werden die ethischen Forderungen der Gesellschaft den
Kapitalismus beherrschend gestalten? Die Frage scheint auf den ersten Blick
sehr einfach. Kapitalist ist, wer Kapital, Besitz und Bargeld, Bodengrund,
Fabrikbetrieb, Gewerbe usw. hat. Kapital bedeutet Macht und Aufgabe zur
Arbeit. Wer also sein Kapital so umtreibt, daß er seine Macht nicht egoistisch
sondern im Dienste des Ganzen ausnützt, und wer zugleich als Arbeitgeber seine
Aufgabe zur Arbeit so auffaßt, daß jeder seiner Arbeitnehmer durch die Leistung
der Arbeit Teilhaber eines menschenwürdigen Daseins wird, der hat die Pole
Ethik und Kapitalismus geeinigt.
Die Berge von Fragen — von Wenn und Aber — von Entweder - Oder —,
die sich da erheben wie ein noch nicht überstiegnes Urgebirge der Menschheit,
hat wohl bis jetzt so klar wie noch nie das Werk eines Theologen gezeigt, der
aus feiner stillen Schwabenheimat ausgewandert ist, um das Problem Ethik
und Kapitalismus an der Quelle zu studieren, zu erleben. Der Pastor illo.
tdeol. Traub hat sich in Dortmund, inmitten der Blüte deutschen Kapitals, mit
wachen Augen umgesehen und als die Frucht seiner Schulung ein gutes Buch
auf den Tisch aller Parlamentshüuser, wo von Arbeit — Kapital — Volks¬
wohl geredet wird, niedergelegt.*)
Das Buch liest sich leichter, als die Schwere seines Gehalts ahnen läßt.
Traub ist ein guter Sullst. Als Theologe brachte er das Pectus mit und hat
uns doch mit Pastoralen Phrasen verschont, mit denen inferiore Geister so oft
im Kanzelton die soziale Frage spielend lösen. Daß der Verfasser Theologe
ist, mag ihm vielleicht in den Augen der strengen Wissenschafter schaden. Aber
mit Unrecht. Traub ist außerdem aus dem Kreise Naumanns. Aber Traub
teilt nicht den pessimistischen Zug von Naumanns religiös-christlicher Welt¬
anschauung. Eine Literaturangabe am Schlüsse jedes der sechsundzwanzig Para¬
graphen zeigt, daß Traub mit schwäbischer Akribie zu Werke ging, mit dem
Schulsack eines alten Tübinger Stiftsrepetenten. Traub hat etwas innerlich
Verwandtes mit seinen Landsleuten Friedrich List und dem Philosophen Planck,
Sinn für das reale Leben und Bedürfnis zu Begriffskonstruktion zugleich.
Das Werk Traubs ist es also wert, eingehender betrachtet zu werden in
Für und Wider. Traub ist sich klar über die Schwierigkeit der ganzen Er¬
örterung. Er sagt einleitend: „Unsre Aufgabe ist, zuverlässige Maßstäbe für die
sittliche Beurteilung der heutigen kapitalistischen Entwicklung zu gewinnen. Hierzu
ist ein Doppeltes nötig. Einmal müssen wir prüfen, welche sittlichen Wir¬
kungen von den bestehenden wirtschaftlichen Ordnungen ausgehn. Dann gilt es
den Versuch, bestimmte sittliche Richtungslinien zu ziehn, nach welchen die volks¬
wirtschaftliche Entwicklung beeinflußt werden soll."
Aber Traub will sich nicht bei dieser philosophisch-sozialen Arbeit begnügen.
Er will höher gehn. Das Resultat soll ihn stark machen, Normen zu finden
zur sittlichen Beeinflussung der volkswirtschaftlichen Entwicklung. Es ist ein
weiter Weg, der bis zu diesem Resultat und zu den Mitteln der Ethik führt,
in denen auch heute das Heil der Volksgesundung zu suchen ist. Mit zwei
ethischen Gedankenreihen schließt das Buch, und ich will sie zuerst als das Ziel
der ganzen Untersuchung nennen zur Beleuchtung der ganzen scharfsinnigen De¬
duktion. Erstens: keine Technik und keine Wirtschaft kann die sittlichen Kräfte
ersetzen. Zweitens: die Ethik —sagen wir die Ethik Christi — darf die Ver¬
bindung mit dem Leben nie verlieren. Ich gebe diese beiden Gedankenreihen
mit den Worten Traubs wieder zur kurzen Orientierung über das ganze
Problem.
Traub sagt in seinem Rückblick und Ausblick am Schluß: „Die Ethik
erfaßt den ganzen Menschen und zwingt ihn in jedem Beruf, sittlicher Mensch
zu bleiben. Die Kunst des sittlichen Lebens ist überall dieselbe. Dazu kommt,
daß keine Technik und keine Wirtschaft die sittlichen Kräfte ersetzen kann. Denn
Ethik ist treibende Macht, nicht rückständige Gewalt. Sie veranlaßt geradezu
den Fortschritt im materiellen und geistigen Leben. Das Böse bringt sein
Programm zu Ende; das kommt ans Ziel. Das Gute ist ein grenzenloser
Prozeß und ist nie mit dem Erreichten zufrieden. So wirft die Ethik in das
Wirtschaftsleben der Völker den unstillbaren Drang nach Reform. Ein sittlicher
Mensch ist nie fertig; ein wirtschaftendes Volk erfährt von der Ethik her den
immer erneuten Anstoß zur Weiterarbeit. Zugleich beginnt die Ethik die Auslese
unter den wirtschaftlich Tüchtigsten. Es ist immer noch an dem, daß Ehrlichkeit,
Wahrhaftigkeit, Geschicklichkeit, Treue, Mut die einzigen Pfeiler des wirtschaft¬
lichen Gebäudes sind, auf die man sich verlassen darf."
Die zweite Gedankenreihe gebe ich am Schluß der Besprechung. Diese
Gedankenreihe gipfelt in der Erkenntnis, daß die alten ethischen Kräfte: Mut,
Liebe, Opfersinn auch ferner die Leiter jeder volkswirtschaftlichen Entwicklung
bleiben werden.
Wir werden uns bei diesen Resultaten nicht getrost auf den behäbigen
Altenteil zurückziehn und sagen, wie so oft geschieht: Also nur Mut! Es geht
auch in der Gegenwart alles hübsch nach den alten Gesetzen, nach „den Kräften
ewiger Wahrheit"! Nein, bis wir zu diesem beruhigenden Ende kommen, das
uns nur stark machen soll, in dem Riesenkampfe moderner Material- und Geistes¬
werte ruhig zu bleiben und auf keine neuen Offenbarungen, seis vom Himmel,
seis von der Erde, müßig zu warten. Nein, wir sollen mit den gegebnen Mitteln
der Ethik eben den Riesen Kapitalismus bezwingen, und das Ziel der Ethik ist
im Kampfe nicht Tötung, sondern Beherrschung — Dienstbarmachung für die
letzten Ziele der Menschheit, das heißt für ein Maß von materiellem Glücks¬
dasein, das den Menschen tüchtig und lustig macht, seine geistigen Anlagen zu
fördern und zu genießen.
Beide Begriffe: Kapitalismus und Ethik sind spröde bei ihrer nähern Be¬
stimmung. Traub begrenzt den Kapitalismus den Gewerben und der Land¬
wirtschaft gegenüber. Er bezeichnet sie als dessen Feinde. Nach meiner Über¬
zeugung ist das aber das Zeichen des Übergangskampfes. Für das deutsche
Volk muß eine Zeit kommen, wo Kapitalismus — Traub könnte auch sagen:
Industrie —, Gewerbe und Landwirtschaft wieder Bruder werden. Es scheint
sich jetzt schon ein Verständnis dafür anzubahnen. In diesem Punkt ist Traub,
wie Naumann, wohl zu sehr von dem einen Gedanken: Kapitalismus — In¬
dustrie gefangen genommen. Es mag die berechtigte Einseitigkeit sein, ohne
die man nie zum Ziele kommt. Den Begriff des Kapitalismus scharf zu be¬
stimmen hindert uns Deutsche auch unser eben nicht ohne Bangen und Sorge
sich vollziehender Übergang von der Volkswirtschaft zur Weltwirtschaft. Wenn
Traub befürchtet, daß es durch die Unberechenbarkeit des technischen Fort¬
schritts dem Sozialethiker immer schwieriger werde, bestimmte Richtungslinien zu
ziehn, so darf man wohl diesen Fortschritt in der Möglichkeit, die ethischen
Forderungen anders zu gestalten, nicht überschützen. Schwer sind hier Fragen:
„Wie wirkt der Kapitalismus auf die sittliche Haltung des Volks? Sehen wir
dieselben Erscheinungen in allen Ländern, wo er eingesetzt hat, oder müssen die
ethischen Zustände der Völker aus andern Verhältnissen abgeleitet werden? Ist
es möglich, eine bestimmte Wirtschaftsweise für sittliche Folgen verantwortlich
zu machen? Steht die Technik der Gütererzeugung und Güterverteilung in
einem faßbaren Zusammenhang mit dem Gewissen einer Nation? Überragen
nicht die Einflüsse des Klimas, der Rasse, der geschichtlichen Erziehung, der
politischen Stellung so sehr, daß wir das Konto, welches für die volkswirt¬
schaftlichen Einflüsse in Betracht kommt, gar nicht reinlich ausscheiden können?"
Ethik und Volkswirtschaft haben es ja doch mit ein und demselben Menschen
zu tun. Man soll nicht sagen, der Fabrikherr, der Arbeiter — und die Ethik
sind zweierlei Dinge. Ich möchte noch schärfer als Trcmb von vornherein be¬
tonen, daß eben tatsächlich beide Faktoren in der Leidenschaft des Kampfes als
Eines geleugnet werden. Es müßte viel mehr Vertrauen und viel weniger Elend
in allen Kontroversen da sein, wenn sich Kapitalist und Arbeiter einander mehr
in ethischer Beziehung verpflichtet fühlen wollten. Ich erinnere an die großen
Streiks, vor allem an die Bergarbeiterstreiks. Trambs Buch ist allerdings vor
diesen geschrieben worden.
Noch größer sind die ethischen Fragen. Traub nennt dagegen die kapi¬
talistischen Probleme ein Kinderspiel. Es gibt noch viel weniger einen einheit¬
lichen Maßstab si« Ethik, für „gut" — „Tugend". Was tausend für soziales
Unrecht erklären, verteidigen hundert andre als sittlich.
Ethik steht gegen Ethik, das alte Weltbild hat sich verändert. Traub
nennt den Grund nicht — es ist die Reformation. Aber er scheidet klar: die
einen leben im galiläischen, die andern im romanischen, die dritten im pro¬
testantischen Christentum:. Dieses spaltet sich wieder in rationalistische und pie¬
tistische Ethik. Daneben erhebt sich der stoisch ruhige Bau der antiken Staats¬
moral und dann ein Hans — noch ohne Dach —, die anarchistische Beurteilung
der Gegenwart und ihrer angefaulten Ethik. Und zuguderletzt hat die rein
Politische Ethik noch ihre Scheidung in demokratisches und aristokratisches Lager.
Aber auch die Grundfesten dieser einzelnen Säulen wanken unsicher: Hie
Sozialethiker, da Jndividualethiker! Zwei Feinde. Unter dem Druck dieser
Komödie der Wirrungen sagt Traub nicht ohne Ironie: „Was nützt es, etwas
zu sagen, wo die besten Führer einander widersprechen? Hier liegt einer der
Gründe, warum die Sozialethiker von den Männern wirtschaftlicher Praxis über
die Achsel angesehen werden. Diese begreifen nicht, warum sie ihre Erfolge
Preisgeben sollen, solange ihre Kritiker noch nicht einmal über ihre eignen
Grundsätze eins sind." Aber wir lassen uns das Recht nicht nehmen, an diesen
höchsten Menschheitsfragen mitzuarbeiten. Die höchsten Gedanken sind die streit¬
barsten.
Erschwert wird eine ethisch, ich möchte sagen gemütvolle Aussprache da¬
durch, daß sich die Großkapitalisten selten über die ethische Seite ihres Berufs
ausgesprochen haben. Carnegie in seiner „Kaufmanns Herrschgewalt", Siemers
und Krupp haben das ehrlich und offen getan.
Ich möchte gerade in dieser Zeitschrift, die zweifellos manchen Gro߬
industriellen zum Leser hat, einen dringenden Ruf an diese Männer richten,
ihren hohen Beruf, ihren großen Erfolg und ihr Bekenntnis für die ethische,
volkserhaltende und beglückende Seite ihres Berufs immer mehr schriftlich zu
fixieren. Das muß kein Buch sein, darf keine unkontrollierbare Monographie
werden, aber ehrliche Bekenntnisse vor aller Welt. Das kann unsre Kapitalisten
nur ehren und manches Vorurteil zerbrechen. Denn ich bin gewiß, es geschieht
noch viel mehr ethische Arbeit an den Arbeitern durch das Kapital, als es die
Antikapitalisten, die Sozialisten Wort haben wollen. Ich möchte noch viel
stärker als Trciub gerade auf diese versöhnende Arbeit den Finger legen. Mancher
ungerechte Vorwurf der Arbeiter wird schwinden, wenn er Einblick in die Sorgen
seines Herrn erhält, aber auch manches schlafende Gewissen des Arbeitgebers
wird zum Wachen kommen. Die Schwierigkeiten mag ein ethischer Wille über¬
winden.
Es fehlt uns hier der Raum, auszuführen, wie sich Traub wissenschaftlich
mit allen den großen Fragen auseinandersetzt: Wesen des Kapitalismus, seine
Ankläger und Verteidiger, Wesen der Ethik, ihre falsche, einseitig beschränkte
Form als Gefühls-, Interessen-, Berufs- und Klassenethik. Der Glanzpunkt
des Buches sind die Partien über die allgemeine Ethik und das Verhältnis
von Moral und Christentum. Vielumstrittne Probleme werden hier scharf an¬
gefaßt. Bei der allgemeinen Bedeutung dieser Kontroversen darf auch hier ein
Wort darüber gesagt sein, zugleich als Probe dafür, wie Traub seinen theoretischen
Teil behandelt.
Traub weist zunächst einige Irrungen ab: 1. daß das Moralische nur ein
Teilbesitz des Gesamtwillens sei. Nein, das Moralische ist dessen Herr. 2. daß
das Moralische schwach mache und nur Schwächlinge erhalte. Nein, die stärksten
Menschen der Weltgeschichte waren ethische Charaktere, weder Schwächlinge noch
Hüter des Schwächlichen, starke Helden, die die müden Kniee wieder aufgerichtet
haben!
Welchen Beitrag hat nun das Christentum zu der allgemeinen Mensch¬
heitsmoral geleistet?
1. Sittlich ist, wer nichts Einzelnes, sondern ein Ganzes will. (Gesinnung,
nicht Erfolg macht den Charakter.)
2. Wer das, was er will, selbst will. (Freie Selbstbestimmung ist die
Atmosphäre des sittlichen Handelns.)
3. Wer sich für das, was er ist, verantwortlich weiß. (Verantwortlichkeit
steigert sittliche Größe und Urteilskraft.)
4. Kraft ist, wer in dem, was er tut, nach Einheit mit sich selber ringt
(oder nach Aufhebung der Widersprüche zwischen sittlichem Urteil und sittlichem
Willen).
5. Sittlich ist, wer das Ideal der Gemeinschaft freier Menschen verwirk¬
lichen will. Damit erreicht der bisher formale Begriff des Sittlichen seinen
Inhalt: gut, sittlich ist, was der Gemeinschaft dient.
Traub versteht unter Christentum die religiösen Zentralgedanken Jesu, wie
sie uns durch Reformation und Aufklärungszeit in neuem Gewände zugeführt
wurden. Die leitenden Ideen sind: Sündenvergebung und Gotteskindschaft.
scheinbare theologische unfruchtbare Schlagwörter, und doch die fruchtbarsten
Elemente zur Vertiefung und Durchführung selbständiger Moral. Es ist hier un¬
möglich, die feinen Auffassungen Traubs auch nur übersichtlich zu geben. Ich
verweise auf das Buch und nenne nur die Resultate: Sündenvergebung ist
sittliche Reformation, Mut, Freude zu neuer Tat mitten im Irren, ohne be¬
dingende Fessel und Brandmarkung. Gotteskindschaft ist Gleichheit aller vor
Gott. Das Neue in Christo ist nicht dieser Gedanke, sondern die Tat der Ver¬
brüderung mit den Menschen, anhebend bei den Ausgestoßenen. „Der indi¬
viduelle Menschenwert als Postulat sittlichen Denkens ist mit dem Leben Christi
engstens verbunden." Der christliche Gedanke der sozialen Gleichheit behält
aber seine Höhe dadurch, daß er nicht mechanisch quantitativ die Menschen
gleichstellen will, sondern nur nach der qualitativen Wertung ihrer Gesinnung.
Traub Hütte auch noch darauf hinweisen können, daß damit aller utopistischen
Nenformierung anarchistischer Gelüste im Namen Christi die Spitze abge¬
brochen ist. Aber damit ist der Wert Christi sür die soziale Ethik noch nicht er¬
schöpft; er gab ihr nicht nur zwei neue religiöse Güter, er gab dazu auch noch
das Mittel, diese sich anzueignen — er gab eine neue Pädagogik. Er entband
die Großmacht der Liebe als höchste sittliche Energie. Göttliche Liebe erzieht
den Charakter zu sittlicher Freiheit, sie macht alle die Tugenden wirksam, die
soziales Wirken erheischt. Christus gab keine Regeln und Gesetze, weder für den
Bankier, noch den Politiker, noch den Handwerker, noch den Kirchenmann.
Er gab allen Lebenskreisen der Menschheit die sittliche Aufgabe, an der Hand
seiner Grundsätze Ewigkeitsprobleme mit irdischem Material zu lösen. Immer
werden Versuche frommer Menschen nötig sein, die uns sagen wollen, wie
Jesus heute handeln würde. Nur müssen fromme Leute aus allen Berufs¬
schichten gehört werden. Der Theologe selbst ist wohl der am wenigsten taug¬
liche zu solcher Arbeit!
Es ist eine weitverbreitete Ansicht unter Theologen, daß Christus von
einer Menge sittlicher Interessen, die die moderne Kultur auslöst, keine Vor¬
stellung gehabt habe. Auch Traub ist teilweise dieser Ansicht. Ich kann das
nicht finden. Vor allem wird Christi Ablehnung gegen das Geld, gegen die
Kapitalisten als beschränkt richtig empfunden gerade für unsre Zeit. Aber
einmal weist Christus in seinem Verkehr mit einer Anzahl vermögender Leute
durchaus unbefangne Objektivität auf — so gegen Zachüus, Nikodemus, Joseph
von Arimathia, Simon usw. Wenn er dem Kaiser geben will, was des Kaisers
ist, so zeigt er inmitten eines korrupten Steuersystems doch ein geistvolles
Verständnis für die finanzielle Basierung des Staatskörpers. Bei den Gleichnissen
von den Talenten, vom ungerechten Haushalter gibt er über Segen und Un-
segen richtiger und falscher Kapitalwirtschaft eine heute noch als Maxime
durchaus giltige Norm. Der Mann mit seinen fünf erworbnen Talenten ist
ein respektabler Unternehmer und erwirbt sich damit den Himmel. Bei dem
Gleichnis vom Verlornen Sohne, vom Weinbergbesitzer, vom Perlenhändler,
vom Weizenbauern, der großmütig das Unkraut erträgt, haben wir doch ein
Gefühl fast behaglicher, unreslektierter Anerkennung dieser solid veranlagten
Kapitalisten, die ihre Werte umsetzen, und denen Gewinn und Verlust nicht
gleichgiltig ist.
Aus allen diesen Worten Christi über Kapitalwirtschaft kann man auch
für die kompliziertesten modernen Geldverhältnisse Maximen zu sittlichem Handeln
finden. Ich glaube, daß die Theologen und die Ethiker hier noch nicht alle
Arbeit geleistet haben. Ich glaube nicht, daß es nötig ist, Christi Stellung zum
Geldbesitz aus seiner transzendenten Weltanschauung heraus als befangen zu
erklären. Ich glaube, daß da der Ebionitismus, die Armut der urchristlicher
Gemeinde, manches Wort erst antikapitalistischer gedeutet hat, als Jesus es
meinte.
Aber die transzendente Weltstimmung Christi als Ganzes ist allerdings
ein wesentlicher Zusatz zur allgemeinen Menschheitsmoral geworden. Tranb
hätte das vielleicht noch etwas schärfer herausheben können. Ich möchte sagen:
Der Begriff Gotteskindschcift hat zwei Seiten: eine immanente: gleiche Brüderlich¬
keit der Menschen — und ein übersinnliches Bürgertum in der übersinnlichen
Welt. Unter dem sittlichen Gedanken der Gleichberechtigung schaffen wir Kultur¬
werte. Die Arbeit an ihnen ist uns Lebensinhalt und Aufgabe. „Aber, sagt
Traub, die Freiheit zu solcher Mitarbeit, die dauernde Freude daran gewinnt
er nur, wenn er noch höhere Werte kennt."
Das Kapitel: Moral und Christentum gehört zu den tiefsten Partien des
geistvollen Buches. Traub anerkennt unumwunden die Komödie sittlicher
Irrungen, die ohne viel Wissen und Kunst auch im „Christentum" und seiner
Geschichte offenliegen. Aber vergessen wir nie, daß die „modernen sittlichen
Begriffe der »Persönlichkeit« und »Verantwortlichkeit« in letzter Linie auf das
Lebensbild Christi zurückführen". Auch die Zurückweisung der Kulturseligkeit,
die Betonung der höhern Werte, moderne Mystik und Metaphysik finden in
der Religion Christi ihren Boden.
Traub will Grenzen zwischen Christi Weltbild und unsern sittlichen
modernen Ordnungen erkennen, die Christus von unserm modernen industriellen
Zeitalter trennen. Er sagt: „Es wird auch der besten Exegese nie gelingen,
Christus und das moderne industrielle Zeitalter einander so anzunähern, daß
die beiden einander etwas deutliches zu sagen hätten. ... Jesus sagt nichts über
Kredit- und Bankwesen, über Industrie, Handel und Ackerbau als volkswirt¬
schaftliche Größen. Er sah keine Panzerflotte und hörte keinen Kanonendonner.
Er sah Gott und dürstende Menschenseelen. Diese beiden zusammenbringen,
war seine Kraft. So war er Erlöser und ist es bis heute."
Den letzten Teil der Ausführungen unterschreibe ich; den ersten, wie schon
oben angedeutet, nicht. Es ist eine Überschätzung der wirtschaftlichen Größen,
die sich auch bei Nciumcmn findet. Bank-, Kreditwesen usw. sind doch nur quan-
titiv, nicht qualitativ von Christi Zeitalter unterschieden. Bei den Juden jener
Zeit gab es doch schon ein stark ausgebildetes Handels- und Geldsystem. Die
Römer hatten einen Agrikulturgroßbetrieb in ihren Latifundien, der eine respek¬
table volkswirtschaftliche Größe bedeutete. Zwischen Panzerflotte und Kanonen¬
donner und Römerflotte und Schlachttoben war doch auch nur ein quantitativer
Unterschied. Ja Handel und Krieg waren damals in einer Weise weltpolitisch,
wie wir sie erst im zwanzigsten Jahrhundert wieder erleben. Und gab es
wirklich keine Großindustrie im alten römischen Weltreich? Zum mindesten gab
es einen Kunsthandel, der in seinen Weltbeziehungen und seinem Fabrikbetrieb
Industrie war. Man kann aber für alle diese volkswirtschaftlichen Größen der
alten und der neuen Zeit oberste Maximen aus Christi Weltanschauung finden,
ohne gewaltsame Exegese: Ehrlichkeit im Handel und Geldverkehr, Solidität in
der wägenden Spekulation, in der Fabrikproduktion. Und der Ackerbau, sollte
der nicht heute noch in unmittelbarster Beziehung zu Christi Gedanken stehn?
Christus hat mit keinem Wort das strenge Verhältnis von Herren und Knechten
aufgehoben. Er verlangt vom müden Knechte, daß er vor seinem Feier¬
abend noch den Herrn zuerst bedient. In allen diesen natürlichen Lebens-
ordmmgen hat sich Christus weiter an nichts als eine natürliche Gerechtigkeit
gehalten, die weiß, daß sich die Dinge der Welt nur in festen Ordnungen
von Befehlenden und Gehorchenden ausleben und fortentwickeln. Christus hat
das Gefüge der Weltmaschine nicht zerschlagen, sondern nur das Öl der Liebe
in ihre Gelenke gegossen. Wenn also Christus über viele soziale Gliederungen
nichts sagte, so war das kein Mangel seines Zeitbildes, sondern die Achtung
bor den bestehenden Grundordnnngen der Dinge, die er auf seinen himmlischen
Vater zurückzuführen allen Grund hatte.
Würden alle modernen volkswirtschaftlichen Größen heute nur nach dem
einen Grundgesetz Christi: Liebe oder soziale Fürsorge des Starken für den
Schwachen organisierte Werke von einer Einheit sittlicher Persönlichkeiten — ich
wüßte nicht, warum wir mit diesem einen Grundsatz Christi nicht in bessere
Zukunft steuern sollten. Ich finde, daß der soziale Geist der Liebe in den großen
Parlamenten der christlichen Völker mächtig erwacht. Da und dort reibt er sich
schlaftrunken noch die Augen, aber da und dort ist man doch im Begriff, die
Kinderschuhe zu zertreten. Gerade an dieser Stelle des Buches hätte ich zwei
Paragraphen gewünscht: Ethik und Volksvertretung. Ethik und Volksverwaltung,
oder: Wie erkennen Parlament und Regierung ihre ethischsozialen Aufgaben?
Es ist noch ein weiter Weg. bis Trcmb alle sittlichen Werturteile, die die
Beziehung zum Kapitalismus fordert, festgestellt hat. Dieser theoretische Teil
nimmt gerade die Hälfte des Buches in Anspruch. Der zweite Teil befaßt
sich mit der ethischen Wertung einzelner Stände. Zuerst kommt der Kaufmann
an die Reihe, der vornehmste moderne Vertreter des Kapitalismus. Zur
Illustration, wie Traub seine Aufgabe von der praktisch-ethischen Seite anfaßt,
sei gezeigt, wie er über das Thema „Kaufmann und Ethik" spricht.
Die Urteile über den Stand des Kaufmanns und seine Beziehungen zur
allgemeinen Ethik schwanken. Der Sozialist Fourier nennt ihn den Krebs¬
schaden der Zivilisation. Alle Völker bis zum Mittelalter hatten instinktives
Mißtrauen gegen den Handel. Heute erkennen wir den Handel als notwendiges
Glied der arbeitsteiligen Produktion in unsrer Wirtschaftsordnung an. Er ist
sozialer Dienst ersten Ranges. Der Handel organisiert die gesamte wirtschaftende
Gesellschaft. Es ist interessant, das hohe Lied zu lesen, das Traub dem Kauf¬
mannsstande schreibt. Man kann ihm nnr Recht geben, und die erste Probe
seiner sittlichen Maßstäbe auf einen Typus des Kapitalismus gelingt ihm
sehr. Ethisch gewertet bedeutet der Kaufmannsstand: ruhige Erwägung, Sach¬
kenntnis, Wirklichkeitssinn und Wahrhaftigkeit. Lug und Trug sind nicht bloß
die Gefahren des Kaufmanns. Jeder Beruf hat sie, auch der theologische.
Die Frage ist nur, ob der moderne Handel diese Gefahren größer oder kleiner
macht. Der Großhandel kann nur auf der Grundlage der Verantwortlichkeit
und der Wahrhaftigkeit gedeihen. Das ethische Verhältnis zwischen Gro߬
handel und Detailhandel dürfte noch nicht so geklärt sein. Ehrlicher Gro߬
handel schärft auch dem Kleinhandel das Gewissen, stattet ihn mit ehrlicher
Ware aus und erleichtert ihm den Kampf gegen die Schmutzkonkurrenz. Ich
mochte hier einen Schritt weiter gehn und darauf aufmerksam machen, daß
Großfirmen an gewisse Warenhäuser nicht verkaufen, das ist ein ethischer Zug.
Der Staat sollte alles tun, den ehrlichen Großhandel schon im Interesse des
Kleinhandels zu unterstützen — nicht zur Ausschaltung der Warenhäuser, sondern
einzelner schmutziger Praktiken. Hier sind wir an einem Punkte, wo die Ethik
geradezu befruchtend und befreiend auf die Volkswirtschaft einwirken kann, wo
sie Parlamentarismus und Kapitalismus zu neuen Formationen sittlich ver¬
pflichtet.
Der Handelsstand fordert sittliche Persönlichkeiten. Er kennt Opfermut
(E. Lohner, Krupp usw.). Geiz findet sich sogar hier weniger als anderswo.
Sittliche Defekte rächen sich viel offenkundiger als in andern Stünden. Der
Kaufmannsstand mit seinen Versuchungen hat deshalb die sittliche Pflicht, un¬
saubere Elemente auszustoßen. Der Protestantismus hat den Kaufmann und
den Kapitalismus gefördert. Der Protestantismus schafft selbständige, verant¬
wortliche Persönlichkeiten. Ein hohes Maß sittlicher Wahrhaftigkeit, Selbst¬
beschränkung und sozialen Pflichtgefühls fordert vor allem die Preisbestimmung
der Waren, vorzüglich der großen unentbehrlichen Gütermassen für die Volks¬
erhaltung. Gerade die Sozialethik hat sich mit dem ökonomischen Begriff des
Wertes auseinanderzusetzen. Die menschliche Arbeit als sittliche Leistung muß
immer das Normgebende sein, wobei der Zusammenhang der Ware mit dem
Naturstoff selbstverständlich nicht ausgeschlossen sein soll. Ich möchte noch
hinzufügen, daß die Ethik gerade hier ihre höchste soziale Zukunftsaufgabe hat:
die soziale Aufgabe wäre in dem Augenblick gelöst, wo eine Organisation
freier oder kommunaler sittlicher Persönlichkeiten die Macht und die Einsicht
hätte, den Preis jeder Ware so zu bestimmen, daß Arbeitgeber und Arbeit¬
nehmer so gelohnt würden, daß das jetzt herrschende Mißverhältnis zwischen
Kapital und Arbeit aufgehoben wäre, populär gesagt: daß der Arbeitsgewinn
des Unternehmers in gewissen Prozenten zugunsten des Arbeiters beschränkt
würde.
Ähnlich werden sittlich und volkswirtschaftlich gewertet der Konsument, der
Rentner, der Bauer, der Unternehmer, der Handwerker, der Arbeiter und die
Frauenfrage. Da, wo sich gegen Traubs Ausführungen im einzelnen Wider¬
sprüche erheben, müßte ich zu weit für den mir übrigen Raum ausholen. Es
handelte sich hier nur darum, zur Lektüre des wertvollen Buches anzuregen.
Ich denke, daß das Schlußwort Traubs dazu das meiste noch beitragen kann:
„Die Hauptsache ist, daß die Ethik die Verbindung mit den tatsächlichen Lebens¬
und Entwicklungsbedingungen nie verliert. Ihre Werte und Güter liegen
zwar höher als alles, was wir kausal erklären können. Aber die sittliche
Arbeit und sittliche Entwicklung muß an dem gegebnen Stoff und mit den
vorhandnen Mitteln des geschichtlichen Lebens arbeiten. ... Volkswirtschaftliches
Handeln ist sittlich, wo es um der Zukunft des Volkes willen geschieht. Der
Kapitalismus hat die Völker formell gewöhnt, mit der Zukunft zu rechnen; er
liebt Überraschungen; er treibt unaufhörlich in die Weite. Dieses Triebes muß
die Ethik Herr werden, indem sie die Gedanken der privatwirtschaftlichen Zu¬
kunft umbiegt zu dem Willen, die ganze Volkswirtschaft zu einer fröhlichen,
segensreichen Zukunft der Völker zu gestalten. Mut, Liebe, Opfersinn bleiben
die Kräfte jeder Entwicklung. Die Ethik hat sie zu bewahren, zu begründen,
nach allen Gesichtspunkten hin als die lebendigen Mächte des Fortschritts zu
erweisen. Die Volkswirtschaft wird ihr stets dankbar sein, weil sie nur dadurch
vor eignem Zerfall behütet wird. Wenn die Seele des Volkes krankt, hilft
kein noch so fein durchdachter Apparat materieller Wohlfahrt. Nicht die Zeit
ist es, welche die Ewigkeit trügt. Nur dort werden die Zeiten groß und die
Völker in ihnen über das gewöhnliche Maß erhoben, wo die Kräfte ewiger
W
WK^M* -v
sWß
MD»hö^^^^i is Aldrich vor zwei Monaten seine Ode an Longfellow zu dessen
1 hundertjährigem Geburtstag dichtete, da ahnte er nicht, daß diese
Verse der Huldigung und des liebevollen Erinnerns die letzten
sein sollten, die er schrieb. Denn zu ihm kamen die Todesgedanken
!nur in flüchtig vorüberhuschenden Stimmungen, die vergessen
waren, sobald ein Sonnenstrahl ihn streifte oder eine kleine, wenn auch noch so
vergängliche Freude ihn ablenkte. Solcher kleinen Freuden hat er sich viele
zu schaffen gewußt, sich auch im Alter die Frische bewahrt, die die Lebens-
künstler im alten Attika so weise festzuhalten wußten. Eine gewisse finanzielle
Befähigung ermöglichte es ihm, seine nicht sehr umfangreichen literarischen
Werke so nutzbar zu machen, daß er in spätern Jahren vor Sorgen gesichert
war. Da hat er nun im wahrsten Sinne des Wortes seines Lebens Feier¬
abend gehalten. Wenig hat es ihn gekümmert, daß sein bescheidner europäischer
Ruf allmählich verblaßte, daß auch seine Landsleute weniger von ihm sprachen,
seit die Muse seltner und seltner bei ihm zu Gaste kam.
Um die Zeit, als Bret Hartes Argonautenerzühlungen jugendliche Köpfe
mit übersprudelnden romantischen Ideen füllten, war Aldrich auch bei uns einer
der meistgelesnen amerikanischen Autoren. Zwar wir in Europa kennen ihn
mehr als Humoristen, wahrend Amerika ihn als Dichter ehrt. Noch ein drittes
aber, das in beiden Seiten seines Schaffens gelegentlich zum Ausdruck kommt,
ist zu merken. Die trauliche Behaglichkeit der Kleinstadt, das ein wenig philiströse
Festhalten an altväterischen Sitten, und über dem allen der eigentümlich
schüchterne Reiz der neuenglischen Landschaft im Schneesturm wie in der Glorie
des Frühlings, das alles findet sich in Aldrichs Werken zu einem zu der feinsten
Harmonie abgetöntem Bilde zusammengefügt. Seine scharfe Beobachtungsgabe
macht ihn zum zuverlässigen Sittenschildrer eines Zeitabschnitts, der bei der
raschen Entwicklung des amerikanischen Kulturlebens bald der Geschichte ange¬
hören wird.
Aldrich hat den Reiz dieser Bilder von seinen Knabenjahren an in sich
aufgenommen; war er doch Neuengländer durch und durch, nicht frei von dem
feinen geistigen Hochmut, mit dem sich die Zeitgenossen Emersons und ihre
Nachkommen als der zu Kulturaposteln Amerikas cmserwühlte Stamm fühlten.
Zwar war Aldrichs Tätigkeit von bescheidneren Umfang als das Wirken des
Weisen von Concord, dessen Gedankenflug weit über Amerikas Grenzen hinaus
seine Kreise zieht. Dennoch war Aldrich als Herausgeber der Wochenschrift
Lvor^ Lawi-äg.^ und später als Leiter der vornehmen ^elf-ullo Nontdl^
von bedeutendem literarischem Einfluß, und es spricht für sein ausgereiftes
kritisches Urteil, daß unter seiner Ägide die ^Uantio NorMI^ den Ruf ge¬
wann, die bestredigierte Zeitschrift in englischer Sprache zu sein. Wie groß die
Bedeutung solch sorgsamen Sichtens und Ausschaltens für eine junge Literatur
ist, wird erst in spätrer Zeit an den Resultaten klar, und dann wird freilich
das Verdienst eines Einzelnen dabei leicht übersehen, ob auch ein guter Teil
seines Lebenswerkes dieser mühsamen kritischen Arbeit gewidmet war.
Über seine Abstammung hat Aldrich einmal in einem kleinen Gedicht be¬
richtet. Da erzählt er von dem wunderlichen Herzensbund seines Ahnen, der
ein Krieger vom Schlage Cromwells gewesen und sich zur Gattin eine Tochter
des Südens gewühlt hatte, in deren Adern das Blut wie feuriger Wein rollte;
und in bezug auf sich selbst fügt er hinzu:
Seeleute waren die Aldrichs der frühern Generationen. Erst als infolge
der Einführung des Schutzzollsystems Neuenglands Häfen verödeten, wandten
die Familienhäupter ihre Energie finanziellen Unternehmungen zu. Doch genug
von dem Temperament der auf den Meeren heimischen Vorfahren hatte
Thomas Bailey geerbt, um den Hafencharakter seiner Vaterstadt Portsmouth,
die so durchdrungen ist von Erinnerungen an das Meer, zu verstehn. Unter
dem Namen Nivermouth hat er sie oft zum Schauplatz seiner Erzählungen ge¬
wählt und in Poesie und Prosa immer wieder die ulmenbeschatteten Straßen
geschildert, die hinab zum Hafen führten. „Giebel und Dächer der ostwärts
schauenden Häuser sind mit rotem Rost überzogen gleich den Schaufeln alter
Anker; Salzgeruch durchdringt die Luft, und dichte graue Nebel, der unmittel¬
bare Hauch des Ozeans, wälzen sich von Zeit zu Zeit bis in die stillen Straßen
hinauf und hüllen alles ein. Furchtbare Stürme peitschen das Küstenland, und
die erzürnten Wogen werfen Tang und Spiere und zuweilen die Leichen Er-
trunkner an den Strand. Schisfsbauplütze, Werften und die rotbraune Flotte
der Fischerboote, die alljährlich in Rivermouth ausgerüstet wird — alle diese
Dinge und hundert andre nähren die Phantasie jedes gesunden Knaben und
füllen ihm das Hirn mit abenteuerlichen Träumen."
So sah der Tummelplatz von Aldrichs Knabenjahren aus; unter Obhut
Großvater Nutters sollte er die Schule in Portsmouth besuchen, während der
Vater in Neworleans sein in einem Bankunternehmen „allzu sicher" angelegtes
Vermögen zu retten suchte, was sich nach jahrelanger Arbeit als unmöglich
erwies. Das stille Haus des würdigen Herrn Rudler, wo man den Sonntag
nach gut puritanischer Überlieferung mit der Feierlichkeit eines Leichenbegäng¬
nisses umgab, und die ebenso stillen, schattigen Alleen, die von vergangnen Tagen
frischern Lebens zu träumen schienen, hätten auf den muntern Knaben sicher
unerträglichen Druck geübt, wenn nicht der lustige, immer zu übermütigen
Streichen aufgelegte Schülerbund der Centipedes gewesen wäre. Die Heldentaten
der Centipedes bilden einen höchst wichtigen und sehr amüsanten Teil der 3lor^
ok g, bg,ä Le>^*), in der Aldrich die Erinnerungen aus seinen Schuljahren auf¬
gezeichnet hat. Da erfahren wir von der Schneeballschlacht auf dem Slatter-
hügel, die tagelang wütete und mit so viel Erbitterung ausgefochten wurde,
daß es hüben und drüben blutige Köpfe gab. Da war das große Feuerwerk
am Tage der Unabhängigkeitserklärung, wozu sich Tom Bailey mit Hilfe der
Waschleine aus seinem Schlafzimmerfenster hinabließ, denn da des Großvaters
Erlaubnis zur Teilnahme an dem nächtlichen Vergnügen höchst zweifelhaft war,
so hatte sich der artige Junge der Versuchung zum Ungehorsam entzogen, indem
er, ohne erst zu fragen, entwischte. Den Höhepunkt des Freudenfeuers bildete
dann das Verbrennen der alten UM oosoll — ein Ereignis, das an drastischer
Wirkung nur noch durch das berühmte Mitternachtsbombardement übertroffen
wurde. An der Reede von Portsmouth lagen nämlich unbenutzt, als zweck¬
loser Zierat alte Geschütze aus dem Jahre 1812, und eines schönen Sommer¬
nachmittags, als die Häupter der Centipedes im Hafen angelten, ließ der An¬
blick der rostüberzognen Rohre in Tom Baileys Kopf den Gedanken aufblitzen,
ihre metallnen Mäuler noch einmal reden zu lassen, um den braven Bürgern
von Portsmouth damit eine sinnige Überraschung zu bereiten. Der Vorschlag
wurde allseitig mit Begeisterung aufgenommen, eine rasch veranstaltete Sammlung
ergab zusammen mit dem Vereinsfonds neun Dollars, die sogleich in Pulver
angelegt wurden. In einer der folgenden Nächte donnerten dann die alten
Kanonen, deren Ladung durch Lunten entzündet wurde, in regelmüßigen Ab¬
ständen eine nach der andern los, bis jeder einzelne Bürger von Portsmouth
aus süßem Schlaf geweckt war, und in den dunkeln Straßen ein wahrer Tumult
aufgeregter Männlein und Weiblein herrschte, die nicht anders glaubten, als
daß Portsmouth bombardiert würde. Der folgende Morgen erst brachte die
Erkenntnis, daß die gute Stadt durch einen Eulenspiegelstreich genarrt worden
war — wessen Hirn die geniale Idee aber entsprungen war, und wer sie aus¬
geführt hatte, das haben die Portsmouther erst erfahren, als Aldrich es selber
ausgeplaudert.
In dieser Stör? ok g. back L07 und in einigen seiner kürzern Erzählungen
(Narjoris og.v, Uaäsinoisslls Olymps AabrisKi, ^ Kiveriuoutb. Rorakmeo) gibt
der Humorist Aldrich sein Bestes. Die Situationskomik ist oft überwältigend,
dazu kommt ein sehr gewühlter Stil mit feinen, kleinen Wortwitzen, die in der
Übersetzung leider nicht wiederzugeben sind. Dennoch ist es dankenswert, daß manche
seiner Novelletten in deutscher Übersetzung zugänglich sind,*) denn sie gehören
zu dem besten, was der amerikanische Humor uns geschenkt hat. Dem deutschen
Leser wird ihre Komik sympathischer sein als die Mark Twains. Aldrich ist
weniger trocken und nicht so grotesk wie Mark Twain oder Artemus Ward.
Des neuenglischen Dichters Freude am Komischen bleibt immer anmutig, sie be¬
wegt sich in zierlichen Tanzschritten und verzichtet auf die tollen Kapriolen, an
denen man in Amerika soviel Gefallen findet. Und irgendein verborgnes
Winkelchen ist immer vorhanden, wo weichere Töne den Leser ansprechen; die
kommen geradeswegs aus dem goldnen Herzen des warmfühlenden Optimisten,
der Elend und Leid nie als die Hauptsache im Leben sah. Einige seiner größern
Romane (?ruäsne,e ?inter<zzs, Ins Le.iI1og.ehr IraMä^, IKs (Zuseii ot Ldsdg.)
bewegen sich auf der Grenze des Tragischen, aber des Dichters letztes Wort
ist immer versöhnend.
An psychologischer Feinheit steht die zuerst genannte Erzählung Wohl am
höchsten. Es ist ein überaus anziehendes Idyll aus einer neuenglischen Klein¬
stadt mit ihren Alltagssorgen, ihren kleinen Freuden und Leiden, die sich unter
wohlgehütetem altvüterischem Dekorum kaum recht ans Licht wagen, bis aus
einer neuentdeckten Goldregion der frischere Wind abenteuerlustigen Wagemuth
hineinbläst. Da zieht denn Jack Dent hinaus in die Rocky Mountains, in der
Hoffnung, mit goldner Beute heimzukehren, um als würdiger Freier vor seine
geliebte Prue treten zu können. Und ob auch das Mädchen ihm kaum ein
Zeichen ihrer Zuneigung gibt, wartet sie doch drei lange Jahre auf ihn und
läßt sich weder durch die falsche Nachricht von seinem Tode noch durch das
Erscheinen eines andern Freiers irre machen. Zwar dieser, Ehrwürden Mr.
Dillingham, ist ein gefährlicher Rivale. An des verstorbnen Pastor Hawkins
Stelle gerückt, hat er sich die Herzen von Rivermouth im Sturm erobert; durch
seine Predigten wird die Gemeinde von Tag zu Tag frommer, und die jungen
Damen bezeigen ihm ihre Verehrung in Gestalt von ungezählten gestickten Pan¬
toffeln. Schließlich wird ihm aber infolge von Jack Dents Rückkehr der Boden
in Rivermouth zu heiß, was bei seiner Vorgeschichte nicht weiter verwunderlich
ist. Denn er hat in seiner, dieser geistlichen Episode vorangegangnen Laufbahn
als Goldgräber „Cook Dick" alias George Nevins verschiedne Heldentaten auf
dem Kerbholz, die selbst den Bürgern von Rivermouth ihren Pastor verleiden
würden. Einige seiner Streiche kann Jack Dent erzählen, denn er hat in per¬
sönlichen Beziehungen mit jenem gestanden und hat allen Grund, das zu be¬
dauern. Als er aber erfährt, daß seinem Rivalen das reine Gold in Prues
Herzen unerreichbar geblieben ist, erweist er sich als echtes Kind der Aldrichschen
Muse: er lacht über den gelungner Gaunerstreich, durch den er sein mühsam
erworbnes Vermögen eingebüßt, und hat seine Rachepläne gegen den Gold¬
gräber, dem er mit Lebensgefahr nachgespürt hat, bald leichten Herzens ver¬
gessen. Diese dramatische Episode, die nach dem Herzen Bret Hartes gewesen
sein muß, ist mit köstlicher Laune wiedergegeben. Daß übrigens Amerikas
Autoren derartige Begebenheiten nicht aus ihrer Phantasie zu schöpften brauchten,
daß die Wirklichkeit ihnen reichen Stoff dafür bot, ist mehrfach bestätigt worden.
Für Aldrich ist es ganz bezeichnend, wie er den Gauner im kritischen Augen¬
blick von der Bildfläche verschwinden läßt, damit alles in Harmonie ende.
Zuweilen klingen in Aldrichs Lyrik ernstere Töne an, besonders in den
„Achtundzwanzig Sonetten". Da ists, wie wenn ein andrer zu uns spräche
als der hochherzige Dichter, der des Lebens Sonnenstrahlen so glücklich zu
fangen und festzuhalten wußte. Es sind zum Teil Erinnerungen an seine
Reisen — die schwarze Silhouette Fredericksburgs mit den Schatten des nahenden
Verhängnisses, die Geheimnisse der nachtdunkeln Wüste, dann wieder ein Hinein¬
tauchen in phantastische Träume, die ostwärts fliegen wollen in ein sonndurch-
glühtes Land, oder ein Grübeln über das tiefe Ausruhen im Schlafe, und wie
es sein wird, wenn wir nicht wieder erwachen — das sind die Themata der
Sonette. Sie stehn meiner Ansicht nach höher als die übrigen Poesien
Aldrichs, ausgenommen vielleicht die Gedichte, in denen die keusche Anmut der
Kindesseele wiedergegeben wird.
Die Eigentümlichkeit der kindlichen Persönlichkeit hat Aldrich trefflich ver¬
standen, und wenn man genau zusieht, so spuken in einigen seiner kurzen Erzählungen
schon die ersten Spuren jener übertriebnen Rücksichtnahme auf die Individualität
des Kindes, die gegenwärtig in der amerikanischen Jugenderziehung zum Grundsatz
geworden ist und in dieser uneingeschränkten Anwendung nur verderblich wirken
kann. Doch zeigt sich hierin die Reaktion gegen die eignen Kindheitserfahrungen.
Wer die puritanische Sonntagsfeier, die sogar so stille Spielkameraden wie
Bücher verbannte, so hassen gelernt hat wie Aldrich, der wird die Erziehung
der nächsten Generation auf andrer Basis aufbauen. Das ist der ernstere Inhalt,
der solchen lustigen Büchern wie Aldrichs Ltor/ ok a back oder den Knaben¬
geschichten Mark Twains zugrunde gelegt ist. Auch sie trugen das ihre dazu
bei, mit dem alten Gerümpel der sogenannten ethischen Anschauungen aus der
Zeit der Pilgerväter aufzuräumen.
Solche kritische und erziehliche Tätigkeit sichert Aldrich einen Platz unter
den führenden Geistern seines Landes, wenngleich ihm vielleicht die Nachwelt
nicht einhellig den Kranz der Unsterblichkeit reichen wird. Das eben ist das
sympathische an dieser jungen Literatur, daß fast alle ihre Dichter und Denker
ein klar abgegrenztes Ziel vor sich sehen, dem sie ihre volle, unverbrauchte Kraft
zuwenden. Und wenn ein solches Lebenswerk getan ist, vereint es sich mit
dem verwandten Streben andrer Mitarbeiter zu Nutz und Frommen des ganzen
Volkes. Dieses erntet die Früchte, ob auch das Werk des Einzelnen bescheiden
war. Der Mann, der im März als siebzigjähriger zu Boston gestorben ist,
hätte in diesem Sinne voller Befriedigung auf seine Arbeit zurückschauen dürfen,
denn er hat mit der Erkenntnis des zunehmenden Alters seine Schriften immer
wieder gesichtet, um der Nachwelt nur das Beste seines Schaffens zu über¬
li
le Eisenbahn folgt der umgekehrten Richtung des russischen Vor¬
dringens nach Innerasien; sie berührt verschiedne Punkte von
geschichtlicher Bedeutung, wie die an Baudenkmälern reiche Stadt
Turkestan und die Ruinen von Otrar, auch Orte wie Jkan,
an denen ein Denkmal den Heldenmut der kleinen Häuflein
Erobrer verkündet, die sich im ungleichsten Kampfe behaupteten. Sie be¬
rührt sich vielfach mit dem alten Träte und macht nunmehr Städte wie
Perowsk, Kcisalinsk und Euba zugänglicher, die als befestigte Etappenpunkte
gleich wichtig für die Verbindungen im Rücken wie für den Karawanenhandel
geworden sind, sie verbindet die russischen Kolonien mit der Heimat. Und sie
ist nicht bloß interessant als ein Unternehmen, das Raum und Zeit in be-
wundernswerter Weise überwunden hat, sondern sie bietet auch Schönheiten.
Zuerst begleiten uns reichliche 20 Kilometer weit die fruchtbaren Obst-, Wein-
uud Gemüsegärten, die Getreide-, Baumwollen- und Reisfelder des reichlich
bewässerten Kreises Taschkend. 113 Kunstbauten überspannen ans dieser Strecke
die Wasseradern, den Fluß Ssalar, den Boß-Sön und den Keleß und die von
ihnen abzweigenden Aryks, sämtlich flotte Eisenkonstruktionen auf sauber
gemauerten Landpfeilern. Hinter der Dshilga steigt die Bahn in vielen
Windungen zu der 563 Meter über dem Meere liegenden Paßhöhc des Kasy-
gurt, eines Ausläufers des Kara-lau-Gebirges empor, das bisher rechts in der
Ferne seine schneebedeckten Höhen in der Sonne hatte aufglänzen lassen. Un¬
beschreiblich schön war die Abendlandschaft bei der Station Ssary-Agatsch,
deren noch persische Anklänge verratendes Hauptgebäude sich prachtvoll vornehm
in der reinen klaren Stcppenluft von dem wundervoll gefärbten Abendhimmel
abhob. Längst hatte das Kulturland ausgedehnter Steppe Platz gemacht, die
aber noch ziemlich belebt erschien. Zahlreiche Arbeiter waren tätig, um die
Frostschäden an dem Bahndamm auszubessern, die Wasserabführung zu regeln
und eine Röhrenleitung für die Wasserzuführung nach wasserlosen Stationen
zu verlegen.
An den am zweiten Tage der Fahrt zunehmenden Schneeflächen und der
trotz blendenden Sonnenscheins sinkenden Temperatur merken wir, daß wir
dem kältern Norden zueilen. Bei Tjumen-Aryk erreichen wir den Ssyr-darja
zugleich mit der alten Poststraße, die dem Strom nunmehr bis Perowsk folgt,
während die Eisenbahn in gerader Richtung seine Bogen abschneidet. So
wechseln von nun an Steppen-, auch mit ausgedehnten Ssaxaulgebüschen be-
standne Flächen mit Niederungslandschaft, zwischen deren dichtem, verschiednes
Raubzeug beherbergenden Gebüsch und Waldstand der Strom verschwindet.
Aber er ist tückisch und hat vor jetzt drei Jahren durch sein Frühjahrshochwasser
auf, glaube ich. über 200 Kilometer Länge den Schienenweg so zerstört, daß
er auf einen mehrere Meter hohen Damm etwas östlich verlegt werden mußte.
Eine ganze Reihe verschiedenartigster wasserbautechnischer Arbeiten, Buhnen,
Terrassen, Stauwehre, Steinpackungen sind zum Schutz der dem Strom zu¬
gekehrten , ganz flach geböschten Dammseite besonders in dem Niederungslande
zwischen Perowsk und Karmaktschi notwendig geworden. Dieser Strich, den
die alte Poststraße in weitem Bogen umging, ist von Sümpfen und Seen,
Aryks und Flüssen durchsetzt und hat wieder einer größern Anzahl Brücken¬
bauten, darunter zwei von 125 Meter Länge, an denen trotz Frost unter
mächtigen Holzbaracken gemauert wurde, zum Dasein verholfen, um die Wasser¬
abführung zu regeln. Halbeingeschnittene Erdhütten und Kirgisenjurten liegen
trotz der Überschwemmungsgefahr in diesem Überflutungsgebiet verstreut, und
das dazu gehörende Haus- und sonstige Getier sucht sich unter der immer noch
festen Schneeschicht mühsam seine Nahrung. Das Streckenpersonal reitet zu
Pferde oder Kamel seine Strecke ab, Kamele ziehen niedrige Schlitten auf
schmalen Pfaden in einsamer Fahrt durch das Buschwerk. Eine Ssaxauloo.se
bringt mit graugrünem Schimmer etwas Abwechslung in die Schneelandschaft.
Schon haben hier und da Schneezüune gestellt werden müssen, und einmal
erinnert eine mit Hacke und Schaufel in Halbpelz und Walenki (Filzschuhen)
bereitstehende, von dem langsam fahrenden Zuge passierte Arbeiterkolonne, daß
Schneeansammlungen hier gelegentlich eine ebenso unangenehme Erscheinung
sind wie die Sandverwehungen an der Transkaspischen Eisenbahn. Weiterhin
jenseits Kasalinsk bringt der Kampf mit dem Schnee bei Nordstürmen noch
viel größere Gefahren. Da fuhren wir durch endlose Schneefelder, stellenweise
durch tief in Schneehügel eingeschnittene Hohlwege, in denen mancher Zug
festgesessen hat. In zwei und drei Reihen standen beiderseits die Schneezüune
hinter- und auch übereinander eigentlich bis Orenburg und mußten in ihrer
Ausdehnung Staunen erregen, denn der Umfang der geleisteten Arbeit steht
im Mißverhältnis zur geringen Dichtigkeit der Bevölkerung und zu der zur
Verfügung stehenden kleinen Anzahl Streckenarbeiter, denen keine Soldaten zu
gelegentlicher Unterstützung zugeführt werden können.
Von Kasalinsk aus läuft die Eisenbahn zum Nordostufer des Aralsees.
Hier war tiefer Winter, achtzehn Grad Kälte und in dem nächtlichen Dunkel
auf der Station Aralsee von Land und eisbedeckter Wasserfläche nichts zu
unterscheiden. Nachdem der Schienenweg sodann ein Seengelände und dann
die Große und die Kleine Barssukwüste durchschnitten hat, windet er sich vom
Tschelkarsee ans in den Tälern der unbedeutenden Flüßchen Knldshur, Kleine
und Große Karaganda hinauf zum Paß Kum-Aß des Mugodshargebirges. Ist
auch die absolute Höhe dieses Ausläufers des Uralgebirges nur gering (nicht
über 300 Meter), so boten doch bei der Festlegung der Trasse seine zerrissenen
Formen und Steilhänge eben solche Schwierigkeiten wie bei der Bauausführung
die Einsprengung der Bahneinschnitte in den rotgeaderten Granit und im
Betriebe die Freihaltung dieser Hohlwege von Schneemassen. Als wir am
Abend den Kamm des Höhenzugs passierten, tat uns die scheidende Sonne
wieder den Gefallen, die schneebedeckten Felsformen mit rotgoldnem Lichte zu
überfluten und uns mit diesem Anblick für manche einförmige Stunde der
Fahrt zu entschädigen. In solchen Stunden dachten wir wohl mit einem
gewissen Schauder des Daseins in einer der Arbeiterkasernen oder Stationen
dieser Gegend, wo man eine Hälfte des Jahres mit Schnee und sonst mit
Sturm und Sonnenbrand zu kämpfen hat. Jenseits des Mugodsharhöhenzugs
werden die Flüsse Euba, Kubelei, Temir und Jlek und die zwischen ihnen
liegenden Wasserscheiden überschritten. Die Eisenbahn ist schon vor dem Jlek
in ein Gebiet eingetreten, in dem Ackerbau stärker betrieben wird. Hinter der
Station Aktjubinsk, von der aus der Betrieb schon seit Januar 1904 eröffnet
war, und der Aufenthalt im Zuge durch zuströmende Reisende immer un¬
gemütlicher wird, erscheinen langgestreckte russische Dörfer mit wohlgeordneter
Felder- und Gartenwirtschaft. In Jlezkaja Saschtschita, das die Bahn mit einem
kleinen Umweg erreicht, wird das seit langer Zeit betriebne bedeutende Stein¬
salzbergwerk angeschlossen. Kurz nach Mittag des vierten Reisetags tauchen
endlich die blau und grün gestrichnen Dächer und vergoldeten Kuppeln von
Orenburg am hohen rechten Ufer des Uralflusses auf. Der Zug rollt eine
lange Dammschüttung hinauf und auf einer 340 Meter langen Brücke über
das tief unter ihr liegende feste Eis des Flusses. Die Eisenbahn hat uns den
Beweis geliefert, daß sie nach dreieinhalbjähriger Bauzeit vollständig betriebs¬
fähig ist. Sie hat uns in fast genau viermal vierundzwanzig Stunden mit
vierstündigen Aufenthalt in Kasalinsk die 1300 Kilometer lange Strecke mit
nicht sehr großer Geschwindigkeit zwar, aber ohne Verspätung zurücklegen lassen.
Fast genau 20 Kilometerstunden ist die erreichte durchschnittliche Fahrzeit,
während die eigentliche Fahrgeschwindigkeit auf 25 Kilometer zu bemessen ist,
da der Zug die Stationszwischenräume von rund 20 Kilometer im allgemeinen
in fünfzig Minuten zurücklegt und fast überall zehn Minuten, auf den größern
Stationen bis eine halbe Stunde anhält.
Die Bahn hätte schon damals einen ganz andern Betrieb vertragen- Die
Geleise lagen gut, und die Nebengeleise und Weichenanlagen der Stationen
waren hergestellt. Nur die Wasserversorgung, die vornehmlich zwischen Aralsee
und Mugodsharbergen ursprünglich einige Sorgen verursacht hatte, war noch
nicht fertig und machte streckenweise die Mitführnng von Zisternenwagen nötig.
Aber überall, wo das Wasser fehlt, wird durch frostfrei verlegte Leitungen
— eine wird über 200 Kilometer lang — die Wasserzuführung geregelt.
Naphthatanks waren ausreichend vorhanden, um die Maschinen des Wagen¬
parks zu speisen. Und es scheint, daß am Flusse Dshu-Sön bei den Mugodshar¬
bergen ergiebige Naphthaquellen angebohrt sind, sodaß der Betrieb von dem
teuern Bezug aus Baku unabhängig wird.
Unfertig waren die Stationsgebäude, bewundernswert die Großartigkeit
ihrer Anlage. Auf dem Südabschuitt waren es in Sandstein gemauerte
Paläste, umgeben von einer großen Zahl gefüllig aussehender Dienst- und
Wohngebäude. Urds, die Station, von der der noch unter dem alten Regime
schleunigst befohlene Neubau der wichtigen Zukunftsbahn über Tschimkent-Wjerny
zur sibirischen Eisenbahn abzweigen wird, könnte ebenso wie Kasalinsk wegen
der Freiheit in der Raumbenutzung, der Übersichtlichkeit der Gesamtanlage und
der zweckmäßigen Einrichtung der hohen Räume der Empfangsgebäude als
Musterbahnhof bezeichnet werden. Etwas weniger ansprechend, aber durch die
Verbindung von Mauer- und buntgehaltnem Fachwerksbau auffallend sind die
Stationen des Nordabschnitts. Überall waren die Restaurationen in behelfs¬
mäßigen Räumen notdürftig untergebracht, aber sie deckten alle Bedürfnisse und
zeichneten sich zum Teil durch vorzügliche Küche aus. Freilich das Gebotne
war fast immer dasselbe, ich habe mich die vier Tage über fast nur von Schtschi
oder Borschtsch, den vorzüglichen mit einem Stück Rindfleisch gereichten Kohl¬
suppen und einigen Pasteten genährt und sehr wohl dabei befunden. In
Kasalinsk gabs Aralscefischkaviar, schön braun, frisch und süß, und für einen
Rubel so viel, daß wir zu fünf die gereichte Portion nicht bewältigen konnten.
Das hastige Stoßen und Drängen unsrer Bahnhöfe ist den russischen
fremd. Hier kam vollends jeder zu seinem Recht, und dank der schönen Ein¬
richtung dreimaligen Glockenschlags versäumte niemand den Abgang des
Zuges — achtundvierzigstündiger Zwangsaufenthalt wäre ja auch kein Ver¬
gnügen gewesen. Um die Abfahrt unbesorgt, fanden wir darum reichlich Ge¬
legenheit, auf Land und Leute ein paar Blicke zu werfen. Die uns schon
bekannten Sarten beherrschten die Situation auf den Anfangsstrecken — sie
sind in den Niederungen angesessen; je mehr wir aber uns von Taschkend
entfernten, um so mehr traten die Kirgisen und zwar Kaissakenkirgisen in den
Vordergrund. Ihrer Neigung nach sind sie Nomaden und werden es gern
bleiben. Vorläufig betrachten sie die ihre Idylle störende Eisenbahn noch mit
Neugier, vielleicht später mit feindseligen Augen, denn ein wichtiger Erwerbs¬
zweig, der Verdienst an den Karawanentransporten von Orenburg nach
Taschkend, wird ihnen genommen. Aber einzelne haben die Zeit verstanden
und in dem Verkehr von den Bahnstationen in das Land hinein Ersatz ge¬
funden, andre fahren Droschken und Lastschlitten zwischen den Bahnhöfen und
zugehörigen, aber meist ziemlich weit entfernten Orten. Viele lungerten auf
den Bahnhöfen herum und boten sich der Beobachtung und der Kamera unsers
Photographen. In ihren mittelgroßen, breitschultrigen gedrungnen Gestalten,
der breiten Stirn, den hervortretenden Backenknochen, den schief stehenden Augen
und dem mangelhaften Bartwuchs sprach sich der mongolische Typus deutlich
aus. Der Gewohnheit, endlos lange im Sattel zu sitzen, hat sich Körperform
und Haltung, das Oval des Beines angepaßt. In der für beide Geschlechter
fast gleichen Kleidung ist der Kirgise kein Gigerl. Unmittelbar auf dem Körper
trägt er ein langes weites Zitzhemd mit weitem Kragen, darüber im Winter
zwei bis drei mit Watte gefütterte langschößige Röcke, bisweilen noch einen
Pelz; diese ganze Oberkleidung kann in die weiten, aus gegerbtem, verschieden¬
farbigem, bisweilen mit Seide berasten Hammelfett bestehenden Hosen gestopft
werden. Je mehr Röcke er trägt, desto feiner ist der Besitzer derartiger Kleider¬
pracht, die bei festlichen Gelegenheiten durch eine Stufenleiter von Zitz-, Tuch-
uud Seidenröcken, darüber den auszeichnenden Prunkröcken aus Sammet mit
Goldbrokat ersetzt wird. Am silberbeschlagnen Gürtel hängt der wichtigste
Gebrauchsgcgenstand des Kirgisen, das Messer, mit dein er Fleisch schneidet
und ißt, gefallnen Tieren die Haut abzieht und im Bedarfsfall am lieben
Nächsten seine Stärke mißt. Als Fußbekleidung dienen weite Stiefeln, darunter
wollne Fußlappen und Socken aus dünnem Filz. Als Kopfbedeckung wird für
gewöhnlich ein weicher spitzer Filzhut mit Krempe über einer den rasierten
Schädel schützenden Kappe getragen. Wo der Winter noch herrschte, war der
Filzhut durch eine Lammfell- oder Fuchspelzmütze mit etwas abgeflachter
Spitze und heruntergeklappten Seitenkrempen ersetzt.
Überaus anspruchslos, ohne Murren hungernd, wenn es sein muß, im
Sommer durch die sengenden Sonnenstrahlen fast gebraten und im Winter in
der durchlöcherten Jurte (Filzhütte) vor Frost klappernd, ist er inmitten seines
Viehs am zufriedensten und jedenfalls für die weniger ansprechenden Gegenden
in Zentralasien, Transkaspien und Steppenland, die die Bodenbearbeitung nicht
lohnen, wie die Halbinsel Mnnghshlak, die Steppen seitab von den Strömen,
die Flüchen nördlich des Aralsees das geeignetste Menschenmaterial. Wie bei
allen Nomadenvölkern herrschen patriarchalische Sitten; Gastfreundschaft wird
gern geübt. Stämme und Geschlechter sondern sich in die administrativen Ein¬
heiten, deren Älteste jetzt von der russischen Regierung bestätigt werden müssen.
Als Recht gilt das ungeschriebne Gewohnheitsrecht, der Adad, der der Frau
ebenfalls eine wenig bevorrechtete Stellung anweist. Ackerbau wird uur getrieben,
soweit er sich mit dem Wechsel des Wohnsitzes vom Winter- zum Sommer¬
lager und umgekehrt vereinigen läßt.
Ob die Eisenbahn die in ihrem Bereich nomadisierenden Kirgisen zu mehr
oder weniger seßhafter Lebensweise bekehren wird oder nicht, so viel ist sicher,
daß so oder durch Zuzug von Sarten oder Russen die produktiven Kräfte des
Landes gehoben werden können. Für die ausreichend bewässerten Landstrecken
Von Taschkend bis zum Aralsee ist es ebenso sicher, daß sie sich bald selbst
ernähren können, wie für die Strecken westlich der Mugodsharberge, daß sie zur
Ausfuhr werden beisteuern können. Doch die Hauptbedeutung der Bahn liegt
nicht in der Beförderung dieser rein lokalen Interessen, auch nicht in der
Möglichkeit einer baldigen Ausbeutung von Bodenschätzen (Kupfer, Eisen, Kohle)
an den von ihr berührten Strichen. Sie soll vielmehr die reichen Länder Fer-
ghana, Ssamarkand und Buchara in wirtschaftlicher, politischer und militärischer
Beziehung an das Reich in Europa angliedern. Sie soll auch die Eroberung
des mittelasiatischen Marktes in Afghanistan und den westlichen Provinzen
Chinas durchführen helfen. Die mittelasiatische Eisenbahn, so wesentliche Dienste
sie in all diesen Beziehungen geleistet hat, war doch ein Torso, so lange sie
nicht in unmittelbarer Schienenverbiudung mit dem europäischen Rußland stand.
Jetzt erst kann sie so recht ihren Einfluß äußern, nachdem sie durch die ver¬
billigte Anfuhr von Getreide aus den russischen Kornmagazinen für den Aus¬
tausch der wirtschaftlichen Erzeugisse und die Heranziehung der Produkte der
angrenzenden Länder mittelst Zweig- und Stichbahnen frei geworden ist. Jetzt
kann der Baumwollenbau bis zur Sättigung des russischen Marktes und darüber
hinaus in die Höhe getrieben werden. Jetzt wird die mittelasiatische Eisenbahn
eine wirkliche Verkehrsader, die ihre Verästelungen in die Nachbargebiete
hineinstreckt, und die nach Fertigstellung der in Afghanistan geplanten englischen
Bahnen einen Teil des Durchgangsverkehrs von Westeuropa über Taschkend,
Ssamarkand und Herat nach Indien zu vermitteln hat. Jetzt kann die Kolonisation
in größerm Stil in Innerasien befördert werden; der mit einem Auge nach
der Heimat zurückblickende Mushik, der für die Seefahrt nicht viel übrig hat,
hat eine feste Landverbindung hinter sich. Eine starke Kolonistenbevölkerung
dient aber der Stärkung des Reichsgedankens, erhöht das Ansehn der herrschenden
Nation innerhalb einer zu Unruhe neigenden, auf fremde Erfolge wartenden,
heißblütigen, unüberlegten und leicht zu Fanatismus fortzureißenden Bevölkerung.
Man kann sogar sagen, daß die politische und militärische Lage Rußlands in
Zentralasien jetzt überhaupt erst haltbar wird. Ein Kolonialland, in dessen
Gebäude erst vor zwanzig Jahren der Schlußstein mit der Festlegung der
afghanischen Grenze gefügt worden ist, war auch nach Durchführung der mittel¬
asiatischen Bahn bis Andishan kein gesicherter Besitz, weil eine schnelle und
sichere Landverbindung fehlte. Die weitere Ausdehnung des Kolonialbesitzes
auf Kaschgarien und die Dsungarei war unmöglich, da sie einen Zusammenstoß
mit englischen Interessen herbeigeführt hätte, in dessen Austrag eine Verstärkung
der turkestanischen Armeekorps nur mit großem Zeitaufwand zu bewirken und
wegen der Lage der mittelasiatischen Eisenbahn an der persischen Grenze mit
ernstlicher Gefährdung verknüpft war. Nunmehr ist nicht nur die Ergänzung
dieser Korps sehr erleichtert, sondern ihre schnelle Verstärkung aus den jederzeit
kriegsbereiten Kasakenheeren jederzeit möglich. Binnen zweiundzwanzig Tagen
kann ein Armeekorps aus der Gegend von Moskau um Ssamarkand oder Merw
herum aufmarschiert sein. Schließlich ist nicht zu vergessen, daß auch eine aktivere
Politik in Persien wesentlich an Aussichten und damit an Wahrscheinlichkeit
durch die unmittelbare Landverbindung gewonnen hat. Von diesem Stand¬
punkte betrachtet, ist die neue Eisenbahn entschieden ein großartiges Unter¬
nehmen weitsichtiger Eisenbahn- und Kolonialpolitik; ihre beschleunigte Fertig¬
stellung, jedenfalls eine Folge der während des japanischen Krieges in Inner-
asien sich gefährlich anlassenden Lage, ist vielleicht die Ursache gewesen, die
englische Politik von feindseligen Schritten dort abzuhalten.
ßLWGTV>s ist noch gar nicht so lange her, daß in Reichenbachs Hof — so
wollen wir ihn nach einem seiner frühern Besitzer nennen, obgleich
er heute einen andern Namen trägt — ein bescheidnes Lädchen
die Aufmerksamkeit aller Passanten auf sich lenkte, die für alte
Bücher, stockfleckige Kupferstiche, Reliquien aus der Völkerschlacht
l und Münzen jedes Gepräges ein wärmer empfindendes Herz hatten.
Obgleich der Hof in der innern Stadt lag und hüben wie drüben auf sehr belebte
Straßen mündete, war er doch nicht, wie so viele andre seinesgleichen, eine richtige
Verkehrsader, und es betrat ihn eigentlich nur, wer in einem der zahlreichen
Gewölbe geschäftlich zu tun hatte. So kam es, daß in dem engen, von hohen
Gebäuden über Gebühr verfinsterten Durchgang gewöhnlich eine wohltätige Stille
herrschte, die zu dem Bücherlädchen, seinem verstaubten Inhalt und nicht zum
wenigsten zu dem Besitzer dieser Herrlichkeiten vortrefflich paßte.
Herr Polykarp Seyler, der Antiquar, liebte es auch nicht sonderlich, wenn
diese Stille, die recht eigentlich sein Lebenselement war, durch den Besuch eines
Kunden unterbrochen wurde. Denn die Kunden kamen in der Regel mit der aus-
gesprochnen Absicht, ihm mit ihrem schnöden Gelde den einen oder den andern
seiner in Pergament, Halbfranz, Leinwand oder Pappe gekleideten Lieblinge ab¬
spenstig zu machen. Von diesen vermochte er sich nur mit schwerem Herzen zu
trennen, denn entweder hatte er sie schon gelesen: dann waren sie ihm vertraute
Freunde geworden, mit denen er sich innerlich verwachsen fühlte, oder er hatte sie
noch nicht gelesen: dann fiel ihm der Abschied von ihnen doppelt schwer, denn er
war überzeugt, daß sie ihm so manches anzuvertrauen hätten, und daß es lieblos
sei, sie wieder aus seiner Obhut zu entlassen, ohne ihnen zuvor Gehör geschenkt
zu haben. Der Handelsgeist, den man bei einem Händler, und wenn es auch ein
Händler mit Büchern ist, voraussetzen sollte, war Polykarp Seyler durchaus fremd.
Er betrachtete sein Lädchen als seine Bibliothek, und die Bücher, die er darin
aufgestapelt hatte, schienen ihm weit mehr dazu bestimmt zu sein, den Schatz seines
Wissens als seine Kasse zu füllen. Diese etwas seltsame Auffassung seines Berufs
wird nur verständlich, wenn man bedenkt, daß unser Freund von Haus aus kein
Buchhändler, sondern klassischer Philologe gewesen war. Aber das Schifflein, das
ihn mit vollen Segeln auf das hohe Meer der Wissenschaft hatte tragen sollen,
war an der Klippe mangelnder pädagogischer Begabung gescheitert und leck, mit
gebrochnem Mast, in den Nothafen des Antiquariatsbuchhandels eingelaufen. Auch
hier waren dem Schiffbrüchigen keine Erfolge beschieden gewesen, und so war er
schließlich bei einem Geschäftsbetriebe angelangt, den man eigentlich nur als Bücher¬
trödel bezeichnen konnte. Seyler selbst empfand diesen Niedergang nicht, denn seit
er keine Kataloge mehr herausgab, hatte er Zeit zum Lesen in Hülle und Fülle,
und das war für ihn die Hauptsache. Desto mehr litt unter dem Wandel der
Verhältnisse seine Nichte Käthchen, eine hübsche Brünette von zwanzig Jahren, die
in Seylers Lädchen als Gehilfin tätig war, an einer tiefen Sehnsucht nach Licht
und Leben krankte und einen beharrlichen aber aussichtslosen Kampf gegen den
Staub, die Not und den Idealismus ihres Onkels führte.
Da steht schon wieder einer am Schaufenster, sagte Herr Seyler, indem er
die Brille auf die Stirn schob, den Zeigefinger seiner Linken als Buchzeichen in
die Elzevirsche Ausgabe der Ointioirss des Daniel Heinsius klemmte und aus dem
Lichtkreise seiner auch bei Tage brennenden Pnltlampe an das mit Kupferstichen
verhängte Fenster trat. Daß einen die Menschen nie in Ruhe lasten! Der sieht
ganz so aus, als ob er hereinkommen wollte.
Sei doch froh, Onkel! erwiderte Käthchen, die auf der andern Seite des
Pultes stand, in einer nicht mehr ganz neuen Nummer des Buchhändler-Börsenblattes
die Rubrik „Gesuchte Bücher" studierte und nach einem stark abgegriffnen Zettel¬
katalog die Offerten aufschrieb. Es wäre ein Glück, wenn wir heute ein Geschäft
machten. In der Kasse sind nur noch fünfundsiebzig Pfennig, und den Bäcker
müssen wir am Sonnabend doch auch einmal wieder bezahlen.
Polykarp Seyler seufzte und musterte mit argwöhnischen Blicken durch die
Lücke zwischen zwei Hogarthschen Blättern den Mann, der draußen vor der Scheibe
stand und den dahinter ausgelegten Büchern eine so bedrohliche Aufmerksamkeit
zuwandte.
Gib acht, er kommt herein, sagte er, er hat schon nachgesehen, ob er auch
genug Geld im Portemonnaie hat. Siehst du!
In diesem Augenblick ertönte die dünnstimmige Klingel der Ladentür, und
der Befürchtete trat ein. Es war eine Erscheinung, der man auf den ersten Blick
ansah, daß sie in derselben Welt lebte wie Herr Polykarp Seyler, und daß ihr,
abgesehen von den Büchern, alle Dinge dieser Erde genau so gleichgiltig waren
wie diesem. Sogar im Äußern hatte der Mann eine gewisse Ähnlichkeit mit
unserm Freunde: er mochte wie dieser in der Mitte der Vierziger stehn, hatte
dieselbe Statur, dieselbe schlechte Haltung, denselben wenig gepflegten, leicht ergrauten
Vollbart.
Womit kaun ich dienen? fragte der Antiquar, da der Besucher beharrlich
schwieg und seine Blicke begehrlich über die vollgepfropften Bücherregale schweifen
ließ, als ob er die Absicht hätte, das ganze Gewölbe auszulaufen.
Sie haben da im Schaufenster Kreußlers Geschichte der Universität Leipzig.
Kostet?
Das Buch ist teuer, lieber Herr, ich habe nämlich beim Einkauf zuviel dafür
bezahlt. Unter sechs Mark kann ichs nicht hergeben. Anderswo bekommen Sie
es billiger.
Zeigen Sie mal her!
Es ist auch nicht ganz komplett. Die eine der beiden Porträttafeln fehlt.
Mit einem defekten Exemplar wird Ihnen wohl nicht gedient sein.
Wollen Sie mir das Buch denn nicht wenigstens einmal aus dem Fenster
holen? fragte der Fremde, ohne sich beirren zu lassen.
O ja, das kann ich, wenn sich durchaus sehen wollen. Er griff zwischen den
Kupferstichen hindurch in die Auslage und brachte das Verlangte zum Vorschein.
Ein hübscher Halbfranzband, sagte der Kunde, den gepreßten Rücken des Buches
liebevoll betrachtend.
Na, es geht an. Ein Meisterstück der Buchbinderkunst ists gerade nicht.
Außerdem sind die Ecken abgestoßen.
Sechs Mark? fragte der Fremde wieder.
Billiger würde ichs nicht verkaufen können, antwortete Seyler, vorausgesetzt,
daß ichs verkaufen wollte. Aber ich möchte das Buch lieber behalten, wenigstens
noch ein paar Wochen. Ich habe es selber noch nicht gelesen.
Verkaufen Sie nur, was Sie gelesen haben?
Das ist allerdings mein Grundsatz. Wenigstens bei Büchern, deren Lektüre
sich lohnt.
Guter Mann, da müssen Sie aber Zeit haben!
Habe ich auch. Vielleicht fragen Sie in vierzehn Tagen wieder einmal nach.
Bedaure. Ich bin von auswärts. Wenn ich das Buch nicht mitnehmen kann,
nützt es mir nichts. Machen Sie also keine Umstände. Hier ist Geld.
Er legte ein Zwanzigmarkstück auf den Tisch.
Kleiner haben sich wohl nicht? fragte der Antiquar ein wenig unsicher.
Nein. Sie werden schon wechseln müssen.
Das kann ich eben nicht, rief unser Freund triumphierend. Ich habe nur
fünfundsiebzig Pfennig in der Ladenkasse.
Soll ich zu Bergmanns hinüberspringen, Onkel? ließ sich jetzt Käthchen ver¬
nehmen, die haben immer kleines Geld.
So lange wird der Herr nicht warten wollen. Wissen Sie was? wandte
er sich an den Fremden, Sie lassen mir Ihre Adresse hier, und ich sende Ihnen
den Kreußler zu, sobald ich ihn entbehren kann. Das Buch kommt selten vor,
und wer weiß, ob ich so bald wieder ein Exemplar erhalte. Und Sie werden
verstehn, daß es mich als Leipziger schließlich mehr interessiert als Sie, der Sie
ja von auswärts sind.
Nehmen Sie mirs nicht übel, bemerkte der Fremde, wenn ich Ihre geschäft¬
lichen Usancen ein wenig sonderbar finde. Weshalb legen Sie denn eigentlich
Bücher, die Sie durchaus nicht verkaufen wollen, in Ihr Schaufenster?
Ja, bester Herr, da mögen Sie wohl fragen! Aber ich kann die Auslage
doch nicht leer lassen. Außerdem kommen die meisten Menschen, die sich vor mein
Schaufenster stellen, gar nicht auf den Gedanken, etwas zu kaufen. Wenn ich
geahnt hätte, daß Sie die Auslegerei so blutig ernst nehmen, würde ich das Buch
vorher herausgenommen haben. Sie werden doch zugeben, daß ich mit meinen
Büchern machen kann, was ich will. Von nun an werde ich für den Kreußler
zehn Mark verlangen, und dann werden wir einmal sehen, ob sich noch ein Lieb¬
haber dafür findet!
Fordern Sie lieber gleich hundert Mark, guter Mann, sagte der enttäuschte
Herr von auswärts mit bitterm Hohn, dann gehn Sie ganz sicher, daß Sie zeit¬
lebens darauf sitzen bleiben.
Ach nein, bester Herr, erwiderte Seyler mit heitrer Gelassenheit. Dann kauft
es ein Engländer oder ein Amerikaner. Ich habe in dieser Hinsicht schon schlimme
Erfahrungen gemacht.
Dann ist Ihnen nicht zu helfen. Entschuldigen Sie nur, daß ich mir über¬
haupt die Freiheit genommen habe, in Ihr Tuskulum einzudringen!
Bitte sehr! Es war mir ganz interessant, Ihre Bekanntschaft zu machen. Wenn
Sie wieder einmal etwas brauchen —
Der Fremde hatte den Laden jedoch schon verlassen und warf jetzt die Tür
ins Schloß, daß das Gebimmel der Klingel Seylers letzte Worte übertönte.
Den wären wir glücklich los geworden! wandte sich der Onkel an die Nichte.
Lächerlich! Als ob ich verpflichtet wäre, ihm ein Buch zu verkaufen, das ich für
mich selbst gebrauche! Na, der kommt sicherlich nicht wieder.
Wir hätten die sechs Mark gerade jetzt sehr nötig gehabt, sagte Käthchen mit
leisem Vorwurf, in drei Wochen ist die Miete fällig, und wir haben erst zweiund¬
fünfzig Mark beisammen.
In drei Wochen erst? Dann mach dir keine Sorgen, Mädel. Bis dahin
kann ich ein reicher Mann geworden sein, entgegnete der Onkel mit unerschütter¬
lichem Optimismus. Bedenke nur, wie viel Geld in den Lagerbeständen steckt!
Du Cange, Glossarium ist allein zweihundert Mark wert. Dann Sybels Historische
Zeitschrift in schönen Halbfranzbänden. Dafür bekomme ich jeden Tag huudert-
undachtzig Mark. Endlich die große Pariser Ausgabe des Chrysostomus von
1718 bis 1738. Was glaubst du, daß die jetzt wert ist? Lorentz hatte sie in
seinem letzten Katalog mit hundertundfünfnndsiebzig Mark, und dabei war sein
Exemplar noch wasserfleckig. Siehst du, das sind nur ein paar Sachen, die mir
gerade einfallen. Ich verstehe gar nicht, weshalb du immer tust, als ob wir am
Hungertuche nagen müßten.
Käthchen mochte die Nutzlosigkeit einer Entgegnung einsehen und beugte sich
seufzend über ihre Offertenzettel. Seyler aber verschloß das Buch, um das er
vorhin einen so erbitterten Kampf ausgefochten hatte, in die Schieblade eines zier¬
lichen, mit Bronzebeschlägen geschmückten Damenschreibtisches im strengsten Empirestil,
der, wie alle Möbel dieser Art, aus dem Besitze der Königin Luise von Preußen
stammen sollte und in einer Periode, wo sich Seyler mit Feuereifer auf den Anti¬
quitätenhandel geworfen hatte, von ihm zu einem viel zu hohen Preise erworben
worden war. Jetzt stand das steifbeinige Ding in einem Winkel des engen Gewölbes
und harrte unter der Last verstaubter Bücherstöße auf einen Käufer, der wohl¬
habend und gutgläubig genug war, die fromme Legende, die sich um den Schreib¬
tisch spann, mit einigen blauen Scheinen zu honorieren.
Herr Polykarp Seyler war kaum zu seinem Pult und zu der Lektüre des
Daniel Heinsius zurückgekehrt, als er wiederum durch einen Eindringling gestört
wurde. Diesesmal war es ein junger Mann, den man eher sür einen Landwirt
als für einen Jünger der Wissenschaft gehalten hätte. Käthchen, die ihn bei seinem
Eintritt mit einem flüchtigen Blicke gestreift und sich dann wieder ihrer Schreiberei
zugewandt hatte, sah verwundert auf, als er nach Gruppes Untersuchungen über
die römische Elegie fragte. Zufällig war das Buch vorrätig und wurde auch von
Seyler nach langem Suchen glücklich gefunden.
Es wundert mich, daß Sie sich für den alten Gruppe interessieren, bemerkte
der Antiquar, während er den Band an seinem Ärmel abwischte, das Buch ist
durch die neuern Forschungen überholt worden. Damit will ich freilich nicht be¬
haupten, daß man den Autor nun zum alten Eisen werfen müßte. Männer wie
Schwabe und Ribbeck schätzten ihn hoch, und ich selbst darf behaupten, daß er mir
recht eigentlich das Verständnis für die Poesie der Elegiker erschlossen hat. Wie
fein ist zum Beispiel seine Kritik des Properz-Textes!
Und nun hielt er dem jungen Manne einen so eingehenden Vortrag über
Properz und den dreisilbigen Pentameterausgang als das charakteristische Merkmal
für die Jugendwerke des Dichters, daß der Besucher erstaunt fragte, ob Herr
Seyler etwa Philologe von Fach sei. So gerieten die beiden so grundverschiednen
Männer in die lebhafteste Unterhaltung, und der Antiquar — aber auch Käthchen,
die plötzlich mit ihrer Arbeit fertig zu sein schien und dem Gespräche mit mehr
als rein philologischen Anteil zuhörte — erfuhr, daß Doktor Waetzold der Sohn
eines Rittergutsbesitzers aus der Umgegend sei, aus purer Begeisterung für das
klassische Altertum philologische Studien getrieben habe und sich im kommenden
Herbste als Privatdozent an der Universität Halle zu habilitieren gedenke.
Sehen Sie, Herr Doktor, Ihnen will ich den Gruppe verkaufen, erklärte der
Antiquar dem Kunden. Es ist eins meiner Lieblingsbücher, und von denen Pflege
ich mich sonst nicht zu trennen. Aber weil Sie mir gefallen, und weil ich die
Überzeugung gewonnen habe, daß es bei Ihnen in gute Hände kommt, sollen Sie
das Buch haben. Und zwar zum Einkaufspreise von zwei Mark und zwanzig
Pfennig. Was meinst du dazu, Käthchen, wandte er sich an seine Nichte, die er¬
rötend in dem Zettelkataloge zu wühlen begann, sollen wir dem Herrn den Gruppe
anvertrauen?
Natürlich, Onkel! erwiderte das Mädchen, schnell gefaßt, vorausgesetzt, daß
sich der Herr Doktor verpflichtet, ihn gut zu behandeln.
Alle drei lachten, und der Fremde, der für Seyler und dessen Nichte jetzt
eigentlich gar kein Fremder mehr war, zog die Börse heraus und schickte sich an,
den erworbnen Schatz zu bezahlen.
Sie wollen den Band gleich mitnehmen? fragte Seyler ein wenig enttäuscht.
Weshalb nicht? Ich habe schon schwerere Pakete getragen, erwiderte der
Philologe.
Daran zweifle ich nicht. Aber sehen Sie: der Abschied von dem Buche kommt
mir etwas gar zu unerwartet. Ich hätte gern noch ein paar Einzelheiten über
Tibull nachgelesen.
Bitte, Herr Seyler, ich habe Zeit, sagte der Doktor zuvorkommend, wenn ich
mich ein wenig in Ihrem Laden umsehen darf, warte ich gern, bis Sie Ihre
Lektüre beendet haben. Er reichte dem Antiquar den Band hin und trat an eins
der Regale, wo er die Rückenschildchen der Bücher eifrig zu studieren begann. Da
er aber zufällig an die anorganische Chemie geraten war, ein Fach, wo ihn Namen
und Titel wie böhmische Dörfer anmuteten, machte er eine Schwenkung und wanderte,
immer die Regale musternd, langsam in einem großen Bogen um das Doppelpult
herum, bis er an der Seite stand, die der Schauplatz von Katheders Tätigkeit war.
Hier blieb er stehn und betrachtete über ein aufgeschlagnes Buch hinweg ihr fein-
geschnittnes Profil, dessen obere Partie jetzt, wo sie sich eifriger denn je über ihre
Schreiberei beugte, von der Fülle des offenbar sehr widerspenstigen und eigenwilligen
dunkeln Kraushaars beschattet wurde.
Müssen Sie den ganzen Tag hier Licht brennen, Fräulein Käthchen? fragte
er, nachdem er sich vergewissert hatte, daß der Onkel in den Banden Tibulltscher
Verskunst lag.
So ziemlich den ganzen Tag, antwortete sie, indem sie ihre großen braunen
Augen zu ihm aufschlug, mit Ausnahme einiger Mittagsstunden im Sommer.
Wie halten Sie das nur aus? fragte er mit ehrlicher Verwunderung. Ich
ginge dabei zugrunde. Mir ist es schrecklich, bei Licht arbeiten zu müssen. Ich
fühle mich nur in frischer Luft und Sonnenschein wohl.
Und doch sind Sie Philologe geworden? Müssen Sie da nicht bis spät in
die Nacht bei der Lampe sitzen?
O nein, sagte er. Ich bin von Jugend auf daran gewöhnt, früh aufzu-
stehn und habe, Gott sei Dank! auch die Kunst gelernt, ökonomisch mit der Zeit
umzugehn. Wenn ich früh um sechs mit der Arbeit beginne, bin ich spätestens
um fünfe des Nachmittags mit meinem Pensum fertig, und dann bleibt mir
der ganze Abend zum Reiten, Fechten und Schwimmen oder zu Ausflügen
ins Freie.
Da sind Sie zu beneiden, Herr Doktor. Mein Onkel geht ja auch zuweilen
aufs Land, wenn er auf der Jagd nach Büchern ist und bei Gutsbesitzern und
Landpfarrern auf den Böden herumstöbert, aber ich bin seit Jahren nicht aus
Reichenbachs Hof herausgekommen. Das heißt — ich will nicht ungerecht sein! —
voriges Jahr bin ich einmal um die Osterzeit bei Lützschena, in den Schlüsselblumen
gewesen. Ach, das war herrlich! Da hatte ich im Handumdrehn einen Strauß,
so groß, daß ich kaum wußte, wie ich ihn heimtragen sollte. Die Erinnerung an
das kleine Erlebnis versetzte das junge Mädchen in eine Erregung, daß die dunkeln
Augen zu blitzen begannen.
Aber Sonntags? fragte er. Kommen Sie denn nicht wenigstens Sonntags
ans diesem dumpfen Mauerloch?
Dann habe ich andre Pflichten. Wenn man sich Wochentags so wenig der
Wirtschaft widmen kann wie ich, hat man Sonntags alle Hände voll zu tun. Da
gibt es zu nähen und zu flicken, die Wäsche will ausgebessert werden, und kochen
muß ich doch auch, wenn mein Onkel auch keine großen Ansprüche macht.
Er betrachtete sie mit Teilnahme.
Sie haben kein leichtes Los, sagte er dann, aber vielleicht kommt es mir nur
so schwer vor, weil mir Luft, Licht und Freiheit über alles gehn.
Mir wohl nicht weniger, erwiderte sie leiser, oder glauben Sie, die Sehnsucht
nach Freiheit würde schwächer, wenn sie ungestillt bleibt?
Gibt Ihnen Ihr Herr Onkel niemals Urlaub? fragte er ebenso leise und
nicht ohne sich vorher davon überzeugt zu haben, daß Seyler noch immer so völlig
in seine Lektüre vertieft war, daß er von den Lebensregungen der Außenwelt nicht
das geringste wahrnahm.
Käthchen schüttelte lächelnd den Kopf. Was sollte er ohne mich anfangen!
sagte sie. Er muß jemand haben, der ihn versorgt und behütet, denn er ist
hilfloser als ein Kind. Ohne mich würde er uuter seinen Büchern verhungern,
weil er von selbst niemals ans den Gedanken käme, Speise und Trank zu sich zu
nehmen.
Es tut mir aufrichtig leid, daß ich ihn eines seiner Lieblingsbücher beraube,
flüsterte der Doktor. Er scheint wirklich mit ganzer Seele daran zu hängen.
Machen Sie sich deshalb keine Gewissensbisse, erwiderte sie nun auch im
Flüsterton, wir haben eine ganze Anzahl Bücher ans Lager, von denen er sich ebenso
ungern trennen würde.
Zum Beispiel? fragte er, indem er zuerst die Nichte und dann den nichts¬
ahnenden Onkel schalkhaft anschaute und seinen blonden Schnurrbart heftig be¬
arbeitete.
Sie hatte seine Absicht erkannt und wurde rot bis zu den Schläfen.
Ach — wenn ich Ihnen Onkels Lieblinge alle nennen wollte, dann hätte ich
viel zu tun! sagte sie ausweichend.
Ich verlange ja auch gar nicht, daß Sie mir alle nennen. Aber ein paar
Titel können Sie mir getrost verraten. Man lernt ja die Menschen am besten
aus ihrer Lektüre kennen, und da ich nun in Zukunft öfter mit Ihrem Onkel
Geschäfte zu machen gedenke, muß es mir natürlich wertvoll sein, mich über ihn
und seine literarischen Passionen zu informieren. Also bitte: nur ein halbes
Dutzend Titel!
Nun, wenn Sie nicht mehr verlangen! sagte sie, indem sie sich den Anschein
gab, als sei sie durch seine Argumente von der Harmlosigkeit seiner Absichten über¬
zeugt worden, ein halbes Dutzend sollen Sie haben. Also, Lieblingsbuch Nummer
eins: Bernhardt». Grundriß der römischen Literaturgeschichte. Nummer zwei: Heeren,
Geschichte des Studiums der klassischen Literatur seit dem Wiederaufleben der
Wissenschaften. Drittens: Voigt, Die Wiederbelebung des klassischen Altertums oder
das erste Jahrhundert des Humanismus. Viertens: Burckhardt, Die Kultur der
Renaissance in Italien. Fünftens -—
Herr Polykarp Seyler war mit dem Kapitel über Tibull zu Ende und somit
auch geistig wieder in seinem Laden anwesend.
So, jetzt wäre der Gruppe reif zum Verkauf, sagte er. Es war gut, daß
ich noch einmal hineinsah, denn von den Ausführungen über das Buch Sulvicia
war mir schon manches entfallen.
Wenn Sie es etwa noch länger zu behalten wünschen, Herr Seyler, be¬
merkte Doktor Waetzold, so kann ich ja morgen oder übermorgen noch einmal vor¬
sprechen —
Danke vielmals, Herr Doktor. Was ich wissen wollte, weiß ich jetzt. Und
da ich ja doch entschlossen bin, Ihnen das Buch zu verkaufen, so ist es schon besser,
ich trenne mich gleich davon. Zur Not suche ich mir ein neues Exemplar. Er
wickelte den Band in einen Bogen Makulatur und händigte dem Doktor das
Pnketchen ein. Dieser verabschiedete sich von Onkel und Nichte mit einem kräftigen
Händedruck und nahm sich vor, Seylers Aufforderung: Beehren Sie mich bald
wieder! nicht als eine leere Redensart zu betrachten, sondern so bald und so oft
wie möglich zu beherzigen.
Als seine Schritte draußen ans den Steinfliesen des stillen Hofes verhallten,
seufzte der Antiquar auf.
Ach, daß die Leute immer gerade die Bücher verlangen, die einem ans Herz
gewachsen sind! sagte er. Den Schund habe ich zentnerweise daliegen, aber nach
dem fragt niemand. Was einem am liebsten ist, das muß man aus den Händen
geben.
Lieber Onkel, erwiderte Käthchen, wenn dir die Bücher so lieb und teuer
sind, dann solltest du ihnen auch gönnen, daß sie endlich aus Staub und Finsternis
an die Luft und den Sonnenschein hinauskommen. Es ist traurig genug, daß wir
beide an dieses dumpfe Loch gebunden sind. Ein billigeres Lokal würden wir in
der innern Stadt allerdings schwerlich finden.
Was heißt das, Mädel? Das sieht ja beinahe aus, als ob du dich hier nicht
Wohl fühltest?
So recht wohl nicht, Onkel. Aber es wird schon wieder vorübergehn. Weißt
du, zuweilen, wenn dort oben zwischen den hohen Dächern einmal ein Stückchen
blauen Himmels erscheint, oder wenn der Frühlingswind so frisch und ungestüm
durch den Hof Pfeife, dann ist mirs, als müßt ich hier in unserm engen, dunkeln
Gewölbe ersticken. Da ists denn ein Trost, wenn sich wieder graue Wolken über
das blane Fleckchen schieben, und wenn der Wind weiter zieht, weil er einsieht, daß
er hier weder Knospenhüllen noch Blütenblätter, sondern mir Strohhalme und Papier-
schnitzel als Spielzeug findet.
Wie sonderbar du heute nur redest, Kind! sagte Seyler, indem er die Brille
emporschob und die Nichte mit erstaunten Angen anschaute. Hast du denn nicht
alles, was der Mensch zu seiner Existenz braucht: Nahrung, Kleidung und Bücher?
Und dann solltest du doch wissen, was es mit dem Blau des Himmels auf sich
but! Die Luft wirkt einfach als ein trübes Mittel vor dem dunkeln Hintergrunde des
Weltenraums. Das wußte doch schon Lionardo da Vinci. Laß also die Grillen fahren
und lies einmal etwas heiteres. Wir haben ja gerade die schöne Se. Galler Übersetzung
vom Lob der Narrheit des Erasmus da. Die wird dich schon auf andre Gedanken
bringen. Und zuvorkommend, wie er immer war, wenn es galt, die Nichte mit
irgendeinem Juwel der Literatur bekannt zu machen, stieg Herr Polykarp Seyler
auf die Leiter und suchte in eigner Person den verstaubten schwarzen Pappband,
über den das arme Käthchen den blauen Himmel vergessen sollte.
(Fortsetzung folgt)
Der Kaiser ist von seiner Nordlandfahrt zurückgekehrt, und diese Heimkehr ist
zugleich durch ein bedeutsames Ereignis bezeichnet: die Zusammenkunft mit dem
Kaiser von Rußland.
Monarchenbegegnungen sind heute nicht mehr solche Marksteine auf dem Wege
der Politik, wie sie es sogar noch vor etwa einem Menschenalter waren. Auch in
dieser Beziehung steht die Welt jetzt im Zeichen des Verkehrs, Der Form und
dem Buchstaben nach ist der Umfang der persönlichen Verantwortlichkeit der Herrscher
stark beschränkt worden, aber das Verständnis der monarchischen Völker für Wert
und Bedeutung des Herrscherberufs ist gewachsen, und mit ihm das Bedürfnis der
Monarchen selbst, sich auf dem Gebiete lebhafter zu betätigen, das doch trotz aller
konstitutionellen Schranken auch heute uoch einzelnen, auf hoher Warte stehenden,
von dem Bewußtsein der höchsten Verantwortung getragnen und dadurch besonders
starken Persönlichkeiten vorbehalten geblieben ist. Dieses Gebiet ist das der aus¬
wärtigen Politik. So sind, dem Geist der Zeit und den gesteigerten Verkehrsmög¬
lichkeiten entsprechend, die Monarchenbegegnungen häufig geworden. Mit dieser
Häufigkeit haben sie aber auch allmählich in vielen Fällen den Charakter von nach¬
gerade üblichen Höflichkeitsbeweisen gewonnen, die in politischer Beziehung zu nichts
verpflichten. Doch darf man nicht vergessen, daß man auch umgekehrt nicht selten
eine Höflichkeitspflicht offiziell vorschiebt, um den politischen Charakter eines Besuchs
zu verschleiern.
Die Kaiserbegegnung am 3. August auf der Reede von Swinemünde gehört
nicht zu denen, deren politische Bedeutung man zu verschleiern versucht hat. Das
wäre auch bei den Umständen, unter denen sie stattfand, einfach lächerlich gewesen.
Formell handelt es sich ja um die Erwiderung des letzten Besuchs, den unser
Kaiser dem Zaren in den finnischen Schären abgestattet hat. Aber an diese Er¬
widerung war unter den schweren Sorgen, die an den russischen Herrscher heran¬
getreten sind, lange Zeit nicht zu denken gewesen. Es ist deshalb nicht zu ver¬
wundern, wenn diese Reise des Zaren, die eigentlich seine erste Auslandsreise seit
dem Beginn der für seine Regierung so trüben und unruhvollen Zeiten ist, mit be¬
sondrer Aufmerksamkeit betrachtet wird.
Gewiß ist das nicht unberechtigt. Nur ist man vielleicht an den meisten
Stellen geneigt, in den Deutungsversuchen dieser Reise und den Erwartungen, die
man daran knüpft, zu weit zu gehn. Man wird gut tun, die Phantasie nicht zu
hoch fliegen zu lassen, sondern sich zuerst einmal das Nächstliegende anzusehen. Es
sind die Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland, die dabei wohl zunächst
in Frage kommen. Sie sind in den letzten Jahren immer gut und vertrauensvoll
gewesen, soweit die beiderseitigen Dynastien und Regierungen in Betracht kommen.
Aber man konnte im Zweifel sein, ob dieses Verhältnis in der öffentlichen Meinung
beider Länder ein genügendes Echo fand, und ob das Ausbleiben dieses Echos
nicht mit der Zeit auch aus die Regierungen zurückwirken mußte. Lange hat das
Freundschaftsverhältnis, das in der Zeit der Befreiungskriege und der Heiligen
Allianz zwischen dem preußischen Königshause und der Dynastie Holstein-Romanow
geschloffen wurde, nachgewirkt, obwohl es an Schwankungen und unerfreulichen
Momenten dabei zu den verschiedensten Zeiten nicht gefehlt hat. Das kam daher,
daß sich in diesem einzigartigen Verhältnis zwischen zwei Dynastien doch etwas
mehr bemerkbar machte als eine bloße Familientradition. In den persönlichen Be¬
ziehungen der Herrscher und ihrer Familien lag eine Veranlassung mehr, die Be¬
dürfnisse und Interessen der beiden Völker von einem andern Standpunkte zu be¬
trachten, als die nationalen Vorurteile und die mißleiteten Instinkte unverantwortlicher
Kreise häufig einzugeben schienen. Es ist den Nationen zugute gekommen, daß die
Träger der höchsten Verantwortung ihr Verhältnis auch dann mit pietätvoller
Scheu betrachteten, wenn persönliche Neigungen und das Hinhorchen auf volks¬
tümliche Stimmungen drauf und dran waren, die Lage recht ernst zu gestalten.
So aber hat das persönliche Verhalten der Herrscher doch immer wieder der zu¬
treffenden Vorstellung zum Siege verholfen, daß die wirklichen Interessen der beiden
Völker keinen Gegensatz bedingen, sondern sie darauf hinweisen, trotz den stark aus¬
einandergehenden und schwer vereinbaren nationalen Eigentümlichkeiten und Bedürf¬
nissen miteinander Frieden zu halten und nachbarlich Hand in Hand zu gehn. Die
revolutionäre Bewegung in Rußland mußte die Befürchtungen verstärken, daß dort
die deutschfeindlichen Instinkte die Oberhand behalten würden. Für eine realpolitische
Würdigung der Beziehungen zu den Nachbarländern hat die russische Volksbewegung
zurzeit wenig Sinn. Man ist mit den innern Fragen so sehr beschäftigt, und die
Leidenschaften sind so ziellos und ungeklärt, daß man auch bei der Beurteilung der
auswärtigen Beziehungen mehr nach den Sympathien bluts- und wahlverwandter
Rassen und nach ihrer Stellung zu den demokratischen Prinzipien fragt als nach
geschichtlichen Zusammenhängen und realen Interessen. Wenn bei dieser Sachlage
vom Zarenthrone selbst ein sichtbares Zeichen ausgeht, daß sich die kaiserliche Ge¬
walt noch als Herrin der Lage sühlt und die alten freundnachbarlichen Traditionen
aufrechterhalte» wissen will, so ist das von großem Wert.
Man hat, wie gesagt, in dem Besuch des russischen Kaisers, der übrigens ganz
aus seiner eignen Initiative hervorgegangen ist, sehr viel mehr gesucht, womöglich
die Einleitung von Vereinbarungen, die eine ganz neue weltpolitische Lage herbei¬
führen sollten. Für die Wahrscheinlichkeit solcher Annahmen spricht wenig oder nichts.
Die Vorstellung von der englischen „Einkreisungspolitik" spukt noch in den Köpfen.
Wir haben diese sogenannte Einkreisung sehr kühl aufgefaßt. Die Bemühungen
Englands, mit allen im Mittelmeer interessierten Mächten, zu denen Deutsch¬
land — wenigstens in dem Sinne, auf den es hier ankommt — nicht gehört, sich
über bestimmte Fragen zu verständigen und sich für die Aufrechterhaltung gewisser
Fundamente seiner Machtstellung Garantien zu verschaffen, erklären sich sehr natürlich
"us dem Bedürfnis, die englische Weltherrschaft in einer der neuen, veränderten
Weltlage entsprechenden Weise zu stützen. Man braucht dabei natürlich nicht zu
übersehen und zu leugnen, daß die englischen Staatsmänner, um zu dem Ziel zu
kommen, das die englischen Interessen forderten, sich allerdings auch mehrfach der
deutschfeindlichen oder ans Deutschland eifersüchtigen Strömungen bedient haben, die
ihnen in ihrem eignen Lande und anderwärts die diplomatische Arbeit zu erleichtern
schienen. Bei uns hat man daraus auf den deutschfeindlichen Zweck dieser ganzen
Politik geschlossen. Man hätte aber erkennen müssen, daß sie gerade zu diesem Zweck
ungeeignet war, weil die gegenseitigen Interessen der mit England verbündeten
Mächte viel zu sehr auseinander- und durcheinanderliefen, als daß sie zu einem
gemeinsamen offensiven Vorstoß gegen den festgefügtesten Staat Mitteleuropas
hätten vereinigt werden können. Hat England wirklich seine Abmachungen mit
Spanien, Frankreich, Italien zu dem Zweck getroffen, mit allen diesen Mächten ge¬
meinsam Deutschland einzuengen und zur politischen Ohnmacht zurückzuführen, so hat
es eine ungeschickte und gewagte Jllusionspolitik getrieben. Hat es aber den Zweck
verfolgt, die Interessen der Mittelmeermächte geschickt zu benutzen, um seine maritime
Etappenstraße nach Indien zu decken und sich einen guten Rückhalt für seine Welt¬
politik zu verschaffen, dann bekommt die ganze Sache erst einen Sinn. Und in
diese Politik fügt sich auch das Bündnis mit Japan sinngemäß ein. Aber es mußte
mehr geschehn, wollte England nicht in Ostasien und im Stillen Ozean als Schleppen¬
träger Japans erscheinen. Jetzt, wo Japan Rußland bezwungen hatte, und Rußland
in seinen asiatischen Expansionsbestrebungen vorläufig gelähmt war, konnte England
den Augenblick nicht vorübergehn lassen, ohne eine Verständigung mit Rußland
über asiatische Fragen zu versuchen. Und inzwischen hatte man auch in Rußland
erkannt, daß bei der durch den Krieg geschaffnen Lage in Ostnsien und nach dem
wohl unter englischem Einfluß zustande gekommnen französisch-japanischen Abkommen
nichts bessers zu tun sei, als auf die von Japan und England angebotne Ver¬
ständigung einzugehn. Damit wurde freilich der unvorteilhafte Eindruck erzeugt,
als spiele Rußland in dieser Mächtekombination — England, Frankreich, Japan,
Nußland — eine recht untergeordnete Rolle. In Deutschland aber konnte die
Verständigung zwischen England und Rußland aufs neue die Vorstellung lebendig
machen, daß schließlich doch die „Einkreisung" Deutschlands der Endzweck der ganzen
britischen Politik sei. In diesem Zusammenhange wird es verständlich, wenn eben
jetzt die russische Politik das Bedürfnis empfand, in augenfälliger Weise Deutsch¬
land die Hand zu reichen. Es spricht sich darin nicht eine neue Wendung der
internationalen Politik oder gar ein Gegensatz gegen England aus, sondern viel¬
mehr nur das gemeinsame Interesse von Deutschland und Nußland, die gegebne
Lage vor Mißdeutungen und ungewollten Eindrücken zu bewahren. So wird sich
der Begegnung der beiden Kaiser sehr bald die weitere zwischen Kaiser Wilhelm
und König Eduard in Wilhelmshöhe anschließen, wodurch zur Genüge bekundet
wird, daß von einem Gegensatz gegen England nicht die Rede ist.
Die Anzeichen von einem Nachlassen der frühern Spannungen in der inter¬
nationalen Lage sind um so wertvoller, als die Verhältnisse in Marokko wohl
geeignet sind, allerlei Besorgnisse hervorzurufen. Der wilde Unabhängigkeitssinn
der Marokkaner hat sich wieder einmal mit dem mohammedanischen Fanatismus
zu schlimmen Ausbrüchen des Fremdenhasses vereinigt, sodaß ein neues Einschreiten
der Europäer erforderlich sein wird. Die in Casabianca ermordeten Europäer
waren in der Mehrzahl Franzosen; es ist also wohl zu verstehen, daß in Frank¬
reich besondre Erregung herrscht, und einige heißblutige Patrioten nichts Geringeres
fordern als eine Revision der Algecirasakte. Auch in England gibt es Stimmen,
die schon wieder der Furcht Ausdruck geben, Deutschland könnte vielleicht durch seiue
Haltung die Marokkaner ermutigen und Frankreich in den Arni fallen. Das ist aber
eine ganz falsche Auffassung des Standpunktes der deutschen Politik. Deutschland ist
den berechtigten Interessen Frankreichs in Marokko niemals entgegen gewesen. Wo¬
gegen es sich verwahrt hat, war die einseitige, ohne entsprechende Garantien ver¬
langte, frühern internationalen Vereinbarungen widersprechende Inanspruchnahme
eines französischen Maubads zur Vertretung der Interessen aller andern, in Marokko
Handel treibenden Völker. Diesen Standpunkt hat Deutschland trotz der Schwierig¬
keiten, die ihm von allen an einem guten Einvernehmen mit Frankreich besonders
interessierten Mächten bereitet wurden, auf der Konferenz von Algeciras in den
wesentlichen Punkten durchgefochten. Es würde seinen eignen Grundsätzen entgegen¬
arbeiten, wenn es jetzt das Recht Frankreichs, sich Genugtuung zu verschaffen, nicht
anerkennen wollte, zumal da die europäische Polizei, die nach der Algecirasakte
von Frankreich und Spanien gemeinsam organisiert werden soll, noch nicht einge¬
richtet worden ist. Überdies geht Frankreich diesmal gar nicht auf eigne Faust
vor. Es hat sich, wie es die internationalen Vereinbarungen festgesetzt haben, mit
Spanien ins Einvernehmen gesetzt, also dadurch bekundet, daß es im Geiste der
Abmachungen von Algeciras vorgehn will. Und auch insofern hütet sich Frankreich
vor den Fehlern der einstigen, gegen Deutschland provokatorischen Politik Delcasfts,
als es der deutschen Regierung auf diplomatischem Wege offen und ehrlich von
den beabsichtigten Maßnahmen in Marokko Kenntnis gegeben hat. Man ist also
zu der Erwartung berechtigt, daß aus den Unruhen in Marokko keine ernsten Ver¬
wicklungen entstehen werden. Aber es drängt sich auch der Wunsch auf, daß die
vollständige Ausführung aller Beschlüsse der Marokkokonferenz nicht allzu lange mehr
auf sich warten lassen möge. Hätten wir schon eine organisierte europäische Polizei
in Marokko, so wären die Ausschreitungen der fanatisierten Bevölkerung von Casa-
bianca vielleicht gar nicht vorgekommen.
Vierzig Jahre sind verflossen, seit zum erstenmal
das Bestreben, einen zentralisierten deutschen Bund zu schaffen, mit Erfolg gekrönt
wurde. An Versuchen, dem deutschen Reich eine über den einzelnen Gemeinwesen
stehende Zentralgewalt und dem deutschen Volk eine Verfassung zu geben, hat es
schon zur Zeit des alten Deutschen Bundes von 1815 nicht gefehlt. Da diesem aber
vertragsmäßig das Prädikat der „Unabänderlichkeit" beigelegt war, so wurden jene
Reformversuche erst durch die Katastrophe von 1866, die die Sprengung des
Bundes zur Folge hatte, ihrem Ziele näher gebracht. Nachdem Österreich vertrags¬
widrig die Bundesexekution gegen Preußen beantragt hatte, erklärte dieses am
14. Juni 1866 seinen Austritt aus dem Bunde, den es für nicht mehr bestehend
betrachtete.
Aber schon am 10. Juni waren von Preußen den deutschen Regierungen
„Grundzüge zu einer neuen Bundesverfassung" durch Zirkulardepesche unterbreitet
worden, verbunden mit der Anfrage, „ob sie eventuell, wenn in der Zwischenzeit bei
der drohenden Kriegsgefahr die bisherigen Bundesverhältnisse sich lösen sollten, einem
auf der Basis dieser Modifikationen des alten Bundesvertrags ... neu zu errichtenden
Bunde beizutreten geneigt sein würden".
Ein solcher Bündnisvertrag wurde von fünfzehn norddeutschen Staaten am
18. August 1866 geschlossen. Das Königreich Sachsen trat ihm am 21. Oktober bei.
Dieses Bündnis bestand zunächst „zur Erhaltung der Unabhängigkeit und
Integrität, sowie der innern und nußern Sicherheit" seiner Kontrahenten. Zugleich
wurde in Artikel 2 des Bündnisvertrags vereinbart, die Zwecke des Bündnisses
definitiv durch eine Bundesverfassung auf der Basis der preußischen Grundzüge vom
1V. Juni 1866 sicherzustellen, unter Mitwirkung eines gemeinschaftlich zu berufenden
Parlaments. Demgemäß verpflichteten sich auch die Regierungen, die auf Grund des
Reichswahlgesetzes vom 12. April 1849 vorzunehmenden Wahlen der Abgeordneten
SU jenem Parlament anzuordnen und Bevollmächtigte nach Berlin zu senden, um
nach Maßgabe der erwähnten preußischen Grundzüge den Bundesverfassungscntwurf
festzustellen, der dem Parlament zur Beratung und Vereinbarung vorgelegt
werden sollte.
Diese allgemeinen Wahlen fanden in ganz Norddeutschland am 12. Fe¬
bruar 1867 statt.
Nunmehr berief König Wilhelm der Erste von Preußen den Norddeutschen
Reichstag „zur Beratung der Verfassung und der Einrichtungen des Norddeutschen
Bundes" auf den 26. Februar 1867 nach Berlin.
Die Beratungen über den Entwurf (die preußischen Grundzüge) waren am
16. April beendet, und es erfolgte eine Annahme mit 230 gegen 53 Stimmen.
Unmittelbar darauf traten die Kommissnrien der Verbündeten Regierungen zu einer
Sitzung zusammen zwecks einstimmigen Beschlusses, „den Verfassungsentwurf, wie er
aus der Schlußberatung des Reichstages hervorgegangen ist, anzunehmen". Dieser
Beschluß wurde am 17. April dem Reichstag offiziell mitgeteilt.
Der norddeutsche Bund war geschlossen. Das Bündnis vom 18. August
1866, dessen Dauer ja bis zum Abschluß des neuen Bundesverhnltnisses auf ein
Jahr festgesetzt war, wenn der neue Bund nicht vor Ablauf eines Jahres geschlossen
sein sollte, hatte also sein Ende gefunden.
Die Nechtsnatur dieser Ereignisse ist lebhaft bestritten worden und nicht leicht
zu beurteilen.
Die an das Reichswahlgesetz von 1849 sich anschließenden 22 Landeswahlgesetze
von 1867 für den sogenannten konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes
hatten jenem allerdings nur eine beratende, nicht vereinbarende Tätigkeit bei dem
Zustandekommen der Bundesverfassung zugeschrieben. Hierauf stützt sich die eine
Ansicht, besonders von Professor Labend (Straßburg) vertreten, die am 17. April
den Norddeutschen Bund als noch nicht errichtet betrachtet. Jener konstituierende
Reichstag sei eben kein Parlament im staatsrechtlichen Sinne gewesen, sondern „nur
eine Versammlung vom Volk gewählter politischer Vertrauensmänner"; seine Ge¬
nehmigung des Verfassungsentwurfs habe nur die Bedeutung eines Gutachtens
gehabt, kurz gesagt, der Reichstag sei nicht als „Pciziszent" ein den Regierungen
gegenüber gleichberechtigtes Rechtssubjekt gewesen.
Gegen diese Ansicht spricht ein Verweis auf das Bündnis der norddeutschen
Staaten vom 13. August 1866, jenen Vorvertrag für den Norddeutschen Bund.
In Artikel 2 desselben, oben zitiert, ist wörtlich von der „Mitwirkung eines
gemeinschaftlich zu berufenden Parlaments" die Rede, und es spricht Artikel 5
ausdrücklich davon, der Bundesverfassungsentwurf solle diesem „Parlament" zur
„Beratung und Vereinbarung" vorgelegt werden. Also dieses Bündnis, diese
wichtigste Grundlage für den Norddeutschen Bund legt die Feststellung der Ver¬
fassung in die Hände eines vereinbarenden, nicht nur eines beratenden Reichstags.
Ist dies nicht entscheidend? Laband selbst spricht den Grundsatz aus: „Alle
Rechtsakte, welche zur Gründung des Bundesstaats führten, waren Akte der souveränen
Einzelstaaten." Und ein solcher souveräner Akt war auch der Vertragsschluß der
verbündeten Regierungen. Dem Reichstag, der hierdurch ein vereinbarendes Votum
erhielt, konnte dies in der Weise nicht genommen werden, daß sich die Kammern,
besonders das preußische Abgeordnetenhaus darauf versteiften, dem Reichstag nur
„die Beratung der Verfassung" zu überweisen.
Von diesem Standpunkt aus betrachtet ist der 17. April 1867 der Tag,
an dem sich der auf die Geburt des Norddeutschen Bundes zielende Einigungsakt,
die „Vereinbarung" zwischen den norddeutschen Staaten und dem norddeutschen
Volk vollzog. Dieser besonders auch von Professor Binding (Leipzig) verteidigten
Meinung steht nicht entgegen, daß das Verfassungswerk uoch nicht völlig erledigt
war. Dies war die Konsequenz aus der damaligen unrichtigen Anschauung, die
Publikation der Verfassung könne nicht reichsgesetzlich, sondern müsse landesgesetzlich
geschehen. Demgemäß besteht auch kein ordentliches „Gesetz, betreffend die Verfassung
des Norddeutschen Bundes", und es ist auch in der Verfassungsvereinbarung nicht
der Tag festgestellt, an dem jene in Kraft treten sollte. Dies alles mußte auf
dem Wege der Landesgesetzgebung vor sich gehen.
Die Landesverfassungen mußten nach Maßgabe der Bundesverfassung modifiziert
werden. Hierzu war die ständische Zustimmung unentbehrlich. Das Veto einer Kammer
hätte jedoch nnr die Zugehörigkeit des betreffenden Staates zum Bunde illusorisch
gemacht, dessen Verfassung aber unberührt gelassen. Es wurde allerdings nun die
Bundesverfassung selbst in Form eines Landesgesetzes publiziert, und zwar in den
einzelnen Staaten zwischen dem 21. und 27. Juni 1867, mit der Bestimmung, daß
sie „mit dem 1. Juli 1867 in Kraft treten solle". Das bedeutete nur: Am 1. Juli
solle die interne Anpassung der Landesverfassungen an die Verfassung des schon
bestehenden externen Bundcsverhältnisses vollzogen sein.
Auf den Akt der Vereinbarung vom 17. April 1867 war der Geburtstag
des Norddeutschen Bundes am 1. Juli 1867 gefolgt.
Nicht die Bedeutung einer Publikation, sondern die einer Bestätigung trägt das
Königliche Publikandum (Seite 23 des Bundes-Gesetzblattes von 1867):
„— Indem Wir dies hiermit zur öffentlichen Kenntnis bringen, übernehmen
Wir die Uns durch die Verfassung des Norddeutschen Bundes übertragenen Rechte,
Befugnisse und Pflichten für Uns und Unsere Nachfolger an der Krone Preußen.
Wir befehlen, dieses Publikandum durch das Bundesgesetzblatt des Norddeutschen
Bundes zu veröffentlichen.
Urkundlich unter Unserer Höchsteigenhändiger Unterschrift und beigedrucktem
Königlichen Jnsiegel.
Gegeben Bad Ems, den 26. Juli 1867.
(I,. S.)
Bon diesem Norddeutschen Bund zu dem heutigen Deutschen Reich bedürfte es
nur eines Schrittes, des Zusammenschlusses und den Südstaaten, was schließlich 1870
zu Versailles und Berlin geschah. Hierzu vorbereitende Verbindungen zwischen dem
Norddeutschen Bunde und den süddeutschen Staaten waren jedoch bereits hergestellt in
Form von Schutz- und Trutzbündnissen und besonders in der Zollvereinigung vom
8. Juli 1867, dem letzten und sichersten Vorboten der Verfassung eines Deutschen
R
Am 4. Juli wurde in Italien unter lebhafter Teilnahme
der hundertste Geburtstag des großen Freiheitshelden Giuseppe Garibaldi gefeiert,
und die Presse aller Welt gedachte in sympathischen Artikeln dieses italienischen
Patrioten. Ein besondrer Abschnitt in diesen Artikeln war der Beteiligung Gari¬
baldis an dem Kampfe der französischen Republik gegen Deutschland im Jahre 1870
gewidmet, ohne daß man aber die Beweggründe in erschöpfender Weise aufzuzählen
vermochte, die Garibaldi veranlaßt hatten, sein stilles Eiland Caprera zu verlassen,
um den Franzosen zu Hilfe zu eilen.
In authentischer Form sind alle diese Beweggründe meines Wissens auch noch
nirgends veröffentlicht worden, und ich glaube mir deshalb den Dank des sich für
Geschichte interessierenden Lesers zu verdienen, wenn ich dies hiermit tue.
Anfang 1872 war ich in Italien. Kurz vorher war Mazzini gestorben. In
Bologna traf ich zufällig mit einigen seiner Getreuen zusammen, die auch den Zug
"l Frankreich und zwar in der unmittelbarsten Umgebung Garibaldis mitgemacht
hatten. Diese erzählten mir des öftern von den Kämpfen der Garibaldischen
Freischar in Frankreich, namentlich aber auch vou den Gründen, von denen Gari¬
baldi bei diesem Unternehmen geleitet wurde, wie sie sie teils von den Söhnen
und den nähern Freunden Garibaldis, teils aus dem Munde des alten Haudegens
selbst gehört hatten. In erster Reihe stand hierbei seine Vorliebe für die republi¬
kanische Staatsform, wie sie Frankreich nach Sedan und dem Sturze Napoleons
angenommen hatte. Er befürchtete, daß die siegreichen Deutschen Napoleon nach
Frankreich zurückführen oder den Grafen von Chambord auf den neu zu errichtenden
Königsthron setzen würden. Vor dieser vermeintlichen Gefahr wollte er die Re¬
publik in Frankreich retten. Ja, nicht nur dies allein. Er hoffte dadurch, daß
er die auf den Trümmern des Kaisertums entstandne Republik und deren aus der
Erde gestampften Armeen zum Siege und Triumphe führte, den monarchischen
Ländern die republikanische Staatsform als eine nachahmenswerte Einrichtung
zeigen zu können. Nächstdem wurde der alte Schwärmer Garibaldi von dem
idealen Gedanken beherrscht, daß es seine patriotische Dankespflicht sei, dem ver¬
wandten romanischen Volke, das 1859 auf den lombardischen Schlachtfeldern sein
Blut sür die Befreiung und die Einheit Italiens vergossen hatte — und darin
die Priorität vor Preußen hatte, das erst 1866 die Befreiung Veneziens miter¬
kämpfte —, in seinem Unglücke beizustehn. Er glaubte dies um so mehr tun zu
müssen, als es sich für Frankreich in jenem Stadium des Krieges — nach
Sedan — nur noch darum handelte, sich Elsaß und Lothringen, also die bisherigen
Grenzen zu erhalten. Und hierbei rechnete er auch darauf, daß wenn es ihm
gelänge, eine Wendung des Kriegsglücks herbeizuführen und Frankreich die alten
Grenzen neu zu sichern, sich dieses bereit finden lassen werde, als Ausdruck des
Dankes hierfür den zehn Jahre vorher (1860) von Napoleon dem befreundeten
Italien entrissenen Gebietsteil mit Nizza an Italien wieder zurückzugeben. In
dieser Beziehung sollen auch Verhandlungen zwischen Garibaldi und Gambetta ge¬
pflogen worden sein, doch war nicht zu erfahren, ob Gambetta irgendwelche Aus¬
sichten auf Erfüllung dieses Wunsches Garibaldis eröffnet hatte. Man glaubte
jedoch, daß sich Gambetta ablehnend Verhalten habe, ja daß der diesbezügliche An¬
trag Garibaldis für Gambetta mitbestimmend gewesen sei, ihm nicht den Ober¬
befehl über die französische Südarmee zu geben, wie Garibaldi gehofft hatte.
Jedenfalls war Garibaldi später auf Gambetta nicht sonderlich gut zu sprechen;
er maß ihm auch die Hauptschuld daran bei, daß er, von mehreren Departements
in die Nationalversammlung zu Bordeaux gewählt, dort nicht zu Worte gelangen
konnte, und als er es wiederholt verlangte, mit stürmischen Mißfallenskundgebungen
überhäuft wurde. Garibaldi trug von dieser Szene die Überzeugung mit heim
— noch am Abend des denkwürdigen Tages reiste er nach Italien ab —, daß
Gambetta sie arrangiert habe, da er in Frankreich allein als der Nationalheros
gelten wollte und die Anwesenheit Garibaldis in Frankreich als eine Beeinträchtigung
seines Ruhmes ansah. Auch über seine kriegerischen Taten in Frankreich war
Garibaldi innerlich wenig befriedigt, wenn er auch bis zuletzt mit allem Nachdruck
versicherte, daß er bei Dijon einen „großen Sieg" errungen habe (36060 Frei-
schärler und Reguläre hatten zwei Tage gegen zwei preußische Regimenter ge-
kämpst, wobei die Fahne des 61. Regiments unter einem Haufen Toter begraben
wurde. Tags darauf von den Freischcirlern gefunden, wurde sie später von Gari¬
baldi in ritterlicher Weise an das Regiment zurückgesandt, da sie nicht im Kampfe
selbst erobert worden sei). Dieser Versicherung Pflegte er dann hinzuzufügen, daß,
wenn er über größere Truppenmassen zu kommandieren gehabt hätte, und wenn
er nicht in vielen Dingen von der Gambettaschen Verwaltung im Stiche gelassen
worden wäre, er den Entsatz Belforts und damit einen entscheidenden Schlag zu¬
lie christlichen Gewerkschaften, die unter den verschiednen gewerk¬
schaftlichen Strömungen der deutschen Arbeiterbewegung ihrer
Entstehung nach die jüngste, ihrer Bedeutung nach die zweitstärkste
ist, entstanden im Jahre 1894. Als erster trat der Gewerkverein
I christlicher Bergarbeiter für den Oberbergamtsbezirk Dortmund
ins Leben. Es dürfte nicht unbekannt sein, daß gerade im Bergmannsstande
die Organisation schon Jahrhunderte alt war. Die Knappschaftsvereine, aus
mittelalterlichen Gilden entstanden, hatten sich bis in die neueste Zeit hinein
gerettet und sind heute die Träger der gesetzlichen Arbeiterversicherungen für
die Bergleute geworden. Auch Vereine gewerkschaftlicher Natur, also Ver¬
einigungen zur Besserung der Arbeits- und Lohnverhältnisse, waren unter den
Ruhrbergleuten nichts neues, als der Gewerkverein christlicher Bergarbeiter
entstand.
Die Tendenzen des Gewerkvereins sind mannigfacher Art. Er ist gewisser¬
maßen eine dauernde Vereinigung von Lohnarbeitern desselben Gewerbes zur
Regelung der Arbeits- und Lohnverhültnisse. Demnach befaßt er sich mit der
Regelung der Arbeitszeit, der Löhne, des Arbeitsangebots, des Arbeitsvertrags,
der Kündigungsfristen, der Lohnauszahlung, der Einsetzung von Schiedsgerichten
oder Vertrauenskvmmissionen und mit allem, was mit diesen Aufgaben in engem
Zusammenhang steht. Alle diese Bestrebungen sucht er endgiltig durch Abschluß
des kollektiven Arbeitsvertrages zu verwirklichen, bei dem sich die organisierten
Arbeiter einerseits und die organisierten Unternehmer andrerseits zur Ein¬
haltung von bestimmten Arbeitsbedingungen (Tarifvertrag) verpflichten.
Im Jahre 1906 nun haben die christlichen Gewerkschaften einen nicht zu
verkennenden Aufschwung genommen, sie weisen nämlich eine Mitgliederzunahme
von 35,7 Prozent auf; dasselbe trifft auch bei den weiblichen Mitgliedern zu,
deren Zahl sich um das Doppelte vermehrt hat. Die Gesamtzahl der Mit¬
glieder stellt sich somit auf 335 247.
Hiervon entfallen 260040 auf die dem Gesamtverband angeschlossenen Ver¬
bände, während sich die übrigen aus Vereinen rekrutieren, die dem Gesamt¬
verband nicht angeschlossen sind, aber immerhin mit zugezählt werden können,
da jene eine dem christlichen Gewerkschaftsprogramm entsprechende grundsätzliche
Bestimmung in ihr Statut aufgenommen haben und von christlicher Seite ge¬
gründet worden sind.
Die höchste Mitgliederzahl im Jahre 1906 hatten die Bergarbeiter mit
73542. die Textilarbeiter mit 34581, die Bauhandwerker mit 36459, die
bayrischen Eisenbahner mit 22155, die Metallarbeiter mit 24744 usw. Gegen¬
über dem Vorjahre hatten die Bauhandwerker einen Zuwachs von 15780, die
Metallarbeiter von 6804, die Hilfs- und Transportarbeiter von 4848, die
Textilarbeiter von 4600, die Keramarbeiter von 3604 Mitgliedern. An der
Zunahme der weiblichen Mitglieder sind der Textilarbeiterverband mit 5246, der
Tabakarbeiterverband mit 2098, der Keramarbeiterverband mit 827, die Heim¬
arbeiterinnen mit 527 Mitgliedern beteiligt.
Besonders auffallend ist der Mitgliederwechsel in den einzelnen Verbänden
selbst. Selbstverständlich findet ein solcher in jeder Gewerkschaftsorganisation
statt; immerhin ist die Zahl der Personen, die den christlichen Gewerkschaften
wieder den Rücken gekehrt haben, ziemlich bedeutend, nämlich 70804. Die
folgende Tabelle veranschaulicht den Mitgliederwechsel etwas genauer:
Zur Entschuldigung führt das Zentralblatt der christlichen Gewerk¬
schaften Deutschlands an, daß „der Wechsel im Vergleich mit den meisten sozial¬
demokratischen Verbänden allerdings schwächer ist als in diesen". Diese Er¬
widerung steht doch auf sehr schwachen Füßen, denn die sozialdemokratischen
Verbände haben drei-, viermal und noch mehr Mitglieder aufzuweisen. Etwas
verspätet kommt der Entschluß, den Ursachen nachzuspüren. Das hätte schon
längst geschehen müssen, da doch dieser Mitgliederwechsel schon seit Jahren
anhält!
Stark zurückgegangen ist die Mitgliederzahl der deutschen Eisenbahnhand¬
werker von 48903 auf 41436, was also einem Verlust von 7467 Mitgliedern
gleichkommt. Dieser Rückgang soll mit dem „Allgemeinen Verband der Eisen-
bahnvereine der preußisch-hessischen Staatsbahnen und der Reichsbahnen" zu¬
sammenhängen, nach dessen Gründung es mit dem Trierschen Verbände immer
mehr rückwärts geht.
Trotzdem hält aber in den andern Verbänden das Wachstum der Mit¬
glieder stetig an, sodaß natürlich den sozialdemokratischen Gewerkschaften der
Aufschwung der christlichen unbequem wird. Dies illustrierte auch der General¬
sekretär Stegerwald in Köln, der auf dem sechsten christlichen Gewerkschaftskongreß
im vorigen Jahre an der Hand statistischer Ziffern nachwies, daß zum Beispiel
in der Textilindustrie und im Bergbau schon jetzt die sozialdemokratischen Ge¬
werkschaften für Lohnkämpfe auf Verständigungen mit den christlichen Organi¬
sationen angewiesen sind, wenn sie sich nicht von vornherein der Gefahr eines
erfolglosen Kampfes aussetzen wollen.
Gleichen Schritt mit der Mitgliederzunahme halten auch die finanziellen
Kräfte. Die Einnahmen betrugen insgesamt 3644865 Mark, die Aus¬
gaben 2977 733, der Kassenbestand 2613961 Mark. Auch hier haben die
Kassenverhältnisse eine wesentliche Steigerung erfahren, was die folgende Auf¬
stellung zeigt:
Unter den Einnahmen ist die höchste Summe die der Beiträge, was nur
freudig zu begrüßen ist, denn vor nicht langer Zeit wurden noch von den
einzelnen Verbänden so minimale Beiträge erhoben, daß die Unkosten mitunter
kaum gedeckt werden konnten. Beispielweise betrugen die Einnahmen der Bei¬
träge im Jahre 1904 nur 799147 Mark, während sie im Jahre 1906 auf
3033217 Mark gestiegen sind. Von den einzelnen Verbänden erreichten die
höchsten Einnahmen an Aufnahmegebühren die Bauhandwerker mit 15069 Mark,
die Metallarbeiter mit 10522 Mark, die Hilfs- und Transportarbeiter mit
7004 Mark; an Beitrügen die Bergarbeiter mit 741445 Mark, die Vauhcmd-
werker mit 553644 Mark, die Metallarbeiter mit 460 996 Mark; an Extra¬
beiträgen die Metallarbeiter mit 33253 Mark, die Textilarbeiter mit 25652 Mark,
die Bauhandwerker mit 23377 Mark; an sonstigen Einnahmen die Bergarbeiter
mit 49769 Mark, die bayrischen Eisenbahner mit 40741 Mark, die Bauhand¬
werker mit 16252 Mark.
Von den Ausgaben entfallen die größern Beträge mit 853435 Mark
— gegen 1000320 Mark im Jahre 1905 — auf Streik- und Gemaßregelten-
unterstützung, 434622 Mark auf den Anteil der Lokalkassen, 275260 Mark
auf das Verbandsorgan, 262 787 Mark auf Agitation, 265485 Mark auf
Krankengeld, 136994 Mark auf Sterbegeld, 124977 Mark auf Verwaltungs¬
kosten usw. Von den beiden größern Summen für Ausgaben (Streik- und
Gemaßregeltenunterstätzung und Verbandsorgan) verbrauchten für den ersten
Posten die Textilarbeiter 213 794 Mark, die Bergarbeiter 202828 Mark,
die Bauhandwerker 141176 Mark und für den zweiten Posten die Berg¬
arbeiter 74887 Mark, die Bauhandwerker 43134 Mark, die Textilarbeiter
37 962 Mark usw.
Die Erhebung von Mitgliedsbeiträgen geschieht für die Woche und für
den Monat. Die Wochenbeiträge schwanken zwischen 20 und 90 Pfennigen,
die der Monatsbeitrüge zwischen 30 und 80 Pfennigen. Außerdem wird von
einem Verbände der Beitrag pro Quartal erhoben. Jedenfalls wäre es für die
Finanzverhältnisse sehr zu wünschen, daß die Beitrüge von 20 Pfennigen recht
bald eine Erhöhung erfahren würden, um dadurch den Gesamtverband in jeder
Hinsicht leistungsfähiger zu machen.
Mit Genugtuung kann ferner konstatiert werden, daß das Unterstützungs¬
wesen in den christlichen Gewerkschaften immer mehr ausgebaut wird und heute
als ein fester Bestandteil angesehen werden kann. An Unterstützungen veraus¬
gabten die christlichen Gewerkschaften im Jahre 1906 insgesamt 1364105 Mark.
Eingeführt sind folgende Unterstützungen:
I. Streik- und Gemaßregeltennnterstützung haben mit Ausnahme
der bayrischen Eisenbahner und der Krankenpfleger wohl alle Verbände vorge¬
sehen; ebenso ein Sterbegeld bis zu 200 Mark.
II. Arbeitslosenunterstützung haben desgleichen schon acht Verbände
mit nahezu 150000 Mitgliedern eingeführt. Die Unterstützung schwankt zwischen
4,20 Mark und 15 Mark wöchentlich.
III. Krankengeld gewähren zwölf Verbände mit 230000 Mitgliedern.
Das wöchentliche Krankengeld schwankt zwischen 3 Mark und 15 Mark.
IV. Reiseunterstützung haben elf Verbünde vorgesehen; dieselbe beträgt
täglich 75 Pfennige bis 1,50 Mark.
Der Gutenbergbund gewährt dann noch Jnvalidenunterstützung; ebenso
leisten die meisten Verbände Beihilfe zu Umzügen nach andern Orten.
Für Unterstützungen zahlten die höchsten Betrüge zu Gruppe I für
Sterbegeld (Streik- und Gemaßregeltenunterstützung hatte ich schon nnter den
allgemeinen Ausgaben angeführt) die Bergarbeiter mit 60270 Mark, die
bayrischen Eisenbahner mit 59251 Mark; zu Gruppe II und IV der Guten¬
bergbund 12224 Mark, die Metallarbeiter 8961 Mark, die Holzarbeiter
6924 Mark; zu Gruppe III die Bergarbeiter 184726 Mark, die Textilarbeiter
44988 Mark, der Gutenbergbund 23017 Mark.
Wichtig für die Gesamtbeurteilung der christlichen Gewerkschaften als
Faktor der deutschen Gewerkschaftsbewegung ist ihr Anteil an der Ausstands¬
bewegung. Ist auch das Jahr 1906 nicht so reich an Streiks und Aus¬
sperrungen gewesen, so sind doch immerhin 68768 Personen beteiligt gewesen.
Von den christlichen Gewerkschaften waren insbesondre die Berg-, Metall- und
Textilarbeiter an bedeutungsvollen Kämpfen beteiligt. Im Jahre 1906 nun
waren sie in 1024 Bewegungen verwickelt, An diesen Bewegungen waren am
meisten beteiligt die Bauhandwerker mit 14881, die Textilarbeiter mit 14055,
die Hilfs- und Transportarbeiter mit 10053 Personen. Die meisten Be¬
wegungen führten ebenfalls die Bauhandwerker mit 172, die Textilarbeiter
mit 153 und die Holzarbeiter mit 140. Die Zahl der an den 446 geführten
Streiks und Aussperrungen (Angriffstreiks, Abwehrstreiks, Aussperrungen) be¬
teiligten Personen beträgt 30049. Bei den Angriffstreiks haben die höchste
beteiligte Zahl die Hilfs- und Transportarbeiter mit 3626, die Bauhandwerker
mit 2989 und die Textilarbeiter mit 2060 Personen aufzuweisen. Bei den
Abwehrstreiks stellen die höchste Personenzahl die Metallarbeiter mit 3401, die
Hilfs- und Transportarbeiter mit 1214 und endlich bei den Aussperrungen
die Textilarbeiter mit 6701 und die Bauhandwerker mit 1054. Mehr als die
Hälfte der Bewegungen mit 56,3 Prozent der Beteiligten sind somit friedlich
verlaufen.
Bewegungen und Streiks wurden allein geführt in 398, mit andern
Organisationen in 619 Fällen, während in 395 Fällen — zwei Verbände
machten hierüber keine Angaben — die Mehrzahl der Beteiligten christlich
organisiert war. Die Ursachen der Streiks und der Aussperrungen waren:
Der Ausgang der Streiks und Aussperrungen war folgender:
Man sieht aus diesen Zahlen, daß weitaus die meisten Kämpfe von den
Arbeitern nicht vergebens geführt worden sind. Bemerkenswert ist, daß die
christlichen Gewerkschaften im Berichtsjahre an 239, insgesamt am Jahresschluß
an 527 Tarifabschlüssen beteiligt waren.
Den christlichen Gewerkschaften liegt aber auch die Bildung ihrer Arbeiter,
besonders der führenden Kräfte am Herzen, Zu diesem Zwecke werden vom
Volksverein für das katholische Deutschland seit 1901 alljährlich Kurse von
acht- bis zehnwöchiger Dauer, desgleichen vom Gesamtverbande der evangelischen
Arbeitervereine in Gemeinschaft mit andern sozialpolitischen Korporationen seit
1904 alljährlich Kurse von vierwöchiger Dauer abgehalten. Hierdurch will man
den immer steigenden Anforderungen in geistiger Hinsicht gerecht werden. Ferner
wird in den letzten Jahren die billige sozialpolitische und gewerkschaftliche
Literatur energisch zu verbreiten gesucht. Der dieserhalb auf dem General¬
sekretariat in Köln eingerichtete Schriftenverlag erreichte in den ersten zehn
Monaten seines Bestehens einen Umsatz von etwa 20000 Mark.
Beachtung verdient noch, daß jetzt alle christlichen Gewerkschaften über eigne
Verbandsorgane verfügen. Es erscheinen gegenwärtig 24 mit einer Auflage
von über 400000 Exemplaren. Wöchentlich erscheinen 17, vierzehntäglich 9
und monatlich 1. Die Verbünde der Bergarbeiter, Bauhandwerker, Textil¬
arbeiter, Metallarbeiter, bayrischen Eisenbahner, Hilfs- und Trausportarbeiter
und Holzarbeiter haben jetzt eigne Redakteure angestellt.
Daß die Mitgliederzunahme tatsächlich anhält, beweist uns von neuem der
Mitgliederstand im Jahre 1907. Die Organisationen, d. h. die dem Gesamt-
verband angeschlossenen Verbände, der christlichen Gewerkschaften hatten sich
wiederum am I.April 1907 um 17 220 Mitglieder vermehrt, trotzdem daß wegen
der Neichstagswahl die gewerkschaftliche Agitation in der ersten Hälfte des
Quartals daniederlag, und sich nach der Wahlschlacht eine außerordentliche Ver-
sammlungsmüdigkeit zeigte. Folgende fünf Organisationen kommen hauptsächlich
in Betracht. Am 1. Mai 1907 betrug die Mitgliederzahl der Bergarbeiter 77111,
der Bauhandwerker 42209, der Textilarbeiter 40097, der Metallarbeiter 27341,
der bayrischen Eisenbahner 24500. Vergleicht man diese Zahlen mit denen im
Jahre 1906, die ich schon angeführt habe, so liegt doch wohl die Berechtigung
vor, daß man auch weiterhin eine andauernde Erstarkung annehmen darf.
Die Gegner der christlichen Gewerkschaften bezeichnen diese mit Vorliebe
als „ultramontane Organisationen". Aus welchem Grunde? Weil an der
Gründung verschiedner Verbände katholische Geistliche mitgewirkt haben? Der
Mtramontcmismus hat mit den christlichen Gewerkschaften nicht das mindeste
gemein. Sowohl die ersten Anregungen zur Gründung der meisten und größten
Verbände kamen aus Arbeiterkreisen, wie auch die Statuten und die einleitenden
Delegiertentage von Arbeitern selbst vorbereitet wurden.
Von besonderm Interesse ist bei dieser Gelegenheit die Gründung der so¬
genannten „vaterländischen Arbeitervereine". Brauchen wir tatsächlich noch eine
Gewerkschaftsrichtung? Nein! Das Zentralblatt schreibt: „In einem Lande,
in dem schon mehr als zwei Millionen Arbeiter gewerkschaftlich organisiert sind,
und diese, wie die Erfahrung lehrt, in den entscheidenden Situationen die seither
abseits Gestcmdnen mit sich reißen, ist der Zeitpunkt für derartige Gründungen
schon reichlich spät. Arbeiter in größerer Zahl werden sich für die »vater¬
ländischen Arbeitervereine« ebensowenig finden, wie die »katholischen Fach¬
abteilungen« trotz intensiver Agitation solche nicht zu sammeln vermochten. Es
hieße den gesunden Sinn der deutschen Arbeiterwelt tief einschätzen, annehmen zu
wollen, daß, nachdem die gewerkschaftlichen Erfolge der letzten Jahre so offen¬
sichtlich vorliegen, für solche Bevormundungsgebilde sich noch ein breiterer Boden
fände. Die sechzig Jahre deutscher Preßfreiheit und vierzig Jahre allgemeinen
direkten Wahlrechts müßten spurlos an großen Massen vorbeigegangen sein.
Die Sozialdemokratie verfügte bei der letzten Reichstagswahl über dreieinviertel
Millionen Stimmen, den mit ihr verbündeten Gewerkschaften gehören gegenwärtig
1800000 Mitglieder an. Und dieser Bewegung glaubt man mit solch faulen
Gründungen begegnen zu können."
Ist nun die Zersplitterung der deutschen Gewerkschaftsbewegung, an der
hauptsächlich die „freien" Gewerkschaften infolge ihres sozialistischen Neben¬
charakters schuld sind, wie gesagt, eine sehr bedauerliche Erscheinung, so hat
man auf der andern Seite — so machtvoll die Gewerkschaftsbewegung in
Deutschland auch dasteht — damit zu rechnen, daß weite Kreise der deutschen
Unternehmerschaft diese noch nicht als die berechtigte Interessenvertretung der
deutschen Arbeiter ansehen. Mag die deutsche Industrie noch so stolz sein auf
eine gewisse Ebenbürtigkeit mit der englischen Industrie, jener freie Blick und
das gesunde Urteil gerade über die Organisationsbestrebungen der Arbeiter,
Eigenschaften, die der englischen Industrie eigen sind und sie groß gemacht haben,
die fehlen noch so recht einem großen Teile der deutschen Unternehmerschaft.
Dort Anerkennung der Gewerkschaften als selbstverständliche und notwendige
Interessenvertretung der Arbeiter, hier noch vielfach offner Kampf gegen die
Idee an sich, Mißtrauen und nur verhältnismüßig spärliches Verständnis! Die
deutschen Arbeitgeber organisieren sich teilweise noch zunächst unter dem Ge¬
danken des Niederkämpfens der Gewerkschaften — statt zum Ausgleich des
Kräfteverhältnisses zwischen Arbeiter und Arbeitgeber.
Man sieht also, daß die deutsche Gewerkschaftsbewegung noch lange nicht
innerlich so konsolidiert ist, wie es vom rein volkswirtschaftlichen Standpunkte
zu wünschen wäre. Anstatt nun die Gewerkschaftsbewegung zu stärken, versucht
man, sie zu zersplittern. Den Anfang haben wir bei dem „Bund vaterländischer
Arbeitervereine". Mit Recht kann man diese neue Gründung „gelbe Gewerk¬
schaft" nennen, da sie in Wirklichkeit weiter nichts als eine Organisation ist, wobei
die Mitglieder des Bundes auf ihr Koalitionsrecht verzichten müssen!
Von den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern werden die gelben Gewerk¬
schaften nicht ohne Grund heftig bekämpft. Niemand wird etwas dagegen haben,
daß wohlwollende Arbeitgeber durch Wohlfahrtseinrichtungen, gesellige Ver¬
gnügungen usw. den Arbeitern zu Hilfe zu kommen und ein persönliches Band
zwischen sich und ihnen zu knüpfen versuchen. Sobald aber solche Bestrebungen
darauf ausgehn, die Gutmütigkeit oder die Unerfahrenheit des Arbeiters aus-
zunutzen und ihn bewußt um sein Koalitionsrecht zu bringen oder ihn gar
dazu zu erziehen, seinen Kollegen bei berechtigten Bestrebungen in den
Rücken zu fallen, so sind sie nach jeder Richtung hin zu verwerfen und zu
bekämpfen.
Für ihre gewerkschaftlichen Bestrebungen haben die nichtsozialistischen
Arbeiter ihre christlich-nationalen Gewerkschaften, für ihre geistig-sittlichen ihre
konfessionellen Arbeitervereine. Wozu da noch diese Uneinigkeit stiftenden gelben
Gewerkschaften?
Verfolgt man die ganze Entwicklung der christlichen Gewerkschaften, so kommt
man zu dem Ergebnis, daß es andre Gründe waren, als die von den Gegnern
angeführten. Es war der Kampf um die christliche Weltanschauung, provoziert
durch die Sozialdemokratie und die ihr ergebner Organisationen. Nicht „Unter¬
nehmerfreundschaft", nicht „Streikbrechertum", nicht „pfiiffische Knechtseligkeit"
waren es, was die christlichen Arbeiter zur Gründung ihrer besondern Organi¬
sationen angetrieben hat, sondern das ehrliche Bestreben, ihre wirtschaftliche Lage
zu bessern, ohne dabei Verrat an ihren religiösen und nationalen Anschauungen
zu üben.
Wenn der sittliche Ernst und die zunehmende Besonnenheit in den christ¬
lichen Gewerkschaften immer größern Einfluß gewinnen wird, dann können sie
ruhig und gelassen der Zukunft entgegensehen.
HSZlTZWN^ 12. Dezember 1905 hat der Staatssekretär Graf Posadowsky
IM^^A jm Reichstage bei der Lesung des Etats, der Flottenvorlage und
der Finanzreform in einer großen Rede die Frage erörtert, wie
in Deutschland das ständige Wachstum der Sozialdemokratie, der
I immer zunehmende Einfluß dieser Partei auf weite Kreise des
Volkes zu erklären sei. Er sagte: „Wie ist es psychologisch erklärlich, daß in
diesem Deutschland, einem Lande, das auch wirtschaftlich zum Besten der untern
Volksklassen so gewaltige Fortschritte macht, eine Partei mit drei Millionen
Stimmen auftreten kann, die unsre ganze Geschichte verleugnet, unsre ganze
Vergangenheit, und sagt: das moderne Staatsleben ist so durch und durch
morsch, daß es von Grund auf neu umgebaut werden muß? Ich habe mit
Ausländern darüber gesprochen, die mir gesagt haben: Wir stehen vor einem
Rätsel. Woher kommt in diesem Deutschland, bei diesem Wohlstand, wo man
überall wohlgekleidete Leute sieht, das auf sozialem Gebiete so viel geleistet hat,
das alle Welt als Vorbild betrachtet, diese große radikale Partei?"
Graf Posadowsky fuhr fort, man könne viele Antworten auf diese Frage
geben, er wolle nur zwei Gründe anführen: „Ich glaube, daß wir bei der Art
unsrer Verwaltung auch in den Lokalinstanzen noch manche kleinen Gesichts¬
punkte aus dem alten Polizeistaate herübergenommen haben, die in unsre Zeit
nicht passen. Ich glaube ferner, daß mit unserm wachsenden Wohlstande nicht
die Opferfreudigkeit, die Großherzigkeit in wirtschaftlichen Dingen gestiegen ist,
die die besitzenden Klassen haben müssen. Die Sozialdemokratie wurzelt un-
bezweifelt in einer außerordentlich materialistischen Weltanschauung. Ich kann es
aber nicht leugnen auf Grund der Beobachtungen des täglichen Lebens, daß
mit unserm wachsenden Reichtum auch in unsern besitzenden Klassen das Maß
materialistischer Weltanschauung, materialistischer Genußsucht gewachsen ist, die
mich manchmal mit Trauer und Bedauern erfüllt. Dann sehe ich den eigent¬
lichen Grund, daß die bürgerliche Gesellschaft nicht die Kraft hat, die Sozial¬
demokraten zu überwinden. Der Materialismus ist eben in der Sozialdemokratie
und in der bürgerlichen Gesellschaft kongenial. Die bürgerliche Gesellschaft wird
die Sozialdemokratie nicht mit Gesetzen, nicht mit großen Worten überwinden,
sondern nur dann, wenn sie diesen materialistischen Standpunkt verläßt, und
wenn durch das ganze Leben der bürgerlichen Klassen ein größeres Maß sitt¬
lichen Ernstes geht."
Als der Staatssekretär dann einige Tage später, am 15. Dezember 1905,
auf denselben Gegenstand zurückkam, stellte er zunächst fest, daß im Jahre 1903
von zwölfeinhalb Millionen Wählern fast drei Millionen der Wahlurne fern¬
geblieben seien, und daß diese drei Millionen wohl keine Sozialdemokraten ge¬
wesen seien, da die Sozialdemokraten so ziemlich ihren letzten Mann an die
Urne gebracht hätten. Die Zersplitterung der bürgerlichen Parteien bei den
Wahlen, ihre Unfähigkeit, sich auf einen Kandidaten zu einigen, förderten weiter
die Macht der Sozialdemokratie, und den Schaden trage der Arbeiter, da die
Zahl derer wachse, die sich der Fortführung der Sozialpolitik gegenüber ab¬
lehnend verhielten und nach Repressalien riefen. „Ich bin, sagte Graf Posadowsky,
der Ansicht, daß man mit Gesetzen Krankheiten überhaupt uicht heilt, und hier
liegt eine Krankheit vor. Man hat sich viel zu wenig mit dieser Frage be¬
schäftigt. Es handelt sich um die psychologische Frage: Auf welchen Grund¬
lagen beruht es, daß in einem geordneten deutschen Staatsleben sich eine Partei
von drei Millionen bilden kann, die das ganze Staatsleben mit seiner ganzen
Geschichte verleugnet? Der Zustand wird sich erst ändern, wenn wir die Ur¬
sache der Krankheit gefunden haben und über die richtigen Wege nachdenken,
um dem Übel zu steuern. Man bewertet die Leiter der Sozialdemokratie zu
hoch, wenn man im Reichstage und in der Presse sagt, daß die ganze sozial¬
demokratische Bewegung eigentlich nur die Folge der Agitation der Führer sei.
Nein, diese hypnotische Kraft haben die Führer nicht. Es müssen also innere
Ursachen vorhanden sein, die das deutsche Volk in die Sozialdemokratie treiben.
Diesen innern Ursachen nachzugehen ist Pflicht jedes Patrioten, und zu diesem
Nachdenken anzuregen war der Zweck meiner Rede."
Der Staatssekretär ist damals wegen dieser beiden Reden vielfach angegriffen
worden, aber er hat diese unberechtigten Angriffe abgelehnt mit den Worten:
„Solange ich an dieser Stelle stehe, werde ich dem deutschen Volke das sagen,
was ich für richtig halte. Das na^kr evtrs äsux faux ist viel bequemer, und
es ist für den immer schwer, der den Mut hat, der Katze die Schelle anzu¬
hängen. Wer aber den Schläfer in der Stunde der Gefahr kräftig an der
Schulter faßt, erwirbt sich auch ein Verdienst."
Graf Posadowsky ist ja inzwischen aus dem Amte geschieden, aber die
Bedeutung seiner Worte wird dadurch nicht vermindert. Es ist ein Glück für
den Staat, wenn Männer von der Bedeutung des Grafen Posadowsky ihre Über¬
zeugung ohne Rücksicht darauf aussprechen, ob das, was sie zu sagen haben,
bequem ist oder nicht. Es ist auch charakteristisch für unsre Zeit, daß dieser Mut
selten geworden ist. Die Zahl derer, die sich aus Neigung mit solchen politischen
Fragen beschäftigen, ist bei uns wohl überhaupt nicht sehr groß, es ist bequemer,
sich seine Ruhe nicht stören zu lassen. Von denen aber, die offnen Auges
durchs Leben gehn und etwas zu sagen Hütten, kommen viele in dem schwach
entwickelten politischen Leben unsers Volkes nicht zum Worte. Ihnen steht
höchstens ein Stück Papier zur Verfügung, um ihre Ansicht zu sagen, und
wenn dann einmal ein Mann von unbestrittner Autorität auftritt, die Schläfer
aufzurütteln, so reiben diese sich erstaunt die Augen und sind wohl gar noch
ungehalten darüber, daß man sie nicht hat weiter schlafen lasten. Es müßte öfter
vorkommen, daß sich jemand findet, den Winterschlaf des braven deutschen Michels
zu stören, und um so dankenswerter ist es, daß das geschehen ist an der Stelle,
die berufen ist, für das Wohl und den Fortschritt des deutschen Volkes zu sorgen,
vor dem Forum des deutschen Reichstages. Da aber Graf Posadowsky selbst
gesagt hat, daß es die Pflicht jedes Patrioten sei, den Ursachen unsrer krank¬
haften politischen Entwicklung nachzugehn, so möge der Versuch gestattet sein,
einen bescheidnen Beitrag zur Beantwortung der Fragen zu geben, die er damals
im Reichstage zur Diskussion gestellt hat.
Graf Posadowsky hat für die krankhafte Ausdehnung der sozialdemokra¬
tischen Bewegung besonders zwei Gründe angeführt, daß nämlich unsre Ver¬
waltung noch zu viele Gewohnheiten aus dem alten Polizeistaate herüber¬
genommen habe, und daß mit dem wachsenden Wohlstande die Opferfreudigkeit
und Großherzigkeit der besitzenden Klassen nicht gleichen Schritt gehalten habe,
sowie daß unsre bürgerliche Gesellschaft zu materialistisch und zu genußsüchtig
sei, als daß sie die Sozialdemokratie überwinden könnte. Den Vorwurf, der
hier wohl zunächst gegen die preußische Verwaltung erhoben wird, haben seit
langer Zeit weite Kreise der Bevölkerung immer und immer wieder erhoben,
und es kann kaum zweifelhaft sein, daß er gerechtfertigt ist. Wir haben vom
alten Polizeistaate her ein System der Vielregiererei und der Bevormundung,
das nicht mehr in unsre Zeit paßt. Unsre Verwaltung lebt immer noch in
dem Glauben, daß sie die Pflicht habe, sich um alles und jedes zu kümmern,
daß es ihre Aufgabe sei, den Menschen von der Wiege bis zur Bahre zu
geleiten, durch möglichst viele Polizeiverordnungen, die niemand kennt und
niemand kennen kann, die Bevölkerung vor Unheil zu bewahren. In wichtigen
Angelegenheiten darf man recht lange auf einen Bescheid warten, sehr schnell
ist man aber bei der Hand, durch Strafmandate an die Existenz von Ver¬
ordnungen zu erinnern, von denen die mit dem Strafbefehl beglückten noch nie
etwas gehört hatten. Die vielen Übergriffe und Ungeschicklichkeiten von Polizei-
beamten tragen auch nicht dazu bei, unsre untern Verwaltungsorgane beliebt
zu machen; aber die Gerechtigkeit fordert es doch, zu sagen, daß die Neigung
zur Vielregiererei und zur Bevormundung bei den höhern Behörden gerade so
eingewurzelt ist wie bei den niedern. Es ließen sich viele Beispiele dafür
anführen. Unzweifelhaft werden viele Menschen jahraus jahrein durch un¬
geschickte Behandlung verärgert, aber ob dadurch weite Massen der Be¬
völkerung zur Sozialdemokratie getrieben worden sind kann doch zweifelhaft
sein. Mir will es scheinen, daß unsre Verwaltung weniger durch das ge¬
sündigt hat, was sie getan hat, als durch das, was sie unterlassen hat, worauf
später noch eingegangen werden soll. Jedenfalls kann man wohl damit rechnen,
daß die Staatsregierung eine Reform der Verwaltung bald durchführen wird,
nachdem deren Rückständigkeit an so hervorragender Stelle bezeugt worden ist.
Die Regierung wird bei einem solchen Bestreben sicher den Beifall aller Kreise
der Bevölkerung finden.
Die Richtlinien einer Reform der Verwaltung sind durch vielfache Er¬
örterungen im Parlament, in der Presse und in Zeitschriften ziemlich klargestellt.
So sehr die Ansichten im einzelnen abweichen, darüber waren doch bisher alle,
die sich mit der Angelegenheit beschäftigt haben, einig, daß die Verwaltung de¬
zentralisiert werden müsse, das heißt, daß den Beamten, die der Bevölkerung
am nächsten stehen, den Landräten und Regierungspräsidenten oder Ober-
Prüsidenten, je nachdem man diese oder jene für geeigneter hält, die Lokalver¬
waltung zu beaufsichtigen, größere Selbständigkeit eingeräumt werden müsse.
Nur durch weitgehende Dezentralisation wird man erreichen können, daß das
Schreibwerk vermindert wird, unter dem jetzt die produktive Verwaltungstätigkeit
leidet. Zugleich würde aber die Dezentralisation die Möglichkeit gewähren, die
Zahl der Beamten zu vermindern, was unbedingt angestrebt werden muß.
Oberbürgermeister Adickes hat nachgewiesen, mit welcher Verschwendung von
Menschenmaterial unsre Justizverwaltung arbeitet, und daß nur durch eine
Änderung der Organisation und durch eine Verminderung der Zahl der Richter
die Mängel beseitigt werden können, an denen die Justizverwaltung krankt. Die
Gedanken, die er ausgesprochen hat, können und werden nicht verloren gehn,
sie müssen den Anstoß zu einer Reform der Justiz geben. Was aber für die
Justiz gilt, daß zu viele Beamte vom Übel sind, das gilt auch für die Ver¬
waltung. Es wird auf diese Weise nicht nur das Schreibwerk künstlich ge¬
fördert, es liegt nicht nur eine Verschwendung von Staatsmitteln vor, die für
dringende Kulturaufgaben besser verwandt werden können, sondern es ist auch
klar, daß die Anforderungen an die geistigen Leistungen des Beamtentums um
so tiefer gestellt werden müssen, je größer die Zahl der Beamten ist. Je weniger
Beamte, um so bessere Auswahl wird man treffen können. Man darf sich wohl
nicht verhehlen, daß das Ansehen des Beamtentums in den letzten Jahrzehnten
abgenommen hat. Mit den Leistungen und Fortschritten auf wirtschaftlichem
Gebiete haben die Beamten nicht Schritt halten können; da wir aber ein nicht
nur pflichtgetreues, sondern auch tüchtiges Beamtentum in Deutschland nicht
entbehren können, so liegt alle Veranlassung vor, ernstlich zu prüfen, auf welche
Weise die Leistungsfähigkeit des Staatsbeamtentums so gehoben werden kann,
daß es das volle Vertrauen der Bevölkerung wieder gewinnt. Die Voraus¬
setzung dafür wird aber sein, daß man die Zahl der Beamten nach Möglichkeit
vermindert. Eine kleinere Zahl von Beamten wird man dann auch leichter mit der
freiern Auffassung zu erfülle» vermögen, die Graf Posadowsky gefordert hat.
Wenn es hiernach von der Initiative der Staatsregierung abhängt, dafür
zu sorgen, daß sich unsre Verwaltung von den kleinen Ideen des alten Polizei¬
staates frei macht, so hat allerdings auf die Erfüllung des andern Wunsches, daß
die Opferfreudigkeit und Großherzigkeit in wirtschaftlichen Dingen zunehmen möge,
und daß materialistische Weltanschauung und Genußsucht nicht weiter überhand¬
nehmen möchten, die Regierung keinen Einfluß. Daß in einem Volke, dessen Wohl¬
stand dauernd wächst, auch das Wohlleben und die Freude am Genusse zunimmt,
kann schließlich nicht wundernehmen, und es ist dabei doch auch zu berücksichtigen,
daß nicht nur die Freude an materiellen, sondern auch die an edeln Genüssen zu¬
genommen hat. Die vergangnen Jahrzehnte, in denen unsre Vorfahren vielleicht
behaglich und zufrieden, aber auch recht armselig und freudlos dahinlebten, wird
man doch auch nicht zurückwünschen können. Daß die Opferfreudigkeit in unserm
öffentlichen Leben noch nicht so entwickelt ist, wie erwünscht wäre, ist gewiß
richtig. Aber Fortschritte sind doch auch auf diesem Gebiete gemacht worden,
manches ist geschaffen worden, und wenn noch mehr zu tun übrig bleibt, so ist
zu bedenken, daß unsre wirtschaftliche Entwicklung seit dem Kriege mit Frank¬
reich überstürzt war, daß wir zu schnell reich geworden sind, und daß wir, wie
es in solchen Fällen zu gehen Pflegt, noch nicht Zeit gehabt haben, die Eigen¬
schaften zu entwickeln, die zu dem neuen Wohlstande gehören.
Damit soll die Bedeutung der Worte des Staatssekretärs nicht angezweifelt
werden. Wenn ein Staatsmann wie Graf Posadowsky von der hohen Warte aus,
auf der er so viele Jahre gestanden hat, solche Mahnungen ausspricht, so hat er das
sicherlich getan auf Grund vielfacher Erfahrungen und Beobachtungen, und diese
Mahnung sollte deshalb nicht vergessen werden. Inwieweit die Mängel, die uns
auf diesen Gebieten anhaften, dazu beigetragen haben, dem erschreckenden Wachstum
der Sozialdemokratie Vorschub zu leisten, ist schwer zu beurteilen. Das subjektive
Ermessen, die Erfahrungen, die der einzelne zufällig gemacht hat, spielen eine zu
große Rolle. Es wird deshalb zu untersuchen sein, welche andern Gründe etwa
noch mitgewirkt haben, in unserm Staatsleben einen Zustand zu erzeugen, den man
als Krankheit bezeichnen muß. Die Ursachen der Krankheit müssen sehr tief liegen,
wenn es dahin kommen konnte, daß sich ein so großer Teil des deutschen Volkes
einer Partei anschließt, die die Grundlagen unsers ganzen Staatslebens verneint.
In der Rede vom 12. Dezember 1905 sagte Graf Posadowsky noch: „Man
muß zugestehn, daß die moderne Arbeiterbewegung in engem Zusammenhange
steht mit der unerhört großartigen Entwicklung unsrer deutschen Industrie." Es
klingt das wie ein fast zögernd gemachtes Zugeständnis, und doch wird man,
wie es scheint, von unsrer wirtschaftlichen Entwicklung ausgehen müssen, wenn
man für unsre Lage Verständnis gewinnen und die Mittel suchen will, die
Krankheit zu heilen.
Mit Stolz Pflegen wir von unsrer Zeit zu sprechen, von den gewaltigen
Fortschritten, die sie uns auf allen Gebieten gebracht hat, von der Freiheit, die
sie dem einzelnen gegeben hat im Vergleich zu vergangnen Zeiten. Wenn das
Wort Mittelalter genannt wird, kommt uns fast ein Gruseln an, denn damit
ist nicht nur der Gedanke verbunden an Unsicherheit, an Raub und Mord,
sondern auch vor allen Dingen an Zwang und Bann und an die Unfreiheit
der Menschen. Weit, weit liegt in der Vorstellung des modernen Menschen diese
Zeit zurück, an die er nur mit einer Mischung von Hochmut und Verachtung
zu denken vermag. Wohl nur selten fragt sich jemand, wann denn dieses dunkle
Zeitalter bei uns abgeschlossen worden ist, und doch sind noch nicht hundert
Jahre verflossen, seit in dem größten deutschen Staate, in Preußen, mit der
Vergangenheit gebrochen und eine neue Zeit eröffnet wurde. Das Zeitalter der
Aufklärung, so viel es auch an neuen Gedanken gebracht hatte, wagte doch nicht
die Unfreiheit eines großen Teiles der Untertanen zu beseitigen; im Gegenteil,
das Preußische Allgemeine Landrecht befestigte aufs neue den Unterschied der
Stände, die Gebundenheit der Berufe, den Schutz der Arbeit mit mittelalterlichen
Mitteln. Der Adliche durfte keine bürgerlichen Gewerbe betreiben, der Bürger
keine adlichen Güter erwerben, Zwangs- und Bannrechte hemmten Bewegung
und Fortschritt. Die Hörigkeit der Gutsuntertanen blieb bestehn, und erst nach
dem Zusammenbruch des Staats wurde unter der Einwirkung eines genialen
Staatsmanns das Edikt vom 9. Oktober 1807 erlassen, das die mittelalterliche
Gebundenheit brach und auch denen, die Stadtluft nicht frei gemacht hatte, die
Freiheit gab mit den monumentalen Worten: Nach dem Martinitage 1810 gibt
es nur freie Leute.
Erst mit dem Martinitage 1810 also wurde eine vielhundertjührige Ent¬
wicklung abgeschlossen, wurde das Mittelalter Vergangenheit, erst mit diesem
Tage begann die neue Zeit, unsre Zeit. Wie vieles hat sich in die siebenund¬
neunzig Jahre gedrängt, die seitdem verflossen sind, welche reißende Entwicklung
haben wir seitdem gehabt, der gegenüber der Inhalt der vergangnen Jahr¬
hunderte wie jahrhundertelanger Stillstand erscheint. Es ist notwendig, sich
darüber Klarheit zu verschaffen, was alles uns dieses eine letzte Jahrhundert
gebracht hat, welche tiefgreifende Änderung das Leben der Menschen in diesem
kurzen Zeitraum erfahren hat, wenn man begreifen will, daß diese nie dagewesne
Entwicklung das Gleichgewicht der Menschen beeinträchtigen und Wirkungen
hervorbringen mußte, die Krankheitserscheinungen gleichkommen. Und es ist weiter
notwendig, sich zu erinnern, wie anders und wie viel glücklicher die Geschichte
des englischen und auch des französischen Volkes verlaufen ist, wie spät wir im
Vergleich zu diesen beiden Nationen zur Selbständigkeit und Einheit gekommen
sind, und welche ungünstigen Folgen es gerade bei dem Charakter des Deutschen
haben mußte, daß unsre politische Einigung dem wirtschaftlichen Fortschritt nicht
vorherging, sondern zeitlich mit ihm zusammenfiel.
Durch die Stein-Hardenbergische Gesetzgebung wurde zwar mit der Ver¬
gangenheit gebrochen, der Weg für den Fortschritt frei gemacht, indem die
ständische Gliederung beseitigt und die persönliche und wirtschaftliche Freiheit
gewährt wurde, aber zunächst ging es doch sehr langsam vorwärts. Der Verkehr
braucht gute Wege, und an diesen fehlte es noch fast ganz. Die römische Kunst
des Straßenbaues war längst verloren gegangen, bis weit in das neunzehnte
Jahrhundert blieb es bei dem mittelalterlichen Zustande, daß für den Verkehr
der Menschen, für die Bewegung der Güter nur schlechte Landwege zur Ver¬
fügung standen. Erst 1812 lernte Mac Adam die heute übliche Art des Straßen¬
baues in — China kennen, und es dauerte dann noch lange, bis in Deutschland
in größerm Umfang ein Netz moderner Kunststraßen geschaffen wurde.*) Nun
nahm sowohl die Masse wie die Schnelligkeit des Verkehrs zu, aber immer noch
rechnete man auf eine Tagereise nicht mehr als 40 Kilometer, und als 1824
der Generalpostmeister von Ncigler die englischen Schnellposten mit einer Tages¬
leistung von 75 Kilometern einführte, und der Postwagen von Berlin nach
Magdeburg nur noch 15 Stunden brauchte, statt wie bisher zwei Tage und
eine Nacht, da schüttelte man bedenklich den Kopf. Erst 1833 richtete Preußen
zwischen Berlin und Magdeburg den ersten optischen Telegraphen ein, und es
war ein gewaltiger Fortschritt, als man nach einiger Zeit unter Benutzung von
50 je 15 Kilometer voneinander entfernten Stationen durch optische Zeichen in
15 Minuten von Berlin nach dem Rhein Nachrichten übermitteln konnte. Be¬
zeichnend ist es, daß nur Regierungsdepeschen befördert und erst auf den Antrag
von Handelskammern auch Privatnachrichten zugelassen wurden.**) Die ersten
kleinen Eisenbahnen mit Pferdebetrieb wurden im Deutschen Reiche 1830 im
Wupper- und Ruhrtale gebaut, und so kann man also sagen, daß in unserm
Vaterlande der Verkehr noch völlig unentwickelt war, als schon ein Drittel des
Jahrhunderts verflossen war. Erst mit der Verwendung der Dampfkraft und der
Elektrizität beginnt die neue Zeit. Die erste deutsche Eisenbahn mit Dampfbetrieb
wurde 1835 zwischen Nürnberg und Fürth eröffnet, die zweite 1838 zwischen
Berlin und Potsdam, aber noch in den fünfziger Jahren mußte man sich zum
Teil der Post bedienen, um von Frankfurt nach Köln zu gelangen. Erst in den
sechziger und siebziger Jahren wurde das Eisenbahnnetz planmäßig ausgebaut.
1845 fuhr der erste Schraubendampfer über den Ozean, und erst 1856 stellte
die Hamburg-Amerika-Linie zwei Dampfschiffe ein; im Jahre 1843 hat in
Deutschland die Rheinische Bahn zuerst den elektrischen Telegraphen angewandt,
und noch 1850 wurden in ganz Preußen nicht mehr als 55000 Depeschen
befördert. Wie klein erscheint uns diese Zahl heute, und doch wie wenig Zeit
ist seitdem verflossen! Jetzt erst waren Raum und Zeit überwunden, war die
Bahn frei für den wirtschaftlichen Aufschwung, aber damit war auch ein Wende¬
punkt gekommen im Leben der Menschen. Dampfschiff, Eisenbahn und Telegraph
sind gleichsam heimatlos, sagt Lamprecht sehr richtig. Darum machen sie auch
heimatlos, lösen vom Boden, geben innerhalb der Erdverhültnisse unendlichen
Horizont.
Aus dem Hausfleiße der bäuerlichen Familie war einstmals die Haus¬
industrie hervorgegangen, aus gelegentlicher Arbeit wurde stündige Arbeit, und
der Hausierer, der alte vertraute Freund des Landbewohners, vertrieb die Ware.
Als aufgeklärte Fürsten in ihren Ländern die industrielle Tätigkeit zu fördern
suchten, entwickelte sich die Manufaktur, die Lamprecht als zentralisierte Haus¬
industrie bezeichnet. Bei den ersten Ansätzen zur Gewerbefreiheit entstand die
kleine Fabrik, erst in der Mitte des vorigen Jahrhunderts begann das Zeitalter
der eigentlichen Fabrikbetriebs, und nun förderte die freie Unternehmung schnell
die Entstehung des Großbetriebs, aus dem die Riesenunternehmcn unsrer Zeit
entstanden sind. Die Schnelligkeit, mit der diese Entwicklung vor sich ging, mußte
zersetzend wirken, zumal da auch Handwerk und Handel dieselbe Umbildung vom
Kleinbetrieb zum Großbetrieb erfuhren.
! en hervorragendsten unsrer vaterländischen Helden der Befreiungs¬
kriege sind längst würdige biographische Denkmale gesetzt worden.
Seltsamerweise fehlte ein umfassendes, allen Ansprüchen der
heutigen Forschung entsprechendes und zugleich von richtiger
! militärischer Empfindung eingegebnes Werk über Blücher, wenn
auch eine Reihe wertvoller Schriften über den Marschall Vorwärts vorhanden
war. Es wird deshalb jeder Freund des Vaterlandes und insbesondre jeder
deutsche Soldat freudig begrüßen, daß sich General von Unger der mühevollen
Aufgabe unterzogen hat, uns ein Lebensbild des Mannes zu geben, der uns einst
„bewußt und groß vom Feinde losriß". Das Werk*), von dem der erste Band
vorliegt, ist mit großem Fleiß unter sorgfältiger Benutzung des verfügbaren
gedruckten Materials bearbeitet, und das bisher Bekannte ist dabei durch
mancherlei noch nicht benutzte archivalische Quellen ergänzt worden. Die Aus¬
stattung des mit sechs Bildnissen aus verschiednen Lebensaltern Blüchers und
neunzehn Kartenskizzen versehenen Buches ist sehr gediegen. Dieser erste Band
reicht bis zum Jahre 1811. Eine Würdigung Blüchers als Feldherr ist dem
zweiten (Schluß-)Bande vorbehalten.
Man darf gespannt sein, wie der Verfasser insbesondre diese Aufgabe lösen
wird, können wir uns doch die Führertätigkeit Blüchers kaum anders als
gemeinsam mit Gneisenau ausgeübt denken, wohl mit eine Erklärung dafür,
daß Blücher noch keine würdige Biographie gefunden hat. Unzweifelhaft gebührt
Gneisenau ein reiches Maß an den Erfolgen der Schlesischen Armee, ein
reicheres, als es sonst einem Chef des Generalstabes zufüllt, aber inmitten der
Großtaten des Heeres von der Katzbach bis Belle-Alliance steht doch die alles
überragende herrliche Gestalt des alten Helden. Seine Seele barg die Glut,
an der sich das Kriegsfeuer immer wieder aufs neue entzündete, seiner fort¬
reißenden Gewalt war es zu danken, daß sich die Kriegführung der Koalition
nicht an ihren eignen Reibungen erschöpfte. Blücher ist mit nichten ein vor¬
wiegend repräsentativer General, wie sie uns Sir Ion Hamilton^) bei den
Japanern schildert, während dem Generalstabe dort die eigentliche Heerführung
zufiel. Der englische General fand bei den Japanern im mandschurischen Kriege
überhaupt geringe Begeisterungsfähigkeit für die Persönlichkeiten der Führer.
Der Individualismus ist nach ihm ein Produkt des Westens, nicht des Ostens.
Wenn die dem japanischen Volke eigentümliche Gemeinsamkeit des Empfindens
eine wesentliche Ursache seiner Erfolge ist, so wird man allerdings sagen können,
daß solche Gemeinsamkeit des Empfindens im höchsten Maße auch im preußischen
Volke 1813 bestand. Gleichwohl brachte sich damals eine Reihe ausgeprägter
Persönlichkeiten zur Geltung, und in ihrem Wirken auf der Grundlage der
vorhandnen Volksstimmung beruhte die hohe Leistungsfähigkeit der Nation.
Wie uns General von Unger in dem bis jetzt vorliegenden Bande das Werden
seines Helden schildert, ist schon erkennbar, daß wir es hier mit einer Persön¬
lichkeit zu tun haben, deren spätere Tätigkeit im Felde sich nimmermehr nach
Art japanischer Führer durch den Generalstab neutralisiert sehen konnte, und von
dem man nur Würde und Ruhe gefordert hätte. Für europäische Heere hat der
Ausspruch des Erzherzogs Albrecht von Österreichs) volle Giltigkeit: „Man
hat vielfach geglaubt, daß der Mangel unentbehrlicher Feldherrneigenschaften
bei einem Armeekommandcmten durch die Talente eines Gehilfen ersetzt werden
könne, aber darin liegt ein gefährlicher Irrtum. Man erwähnt oft als Beweis
des Gegenteils Radetzky und Heß, Blücher und Gneisenciu, vergißt aber die
Tatsache, daß ersterer, ein Feldherr im vollen Sinne des Wortes, 1848 und
1849 bereits über achtzig Jahre zählte und aus diesem Grunde einer besondern
Unterstützung bedürfte. Blücher aber, obwohl während der Befreiungskriege
bedeutend jünger und rüstiger als Radetzky 1848, hatte allerdings wenig
studiert, verband aber mit großer Kriegserfahrung und gesundem, scharfem
Urteile Menschenkenntnis, große Beharrlichkeit und einen eisernen Willen, der
vor keinem Hindernis zurückschreckte. Er war viel mehr als ein bloßer Haudegen
und fand seine volle Kompensation an dem ebenso ausgezeichneten als be¬
scheidnen Gneisenciu.... Es unterliegt keinem Zweifel, daß jene berühmt
gewordnen Generalstabschefs schwerlich ihre glänzenden Eigenschaften zur vollen
Geltung gebracht haben würden, wenn sie, statt an der Seite hochbegabter
Feldherren zu stehen, es mit unfähigen, kleinlichen und unberechtigten Einflüssen
zugänglichen oder gar aller moralischen Autorität baren Charakteren zu tun
gehabt hätten. Es gibt Dinge, die niemand dem Feldherrn ersetzen kann, wenn
sie ihm mangeln. Fehlt ihm zum Beispiel die geistige Selbständigkeit so weit,
daß er aus der Fülle aller möglichen Entschlüsse nicht den entsprechendsten zu
erkennen vermag; fehlt ihm ferner die Festigkeit, ihn auszuführen und unter
Umstünden Gehorsam und Pflichterfüllung im Heere aufrecht zu erhalten, so
wird diesem Übelstande niemand abhelfen können."
In diesen Worten des Siegers von Custoza wird jedem, dem Feldherrn
wie dem Generalstabschef das seine gegeben. Betrachten wir, wie Blücher
allmählich zum Feldherrn der Befreiungskriege heranreifte.
Der Anfang des Ungerschen Buches ist der Natur der Sache nach vor¬
wiegend von heeresgeschichtlichem Interesse, doch wird uns in dem Bilde vom
Husarenleben und Husarendienst während des siebenjährigen Krieges und in
der folgenden Friedenszeit, das hier ausgemalt ist, zugleich ein Kulturbild der
Zeit geboten. Über Belling, Blüchers väterlichen Freund, der sein soldatisches
Vorbild wurde, erfahren wir manche interessante Einzelheit. Aus der Jugendzeit
Blüchers ist mit großem Geschick alles Überlieferte verwertet worden. Es reicht
hin, uns den Eindruck eines außerordentlich veranlagten Menschen zu erwecken.
Über die, man möchte sagen, berüchtigte Schreibweise Blüchers wird gesagt
(S. 7 und 8): „Wie man von alten Dichtungen nur dann den rechten Genuß
hat, wenn man sie in gewohnten Sprachformen liest, so muß man auch Blüchers
Briefen den Eindruck sichern, den sie zu jener Zeit gemacht haben; erst wenn
man Satzfügung und Rechtschreibung nach unsern Regeln geordnet hat, findet
man zu seinem Erstaunen, daß man oft geradezu musterhafte Schreiben vor
sich hat. Seine Lebhaftigkeit verhinderte ihn meist, an die Ordnung des
Inhalts zu denken; eine Nachschrift ist fast die Regel; aber oft stoßen wir
auf Briefe, die durch gedrungne Sätze und klaren Aufbau von den schwülstigen
Machwerken gelehrter Kameraden vorteilhaft abstechen, und hin und wieder trifft
man auf Perlen von hinreißender Schönheit. Das Schreiben ging ihm nicht schwer
von der Hand; er schrieb viel und diktierte nur, wenn er krank war; seine
Briefe sind oft viele Seiten lang; gesammelt würden sie dicke Bände füllen."
Mündlich hat sich Blücher wohl gelegentlich in der Sprache gehen lassen,
jedoch nicht mehr, als es zu jener Zeit in der Armee allgemein üblich war.
Hier und da ist er ins Plattdeutsche verfallen. „Daß er aber im gewöhnlichen
Sprechen oder gar in gehobner Rede auffallend viel Sprachfehler gemacht
hätte, ist entschieden nicht der Fall. Valentini, der als General dem Militär-
Erzichungs- und Bildungswesen vorstand, versichert, Blücher habe »in Rücksicht
der Bildung der Mehrheit seiner Zeitgenossen auf keine Weise nachgestanden«,
er habe sich »in Rede und Schrift sehr gut auszudrücken gewußt«. Vielfach
werden uns seine Gespräche in gutem Deutsch wiedergegeben."
Als hervorstechendster Zug in ihm zeigt sich frühzeitig ein hochentwickelter
gesunder Menschenverstand. Las er nicht viel in Büchern, so verstand er um
so besser in den Menschen zu lesen. Im Umgang mit ihnen ist er bemüht, sich
fortzubilden, lebt er höhern geistigen und sittlichen Interessen. So ist er ein
eifriger Freimaurer gewesen, so hat er es verstanden, auch als Landwirt zeit¬
weise nach seiner bekannten ungnädigen Verabschiedung durch Friedrich den
Großen Tüchtiges zu leisten. Als Landschaftsdeputierter erfreute er sich des
Vertrauens seiner Standesgenossen, erarbeitete sich rasch in jeden Gegenstand
ein und wußte die Angelegenheiten der Landschaft mit Geschick auch dem Gro߬
kanzler von Carmer gegenüber zu vertreten.
Eine gründliche formale Bildung hat Blücher allerdings nicht gehabt; eine
solche konnte er sich bei den dürftigen Verhältnissen, in denen er aufwuchs,
und die ihn schon im Knabenalter in das Kriegsleben verwickelten, nicht an¬
eignen. Darum hat er auch später die Hilfe eines geschulten Kopfes, wie es
Gneisenau war, nicht zu entbehren vermocht. Die Wurzeln seiner Kraft sind
im Gemüt zu suchen. Aus innerer Freiheit heraus ergab sich die Größe des
Blicks, die feste Zuversicht, die ihm später über alle Schwierigkeiten der Heer¬
führung hinweggeholfen hat. Überhaupt ist es nicht vorzugsweise kalte Ver¬
standesarbeit, sondern vor allem ein tapferes, warmes Herz, das den großen
Soldaten kennzeichnet. Gleichwohl Hütte Blücher niemals eine so hohe Be¬
deutung gewinnen können, wenn er nicht auch durch hervorstechende Geistesgaben
ausgezeichnet gewesen wäre. Gerade weil sein Geist nicht mit vielem Wissen
belastet war, ist ihm die Ursprünglichkeit des Blickes gewahrt geblieben. In
diesem Sinne trifft mit entsprechenden Einschränkungen auch auf Blücher zu,
was Taine von Napoleon sagt, dessen Überlegenheit über die ihn umgebende
Kulturwelt er zum Teil daraus erklärt, daß er in den ursprünglichen und
einfachen korsischen Verhältnissen aufwuchs. „Unser Denkvermögen, sagt er
(I^Sö oriAines ac la ?ranoe vouee-llixorame, le rvAiine moclsroe I), hat nach
jahrhundertelangem Gebrauch etwas von seiner Kernigkeit, seiner Schärfe und
Elastizität eingebüßt. Gewöhnlich hat es die besondre berufsmäßige Beschäftigung
ganz einseitig werden lassen und den freien anderweitigen Gebrauch behindert.
Es kommt hinzu, daß uns die Häufung fertiger Ideen und eingeprägter
Begriffe einengt und das freie Gedankenspiel gewissermaßen zur Gewohnheits¬
äußerung herabdrückt. Endlich ist unser Geist durch das Übermaß der Gehirn¬
tätigkeit ermüdet, durch andauernd sitzende Lebensweise erschlafft. Das volle
Gegenteil besteht bei der Ursprünglichkeit ihrer Denkweise für Männer einer
jugendlichen Rasse---- Seit drei Jahrhunderten büßen wir immer mehr den
klaren und unmittelbaren Blick für die Dinge ein; unter dem Zwange einer
andauernden und hohe Anforderungen stellenden Erziehung im Zimmer studieren
wir statt der Dinge selbst die dafür üblichen Zeichen, statt des Geländes die
Karte____"
Die dem japanischen Volke eignen Vorzüge, seine ungemeine Aufnahme¬
fähigkeit, beruhen zum großen Teil in dieser Jungfräulichkeit seiner Daseins-
bedingungen gegenüber der seit Jahrhunderten durch die europäische Zivilisation
verweichlichten Rasse. Erscheinungen wie Blücher aber legen die Frage nahe,
ob wir uns hinsichtlich unsrer intellektuellen Entwicklung in den letzten hundert
Jahren auf dem richtigen Wege befinden. Welcher Gegensatz zwischen unsrer
Zeit und den Jahren unmittelbar nach den Befreiungskriegen, von denen
Treitschke sagt (Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert II): „Noch
verstanden die Gymnasien, weil sie geisttötende Vielwisserei vermieden, die
dauernde Freude am klassischen Altertum und den Drang nach freier mensch¬
licher Bildung in ihren Schülern zu erwecken.... Die altberühmten Heimstätten
der klassischen Gelehrsamkeit, die sächsischen Fnrstenschulen und die württem-
bergischen Klosterschulen, entließen ihre Männer zur Universität, sobald die
Lehrer die Zeit gekommen glaubten, und der Staat meisterte sie nicht." Seit¬
dem sind wir immer mechanischer geworden und immer mehr dem Bildungs¬
dünkel verfallen, ohne zu bedenken, daß wir echte Bildung damit sicherlich nicht
fördern, wenn wir die wissenschaftlichen Anforderungen für die verschiedensten
Berufe immerfort steigern. Viel zu wenig sagt sich die Schule, daß sie nicht
nur um ihrer selbst willen da ist, und damit die Lehrer glänzende Ergebnisse
erreichen.
Unzweifelhaft bedarf die Jugend einer strengen Schulung des Geistes,
aber es will scheinen, als ob bei uns immer noch Wissen ohne weiteres für
Bildung gehalten würde. Treffend sagt Otto von Leixner in seinem „Weg zum
Selbst": „Der tüchtige Bauer, der im Schweiße seines Angesichts seinen
Boden bestellt und einfach und schlicht denkt und fühlt, stellt in seiner Art einen
Hochgebildeten dar. Wehe allen, die diese Bildung mißachten und zerstören."
Auf diesem Wege der Mißachtung befinden sich aber, wenn auch vielleicht
unbewußt, zahlreiche akademisch Gebildete. Sehr schön läßt Frenssen seinen Peter
Mohr (Fahrt nach Südwest) über seinen Leutnant äußern, die Mannschaften
hätten sich gewundert, wie er die Anstrengungen und Entbehrungen besser
ertragen hätte als sie. Es sei nicht daher gekommen, daß er mehr gelernt habe,
sondern weil er ein innerlich gebildeter Mensch gewesen sei, der sich in der
Gewalt gehabt habe.
Diese Art Bildung ist es, die für den Offizier erstrebt werden muß, ob
sie sich der Einzelne nun mit oder ohne Abiturientenexamen aneignet. Die
einseitige Förderung rein verstandesmäßiger Ausbildung ist jedenfalls der Ent¬
wicklung kraftvoller Persönlichkeiten, wie es Männer der Tat sein müssen, und
wie ihrer Blücher einer war, unbedingt schädlich. Darum ist die Forderung
des Abiturientenexamens als Bedingung für jeden, der die Offizierslaufbahn
ergreifen will, jedenfalls zu verwerfen. Wir klagen mit Recht über die Früh¬
reife der heutigen Jugend, bedenken aber nicht, daß sie mit eine Folge davon
ist, daß bereits zwei vorhergehende Generationen eine übertriebne und einseitige
Belastung des Gehirns in ihrer Jugendzeit erfahren haben. Statt in unsrer
Examenswut, die kein geringrer als Bismarck schon verspottet hat, noch weiter
fortzuschreiten und die Jugend über Gebühr lange an die Schulbank zu fesseln,
sollten wir vielmehr danach trachten, sie früh fertig zu machen, wie es die
Jünglinge zu Blüchers Zeit waren, damit würde einer ungesunden Frühreife am
wirksamsten vorgebeugt. Eine Masse von Kenntnissen allein gibt jedenfalls nicht
die geeignete Grundlage, auf der jener „harmonische Verein von Kräften" gedeiht,
der nach Clausewitz das Kennzeichen einer edeln Soldatennatur ist.
Die Sorge Friedrichs des Großen galt nach dem Hubertusburger Frieden
vor allem der Wiederherstellung der Disziplin in der Armee. Ihr zuliebe
hat der alternde König über mancherlei Auswüchse, die sich dabei einschlichen,
hinweggesehen, und auch sonst läßt sich sagen, daß die vielen Schäden, die sich
1806 so übel bemerkbar machten, doch zum großen Teil schon zu Lebzeiten
Friedrichs des Großen vorhanden waren. Der Wechsel zwischen der von ihm
geübten schonungsloser Härte, die auch Blücher zu fühlen hatte, da seine
mehrfachen Gesuche um Wiederanstellung in der Armee immer unberücksichtigt
blieben, und der Milde Friedrich Wilhelms des Zweiten konnte allerdings nicht
günstig wirken. Für das Vaterland aber war es ein Glück, daß der neue Herr
auch Blücher seine Gnade zuwandte. Das Jahr 1787 brachte ihm die Wieder-
einreihung in sein altes Regiment vor einem Offizier, der ihm einst vorgezogen
worden war, unter Beförderung zum Major und Nichtanrechnung der vierzehn
Jahre, die er außer Dienst gewesen war!
Das Urteil der Nachwelt über einen Zeitabschnitt der Geschichte wird
vielfach anders lauten als das der Zeitgenossen. So gewinnt man aus dem
Buche des Generals von Unger nicht den Eindruck, daß man in der preußischen
Armee nach dem Tode Friedrichs des Großen das Bewußtsein hatte, in einer
Zeit des Niederganges zu leben, und das um so weniger, als die Taten der
preußischen Truppen im Revolutionskrige wohl darüber hinwegtäuschen und
den Glauben erwecken konnten, daß die Armee noch auf ihrer alten Höhe stehe.
Dieser Krieg war zwar nicht dazu angetan, die moralische Kraft des Heeres zu
steigern, aber ebensowenig dazu, an ihrer Güte ernstlich zu zweifeln, denn
daß die Franzosen ihre Erfolge im Grunde nur der Zwietracht der Verbündeten
zu verdanken hatten, mußte um so mehr in die Augen fallen, als die preußischen
Truppen, wo sie den Feind ernsthaft anpackten, diesen immer zu schlagen
wußten. Hier liegt zum Teil die Erklärung dafür, daß auch 1806 noch die
Armee durchaus nicht ohne Vertrauen auf einen glücklichen Ausgang in den
Kampf gezogen ist, und daß der plötzliche Absturz so tiefgreifende Folgen hatte.
Im Schlagen der Franzosen aber leistete im Revolutionskriege keiner mehr
als Blücher. In einem Rückblick auf den Verlauf der Nheinfeldzüge sagt
General von Unger (S. 219ff.): „Die tüchtigsten Offiziere drängten sich zu
Blüchers Jagden. Wo seine Noten sich zeigten, waren die Franzosen auf ihrer
Hut. Bei Kaiserlichen und Briten, bei Holländern, Hannoveranern und Hessen
standen die dunkelroten Husaren und der Oberst von Blücher in hoher Achtung.
Nun gehts von Flandern nach der Mosel. Mit müden Pferden langt Blücher
in einem Dorf bei Luxemburg an; da hört er vorn Schießen; er reitet hin und
findet österreichische Kameraden in Bedrängnis. Ohne Besinnen holt er seine
Husaren und führt bei Frisingen wie ein Wetterstrahl auf die Franzosen....
Bei Eröffnung des Feldzuges 1794 versucht er sich bei Weidental trotz schwieriger
Lage sehr erfolgreich im Gebirgskrieg mit gemischten Waffen. Wenige Tage
später führt er seine Husaren bei Kirrweiler, seine Nachbarn mit sich fortreißend,
zu unerhörten Taten gegen Infanterie, überlegne Kavallerie und Artillerie. .. .
An dem glänzenden Abschluß des Krieges im Gefecht bei Kaiserslautern spielt
Blücher eine wichtige Rolle durch geschickte Führung, selbständiges, energisches
Eingreifen und durch seine Verfolgung in ein Gelände hinein, das man im
allgemeinen als ungeeignet für Kavallerie hinzustellen pflegt, auch hier wieder
durch sein Beispiel zu den schönsten Taten begeisternd. ... Es war ein seinem
Wesen eigentümliches kriegerisches Feuer, das Blücher zu seinen Taten aneiferte.
Der Feuerkopf, der ihn manchmal in scharfe Händel gebracht, der Wagemut,
der ihn in Schulden gestürzt, der Trotz, der ihn die Stellung gekostet hatte,
sie fanden in geläuterter Form ein Feld zur Betätigung in kühnem Ansturm
und im zähen Ausharren. Ihn lockte die Gefahr, ihn reizte die Aufregung des
Kampfes, ihn erfüllte mit stolzer Befriedigung das Bewußtsein der Gewalt, die
er über andre ausübte. Er schien das Leben als nichts zu achten; ihn kümmerte
nicht das Schwinden seiner Hilfsquellen. In dieser heldischen Unbekümmertheit
riß er Offiziere und Leute mit sich fort, daß sie vergaßen, was sie sonst an
die Welt fesselte."
Für Blücher waren die Rheinfeldzüge eine vortreffliche Schule. „Mehr¬
mals hatte ihm die selbständige Leitung des Gefechts obgelegen, und schon
erkannte man sein Geschick, das Zusammenwirken der drei Waffen sicherzustellen,
den richtigen Augenblick für das Einsetzen der Truppen zu Verstärkung und
Gegenstoß zu erfassen; ja gelegentlich ertappen wir den kühnen Husaren beim
Schanzen." Auch die großen Eigenschaften und das Geschick, das er später an
der Spitze einer aus preußischen und russischen Truppen zusammengesetzten
Armee bewähren sollte, offenbarte er schon hier. „Sympathisch berührt seine
warme Kameradschaft, die ihn ohne Zaudern für den Nachbarn eintreten heißt,
seien es nun seine Brüder im roten Dolman oder Landsleute im blauen Rock,
seien es Holländer oder Kaiserliche, so sehr er sich als Preuße fühlt, ja gelegentlich
als treuer »Brandenburger« bekennt. Von den Eifersüchteleien, die so leicht
zwischen den Führern der verschiednen Kontingente eines verbündeten Heeres
entstehen, hat Blücher auch nie eine Spur angewandelt, weil er sich selbst nie
genug tun konnte." Wir ahnen hier den Mann, der später berufen war, die
Schlesische Armee rücksichtslos für die gemeinsame Sache der Verbündeten ein¬
zusetzen, der sie dadurch zur treibenden Kraft der Koalition machte, der kein
Bedenken trug, sein stärkstes Korps an Bernadotte abzutreten, um den ewig
Zögernden in die Völkerschlacht bei Leipzig zu treiben, der bei Belle-Alliance
Wellington die Zusage hielt, wiewohl dessen Hilfeleistung an die Preußen zwei
Tage zuvor bei Ligny ausgeblieben war, dem die Kasaken als dem Marschall Vor¬
wärts dereinst nicht minder zujubeln sollten wie die Söhne des eignen Landes.
Valentini schreibt über Blücher aus der Zeit der Revolutionskriege: „Sein
Benehmen gegen Freund und Feind war untadelhaft, und überhaupt konnten
nur Unkunde oder übler Wille ihn für einen halben Barbaren ausgeben. Sein
klarer Sinn, von einem gewissen Jdeenschwung belebt, fand überall ohne Mühe
die passenden Worte. Wie oft haben wir später Gelegenheit gehabt, seine bald
würdevolle, bald populäre, niemals gemeine, immer dem Gegenstand und den
Personen angemessene Beredsamkeit zu bewundern! Vor allem verstand er die
Kunst, die Gemüter der Menge durch irgend sie ansprechende Motive zu be¬
wegen und dabei Zufälle und Veranlassungen geschickt zu benutzen, ja wohl
die zu Taten auffordernde Leidenschaft sich selbst anzurüsonieren."
Nach Treitschke (Historische Aufsätze II. Das Deutsche Ordensland Preußen)
„ist jeder große Mensch reich begabt zur Sünde wie zum Segen", so fehlen
denn in Blüchers Leben neben den Licht- auch nicht die Schattenseiten. Reiche
berichtet, daß er einst während der Rheinfeldzüge Blücher noch in später Nacht
am Pharaotische angetroffen habe, wo man bis zum Morgen beim Spiel zu¬
sammengeblieben sei. „Als der Tag anbrach, setzte sich die ganze Gesellschaft
zu Pferde, den Feind zu rekognoszieren und die Vorposten weiter anzuordnen."
Blüchers Geldverhältnisse, sagt General von Unger, „waren durch den Krieg
und das Spiel in üble Verfassung geraten". Noch mehrfach wird der Neigung
Blüchers zum Spiel Erwähnung getan. Sie ist in der Tat bei dieser von
echter kriegerischer Leidenschaft erfüllten Natur tief eingewurzelt. Das Lebens¬
bild einer solchen vertrüge die Wahrheit auch dort, wo sie nach unsern fried¬
fertigen und sanftern Sitten nicht angenehm berührt. Wagt man diese Dinge
nicht mehr beim rechten Namen zu nennen, so verfüllt man in einen ähnlichen
Fehler wie die Männer vom grünen Tisch und im Parlament, die das Handeln
unsrer Offiziere und Beamten in den Kolonien an dem Maßstabe gesitteter
heimischer Verhältnisse messen. Wollen wir nur Musterknaben um uns dulden,
dann werden wir uns im Kriege vergeblich nach einem Blücher umsehen. Es
soll damit nicht gesagt sein, daß man im Frieden über alle Fehler dieser Art
hinwegsehen soll, aber wenn sie uns in einer geschichtlichen Gestalt wie Blücher
vorgeführt werden, so mag uns das eine Warnung vor übertriebnen Moralisieren
sein; darum müssen dem geschichtlichen Bilde seine ursprünglichen Farben gewahrt
bleiben. Die ältere Zeit verfuhr schon in diesem Sinne. So gibt sogar die
amtliche „Darstellung der Ereignisse bei der schlesischen Armee im Jahre 1813",
die der Generalstab in den Beiheften zum Militärwochenblatt von 1843 bis 1845
erscheinen ließ, offen zu, Blücher sei „nicht frei gewesen von der Gewohnheit
und der Lust an dem wüsten Treiben der Feldlager", wenn auch hinzugesetzt
wird, er habe doch zugleich „große Herrschaft über sich selbst besessen, nie damit
Anstoß gegeben oder seine Pflicht verletzt". Wir wissen auch von Scharnhorst,
auf dessen Betreiben doch Blücher im Frühjahr 1813 an die Spitze der preußischen
Truppen gestellt wurde, und der ihm als Chef des Generalstabes zur Seite
stand, bis seine Verwundung diese Stellung an Gneisenau übergehen ließ, daß das
Treiben in Blüchers Hauptquartier ihm nicht sympathisch war.
Die stillen aber gewitterschwüler Jahre nach dem Basler Frieden brachten
dem nunmehrigen General und Regimentschef bei wechselndem Aufenthalt in Ost¬
friesland und Westfalen wenig dienstliche Befriedigung. In sein durch den 1791
erfolgten Tod seiner Gemahlin verödetes Haus führte er 1795 seine zweite, um
dreißig Jahre jüngere Frau. In Münster hat er sich eifrig an den Bestrebungen
des Freimaurerordens beteiligt, wobei er Umgang mit vielen ausgezeichneten
Männern, vor allem Stein und später Vincke, fand. Es war ein günstiger
Zufall, daß er dort auch mit dem Kriegsrat Ribbentrop zusammentraf. Der
spätere hochverdiente Intendant der Schlesischen Armee und der General schlössen
hier eine Freundschaft, die in ernster Zeit dein Vaterlande zum Segen gereichen
sollte. Das Verdienst, das sich Ribbentrop um den Erfolg der Operationen
1813 und 1814 erworben hat, wurde bisher noch nicht genugsam gewürdigt.
Die Wechselwirkung, die im Kriege zwischen Heerführung und Verpflegung
besteht, ist kaum jemals so glücklich zum Austrag gebracht worden wie bei der
Schlesischen Armee.
Von seinem durch die französische Nachbarschaft und mannigfache sonstige
Reibungen wenig erfreulichen Posten als Oberkommcmdiercnder in Westfalen
sehnte sich Blücher, der seit 1801 Generalleutnant war, mehr und mehr fort,
zumal da er von seinem teuern Regiment, das in die pommerschen Garnisonen
zurückgekehrt war, getrennt blieb. Körperliche Leiden verbitterten ihm in den
Jahren 1803 und 1804 das Dasein. Er sehnte sich danach, sein Leben auf
dem Lande in Ruhe zu beschließen. Auch Moltke hat, wiewohl er eine völlig
andre Natur war, dieses Ruhebedürfnis nach dem Kriege 1864 und in ver¬
stärktem Maße nach 1866 empfunden. Ihn wie Blücher hat die Pflicht im
Dienst inmitten einer gärenden Zeit festgehalten zum Segen des Vaterlandes.
Die Mobilmachung des Jahres 1805 ließ Blücher sein körperliches Ungemach
alsbald vergessen, und hocherfreut sah er seine Husaren bei Münster eintreffen.
Bitter aber empfand er die Schmach des Schönbrunner Vertrages, und daß
Preußens Schwert wiederum zurück in die Scheide fuhr. Diese neuste Wendung
der preußischen Politik ist es recht eigentlich gewesen, die den feurigen Patrioten
immer rückhaltloser mit seiner Meinung hervortreten ließ. Von nun an tritt
er unter die führenden Geister der Nation, entwickelt sich in ihm der „Held
des stürmischen Völkerzornes" nach Treitschkes Wort (Deutsche Geschichte I).
Hatte er als Husarengeneral schon früher Gelegenheit genommen, dem Könige
„sehr dreist" seine Ansicht vorzutragen, so läßt ihn sein warmes Vaterlands¬
gefühl in den Denkschriften, die er vor Ausbruch des Krieges 1806 an den
König richtet, eine noch weit kühnere Sprache führen. Er warnt den König
vor den Ratgebern, die ihm Napoleons Schritte als ungefährlich schildern.
„Jeder Tag früher, wo wir Frankreich den Krieg erklären, ist der größte
Gewinn____ Führen E. Kgl. Majestät nur selbst unsre brave Armee, die von
dem Wunsche glüht, die Franzosen zu bekriegen und die Menschheit an diesem
Räuber zu rächen, und in der kein Tambour ist, der diesen Feind nicht hasse,
verachte und im voraus des Sieges gewiß sei...."
Der stolze Freimut und die hohe Verantwortungsfreudigkeit sind der
schönste Charakterzug Blüchers, und diese Eigenschaften erscheinen in ihm mit
den Jahren nur gesteigert. Da ist kein ängstliches Behüter des früher er-
worbnen Kriegsruhms, wie man es so oft bei alternden Führern, die schon
glückliche Kriegstaten vollführt haben, wahrnimmt, keine Spur von kleinlichen
persönlichem Ehrgeiz, nur ein volles Aufgehen in der großen Sache des
Vaterlandes. Der hohe moralische Mut, der ihn auszeichnet, ist es recht
eigentlich, der Blücher den Stempel des Helden verleiht. So manchem wackern
Degen hat er gefehlt. Napoleon vermißt ihn an Murat, obwohl auch dieser
ein Held auf dem Schlachtfelde war und sich gleich Blücher am wohlsten fühlte,
wenn er mit seinen Reiterscharen in den Feind einbrechen konnte. Wo es aber
einen verantwortungsvollen Entschluß im Zimmer zu fassen galt, war er nach
dem Urteil seines kaiserlichen Schwagers schwach wie ein Mönch oder ein Weib.
Was Blücher im Befreiungskriege und vor allen Heerführern der Ver¬
bündeten voraus hatte, was ihm und seiner Schlesischen Armee recht eigentlich
die Siegeskraft verlieh, war, daß ihm das Gefühl der Scheu vor Napoleon
völlig fremd war. Er kannte keinerlei Furcht; auch inmitten der Niederlagen
des Jahres 1806 hat er den Kopf hoch behalten, wie sein Rückzug nach Lübeck
beweist. Daß er zuletzt doch noch im freien Felde bei Ratkau kapitulieren
mußte, hat ihn aufs tiefste bekümmert, aber im innersten Herzen durfte er sich
als nicht durch die feindlichen Waffen, sondern nur durch die Gewalt der Um¬
stände überwunden erachten. Dieses Bewußtsein hat ihm später im Jahre 1813
die feste Zuversicht auf einen glücklichen Ausgang des Kampfes gegeben. Ein
günstiges Geschick führte in diesen schweren Tagen nach der Niederlage vom
14. Oktober den spätern Führer unsers Heeres und dessen Reorganisator,
Scharnhorst, zusammen. Prophetisch schrieb dieser nach der Kapitulation von
Ratkau seinem General: „Das Schicksal muß für Sie glücklichere Begeben¬
heiten herbeiführen, oder es wäre unbeschreiblich ungerecht — und an diesen
glücklichern muß ich teilnehmen."
An dem Werk der nach dem Tilsiter Frieden beginnenden Reorganisation
der Armee hat Blücher, der während der Friedensjahre mit dem Oberkommando
in Pommern betraut war, nicht unmittelbar teilgenommen. Mittelbar hat er
jedoch bei dem hohen Ansehen, das er in der Armee genoß, großen Einfluß
ausgeübt. Eifrig sprach er sich auch für Steins Berufung an die leitende Stelle
aus. Es ist bezeichnend, daß bei allem Freimut, den Blücher gerade König
Friedrich Wilhelm dem Dritten gegenüber zur Schau trug, dieser ihm trotz
vorübergehender Verstimmungen doch eigentlich immer gewogen blieb. Bei der
einfachen soldatischen Weise des Generals mochte ihn das bedrückende Gefühl nicht
befallen, das er geistig überlegnen Männern gegenüber sonst stets empfand.
Im Sommer 1808 erkrankte Blücher ernstlich. Er verfiel darüber in tiefe
Schwermut, die von den merkwürdigsten Wahnvorstellungen begleitet war, wie
sie ihn ähnlich später im Feldzuge von 1814 in den Tagen von Craonne und
Laon befielen und seine Tatkraft lähmten. Die wunderbare Widerstandskraft
seines Körpers und die Elastizität seines Geistes halfen ihm jedoch diesen
Zustand allmählich überwinden. Im Frühjahr 1809 fühlte er sich wieder völlig
frisch, zur Freude aller Patrioten, deren Hoffnungen für den Tag der Rache
sich auf ihn richteten. In jener Zeit schrieb ihm Scharnhorst: „Sie sind unser
Anführer und Held, und müßten Sie auf einer Sänfte uns vor- und nach¬
getragen werden; nur mit Ihnen ist Entschlossenheit und Glück."
Es waren jene Tage hochgradiger Erregung, in denen die Wogen, die
Österreichs Befreiungskampf erregte, auch nach Preußen überzuschlagen be¬
gannen. Wie sollte Blüchers deutsches Herz davon unberührt bleiben! Das
Beispiel Schills verfehlte seine Wirkung nicht. Auch Blücher scheint einen
Augenblick erwogen zu haben, ob er nicht losschlagen solle, ohne den Befehl
des Königs abzuwarten, er scheint entschlossen gewesen zu sein, es im Ein¬
vernehmen mit Götzen zu tun, für den Fall, daß die Franzosen in Schlesien
einrücken würden. Ohnehin glaubte er, daß ihm der König nicht mehr gewogen
sei, da seine Truppen, wenn auch nur vorübergehend, dem jüngern General
von Stutterheim, der mit besondern Vollmachten nach Berlin ging, unter¬
stellt wurden. Er erbat, wenn der König seiner Tatkraft nicht mehr traue,
seinen Abschied ohne Pension, wiewohl er arm sei und sein Brot in fremden
Diensten suchen müsse. „Ich werde — schreibt er dem König — mit dem
wehmütigsten Gefühl einen Dienst verlassen, worin ich glaubte, noch vor meinem
Ende die vorige Ausdehnung des Staats erleben und hierzu durch rastlose
Bemühung und eigne Aufopferung tätig mitwirken zu können — Gedanken
und Wünsche, die mich, wenn mich auch keine Fessel mehr an Preußen bindet,
doch als ein treuer Anhänger dieses Staats und als ein Deutscher ewig be¬
schäftigen werden, und um deren Realisation ich und der größte Teil Euer
Majestät treuer Diener Gott den Allmächtigen anflehen, der vielleicht diese
vielfältigen Gebete nur dann erst erhören will, wenn Euer Majestät sich ent¬
schließen, an diesem letzten Kampfe teilzunehmen, ein Moment, der für Preußen
gewiß nie wiederkehrt." An Gneisenau schrieb Blücher damals: „Sie können
als ein Mann von treuem deutschen Gefühl meine Stimmung leicht beurteilen.
Gott weiß, mit welcher Wehmut ich einen Staat und eine Armee verlasse,
worin ich fünfzig Jahre zubrachte; mein Herz schlägt vor Unmut, da ich ge¬
zwungen werde, einen Herrn zu verlassen, den ich liebe, für den ich mich
tausendmal aufgeopfert hätte.... Ich habe dem Staat alles geopfert und
verlasse ihn, wie man aus der Welt scheidet, das heißt arm, nackend und
bloß; aber mein Mut ist unbegrenzt; wohin ich gehe, wird ein beruhigendes
Bewußtsein und eine Menge Redlicher mich begleiten." Dem Grafen Götzen
schreibt er: „Noch will ich eine kleine Frist geben; ordnet es sich dann nicht,
kommen wir nicht zu einem Entschluß, so gehe ich und verwende meine Kräfte,
die ich noch habe, zum Besten meines bedrängten deutschen Vaterlandes: trage
Fesseln wer da will, ich nicht!"
Blücher trug sich damals mit dem Plane, ein Freikorps zu werben, und
Gneisenau arbeitete hierüber bestimmte Vorschläge aus, die dem Erzherzog Karl
zugestellt wurden. Wie ausschließlich Blücher dem Gedanken der Befreiung
Deutschlands von dem verhaßten Unterdrücker lebte, zeigte sich im Sommer 1811,
als Preußen eine Zeit lang, bevor es das französische Bündnis einging, ent¬
schlossen schien, sich an Nußland anzuschließen. Damals schrieb Blüchers ältester
Sohn an Gneisenau: „Mein Vater lebt ganz wieder auf, da er Aussicht hat,
noch mit Ehre leben oder sterben zu können, und belebt uns alle."
König Friedrich Wilhelm hat im Frühjahr 1809 den erzürnten Helden
begütigt. Er versicherte ihm, daß er nach wie vor sein volles Zutrauen habe,
und gab dem Ausdruck, indem er ihn zum General der Kavallerie beförderte.
Er hat ihn auch 1811 gehalten, als die Wendung zu Frankreich Blüchers
Enthebung vom Kommando notwendig machte, und ihm ausdrücklich versichert,
daß darin nur eine vorläufige, durch die Umstände gebotene Maßregel zu sehen
sei, daß er noch auf weitere Dienste des Generals rechne.
So blieb der preußischen Armee für kommende Tage ihr Führer erhalten
und dieser zugleich davor bewahrt, sich gegen seinen König aufzulehnen. Was
er dem Heere war, erkennt man daraus, daß Scharnhorst und Gneisenau, als
sie von der englischen Negierung im Winter 1811/12 gefragt wurden, ob sie,
nachdem sich König Friedrich Wilhelm für das französische Bündnis entschieden
habe, zu einem selbständigen Vorgehen geneigt seien, erklärten: Was 1809
und selbst im Sommer 1811 möglich gewesen wäre, sei es heute nicht mehr;
nach Blüchers Abberufung könne man nicht mehr auf die Gesamtheit der Truppen
durch einen Führer wirken, der ihr ganzes Vertrauen habe, und der vorbereitende
Maßregeln ergreifen könne; es fehle seitdem die Möglichkeit, die Offiziere und
Soldaten zu bearbeiten und sie auf ein heroisches Unternehmen vorzubereiten.
Jetzt werde die Armee auf des Königs Befehl sich willig dem französischen Joch
unterwerfen.
Wenn es im Befreiungskriege gelang, dieses Joch zu zerbrechen, so war
das nur dadurch möglich, daß sich unter den preußischen Generalen, als den
Führern des Volkes in Waffen, eine Reihe ausgeprägter Charaktere befanden.
Am höchsten aber unter diesen steht Blücher. Ihn dem jetzigen in einem langen
Frieden zur Verweichlichung neigenden Geschlecht in seinem ganzen Heroismus
vorgeführt zu haben, ist eine Tat. Seien wir dem Verfasser dankbar, daß er
uns Gelegenheit geboten hat, uns an dem Feuer vaterländischer Begeisterung,
das in diesem Heldengreise loderte, zu erwärmen.
eher die Zeit der „Stile" in den Wohnungen wächst man heute
glücklicherweise hinaus. Es war schrecklich, als alles stilvoll sein
mußte: entweder Rokoko oder englisch oder gar „altdeutsch", mit
Butzenscheiben, Ritterschilden und Hellebarden, diese allerdings
oft nur in dem friedlichen Beruf von Portierenstangen. Daß
solche Sinnlosigkeiten möglich waren, ist kein glänzendes Zeugnis für unsern
kunstgewerblichen Verstand; daß man sie aber hübsch fand und sich in solchen
künstlich verstilisierten Räumen wohl fühlte, beweist einen bedenklichen Tief¬
stand des Geschmacks. Aber nach der tiefsten Ebbe setzt die Flut ein, und jetzt
haben wir ja wohl eine steigende Bewegung in unsrer Wohnungskultur.
Der Begriff Stil läßt sich ungefähr mit dem Wort Einheitlichkeit wieder¬
geben. Nun ist es aber der Einheitlichkeit zum Beispiel eines Beamtendaseins
im zwanzigsten Jahrhundert durchaus nicht entsprechend, sich eine Einrichtung
anzuschaffen, die den Formen des sechzehnten nachgebildet ist. Die einfachen
derben Möbel aus Luthers Zeit sind schön, weil sie aus gutem Holz, in
zweckmäßigen Formen dauerhaft gearbeitet waren; auch die nicht einfachen,
reich geschnitzten Schränke und Truhen jener Zeit sind teilweise sehr schön,
und mit Recht ist jeder stolz, der einen solchen Besitz sein eigen nennen kann.
Aber im allgemeinen gesprochen: passen die großen schweren Stücke in unsre
Zeit der Umzüge und Mietwohnungen? Haben wir für neue Bedürfnisse
nicht neue Geräte nötig? Ist es nicht Künstelei, diese für unsre Zeit not¬
wendigen Dinge — wie etwa Ausziehtische. Damenschreibtische, Bücher¬
schränke usw. — in die äußerlichen Formen einer Vergangenheit zu kleiden, in>
keine Damenschreibtische und keine Bücherschränke brauchte? Das äußere Leben
und das innere Empfinden der Menschen im zwanzigsten Jahrhundert ist so
ganz anders als das derer im sechzehnten oder achtzehnten, daß es doch das
natürlichste von der Welt wäre (oder sein sollte), sich auch mit andern, dem
heutigen Leben entnommnen und angepaßten Formen zu umgeben.
Andrerseits sind Tische, Stühle, Schränke Dinge, die man seit vielen
Jahrhunderten im Gebrauch hat, und für manche derartige Geräte haben wir
noch keine bessern Formen gefunden als unsre Vorfahren. Es wäre auch
Künstelei, wollte man das alles abschaffen, nur um eine moderne Sprache zu
sprechen! Unsre Sprache birgt ja auch, so anders sie immer geworden ist,
unzählige Worte, die vor dreihundert und fünfhundert Jahren beinahe ebenso
gebraucht wurden. Woher kommt es, daß man sich in den durch und durch,
bis auf die Nippessachen, stilreinen Zimmern unbehaglich und beengt fühlt?
Mögen sie nun im Rokoko- oder im modernsten Stil sein, wir werden nicht
warm darin. Warum umfangen uns dagegen Stuben, in denen ruhig ältere
und neuere Sachen nebeneinander stehn — vorausgesetzt, daß sie nur an sich
geschmackvoll und in der Farbe nicht unharmonisch sind —, viel traulicher?
Das kommt wohl daher, daß es sich nicht um die äußere Einheitlichkeit der
Formen (was wir gewöhnlich Stil nennen) handelt, sondern um die innere:
daß ein Wohnraum der Ausdruck des darin Wohnenden ist.
Unsre Wohnung ist ein Stück von uns selbst, man nennt sie gewöhnlich
das weitere Kleid des Menschen. Aber wie weit sind wir noch davon ent¬
fernt, daß dem so ist! Und wie schlimm, wenn das überladne Durcheinander
so mancher Wohnung wirklich der charakteristische Ausdruck des Sinnes seiner
Bewohner wäre! Geschmack muß geschult, und sich charakteristisch und zugleich
schön einzurichten, muß gelernt werden, wobei man gewöhnlich etwas Lehr¬
geld zahlen muß. Gerade die stilvollen Einrichtungen sind die charakterlosesten
und darum unwohnlichsten aller Einrichtungen. Man bestellt sich eine solche
auch nicht nach persönlichem Bedürfnis und Geschmack für jedes Stück, sondern
richtet umgekehrt seine Bedürfnisse nach den nun einmal „dazu gehörigen"
Möbeln, die natürlich für hundert oder tausend „compl. herrschaftliche Aus¬
stattungen" dieselben sind. Dieses Übel besteht einigermaßen auch bei den modernen,
im großen und ganzen praktischen und schönen Wohnungseinrichtungen; wer es
haben kann, sich von einem Künstler ganz und gar und bis auf Salzfüßchen
und Wassergläser einrichten zu lassen, der bekommt heute sicher eine geschmack¬
volle und vollständig einheitliche Umgebung — bloß ist sie nicht gerade der Aus¬
druck seines Denkens und Fühlens.
Wir wollen deshalb die absolute Stileinheit, auch die gute moderne, lieber
den Gasthäusern und öffentlichen Gesellschaftssülen überlassen, die natürlich
gewissermaßen neutral-geschmackvoll sein müssen. Solche Räume und Festsäle,
von Künstlern nach den Gesetzen von Raum, Farbe, Linie entworfen und
geschmückt, sind unentbehrlich für das öffentliche und gesellige Leben und
schon an sich eine Quelle des Genusses für den Besucher. Möchten nur recht
viele solche im edelsten Sinne Stil- und stimmungsvolle Räume entstehn.
Unsre Wohnung aber soll unsrer Person entsprechen und ihr allein
dienen.
Nun ist keine Persönlichkeit ganz söUmaäo; wir sind alle Glieder zwischen
Vorfahren und Nachkommen. Früher fand das deutlichen Ausdruck in Wohnung
und Kleidung. Dem letztern hat „die Mode" ein Ende gemacht, und aus
einem Extrem ist ein andres geworden: früher gingen Enkel und Urenkel nach
dem Schnitt ihrer Ahnen gekleidet, einerlei, ob er ihnen saß und zusagte; jetzt
hat man sich jedes Jahr anders zu kleiden, einerlei, ob einem das Alte besser
Paßt und gefällt! In der Wohnung aber sich von Besitz und Gebrauch der
Voreltern völlig loszulösen wirkt unvornehm und auch unheimatlich. Was
ist heimeliger als die Stuben der Großeltern mit ihren hellen eingelegten
Möbeln, Silhouetten in glattem Rahmen an der Wand? oder dem gediegnen
Mahagonigerät mit seinem warmen Farbton, gehoben durch bronzene Beschläge,
Uhren, Leuchter? Und warum ist das alles so traulich? Weil es der deutliche
und entsprechende Ausdruck jener Zeit und jener Menschen war, und weil es
solid, aus schönem Material gearbeitet war. Darum überdauerte es Generationen,
und zu den übrigen Vorzügen kommt noch der Zauber der Erinnerung — ein
wahrlich nicht zu unterschätzendes Moment bei dem Heimatgefühl, das man
in seinen vier Wänden sucht. Die spätere Zeit dagegen — unruhiger, un¬
solider, geschmackloser — sah mehr auf neuen und vielen als auf einfachen
und zweckmüßigen Hausrat. Jeder wollte alles haben wie sein Nachbar,
deshalb waren zeitweilig alle Wohnungen mit Plüschsofas, Vertikows und
Büfetts überschwemmt. Nach zwanzig, dreißig Jahren verloren diese schlecht
und rasch gearbeiteten billigen Sachen Ansehen und Gebrauchsfähigkeit; die
Kinder waren dann froh, wenn sie den alten Kram los wurden, und — fingen
das Stück von vorn an.
Diese Art, „die Mode" auch über das weitere Kleid, unsre Wohnung,
herrschen zu lassen, ist also ebenso unpraktisch wie häßlich und unvornehm.
Sie wird nur vermieden, wenn bei Neueinrichtungen oder -anschaffungen nicht
alles „neu" sein soll und also nicht einfach nach stilgerechten Katalog ver¬
fahren wird; sondern wenn man zunächst von alten Stücken behält, was
brauchbar und in sich stilvoll ist; es ist nicht Geschmack, sondern Geschmack¬
losigkeit, sie wegzutun, bloß weil sie „altmodisch" sind. Vor allem aber
sollte man darauf sehen, daß jedes neue Stück, das man anschafft, in schönem
Holz und einfachen Linien hergestellt sei und seinen eigensten Zweck möglichst
vollkommen erfüllt. Damit ist der Grund zu einer wahrhaft harmonischen
und schönen Einrichtung gelegt. Denn was ist schließlich Stil und Schönheit
bei einem Möbel? Man könnte sagen Aufrichtigkeit, daß es seinen Zweck
erfüllt und nichts andres vorstellen will, als es ist. Ein Schrank zum Bei¬
spiel ist ein Ding, das zum Aufbewahren von Kleidern oder Geschirr oder
Büchern bestimmt ist, also durchaus für praktischen häufigen Gebrauch. Aber
was hat man aus einem Geschirrschrank (zu deutsch Büfett) gemacht! Eine
Burg mit Butzenscheiben, Zinnenverzierungen und Eckbrettern nach außen.
Oder aus einem Bücherschrank? ein geschweiftes Etwas (obschon Bücher doch
immer gerade und eckig sind) mit möglichst viel überflüssigen Zieraten, die
nur gut sind, die Aufmerksamkeit vom Inhalt abzulenken. Das schlimmste,
was es gibt, ist das Modernisieren älterer Sachen! Daß man Eichenholz
braun anstreicht, Blechbeschläge darauf nagelt und fabrikmäßige Schnitzereien
aufsetzt, damit es zur neuen Nußbaumeinrichtung „paßt", kommt ja wohl
glücklicherweise nicht mehr vor. Aber es geschieht doch noch alle Tage, daß
ein ehrlicher tannener Schrank oder Waschtisch auf Mahagoni gestrichen und
genähert und mit einer künstlichen karrarischen Holzmarmorplatte versehen
wird. Und doch machen es die heutigen Mittel — Beizen, Schnitzen, Tief¬
brand — jedem möglich, einem solchen Gegenstand ein gefülliges Äußeres zu
geben ohne Vorspiegelung falscher Tatsachen, zum Beispiel eine angenehme
Tönung, die die natürliche Maserung nicht verdeckt, oder aber Leisten und
Füllungen mit passenden Mustern zu beleben.
Die andre Hauptfrage in einem Wohnzimmer ist die Farbe. Hierin wird
noch immer unverzeihlich gesündigt, denn bis hierhin reicht der Einfluß unsrer
vorgeschrittnen Möbelkultur noch recht mangelhaft. Wenn die einzelnen Sachen
aber auch noch so schön sind, mit einer in den Farben nicht dazu passenden
Umgebung bilden sie dennoch kein Ganzes. Für die Wohnlichkeit eines Ge¬
machs ist die Farbe ausschlaggebend. Die Ungemütlichkeit manches Wohn¬
zimmers liegt nur daran, daß noch so wenige Menschen verstehn, eine farbige
Grundstimmung herzustellen, in der weder die Eintönigkeit noch die Buntheit
schreit. Mich dünkt, es ist recht ein Feld für die Frauen, eine fein abge¬
stimmte Farbenharmonie um uns zu verbreiten. Das war auch ein Vorzug
der Wohnungen unsrer Groß- und Urgroßeltern: sie waren sparsamer und
einfacher in der Farbe. Sie wiesen lange nicht so viele Teppiche, Decken und
Deckchen, Vorhänge und Dekorationen auf wie unsre Stuben. Und die
Tapeten waren bedeutend nichtssagender als unsre aufdringlich gemusterten
und hart gefärbten. Gerade dadurch redeten sie deutlich mit bei der Traulich¬
keit der Räume; es ist sehr klug, daß man jetzt wieder vielfach auf die ein¬
farbig gestreiften oder mattbunten Tapeten früherer Zeit zurückkommt. Sie
geben dem ganzen Zimmer eine helle Stimmung, was das Beengende der
Wände einigermaßen einschränkt; oder sie bringen mit einem dunklern warmen
Ton gerade das Trauliche des eingeschlossenen Raumes zum Bewußtsein. Ge¬
räte, Bilder und Menschen heben sich besser von solchem Hintergrund ab und
werden durch ihn gehoben, als von einem Hintergrunde, der an und für sich
mit einem großblumigen, mehrfarbigen Muster wirken will. Man hat neuer¬
dings festgestellt, daß und welche Einflüsse die verschiednen Farben auf uns
ausüben, zum Beispiel gelb eine sehr anregende, blau eine herabstimmende usw.
Daß es nicht gleichgiltig ist, auf welche heitern oder düstern Töne unsre Um¬
gebung gestimmt ist, kann jeder an sich selbst erfahren. Und mehr noch als
an den Möbeln kann sich hier der individuelle Geschmack betätigen und eine
unruhige oder harmonische, anheimelnde oder unbehagliche — kurz stilvolle
oder heillose persönliche Umgebung herstellen. „Zeige mir deine Wohnung, und
ich
! it trocknen Augen sagten wir Italien Lebewohl und schifften uns
ein. So schön dieses Land ist, so ist es doch ein wenig zu viel
Tableau, allzu sehr Idylle. Seine Gauner lächeln zu liebens¬
würdig, die ganze Nation lacht und schlängelt sich — nach
«Trinkgeldern. Die unzähligen Reisenden haben das italienische
Volk zu einer Art naßgekümmten Pudels gemacht, der herumspringt und seine
närrischen Kunststückchen vorführt. Überdies ist das ganze Land wie abgegrast
von allen möglichen Malern, Poeten und Philosophen der Welt. Jedes Fleckchen
Erde trügt seine Fuhre Papier und Leinwand und Reminiszenzen; und will
nun so ein armer moderner Skribent ein bißchen abseits stehn — ebenfalls
in Berufsangelegenheiten —, so ertönen gleich ein Dutzend Stimmen abge-
schiedner großer Geister aus der Erde, ganz wie die der Kobolde im Märchen.
Wie in China kann man vor lauter Vorgängern nicht ausspucken und vor lauter
Überlieferung nicht frei Atem holen.
Wir haben also den Anker gelüftet; mag es nun dort weiter gehn, wie
es wolle! Napolis Myriaden Heller Lichter erlöschen im Golf; Messina kommt
und geht, ohne in unserm flüchtigen Sinn, der schon in Spanien weilt, Spuren
zu hinterlassen; Palermo versinkt tief in sein goldnes Horn und verschwindet,
und nun verbirgt sich als letztes der Schneegipfel des Ätna in den Wellen.
Schön ist es so zu fahren, zu allen Seiten, soweit das Auge reicht, Meer und
nichts als Meer. Meile um Meile der Meeresfläche zieht unter den Schiffs-
steven und gleitet unter dem Achter hinaus, weit draußen aber am Horizont
rollen neue Wasserflächen heran, ebenso rasch, wie wir sie zurücklegen. Es ist,
als kämen wir nicht weiter, und doch stampft das Schiff unverdrossen, und die
Schraube schnurrt; so muß es sein, wenn man durch die Unendlichkeit watet.
Die Sonne hebt sich aus dem Meere und taucht darin unter, Tag um
Tag. Dieselbe Wasserfläche rollt stets unter uns, blau oder perlmutterglänzend,
trüge, schläfrig, mit langen Dünungen, die auf der Oberfläche schaukeln wie
mächtige schlafende Weichtiere. Dann und wann erscheint ein matter Fleck
am nördlichen oder südlichen Horizont, ein Vorgebirge der sardinischen oder
der afrikanischen Küste. Aber er wirkt fern, unstofflich und stört nicht den Ein¬
druck der vorbeigleitenden Unendlichkeit.
Das Mittelmeer!
Bald ist es von einer verdrießlich grünen Farbe, undurchsichtig und dM
flüssig wie geschmolzenes Flaschenglas, bald leuchtet es wie ein Opal in matter
Milchfarbe; dann wieder atmet die ganze Fläche heißes Indigo. Oder es ist,
als seien Kristalle in seinem Spiegel; so durchsichtig ist es und fast luftig
leicht, daß unsre Schatten quer hindurchgehn und deutlich auf den grau¬
glänzenden Rücken eines großen Hals fallen, der uns getreulich in einigen
Klaftern Tiefe begleitet. Zahlreiche große Medusen durchkreuzen in rhythmischen
Stößen das zitternde klare Element, silberschuppige Fische und lange geschlängelte
Schleimfasern fahren erschreckt zu beiden Seiten des Schiffskiels auseinander.
Es ist ein schmutziger holländischer Frachtendampfer, auf dem wir fahren. Wir
essen dreimal des Tags „Viksemad", schlafen in kleinen Proviantrüumen direkt
oberhalb der Schraube, mitten unter offnen Kisten mit Rosinen, Zwetschken,
Grütze und getrockneten Fischen — und müssen dafür dreihundert Franken be¬
zahlen. Wir haben dieses Fahrzeug gewählt, um Geld zu ersparen. Mit einem
Pasfagierdampfer hätte es uns die Hälfte gekostet, aber dies erfuhren wir erst,
als es zu spät war. Diese Fahrgelegenheit hat uns jedoch — „der König von
Sizilien" selbst verschafft, und er kam dreimal in höchsteigner Person an Bord,
um das Fahrgeld selbander in Empfang zu nehmen. Insoweit war also alles
in Ordnung.
Wir schlafen übrigens nicht viel. Wenn die ersten Rosenblätter des Morgens
auf blanken Glanzwellchen daher geschaukelt kommen, finden sie uns schon in
Bewegung: wir lesen das Log ab, suchen auf der Seekarte die gegenwärtige
Lage unsers Schiffes, untersuchen die Kimmung mit dem großen Fernrohr. Mit
allen Poren saugen wir diese neue Welt in uns ein — und speisen Haufen
von Biksemad dazu. Die Seeluft zehrt, sagte der Matrose, während er sich
übergab. Welche Tage, welche Nächte! Ohne eine Wolke steht die Sonne
tagsüber am Himmel und schüttet vergeblich ihre ganze Fülle aus über das
unersättliche Meer. Und wenn sie müde dem Horizont zusinkt, dann streckt sich
das Meer in güldner Schönheit, als wollte es sie zurückhalten; es erglüht in
unkeuschen Farben, schwimmt wie goldflutendes Haar weit hinaus gegen Westen.
Und die Sonne greift kraftvoll in dieses herrliche Goldhaar, während sie
hinabsinkt. Da geht ein Schauer durch die See, ein glühendes Erröten, als
schäme sie sich ihrer prachtvollen Nacktheit; sie sinkt matt dahin, von einem
zartgoldnen Schimmer umhaucht. Und von Osten her trügt der Abend einen
Flor aus Hellem Drap und Aschgrau herbei und deckt ihn schonend über
ihre Blöße.
Himmel und See sind entschwunden. Nur unser kleines Schiff ist zurück¬
geblieben mitten auf einer Fläche von mattem Silber, die sich fernhin nach
allen Seiten in ein lichtes Chaos von grau abtönt. Blei- und Schiefergrau
stehn als dunkle Töne zwischen Hellem Zement- und Perlgrau; der Rauch hängt
wie eine Rohseidenschleppe über dem schweren Quecksilberton des Kielwassers.
Grau in allen Tönen und Schattierungen, und weiter nichts als grau! Wohl¬
tuend sanft, eintönig und dennoch reich quillt es uns entgegen wie ein Farben¬
gedicht ohne Farben: so summt das Volk seine Poesien über die Welt; so
hat der Urnebel ausgesehn.
Aber die Nacht kommt, und der Himmel löst sich aus in einem heftigen,
fast beklemmenden Violett, das den Puls wieder lauter schlagen macht. Und
das Meer fließt schwarz und träge wie Teer. Diese Nächte mit ihrem Glucksen
und Gurgeln unter dem Schiffe, dem schwachen Klingen des Logs und dem
derben Schnarchen der Mannschaft unter Back! Und dazu die große seltsame
Stille des Himmelsraumes, in die unablässig die dumpfen Stempelschläge des
Schiffes hacken, daß es klingt, als piete ein Totenwurm in einem großen ge¬
schlossenen Alkoven!
Am Morgen des fünften Tages taucht Spanien auf wie eine violette
Felsmauer, die sich schroff aus dem Meere erhebt, und deren oberer Rand
von Wolken verdeckt ist. Während wir näher kommen, ziehen sich jedoch die
obern Felsmassen zurück, blaue Klüfte öffnen sich und grüne Täter, ganze
Felsen lösen sich aus der Masse und treten in den Vordergrund, bis sie sich
endlich als Vorgebirge offenbaren, die sich mehrere Meilen vor die eigentliche
Küste schieben. Und wo die Klippen just in das Meer zu tauchen scheinen,
da erschaut man eine breite üppige Ebene; es sind die berühmten Huertas,
die fruchtbarste» Gegenden der Welt. Sie bilden einen Küstengürtel von
Barcelona bis südlich von Malaga und umfassen eine Strecke von mehr als
150 deutschen Meilen.
Über den Wolken glänzt es weiß, und als diese sich gegen Morgen zer¬
teilen, sehen wir südwestlich in einer Entfernung von 30 bis 40 Meilen die
mächtigen Schneefirnen der Sierra Nevada. Den ganzen Tag behalten wir
die „Schneeberge" in gleicher Richtung und Entfernung, so fern und so ge¬
waltig sind sie. Erst am nächsten Morgen kann ich durch das Fernrohr die
verschiednen Dörfer am Südabhange der Bergkette unterscheiden, das ganze
Alpujarras, das so berühmt ist wegen seiner Früchte und Schinken und seiner
tausendjährigen maurischen Sitten. Und dahinter, am Nordabhcmge der Berge,
liegt wohl Granada mit der Alhambra, der Vega, den Zigeunern.
Zur Mittagszeit gleiten wir in den Hafen von Malaga. Malaga ist die¬
selbe freundliche Stadt wie vor sechs Jahren, reizend in ihrem Gemisch von
alt und neu: maurische Ruinen, cmdalusische Winkelgäßchen, neue Straßen
mit Holzpflaster, moderne Zementmolen. Es ist lauter Gutes, aber nichts
Charakteristisches von seinen 200000 recht rührigen Einwohnern zu sagen, die
von dem übrigen Andalusien beschuldigt werden, mit den Engländern zu lieb¬
äugeln und überdies die verdammenswerten Worte geäußert zu haben, daß ihr
Hafen ebensoviel wert sei wie Granadas Alhambra. Der Ausländer, der
beides gesehen hat, wird finden, daß die beiden Parteien ebensogut darüber
streiten könnten, was höher sei, das hohe 0 oder die Spitze der Domkirche
in Sevilla. Allein die Malaguenos sind nun einmal entartet; haben sie nicht
etwa selbst den entscheidenden Beweis geliefert, indem sie nun ebenfalls ihren
Hafen zum Freihafen umwandeln wollen, nach dem Muster des naheliegenden
Gibraltar?
Während unser Dampfer seinen Eisenmagen mit Feigen, Rosinen, süßem
Malagawein und manchem andern vollstopft, gehn wir ans Land, um uns
umzusehen und die Post zu holen. Es ist mitten in der Exportzeit, und am
Hafen ist Leben und Bewegung. Alle Früchte Spaniens scheinen sich zu
unserm Willkommen hier ein Stelldichein gegeben zu haben, und wir bahnen
uns einen Weg zwischen Wein- und Ölfässern, Tonnen mit gepreßten Trauben,
Kisten mit Datteln, Rosinen, Zitronen, Apfelsinen und Mandeln, Bastkörben
mit Feigen, Säcken voll Hasel- und Walnüssen und vielen andern Früchten.
Da und dort ist ein Sack unter den Händen der Arbeiter geplatzt, und sie
bieten uns, während wir vorbeigehn, von dem Inhalt an.
Weiter oben auf dem Hafenplatz liegen Scharen von Weibern und Kindern
auf den Knien um große Apfelsinenhanfen. Sie schwatzen und singen, während
sie die von einigen Männern sortierten Früchte in Seidenpapier rollen und
in die langen Kisten packen. In ihren farbenreichen Lumpen wirken sie wie
ein um einen Goldhaufen geschlungner Kranz von Mohn- und Kornblumen.
Man stutzt unwillkürlich, wenn man diese daheim so kostspieligen und so be¬
gehrten Früchte hier wie Kartoffeln behandeln sieht. Eisenbahnwaggons kommen
auf den Schienen dahergelaufen, die Schiebtüren öffnen sich, und heraus rollen
die Orangen in Körbe oder auch auf die bloße Erde, wie es gerade trifft.
Magere, sehnige Männer mit bloßen Füßen und einem turbanartig um den
Kopf gewickelten roten Tuche laufen herbei und stürzen den Inhalt der Körbe
über die hochgestapelten Haufen, sodaß die Früchte hinausrollen zwischen die
nackten Beine der Weiber und Kinder und weiter über die schwarze Erde wie
Funken im Dunkeln.
Drei Wochen haben wir keine Post bekommen, und mit einer gewissen
Erwartung eilen wir zum Konsulat. Konsul Schultz, ein liebenswürdiger alter
Deutscher, sucht nach der Post, schüttelt lächelnd seinen grauen Kopf und reicht
uns eine Zeitung in Kreuzband. Eine Zeitung, ach, dieses andalusische Post¬
Wesen! Mit den Briefen mag es noch dahingehn; die hat wohl irgend eine
Witwe bekommen, die sich besonders gut mit dem Postboten stand. Da aber
der öffentliche Schreiber, der sonst die Briefe für sie schreibt und liest, ihr
diese nicht verdolmetschen kann, glaubt sie, sie handelten von einem Millionen¬
erbe, und macht nun Schulden und zehrt davon ihr ganzes Leben. Das ist
nun auch ihre Sache. Aber die Zeitungen — wer könnte hier auch nur an¬
nähernd dasselbe Interesse an ihnen haben wie wir?
Im übrigen scheint das Ausland von dem gesamten Geschäftsleben dieser
„englisch betriebsamen" Stadt Besitz ergriffen zu haben; alle großen Handels¬
häuser sind in französischen, englischen, namentlich aber deutschen Händen. In
allen südeuropüischen Städten trifft man ja deutsche Kaufleute, oft in ganzen
Kolonien, die sich selbst unter den ungünstigsten Verhältnissen zu behaupten
wissen. Den Rest unsers Aufenthalts verbringen wir auf den Straßen umher¬
schlendernd. Wir trinken Muskateller und essen Malagatrauben und besteigen
den hohen Felsen Gibralfaro mit den maurischen Ruinen, wo das ärmste Volk
wohnt. Die Weiber da oben sagen uns grauenhafte Dinge im Vertrauen
darauf, daß wir sie nicht verstehen, und lachen einander verständnisvoll zu.
Als ich aber, um ihnen Einhalt zu tun, zeige, daß ich sie verstanden habe, treiben
sie es noch ärger und sagen etwas sehr Gemeines über uns beide. Da werde
ich zornig und gebe ihnen einen häßlichen Namen, und sie schreien entsetzlich
und bücken sich, um Steine aufzuheben. Wir sputen uns, den Berg hinab¬
zukommen, während böse Worte und kleine Steine hinter uns hersausen.
Und wieder sind wir auf dem Wasser. Wir verließen Malaga um Mitter¬
nacht, lautlos, wie wir gekommen waren, passierten Gibraltar und steuerten
westlich. Die afrikanische Küste verzog sich gegen Süden, hinter uns versank
die Felsenfestung Fuß um Fuß in den Wogen, starke See und kalter Wind
verrieten, daß wir uns dem Atlantischen Ozean näherten. Vor nicht mehr als
zwei Stunden glitten wir über die unterseeische Schwelle, die die andalusischen
Berge mit dem Gebirge Nordafrikas verbindet und eine unsichtbare aber scharfe
Grenzscheide zwischen zwei Meeren errichtet: dem blauen lächelnden Mittel¬
meere, dessen Wärmegrad (15 bis 17 Grad Neaumur) uns erlaubte, jetzt im
November täglich zu baden, und jenem Zipfel des Atlantischen Ozeans, der
wie ein schmollend gespitzter Mund uns Strömung und See und kalten Wind
entgegenblies, sodaß wir trotz sorgfältiger Vermummung heimlich froren. Der
Himmel war hell, fast weißblau, ohne die verzehrende Tiefe, die der südliche
Himmel sonst hat, und an Stelle der steilen blauenden Küsten mit endlos
hintereinander aufragenden Berggipfeln wies uns Spanien hier im Norden
wellenförmige Unterländer und eine bald flache und sandige, bald in gelben,
vom Meere benagten Lehmkuchen vorspringende Küste.
Im Laufe des Vormittags kam die See allmählich in gute Laune, so wie
das Mittelmeer auch hie und da in üble geraten kann. Dieses begann damit,
daß sich die Sonne bemerkbar zu machen begann; irritierend wie ein böses
Auge saß sie an dem kalten Himmel und stach. Dann legte sich der Wind
vor ihr auf den Bauch, kroch wie an den Wellen hin und blieb zuletzt ganz
full liegen. Und die Wogen sanken zusammen wie lange Dünungen, die
schwächer und schwächer wurden, je wärmer und einschläfernder sich die Luft
auf sie senkte. Der Himmel ging von weißlicher Milchfarbe zU blauem, zu
purpurgesättigtem Azur über; es schien, als sauge er Tiefe aus der Unendlich¬
keit des Raumes. Unmerklich stieg er durch Violett und Lila, wurde zu heftigem
Blutrot, zu hitzestrahlendem Feueräther und zuhöchst droben zur Sonne selbst,
die wie ein toter Fleck erschien in den weißglühenden Lichtmassen, das einzige,
bei dem das Auge zu verweilen vermochte. Das ganze Himmelsgewölbe
zitterte Sonne aus, in starkem Licht und tiefen Würmetönen, während die
Sonne selbst wie eine verlassene Puppenhülse mitten droben am Firmament
hing. starrte man aber hinein in ihre matte Haut, so floß alsobald alles
milchweiß auseinander, und das Auge vermochte statt Bilder nur schmerzende
Lichtmassen einzufangen.
Über Himmel und See legte sich ein Glanz der Verzückung, ein Schimmer
großer Freude. Vielleicht griff er auch in die Tiefe hinab, denn fliegende
Fische tauchten auf, blitzten eine silberhelle Sekunde über dem Wasser und
verschwanden wieder; Thunfische schnitten da und dort wie schwarze Dreh¬
scheiben einzeln durch die Wogen oder „hutschten" wie Schaukelpferde in langen
Reihen über das Meer dahin; hie und da stieg ein Strahl empor, stand in
der Luft und verzog sich als feiner weißer Staubregen. Es war dort, wo
die großen Wale gingen.
Zahlreiche Dampfer nehmen denselben Weg wie wir oder kommen uns
entgegen oder steuern südlich längs der afrikanischen Küste. Einer steht mit
dem Steven ganz oben auf dem Land, ein kleines eifriges Schweizerboot zerrt
unermüdlich daran, ohne etwas auszurichten — wie eine Ameise, die sich mit
einem toten Käfer abmüht. Die dänische Flagge auf dem Dükerboot brennt
wie roter Mohn in der Sonne.
Weit vor uns ragen unzählige Rauchsäulen wie Pinien gegen den Himmel,
als lägen dort Hunderte von Fabriken. Aber dieses ist eine der Weltstraßen
des Ozeans, unter der nächsten Rauchpinie erhebt sich ein Schiffsrumpf und
dampft uns entgegen, gleitet vorüber und verschwindet in der Meerenge — und
noch einer und wieder einer, bis ins Unendliche. Schwarze Stahlungetüme
von 10000 Tonnen wälzen sich stöhnend mit Hilfe zweier Schrauben daher,
stoßen zu beiden Seiten schmutziggelbes Wasser aus und hinterlassen einen
Kielwasserstreifen von Schlacken, Küchenabfällen und glänzendem Kohlenstaub,
über dem ein erstickender Rauchschweif hängt, blauschwarz wie eine Gewitter¬
wolke. Das sind die großen Kohlendampfer nach Gibraltar, Malta und
Port Said.
Es leuchtet festlich über der Meeresfläche von Weißen Perlenfarben und
Vergoldung, blankem Metall und Kristallglas, widergespiegelt von unzähligen
Ochsenaugen. Aus den vier Schornsteinen des mächtigen Schiffsrumpfs wogt
kein Rauch, sondern nur Wärme, auf den übereinanderliegenden Promenade¬
decks wandeln sommerlich geputzte Menschen oder liegen hingeworfen in niedrigen
Streckstühlen; schwarzgekleidete Kellner laufen zwischen ihnen umher. Während
das Schiff dicht an ihnen vorbeigleitet, steigen aus seinem Innern die Töne
eines Orchesters empor. Über seinem blanken Kielwasser schweben die schönen
Bassangänse und fangen in der Luft auf, was ihnen goldlockige Kinder mit
bloßen Knien vom Achterdeck aus zuwerfen. Es ist ein Paketboot, das mit
englischen Offizieren und Beamten nach Indien fährt; wie eine festliche Luft¬
spiegelung schreitet es an uns vorüber und ist in einer halben Stunde ver¬
schwunden.
on diesem Tage an gehörte der Doktor Waetzold zu den treusten
Kunden des Antiquars. Keine Woche verging, wo er nicht zum
mindesten zweimal in Reichenbachs Hof erschien und einen Hauch des
Lebens in die düstre Büchergruft brachte, in der ein warmblütiges
blühendes Wesen die Tage seiner Jugend vertrauerte. Onkel und
Nichte hatten sich an seine Besuche so gewöhnt, daß sie die Stunde
seines Erscheinens mit Ungeduld erwarteten. Und wenn dann endlich sein fester
Schritt unter dem Durchgang ertönte, wenn sich die Ladentür auftut, und die
Klingel ungestüm zu bimmeln begann, dann klopfte Katheders Herz, dann leuch¬
teten ihre Augen, und ihre Wangen röteten sich, als sei sie den ganzen Tag
draußen in Luft und Sonnenschein gewesen und habe den Lenz mit ihrem dunkeln
Kraushaar spielen lassen. Und obwohl der Doktor nnr der Bücher wegen kam
— ganz gewiß, nur der Bücher wegen! —, vergaß er doch nie, einen Blumen¬
strauß mitzubringen, den er am Abend vorher draußen in Wald und Flur gepflückt
hatte, und den er Käthchen als einen Gruß des Frühlings überreichte. Zuerst
waren es Schneeglöckchen, dann Veilchen, dann Schlüsselblumen und so fort, die
ganze Stufenfolge der Vegetation, ein wahrer Blütenkalender, der die beglückte
Empfängerin unvermerkt in den Sommer hinüberleitete. Wenn sie nun einmal von
ihrem Zettelkataloge aufsah, lachte ihr ein Stückchen Sonne, Luft und Freiheit ent¬
gegen, und ihre erste Sorge an jedem Morgen war, die lieben Blumen mit
frischem Wasser zu versehen und sie in der etwas seltsamen, aber dafür historisch
desto bedeutsamem Vase — es war die Kaffeekanne, deren sich Napoleon bei
seinem Frühstück in Stötteritz am Morgen des 18. Oktober 1813 bedient hatte —
neu zu ordnen.
Nicht ganz so rein und ungetrübt war die Freude, mit der Herr Seyler den
Besuchen seines jungen Kunden entgegensah. Daß Doktor Waetzold einen unge¬
wöhnlich feinen literarischen Geschmack an den Tag legte, daß er nie nach „Schund"
fragte, und daß er sein Augenmerk auf Bücher richtete, die, wenn sie auch für
weitere Kreise der Fachgelehrten unter dem Wüste neuerer Erscheinungen begraben
lagen, für das kleine Fähnlein erlesner Kenner von unvergänglichen Werte waren,
das sicherte ihm die Sympathien und die ehrliche Anerkennung des gelehrten
Antiquars. Aber, aber — daß er diese Bücher auch erwerben, ihrem treuen
Hüter entfremden wollte, daß er im Laufe weniger Wochen, ohne mit einer Miene
zu zucken, hintereinander nach Bernhardys Grundriß der römischen Literaturgeschichte,
nach Heerens Geschichte des Studiums der klassischen Literatur, nach Voigts Wieder¬
belebung des klassischen Altertums und nach Burckhardts Kultur der Renaissance
fragte, das ging Herrn Polykarp Seyler Wider das Gefühl und war geeignet, ihn
mit tiefem Mißtrauen gegen den jungen Mann zu erfüllen, der sich sonst so vorteil¬
haft von seinen Fachgenossen unterschied.
Nun — zum Glück war Seyler nicht der Mann, der sich in seinen Grund¬
sätzen irre machen ließ. Wer etwas, das ihm teuer war, von ihm kaufen wollte,
der mußte sich mit Geduld wappnen, bis der Augenblick kam, wo es „zum Ver¬
kaufe reif" war. Und an Geduld fehlte es dem Doktor nicht. Wegen eines
einzigen Buches konnte er ein halbes dutzendmal nachfragen, und immer nahm er
mit derselben heitern Miene den Bescheid entgegen, er möchte noch ein oder zwei
Tage warten. Jeder andre wäre schließlich ungehalten geworden und hätte mit
mehr oder minder verständlichen Äußerungen des Mißvergnügens auf Nimmer¬
wiedersehen die Höhle des Drachen, der so fest auf seinen Schätzen saß, verlassen.
Doktor Waetzold aber breitete über Herrn Seyler und seine Geschäftsprinzipien
den Mantel der Nachsicht, entschuldigte sich noch obendrein, daß er dem Antiquar
durch seine häufigen Besuche lästig falle, bat ihn, sich nur nicht stören zu lassen,
und wandte dann das ganze Interesse, das er für die ihm vorenthaltnen Bücher
empfand, dem hinter seinem Zettelkataloge verschanzten jungen Mädchen zu, dem
der Frühling noch nie so sonnig und beglückend erschienen war wie in diesem
Jahre, obgleich es auch diesmal nicht mehr davon zu sehen bekam, als was der
blonde Philologe in Form von Blumensträußen und dem Abglanz des Himmels,
den sie in seinen fröhlichen Augen zu erkennen glaubte, mitbrachte.
Von alledem bemerkte der harmlose Onkel natürlich nichts, sondern blieb nach
wie vor davon überzeugt, daß Waetzolds Besuche lediglich seinen literarischen
Juwelen golden, und daß es deshalb seine Pflicht sei, die von dem jungen Manne
bewiesne Ausdauer und Geduld ab und zu durch ein Zugeständnis zu belohnen.
Bernhardt) und Heeren waren schon in die Bestände der Waetzoldschen Bibliothek
übergegangen, und die Zeit war nicht mehr fern, wo auch Voigts Wiederbelebung
des klassischen Altertums kapitulieren mußte. Da kam Seyler eines Tages mit einem
in Pergament gebundnen Oktavbändchen nach Hause, das den Titel Aare^roloxiniri,
Ilsus-räi mouaoni, quocl s-et OaroluiQ umZunro. Lvrixsit trug, und das er für ein
paar Groschen auf einer Auktion erstanden hatte. Als er das Büchlein, das im
Jahre 1515 in Köln erschienen war, in einem Schöninghschen Katalog mit zwanzig
Mark verzeichnet fand, geriet er außer sich vor Freude, gleichsam als sei mit diesem
glücklichen Kauf eine neue Ära des Wohlstandes für ihn angebrochen, und Käthchen
benutzte den günstigen Augenblick, ihm auszumalen, wie vorteilhaft es für ihn sein
würde, wenn er sich mit größerm Eifer Literaturgebieten zuwende, für die seine
persönlichen Neigungen nicht in Betracht kämen, wo es ihm also nicht schwer fallen
würde, sich von seinen Erwerbungen wieder zu trennen und dadurch einen raschem
Umsatz der Lagerbestände herbeizuführen. Verdiene er auf diese Weise Geld,
meinte sie, so könne er sich mit gutem Gewissen eine kleine Privatbibliothek von
Werken aus der Geschichte der Philologie zulegen und brauche dann nicht mehr in
beständiger Sorge zu leben, durch hartherzige Kunden seiner Lieblinge beraubt zu
werden.
Dieser verständige Vorschlag leuchtete Herrn Polykarp Seyler sofort ein, wie
er denn überhaupt guten Ratschlägen immer leicht zugänglich war und neue Gedanken
mit einem allerdings gewöhnlich bald wieder erkaltenden Feuereifer aufgriff.
Sieh einer einmal das Mädel an! rief er mit Enthusiasmus, auf eine so ge¬
scheite Idee wäre ich nie gekommen! Wahrhaftig, das läßt sich hören! Wir
müssen Bücher kaufen, die uns persönlich gar nicht interessieren, die wir schnell
wieder verkaufen, und die Geld einbringen. Weiß Gott, du hast Recht: es gibt
ja auch noch andre Fächer! Nehmen wir zum Beispiel einmal die Botanik! Welcher
Wert steckt allein in alten Kräuterbüchern, besonders wenn sie gute Holzschnitte
enthalten! Und dann die Medizin. Das heißt — mit der Medizin ist nicht viel
anzufangen. Das Zeug veraltet zu schnell, und vom historischen Standpunkt aus
beschäftigen sich nur die allerwenigsten damit. Nein, die Medizin wollen wir uns
lieber vom Halse halten. Mit den Rechtswissenschaften steht die Sache schon besser,
da ist auch mit Kompendien etwas zu machen, weil die Studenten so etwas gern
antiquarisch kaufen. Aber erst die Geschichte, Käthchen. die Geschichte! Was läßt
sich da alles herausholen! Die schönen Zeitschriftenfolgen! Die Biographien! Die
reiche Memoirenliteratur! Und erst die Lokalgeschichte! Käthchen — jetzt hab ichs:
Leipziger Lokalgeschichte! Was meinst du dazu? Davon hat man schließlich auch
eine Ahnung. Da kann man doch selber ab und zu einmal einen Blick hinein¬
werfen. O ja, Leipziger Lokalgeschichte muß sehr interessant sein. Ich hatte schon
einmal so etwas auf Lager. Ein fünfbändiges Opus mit Tafeln. Wie hieß es
nur gleich? Ach ja: Siculs ^.nnalss I^xsisussZ. Ich hatte keine Ahnung davon,
daß es eine Seltenheit ersten Ranges war, und ließ es einem alten Schuster für
fünf Mark, obgleich ich selbst sechs dafür gezahlt hatte. Aber es machte mir Spaß,
daß sich ein so einfacher Mann für so etwas interessierte. Ein halbes Jahr später
hatte es Weigel mit fünfundsiebzig Mark im Katalog. Jetzt gäbe ich gern zwanzig
darum, wenn ich es nur einmal lesen könnte.
Du, Onkel, wenn du schon wieder Lust bekommst, die Sachen selbst zu lesen,
dann wollen wir die Lokalgeschichte doch lieber aus dem Spiele lassen, wandte die
Nichte ein. Nein nein, was wir brauchen, sind Bücher, die du nur von außen
ansiehst.
Du hast Recht, Käthchen, sagte Seyler, wir brauchen Bücher, die mir so gleich-
giltig sind, daß ich mich freue, wenn ich sie wieder los werde. Aber das ist ja
das Schlimme bei allen Büchern, setzte er seufzend hinzu, wirft man zufällig einmal
einen Blick hinein, dann liest man weiter, und hat man erst ein paar Seiten ge¬
lesen, dann geht die schöne Gleichgiltigkeit zum Teufel, und man kommt nicht wieder
davon los.
Das Gespräch der beiden wurde durch den Eintritt des fremden Herrn unter¬
brochen, der dem Antiquar so auffallend ähnlich sah, und der vor ein paar Monaten
mit grollendem Herzen weggegangen war, weil ihm Seyler das Buch aus dem
Schaufenster nicht hatte verkaufen wollen.
Sieh da! rief der Antiquar, der seinen Doppelgänger sofort wiedererkannt
hatte, da sind Sie ja wieder! Sie wollen sich gewiß den Kreußler holen?
Nein, den habe ich längst bei Hiersemcmn gefunden, erwiderte der Fremde mit
einem seltsamen Lächeln, diesmal komme ich mit einer andern Absicht. Zu kaufen
ist bei Ihnen ja nichts, nun wollte ich einmal sehen, ob denn bei Ihnen etwas
zu verkaufen ist.
Er brachte einen Stoß Bücher zum Vorschein, der mit einem Bindfaden zu¬
sammengeschnürt war, und den er unter dem Kragen seines Lodenmantels ge¬
tragen hatte.
Sehen Sie sich die Sachen einmal an, ob Sie sie gebrauchen können.
Philologie? fragte Seyler, während er sich abmühte, mit seinen ungeschickten
Ungern den Knoten des Fadens zu lösen.
Nein, Philologie ist nicht dabei, antwortete der Fremde, «ut gerade deshalb
will ich die Sachen verkaufen. Sie nehmen mir nur Platz weg.
Der Antiquar gab den Versuch, den Knoten zu lösen, auf und suchte nach
einem Messer. Da er keines fand, zog der Fremde das seine heraus und zerschnitt
den Bindfaden.
Seyler schlug jedes einzelne Buch auf und las den Titel.
Viel kann ich nicht dafür bieten, sagte er endlich. Im besten Falle alles in
allem achtzehn Mark.
Gut, damit bin ich einverstanden, erwiderte der andre, obgleich hier diese
beiden Bändchen allein soviel wert sind. Er griff aus dem Stoße zwei in Pappe
gebundne Büchlein heraus und hielt sie Herrn Seyler mit einem Lächeln hin,
worin zugleich Arglist, Schadenfreude und versteckter Hohn lagen. Das zweibändige
Werkchen trug den Titel: C. B. Lengrich, Beyträge zur Kenntniß seltener und
merkwürdiger Bücher mit Rücksicht auf die Numismatik. Danzig 1776.
Halten Sie das etwa für etwas rares? fragte der Antiquar, indem er die
Brille hochschob und den Fremden erstaunt ansah.
Sehen Sie sichs nur ein wenig genauer an! Das Buch ist nichts wert, aber
die handschriftliche Eintragung auf den Vorsatzblättern desto mehr. Kennen Sie
den Namen?
Seyler untersuchte die regelmäßigen, feinen und spitzen Schriftzüge, mit denen
die Vorsatzblätter beider Bände bedeckt waren, und fand am Schlüsse die Worte:
Helmstädt. den 9ten Junius 1805, G. C. Beireis.
Der berühmte Adept von Helmstedt! rief er, der geniale Forscher und sonder¬
bare Charlatan, der mit seinen Erfindungen und Schwindeleien die Welt in Spannung
hielt, der zweite Bombastus Paracelsus, den die Laune des Schicksals als einen
späten Sohn des Mittelalters mitten in die nüchtern-vernünftige Aufklärungszeit
gestellt hatte!
Es freut mich, daß Sie den Mann kennen und nach Gebühr würdigen, be¬
merkte der Fremde. Sie werden auch wissen, daß Autogramme von ihm, besonders
solche in diesem Umfange, sehr selten sind. Die Wissenschaft hat über den Mann
längst den Stab gebrochen und ihn in die Rumpelkammer der Kulturgeschichte ver¬
wiesen, aber die Zeit ist nicht mehr fern, wo man ihn wieder herausholen und sich
ernsthaft mit ihm beschäftigen wird. Er war in der Tat ein großer Entdecker, der
nur aus einer Marotte in der Maske des Charlcitans aufzutreten liebte, und der
als Sonderling erschien, um die Neugier der Zeitgenossen von seinen gewinn¬
bringenden Geheimnissen auf seine Person abzulenken. Geben Sie acht: diese Ein¬
tragung von seiner Hand wird sich Ihnen wertvoll erweisen, wertvoller, als Sie
jetzt ahnen!
Seyler hatte einer der Schiebladen des Empireschreibtisches, der ihm auch als
Geldschrank diente, die von dem Fremden geforderte Summe entnommen und zählte
die Münzen dem Verkäufer in die Hand. Hätte er gesehen, wie sich auf dessen Lippen
in diesem Augenblick wiederum das sonderbare häßliche Lächeln zeigte, so würde
er vielleicht doch stutzig geworden sein. Aber seine Gedanken weilten schon bei den
neuerworbnen Büchern, und so fiel es ihm auch nicht einmal auf, daß sich der
Fremde, sobald er das Geld in der Tasche hatte, mit einer geradezu unheimlichen
Schnelligkeit entfernte.
Der Mann gefällt mir nicht, Onkel, bemerkte Käthchen, indem sie den Deckel
des Zettelkastens energisch zuklappte und die Schreibärmel aus schwarzem Kattun
abstreifte und in ihr Pult legte, mich fröstelt immer, wenn ich ihm ins Ge¬
sicht sehe.
Auf mich machte er schon damals einen sehr unangenehmen Eindruck, pflichtete
Seyler dem Mädchen bei, das war auch der Grund, weshalb ich ihm den Kreußler
nicht verkaufen wollte. Es wäre mir fatal gewesen, das Buch im Besitze dieses
unausstehlichen Menschen zu wissen. Was er uns da eben gebracht hat, ist nicht
viel wert, aber ich wollte ihn loswerden und denke, er wird niemals wiederkommen,
denn er wird ganz genau wissen, daß ich ihm für die paar Kleinigkeiten vielzuviel
bezahlt habe.
Jetzt bemerkte er, daß sich die Nichte zum Weggehn anschickte.
Wohin willst du denn? fragte er verwundert.
Das Abendessen besorgen. Es geht auf acht.
Auf acht? Er sah nach der Uhr. Wahrhaftig! Und ich hätte darauf ge¬
schworen, daß wir erst sechse hätten. Nun, dann laß dich nicht aufhalten. Ich
mache den Laden nachher schon allein zu.
Vergiß aber nicht, pünktlich zum Essen zu kommen, Onkel. Nicht, daß ich
dich erst wieder holen muß. Sie setzte ihren Hut auf, nahm den lächerlich ge¬
ringen Betrag, den sie zum Einkauf des Zubrots benötigte, aus der Ladenkasse
und machte sich auf den Weg.
Sobald Seyler allein war, griff er nach den beiden unscheinbaren Pappbändchen
und schickte sich an, die handschriftliche Eintragung des Helmstedter Wundermannes
zu entziffern. Und je länger er las, desto mehr zwangen ihn die Worte, die ihm
zuerst ein überlegnes Lächeln abgenötigt hatten, in ihren Bann. Da stand:
Wahrhafter Bericht von einem von mir selbst erfundenen und erprobten
Mittel, allerlei Gegenstände, vornehmlich Bücher, Münzen, Preziosen, Gemälde und
Kupferstiche, so einem auf irgend eine Art durch Zutun Fremder abhanden ge¬
kommen sind, auf chemisch-magnetischem Wege wiederzuerlangen.
Es ist mir, der ich jetzt in meinem sechsundsiebzigsten Lebensjahre stehe, des
öftern begegnet, daß gute Freunde, Collegen und Studenten, sich aus meiner
Bibliothek Bücher borgeten — sonderlich kostbare, so auf hiesiger Universitäts¬
bibliothek nicht vorhanden —, selbige lasen oder excerptiereten, alsdann aber zurück¬
zugeben vergaßen. Wenn ich sie an ihre Pflicht gemahnete, wollten sie, da sie sich
ihrer Liederlichkeit schämten, gewöhnlich nichts davon wissen, schworen hoch und
heilig, es müsse ein andrer gewesen sein, oder stellten sich gar darüber beleidigt,
daß ich ihnen eine so unverzeihliche Nachlässigkeit zutrauen könnte. Und wenn sie
auch gedachte Bücher noch in guter Verwahrung hatten oder bei irgend einer Ge¬
legenheit unter ihren eignen wiederfanden, so brachten sie selbige nun erst recht
nicht wieder, weil sie sich scheuten, ihr Unrecht und ihre Vergeßlichkeit einzugestehen.
Des weiteren habe ich nicht minder häufig erleben müssen, daß fremde Reisende,
darunter solche von Rang und Stand, denen ich meine Sammlungen vorwies, das
eine oder andre Stück, sei es eine Münze von unschätzbarem Wert, sei es eine kost¬
bare Mineralstufe, ein Fossil oder ein anatomisches Präparat, in einem unbewachten
Augenblick zu sich steckten, wobei es dahingestellt bleiben mag, ob sie solches aus
gemeiner Hab- und Stehlsucht taten, oder sich ein wohlfeiles Andenken an mich zu
verschaffen, oder etwaige Zweifel an der Echtheit meiner Kostbarkeiten durch eine
geheime genauere Untersuchung zu beheben trachteten. Die Übeln Erfahrungen, die
ich in dieser Hinsicht gemacht, haben mich auch bewogen, meinen wertvollsten Schatz,
den großen bengalischen Diamanten von 6400 Karat, der mit seinem Wert von
704 Millionen Talern ein ganzes Königreich repräsentiert, nur einigen wenigen
fürstlichen Besuchern und meinen beiden Freunden, nämlich dem Abt Henke und dem
Hofrat Fein, zu zeigen.
Um mich nun gegen solche Verluste zu sichern, habe ich in den Schriften der
chaldäischen und indischen Magier, nicht weniger in den Werken des Albertus
Magnus, des Theophrastus, des Olaus Borrichius und vieler andrer eifrig nach
einem Mittel gesucht, wie man ein Ding, so man in Verwahr und Eigentum gehabt
und so durch einen andern mit hinweggenommen worden, nioclo ii^xsrxli^Sipo
möchte zurückerhalten, habe selber auch fleißig experimentiert und als den endlichen
Preis unausgesetzter Bemühungen eine Salbe erlangt, die sich bei sorgfältiger An¬
wendung trefflich bewähret, also, daß mir von da an gute Freunde und curieuse
Durchreisende, die Bücher, Münzen, Preziosen oder dergleichen aus meinem Hause
mit von dannen geführet, selbige nach kurzer Frist haben zurückbringen müssen. Ja,
es mag verwunderlich klingen: Gedachte Salbe übet eine so starke chemisch-magne¬
tische Kraft, daß auch Menschen, die in das Haus gehören, zum Exempel kairculi
oder Domestiken, wenn sie einmal eine Reise getan oder einen andern Dienst an¬
genommen, nicht lange mögen außenbleiben, sondern, gleichsam als könnten sie
nirgends anders leben, mit reuigem Herzen zurückkehren.
Zu gedachter Salbe sind aber dreiunddreißig inZröäisQtia Vonnöten, die genau
in der Reihenfolge, wie hier angegeben, in einen eisernen Tiegel getan und bei
konstanten Feuer, am besten in einem Windofen, so lange gekocht werden müssen,
bis es eine dickliche Brühe von silbergrauer Farbe und aromatischen Gerüche wird.
Man nehme: Süße Milch 1 Schoppen, Kandis 8 Lot, Branntwein ^ Schoppen,
^los 1 Lot, orientalischen Safran ^ Quint, Onainxlior ^/^ Lot, ?iisriae 1^ Lot,
^NAsIioa, l^/z Quint, Lsrrg. siKiUg.tÄ 1 Lot, Ossg, thus ckoiri. gebrannt und pulverisiert
3 Lot, Goßlarischen Alaun ^ K, <ürsiv.ortg.rtM 1 Messerspitze, Tormentill
1^/2 Quint, Krebsschalen gestoßen 1 Lot, ?1orss sulxli. 2 Quint, Taubenhirn
2 Lot — hier war das Hintere Vorsatzblatt des ersten Bandes zu Ende, und
Seyler mußte die Fortsetzung des Rezeptes im zweiten suchen. Dort wurde die
Aufzählung denn auch weitergeführt und nach einigen Vorschriften über die Auf¬
bewahrung des Dekokts die ziemlich einfache Gebrauchsanweisung beigefügt. Man
brauche mit der Salbe, so stand da zu lesen, nur die Schwelle des Hauses oder
des Raumes zu bestreichen, dessen Inhalt gegen die Gelüste oder gegen die Ver¬
geßlichkeit fremder Interessenten geschützt werden solle, und müsse den Gebrauch des
Mittels wiederholen, wenn die letzte Spur der Bepinselung verschwunden sei.
Der Antiquar legte die beiden Bücher beiseite und begann in einem der
andern neuerworbnen Bände zu blättern. Aber seine Gedanken kamen von den
Aufzeichnungen des Helmstedter Sonderlings nicht los, und halb unbewußt begann
er deren Lektüre von neuem. Da wurde er, sehr zu seinem Mißvergnügen, durch
Käthchen gestört, die ihm mitteilte, es gehe schon auf neun, und wenn er nicht
bald in die Wohnung heraufkomme, würde der Tee ganz kalt, die Butter weich
und der Schinken trocken sein. Ob er denn gar keinen Hunger spüre? Oder ob
er ihr zumute, so lange mit dem Abendbrot zu warten, bis er den ganzen Bücherstoß
durchgelesen habe? Mit seinen guten Vorsätzen scheine es nicht weit her zu sein,
denn wenn er die Leserei doch wieder fortsetze, so werde er nie und nimmer auf
einen grünen Zweig kommen.
Der Onkel ließ diese Philippika geduldig über sich ergehn, weniger weil er
einsehen mochte, daß seine Nichte im Rechte war, als weil die heitere Gelassenheit
seines Gemüts ihn wider alle Anfechtungen wirksam schützte. Er legte die Bücher
in sein Pult, befestigte die schweren hölzernen Schutzläden vor dem Schaufenster,
drehte die Lampe aus und folgte, nachdem er die Ladentür abgeschlossen hatte, dem
Mädchen in die Wohnung.
Als sich die beiden bei Tisch gegenüber saßen und ihr bescheidnes Abendbrot
verzehrten, hielt Käthchen den Augenblick für günstig, den Onkel schonend mit einer
Tatsache bekannt zu machen, die zunächst ihre eigne kleine Person betraf, die aber
auch für ihn von einiger Bedeutung sein mußte.
Siehst du, Onkel, begann sie vorsichtig, es Wäre gut, wenn du dich allmählich
ein wenig mehr an Ordnung und an ein geregeltes Leben, wenigstens was das
Pünktliche Zutischgehn anlangt, gewöhnen wolltest.
Aber, liebes Kind, komme ich denn nicht immer, sobald du mich rufst? ant¬
wortete er halb vorwurfsvoll, halb belustigt.
Ja, das schon. Aber es könnte doch einmal die Zeit kommen, wo du in dieser
Beziehung für dich selber sorgen müßtest. Denn ewig kann ich ja doch nicht bei
dir bleiben. ^
Nein, ewig allerdings nicht. Mit der Ewigkeit dürfen wir sterblichen Menschen
nicht rechnen. Wie alt bist du eigentlich jetzt?
Im Februar zwanzig geworden.
Und gesund bist du doch auch?
O ja. Gesund bin ich schon.
Nun also! Du kannst mit Leichtigkeit achtzig Jahre alt werden. Dann hätte
ich dich immer noch sechzig. Das heißt, ich bin ja ein Vierteljahrhundert älter als
du, da wirst du dich, vorausgesetzt, daß ich nicht schon viel früher sterbe, mindestens
fünfundzwanzig Jahre ohne mich behelfen müssen.
Wir wollen gar nicht vom Sterben reden, Onkel. Ich könnte dich doch aber
auch so eines Tages verlassen.
Seyler lachte vergnügt auf.
Damit machst du mir nicht bange, Mädel, sagte er zuversichtlich. Ich weiß
doch, wie du an mir und an unserm behaglichen Lädchen und an den Büchern
hängst. Oder willst du dir etwa eine Stelle in einem andern Antiquariat suchen?
Nein, daran denke ich gar nicht. Wenn es mir vom Schicksal bestimmt wäre,
mein ganzes Leben unter alten Büchern zu verbringen, so bliebe ich natürlich am
liebsten bei dir, Onkel.
Du willst also unter neue Bücher? In ein Sortiment oder in einen Verlag?
Daran denke ich noch weniger.
Nun siehst du! Dann bin ich beruhigt. Was könnten dir auch die neuen
Bücher bieten! Im besten Falle aufgewärmtes Alte. Es ist ja alles früher schon
viel besser geschrieben und unvergleichlich viel besser gedruckt worden!
Käthchen betrachtete den Onkel eine Weile mit stiller Verzweiflung. Daß sich
die Gedanken dieses eingefleischter Junggesellen durchaus nicht in die Bahn ein¬
lenken lassen wollten, auf der ihre eignen Wünsche und Hoffnungen so leicht und
schnell dahinflogen! Sie rührte ungeduldig in ihrer Teetasse und ging beherzt zu
dem Kern- und Hauptpunkt ihrer Eröffnung über.
Ich sehne mich weder nach dem Sortiment noch nach dem Verlag, lieber
Onkel, sagte sie, aber schließlich werde ich doch einmal heiraten.
Er sah sie groß an.
Heiraten? wiederholte er, ist das durchaus nötig? Hast du es bei mir nicht
tausendmal besser als bei einem Manne, den du womöglich gar nicht einmal
näher kennst?
Einen Wildfremden würde ich natürlich nicht nehmen, erwiderte sie, froh, daß
er keinen triftigern Gegengrund ins Feld führte.
Kennst du denn überhaupt einen Mann näher? fragte er, fest überzeugt, daß
er durch diesen Einwand ihrem Lustschlosse die reale Basis entziehe.
Allerdings. Den Doktor Waetzold.
Den? Nun, das ist kein übler Mensch. Aber wie kannst du annehmen, daß
er dich will?
Ich nehme es an, weil er es mir gesagt hat.
So — so! sagte der Antiquar gedehnt, er hat dir also einen Antrag gemacht!
Davon habe ich ja gar nichts bemerkt!
Er kam gestern gerade, als du zur Auktion gegangen warst.
Ich kann mir schon denken, was er wollte, bemerkte Seyler mit geheimer
Genugtuung, er hat sicher wieder nach Voigts Wiederbelebung des klassischen Alter¬
tums gefragt.
Nein, danach hat er diesmal nicht gefragt, berichtete Käthchen der Wahrheit
gemäß. Als er merkte, daß du nicht da warst, meinte er, wir könnten ja auch
einmal über andre Dinge reden als nur über Bücher. Er ginge in acht Tagen
in die großen Ferien, und nachher zöge er dann nach Halle, und deshalb wolle
er Abschied von mir nehmen. Ich solle doch so gut sein und ihm zum Abschied
die Hand geben. Das tat ich denn auch und gab sie ihm, und da fragte er, ob
er sie nicht gleich behalten könne. Er habe eine hübsche Bibliothek, und da brauche
er nachher auch eine — eine Frau, die mit Büchern umzugehn wisse.
Aha! Uwe iUas laorünas! rief der Onkel, indem er sich die Hände rieb,
nun kann ich mir die Geschichte erklären! Er braucht eine Bibliothekarin. Nun,
das ist kein übler Posten. Ich glaube, da kannst du ruhig ja sagen.
Das habe ich schon getan, Onkel. Sieh, ich hätte dich ja eigentlich fragen
sollen. Aber der arme Mensch hatte es so sehr eilig. Und da hab ich ihm den
Gefallen getan und ihm gleich Bescheid gegeben. Er läßt sich dir auch schönstens
empfehlen.
Danke, danke! sagte der Onkel nachdenklich, dieser Waetzold! Nicht genug damit,
daß er nur die besten Bücher ausführt, er holt mir auch noch mein Käthchen weg!
Man kann sich doch nie genug vorsehen. Ich freue mich übrigens, daß es kein
andrer ist. Wer weiß, wohin du sonst geraten wärest. Bei ihm wirst du, soweit
ich ihn kenne, eine wirklich gediegne Bibliothek finden.
Das war kein übermäßig starker Trost, aber er reichte hin, Herrn Polykarp
Seyler über die traurige Tatsache hinwegzuhelfen, daß er über kurz oder lang
seine Nichte verlieren sollte.
(Fortsetzung folgt)
In Nordschleswig hat sich die Lage etwas hoffnungsvoller gestaltet, als nach
dem unglücklichen Auftreten des Oberpräsidenten v. Bülow angenommen werden
konnte. Gar zu deutlich hat sich doch herausgestellt, daß es nicht richtig war, der
freundlichen, diplomatischen und höfischen Annäherung zwischen Berlin und Kopen¬
hagen ein übereiltes Entgegenkommen in unserm internen Nationalitätenstreit folgen
zu lassen. Wenn wir einem Nachbarstaat, dessen König und Regierung uns guten
Willen zeigen, gern die Hand reichen und jede mit unsrer Würde vereinbarte
freundliche Rücksicht erweisen, so folgt daraus noch nicht, daß wir diesem Staat
zuliebe unser gutes Hausrecht ungewahrt lassen und unsre Staatsautorität von
pflichtvergessenen Untertanen verhöhnen lassen sollen. Es war ein Glück für die
deutsche Sache, daß die deutsche Bevölkerung in Nordschleswig ihren Standpunkt
mit solcher Festigkeit und Besonnenheit vertreten hat. Sie ließ sich nicht ins Un¬
recht setzen, obwohl die Versuchung zu einer scharfen und erbitterten Opposition
gegen den drohenden neuen Kurs in der nordschleswigschen Politik nahe genug
lag. Fest auf ihrem Recht und ihrem vaterländischen Empfinden fußend, wichen
die Deutschen keinen Schritt zurück, aber sie ließen sich auch nicht zu leidenschaft¬
lichen Kundgebungen und Maßregeln fortreißen, sondern bewiesen der Regierung
an den Tatsachen, wie sehr sie Recht gehabt hatten. Denn die Dänen stürmten
nun wie eine wilde Meute gegen das Tor, das ihnen der Oberpräsident mit seinem
„Bruderkuß" unvorsichtig geöffnet hatte. Die Maßlosigkeit der dänischen Hetzpresse
und die ruhige Festigkeit der deutschen Bevölkerung bauten der Regierung die
Brücke zum Rückzug. Denn ein so entschlossener Widerstand, ein so verzweifelter
Ingrimm, eine so mühsam verhaltne Erbitterung auf der Seite der Deutschen konnte
ebensowenig ohne Eindruck bleiben, wie es eine preußische Staatsbehörde verant¬
worten konnte, daß ihr wohlmeinendes Entgegenkommen mit so frechem Hohn und
solchen Herausforderungen von dänischer Seite beantwortet wurde. Gegen diese
offenbare Illoyalität Nachsicht zu üben, war eine Sache, die kein Vertreter der
preußischen Staatsgewalt gemeint haben konnte, wenn er auch von Versöhnung und
brüderlichen Begrüßungen sprach. So war der Weg freigegeben, sich von un¬
vorsichtiger Überschwenglichkeit wieder zu praktischem Staatsbewußtsein und zu den
harten Notwendigkeiten der Realpolitik zurückzufinden. Jetzt war es leichter, den
Dänen zu erklären, daß es so nicht gemeint gewesen sei, daß von einem weitern
Entgegenkommen nur unter der Voraussetzung der Loyalität auch auf der andern
Seite die Rede sein könne, wobei man freilich vorher besser hätte orientiert sein können,
daß auf diese Loyalität nicht zu rechnen war. Indessen, wenn auch dieses Abirren
vom rechten Wege bedauerlich erscheinen muß, so bleibt doch die Hauptsache, daß
noch rechtzeitig die richtige Erkenntnis zum Durchbruch gekommen ist, welch schwerer
Fehler eine wirkliche Schwenkung in der innern nordschleswigschen Politik jetzt
sein würde.
So konnte der Schein einer verhängnisvollen Schwenkung noch glücklich ver¬
mieden werden, und die Brudergrußrede des Oberpräsidenten konnte als eine ver¬
einzelte Entgleisung gelten, wenn auch Schaden genug dadurch angerichtet worden
ist. Ja es scheint sogar, als bestünde das Bestreben, den Übeln Eindruck ausgiebig
wieder gut zu machen. Der Vorsitzende des „Deutschen Vereins für das nördliche
Schleswig", Landrichter Dr. Hahn in Flensburg, konnte in einer Vorstandssitzung
berichten, daß er wichtige Zusagen von dem Oberpräsidenten erhalten habe. Diese
Zusagen sind so bedeutsam, daß sie in der Form, wie sie von dem genannten Verein
wiedergegeben worden sind, wohl auch an dieser Stelle der besondern Mitteilung
wert sind. Danach handelt es sich um folgende Punkte:
1. Die Landesgrenze bleibt immerdar an der Königsau.
2. Die Sprachanweisungen vom 18. Dezember 1888 bleiben felsenfest bestehen.
Die Volksschule ist und bleibt deutsch.
3. Neue Naturalisationen, die der Jannarvertrag nicht gebietet, erfolgen nicht,
ebensowenig auch Nachgiebigkeiten ähnlich dem Falle Finncmann. Ausländer, die
zum Zwecke der Agitation die Landesgrenze überschreiten, sollen ferngehalten werden.
Hier seßhafte Ausländer, die Übergriffe begehn, werden verwarnt, eventuell aus¬
gewiesen.
4. An die Ausweisung der kommissarischen Amtsvorsteher wird nicht gedacht.
5. Bedeutende staatliche Mittel werden beantragt werden zur Förderung der
bisherigen deutschen Zwecke, zur planmäßigen Kräftigung und Vermehrung des
Deutschtums, namentlich zur Kolonisation, zur Kreditgewährung, zur Errichtung und
reichen Stipendierung deutscher Volkshochschulen, zur Gewährung einer auskömmliche»
Nordmarkszulage für die Volksschullehrer und zum Bau von Dienstwohnungen.
Der letzte Punkt in diesen Zusagen ist von besondrer Bedeutung. Es wird
ein aktives Vorgehen gegen das irredentistische Dänentum geplant. Die Dänen
haben das der Dreistigkeit zu verdanken, mit der sie ihre letzten Ziele enthüllen
und darauf hinarbeiten. Erst kürzlich hat sich wieder der Reichstags- und Land¬
tagsabgeordnete H. P. Hanffer, dem seiner Zeit von einem preußischen Gerichtshof
bescheinigt wurde, daß seine Tätigkeit sich nicht mit dem Treueid, den er als Mit¬
glied des preußischen Abgeordnetenhauses dem König geleistet habe, vereinigen lasse,
an irredentistischen Kundgebungen in Dänemark beteiligt. Wenn man das Auftreten
dieses „deutschen" Parlamentariers auf dänischen Boden, z. B. neuerdings in
Stubbekjöbing auf der Insel Falster, näher betrachtet, kann man nur die Geduld
und die Rücksichtnahme bewundern, die die preußische Regierung diesem aufreizenden,
friedenstörenden, in seinen Zielen landesverräterischen Treiben von Leuten, die von
Rechts wegen preußische Untertanen sind, zuteil werden läßt. Diese Leute sind der
lebendige Beweis, daß von wirklicher Unterdrückung nicht die Rede ist, und wenn
behauptet wird, daß die Gerechtigkeit zu kurz kommt, so kann das nur insofern zu¬
treffen, als die deutschen Interessen nicht immer kräftig und streng genug gegen
Herausforderungen des dänischen Übermuts geschützt werden. Also hoffen wir, daß
der Kurs unsrer innern Dänenpolitik jetzt ein für allemal feststeht, und die Deutschen
in Nordschleswig nicht wieder in die Lage peinlicher Enttäuschung gebracht werden!
Nun steht das Gespenst der Marokkofrage einmal wieder am politischen
Horizont und gibt den Stoff zu recht bunten Betrachtungen. In Wirklichkeit besteht
diesmal kein unmittelbarer Anlaß zur Sorge wegen möglicher Verwicklungen zwischen
den europäischen Mächten. Die Lage ist heute ganz anders als vor der Algeciras-
konferenz, weil sämtliche Mächte auf einer gemeinsam anerkannten Rechtslage fußen
und gar keine Lust haben, sich deswegen ohne Not zu veruneinigen. Immerhin
ist Vorsicht und Wachsamkeit nötig, weil bei dem Fanatismus der Marokkaner mit
ganz überraschenden Zwischenfällen gerechnet werden muß.
Freilich taucht an vielen Stellen auch die Sorge auf, daß durch die neuste
Entwicklung die Algecirasakte vollständig hinfällig werden könnte, und darin er¬
blickt man einen schweren Schlag für das Prestige des Deutschen Reiches. Das
scheint vielleicht auf den ersten Blick einleuchtend, und doch vergißt man dabei,
was die Algecirasakte eigentlich zu bedeuten hat. Ob es Fälle geben kann, die in
den Abmachungen von Algeciras nicht vorgesehen sind, oder ob ihr Inhalt in
einzelnen Punkten über kurz oder lang der Abänderung bedarf, darauf kommt es
ja gar nicht an. Wir müssen uns klar machen, daß wir mit zwei von Hause aus
ganz verschiednen Auffassungen der Marokkofrage zu tun hatten, die nebeneinander
herliefen, und deren Berührungen eigentlich nur Mißverständnisse erzeugten. Die
eine Auffassung entstand aus dem Gedanken, Deutschland bedürfe, seit es afrikanische
Kolonialmacht geworden war, auch in Nordafrika eines Stützpunktes, und das könne
nur Marokko sein, wo die deutschen Handelsinteressen einen zusehends wachsenden
Raum gewannen. Begierig wartete man auf den Augenblick, wo Deutschland seine
Hand auf Marokko legen würde, und daher empfand man das englisch-französische
Abkommen von 1904 als einen schweren Schlag, als eine Niederlage der deutschen
Interessen. Dann kam die Zeit, wo die deutsche Politik dem Versuch Delcassts,
uns auszuschalten, entgegentrat, und nun glaubten die Anhänger jener unter¬
nehmenden Marokkopolitik, es sei die Erfüllung ihrer Wünsche gekommen. Statt
dessen begannen die langwierigen Unterhandlungen, um das Zustandekommen der
Konferenz zu sichern, und dann die Konferenz selbst mit ihren unangenehmen Er¬
fahrungen bei der für Deutschland sehr ungünstigen Gruppierung der Mächte und
mit den Zugeständnissen, die Deutschland machen mußte, wenn nicht die Konferenz
gesprengt werden sollte. Vom Standpunkt einer Aktionspolitik, wie sie von großen
Gruppen nationaler Politiker in Deutschland gewünscht wurde, waren die in
Algeciras erhaltnen Eindrücke sehr unerfreulich. Man hielt in diesen Kreisen das
Ergebnis für eine „Blamage" der deutschen Politik. Wenn nun jetzt neue Ver¬
wicklungen entsteh», die Frankreich zum selbständigen, gewaltsamen Vorgehen gegen
Marokko nötigen, so ist es nicht zu verwundern, daß das Mißvergnügen der ge¬
schilderten Kreise über die Lage in Marokko, das angebliche Fiasko der Konferenz
von Algeciras und die scheinbar unglückliche Rolle der deutschen Politik sehr ver¬
stärkt worden ist.
Nun kann man vielleicht unsrer Regierung bei einzelnen Phasen ihrer Marokko-
Politik manchen taktischen Mißgriff und manchen „Kunstfehler" nachweisen, aber ge¬
recht wird man doch nur urteilen können, wenn man feststellt, daß sich die Regierung
die Ansichten und Wünsche jener Aktionspolitiker niemals, in keinem Stadium
ihrer Marokkopolitik, zu eigen gemacht hat. Sie hat von Anfang an eine ganz
andre Auffassung vertreten, die übrigens in nicht minder gutnationalen Kreisen
vollkommen geteilt und gebilligt worden ist. Sie hat es immer abgelehnt, irgend¬
welche politischen Ziele in Marokko zu verfolgen, dagegen den realen wirtschaft¬
lichen Interessen deutscher Reichsangehöriger in Marokko die größte Aufmerksamkeit
und Fürsorge zugewandt. Nun versuchte Frankreich auf dem Wege einer Ver¬
ständigung mit England ohne Hinzuziehung andrer Mächte eine Lage in Marokko
zu schaffen, die sich mit den deutschen Interessen nicht vertrug. Überdies versuchte
die französische Politik unter Delcasses Führung diese schon inhaltlich den deutschen
Interessen zuwiderlaufenden Bestrebungen in einer Form und Methode zu ver¬
folgen, die sich Deutschland um seines Ansehens und seiner Würde Wille» nicht ge¬
fallen lassen konnte. Dieser Taktik gegenüber befand sich Deutschland in einer
schwierigen Lage. Noch war nichts vorgefallen, was eine direkte Handhabe zum
Einschreiten bot. Vorstellungen zu erheben auf die bloße Beobachtung hin, daß
die französische Politik so handelte, als ob Deutschland nicht vorhanden sei, war
sehr mißlich, denn es führte direkt in den Konflikt mit Frankreich hinein und ließ
dabei Deutschland als deu Angreifer erscheinen. Und doch mußte Frankreich ein
Wink gegeben werden, der ein „Bis hierher und nicht weiter!" bedeutete. Es
wußte ein ganz außerhalb des diplomatischen Verkehrs liegender Akt sein, der mit
der französischen und englischen Politik äußerlich nichts zu tun hatte, aber doch aller
Welt Deutschlands Entschlossenheit zeigte, die Rechtslage in Marokko nicht über
seinen Kopf hinweg ändern zu lassen. Das wurde bekanntlich dadurch erreicht, daß
der Kaiser bei Gelegenheit seiner Frühjahrsfahrt ins Mittelmeer Tanger anlief und
durch den offiziellen Verkehr mit dem zu seiner Begrüßung entsandten Vertreter
des Sultans die Möglichkeit fand, öffentlich die Unabhängigkeit Marokkos und die
Fortdauer seiner direkten Beziehungen zu Deutschland zu betonen. Nun mußte
Frankreich seine Karten aufdecken; es mußte, wenn es weiter wollte, sich mit
Deutschland verständigen oder direkt feindselig auftreten. Durch die Entfernung
Delcasses wählte es den ersten der beiden Wege, und nun war Deutschland seiner¬
seits vor die Entscheidung gestellt, ob es unter der Gunst der Umstände eine direkte
Verständigung mit Frankreich wählen und dadurch vielleicht allerlei Vorteile heraus¬
schlagen, oder ob es in selner Stellung zur Marokkofrage das einmal aufgestellte
Prinzip zäh und beharrlich festhalten solle. Die erste Möglichkeit entsprach, wie
Man wohl ruhig aussprechen darf, den Wünschen der öffentlichen Meinung in
Deutschland, die sich gern draufgängerisch gebärdet; das kostet nichts und gewährt
in jedem Falle die Möglichkeit des Schimpfens. Aber in Wirklichkeit hätte dieser
Weg bestenfalls zu einem glänzenden Scheinerfolg geführt, der die wirklichen deutschen
Interessen preisgab und dafür nicht zu übersehende neue Verwicklungen in sich barg.
Die deutsche Regierung entschied sich für den weniger populären, aber sichrer» Weg,
streng an der einmal gewählten Richtlinie festzuhalten und darauf zu bestehn, daß
die Angelegenheiten Marokkos auf einer internationalen Rechtsgrundlage geordnet
werden müßten.
Wer sich diesen Zusammenhang genau vergegenwärtigt, wird erkennen, daß es
im Grunde außerordentlich gleichgiltig ist, ob die Abmachungen der Konferenz von
Algeciras alle Möglichkeiten genügend vorgesehen haben oder nicht, ob Deutschland
von seinen ursprünglichen Forderungen und Vorschlägen etwas abhandeln ließ oder
nicht, ob die andern Mächte dabei freundschaftlich oder unfreundlich gegen uns auftraten.
Die Hauptsache ist erreicht: die internationale Rechtsgrundlage der Marokkofrage.
Von einer xsustration xg,«ÜMs dnrch eine einzelne Macht, unter Nichtachtung der
deutschen Interessen, kann nun nicht mehr die Rede sein. Wohl kann dieser Vertrag,
wie jede menschliche Abmachung, auf gewaltsamen Wege zerrissen werden. Gewiß!
davor sind wir natürlich niemals geschützt, dazu müssen wir ohnehin immer genügend
gerüstet und auf alle Fälle vorbereitet sein. Aber ein Vorgehen Frankreichs in
Marokko, wie es vor der Konferenz von Algeciras geschah, kann nicht wiederholt
werden. Darum ist es durchaus falsch, die jetzige Lage als ein Wiedererstehn
derselben Schwierigkeiten wie früher anzusehn. Es hat seinen guten Grund, wenn
sich Frankreich diesmal mit uns loyal über sein Vorgehn verständigt hat, und die
gesamte auswärtige Presse, auch in England und Italien, das alles vorurteilsfrei
und ruhig würdigt. Und wir können jetzt, bei der größern Klarheit der Lage,
Frankreich unbedenklich zugestehn, daß es seine Differenzen mit Marokko ebenso
regelt, wie wir es tun würden, wenn die Marokkaner sich ebenso gegen Deutsche
vergangen hätten wie jetzt gegen Franzosen.
Zur allgemeinen Beruhigung hat auch die Kaiserzusammenkunft in Swinemünde
in der erwarteten Weise beigetragen. Über ihre Bedeutung haben wir uns bereits
ausgesprochen. Es muß nur noch nachgetragen werden, daß auch die russische Presse
das Ereignis durchaus in seiner richtigen Bedeutung, d. h. in sympathischer Wür¬
digung der davon ausgehenden günstigen Einflüsse auf die deutsch-russischen Be¬
ziehungen und die internationale Lage, aber ohne Überschwenglichkeiten bespricht.
Wenn einige panslawistische oder unter polnischen Einflüssen stehende Blätter zwar
ebenfalls gute Beziehungen zu Deutschland als eine vorläufige Notwendigkeit be¬
tonen, dabei aber sich nicht enthalten können, zu versichern, daß eigentlich keine
Interessengemeinschaft zwischen Deutschland und Nußland bestehe, so kann man das
zu dem übrigen legen. Daß wir von dieser Seite nichts zu erwarten haben, wissen
wir auch so. Einstweilen gelten noch die wirklichen Bedürfnisse der Weltwirtschaft
an dieser Stelle mehr als Stimmungen und Nasseninstinkte. Ebenso bemerkens¬
wert wie die Haltung der russischen Presse ist auch die der englischen, die die
Begegnung von Swinemünde fast ausnahmslos ruhig und sachlich bespricht und
durchaus zutreffend in freundschaftlicher Weise beurteilt. Eben jetzt findet ja auch
die Begegnung des Königs Eduard mit seinem kaiserlichen Neffen statt und verstärkt
die Eindrücke, die den friedlichen Charakter der Weltlage bezeichnen.
Zwei Bande des enzyklopädischen Werkes,
das Paul Hinneberg unter diesem Titel (bei B. G. Teubner, Berlin und Leipzig)
herausgibt, haben wir so ausführlich besprochen, daß wir uns bei dem uns zuletzt
zugegangnen Bande wohl auf eine kurze Anzeige beschränken dürfen. Es ist der
erste Teil der Abteilung VI und hat die systematische Philosophie zum Gegen¬
stande. (1907; Preis geheftet 10, gebunden 12 Mark.) Wilhelm Dilthey
unterzieht sich der schwierigen Aufgabe, „das Wesen der Philosophie" zu ermitteln.
Eins der Ergebnisse seiner Untersuchung lautet: Die Philosophie „duldet keine
strengen Abgrenzungen durch einen bestimmten Gegenstand oder eine bestimmte
Methode". Alots Riehl legt den gegenwärtigen Zustand der Logik und der
Erkenntnistheorie dar. Wilhelm Wundt leitet seine Abhandlung über die Meta¬
physik humoristisch ein. Er erinnert an ihre Dunkelheit und an die Überzeugung
jedes MetaPhysikers, daß sein System das allein wahre und richtige sei, und bemerkt:
„Diese zwei überlieferten Eigenschaften würden vielleicht schon genügen, die Meta¬
physik in der öffentlichen Meinung der gelehrten wie der ungelehrten Welt zu
diskreditieren, auch wenn nicht als eine dritte Eigenschaft noch die hinzukäme, daß
sie anerkanntermaßen eine gänzlich nutzlose Wissenschaft ist." Nachdem sie nun
auch wirklich eine Zeit lang verachtet gewesen sei, hätten in den letzten Jahrzehnten
auf einmal statt der Philosophen die Gelehrten aller möglichen Fächer angefangen,
Metaphysik zu treiben: die Physiker, die Chemiker, die Zoologen, die Physiologen,
die Juristen, die Nationalökonomen, die Theologen und die Historiker; „nur die
Philologie hat sich, namentlich seit ihr auf dem Felde der Philosophie selbst eine
Tochter in der Kantphilologie erblüht ist, bis jetzt gegen den Sirenengesang der
Spekulation spröde erwiesen, darin unähnlich ihrer Vergangenheit in dem Zeitalter
Kants und Schellings." Diese wunderliche Erscheinung beweist die unüberwindliche
Stärke des metaphysischen Triebes. Dieser ist „der Einheitstrieb der menschlichen
Vernunft selbst, der sich nicht daran genügen lassen will, das Einzelne zu erkennen
und innerhalb der beschränkten Sphäre, der es zunächst angehört, mit anderm
Einzelnen in Beziehung zu setzen, sondern der zu einer Weltanschauung gelangen
möchte, in der die getrennten oder nur lose verbundnen Bruchstücke unsers Wissens
zu einem Ganzen geeint sind". Der MetaPhysiker unter den Zoologen ist be¬
kanntlich Haeckel. Wundt charakterisiert sein System, das er in den „Welträtseln"
dargelegt hat, ganz objektiv, ohne auf die anfechtbaren Einzelheiten einzugehn, und
verweist es in die Region der halb mythischen ionischen Naturphilosophie. „Darum
hätte Haeckel Fühlen und Streben, Anziehung und Abstoßung ebensogut mit Empe-
dokles Liebe und Haß nennen können. Schon der aufgeklärte Demokrit würde
aber wahrscheinlich dieses Weltbild abgelehnt haben, nicht weil es willkürlich ist
— darin blieb ja auch die Atomistik in den Grenzen der dichtenden Metaphysik —,
sondern weil es die innere Einheit der Gedanken vermissen lasse; und der grimme
Heraklit würde über diese Philosophie schwerlich milder als über die seiner andern
Zeitgenossen geurteilt haben. In der Tat gehört diese Spekulation ganz und gar
dem poetischen Stadium der Metaphysik an. Sie bewegt sich in einer Reihe will¬
kürlicher Einfälle und unbestimmter Analogien, bet denen man sich trotz modernen
Anspielungen in die Zeit zurückversetzt fühlt, wo die Kunst des strengen logischen
Denkens noch nicht entdeckt war, und die Positive Wissenschaft sich noch auf ihrer
Ktndheitsstufe befand. Gerade in diesen Eigenschaften besitzen aber die »Welt¬
rätsel« doch wieder einen typischen Wert. Sie zeigen an einem mustergiltigen
Beispiel, daß, wenn jemand, ohne sich viel um das zu kümmern, was die Ge¬
schichte des Denkens bis dahin geleistet hat, frisch und fröhlich daran geht, sich
seine Weltanschauung nach eignem Bedürfnis zu modeln, er immer wieder da an¬
fängt, wo auch die Philosophie angefangen hat, mit Dichtung und Mythus. Den
meisten wird diese Form primitiver Metaphysik durch ihre Religion entgegengebracht.
Wo das nicht der Fall ist, wo der einzelne frei seinen spekulativen Neigungen
nachgeht, da wird aber immer ein solches mehr oder weniger verschwommnes, aus
freier Dichtung und halbvergessenen Mythen zusammengesetztes Gebilde entsteh«, eine
primitive Philosophie in neuem, mit Ornamenten moderner Wissenschaft ausge¬
statteten Gewände." Gewiß eine vortreffliche Charakteristik des Philosophen Haeckel.
Hermann Ebbinghaus belehrt uns über den dermaligen Stand der Psychologie,
Rudolf Eucken über die Philosophie der Geschichte, Wilhelm Münch über die
Pädagogik, Theodor Lipps über die Ästhetik. Die würdige und glänzende
Krönung des inhaltreichen Bandes macht Friedrich Paniscus Betrachtung über
die Zukunftsaufgabeu der Philosophie, worin auch das religiöse Problem in einer
Weise gelöst wird, die viele befriedigen wird. Am Schluß wird mit scharfem Spott
die philosophische Schulgründerei gegeißelt und das Treiben von Leuten, die mit
ganz gewöhnlicher Reklame ihre Augenblickseinfälle zur weltbeherrschenden Philosophie
aufzubauschen versteh«.
In einer der
letzten Nummern der Grenzboten las ich unter obenstebender Spitzmarke von
Beobachtungen, die ein töchterloser Vater an heiratenden und nicht heiratenden
jungen Mädchen der höhern Stände angestellt hat. Ich bin in bezug auf das, was
er von den Ursachen der größern oder geringern Heiratschancen unsrer jungen Damen
sagt, ganz seiner Ansicht, doch finde ich, daß er einige große Hauptsachen keiner
Erwähnung gewürdigt hat. Als Mutter von sechs Töchtern, von denen vier ver¬
heiratet sind, während die beiden Jüngsten noch im Glanz der Backfischjahre prangen,
fühle ich mich berechtigt, auf diesem Gebiet meine Ansichten zu haben und mitzu¬
sprechen und bin gern bereit, aus dem Schatze meiner Erfahrungen einiges aus¬
zukramen, wobei ich jedoch von vornherein erwähnen will, daß wir nicht mit irdischen
Gütern reich gesegnet sind, meine Töchter also vor Mitgiftjägern geschützt waren,
und daß meine Kinder keine besondern Schönheiten zu nennen sind, sondern bloß
„gut aussehen", wie man zu sagen pflegt.
Zuerst die große Frage: Können wir Eltern etwas dazu tun, um unsre Töchter
unter die Haube zu bringen? Ja und nein. Indirekt und bei der Erziehung sehr
viel; direkt gar nichts, falls wir uns vor der Verantwortlichkeit scheuen, Schicksal
spielen zu wollen."
Ich habe meine Töchter niemals „ausgeführt. Ich hasse diesen Begriff und
finde, es liegt etwas Entwürdigendes für die jungen Damen in dieser gewissermaßen
offiziellen Mitteilung an die Welt, daß sie nun erwachsen und zu haben seien, in
dieser Verpflichtung, die wir unserm Verkehrskreise auferlegen, für das Bekannt¬
werden unsrer Töchter zu sorgen, in dieser Warenauslage in den Schaufenstern.
Ohne daß wir jemals im eigentlichen Sinne des Wortes „Haus gemacht" haben,
standen aber unsre Türen allen Bekannten unsrer Kinder, den jungen Mädchen
ebenso wie den jungen Herren offen, und wir hatten dadurch immer einen regen,
sehr netten und völlig zwanglosen Verkehr in unserm Hause. Diese Art von Gesellig¬
keit bringt ja dadurch, daß man oft unerwartet und unvorbereitet besucht wird,
einige Unbequemlichkeiten für die Hausfrau mit sich, dasür aber werden keine großen
Anforderungen an die Bewirtung gestellt, und unsern Gästen wird das angenehme
Gefühl gegeben, keine Umstände zu machen.
Dies aber ist auch das einzige, was wir an Greifbaren für die Zukunft unsrer
Töchter getan haben, das übrige haben sie selbst besorgt. Verloht haben sie sich
alle ohne mein Zutun, ganz „von alleine". Wie ihnen denn das so leicht gelungen
ist? Ja, sie haben sich an das Rezept des oben erwähnten töchterlosen Vaters ge¬
halten, sie haben von ihrem Kapital von Herzensgüte, das ihnen die freundliche
Natur verliehen, reichliche Zinsen in Scheidemünze als Liebenswürdigkeit in Hans
und Gesellschaft ausgegeben, und sie mögen im tiefsten Grunde ihrer Seele nie an
ihrer Zukunft als einstige Frauen gezweifelt haben, setzten sich nicht in falschem
Stolz den männlichen Annäherungsversuchen als Roll ins tanxsrs entgegen. Doch
sind diese beiden Punkte allein Wohl noch nicht ausschlaggebend.
Ich habe in meinem Leben immer wieder Gelegenheit gehabt, zu beobachten,
was für einen großen Reiz Natürlichkeit, Unmittelbarkeit, Harmlosigkeit und Un-
bewußtheit ausüben, und es entsteht für uns Eltern die Frage: Was können wir
in der Erziehung tun, um unsern Töchtern diese Mitgift der Natur zu erhalten?
Anmut, dieses köstlichste Geschenk, bekommen ja nicht alle Mädchen in die Wiege
gelegt, sie können wir weder erlangen noch uns erhalten, wenn sie uns versagt
wurde. Doch jene Gaben wurden uns allen gleichmäßig geschenkt, wir verlieren sie
aber meist bald wieder, entweder durch ungünstige Umstände oder durch unsre Er¬
ziehung, wenn wir zu Vorsicht und Mißtrauen gegen unsre Mitmenschen aufgefordert,
uns zu früh die Augen über sie geöffnet wurden, wenn wir lernten, bei allem, was
wir tun und sagen, den Eindruck zu bedenken, den unser Wort und Wesen auf die
andern machen würde, wenn den Mädchen im Zusammensein mit Knaben entweder
unnötige Prüderie und übertriebne Reserve oder ein entschiednes Entgegenkommen
nahegelegt wird, wenn wir die Leute in unsrer Gegenwart über unser Aussehen
oder Wesen sprechen hörten, kurz, wenn erstens Menschenliebe und -vertrauen nicht
gepflegt werden oder die Eitelkeit zu laut wachgerufen wurde. Eitelkeit aber ist
meiner Ansicht nach die schlimmste Feindin der Natürlichkeit, sie ist so oft die Quelle
der Reflexion über uns selbst, sie macht uns unfrei, unwahr, bewußt, absichtlich, nach
Schein haschend, sie zu unterdrücken müßte eine der Hauptaufgaben der Erziehung
sein. Wahrhaft glücklich wird erst der, der von sich selbst loskommt, der sich dank
einer weisen Erziehung und eigner Selbstzucht so zu geben vermag, wie er ist,
selbst glücklich und beglückend für die, mit denen er in Berührung kommt. Wie
überall, suchen wir auch im Menschen die Natur, das Wahre, und wie ein er¬
frischender Quell im Walde wirkt es ans uns, wenn wir einem Geschöpf begegnen,
das uns frisch aus der Hand der Natur zu kommen scheint.
Zur Natürlichkeit gehört bei der Frau auch die Weiblichkeit. Etwas andres
sein zu wollen als das, wozu die Natur uns gemacht hat, ist nicht nur unschön,
unklug, es ist auch unwahr. UnWeiblichkeit steht darum keiner Fran gut zu Gesicht;
wenn sie anziehend sein soll für den Mann, so muß das andersartige in ihr, das,
was sie vor ihm voraus hat, hervorgehoben sein, nicht das, was sie ihm gleich
machen soll.
Einen großen Fehler begehn meiner Ansicht nach die Mütter oft in der
Toilettenangelegenheit ihrer Töchter. Ich meine damit nicht nnr, daß sie aus der
Kostbarkett der Gewänder einen Rückschluß auf die Eitelkeit und die nicht haus¬
hälterischer Eigenschaften der Trägerinnen provozieren, sondern ich habe dabei auch
Me ausfallenden Toiletten im Auge, die den Blick von der Persönlichkeit auf deren
Kleidung abziehn. Die Toilette ist meiner Meinung nach die beste, die in keiner
Weise als eigner Wert hervortritt, die nur dazu da ist, die Erscheinung der Trägerin
ins beste Licht zu rücken, zur Geltung zu bringen, die nur Mittel zum Zweck sein
will. Es sei denn, daß die Persönlichkeit eine so reizlose ist, daß man gut tut, die
Blicke von ihr ab auf ihr drum und dran zu lenken, wenn die schöne Hülle ein
Trost für den geschmacklosen Kern sein soll.
Doch nun genng von dem, was die Heiratschancen unsrer Töchter mehren
oder vermindern kann. Die Hauptschuld an der Tatsache, daß so viele allerliebste
Mädchen sitzen bleiben, tragen doch die Verhältnisse unsrer Zeit und die dadurch
Vielfach hervorgerufne Heiratsschen unsrer Herren. Doch das ist ein Kapitel für
sich, das hier nicht weiter erörtert werden soll.
Nur noch auf eine große Schwierigkeit in der Mädchenerziehung will ich
hindeuten. Wie löst man das Problem, wie vereinigt man es, den jungen Mädchen
den Glauben an ihren zukünftigen Beruf als Frauen und Mütter zu bewahren
und sie zugleich so zu beeinflussen, daß sie danach streben, brauchbare, tüchtige,
ganze Menschen zu werden auch ohne Erfüllung jenes Lebenszweckes? Man soll
in ihren Gemütern die natürliche Auffassung der Ehe als dem seligmachenden
Schicksal der Frau erhalten und sie zugleich zu einem sie befriedigenden andern
Es ist ein überraschend dicht gefülltes
Bild der Teilnahme von Geistlichen und dann besonders von genossenschaftlich ver¬
einigten Bürgern und Schülern an dem musikalischen Schmuck des ältern sächsischen
Gottesdienstes in den größern und namentlich auch sehr vielen kleinern Orten des
alten Kursachsens, das uns soeben Johannes Rautenstrauch in seinem Buche
Luther und die Pflege der kirchlichen Musik in Sachsen (Leipzig, Breitkopf
und Härtel, 1907) zeigt. Mit Bienenfleiß hat er allerhand literarische und archivalische
Notizen zu seinem ausgedehnten Mosaikwerke gesammelt: Organisationen, ihre Finanzen,
ihr künstlerisches Bestreben, ihre Schicksale namentlich vom sechzehnten bis zum acht¬
zehnten Jahrhundert werden in großer Menge lebendig, vom Harz bis zum Riesen¬
gebirge, besonders aber im Gebiete des heutigen Königreichs Sachsen. Einige Seiten
über die Ausläufer dieses alten Lebens im neunzehnten Jahrhundert und über Luthers
bekannte Stellung zur Musik lassen die Wahl des Titels berechtigt erscheinen.
Das Seite 15 zitierte, im Grunowschen Verlag erschienene Handbuch der Musik¬
geschichte ist nicht von „Arrey und Donner", sondern von Arrey von Donner verfaßt.
Verbreitung r!k8 väo! über liis
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or kurzem wurde die politische Welt mit der Nachricht überrascht,
daß sowohl Rumänien wie Griechenland und zwar zu derselben
Zeit die wirtschaftlichen Repressalien widerrufen habe, mit denen
sie sich gegenseitig bedacht hatten, um in ihrem Konflikte den
andern Teil zur Unterwerfung zu zwingen. Wohl etwas voreilig
knüpften die Zeitungen an diese Nachricht die Bemerkung, daß nunmehr der
schon seit mehr als zwei Jahren währende Konflikt beigelegt sei. denn man
hat auch bis heute noch nicht gehört, welches die nähern Bedingungen des
Friedensabschlusses seien. Die Forderung, die Rumänien erhoben hatte, und
über die es zum Bruche zwischen den beiden Staaten kam, bestand darin, daß
Griechenland dem Unwesen der auf griechischem Gebiete gebildeten und zum
Teil von aktiven griechischen Offizieren befehligten Banden in Mazedonien ein
Ende mache, und daß es das ökumenische Patriarchat in Konstantinopel ver¬
anlasse, sich der Anwendung des im Mai 1905 unter hervorragender Mit¬
wirkung Deutschlands erlassenen Jrades des Sultans nicht länger zu wider¬
setzen, laut dem den Kutzowalachen oder Mazedorumänen, wie sie in Rumänien
genannt werden, die rumänische Nationalität zuerkannt wurde, wodurch diese
das Recht erlangten, sich in Schule und Kirche der rumänischen Sprache statt
der bisher üblichen griechischen zu bedienen. Gegenüber dieser Forderung erhob
Griechenland den Einwand, daß es unwahr sei, daß es die Bildung von
griechischen Banden begünstige, und ferner, daß es auf die Entschließungen des
Patriarchats, das eine vollständig unabhängigeMrperschaft sei, keinen Einfluß
ausüben könne.
Diesen beiderseitigen Standpunkt haben die zwei gegnerischen Staaten trotz
aller freundschaftlichen Bemühungen der Mächte, eine Aussöhnung zu vermitteln,
bisher auch beibehalten. Wenn nun ohne eine wenigstens bis heute in die
Öffentlichkeit gelangte Nachgiebigkeit Griechenlands sich Rumänien bereit erklärt
hat, in dem aus Anlaß jenes politischen Konflikts mit Griechenland geführten
Wirtschaftlichen Kampfe — worin, da der Handel Griechenlands mit Rumänien
weit bedeutender ist als umgekehrt der rumänische mit Griechenland, Rumänien
der weniger leidende Teil war — die verfügten Maßregeln zurückzuziehn, so
ist darin wohl zunächst das Bestreben des seit dem Kabinettswechsel vom März
dieses Jahres wiederum das Staatsruder lenkenden alten Sturdza erkennbar,
die Schroffheit des von dem frühern Kabinett Cantacuzino geführten Kampfes
zu mildern, um auf einer freundlichern Basis wegen der Beilegung des Konflikts
mit Griechenland zu verhandeln.
Nicht ganz ohne Zusammenhang mit diesem Schritte dürfte jedoch die
wenig Tage später von der Hohen Pforte an die griechische Regierung gerichtete
Note sein, worin diese in sehr energischen Worten ermahnt wird, dem griechischen
Bardenwesen in Mazedonien ein Ende zu machen und sämtliche griechische
Offiziere, die sich bei den Banden befinden, abzuberufen. Es mag hierbei daran
erinnert werden, daß Sturdza einige Zeit, bevor er wiederum zur Leitung des
rumänischen Kabinetts berufen wurde, in Konstantinopel weilte, und daß schon
damals seine Reise dorthin mit der Beilegung des Konflikts in Beziehung ge¬
bracht wurde. Es ist sehr leicht möglich, daß Abmachungen zwischen Rumänien
und der Türkei bestehen, nach denen diese es unternommen hat, die durch die
griechischen Banden fortgesetzt gestörte Ruhe in Mazedonien in energischer Weise
wiederherzustellen und den: Jrade zur Respektierung zu verhelfen, das der
Großherr zugunsten der Mazedorumänen erlassen hat. Denn die Umtriebe der
Griechen find darauf gerichtet, das Jrade zu durchkreuzen und dessen Nicht¬
beachtung zu erzwingen; mit ihren Operationen gegen die mazedorumänischen
Gemeinden, die sie wieder unter den griechischen Kultus nötigen wollen,
rebellieren sie zugleich gegen die Anordnungen des Sultans in einer von diesem
noch beherrschten Provinz. Daß ein augenfällig gutes Einvernehmen zurzeit
zwischen der Türkei und Rumänien besteht, kann man auch aus den Freund¬
schaftsbezeugungen ersehen, die die Souveräne der beiden Staaten gegenseitig
letzthin ausgetauscht haben: sie sandten sich unter Entfaltung eines besondern
Gepränges ihre höchsten Orden. Es ist also wahrscheinlich, daß Sturdza die
wirtschaftlichen Repressalien gegen Griechenland zurückgezogen hat im sichern
Vertrauen darauf, daß nunmehr die Pforte die rumänische Forderung als die
ihrige ansehen und sie erzwingen werde, ja vielleicht ist ihm dies sogar ver^
briefe worden.
Um die ganze, nicht uninteressante Streitfrage zwischen Rumänien und
Griechenland, die die politische Welt schon des öftern lebhaft bewegt hat, zu
verstehn, muß man einen Blick auf die Vergangenheit werfen. An den Ab¬
hängen des Pindus leben mehr als 300000 rumänische Stammesgenossen, mit
denen sich die Rumänen im Königreiche, was Nationalität und Kultur anlangt,
verbunden fühlen. Schon im Jahre 1893 trat die rumänische Regierung an
die Pforte mit dem Ersuchen heran, diesen Mazedorumänen, die in religiöser Be¬
ziehung dem ökumenischen Patriarchat unterstehn und fast durchweg griechische
Seelsorger haben, selbständige Kirchengemeinden zu gewähren und ihnen die Er¬
laubnis der Abhaltung des Gottesdienstes in rumänischer Sprache zu geben.
Es begab sich damals zu derselben Zeit eine Delegation von Mazedorumänen,
an deren Spitze sich der Pfarrer Balamaci aus Koritza in Albanien befand,
mit einer die Forderung der rumänischen Negierung unterstützenden, von sieben¬
tausend Personen unterzeichneten Bittschrift nach Konstantinopel. Die Verhand¬
lungen mit dieser Delegation zogen sich über ein Jahr lang, während welcher
Zeit diese in Konstantinopel blieb, hin, und es gab Augenblicke, wo sie sich des
Erfolges schon sicher wähnte. Es war die Rede davon, daß die Mazedorumänen
ein kirchliches Oberhaupt erhalten sollten, entweder mit dem Sitze in Konstan¬
tinopel oder in Bitolia, und man war bereits auf der Suche nach einer ge¬
eigneten Persönlichkeit hierfür; doch zerschlugen sich alle diese Verhandlungen
schließlich, und zwar weil das ökumenische Patriarchat, beseelt von dem Wunsche,
die Mazedorumänen der griechischen Propaganda in aller und jeder Beziehung
anzugliedern, einen offnen und geheimen Widerstand der auf kirchliche Selb¬
ständigkeit der Mazedorumänen gerichteten Forderungen entgegensetzte, und weil
die Hohe Pforte Furcht hatte, daß sie, wenn sie diese Forderungen bewilligte,
beschuldigt werden könnte, ein Schisma in der rechtgläubigen Kirche herbei¬
geführt zu haben.
Um die Mazedorumänen für das Scheitern ihrer Hoffnungen einigermaßen
zu entschädigen und ihnen das Interesse zu bekunden, das die rumänische Regie¬
rung an der Aufrechterhaltung und Förderung ihrer rumänischen Nationalität
nehme, ließ darauf die rumänische Negierung in den verschiednen Teilen Maze¬
doniens mit ihrer Unterstützung rumänische Ephorien errichten, denen die Leitung
der Schulen, die die damalige rumänische Negierung in rascher Folge ins Leben
rief, sowie die Leitung der religiösen Bewegung obliegen sollte; ja der damalige
rumänische Kultusminister Tale Jonescu trug sich sogar mit der Idee der
Schaffung einer höhern mazedorumänischen Schule, einer Art kleiner Universität,
in Konstantinopel.
Als jedoch im Jahre 1895 die Liberalen in Rumänien ans Ruder kamen,
wurde der eben eingeschlagne Weg wieder verlassen, und die Delegation der
Ephorie in Bitolia, die nach Bukarest gekommen war, um die Beibehaltung
dieses Weges zu erbitten, wurde unter Drohungen zur sofortigen Wiederabreise
genötigt. Die Folge war ein großer Wirrwarr unter den Mazedorumänen und
eine Flut gegenseitiger Beschuldigungen, wovon die Griechen, die von jeher
die Mazedorumänen für ihre Nationalität zu gewinnen trachteten, ja sich schon
daran gewöhnt hatten, sie als ihre Stammesbrüder zu bezeichnen, nach Kräften
Nutzen zu ziehen suchten.
Drei Jahre später sahen die Liberalen, durch die inzwischen gemachten Er¬
fahrungen gewitzigt, den begangnen Fehler ein und suchten die Gemüter der
Mazedorumänen durch Bezahlung ihrer für die Erhaltung der Schulen und der
Ephorien gemachten Schulden zu beruhigen, und als dann später wieder die
Konservativen die Negierung übernahmen, warfen diese von neuem bedeutende
Summen für die Errichtung von rumänischen Volksschulen und einiger rumänischer
Lyzeen in Mazedonien aus.
Dies änderte sich wiederum, als im Jahre 1901 die Liberalen wieder zur
Regierung berufen wurden. Die für die rumänischen Schulen in Mazedonien
im Etat stehenden Summen wurden um mehr als die Hälfte ermäßigt, die
namentlich nach der griechischen Grenze zu liegenden Primärschulen zu einem
großen Teil wieder aufgehoben und von den vorhandnen sechs Sekundärschulen
drei ausgelassen. Damit wurde eine große Anzahl von Lehrern brotlos ge¬
macht, und die Mazedorumänen wurden aufs neue an ihren Stammesbrüdern
nördlich von der Donau irre. Es wurde damals viel von einer rumänisch¬
griechischen Allianz gesprochen, König Karol traf in Abbazia mit dem König
Georg zusammen, und die rumänischen und die griechischen Studenten tauschten
gegenseitige Besuche in Athen und Bukarest aus. Der Preis einer solchen
Allianz konnte aber, wie weiterschauende sogleich richtig vermuteten, für Rumänien
nur in der Preisgabe der Mazedorumänen und in der Auslieferung dieser an
das Hellenentum bestehn. Bald wurden denn auch von Griechenland aus¬
gehende dahinzielende Aspirationen bemerkbar, und die Rumänen, die vor kurzem
noch eine Allianz mit den Griechen laut gepriesen hatten, fingen an einzusehen,
daß um diesen Preis, um den Verrat an ihrem verlassenen Bruderstamm, eine
solche Allianz zu teuer erkauft sei.
Unter dem Drucke dieser täglich mehr erstarkenden öffentlichen Meinung
sah sich auch das damalige Kabinett Sturdza zum Wiedereinlenken veranlaßt.
Man fing an, die Freundschaft mit Griechenland lauer zu behandeln, dagegen
erneute Summen für die Wiedereröffnung der geschlossenen rumänischen Schulen
in Mazedonien auszuwerfen, den dortigen notleidenden Lehrern und Geistlichen
ihre Gehalte nachzuzählen und sie, sofern sie nach Rumänien oder anderswohin
ausgewandert waren, wieder an die Stätte ihrer frühern Tätigkeit zu deren
Wiederaufnahme zurückzuführen. Auch wurde neben dem alten rumänischen
Konsulat in Bitolia noch ein neues Konsulat in Janina errichtet.
Auf den Rat des russischen Geschäftsträgers in Konstantinopel suchte
ferner die russische Regierung den ökumenischen Patriarchen für die Wünsche der
Mazedorumänen zu gewinnen. Auf rumänischer Seite gab man sich dabei der
Hoffnung hin, daß sich der Patriarch, dessen Wahl seinerzeit nur unter dem
Einflüsse Rußlands zustande gekommen war, schon mit Rücksicht auf Rußland
entgegenkommend zeigen werde. Sehr wider Erwarten fiel aber die Antwort
verneinend aus. Es zeigte sich, daß das ökumenische Patriarchat noch immer
dem Griechentum zuneigte, daß es in seiner Zusammensetzung — Synode und
Laienrat — die historisch-griechische Tradition nicht aufzugeben gewillt sei.
Daneben mag wohl auch die Besorgnis von Einfluß gewesen sein, daß die Ge¬
währung des Gebrauchs der rumänischen Sprache beim Gottesdienst und die
Bildung rumänischer Kirchengemeinden schließlich zur Aufrichtung eines mazedo-
rumänischen Exarchats nach bulgarischen Muster führen werde, was man
in Bukarest allerdings für die zweckentsprechendste Lösung dieser Angelegen¬
heit hält.
Später unternahm der ehemalige rumänische Metropolitprimas Ghenadie
eine Reise nach Mazedonien, um sich durch Augenschein davon zu überzeugen,
ob der Boden für die Schaffung einer mazedvrumänischen Nationalkirche ge¬
ebnet sei. Zugleich wollte er den Mazedorumänen Gelegenheit geben, einmal
einen rumänischen Erzbischof zu sehen und sie in ihren schon zum Ausdruck
gebrachten Wünschen bestärken. Aber obgleich Ghenadie die Reise ohne Vor¬
wissen der rumänischen Regierung als einfacher Privatmann unternommen und
auch in Mazedonien alles vermieden hatte, was bei dem ökumenischen Patriarchen
Anstoß hätte erregen können — er hatte deshalb auch die mehrfach an ihn er-
gangne Aufforderung, einen Gottesdienst abzuhalten, abgelehnt —, nahm das
Patriarchat diese Reise doch als einen ihm feindseligen Akt auf, und es richtete
deshalb an die Synode der rumänischen Landeskirche in Bukarest eine Be¬
schwerde. Die Synode antwortete, daß Ghenadie die Reise nach Mazedonien
aus eigner Initiative und ohne ihr Vorwissen ausgeführt habe; zugleich be¬
nutzte aber die Synode die Gelegenheit, die kirchlichen Wünschen der Mazedo¬
rumänen warm zu befürworten und der Hoffnung Ausdruck zu geben, daß sie
durch das Patriarchat endlich erfüllt werden möchten.
Mit dieser Antwort unzufrieden, wandte sich das ökumenische Patriarchat
an die Hohe Pforte mit der Androhung, daß, wenn durch die türkische Re¬
gierung die kirchlichen Wünsche der Kntzowalachen erfüllt würden, sich das
Patriarchat genötigt sehen werde, zum Schutze seiner Privilegien zu derselben
Politik seine Zuflucht zu nehmen, die es im Jahre 1871 gegen die Bulgaren
angewandt habe, nämlich ein ökumenisches Konzil einzuberufen, das die Mazedo¬
rumänen als Schismatiker erklären werde.
So standen die Dinge, als zu Beginn des Jahres 1905 die Konservativen
in Rumänien wiederum ans Nuder gelangten. Energischer als zuvor suchte
man jetzt die Wünsche der Mazedorumänen zu erfüllen, und als der Vali von
Janina zwei mazedorumänische Schulinspektoren unberechtigterweise hatte ge¬
fangen nehmen lassen, nahm man dies zum Anlaß, bei der Hohen Pforte die
endliche Anerkennung der Mazedorumänen als Nationalrnmänen durchzusetzen.
Zugleich wandte sich die Bukarester Regierung an die ihr befreundeten Mächte
um Unterstützung dieses ihres Schrittes bei der Hohen Pforte, und sie hatte
die Genugtuung, daß sich insbesondre Deutschland mit Nachdruck für ihre
Forderung in Konstantinopel verwandte. Dank dieser Fürsprache Deutschlands
wurde denn nun auch das lange erstrebte Ziel erreicht. Am 19. Mai 1905
erschien ein Jrade des Sultans, worin die rumänische Nationalität der Kntzo¬
walachen ausdrücklich anerkannt wird. Mit dieser Anerkennung ist implicite
für die Kutzowalachen das Recht verbunden, eigne Kirchen und Schulen zu
unterhalten und das Rumänische als Kirchensprache einzuführen.
Darob natürlich große Unzufriedenheit bei dem ökumenischen Patriarchen
und der Heiligen Synode, insbesondre aber bei den Griechen, denen durch die
Anerkennung der Mazedorumänen als Nationalrumänen eine Einbuße ihres
Einflusses in Mazedonien drohte. Um sich diesen Einfluß zu erhalten, rüsteten
sie unter Anführung aktiver Offiziere Banden aus, die die Aufgabe hatten,
unter Mord und Brand eine wahre Schreckensherrschaft unter den Mazedo¬
rumänen auszuüben und die mit dem Tode zu bedrohen, die rumänische Kirchen
besuchen und sich der rumänischen Sprache bedienen würden.
Die rumänische Regierung richtete deshalb wiederholt Beschwerden an das
Kabinett zu Athen, und sie wurde hierbei unterstützt durch die Stimmung des
rumänischen Volkes, das sich auf das höchste über den Terrorismus empörte,
den die Griechen in den mazedorumänischen Gemeinden ausübten. Die griechische
Regierung verlegte sich auf das Ableugnen, obgleich das Bestehen einer maze¬
donischen Gesellschaft in Athen, die auf griechischem Territorium Banden or¬
ganisiert, mit Waffen versieht und sie dann unter Führung beurlaubter
griechischer Frontoffiziere unter den Augen der griechischen Behörden über die
mazedonische Grenze schickt, aller Welt bekannt ist, und obgleich durch aufge¬
fangne oder vorgefundne Briefe die Verbindung griechischer Konsuln in Maze¬
donien mit den Banden — auch der griechische Konsul in Saloniki ist durch
solche Briefe stark kompromittiert worden — völlig ausreichende Beweise in
Bukarest vorliegen. Die griechische Negierung kehrte aber den Spieß um,
indem sie behauptete, daß griechische Geschäftsläden in Rumänien zerstört und
deren Inhaber mißhandelt worden seien, daß auch die rumänischen Behörden
eine in Giurgiu vorgefallene Beleidigung der griechischen Flagge geduldet hätten,
und sie forderte schließlich noch die sofortige Rücknahme der Ausweisung der
Herausgeber des in Bukarest erschienenen griechischen Blattes Patris. Die
rumänische Negierung konnte hierauf antworten, daß der Vorwurf der Zer¬
störung griechischer Geschäftsläden und der Mißhandlung der Inhaber völlig
aus der Luft gegriffen sei, indem sich der Vorgang, auf den sich der Vorwurf
stütze, auf eine Prügelei beschränke, die zwischen Mazedogriechen und Mazedo¬
rumänen, die übrigens sämtlich türkische Untertanen gewesen seien, in einem
mazedonischen Kaffeehause stattgefunden habe, eine Ausschreitung, wegen der sich
die Beteiligten vor Gericht zu verantworten hätten, daß es sich ferner bei der
angeblichen Beleidigung der griechischen Flagge in Giurgiu nur um einen
zusammengeflickten Lappen gehandelt habe, den ein Teilnehmer an einer Mani¬
festation aus der Tasche gezogen und zerrissen habe, daß übrigens auch die
bei diesem Vorgange anwesend gewesnen Polizisten gegenüber der großen
Menge der Manifestanten an Zahl nicht ausreichend gewesen wären, um die
Tat zu verhindern, und daß, was schließlich die Ausweisung der Herausgeber
des Blattes Patris betreffe, jedes freie Volk das Recht habe, ihm lustig
fallende Ausländer auszuweisen, und die Herren von der Patris hätten das
ihnen in Rumänien eingeräumte Gastrecht sehr gröblich mißbraucht, indem sie
Sammlungen zu der Ausrüstung griechischer Banden veranstaltet und in ihrem
Blatte Hetzartikel gegen Rumänien veröffentlicht hätten.
Die griechische Negierung erteilte hierauf ihrem Gesandten in Bukarest die
Weisung, auf unbestimmten Urlaub zu gehn und auch keinen Geschäftsträger
zu hinterlassen. Dieser Vorgang, der insofern ungewöhnlich war, als der Ge¬
sandte nicht, wie es sonst in solchen Fällen üblich ist, seine Pässe verlangte
und die im Lande lebenden Untertanen seiner Regierung dem Schutze des Ver¬
treters einer andern Macht unterstellte, mußte selbstverständlich von der
rumänischen Regierung mit der unter gleichen Modalitäten erfolgenden Beur¬
laubung ihres Gesandten in Athen beantwortet werden. Und da die griechische
Regierung ihre schon von der rumänischen Negierung entkräfteter Anschuldigungen
in einem Rundschreiben an die Mächte wiederholte, sah sich die rumänische
Regierung veranlaßt, ihren 1900 mit Griechenland abgeschlossenen Handels¬
vertrag zu kündigen. Dieser trat denn auch nach Ablauf der neunmonatigen
Kündigungsfrist im Juli 1906 außer Kraft.
Seitdem wurde die Einfuhr griechischer Waren in Rumänien mit einer
durch das Parlament beschlossenen Extrasteuer belegt, die so hoch war, daß sie
einem Verbot der Einfuhr gleichkam, und außerdem wurde die Gewerbe- sowie
die Jmmobiliensteuer der in Rumänien lebenden Griechen um ein vielfaches
erhöht. Zahlreiche Griechen, darunter geschäftlich und gesellschaftlich sehr hoch¬
stehende Personen, gegen die der Verdacht rege wurde, daß sie mit den in
Mazedonien operierenden griechischen Banden sympathisierten und sie finanziell
unterstützten, wurden des Landes verwiesen. Selbstverständlich beeilte sich die
griechische Regierung, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, und sie erließ gegen
die Einfuhr rumänischer Waren in Griechenland und gegen die dort wohnenden
Rumänen ähnliche Maßregeln. Da aber in Rumänien etwa 80000 Griechen
wohnen, und da der griechische Handel mit dem Donaukönigreiche von alters her
sehr bedeutend ist, während in Griechenland nur 70 bis 80 Rumänen ihren
Wohnsitz aufgeschlagen haben, und der rumänische Handel dorthin nur einen
geringen Prozentsatz der Gesamtausfuhr ausmacht, so war Griechenland bei
diesem Kampfe in bedeutendem Nachteil gegenüber Rumänien. Jetzt sind nun,
^le gesagt, diese Maßregeln von beiden Seiten aufgehoben worden, und wenn
der von der Hohen Pforte getane energische Schritt, dem sich auch schon einige
andre Mächte angeschlossen haben, in Athen den erhofften Erfolg haben wird,
dürfte der endgiltige Friedensschluß nicht mehr lange auf sich warten lassen,
und die diplomatischen Beziehungen unter den beiden Staaten wieder aufge¬
nommen werden.
Erörtern wir aber bei dieser Gelegenheit auch einmal eingehender die
Frage, mit welchem historischen Rechte die Griechen nicht nur die Mehrzahl
der Einwohner Mazedoniens — unter denen neben Bulgaren und Serben die
Kutzowalachen die Minderheit bilden — sondern auch die von Epirus und
Albanien als griechischen Ursprungs bezeichnen und deshalb für ihre Nationalität
reklamieren. Eine historische Studie, die hierüber der Präsident der „Gesellschaft
für intellektuelle Kultur in Mazedonien", Dr. Leonte in Bukarest, vor mehreren
Jahren veröffentlichte, enthält hierzu ein recht interessantes Material.
Dr. Leonte bestreitet zunächst die Rechte der Griechen auf Albanien. Er
verweist hierbei darauf, daß erwiesenermaßen dieses Land niemals zu Griechen¬
land gehört hat, daß es immer von denselben Albanesen bewohnt war, die es
noch heute zum größten Teil bevölkern, und daß man dort nicht ein einziges
griechisches Dorf vorfindet. Ich kann dem noch hinzufügen, daß die Albanesen,
deren Land ich des öftern bereist habe, trotz ihrer Nachbarschaft zu den
Griechen und trotz des Einflusses, den diese in mancherlei Hinsicht zu gewissen
Zeiten auf sie ausgeübt haben, so wenig von den Griechen angenommen haben,
daß sie noch heute die Bauerntracht der Römer tragen, unter deren Herrschaft
sie verhältnismäßig frühzeitig gelangt sind. Man findet zwar viele griechische
Familien unter den Albanesen, doch sind diese im Laufe der Jahre einge¬
wandert und immer zerstreut seßhaft; nie bilden sie ein Gemeinwesen für sich.
Hätte man es hier mit Ureinwohnern zu tun, so würden sich doch noch ganze
Siedlungen, ganze rein griechische Dörfer erhalten haben, die man aber in
Albanien nirgends findet.
Auch was Epirus anlangt, so kann man so weit, wie man will, in die
Vergangenheit zurückgehn, ohne zu finden, daß es je einmal zu Griechenland
gehört hat oder mit ihm verbündet war. Im Gegenteil weiß man, sagt Dr. Leonte,
daß sich Themistokles, als er sich zu Admetos flüchtete, mit diesem nicht ver¬
ständigen konnte, da der König der Molossen nicht griechisch konnte. Auch zur
Zeit des Peloponnesischen Krieges waren die Epirüer keine Griechen geworden.
Wir erhalten hierüber von Thucydides vollständige Aufklärung. In seiner Ge¬
schichte liest man an verschiednen Stellen folgendes: „Epidauros (jetzt Durazzo)
ist eine Stadt rechts vom Ionischen Golf. Sie ist umgeben von Taulentinern,
einem barbarischen Volk---- Nach innern Zerwürfnissen kamen die Bewohner
zum größten Teil um in einem Kriege mit ihren Nachbarn, den Barbaren."
(Thucydides, I, Kapitel 24.) Und des weitern von Argos am Nordufer des
Golfes von Area redend, schreibt der berühmte griechische Geschichtschreiber:
..... Überwältigt von Mißgeschick forderten die Einwohner die Ambraciten, ihre
Nachbarn, auf, die Stadt zu teilen, und in ihrer Verbindung mit den Argoiern
lernten die Ambraciter griechisch, denn der Rest der Amphilochen bestand aus
Barbaren. Mit der Zeit jagten die Ambraciten die Argoier davon und behielten
die Stadt." (Buch I, Kapitel 68.) Weiterhin bei der Abhandlung über Akarnanien,
Zakinthos, Cephalonia und Naupactos sagt Thucydides: „Barbaren mischten sich
zu den Griechen, und unter den Barbaren sah man viele Chaoner, die keine
Könige haben; mit ihnen gingen die Thesproter, die ebenfalls keine Könige
kannten. Die Molossen und die Antitonen wurden von Sabylinthus angeführt____
Die Chaoner und die andern Barbaren machten einen eiligen Marsch in der
Hoffnung, diese Stadt zu nehmen und den Ruhm des Sieges zu haben."
(Thucydides, II, Kapitel 80 bis 88.) Es geht aus diesem Zeugnis des Thucydides
hervor, daß die Epiräer vierhundert Jahre v. Chr., also dreißig bis vierzig Jahre
vor der Geburt Philipps des Dritten von Mazedonien, des Vaters Alexanders
des Großen, der Griechenland unterwarf, keine Griechen sondern Barbaren waren.
Auch später sind die Epirärer nicht Griechen geworden. Der berühmte
französische Geograph Malte-Brun schreibt hierüber im fünften Kapitel seiner
Geographiegeschichte: „Epirus, das alle andern Griechen von Griechenland aus¬
schließen, wird von Strcibon mit Jllyrien und Mazedonien zusammen geschildert.
Seine hauptsächlichsten Kantone waren in Chaones: Thesprotis und Molossis.
Strabon und Plutarch lehren uns, daß die Epirärer eine besondre Sprache
sprachen, die mit mazedonisch gleichlautend war. Es scheint, daß das heutige
Albanesisch davon abstammt." Man weiß, daß die beiden griechischen Gelehrten
Strabon und Plutarch im ersten und zweiten Jahrhundert unsrer Zeitrechnung
lebten. Somit waren bis dahin die Epiräer nichts weniger als Griechen. Wann
sollen sie es nun geworden sein? Vielleicht unter römischer Herrschaft, als nach
Aussage Titus Livius die Bevölkerung Griechenlands ein oolluviss Zsutium, ge¬
worden war, oder unter der Herrschaft von Byzanz, dessen Geschichtschreiber
Nichetas Choniales, Pachymerus, Chalcocondylas, Franzes usw. Epirus und
Thessalien nur „die große und die kleine Walachei" nennen?
Was Mazedonien betrifft, so war auch dessen Bevölkerung so wenig griechischen
Ursprungs und im Gebrauche der griechischen Sprache, daß Demosthenes, der
größte Redner Griechenlands, in seinen Reden Philipp den Dritten bestündig
einen Barbaren nennt. Außerdem ist historisch erwiesen, daß die Griechen zu
jener Zeit in Mazedonien und Epirus nur einige kleine Kolonien besaßen, wie
Amphipolis, Olynth usw. Wenn die Mazedonier zur Zeit Philipps des Dritten keine
Griechen waren, wann wären sie es denn geworden? Vielleicht unter den Nach¬
folgern Alexanders, gegen die die Griechen die Hilfe der Römer anriefen, da
jene Barbaren seien? Oder unter den Römern, oder unter den Byzantinern, als
sich das römische Element, das in Moslem ansässig war, seitdem Aurelien seine
Legionen und eine Anzahl römischer Kolonien am rechten Ufer der Donau an¬
gesiedelt hatte, fliehend vor dem Ansturm der Slawen in Mazedonien zu ver¬
breiten begann? Oder noch später, als die Slawen und darauf die Türken in
Mazedonien eingedrungen waren? Wurde damals diese Provinz vielleicht durch
ein Wunder griechisch? Weder in jenem Zeitabschnitte noch überhaupt spricht die
Geschichte von einer griechischen Invasion Mazedoniens.
Diesen Ausführungen Leontes sei noch hinzugefügt, daß das, was später,
in nicht allzufern liegender Zeit, in Mazedonien, Epirus und Albanien als
Hellenentum entstand, aus einer Verschmelzung von Ideen und Begriffen er¬
wuchs. Der vom Sultan ernannte griechische Patriarch war der einzige Re¬
präsentant der Christenheit in der Türkei, und mit der Zeit flössen die christliche
und die hellenische Idee zu einem einzigen Gedanken zusammen. Das Griechische
wurde die Kirchensprache, und von hier übertrug es sich auch auf den alltäglichen
Verkehr, sodaß die christlichen Bewohner Mazedoniens und Epirus noch heute,
namentlich bei ihren Berührungen mit Ausländern, die griechische Sprache an¬
wenden. Daheim in der Familie aber wird die Sprache der Ahnen als ein
teures Erbteil behütet und gepflegt, jene Sprache, die die durch die Römerzuge
und die spätern Völkerwirren ins Land gekommnen und dort seßhaft gewordnen
Volksgenossen der Rumänen, Bulgaren und Serben redeten und noch heute reden,
und durch die sie mit ihren Heimatsbrüdern geistig verbunden sind.
Es ist also geschichtlich nicht begründet, daß die Griechen Mazedonien,
Epirus und Albanien als Heimstätten ihrer Vorfahren und die jetzt diese Länder
bewohnende Bevölkerung als ihre Stammesgenossen reklamieren. Nur gewisse
Landstriche sind, wie es bei der Nachbarschaft Griechenlands natürlich ist, von
Griechen besiedelt, in dem übrigen, unvergleichbar größern Teil der genannten
Länder find Rumänen, Serben, Bulgaren, Albanesen, Türken und Spcmiolen
(Juden) seßhaft.
Aber ganz abgesehen hiervon — wohin würde es führen, wenn die Griechen
auf Grund historischer Reminiszenzen Gebiete reklamieren wollten, die jetzt von
andern Nationen besessen werden? Sie könnten dann ganz Süditalien, große
Strecken in Afrika, die Stadt Marseille und andre Landstriche zurückfordern,
und die Karte der Alten Welt müßte eine gründliche Umänderung erfahren,
wenn man diesem Verlangen entsprechen wollte.
Auch das Interesse, das die Rumänen ihren Volksgenossen in Mazedonien
zuwenden, ist wohl weniger von dem Wunsche diktiert, dereinst die Herrschaft
über das von diesen bewohnte Land auszuüben — was bei dessen geographischer
Lage ein Hirngespinst wäre —, als dadurch ein Kompensationsobjekt in die
Hand zu bekommen, das Rumänien bei einer Liquidierung der europäischen
Türkei in Anrechnung bringen könnte.
is der Zunftzwang gefallen war, und die tatkräftigen Handwerker
kleine Unternehmer wurden, zugleich viele neue Elemente in das
Handwerk eindrangen, da gestaltete sich bald die Lage derer
schwierig, die dem Kampfe nicht gewachsen waren, wie ihn der
! freie Wettbewerb hervorbrachte, und schon um 1840 erlebte das
Handwerk seine erste Krisis. Aber die Klagen über die Schäden der Gewerbe¬
freiheit konnten den Geist der freien Unternehmung nicht bannen, die Gro߬
industrie drängte auf weiten Gebieten das Handwerk zurück, auf andern Ge¬
bieten verdrängte sie es ganz. Nur wenige konnten aufsteigen, viele wurden
bei der Entwicklung vom Handwerk zum Fabrikbetrieb zum Arbeiter herunter-HIW^FviS^M-^'
gedrückt, und viele andre, die dem Namen nach Handwerker blieben, wurden
tatsächlich abhängig vom Großkapital. Und ähnlich im Handel. Vom kleinen
Kramladen führte der Weg zum Großunternehmer, der bei geringerm Verdienst
im einzelnen einen sehr viel größern Umsatz erreicht, die kleinen Konkurrenten
erdrückt oder von sich abhängig macht. Das Warenhaus ist der Abschluß dieser
Entwicklung.
Auf allen Gebieten also dasselbe Ergebnis, daß ein großer Teil der einst¬
mals freien Existenzen vernichtet wurde; der Hausindustrielle war zum Arbeiter
geworden, der Handwerker zum Diener des Kapitals, der kleine Kaufmann
zum Angestellten des Großunternehmers. Es hat keinen Zweck, diese Ent¬
wicklung zu beklagen, denn sie war wohl unvermeidlich, und es kommt nur
darauf an, über ihre Wirkungen klar zu werden. Die frühere Arbeit war
Qualitätsarbeit gewesen, die Persönlichkeit des einzelnen, ihr Geschmack, ihre
Begabung kamen dabei zu ihrem Rechte. Selbst der kleinste Handwerker
konnte sich ausleben in seiner Hände Arbeit. Auf der Quantität aber beruht
die Arbeit des Großunternehmens, sie ist Massenarbeit und Arbeit für die
Masse. Die Persönlichkeit des einzelnen mußte leiden, da nur wenigen noch
beschieden blieb, sich frei zu betätigen, sich in selbständiger Arbeit zu entwickeln.
Das Ziel, das sich früher viele stecken konnten, durch angestrengte Tätigkeit zu
einer unabhängigen wirtschaftlichen Existenz zu gelangen, können heute auch
von den dazu Berufnen nur noch wenige erreichen, und je weiter der Kon-
zentrationsprozeß des Großkapitals fortschreitet, um so näher werden wir dem
Zustande kommen, daß einige wenige Auserwählte unser gesamtes Wirtschafts¬
leben leiten. Daß bei dieser Unterdrückung der Persönlichkeit, bei der ununter-
brochnem, angestrengten Arbeit, die das moderne Wirtschaftsleben fordert, die
Menschen einseitiger, auch innerlich unfreier wurden, konnte nicht ausbleiben.
Diese außerordentliche wirtschaftliche Entwicklung aber, die wir in der
kurzen Zeit seit den sechziger und eigentlich erst seit den siebziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts erlebt haben, hat nicht nur die Wirkung gehabt, daß
zugunsten weniger Auserwählter eine große Zahl einstmals wirtschaftlich un¬
abhängiger Existenzen vernichtet, viele früher in freiem Berufe tätige zu An¬
gestellten der Großunternehmung, zu Hörigen des Kapitals, besonders aber in
die Klasse der Lohnarbeiter herabgedrückt worden sind, sie hat außerdem auch
innerhalb des Deutschen Reiches eine Verschiebung der Bevölkerung, eine
Binnenwanderung zur Folge gehabt, die wirtschaftlich und politisch von der
allergrößten Bedeutung ist. Zu der sozialen Umschichtung kam die räumliche
Umschichtung.
Nach Schmoller und Lamprecht lebten im Gebiete des heutigen Deutschen
Reiches auf dem Geviertkilometer im Jahre 1800 nur 40 Einwohner, im
Jahre 1900 aber deren 104. In den Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts,
in denen auf der Grundlage des freien Wettbewerbs der Kleinbetrieb, das
Handwerk zurückgedrängt wurde durch die werdende Macht des Kapitals, war
Deutschland ein Land starker Auswanderung. Über das Meer, besonders nach
den Vereinigten Staaten, zogen Unzählige, die sich in den veränderten Ver¬
hältnissen zu Hause nicht mehr zu helfen wußten und drüben neu zu erwerben
hofften, was sie in der Heimat verloren hatten, eine unabhängige wirtschaftliche
Stellung. Verstärkt wurde ihre Zahl durch die politisch Unbefriedigter, und
es waren bekanntlich nicht die Schlechtesten, die damals dem Vaterlande den
Rücken kehrten und dem erstarkenden Amerika als Kulturdünger dienten. Auch
nach dem Kriege war die Abwanderung noch sehr groß, und von 1871 bis
1895 hat Deutschland noch etwa 2^ Millionen Seelen auf diese Weise ver¬
loren. Und trotz dieser Verluste während eines Jahrhunderts hat sich die
Bevölkerung im Reichsgebiete, die 1816 etwa 25 Millionen betrug, bis zum
Jahre 1900 auf mehr als 56 Millionen vermehrt. Seit dem Jahre 1895
überwiegt die Zuwanderung in das Deutsche Reich sogar die Auswanderung.
Nur unserm wirtschaftlichen Aufschwung ist es zu verdanken, daß wir diese ge¬
waltigen Menschenmengen zu ernähren vermögen, aber die Kehrseite dieser Ent¬
wicklung ist es, daß die Zunahme der Bevölkerung nicht allen Teilen des
Reiches und allen produktiven Berufsständen ungefähr gleichmäßig zugute kam,
sondern wesentlich den großen Städten und den Gebieten des Reiches, die
industriell entwickelt sind, daß aber auf dem Lande, besonders im Osten, die
Bevölkerung entweder, verglichen mit der Zahl der Geburten, relativ zurück¬
gegangen ist, oder wie in Ostpreußen, der Provinz mit der größten Geburten¬
zahl, sogar absolut abgenommen hat. In den fünf Jahren von 1895 bis
1900 haben die preußischen Provinzen östlich der Elbe fast eine halbe Million
Einwohner durch Abzug verloren, also die Gebiete, die vorwiegend landwirt¬
schaftlich sind. Während im Jahre 1882 die ländliche Bevölkerung noch
26,3 Millionen betrug, war sie bei der Volkszählung im Jahre 1895, trotz
der gewaltigen Zunahme der Volkszahl, auf 25,9 Millionen zurückgegangen;
statt mit 58 Prozent im Jahre 1882 war das platte Land jetzt nur noch mit
50 Prozent an der Gesamtbevölkerung beteiligt.
Der Zug vom Lande in die Stadt, vom Osten in die Industriegebiete
des Westens ist die Begleiterscheinung unsrer wirtschaftlichen Entwicklung. Im
Jahre 1840 gab es in Deutschland nur zwei Städte mit mehr als 100000 Ein¬
wohnern, Berlin und Hamburg, 1900 gab es deren 41 mit einer Gesamtein¬
wohnerzahl von annähernd 12 Millionen, und die überwiegende Mehrzahl
dieser Städte liegt im Westen. Auf wessen Kosten sich diese Entwicklung aber
vollzogen hat, das zeigen die Ergebnisse der Volkszählungen. Im Jahre 1905
wurden in Preußen 57 ländliche Kreise gezählt, in denen eine Abnahme der
Bevölkerung stattgefunden hatte, und darunter waren 11 brandenburgische,
14 ostpreußische und 15 schlesische Kreise. Bei der vorletzten Zählung im
Jahre 1900 waren es in Schlesien sogar 25 und in Ostpreußen 28 Kreise
gewesen, in denen die Zahl der Bewohner zurückgegangen war. Es liegt hier
also eine Entvölkerung weiter Teile des preußischen Staates vor, die um so
erschreckender ist, wenn man berücksichtigt, wie groß der Geburtenüberschuß
gerade dieser östlichen Gebiete ist. Das entgegengesetzte Bild bieten die
Gebiete, in denen das Vorkommen von Kohle und Erzen die Entwicklung
der Industrie begünstigt hat, in Preußen besonders das oberschlesische und
das rheinisch-westfälische Industriegebiet. An diesem zuletzt genannten sind die
Regierungsbezirke Düsseldorf, Arnsberg und Münster beteiligt, und wie
sehr die Bevölkerung in diesen drei Bezirken zugenommen hat, zeigen folgende
Zahlen:
Es hatten Einwohner die Regierungsbezirke
In neunundzwanzig Jahren also eine Verdopplung der Bevölkerung. Hier
sind die Riesenwahlkreise wie Essen und Duisburg-Mülheim-Ruhrort, wo
bei der Reichstagswahl am 25, Januar 1907 in jenem 94804, in diesem
93173 Stimmen abgegeben wurden. Hier sind nicht nur Städte in fast ameri¬
kanischer Weise gewachsen, sondern auch Landgemeinden, wie Borbeck mit heute
60000, Hamborn mit 80000 Einwohnern. Land- und Stadtkreis Essen hatten
zur Zeit der Volkszählung vom 1. Dezember 1875 zusammen 163507 Einwohner,
am 1. Dezember 1900 aber deren 402941. Die vom Statistischen Bureau in
Berlin veröffentlichten Ergebnisse enthalten leider keine Mitteilungen über die
Abstammung der in den Provinzen, Kreisen und Gemeinden gezählten Per¬
sonen, sodaß sich über die Bewegung der Bevölkerung innerhalb des Staats¬
gebiets kein rechtes Bild gewinnen läßt. Deshalb ist vielleicht die Mitteilung
von Wert, daß im Land- und Stadtkreise Essen allein jährlich etwa achthundert
Militärpflichtige beim Oberersatzgeschäft vorgestellt werden, die in Ostpreußen
geboren sind. Sie stammen fast ausschließlich aus den masurischen Teilen
Ostpreußens, und in erster Linie schickt der Kreis Ortelsburg seine Söhne
dorthin in das Kohlenrevier. Daß dieser Kreis dabei nicht einmal zu den
Kreisen gehört, deren Bevölkerung zurückgeht, das spricht für die unverwüstliche
Lebenskraft dieser östlichen Gebiete. Eine Vorstellung von der polnischen
Binnenwanderung erhält man, wenn man die bei den Reichstagswahlen von
1903 und 1907 in einigen westlichen Wahlbezirken abgegebnen polnischen
Stimmen vergleicht. Es wurden abgegeben im Wahlkreise
Das bedeutet in dreieinhalb Jahren eine Steigerung der polnischen Stimmen
um Prozent, wobei noch zu berücksichtigen ist, daß ein Teil der polnischen
Wähler sicher schon im ersten Wahlgänge für den Sozialdemokraten ge¬
stimmt hat.
Als im Jahre 1902 in Düsseldorf die glänzende Industrieausstellung
Zeugnis ablegte von den Leistungen des rheinisch-westfälischen Jndustriebezirks,
da war auf einer Ehrentafel in Erz eingegraben, welcher große Anteil der
Gesamtbevölkerung in diesem Bezirke lebt und mit welchem hohen Betrage die
Bewohner dieses Bezirks an dem Gesamtertrage der preußischen Steuern beteiligt
sind. Nur eine Zahl fehlte, nämlich eine Angabe darüber, wie viele ihrer Söhne
die andern Provinzen an diesen Bezirk abgegeben haben, die nun hier die Maschinen
in Bewegung setzen, die ohne diese Arbeitskräfte still stehn müßten. Wenn es
wesentlich auf der angestrengten Arbeit der Industrie beruht, daß wir reicher ge¬
worden sind, so darf doch niemals vergessen werden, daß Blut edler ist als Gold,
daß diese Erfolge erreicht wurden auf Kosten andrer Erwerbsstände und auf Kosten
der Gebiete, von denen aus unser Staatswesen geworden ist, und daß eine
Verödung dieser Gebiete, die ihr Bestes hergeben an den Westen und an die
großen Städte, unbedingt zurückwirken muß auch auf die Teile des Staats¬
gebiets, die jetzt von der Anhäufung von Menschen Vorteil zu haben glauben.
Es darf aber auch nicht vergessen werden, daß die Menschen, die, angezogen
durch hohe Löhne und durch Vergnügungen, in diese Jndustriebezirke abwandern,
Schaden leiden an Körper und Seele.
Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, über diese soziale und räumliche
Umschichtung unsers Volkes zu klagen, denn das Ergebnis dieser Entwicklung
liegt heute als Tatsache vor uns, und mit Tatsachen muß man sich abfinden.
Es kommt hier nur darauf an, zu prüfen, welche Folgen es gehabt hat, daß
durch unsre wirtschaftliche Entwicklung eine große Zahl einstmals wirtschaftlich
selbständiger Menschen in die Klasse der Lohnarbeiter herabgedrückt, daß un¬
zählige andre von ihrer heimatlichen Scholle losgelöst in den großen Städten
und den Industriebezirken Spreu vor dem Winde geworden sind; zu prüfen,
ob nicht dieser völlig umgestalteten Gesellschaft gegenüber Unterlassungssünden
begangen worden sind, die manchen Übelstand, unter dem wir heute leiden,
erklärlich erscheinen lassen; sowie endlich, ob nicht aus den Lehren der Ver¬
gangenheit Folgerungen gezogen werden können für das, was zu geschehen hat,
um eine glücklichere Zukunft vorzubereiten.
Wenn hier versucht worden ist, in großen Zügen ein Bild unsrer jüngsten
wirtschaftlichen Entwicklung und der Wirkungen zu geben, die diese Entwicklung
auf die soziale und räumliche Umschichtung unsers Volkes gehabt hat, so muß
außerdem zum Verständnis unsrer Lage daran erinnert werden, daß diese wirt¬
schaftliche Entwicklung der Zeit nach im wesentlichen zusammengefallen ist mit
unsrer politischen Einigung. Wir haben gesehen, daß Kapitalismus und Gro߬
betrieb eigentlich erst in den siebziger Jahren entstanden sind, also nach dem
großen Kriege, in dem die zerrissenen deutschen Stämme zu einem Volke ge¬
einigt wurden.
Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, daß erst auf der Grundlage
dieser politischen Erfolge der gewaltige Aufschwung unsers wirtschaftlichen
Lebens möglich war, der noch mächtig gefördert wurde durch die französische
Kriegsentschädigung, die dem deutschen Markte reiche Mittel zur Verfügung
gab. Bei den Völkern, die, glücklicher als wir, die politische Einigung seit
vielen Jahrhunderten hatten, konnten die Fortschritte der Technik keine so um¬
wälzenden Folgen haben als bei uns, wo die Verwirklichung des Traumes
unsrer Vorfahren unser Staatsleben von Grund aus umgestaltete und allen
bis dahin gebundnen Kräften gewaltige Impulse gab. In kurzem Zeitraum
wurde mit Riesenschritten nachgeholt, was uns fehlte, wurden in einem Jahre
unter der Führung der preußischen Macht die Fehler eines Jahrtausends wett
gemacht. Das kriegstüchtigste Volk der Welt, dessen Blut auf allen Schlacht¬
feldern Europas mit Ehren geflossen war, und das doch dank seiner politischen
Zerrissenheit nur als Volk der Denker mitleidig geduldet wurde, hatte sich
Plötzlich aufgerafft, sich seinen Platz an der Sonne erobert und trat ein in die
Reihe der Weltmächte. Aber es geschah unvermittelt, der Übergang fehlte,
keine politische Schulung in innern Kämpfen hatte das Volk vorbereitet auf
die neue Stellung in der Welt, auf die großen neuen Aufgaben, die jetzt zu
erfüllen waren. Die Kämpfe der preußischen Konfliktszeit hatten doch am
besten die politische Unreife selbst der Männer erwiesen, die in dein einzigen
deutschen Staate, der eine stolze Geschichte hatte, zur Führung des Volkes be¬
rufen waren.
Mit der Ng-Zug. OKg,rw begann im Jahre 1215 der Kampf des englischen
Volkes um seine politische Freiheit, und in jahrhundertelangem Ringen des
Parlaments mit der Krone ist dann die ungeschriebne englische Verfassung ent¬
standen, die gerade deshalb so fest im Rechtsbewußtsein des Volkes begründet
ist, weil sie nicht das Ergebnis kühler Erwägungen und schwächlicher Kom¬
promisse ist, sondern weil sie historisch geworden, weil sie Stück für Stück er¬
kämpft und errungen ist. So hat sich das politisch begabte englische Volk wie
einstmals das römische Volk im Laufe der Zeit das Recht und die Verfassung
geschaffen, die seiner Eigenart entsprechen, indem es mit zäh konservativem
Sinne auf dem vorhandnen Grunde weiterbaute und nur da veränderte und
erweiterte, wo neue Bedürfnisse entstanden, denen das geltende Recht nicht mehr
genügte. Das englische Volk hat es niemals nötig gehabt, sich an seine Ver¬
fassung zu gewöhnen, in diese Verfassung erst hineinzuwachsen, denn Recht und
Verfassung sind mit ihm geworden, sind das natürliche Ergebnis seiner Ge¬
schichte. Wie anders bei uns. Was waren wir vor 1866 und 1870?
Unklar und unreif waren die Gedanken, die in der Revolution von 1843
ihren Ausdruck fanden, unklar und unreif die Träume und Wünsche der Zeit
der Schützenfeste und eine politische Donquijoterie die Begeisterung des deutschen
Volkes für die Freiheitskämpfe der Hellenen und der Polen. Als dann aber
die Männer kamen, die den Weg weisen wollten aus dieser Wirrnis, als König
Wilhelm und Bismarck die Mittel forderten, Preußen stark zu machen für den
unvermeidlichen Kampf, da ergab sich, daß sogar im Staate Friedrichs des
Großen sie fast niemand verstand. In den schlimmen Jahrzehnten, die auf die
Befreiungskriege folgten, hatte man sich des politischen Handelns entwöhnt,
hatte man verlernt, an Großes zu glauben. Die Krone war stark genug, ihren
Willen durchzusetzen, Preußen von der österreichischen Vormundschaft zu be¬
freien und so die Bahn freizumachen für eine größere Zukunft, es ist aber
bezeichnend für unsre politische Entwicklung, daß auf dem Wege, den Preußen
gehen mußte, die süddeutschen Brüder standen, und daß die preußische Macht
aufgerichtet werden mußte gegen ihren Willen.
Es war das traurige Ergebnis einer vielhundertjährigen Geschichte, daß
man in Süddeutschland die Größe der Stunde nicht erkannte und sich dem
stärkern Norden versagte zugunsten des Kaiserstaates. Nicht lange vorher hatte
Fürst Hohenlohe darüber geklagt, daß ein großer Teil der deutschen Nation
ausgeschlossen sei von der Bestimmung der Geschicke Deutschlands; er, der
Süddeutsche, bestätigt, daß zur politischen Ausbildung und Kräftigung eines
Volkes die Teilnahme an den Interessen der Menschheit, an dem, was man
gewöhnlich große Politik nennt, unumgänglich nötig sei, und daß sich in klein¬
lichen, beschränkten Verhältnissen der Horizont des Individuums verengere und
damit Tatkraft, gesundes Urteil und Charakterstärke zugrunde gingen und einer
spießbürgerlichen Weichmütigkeit Platz machten.*) In der nationalen Erregung
der Jahre 1870 und 1871 wurden dann auch die Süddeutschen mit fortgerissen,
wurde die ersehnte deutsche Einheit errungen, aber konnte man erwarten, daß
die hochgespannte, zu Opfern bereite Stimmung dieser großen Zeit anhalten
würde? Wenn der Partikularismus, die Abneigung gegen Preußen in Süd¬
deutschland nach dem Kriege langsam wieder zugenommen haben, wenn man
dort vielfach zu vergessen scheint, daß Preußen den andern Deutschen das Beste
gegeben hat, was der Mensch haben kann, ein starkes Vaterland, so zeigen sich
hier eben die Folgen davon, daß ein großer Teil der Deutschen bis 1370 in
bequemer Kleinstaaterei ohne große politische Aufgaben und Ziele dahinlebte.
Die Sünden von Jahrhunderten lassen sich nicht so schnell ausgleichen, sie
wirken nach auch in der Generation, die nach 1870 aufgewachsen ist. Hinzu
kommen die ausgesprochen demokratischen Neigungen der Oberdeutschen. Es
kann dahingestellt bleiben, ob diese nicht auch zum guten Teil die Folge
davon sind, daß das politische Leben in den Kleinstaaten zu lange des Inhalts
entbehrte, weil es leicht ist, sich politischen Träumereien hinzugeben, wenn nicht
große Aufgaben zu ernstem Nachdenken zwingen, wenn nicht große Ereignisse
von Zeit zu Zeit die Menschen über den Unterschied von Schein und Wirklich¬
keit belehren. Tatsache ist, daß diese demokratischen Neigungen in Süddeutsch¬
land stärker vorhanden sind als in Norddeutschland, und auch daraus ergibt
sich ein Gegensatz zu dem im norddeutschen Boden wurzelnden Kaisertum.
!s ist Wohl an der Zeit, die Äußerungen der Zeitgenossen Goethes,
denen sein Wesen nicht gefiel, rein objektiv im Dienst der Wahr¬
heit, also ohne jede vorgefaßte Meinung zu prüfen. Man braucht
bei solcher Untersuchung nicht zu fürchten, deshalb selbst zu
I Goethes Gegnern gerechnet zu werden: bei dem Lichte pflegt
ja der Schatten nicht zu fehlen. Es empfiehlt sich der Versuch, die Wurzeln
der Goethefeindschaft bloßzulegen.
Aus dem literarischen Nachlaß Joh. Gottfried Grubers, der nach einer
langen segensreichen akademischen Wirksamkeit 1851 als Geheimer Hofrat und
ordentlicher Professor zu Halle gestorben ist, stehen mir, dnrch die Güte des
Herrn Direktors Gruber in Schivelbein, vereinzelte Briefe zur Verfügung, aus
denen sich einige Beiträge zur Geschichte der Goetheopposition gewinnen lassen.
I. G. Gruber, seit 1803 Privatdozent in Jena, trat dort in nahe Be¬
ziehungen zu dem Direktor der Allgemeinen Literaturzeitung, Professor
Chr. Gottfried Schütz, und zu dessen Sohne Friedrich Karl Julius, der sich,
obwohl fünf Jahre jünger, schon 1800 in derselben Fakultät als Privatdozent
habilitiert hatte. Am 19. März 1803 wagte es der junge Schütz, im Weimarer
Schauspielhaus nach der Aufführung der Braut von Messina ein Hoch auf
Schiller auszubringen. Zwei Tage später erteilte Goethe auf besondern Befehl
Serenissimi dem Herrn von Hendrich den Auftrag, „daß dieselben gedachten
Doctor Schütz vor sich kommen lassen, um von ihm zu vernehmen, wie er
als ein Eingeborner, dem die Sitten des hiesigen Schauspielhauses bekannt
sein mußten, sich eine solche Unregelmäßigkeit habe erlauben können? wobey
Sie ihm Serenissimi Mißfallen und eine bedrohliche Weisung für künftige Fälle
auf das nachdrücklichste werden zu erkennen geben". Das war eine arge De¬
mütigung für den selbstbewußten Privatdozenten, der schon auf eine Professur
hoffen mochte. Goethe beruhigte sich damit aber noch nicht, er gab in einer
Nachschrift von Hendrich den weitern Auftrag: „im Namen Serenissimi Herrn
Hofrat Schütz zu erkennen zu geben: Höchstdieselben hätten sich von ihm ver¬
sprochen, daß sein Sohn besser gezogen sein würde".
Ob das Vivat eine Vorgeschichte hatte, die das überstrenge Vorgehen
Goethes herausgefordert hat, läßt sich nicht feststellen. Jedenfalls bestimmten
die Nasen, die Vater und Sohn erhalten hatten, den Vater, einen ehrenvollen
Ruf nach Halle anzunehmen und die Allgemeine Literaturzeitung zum Schaden
Jenas dorthin zu verpflanzen. Der Sohn wurde zugleich außerordentlicher
Professor in Halle. Goethe hatte diesen Gegenschlag nicht gefürchtet. Er spricht
daher von einem „in die Unternehmer der ALZ. gefahrenen Schwindelgeist"
von „einer Tücke der abscheidenden Unternehmer". Es mochte ihm gar nicht in
den Sinn kommen, daß er sich die beiden Schütz zu Todfeinden gemacht hatte.
Bei der neuen Jenaer Literaturzeitung, die Eichstädt auf Geheiß Goethes
ins Leben rief, fand auch Gruber Verwendung. Er meinte später, er habe
„vor Goethes Augen Gnade" gefunden. Daß Goethe ihm nicht recht traute,
zeigt sein Brief vom 7. Januar 1804 an Eichstädt. Gruber war wohl auch
der Urheber des Geredes, das Böttiger am 5. Februar 1815 an F. I. Bertuch
weitergibt: „Da haben wir denn unser blaues Wunder über das Treiben der
Jenaischen Literaturzeitung vernommen. Goethe hat manchmal 50 Recensionen
zu allerhöchster Stempelung bei sich liegen."
Jetzt verstehen wir auch Grubers Brief aus Weimar vom 1. Februar 1807
an F. K. I. Schütz. Folgende Stellen kommen hier in betracht: „Geschlossen
ist der heilige Bund, — ewig gilt er, — fest und innig, Freund, schließe ich
Dich an mein Herz! Wird mirs in meinem Abdera zu enge, dann fliegt mein
Geist zu Dir, zu Deinem Vater, den ich unbeschreiblich liebe, in Deinen ganzen
Kreis, und nun athme ich freier. Warum liegen 9 Meilen zwischen uns.
Kommt Dirs aber sonderbar vor, daß ich das teutsche Athen Abdera
nenne? Freund, ein Abderitenstreich jagt hier den andern. Der neueste war,
daß der hiesige Bürgermeister bei der Ankunft des Herzogs den Bürgern an¬
sagen ließ, ihm ein Vivat zu bringen, — bei 8 gr. Strafe. Der Herzog von
Gotha, der jetzt auch hier ist, hat dagegen ein Stückchen gemacht, das fast
demokratisch aussieht. Man hat ihm die Wahl des Schauspiels überlassen,
welches er sehen wolle, und da eben in diesem Stücke der Herzog von W(eimar)
zum erstenmal wieder im Theater erschien, hat er — Stella gewählt.
Bei dem Wort Stella füllt mir wieder ein Berg auf die Brust. Gehört
ihr Verfasser auch zu den Abderiten? — Fast scheint mirs so. Seit etwa 5 Wochen
gehe ich nicht mehr zu ihm, denn er hat mir die Erbärmlichkeit zugetraut,
ich könne der Einsender der Klatschereien seyn, die über Weimar in verschiedenen
Zeitungen gestanden haben. Höflich, aber beißend habe ich ihm darüber eine
Erklärung zugestellt, und seit der Zeit war er verlegen, wenn wir in Gesell¬
schaft uns trafen. Das jedoch ließe sich wohl bald wieder ausgleichen, allein
da ich für G(velde) doch einige Achtung behalten möchte, muß ich ihn nicht
mehr sehen, wo die Frau geh. Räthin auch ist. Wäre sie eine Philine, eine
Aspasia, eine Ninon, — gut: aber so gemein, so widerwärtig gemein, und
G(velde) doch ihr oav^uns servants, und in den Augen Aller — ein Narr,
das thut mir weh. Dies ist ein Grund, warum ich jetzt alle Gesellschaft meide,
und nur das Theater ist meine Erholung. Ich kann mich wenigstens ärgern;
ach, wie unglaublich schlecht sieht es oft darum aus!
Euer geh. Rath Wolf ist — ein niederträchtiger Schurke. Der Schluß
der Ren. über Hofbauers Geschichte der Universität Halle in der ALZ. hat mich
gefreut sowie der über Eichstädts Programm. In dem letztern habe ich Deinen
Vater zu sehen geglaubt. Grüße ihn herzlich, herzlich von mir, und sage ihm,
daß er mit nächster Post einen Brief von mir erhielte. Was sind die meisten
Humanisten doch für ein verfluchtes Gesindel, und — Er dagegen, bei seinem
Geist, seinem Witz, seiner Gelehrsamkeit, welch ein herrlicher Mann! Einen
ähnlichen Eindruck wie er hat nur Klopstock noch auf mich gemacht, den ich
nie vergessen kann. An Deinem Vater kann ich nur Eins uicht leiden, sage
ihm das, daß er mich in einer anderen Welt nicht wiedersehen will. Klopstock
versprach mir das, und ich lasse mirs nicht nehmen, daß ich beide wiedersehe,
sonst schaudren mich ja nur fremde, nie verstandene Entzücken aus jener Welt
an, die es, wie ich fest glaube, giebt."
Die Stelle über Goethe in diesem Briefe erhält noch einige Aufklärung
durch einen von L. Geiger veröffentlichten Brief Grubers an K. A. Böttiger
vom 20. Juli 1810, in dem es heißt: „Mit Goethe stand ich anfangs sehr gut,
er war sogar vertraulich, offen gegen mich. Seit er mir auf Zuflüstern von
Vulpius die Niederträchtigkeit zutrauen konnte, daß ich die Nachricht von seiner
Verheirathung in die Zeitung gesendet habe, bin ich nicht wieder zu ihm ge¬
kommen, denn bei dem Minister hatte ich nichts zu suchen, und Goethen hätte
ich, ungeachtet ihn Fernow von meiner Unschuld überzeugt hatte, doch wohl
nicht wieder gefunden. Gefällig sind wir uns übrigens gegenseitig immer
geblieben."
In einem Briefe Grubers an den jungen Schütz vom 27. Juli 1807 aus
Weimar ist von allgemeinsten Interesse seine Schilderung Napoleons: „Werden
sich denn nun die Schwingen des Geistes wieder entfalten? Endlich ist er ja da
der langersehnte Friede! Welche Folgen wird er haben? Welche für Halle?
Wird das zu Westphalen oder Sachsen kommen? Begierig bin ich, wie sich
alles entwickeln wird. Am vorigen Donnerstag ging der Mann des Entsetzens
hier durch, nachdem alles schon seit Montag seinetwegen auf den Beinen ge¬
wesen war. Bald hieß es, er käme bald, er käme nicht, und einmal mußte
schleunig alles nach Büttelstedt aufbrechen, weil die Nachricht kam, er werde
nicht durch Weimar gehen. Endlich kam er doch. Dicht neben den Brandstätten
hatte Lsnaws ?oxri1u8<zus Vimarisusis eine hohe Ehrenpforte errichten lassen,
die er aber nicht besah. Er fuhr nicht auf das Schloß, stieg gar nicht aus,
sondern gab aus dem Wagen Audienz. Die souveraine Durchlauchtigkeit neben
dem Wagen mit entblößtem Haupt in unterthänigster Stellung zu sehen, gab
Dir doch einen eigenen Anblick. Sehr nah hab ich nun den Inviot^fluunt,
wie er auf 'der Ehrenpforte hieß, gesehen. Kein einziger Kupferstich, keine
Büste gleicht ihm, und das begreift sich, denn er hat auch nicht einen markirten
Zug. Sein Gesicht sagt rein nichts, sein Auge ist ohne alles Feuer, ganz
erloschen, seine Stirn aber ist sehr hoch, und etliche Falten darauf, die allein
mit seinem sonst jugendlichen Ansehen contrastiren. Weit entfernt übrigens das
mindeste Abstoßende zu haben, scheint er vielmehr etwas Gutmüthiges zu haben,
ich möchte sagen sanguinisches Phlegma. Sein Gesicht ist mit seinem Wesen
im Völliger Widerspruch. Was man gesagt hat, daß sein Lächeln etwas
Schreckliches habe, ist nicht wahr; man sieht nur, daß er kein Lüchler ist, denn
kaum verzieht sich der eine Mundwinkel. Sein Bruder Jerome ist ein solcher
Lächter, immer freundlich, ich würde ihm aber weniger trauen. Er sieht seinem
Bruder ziemlich ähnlich. Uibrigens hat sich Napoleon hier viele Feinde gemacht,
weil er am Hofe — die Braten hat verderben lassen. Ich bin ihm gut, weil
er in steife Nacken Gelenke bringt."
Darauf folgt „noch ein Jocosum aus dem teutschen Athen". „Neulich ist
hier ein Ball gegeben worden, ein öffentlicher, versteht sich, wo jeder bezahlt
hat. Nichtsdestoweniger hat kein Theilnehmer für sein Geld die Erlaubniß
gehabt, eine Dame mitzubringen, ohne sie vorher gemeldet, und die besondre
Erlaubniß dazu erhalten zu haben. Und wer, meinst Du wohl, daß diese
ertheilt? — Wer? — Die Frau geheime Räthin von Goethe Excellenz, weiland
Demoiselle Vulpius — risuin teneeckis g-alvi."
Die Unzufriedenheit mit Goethe selbst spricht aus einem Briefe Grubers
aus Weimar vom 27. November 1807 an den Freund in Halle: „Endlich. .
kommt ein freier Augenblick, in welchem ich Dir wenigstens ein Zeichen des
Lebens geben kann. Das geschehe in meinem Dank, daß Du mir eine so
angenehme Bekanntschaft, wie die der Madame Hendel, die ich früher als
Madame Eunike gekannt, verschafft hast. Mit Bewunderung hab ich diese
teutsche Hamilton gesehen und gehört, und Du kannst ihr kein so großes Lob
beilegen, in das ich nicht einstimmte. Behüte Dich aber Gott, jemals wieder
einen, der Dir lieb ist, nach Weimar zu empfehlen. Madame Hendel erklärte
bei ihrem Fortgang Madame Schoppenhauer für eine Närrin, und sie hat
Recht; Goethen für einen Flegel, und sie hat Recht. Von andern sprach sie — gar
nichts, und das war unstreitig sehr gütig von ihr. Denke Dir meinen Verdruß.
M. Hendel erklärte, xg.r nonnsur hier spielen zu wollen. Goethe war in Jena.
Ich wende mich an den geh. Rath Einsiedel, der bei dem Herzog und der
Herzogin die Sache anbringt, ein Expresser wird nach Jena gesendet, Einsiedel
schreibt selbst, und — trotz des Herzogs Wunsch — was kommt von dem
Papst in Jena zurück? — Ein gebietendes: Nein! Meinst Du nicht, daß
Teutona hier die Geißel ergreifen solle? Ich habe große Lust, dem Papst
an die Krone zu kommen. Du aber mein Freund, wie konntest Du, auch nur
im Scherz, mich seinen Kardinal nennen? Behüte Dich Gott vor so bösen
Gedanken."
Aus den letzten Worten erkennt man, daß Schütz schon anfing, an der
Zuverlässigkeit seines Gruber zu zweifeln. Es war übrigens eine große
Naivität von Gruber und Schütz, wenn sie erwarteten, daß Goethe auf ihre
Empfehlung nach allem, was vorhergegangen war, der Schauspielerin Hendel,
der spätern Gattin von Schütz, freundlich entgegenkommen würde.
Der Nekrolog I. G. Grubers, verfaßt von O. G(ruber), spricht von kon¬
ventionellen Irrungen, die es mit sich gebracht, daß Gruber später Goethes
Nähe gemieden habe, weil er den Dichter, aber nicht den Minister und Haus-
Herrn in ihm zu bewundern gelernt, und hebt es hervor, daß Wielands Gunst
ihm so entschieden zugewandt gewesen sei, daß er schon jetzt zu seinem Biographen
von Wieland selbst ernannt und vorbereitet worden sei.
An den Wielandbiographen Gruber ist der Brief des Buchhändlers Georg
Joachim Göschen gerichtet, aus Grimma vom 17. Januar 1824. Aus dem
„Leben Georg Joachim Göschens von seinem Enkel Viscount Goschen" erfahren
wir zwar, wie es gekommen, daß Göschen den Verlag Goethischer Schriften
verloren, aber wir hören nicht, daß er ein entschiedner Gegner Goethes gewesen
sei. Dieses aber beweist der genannte Brief. Folgendes halte ich der Ver¬
öffentlichung wert:
„Die zweite Hälfte des Lebens Wielands hat mich ebenso erfreut, wie
die erste. Sie haben sich ein großes Verdienst damit erworben; die Manen
Wielands, das Publikum und meine Wenigkeit sind Ihnen den größten Dank
dafür schuldig. Ich kann den Augenblick kaum erwarten, wo ich den Agathon
noch einmal lesen kann, über den Sie soviel Licht verbreitet haben. Und wie
interessant ist Ihre Geschichte unserer damaligen Literatur, für mich besonders,
der ich die Helden und ihre Thaten und deren Wirkungen auf das Publikum
gesehen und gehört habe. Ich habe mein geistiges Leben bei der Lectüre Ihrer
Darstellung noch einmal gelebt.
Jetzt muß ich Ihre Anfrage »warum ich das Leben Wielands dem
Prünumeranten auf die wohlfeile Ausgabe umsonst geben will«, beantworten.
Ein Nachdrucker zwingt mich, wie Sie aus der Beilage ersehen, diese Ausgabe
schon jetzt zu machen, da die gute Ausgabe kaum fertig ist, und ich deren
Absatz schade durch die wohlfeile Ausgabe. Mehrere von diesem Nachdrucker-
gesindel haben nur darauf gewartet, daß Ihre Ausgabe vollendet sey, um
gleich Hand an den Raub zu legen. Ich muß ihnen zuvor kommen, und
selbst meine eigne schöne Ausgabe nachdrucken. Ihr Leben Wielands ist der
Gnadenstoß, den ich ihnen gebe, weil sie es nicht nachdrucken können, da es
noch nicht da ist und sie den Preis ihrer Dieberei nicht bestimmen können,
bis sie wissen, wie stark das Leben wird.
Endlich sind 14 Thaler schon eine bedeutende Ausgabe für die unbemittelten
Leser. Das Abschreckende der Summe wollte ich dadurch mildern, daß ich zwey
Bände umsonst gebe, welches Opfer ich gern bringe, wenn das Publikum den
Wieland so gern nimmt als den Klopstock.
Als ich von Weimar zurück kam, fühlte ich eine große Sehnsucht über
Halle zu gehen, aber das Schiff vom Stapel laufen zu lassen, nemlich die
wohlfeile Ausgabe der Wielandschen Werke, dieser Gedanke trieb mich mit
Gewalt nach Grimma zurück.
Sie bedauern Ihre Wielcmdsche Biographie nicht so geben zu können wie
Goethe die seinige gegeben hat. Beruhigen Sie sich. Goethes Frischheit und
Lebendigkeit ist sehr oft nichts als eine Seifenblase, ein Schimmer von Farben,
der bald zerplatzt. Ich habe sein Buch aus der Hand geworfen, als ich seine
Schilderung von Basedow und Lavater las. Beide Männer habe ich genau
gekannt, und Basedow war ein Riese gegen Lavater, wenigstens in der Vernunft
und männlichen Kraft. Uiberhaupt ist das ganze Leben von Goethe eine
Spazierfahrt, während welcher mancherlei Gegenstände unserm Auge vorüber
gehen, ohne unsern Geist wahrhaft zu bereichern. Die Engländer, welche den
großen Lama nicht zu fürchten haben, haben ihn gar tüchtig bei den Ohren
gehabt, in dem Edinburgher Review, woraus Meister Goethe manches lernen
kann, wenn er Lust hat.
Apropos bei dem Edinburgher ReView! Ich wünsche, daß sie in Ur. 74
die Theilung von Pohlen mögen gelesen haben, es ist ein gar zu erbauliches
Stück, und wirft ein Licht auf die Erscheinungen neuerer Zeit.
Sie haben meiner Berührung des kitzlichen Punktes zu viele Wichtigkeit
gegeben. Nachdem ich die zweite Hälfte der Handschrift des Lebens gelesen hatte,
ist die Frage, ob Wieland als komischer Dichter recht hatte, mit Ja entschieden,
und ich muß bekennen, daß ich jetzt Manches, freilich in meinem Alter, gar nicht
gefährlich finde, was mir als Jüngling das Blut ein wenig in Wallung
brachte. Aber darauf kann ein komischer Dichter nicht Rücksicht nehmen, der
die verdorbene vornehme Welt durch Lächerlichkeiten oder vielmehr Darstellungen
derselben bessern will; er muß voraussetzen, daß der Jüngling durch moralische
und religiöse Erziehung gegen das Verführerische schlüpfriger Situationen
gewappnet sey."
Bekannt ist K. I. Schützers gehässiges Pamphlet gegen Goethes Wander¬
jahre. In Grubers Nachlaß finden sich nur noch wenige Blätter, die auf die
falschen Wanderjahre Bezug nehmen. Anfang 1822 hatte er dem Freunde
folgende Zeilen geschickt: „Bey dem Interesse, was ich, wie Du, mein Ver¬
ehrtester Freund, weißt an der Erscheinung der 2^» Wanderjahre und ihrem
Verfasser nehme, kann ich es mir nicht versagen Dir beifolgende Gedichte mit¬
zutheilen und Dich um Dein Gutachten besonders über das lezte zu bitten.
Der Verfasser der Wanderjahre hat mir nun auch noch ein neues (noch nicht
in den Buchhandel gekommenes) damit zusammenhängendes Werk: Gedanken
einer frommen Gräfin zugeschickt, das dergestalt voll asketischer Frömmelet) ist,
daß Fouque statt seines »Visier auf!« ihm lieber »Capuze ab« hätte zurufen sollen.
N. S. Im eben erschienenen 3. Heft des 3. Bandes seiner Hefte über Kunst
und Alterthum, unter dem Titel: Geneigte Teilnahme an den Wanderjahren,
übergeht Goethe mit vornehmem Stillschweigen seinen Gegner ganz, und berichtet
dagegen, daß Hr. Varnhagen von Ense etc. ihn über sich selbst aufgeklärt,
und das Problem seines Lebens, an dem er selber wohl noch irre werden
könne, gelöst habe! Ebendas. S. 52 hat er seine Jnhaltsanzeige der Jliade,
von Riemern, als Etwas ganz Außerordentliches anpreisen lassen."
Die drei Gedichte sind 1. von Friedrich de la Motte Fouque vom
14. Dezember 1821 „An den ungenannten Versasser von Wilhelm Meisters
Tagebuch, nach Empfang eines Exemplars dieses geistreichen Werkes", 2. von
dem Verfasser von Wilhelm Meisters Tagebuch und der Wanderjahre „Antwort
an Friedrich Baron de la Motte Fouque", 3. von K. I. Schütz, Halle,
Februar 1822 „Zuruf an Beyde". Wegen seiner erheuchelten Objektivität ver¬
dient dieser „Zuruf" veröffentlicht zu werden, er ist für seinen Verfasser höchst
b
Von seinen Felsenhöhn senkt sein Gefieder
Mit sanftem Flügelschlag, der mächtge Aar —
Zur Taube eines Tempels friedlich nieder.
Und wie der Dichtkunst Goldes Zauberhand
Altar und Burgen liebend einst umwunden,
Schaun wir den Ritterdichter Hand in Hand
Dem priesterlichen Sänger hier verbunden!
Der Kirche seyd Ihr Held und Priester beyde.
Allein von höhrem Dom strahlt Orpheus Stern,
Die Lyra, gleich herab auf Christ wie Heide.
Die Poesie ist Aller, wie das Licht!
Drum: gilt es Euch ein Urtheil über Goethen,
Den Dichter, der zur ganzen Menschheit spricht.
So seyd nicht Ritter, Priester, seyd — Poeten.
Nicht viel später ist eine recht fade Parodie „Autorbeichte von Schütz" auf die
„Generalbeichte von Goethe".
Überschauen wir den ganzen Lebenslauf dieses K. I. Schütz, alle seine
Irrungen und Wirrungen, und beurteilen wir nach dem Spätern das Frühere,
dann müssen wir gestehen, Goethe hatte Recht gehabt, der Vater hätte den Sohn
besser erziehen müssen. Zu dieser Erkenntnis führte K. I. Schütz auch den
treuen Freund Gruber 1835 durch die Auseinandersetzung in der Vorrede zum
in düstrer Zauber umschwebt die trutzigen Mauern der alters¬
grauen Burgen, deren Türme allerorten in Deutschlands herrlichen
Gauen an die entschwundnen Zeiten der Ritter und Sänger, an
Fehde und Turnier, an holde Burgfrauen und Minnedienst er¬
innern. Die Steine geschwärzt, von Frost und Regen zerklüftet,
von stürmender Kriegerfaust gebrochen, von zehrenden Feuersgluten geborsten,
dauern sie dennoch durch die Jahrhunderte. Wie für die Ewigkeit gebaut,
bilden sie Merkzeichen der Landschaften, Sage und Geschichte schlingen einen
immergrünen Kranz darum und lassen sie — die Zeugen längstvergangner
Zeiten — noch heute vernehmlich zu uns Enkeln reden.
In diesen Worten hat Bodo Ebhardt, der viel beredete und viel befehdete
Meister des Aufbaus der Hohkönigsburg im Elsaß, alte Gedanken in neue,
gefällige Form gekleidet und seinem stattlichen Werke über „Deutsche Burgen"
vorausgeschickt.
Burgenzauber?! Ein Begriff fähig, dem Geschichtsfreunde Gewissenspein zu
schaffen; „auch der erklärte Widersacher bläßlicher Romantik und unfreier Rück-
würtsgelüste" (Scheffel) wird von ihm ergriffen, aber wer ihn empfindet und
ausspricht, trägt ohne Zweifel Gefühle in die Betrachtung des Denkmals hinein,
die sich nicht recht vertragen wollen mit den Ergebnissen ernster und gründlicher
Forschung; gerade die Burgenkunde weiß, daß sie nichts oder wenig, aber sicher
das eine weiß, daß das Leben in den befestigten Einzelsitzen des Mittelalters
recht wenig erfreulich, behaglich und kurzweilig gewesen sein muß.
Aber er hat uns fest gepackt, der Burgenzauber, und will nicht loslassen.
Die Worte „Burg" und „Ruine" gehören nun einmal, für uns Deutsche
besonders, zu den Begriffen, von denen so unvergleichlich Hermen Grimm
sagt, sie trügen etwas von einer Zauberformel in sich. „Man spricht sie aus,
und wie der Prinz in dem Märchen der Tausend und eine Nacht fühlt man
sich vom Boden der Erde in die Wolken steigen. Nichts Bestimmtes, keine
einzelnen Gestalten erblicken wir, aber Wolkenzüge, aus herrlichen Männer¬
scharen gebildet, ziehen am Himmel hin.
Nun aber treten wir näher und wollen die Dinge deutlicher betrachten.
Da erkalten die glühenden Bilder und werden trübe und nüchtern. Wie überall
gewahren wir auch hier den Kampf der gemeinen Leidenschaften, Ärger, Wehmut
und Trauer stehlen sich ein an die Stelle der Bewunderung, die uns zuerst
bewegte. Und dennoch was ist das? Indem wir uns abwendend von weitem
einen Blick zurückwerfen, da liegt der alte Glanz wieder auf dem Bilde, und
eine schimmernde Ferne scheint das Paradies trotzdem zu entfalten, zu dem es
uus hinzieht. ..."
Freilich nicht zu allen Zeiten haben die erhaltnen Reste der Wehr- und
Wohnbauten vergangner Jahrhunderte diese Sprache geredet, die heute jeden
entzückt, dem empfänglicher Sinn für geschichtliche Dinge zu eigen ist. Ihre
Klänge ertönen natürlich erst seit den Tagen, wo die Burgen aufhörten, hoch-
gctürmte, uneinnehmbare Wohnstütten zu sein, wo die Fortschritte im Gebiet
des Geschützwesens die dem frühern Mittelalter völlig unbekannte Fernwirkung
der Geschosse gebracht hatten, wo endlich die Städter im Kampf um die Sicherung
des Handelsverkehrs Talsperren brachen, Raubnester aushoben und dem Erd¬
boden gleich machten. Und wer sich vorstellt, wie eng, dunkel, unwirklich diese
Wohnstätten waren, wie unsagbar eintönig das Leben der Insassen, mit wenig
Ausnahmen, gewesen sein mag, der versteht, wie der Zug nach der Stadt schier
unwiderstehlich über die Bergeshöhen einherbrauste und mit sich fortriß. Das
„werliche hus" des Mittelalters hatte sich überlebt. Ritter und Knechte zogen
zu Tal, wo das Leben kurzweiliger einging, wo erhöhte Sicherheit und Be¬
quemlichkeit ihrer harrte, und in Höhen- und Wasserburgen blieb höchstens ein
Wächter zurück, oder auch das letzte menschliche Wesen zog ab. Ungenügend
unterhalten oder völlig vernachlässigt barsten und stürzten die Türme, zer¬
klüfteten die Mauern, Bäume und Gesträuche überwucherten die vordem absicht¬
lich kahl gehaltnen Stellen an der Burg und rings um sie, Palas und
Kapelle verdarben, dienten den niedrigsten landwirtschaftlichen Zwecken oder
wurden zu bequemem, billigem Steinbruch entweiht. Statt Wächterrufs lautlose
Ruhe, kurz, wie Uhland singt:
Gestein und Zeit beginnen ihren hier kurzen, dort hartnäckigen Streit, Berchfrit
und Kemenate, die ganze Burg wird zur Ruine, entweder „der Zeit steinern
stilles Hohngelächter" oder verschwindet völlig in Asche und Schutt.
Doch, wo der Mensch gewichen war,
oder wohl gar ähnlich unheimliches, lichtscheues Gesindel, aber ohne Fleisch und
Bein: Gespenster, Geister und Spuk; die einsame Burgstelle wird zum verrufnen,
ängstlich gemiednen Platz, allen Schätzen gleißenden Goldes, die angeblich in ihrer
Tiefe ruhen, zum Trotz. Da nun obendrein von einer Wanderlust in unserm Sinne
früher gar keine Rede sein kann, so kam auch kaum ein Naturfreund an jene
dem Verfall preisgegebnen Stätten, und niemand brachte die Kunde vom Zer¬
störungswerk der Zeit und die Anregung zur Abhilfe in die Stadt hinab. Ja
sogar — und das ist eine höchst merkwürdige Erscheinung — als dann später
gewandert wurde, und die Romantik in höchster Blüte stand, pries man wohl
in langen, hochpoetischen Ergüssen die versunkne Pracht, aber keine Hand regte
sich, die Reste der Baudenkmäler aus der Bürgerzeit vor weiteren Verderb
zu schützen.
Denn, um das Seltsame fast unglaublich zu machen: nicht die Zeit unsinniger
Schwärmerei für das Mittelalter brachte den Burgruinen Rettung, nein, das
blieb dem Zeitalter des Dampfes, der Maschinen und der Elektrizität vorbe¬
halten. Auch hier nur allmählich. Als schon die Wiederaufnahme der Dom¬
bauten des Mittelalters aufs eifrigste betrieben und durch Studien vorbereitet
Wurde, war die Profan-, besonders Burgenbaukunst noch ein Stiefkind der
Architekten, denn sie schuf ja keine steinernen Lobgesänge zu des Höchsten Ehre,
sondern sehr irdischen Zwecken der Selbsterhaltung dienende Nutzbauten auf
knappen Raum, mehr trotzig und fest als gefällig oder gar schön. Erst die
planvolle, gleichmäßige Erforschung der Kunstdenkmäler der deutschen Lande
und das Streben, sie womöglich in gesetzlichen Schutz zu stellen und so end-
giltig der Nachwelt zu erhalten, brachte Abhilfe und den Burgresten Gleich¬
berechtigung neben Domkirchen und Bauernhäusern.
In den Reihen der für tatkräftige Denkmalpflege eintretenden Männer
aber schloß sich, ein Kreis im Kreise, wiederum eine Anzahl solcher zusammen,
die besonders unter dem Banne des Burgenzaubers stehn und seiner Erhaltung
wie der Verbreitung des Verständnisses seiner Reize im Volke Förderung aller
Art angedeihen lassen wollen: die 1899 ins Leben getretne „Vereinigung zur
Erhaltung deutscher Burgen" mit ihrem, recht sinnig, der „Burgwart" genannten
Fachblatt und ihren burgenfrohen Festen auf der Marksburg am Ufer des
Rheins. Und es ist eine Schar, nicht hindämmernder Phantasten und Träumer,
sondern mit Feder und Spaten gleich vertrauter Gelehrter und Burgenfreunde
in die so lange verlassenen Hallen eingerückt; Nelken, was vor Verwitterung
und Verfall zu retten ist, heißt ihre Losung; es regt sich allenthalben frisch im
deutschen Land, und es steht zu hoffen, daß liebevolle Pflege der steinernen
Zeugen einer längst entschwundnen Zeit in der Gegenwart Erfolge erringen und
reiche Früchte in der Zukunft unsers Volkes ernten werde.
Das Ziel ist deutlich bezeichnet, nur über die Wege gehn die Meinungen
oft weit auseinander, besonders bei denen, die als Bauverständige die Frage der
Erhaltung als Ruine oder des Wiederaufbaues zu erwägen und zu beurteilen
haben.
Da hat sich denn eine mitunter gesunde, mitunter aber auch der Sache
schädliche Polemik entwickelt, und wir brauchen nur an den Wiederaufbau der
Hohtonigsburg zu denken, wenn wir erfahren wollen, daß die Feuerschlünde
im Kampf der Ansichten noch nicht verstummt sind. Eine Burg wieder erstehn
zu lassen, ist kein leichtes Geschäft; das hat zum Beispiel schon der Gießener
Professor Hugo von Ritgen an sich erfahren und andern bewiesen, als er die
jedem Deutschen geläufige Burg des Lichts, das hell von der hehren Gestalt
der heiligen Elisabeth und Martin Luthers markiger Persönlichkeit ausstrahlt,
die Wartburg, auf- und aufbaute. Wer hätte nicht die Für und Wider ver¬
folgt, die vorgebracht wurden, als Bodo Ebhardt für unsern Kaiser die Pläne
zum Wiederaufbau der schon erwähnten Hohkönigsburg fertigte; als vollends
in dem noch unendlich volkstümlichen Heidelberger Schloß der Ottheiurichs-
ban Gefahr lief, zu verfallen oder verschlimmbessert zu werden, da ging eine
die weitesten, nicht bloß badische oder speziell künstlerische Kreise ergreifende
Bewegung durch das deutsche Volk. Wer sich einen annähernden Begriff
machen will, wie weit die Wellen schlugen, der lese einmal im vierten Bande
der „Mitteilungen zur Geschichte des Heidelberger Schlosses" nach, wo sich
der Niederschlag aller zu jener Angelegenheit getaner Äußerungen auf nicht
Weniger als 238 Seiten gedrängt gesammelt findet: ein Chaos von Meinungen,
Empfindungen, Warnungen, Wünschen. Allen gemeinsam eine treibende Kraft,
die pietätvolle Erhaltung der ehrwürdigen Reste vergangner Zeiten gebieterisch
heischt: nichts andres im Grunde als der Burgenzauber, und je nachdem er so
oder so entzückt, fällt auch die Antwort auf die Frage aus: Ruinenerhaltuug
oder Ausbau.
Wenn etwas Sache des Gemüts ist, so ist es unser Empfinden im An¬
blick eines solchen herrlichen Baudenkmals, in das Jahrhunderte ihre Zeichen
wie in ein steinern Stammbuch eingeschrieben haben. Da aber kein Empfinden
eines Menschen dem eines andern gleicht, so wenig wie ein Blatt dem andern,
so brauchen wir zur Lösung des Rätsels, warum es auch hier nicht ohne
Streit und Zank abgehn kann, keinen Schlüssel mehr. Man wird niemals eine
allgemein befriedigende Abgrenzung der Gefühle finden und aussprechen können,
die ausgelöst werden, wenn wir in Halle und Saal, Turm oder Verlies
herumwandelnd den „Odem der Vergangenheit" um uns spüren; nicht definieren
wird man, sondern nur die verschiednen Farben registrieren, in denen der Be¬
griff des Burgenzaubers im Laufe der Jahre geschillert hat, und sich die aus¬
wählen, die dem eignen Empfinden am nächsten kommen.
Sehr mit Recht hat man gesagt (Krollmann im „Burgwart" I, 78), in
eine mittel- oder süddeutsche Landschaft gehöre notwendig vor unser geistiges
Auge eine ragende Burg oder eine einsame Ruine. Ebenda können wir auch
lesen, das ästhetische Wohlgefallen an Burgresten komme daher, daß das in den
meisten Fällen sehr augenfällig liegende Bauwerk mit seinen ausgeprägten,
geraden und eckigen Linien einen angenehmen Gegensatz zu den meist runden
und fließenden Konturen des Berglandes bilde, seine Masse biete dem Auge
einen erwünschten Ruhepunkt. Das eigentlich Romantische scheine auf ein Er¬
innerungsgefühl zurückzuführen zu sein. „Bei den meisten Menschen werden
diese Gefühle um so romantischer sein, je unbestimmter sie sind. Gedanken an
die Vergänglichkeit alles Irdischen, ein wenig Träumerei von einem phantastischen
Mittelalter, mehr gibt uns auch ein Sänger wie Eichendorff nicht!"
Dieses ist in der Tat eine treffende Erklärung der Gefühle, mit denen
die breite Masse der zahllosen Menschen, die jetzt Burgruinen erschauen oder
ersteigen, diese betrachten. Denken die einen dabei an die Stunden des Friedens
und beleben den Raum, unter der Burglinde ruhend, mit Gestalten aus der
Blütezeit des Rittertums, so schweifen andre im Anblick der Schießscharten,
Pechnasen und Bollwerke mit ihren Gedanken in die Zeit, wo Wall und
Graben sichrer waren als Worte und verbrieft Geleit. Der Reiz wird erhöht
durch die befriedigte Wanderlust, die reine Luft in der Höhe des oft nur
mühselig zu erklimmenden Berchfrits, den weiten Blick in deutsches Land über
Wälder und Höhen, Berg und Tal. Neuerdings, wo auch an den entlegensten
Plätzen für des Leibes Notdurft gesorgt ist (freilich an Burgplätzen nicht
immer zur Freude des Geschichtsfreunds), mag die Liebe zur Burg bei manchem
auf dem Umwege durch den Magen zum Herzen gedrungen sein, und der Reben¬
saft am burgenbesäten Rheinstrom dürfte hier sein redlich Teil getan haben
und tun.
Ganz anders dagegen wird es im Kopfe eines Bauverständigen aussehen,
der, sei es im Geiste, sei es in Wirklichkeit, neu schaffen will, was die Zeit,
Elemente und Menschenhände so grausam vernichtet haben. Da sind es Zahlen
und Maße, keine Gefühlsduselei, aber Freude an den Formen und Linien,
an Bogen und Säulen, ein prüfender Blick nach verschütteten Bauteilen, die
Mauerverbandstechnik und die Haltbarkeit des Materials, was ihm den Sinn
bewegt. Und wenn er dann im Anblick der wuchtigen, gewaltig getürmten
Vossenquadern nachempfindet:
so ist das noch ein erlaubter Rückschluß auf vergangne Tage. Weniger statthaft
und wünschenswert aber ist vom Standpunkt der historischen Wahrheit die so
sehr beliebte Weise von der „guten alten Zeit" voll Edelsinn und Biederkeit
und ihrer schönsten Verwirklichung auf Vergesgrat oder im Tale hinter Graben
und Wall, im Burgbereich. Wir wissen jetzt, gottlob, daß alle Zeiten gut und
schlecht waren, daß die Freuden und die Leiden der Menschheit immer im
Grunde dieselben sind und bleiben, und wenn überhaupt ein Vergleich ange¬
bracht wäre, so könnte der viel eher zugunsten unsrer Tage ausfallen.
Völlig im Banne dieser „guten alten Zeit" stehn noch die Worte: „Das
Herumwandeln auf den Trümmern alter Bürgen, den ehrwürdigen Wohnsitzen
längst verschwundner Generationen, hat immer etwas Feierliches, ich möchte
sagen. Heiliges, das jedes Gefühl unwillkürlich ergreift, und der Anblick dieser
stillen, ehrfurchtgebietenden Zeugen früherer Geschlechter, mit seiner ganzen
Masse von Erinnerungen, versenkt das Gemüt so leicht in jene melancholische
Schwärmerei, die, der Gegenwart vergessend, die Schatten der Vorwelt aus
ihren Gräbern hervorruft."
Dieser Geist durchweht die zehn Bände des Werkes von Friedrich Gott¬
schall über „Die Ritterburgen und Bergschlösser", das im neunzehnten Jahr¬
hundert wohl das meistgelesne Buch über diesen Gegenstand gewesen ist, bis
erst vor wenigen Jahren die Schriften von Piper (1895), Bodo Ebhardt (1900)
unter andern den höchst nötigen und ersehnten Ersatz gebracht haben, freilich
nicht, ohne unter den vorher oft sehr kritiklos aufgenommnen und weitver¬
breiteten Irrtümern und Fehlern gründlich und erbarmungslos aufzuräumen.
So freudig die Forschung dieses begrüßt, so berechtigt ist aber der Wunsch,
daß darum doch fortan der Born nicht ganz versiegen möge, aus dem die Ver¬
künder des Burgenzaubers schöpften und schöpfen.
Schier endlos ist die Reihe der Poeten, die, von unsern Bergschlössern
und Burgen gewaltig angeregt, ihrem dichterischen Empfinden den freiesten Lauf
gelassen haben, ob sie nun in Gedichten, Prosa und Romanform eine bestimmte
Burg zum Schauplatz ihrer Erzählung wählen (man denke an den Ekkehard
und den Hohentwiel bei Scheffel, als ein Beispiel für viele) oder, ohne eine
besondre Burgställe im Auge zu haben, ausplaudern, was ihnen zwischen efeu¬
umrankten Mauertrümmern im Abendrot der alte Burggeist erzählt hat. Alle
diese dichterischen Verherrlichungen einmal im Zusammenhang zu betrachten,
wäre eine dankbare, wenn auch zum Teil schon gelöste Aufgabe. Ein Riesen¬
lager von Material für Dichter und Novellisten liegt vor uns, wenn wir durch¬
stöbern, was auf Burghalter schon alles geträumt und gereimt, gesucht und
gebucht worden ist. Neben vielem wertlosen, unechtem ist auch eine Reihe tief-
empfundner und herrlich ausgedrückter Gedanken dabei vertreten.
Je weniger wir verbürgtes wissen vom wirklichen Leben des Alltags in
einer Burg des Mittelalters, um so mehr wurde erfunden, je fester verrammelt
das Tor des Kastells dem Feind entgegenstarrte, desto weiter öffnete es sich
später für Vermutungen und poetische Ausschmückung. Neben Taten und
Geschehnissen in Balladen und Romanzen bringen die Dichter der Burgenschönheit
auch bloße Stimmungen und Empfindungen im lyrischen Gewände.
Ein Gedanke, der sie — wie schon gesagt worden ist — fast ausnahmslos
gleich stark ergreift, ist der an die Vergänglichkeit alles Irdischen; da singt zum
Beispiel Christoph August Tiedge:
Nikolaus Lenau bringt denselben Gedanken in etwas gefälligerer Form zum
Ausdruck in den Worten:
Und da dem Poeten nicht mit toten Steinmassen gedient ist, wenn er sie nicht
nach seiner Art bevölkern kann mit Menschen aus Fleisch und Bein, voll Lieb
und Treu, Haß und Neid, so ziehen allgemach in hellen Haufen die Gebilde
seiner Phantasie den Burgweg hinan und halten sieghaften Einzug von der
Zinne des Berchfrits bis in die dunkelsten Räume des Verlieses, ja durch
unterirdische Gänge bis tief in den Burgberg hinein.
Daß Zinnen und Minnen sich trefflich reimt, kam den Dichtern des
Burgenzaubers gerade recht. Wohnt doch in winddurchtoster Höhe der Wächter,
sorglich spähend, die Zeit meldend und Gefahr verkündend mit seines Hornes
Schall. Die Weise, mit der er von der Zinne den Tag begrüßt, das Tage¬
lied, ist ja geradezu eine besondre Gattung des Minnesanges geworden, und
seine Klänge zeigen uns den Wächter, der als Hüter des Schlafes der Burg¬
bewohner der treueste der Treuen sein sollte, auch in jener so eigentümlichen, aber
hochpoetischen Stellung als Beförderer verbotner Minne, indem er den Ritter,
der für des Burgherrn Frau in Liebe erglüht ist, einläßt und rechtzeitig an
den Abschied gemahnt.
ach einer viertägiger Fahrt läßt man sich ein paar Stunden
Aufenthalt in einer so netten Stadt wie Orenburg gern gefallen.
Nach Erledigung der Gepäckschwierigkeiten und Einrichtung einer
ordnungsmäßigen Wache sausten wir zu Schlitten in die durch
Pugatschoffs Aufstand gegen die zweite Katharina und als Tausch¬
handelsplatz für den innerasiatischen Handel einstmals so berühmte Vorstadt
des Nussentums gegen Asien hin. Sie hat als Handelsplatz schon durch die
mittelasiatische Eisenbahn ungemein verloren, und der große Tauschhof fünf
Kilometer von der Stadt steht verödet. Noch kauft man preiswert seidne
Tücher und dieses oder jenes orientalische Erzeugnis, aber den letzten Teil
seiner Bedeutung wird Orenburg an die vorgeschobnen asiatischen Märkte ab¬
geben, sobald der regelmäßige Verkehr zu den Staffeltarifen der russischen
Eisenbahnen auf der neuen Strecke endgiltig eröffnet ist. So zeigt sich Oren¬
burg jetzt als sehr anstündige Ausgabe des Typus der russischen Gouvernements¬
hauptstädte, die sich besonders gut unter der schützenden, alle Unsauberkeit ver¬
hüllenden Schneedecke und mit dem regen Verkehr der bunten, ein-, zwei- und
dreispännig gefahrnen Schlitten, der geschmückten, glöckchenbehangnen Trocken
ausnehmen. Nur noch eine Moschee mit spitzem Minaret macht Zugeständnisse
an den mohammedanischen Osten; wenige Kamelzüge erinnern an die schöne
Zeit, in der sie das Monopol des Verkehrs hatten; große viereckige Kauf¬
höfe endlich erscheinen als verbesserte Karawansereien. Aber die fremdartigen
Menschen haben dem Mushik Platz gemacht, der in seiner Stumpfnasigkeit mit
dem unter dem umgestülpten Topf geschnittenen Haupthaar, dem Halbpelz oder
dem wattierter Schoßrock mit buntem Kuschak, der viereckigen Pelzmütze und
den langen Stiefeln auch kein übermäßig schöner Vertreter des Menschen¬
geschlechts ist. Der arme Mushik, was hat er alles erdulden müssen, welch
hoffnungsloses Mühen ist ihm durch die jeden Fortschritt hemmende Bei¬
ordnung bei der Aufhebung der Leibeigenschaft, durch die Aufhalsung der
Ablösungszahluugen für die Rechte der Gutsherrschaft auferlegt worden, bis
endlich die Niederschlagung der noch rückständigen Summen erfolgt ist! Wie
oft mußte er unter Hungersnöten leiden, um in einem erntereichen Jahr endlich
den Segen der Bodenbearbeitung für Schleuderpreise abzugeben, um nur die
Schulden zu decken. Massenweise lagerten die Getreidevorrüte an den Eisen¬
bahnstationen, die sogenannten Saleshi, die bei dem chronischen Wagenmangel
der Eisenbahnen dem Verderben geweiht sind. Damals war wenigstens Aus¬
sicht, für die Bedürfnisse der nach Asien abzutransportierenden Truppen das
Vorhandne abzusetzen und Geld zu lösen.
Von Orenburg aus wurden wir der Wohltaten der Eisenbahntarife teil¬
haftig. Wir erhielten durchgehende Fahrscheine bis Warschau für eine Strecke
von 2857 Kilometern für 23,40 Rubel mit achttägiger Giltigkeit. Zwischen
zweitausend und dreitausend Kilometern Staffeln sich die Fahrpreise in Zonen
von fünfzig Werst um je dreißig Kopeken (II. Klasse). Die verabreichten Scheine
werden nach dem Vordruck für die betreffende Zone zurechtgcschnitten und mit
der Aufschrift der gewählten Strecke versehen, soweit völlig gedruckte Fahrkarten
nicht vorhanden sind. Natürlich erfordert die Herstellung dieser Scheine mit
der mehrfachen Abstempelung und Beschreibung einige Zeit — Geduld ist am
russischen Schalter eine unerläßliche Eigenschaft. Das Gepäck, von dem man
nur vierzig Pfund frei hat, muß man bis zum Endziel aufgeben, darf es sich
jedoch bei Fahrtunterbrechung gegen Quittung aushändigen lassen. Gibt man
es, wie wir, bis zu einer Zwischenstation auf, verliert man für den Nest der
Fahrt rettungslos den Anspruch auf Freigepäck. Um diesen und ähnlichen
kleinen Plackereien zu entgehn und aus Besorgnis vor unbefugter Durchsuchung
beladet man sich lieber mit Unmassen Handgepäck, von dem einzelne Teile ja
allerdings auf den langen Strecken notwendig gebraucht werden. Aber es wird
zur Strafe, wenn man in einen so vollgestopften Zug gerät wie wir in
Ssamara, wo man in den von Jrkuts! kommenden sibirischen Zug umzu¬
steigen hat.
Schon in Kinel waren wir auf die über Asa nach Sibirien führende Strecke
gelangt und hatten Gelegenheit, auf dieser Station und unterwegs bis Ssamara
den hoch gesteigerten Kriegsverkehr zu beobachten. Kinel war auf seinen vielen
Ausziehgeleisen mit Zügen mit Kriegsmaterial vollgestopft und in den Ver-
Pflegungsrüumen dicht besetzt. Die Verpflegung der auf den endlosen Transport
nach dem Kriegsschauplatz angewiesenen Truppen war sachgemäß auf eine große
Anzahl Stationen verteilt. Ssamara, wohin wir mit einiger Verspätung ge¬
langten, war mit besonders großartigen Einrichtungen versehen und auch schon
durch seine Bedeutung im Friedensverkehr dazu befähigt, Truppenstaffeln in
etwa einstündigem Aufenthalt zu verpflegen. An dem Ende des hundert Kilo¬
meter nach Osten ausholenden Bogens der Wolga, verhältnismäßig hoch und
malerisch gelegen, ist die Stadt der gegebne Umladeplatz für Wassertransporte
auf der Wolga, die von oder nach Sibirien gehn, für Getreide und insbesondre
für Bauholz, das auf der Wolga und Kama herabkommt und in die wald¬
armen Gegenden des Südostens bestimmt ist. Auch Ssamara ist die übliche
russische Provinzialstadt, deren breite Straßen nicht immer einwandfrei, im
Frühjahr schmutzig, im Sommer staubig und im Winter am besten, nämlich
mit Schlitten zu befahren sind. Wir zogen indessen diesmal einen Spaziergang
in der frischen Morgenluft vor und stellten an verschiednen großen und kleinen
Häusern deutsche Firmenschilder fest, die darauf hinwiesen, daß in der Wolga¬
gegend viele deutsche Kolonisten angesiedelt sind, deren blühende Anwesen ihre
Besitzer als kaufkräftige Leute erkennen lassen.
Auf dem Bahnhof lagen in der Zeit unsrer unfreiwilligen Muße infolge
vierstündiger Zugverspätung Truppenzüge mit der Telegraphenkompagnie der
neunten Sappeure und mit neunter Artillerie. So lernten wir die Tepluschken,
das heißt die zu den Wintertransporten nach der Mandschurei bestimmten, mit
Heizeinrichtungen versehenen, mit Filz ausgeschlagnen Güterwagen kennen, in
denen der russische Krieger drei Wochen zubringen mußte., Sie waren ja nicht
gerade schön, aber gewährten doch einigermaßen Schutz gegen Wind und Kälte
und stellten die mit Filzstiefeln und Halbpelz ausgerüsteten Soldaten an¬
scheinend zufrieden. Ihren völlig gleichgültigen Gesichtern war weder kriegerische
Begeisterung noch Schwermut, weder Freude noch Verdruß noch Langeweile
anzusehen. Auch die Offiziere machten einen ruhigen, gehaltenen Eindruck —
von Hurrapatriotismus keine Spur, ganz im Gegensatz zu einem rmlss
Zloriosus, einem unverschämten Schlingel von Praporschtschik der Reserve
(eigentlich Fähnrich, unserm Vizefeldwebel der Reserve entsprechend) oder Offizier¬
stellvertreter, der mit dem Arm in der Binde laut renommierte, viel bean¬
spruchte und auf sein Heldentum pochend wenig oder gar nichts zahlen wollte.
Bevölkerung und Reisepublikum nahm von den ausreisenden Truppenteilen
nicht die geringste Notiz ; gewiß mochten die nunmehr über Jahresfrist währenden
Transporte jedermann dagegen abgestumpft haben, Hauptgrund war doch wohl
die gegen den Krieg gerichtete Stimmung im Volke, die die Zeitungen nach
Möglichkeit in ungünstigem Sinne beeinflußt hatten, und die aus jeder Unter¬
haltung herauszuhören war.
Als der sibirische Zug einlief, verfingen zum erstenmal unsre guten Em¬
pfehlungen und die höchsten Trinkgeldangebote nicht mehr. Wir hatten uns
in die Aufgaben der Erkundung, Plützebelegung, Gepäckbewachung und des
Gepäcktransports geteilt, aber alle Wagen waren besetzt, alle schmutzig, muffig,
widerlich. Alle Einrichtungen waren in ekelerregender Weise verdorben, alle
Fahrgäste von der langen Fahrt um alles gesellschaftsfähige Aussehen gebracht.
Schließlich mußten wir froh sein, in einem Abteil bei einem Verrückten und
einem Schwindsüchtigen, in einem andern bei einem rekonvaleszenten Offizier
drei Plätze und in einem Durchgaugswagen zwei bescheidne Eckchen von dem
einigen Damen zukommenden Platzanteil zu erhalten und unsre Siebensachen
auf den obern Polstern verstauen zu können. Die Hilfsbereitschaft der Mit-
reisenden in dem Wagen muß anerkannt werden. Sie fühlten sich alle soli¬
darisch und hatten sich an die Luft im Wagen, an einige unberechtigte Mit¬
reisende ohne Fahrkarte und auch einen unzweifelhaften Spitzbuben gewöhnt,
der eine wertvolle goldne Uhr ohne Scheu zum Verkauf anbot. Ein geringer
Trost in dieser Hölle war der Gedanke, nur fünf Stunden bis zum Abend darin
verbringen zu müssen, und die Bekanntschaft eines jungen blondbärtigen Deutschen,
der, in Polen gebürtig, in einem Montanwerk im Ural beschäftigt, alle drei
in Betracht kommenden Sprachen gleich schlecht sprach und sich mit einem Freund
und Kollegen vor der ihm drohenden Einberufung als Landwehrmann durch
schleunigst genommenen Urlaub gerettet hatte.
Schon kurz hinter der Station Ssamara hielt der Zug. In jeden Wagen
vorn und hinten stieg ein bärtiger Landwehrmann, verscheuchte alles von der
Plattform in das Innere und bewachte uns mit aufgepflanzten Seitengewehr,
während der Zug die mit Posten außerdem besetzte Ssamarabrücke passierte.
So wurde die ganze Eisenbahn von Persa oder gar Rjüsan aus bis zum
Kriegsschauplatz gesichert; vielleicht wars des Guten ein bißchen viel, aber man
hat auf diese Weise den großartigen Kriegsbetrieb über Jahr und Tag ohne
nennenswerte Störung aufrecht erhalten und sogar auf der Transbaikalbahn,
dem Sorgenkinde des Verkehrsministers, bis auf vierzehn Züge täglich in jeder
Richtung steigern können. In Erwartung des technisch interessanten Bauwerks
der Wolgabrücke zwischen Obscharowka und Batraki haben wir die fünfstündige
Marter einigermaßen geduldig ertragen. Der Zug kletterte eine lange Damm¬
schüttung hinan und gestattete uns durch die Führung dieses Dammes in einer
Kurve die Stromniedernng und Brücke lange vorher zu sehen. Erst nachdem
am linksufrigen Brückenhaupt ein Offizier die Postenaufstellung in den Wagen
nachgesehen hatte, setzte sich der Zug langsam in Bewegung und schlich über
die zwölf hohen spindeldürr aussehenden Pfeiler und mehr als hundert Meter
langen Spannungen der Gitterträger des eingleisigen eisernen Oberbauch. Von
der schräg einfallenden Abendsonne auf die schneebedeckte Eisfläche des mächtigen
Stromes projiziert, zeichnete er dort sich und seine Bewegung deutlich sichtbar
ab. Weil gar so vorsichtig gefahren wurde, war man versucht, die Betriebs¬
sicherheit der Brücke in Zweifel zu ziehn, sie hat jedoch gehalten. Die wohl
auch gegen unlautere Elemente des eignen Landes gerichteten Sicherheits¬
maßregeln aber haben sich bezahlt gemacht, denn die Folgen einer einigermaßen
gelungner Zerstörung der Wolgabrücke wären tief einschneidend gewesen.
Das westliche Hochufer nahm sich in der Beleuchtung des klaren Abends
sehr malerisch aus, und die Hügellandschaft, durch die sich der Zug in mehreren
Windungen emporarbeitete, rechtfertigte ihren guten Ruf landschaftlicher Schön¬
heit. Nachdem er noch einmal einen Ausblick auf die Brücke gewährt und an
drei Stationen mit dem Namen Batraki angehalten hat, läuft der Zug endlich
bei schnell herniedersinkender Dämmerung und leuchtendem Abendrot in die
wichtige Station Ssysran ein.
Hier fand Zugwechsel statt und begann ein ebenso ernstlicher wie im Grunde
ergötzlicher Kampf ums Dasein in den nächsten vierundzwanzig Stunden. Se.s
Findigkeit und im Brustton der Überzeugung die russische Sprache manchmal
grausam schlecht behandelnder Zungengeläufigkeit war es gelungen, ein für
unsre Nachtruhe sehr geeignetes Doppelabteil zu behaupten, bis Hilfe kam und
die Anzahl unsrer Stücke unsre auf sieben bis acht Personen hinaufgelogne
Stärke einigermaßen wahrscheinlich machte. Es galt noch manchen Sturm ab¬
zuschlagen, zum Beispiel einen aus der Mandschurei zurückkommenden Roten-
Kreuz-Doktor, der vermöge seines Äußern, seiner Formen und seiner Begleitung
ein höchst unlieber Reisegenosse geworden wäre. Na ja, wählerisch in der An¬
nahme der Ärzte für den Feldzug zu sein, den Luxus konnten sich Staat und
Hilfsgesellschaften eben nicht leisten. Bei Nacht hatten sich einige Mann vom
Zugpersonal auf unsern freien Plätzen breit gemacht, kamen aber bei dem
plötzlich erwachten Se. übel an. Rache ist süß — sie straften uns durch Nicht¬
achtung, erhielten dafür aber auch nicht eine Kopeke Trinkgeld.
In dem lebendigen Treiben auf dem Bahnhof Ssysran, von dem aus
mehrere Strecken abzweigen, herrschten natürlich die aus dem Kriege zurück¬
kehrenden gesunden und verwundeten, auf Stöcke gestützten Krieger und die
nach dem Kriegsschauplatze reisenden neu equipierten Offiziere in packenden
Gegensatz dazu vor. Meist trugen sie zu den grauen Feldzugsuniformen die
hohe zottige Lammfellmütze, die zu den gutmütigen, etwas stumpfsinnigen
Russengesichtern so gar nicht recht passen will, aber jedenfalls ein zweck¬
mäßigeres, weil leicht zu verpackendes und gegen die Kälte schützendes Aus¬
rüstungsstück ist als etwa unser Helm. Zurückkehrende Soldaten versammelten
ein ihren Erzählungen andächtig lauschendes Publikum um sich und konnten
sogar ein paar japanische Gewehre als Trophäen aufweisen.
Nach einer erneuten Portion Schtschi gabs eine vorzügliche, nur in Persa
noch einmal unterbrochne Nachtruhe und eine angenehme Fahrt am folgenden
Tage. Sie führte durch die fruchtbaren Schwarzerdegouvernements Persa,
Tamboff, Rjäsan vorüber an Feldern mit tiefschwarzem, schon abgetautem
Boden, an Waldstücken und Wiesen, an Dörfern und vereinzelten Herrensitzen,
an Flüßchen und Bächen, bei Morschansk an einer Anzahl bunter Windmühlen
und an riesigen Getreideelevatoren, an begegnenden Kriegstransporten und
Friedenszügen. In Rjashsk mußte nach dreistündigem Aufenthalt ein erneuter
Kampf um die Unterkunft ausgefochten werden. Der aus Baku kommende Zug
führte nur die leidigen Durchgangswagen, und diese waren nach drei- oder
viertägiger Fahrt nicht eben schön. Man mußte froh sein, Lager im obern
Stockwerk zu bekommen und sich in der stickend heißen Luft wenigstens aus¬
strecken zu können. Eine kräftig entwickelte junge Jüdin machte sichs mir
gegenüber bequem und verlangte im Traume nach ihrem Ssascha, der sich
irgendwo anders ein Lager bereitet hatte. Was ich mehr bewundern soll, ihre
Unverfrorenheit oder die Nachlässigkeit, mit der sie im schleppenden Kleide die
Unreinlichkeiten des Wagenfußbodens ausfegte, darüber bin ich zu keinem Ent¬
schluß gekommen.
Nach einem fahlen Morgen in dieser übelriechenden, widerlichen Umgebung
nahte endlich die Erlösung. Wälder und Datschen (Sommerlandhäuser) kün¬
digten die Nähe von Moskau an, die Halbstationen wurden häufiger, manchmal
wurden sie glatt durchfahren. Bald folgten die Gurten der ausgedehnten Vor¬
städte, und fast fahrplanmäßig lief der Zug endlich in den Njäsaner Bahnhof
ein. Durch die Verspätung in Ssamara hatten wir den Kurierzug versäumen
müssen und einen halben Tag verloren. Trotzdem konnte der erzielte Rekord
in Anbetracht des kaum eröffneten Betriebes auf der Orenburg—Taschkenter
Eisenbahn und des Kriegsverkehrs von Ssamara aus als gut bezeichnet werden.
In siebentägiger Fahrt waren reichlich 3400 Kilometer zurückgelegt worden.
Moskau wird von Moltke in seinen Briefen als wunderbar schön ge¬
schildert. Freilich der Rundblick vom Iwan-Weliki-Turm im Kreml und von
den Sperlingsbergen, von denen aus Napoleon die Stadt vor sich zum ersten¬
mal erblickte, gehören zu den großartigsten Städtebildern, die man kennt. Die
Häusermassen mit den grünen Dächern, die bunten und goldnen Kuppeln der
unzähligen Kirchen, die Umrahmung mit den Gärten und parkartig durch¬
lichteten Wäldern wirken gleichmäßig, ob nun Schnee das Ganze überdeckt
oder ein frisches Grün die an sich häßlich gestrichnen Häusermassen unterbricht,
oder wie bei unserm kurzen Aufenthalt nur noch halbwinterlicher Zustand
herrscht und die Straßen von Schnee und zu Eis gefrorner Schlittenbahn be¬
freit sind. Und doch ist man berechtigt, Moskau eigentliche Schönheit abzu¬
sprechen. Der Petersburger nennt es ein großes Dorf. Und das Sprichwort:
„Krätze am Russen, und bald zeigt sich der Talar", paßt auf Moskau über¬
tragen ganz genau: „Krätze die europäische Tünche ub, und Asien kommt zum
Vorschein." Ich hatte Moskau neun Jahre lang nicht gesehen und konnte
manchen Fortschritt erkennen, aber ich war auch kritischer geworden und fand
ein Urteil mir aus der Seele gesprochen, das ich in der Nowoje Wremja las:
„Moskau ist noch immer dieselbe geräuschvolle, geschmacklose, malerischste und
schmutzigste aller Residenzen. Als Peter der Große sein Rußland von dem
Tatarentum nicht befreien konnte, schmiedete er es an das westliche Europa
an, aber Moskau blieb der alte Riesennagel, mit dem sein Land an Asien be¬
festigt war. Die Kremlkirchen sind die unglückseligen Zeugen davon. Im Ver¬
gleich zu andern hehren Denkmälern christlicher Baukunst setzt ihre Kleinheit
und plumpe Gestalt in Erstaunen und erweckt die Erinnerung an eine arm¬
selige, in der Anlage verpfuschte Kultur, an etwas Heimatliches und doch
wieder Abstoßendes." Wirklich, in dem Stilmischmasch dieser Kirchen ist nir¬
gends etwas großartiges, nirgends ein eigenartiger Zug, ist alles entlehnt und
alles verballhornisiert, zusammengeknittert. Von dem bunten Kleckswerk der
elf Kapellchen des Wassili Blashenny auf dem Roten Platz bis zu dem ver¬
goldeten Kiosk, der Alexanders des Zweiten Standbild überdacht, überall ist die
wunderbare Fähigkeit zu entdecken, fremde Kunst zu adoptieren und gründlich
zu verderben.
In den ungeschlachten, schlecht gegliederten Profangebäuden des Großen
Kremlpalastes, des Findelhauses, des Großen Theaters, der städtischen Manege,
in den sonderbaren Denkmälern der großen Glocke und Kanone im Kremlhof
offenbart sich wieder ein andrer nicht sympathisch berührender Zug: die Gro߬
mannssucht, das Streben zu imponieren, die Neigung, aufs ganze zu gehn, ohne
Berücksichtigung der Ausführung im einzelnen, die Maßlosigkeit, mit der der
einzelne Nüsse wie die Gesamtheit des Volkes immer über das vernünftiger¬
weise zu steckende Ziel hinausschießt.
Das alles schließt nicht aus, daß Moskau eine der interessantesten Gro߬
städte ist und viel Sehenswertes bietet. Meine Aufgabe solls hier nicht mehr
sein, das alles systematisch aufzuzählen und zu beschreiben, gerade so wenig,
wie ich den Versuch gemacht habe, in den paar Tagen unsrer Anwesenheit
den Gefährten als Kundiger Moskau gründlich zeigen zu wollen.
Der Aufbau Moskaus auf dem linken Moskwaufer in mehreren Ringen
um den Kreml, das Vorhandensein dreier breiten Straßenzüge an der weißen
Mauer, im Zuge der Boulevards und der großen Ssadowaja(Garten)-Straße,
jenseits deren der Kranz der Vorstädte anschließt, die Anordnung radialer
Straßenzüge erleichtert die Orientierung, die an sich in einer eine so große
Fläche bedeckenden Millionenstadt nicht leicht sein würde. Von all den Straßen
weist die Twerskaja, die fast schnurgrade vom Kreml nach dem Petrowski-Park
führt, das meiste und bunteste Leben und Treiben zu jeder Tageszeit auf,
aber es ist überall reger Verkehr von Fußgängern und Wagen. Droschken sind
in den verschiedensten Formen vertreten und erreichen die höchste Vollendung
in den sogenannten Lichatschl. Das sind tadellos gehaltene Phaethons mit
weichen Federn und Gummireifen, bespannt mit Träbern guter Zucht, die der
wie ein herrschaftlicher Kutscher mit dick wattiertem dunkelblauem Schlafrock
und viereckiger Pelzmütze cmgetane Lenker mit verblüffender Sicherheit durch
das Getriebe steuert. Der Genuß, nach einem guten Diner mit einem Lichatsch
zum Kaffee nach Strjelna im Petrowski-Park zu fahren, ist wirklich mit einigen
Rubeln nicht zu teuer bezahlt.
Die Unsitte herrscht noch immer, daß man über den Fahrpreis mit dem
Kutscher verhandeln muß; oft ist man selber überrascht, wenn auf ein stark
gedrücktes Gegengebot der Nosselenker mit einem höflichen Pashäluitje (bitte)
zum Einsteigen einladet. Mit der nötigen Stirn führt man auf diese Weise
erstaunlich billig, Viertelstundenstrecken oft für dreißig Pfennige, und immer
flott. Die Droschke ist eine so wichtige und viel gebrauchte Erscheinung, daß
man in manchen Redewendungen zwischen Kutscher und Wagen zu unterscheiden
sich gar keine Mühe gibt, und der Deutschrusse in wörtlicher Übersetzung die
herrliche Wendung aus der russischen Sprache übernommen hat: „ich setze mich
auf einen Fuhrmann".
Moskau stand während unsrer Anwesenheit noch unter dem Eindruck des
Attentats auf den Großfürsten Ssergius. Man hatte die Stelle im Kreml,
wo die Bombe geworfen wurde, umgittert und mit Blumen geschmückt. Gar
mancher Bauer und Kleinbürger ging Hut abnehmend und sich bekreuzigend
ein ihr vorüber, mancher widmete den Manen des Gemordeten ein Gebet.
Mag er eine noch so wenig sympathische Persönlichkeit gewesen sein, verab-
scheuungswürdig ist das Verbrechen doch ebenso wie jeder andre Mord und
wurde in niedern Volksschichten so empfunden. Der Revolutionär, der irgend¬
eine hochgestellte Persönlichkeit zum Tode zu verurteilen in sich das Recht
findet, vertritt aus eigner Machtvollkommenheit das Prinzip der Herrschaft
über Leben und Tod, das er leugnet. Das vollstreckende Organ solches Urteils
begeht feigen Meuchelmord, denn nichts andres ist der Angriff auf eine Per¬
sönlichkeit, die sich dessen nicht versieht. Wie die russische Gesellschaft dazu
kommen kann, solches zu entschuldigen, sogar zu billigen, wie die gebildeten
Vertreter der Duma sich entschließen können, eine allgemeine Amnestie für
diese Verbrecher zu fordern, ist nur durch eine vollständige Verdrehung aller
Rechtsbegriffe zu erklären. Es ist die aufgegangne Saat, die Folge einer Kette
von Rechtsbeugungen, von Handhabung drakonischer Gesetze durch übelberusne
Vertreter des bisher herrschenden Systems. Wie die Ernte werden wird,
wenn die Sätze der Lehre des Guten und Bösen, für dessen Unterscheidung
auch der vielgeschmähte Mushik ein richtiges Empfinden hat, so umgestoßen
werden, kann kaum zweifelhaft sein. Die Barrikadenkämpfe in Moskau haben
einen kleinen Vorgeschmack gegeben. Sicher ist in Moskau, der Zentrale rus¬
sischer Intelligenz, dem Sitz einer Universität, unter deren Angehörigen von
jeher die revolutionäre Propaganda ganz besondre Erfolge gezeitigt hatte, der
Ausbruch der revolutionären Bewegungen schon frühzeitig erwartet worden.
Verstärktes Polizeiaufgebot deutete darauf hin. Um so angenehmer mußte man
empfinden, daß trotzdem dem Verkehr keinerlei Beschränkungen auferlegt waren,
und wenn ich mich recht erinnere, auch die Anmeldung bei der Polizei ohne
Vorzeigung des Passes erledigt wurde. Der Eintritt in den Kremlpalast be¬
gegnete nicht den geringsten Schwierigkeiten. Die sämtlichen großen Säle,
Treppen und Korridore waren geöffnet; die uralten Schloßteile, der Terca,
waren zugänglich und zeigten so recht den Gegensatz zwischen der Einfachheit
der alten Zeit und dem Prunk, der heutzutage von der Umgebung der re¬
gierenden Persönlichkeiten untrennbar ist. Aber Achtung vor den Sälen im
Großen Kremlpalast! Der in blau und gold gehaltene Andreassaal mit den
Ordensemblemen ist ebenso schön, wie der mit weißer Marmorbekleidung aus¬
gestattete Georgssaal in einfacher Vornehmheit seinesgleichen sucht. Die Namen
der Georgsordensritter bedecken in Goldschrift die Wände, die noch Raum ge¬
nügend gewähren für künftig auszuzeichnende Krieger. Das einfache Georgs¬
kreuz ist eine heißbegehrte, hochgeeehrte Kriegsauszeichnung, die nicht nach
Gunst und Gaben verschenkt wird, sondern über deren Verleihung in einer
Duma von Ordensrittern ernsthaft beraten wird, und deren vierte Klasse der
volle General*) mit gleichem Stolz entgegennimmt wie der jüngste Leutnant,
deren dritte Klasse die Auszeichnung für ganz außergewöhnliche Leistungen
darstellt.
Der Große Kremlpalast war seit Beginn des Krieges für die Zwecke des
Roten Kreuzes zur Verfügung gestellt. Tausend bis dreitausend Frauen aller
Stände waren unter dem Protektorat der Großfürstin Ssergius täglich be¬
schäftigt, die Liebesgaben auszupacken, zu Sortieren und nach Bedarf zusammen¬
zustellen. Lange Tische standen in den Sälen mit den verschiedensten Bedarfs¬
artikeln, und unaufhörlich wurden auf dem Hofe große Warmhalten an- und
abgefahren. Die Privatwohltätigkeit hat sich während des Krieges, namentlich
zu Beginn, in glänzendem Lichte gezeigt. Daß sie allmählich und in Moskau
sehr fühlbar nachließ, ist zu verstehn, weil die Begeisterung für den Krieg
nichts weniger als nachhaltig war. Daß in der Presse die sicher vorgekom¬
menen Fülle von Unehrlichkeit dafür als Grund aufgebauscht wurden, ist gleich
töricht, wie sich darüber zu beklagen, daß manche Sendung auf irgendeiner
Station dem Verderben ausgesetzt wurde; das liegt in der harten Notwendigkeit,
die Truppen und das Kriegsmaterial unter allen Umständen bei der Beför¬
derung mit der Eisenbahn zu bevorzugen und ist im Kriege 1870/71 auch
des öftern vorgekommen. Unlust am Kriege war in Moskau aus mancher
Unterhaltung an den Nachbartischen zu entnehmen. Die massenhaft zurück¬
gekehrten Offiziere taten keineswegs immer das ihrige, die Begeisterung zu
heben. Briefe haben das Feldzugselend in sehr düstern Farben geschildert.
Das Erwerbsleben hatte unter dem Kriege anscheinend kaum gelitten.
Moskau ließ sich alle russischen Erzeugnisse teuer bezahlen. Wo wir anklopften,
überall zeigten die hohen Preise, daß es noch nicht nötig war, um bar Geld
zu sorgen. Die Schufte in den kaukasischen Warenlagern verlangten für manchen
Schund unglaubliche Summen. Die Pelzwarenhündler auf dem Kusnetzki Most,
der elegantesten Geschäftsstraße, die Juweliere in den Kaufreihen und Passagen,
die Kunsthändler, alle hielten sie an ihren Geschäftsgewohnheiten fest, sodaß
wir schließlich in das Kleingewerbemuseum zogen, um unsre kleinen Andenken
einzukaufen.
Dieses Museum, das den guten Zweck hat, der russischen Hausindustrie
Freunde zu werben und sie zu ermuntern, bezweckt zugleich eine ökonomische
Unterstützung in der Hausindustrie geschickter Arbeiter und Arbeiterinnen und
bringt echt russische Erzeugnisse in Stickereien, Holzschnitzereien, Lackarbeiten,
aber auch Spielwaren in reicher Auswahl zum Verkauf.
In einem Verbrauchsartikel ist Moskau billig, aber nicht aus eignem Ver¬
dienst, sondern weil der Staat an seinem Monopol festhält und selber den
Verkauf regelt; das ist der mit Recht so beliebte Wodka. Mau lernt ihn
schätzen, wo er zu den schmackhaften Sachen des Büfetts oder der Sakußka so
tadellos gekühlt verabreicht wird wie bei Billo oder in der Eremitage. Man
kauft sich dann wohl ein paar Flaschen, um jenseits der Grenze festzustellen,
daß er in andrer Umgebung ebensowenig Freunde findet wie guter reiner
Moselwein in Ostpreußen.
Billo und die Eremitage zu studieren, durften wir uns natürlich nicht
entgehn lassen. Im Hotel Billo waren wir abgestiegen und hatten alle Ursache,
uns der deutschen Ordnung dort zu freuen und der ganz vorzüglichen Ver¬
pflegung alle Ehre anzutun. Der Kaviar, der Störrücken, der Ssig*), die
Salate und Pasteten und alles, was sonst das reichhaltige Büfett belastet,
alles ist auf der Höhe. Dazu stehn täglich die besten Gerichte der russischen,
deutschen, österreichischen und französischen Küche, alle möglichen Weine und
gut behandelte Biere zur Auswahl und läßt eine sehr aufmerksame Bedienung
nichts vermissen. In der Eremitage ist dagegen verfeinerter russischer Stil zu
Hause. Bequem und mit Rücksicht auf den Gesamteindruck gut verteilte Tische
in dem weiß gehaltenen Saal, schneeweiß angezogne Tataren zur Bedienung,
ein Musikkorps auf der Empore oder ein Orchestrion in diskreter Stimmung
zur Erhöhung des Wohlbehagens, in der Vollendung zubereitete Speisen und
ausgezeichnete russische Weine und Sekte, all dies trug dazu bei, nach sieben¬
tägiger Eisenbahnfahrt und köstlich erfrischendem Bad uns beim Schlußfest in
die gehobenste Stimmung zu versetzen.
Außer dem Sinn für das Materielle kommt der durch mancherlei Ge¬
schmacklosigkeit beleidigte Kunstsinn in diesem oder jenem Gebäude doch wieder
zu seinem Recht. In der Tretjakoffgalerie zwar im äußern nicht, denn diese
in Samoskworjetschje, das heißt in dem auf der andern Seite der Moskwa
gelegnen Kaufmannsviertel versteckte Sammlung ist in einem ausgedehnten,
aber ziemlich verbauten Hause untergebracht, wohl aber im Inhalt der Samm¬
lung. Die besten russischen Künstler wie Aiwasowski und Makowski sind hier
w ihren Meisterwerken vereinigt, und von Wereschtschagin ist die ganze, vor
zwanzig Jahren in Berlin ausgestellte Gruppe von Bildern und Skizzen vor¬
handen und stellt der Produktivität des verstorbnen Künstlers ein ebenso gro߬
artiges Zeugnis aus wie der Auffassung und Wiedergabe der von glühender
Sonne beleuchteten Denkmäler der zentralasiatischen Geschichte und dem packenden
Naturalismus der Darstellung der Kriegsszenen, die der Maler selbst geschaut
hat. Die Bilder aus Zentralasien fesselten, nachdem wir die Wirklichkeit hatten
betrachten dürfen, unser Interesse auf das höchste, denn sie versetzten uns zurück
auf den Registan und vor die Portale von Schach-Sindcch in Ssamarkand.
Übrigens hatte auch die freilich weniger künstlerische Sammlung der Volks-
tYPen im Rumjanzeff-Museum, in der jede Nation, jedes Völkchen aus dem
Reiche des Zaren seine Darstellung in echt kostümierter, lebensgroßen Puppen,
in Häusermodellen, Geräten und Handarbeiterzeugnissen gefunden hat, für uns
den Nutzen, daß wir alle die Typen der Leute nochmals vor uns sahen, die
zwischen Batna und Moskau an uns vorübergezogen waren.
Man darf Moskau nicht verlassen, ohne der schönsten Kirche, dem Erlöser¬
dom einen Besuch abgestattet zu haben. Als Denkmal des „Vaterländischen"
Krieges von 1812 in jahrzehntelanger Arbeit fertiggestellt, ist er ein Kunst¬
werk des russisch-griechischen Kirchenbaustils im Äußern wie im Innern. Keine
Fläche innen, die nicht durch kunstvolle Mosaik oder Malerei verziert ist; hehr
und geschmackvoll der Ikonostas, der in andern russischen Kirchen durch seine
aufdringliche Goldbronze inmitten nüchterner Wände oft unangenehm in die
Augen fällt. Vortrefflich ist die Akustik in dem ganzen in der Form des
Kreuzes gegründeten Bauwerk. Herrlich kamen bei dem Sonntagsgottesdienst
die Chorgesünge der Diskantstimmen, die Tonfülle der sanft einsetzenden, zu
gewaltigem Klänge anschwellenden „sammetartigen" Bässe der Geistlichen zum
Ausdruck. Man begreift, daß in der entfalteten Pracht und Schönheit des
griechisch-katholischen Ritus etwas die Sinne gefangen nehmendes liegt, und
daß dem andächtigen Rechtgläubigen Herz und Gemüt davon erhoben werden.
Sehr viel weniger ansprechend ist der ostentative Bilderdienst der rechtgläubigen
Kirche. Wenn ich auch den frommen Brauch noch gelten lassen will, daß
man beim Durchschreiten des Erlösertors der Kremlmauer ehrfürchtig den Kopf
entblößt, so steht die blinde Verehrung des Muttergottesbildes in der Kapelle
an der iberischen Pforte, der Glaube an dessen wundertätige Wirkung im
schärfsten Widerspruch zu der rationalistischen Weltanschauung, die in Nußland
schon lange ihren Einzug gehalten hat. Die Mutter Gottes wird von wohl¬
habenden Leuten in schweren Krankheitsfällen in ihr Haus eingeladen und
reist sogar gegen hohes Entgelt nach auswärts; ihr Erscheinen hat stets einen
kleinen Auflauf Heilsdurstiger zur Folge. So aber kommt die russische Kirche
zu Besitz und Reichtum. Viele Milliarden gehören der Toten Hand und bilden
die Deckung, wenn einmal die russischen Staatsfinanzen in ganz schwere Be¬
drängnis geraten.
Moskau sollten wir nicht verlassen, ohne es im Schnee gesehen zu haben.
Beinahe hätte der unzeitgemäße Witterungsumschlag mit seinen Schwierigkeiten
für Wagen und Pferde uns den Schnellzug acht Uhr Abends versäumen lassen,
in dem der sehr entgegenkommende Stationsvorsteher ein Abteil für uns belegt
hatte. Ein Produkt aus Sparsamkeit und den Absichten, Warschau nur einige
Tagesstunden zu widmen, aber in Moskau möglichst lange zu bleiben, hatte
uns diesen Zug zu wählen veranlaßt. So passierten wir zwar das Schlacht¬
feld von Borodino bei Nacht, konnten aber Gelegenheit nehmen, Napoleons
Rückzug über Smolensk, Orscha zur Berjosina bei Tage zu verfolgen. Der
noch festliegende Schnee half der Phantasie, sich in die Lage der Großen Armee
hinein zu versetzen, als sie über die beschneiten Felder, die vereisten Straßen
westwärts zog. Trefflich hat Wereschtschagin in seinem Napoleonzyklus das
Winterliche Land und die Schrecken des Rückzugs auf der Leinwand geschildert.
Damals hatten die Wölfe goldne Tage; wir sahen einige der heutigen Hunger¬
leider, vom Zuge überrascht, scheu flüchten; ihre Aussichten auf einen fetten
Bissen waren jedenfalls denkbar dürftig. Der Jagdlust der Stadtherren zu¬
liebe sollen kluge Bauern darauf gekommen sein, einiges Raubzeug, Wölfe und
Bären, künstlich zu züchten und gegen hohes Schußgeld abschießen zu lassen.
Warschau wurde frühmorgens erreicht. Frühlingswetter verschönte den
kurzen Aufenthalt in der eleganten Hauptstadt Polens und lud zu ausgiebigen
Bummel zu Fuß und zu Wagen ein. Die Krakauer Vorstadt mit ihrem leb¬
haften Verkehr der vornehmen Welt, der Besuch des Lasjenki-Parkes mit seinen
Schlößchen und Alleen beschäftigte uns genügend bis zum Abend. Gräßlich
viel Juden verkünden die Firmenschilder in dem Stadtteil des Weichselbahnhoss
und das Gemauschel auf den gedrängt bevölkerten Straßen, die man in schon
vorgerückter Abendstunde nach dorthin durchschreiten muß. Ihre große Zahl
erschwert die Lösung der Nationalitätenfrage, ihre Begehrlichkeit schafft Zwie¬
spalt. Schon hatten zahlreiche Attentate die erregte Stimmung gesteigert und
starkes Truppenaufgebot zu den Wachen, regen Patrouillengang durch die
Straßen nötig erscheine» lassen.
Im Osten, in Asien hatten wir die russische Kolonisation von schönem
Erfolg begleitet gesehen. Hier nach Westen hin hat sie völlig Fiasko gemacht.
Mit der gedankenlosen Befürwortung polnischer Autonomie hat das Russentum
selber seinen Bankerott im Lande erklärt. Ein sehr lehrreicher Gegensatz, der
zu denken gibt.
Bei Mlawa fuhren wir am Morgen über die russisch-deutsche Grenze.
Nunmehr etwas reisemüde, verstaubt und im Gefühl einer schlecht verbrachten
Nacht in den europäisch unbequemen Wagen der Warschau-Mlawaer Eisenbahn
fanden wir wenig Gefallen an der fiskalischen Engherzigkeit der deutschen
Eisenbahnbeamten gegenüber unserm Eigentum. Die letzten Stunden wurden
die längsten, die letzten Minuten zählten gleich Stunden, aber auch sie gingen
vorüber.
Fünfzig Tage waren wir unterwegs gewesen, hatten neunzehn Nächte auf
der Eisenbahn, sieben auf Dampfern und nur vierundzwanzig in ordnungsmäßigen
Betten zugebracht und dabei an 13000 Kilometer zurückgelegt. In Rumänien haben
wir einen Staat mit erstarkenden Nationalbewußtsein durcheilt, am Bosporus
und Schwarzen Meer tiefen, fast hoffnungslosen Verfall beobachtet. In Kaukasien
betraten wir den Schauplatz des zu erneuter blutiger Abrechnung gediehenen
althergebrachten Streitens mehrerer Nationalitäten um wirtschaftliche, durch
religiösen Haß verschärfte Gegensätze, in Zentralasien konnten wir das Russen¬
tum, das °dort ohnmächtig zusieht, nach kriegerischen Erfolgen als Vertreter
moderner Zivilisation an der Arbeit sehen, bei sich zu Hause haben wir es in
dem die Revolution vorbereitenden Zersetzungsprozeß erblickt. Wir haben auf
den Trümmerfeldern uralter Kultur geweilt und an der Stätte des Wirkens
großer, der Geschichte angehöriger Persönlichkeiten uns deren Taten erinnern
dürfen. Viel Schönes und Sehenswertes wurde uns zu schauen geboten; nie
und nirgends wollten wir uns durch den Gedanken, daß noch mehr zu sehen
war, die Freude an dem zunächst erreichbaren verderben lassen. So ist nur an¬
genehme Erinnerung an die Sammlung gekaufter und selbst aufgenommener
Bilder geknüpft, die den mit jeder vernünftigen Reise verbundnen Genuß rück¬
schauender Betrachtung wesentlich vertiefen.
> er Antiquar hatte das Rezept des Helmstedter Gelehrten schon min¬
destens ein dutzendmal gelesen. Nicht etwa, daß er an die Wirkung
des Mittels geglaubt hätte! Beileibe nicht! Ein Mann, der seinen
Geist an der literarischen und philosophischen Hinterlassenschaft des
Altertums geschult hat, ist gegen den Zauber, den das Übernatür-
Iliche auf unbefangne Menschen ausübt, gründlich gefeit. Hatte sich
das Mittelalter, als es die kostbare Erbschaft der Antike antrat, weniger an die
philologisch-grammatikalische Schale und mehr an den geistigen Kern der Klassiker
gehalten, so würde es die Irrwege mystisch-hyperphysischer Spekulationen vermieden
und die Kulturentwicklung nicht um mehrere Jahrhunderte aufgehalten haben.
Allerdings — das mußte sich auch Polykarp Seyler immer wieder fragen — wo
lagen in den verschiednen Perioden der Menschheitsgeschichte bei den höher organi¬
sierten Individuen die Grenzen der Naturerkenntnis? Sollte es nicht zu jeder Zeit
Männer gegeben haben, deren geistigem Auge sich die rätselhaften Kräfte, die das
All beseelen und bewegen, williger enthüllten als andern? Schienen nicht auch in
unsern Tagen die Entdeckungen eines Röntgen, eines Hertz, eines Marconi die
ganze mühsam erworbne Schulweisheit unsrer physikalischen Wissenschaft über den
Haufen zu werfen? Vielleicht war der alte Beireis auch so einer gewesen, dem sich
der Zauberberg von selber auftat, an dessen Eingang Tausende vergebens stehn und
ihr „Scham, öffne dich!" rufen?
Gewiß, der kritiklose Glaube an die tiefern Naturkenntnisse des Helmstedter
Professors wäre lächerlich und eines gebildeten Mannes unwürdig gewesen. Aber
daß Beireis tatsächlich in mancher Hinsicht seiner Zeit weit voraus gewesen war,
dafür sprachen seine von glaubwürdigen Zeugen verbürgten wissenschaftlichen Erfolge
und Entdeckungen.
Hier war nun ein Rezept von seiner Hand. War es wirklich das ernstzu¬
nehmende Resultat langjähriger Versuche, oder war es eine jener Mystifikationen,
in denen sich der Sonderling gefiel, wenn es galt, mißgünstigen Kollegen, lästigen
Besuchern oder dreisten Plagiatoren ein Schnippchen zu schlagen? Seyler gestand
sich ein, daß es einen eignen Reiz haben müsse, dieses Rätsel durch eine vor¬
urteilslos unternommne Probe zu lösen. Erwies sich das Mittel als unwirksam,
so war der Mystifikator wieder einmal entlarvt, zeigte es sich wirksam, um so besser,
dann wurde unser Freund mit einem Schlage alle die Sorgen und Schmerzen los,
die ihm aus der Notwendigkeit, seine Lieblinge verkaufen zu müssen, erwuchsen.
Denn das war ja klar: reagierten die Bücher auf die chemisch-magnetische Kraft,
so taten sie es in jedem Falle, mochten sie nun auf rechtmäßige oder unrechtmäßige
Weise aus Seylers Besitz in den eines andern übergegangen sein.
So stand denn eines Tages bei dem Antiquar der Entschluß fest, sich die
dreiunddreißig Ingredienzien zu beschaffen und die geheimnisvolle Kocherei genau
nach den Anweisungen des Helmstedter Adepten vorzunehmen. Käthchen durfte natürlich
nichts davon wissen; der Onkel hatte die dunkle Empfindung, als ob sie seinem
Unternehmen nicht das wünschenswerte Verständnis entgegenbringen würde. Außer¬
dem war es ja jederzeit der Brauch der Alchimisten und ähnlicher Laboranten ge¬
wesen, ihre Tätigkeit profanen Augen zu entziehen. ,
Die Nichte wunderte sich im stillen darüber, daß der Onkel jetzt häufiger
als je ausging, und daß er, wenn er heimkam, gewöhnlich eine Tute oder eine
Rasche mitbrachte und sorgfältig in den Empireschreibtisch verschloß. Noch mehr
gab ihr der merkwürdige Umstand zudenken, daß eiues Mittags der größte eiserne
Topf aus der Küche verschwunden war. Dabei schien der Onkel jetzt beschäftigter
und zerstreuter als je, ging nach dem Abendbrot wieder in den Laden hinunter
und kam vor Mitternacht nicht in die Wohnung zurück.
Der gute Seyler hatte es auch wahrhaftig nicht leicht. Was gehörte nicht
alles dazu, die einzelnen Chemikalien zusammenzubekommen, von denen die Leute in
den Kräutergewölben und Droguerien manche nicht einmal dem Namen nach kannten!
Am meisten Mühe machte es ihm, die gebrannten Ossa, thus üomskticns, vulgo
Katzenknochett aufzutreiben, die er endlich durch die Gefälligkeit eines Gärtners
erhielt, und die er, um die Neugier des Mannes zu befriedigen, für das einzig
wirksame Schutzmittel gegen die Mäuse ausgegeben hatte.
Als schließlich alles beisammen war, konnte das große Werk begonnen werden.
Es war ein glühendheißer Julitag gewesen, so ungewöhnlich heiß, daß man es
sogar in den dämmrigen Gewölben von Reichenbachs Hof verspürt hatte. Gegen
Abend hatten sich schwere Wolken aufgetürmt, ein Sturmwind sondergleichen war
durch den Hof gebraust, hatte Stroh und Papierschnitzel bis zu den höchsten Stock¬
werken emporgewirbelt, Fenster aufgerissen und zugeworfen und unter den Geranien
und Nelken, die Käthchen auf einem Blumenbrett vor ihrem Kammerfenster pflegte,
eine vandalische Verwüstung angerichtet. Jetzt war es stockfinstere Nacht, der Regen
prasselte nieder, Blitze erleuchteten für Sekunden den Hof taghell, und Donner auf
Donner krachte, als sollte die Welt zugrunde gehn. Das war die rechte Stunde
für eine Arbeit, wie sie Herr Polykarp Seyler vorhatte. Wenn die Elemente in
Aufruhr liegen, wenn der Himmel seine Pforten geöffnet hat und dem schwachen
Auge des Menschen einen kurzen Blick in seine unermeßlichen Strahlenräume ge¬
währt, dann sind die tausend und abertausend geheimen Kräfte der Natur doppelt
wirksam und nicht minder willig zu schöpferischen Tun wie die mächtigen Ur¬
gewalten, die sich in segenspendendem Zorn über die Erde entladen, ihren Schoß
befruchten und ihren Dunstkreis vom Staube des Alltags reinigen.
Und während die Leute oben in ihren Wohnungen ängstlich bei ihren Kerzen
oder Lampen saßen, beim blendenden Scheine der Blitze zusammenführen und mit
angenehmem Gruseln auf das Knattern des Donners warteten, stand der Antiquar
w seinem wohlverschlossenen Leibchen, las mit einer Art von Andacht noch einmal
das Rezept, sortierte seine Tuten und Flaschen genau den Angaben des Helmstedter
Wnndermnnnes entsprechend nach der vorgeschriebnen Reihenfolge und stellte den
eisernen Topf mit der Milch über den auf einem Seitentische angebrachten Gas-
brenner, der seiner Nichte im Winter gewöhnlich dazu diente, den Kaffee oder den
Tee warm zu halten, wenn die Kälte des schwer heizbaren Raumes eine regelmäßig
wiederholte innere Erwärmung des menschlichen Körpers notwendig machte.
Es währte nicht lange, so verriet auch schon ein scharf brenzlichter Geruch, daß
sich Feuer und Milch ohne Konsens und Segen einer sachverständigen Hausfrau
zu vermählen begannen. Aber der Kandis wirkte mildernd, und als sich erst der
Alkohol dazugesellte, stieg im Geiste des späten Alchimisten die unklare Erinnerung
an eine Punschbowle auf, die er vor Jahr und Tag — er wußte nicht mehr,
wann, bei welchem Anlaß und in welcher Gesellschaft — einmal getrunken hatte.
Nun kam jedoch die Aloe, das Lieblingsingrediens mittelalterlicher Apothekerkunst,
an die Reihe, und vor ihrem bitter-aromatischen Duft schwanden die profanen Ge¬
danken des Kochkünstlers dahin wie Nebel vor der Morgensonne. So ging es
fort: Geist und Materie, Himmel und Erde, Gutes und Böses, mystischer Zauber
und gemeine Wirklichkeit schienen in dem schwarzen Kessel miteinander zu ringen,
bald schien der Geist, bald die Materie zu siegen, bald entströmte dem quirlenden
Gemenge ein beseligender Duft, der Herrn Polykarp mit faustischen Ahnungen er¬
füllte, und bald wieder der kräftige Geruch einer guten Krebssuppe, der ihn aus
den lichten Höhen geläuterter Erkenntnis auf den festen Boden des Allzumenschlichen
zurückriß.
Mitternacht war längst vorüber, als Seyler den Inhalt seiner letzten Tute
in den Topf schüttete und mit erlahmendem Arm unter das brodelnde Gemisch
rührte. Er merkte mit Befriedigung, wie der Brei dicker und dicker wurde, und
wie unter dem zur Seite geblasnen Dampfe die silbergraue Materie zum Vor¬
schein kam, die das Resultat und der Lohn so angestrengter Arbeit war. Wenn
sie nur schneller erkaltet wäre! Aber sie kochte noch eine Weile weiter, obgleich der
sonderbare Alchimist das Gas längst abgedreht hatte und rin Ungeduld auf den
Augenblick wartete, wo er das Produkt der Kocherei in das bereitgestellte Gefäß
füllen und die Spuren seiner geheimnisvollen Tätigkeit so gründlich wie nur
möglich beseitigen konnte.
Endlich war auch das geschehen, und außer einem schwachen, für eine profane
Nase undefinierbarer Geruch und einigen Spritzern an der altersgeschwärzten Wand
verriet nichts mehr, daß sich hier ein Sterblicher die geheimnisvollen Kräfte der
Natur dienstbar gemacht und gleichsam auf Flaschen gezogen hatte. Und seltsam!
Seit Seyler die dickliche Mixtur vor sich sah, war er auch von ihrer Wirksamkeit
felsenfest überzeugt. Und als er sich nun in Ermanglung eines Pinsels einen Papp¬
streifen zurechtschnitt, ihn in den grauen Brei tauchte und damit eine silbrige Bahn,
ähnlich der Spur einer Schnecke auf einem trocknen Waldwege, über die Tür¬
schwelle zog, verstand es sich für ihn ganz von selbst, daß jedes Buch, das die
Hand eines Fremden über diese Schwelle trug, über kurz oder lang in das Ge¬
wölbe zurückkehren mußte.
So kam es, daß er am nächsten Morgen mit wahrer Sehnsucht auf einen
Kunden wartete. Wie ein Luchs lauerte er hinter den Kupferstichen des Schau¬
fensters auf die Vorübergehenden und suchte, wenn sie wirklich stehn blieben und
sich die stockfleckigen Kunstblätter, die beideu französischen Reiterpistolen, die Original¬
drucke Prendelscher Bekanntmachungen aus den Tagen der Völkerschlacht und
die verstaubten und vergilbten Bücher ansahen, in ihren Augen zu lesen, ob sie
wohl eintreten und irgend etwas von diesen Raritäten kaufen würden. Gegen
Mittag trat denn auch wirklich ein Herr ein, der den Lockungen des Schaufensters
uicht widerstanden und sein Auge auf einen Magdeburger Druck vom Jahre 1666,
betitelt: I. Praetorius, ^.illo.roxoä<zinus xlutonious, d. i. eine neue Weltbeschreibung
Von allerley wunderbahren Menschen, geworfen hatte. Er nahm an dem nicht ge¬
rade mäßigen Preise von fünfundzwanzig Mark nicht den geringsten Anstoß, sah
die beiden Bande auch gar nicht weiter an, sondern bezahlte sie und trug sie mit
der Befriedigung eines Mannes, der einen wertvollen Fund gemacht hat, von
dannen. Aber schon am Spätnachmittage erschien er wieder, legte das Buch mit
einiger Verlegenheit auf den Ladentisch, erklärte, er habe sich etwas ganz andres
darunter vorgestellt, und bat flehentlich, Seyler möchte es doch freundlichst zurück¬
nehmen, er wolle mit Vergnügen ein Reugeld von fünf Mark bezahlen. Der
Antiquar, der hierin mit einem stillen Triumphgefühl die erste Wirkung des
Beireisschen Zcmbermittels erkannte, ließ sich nicht lange nötigen und holte die zwanzig
Mark in Gestalt von vier Fünfmarkstücken aus der Ladenkasse. Der reumütige Kunde
steckte sie ein und suchte mit dem Ausdruck der Erleichterung das Weite.
Am andern Morgen, als Seyler aus seiner Wohnung herunterkam und den
Laden öffnen wollte, stand der Kunde schon vor der Tür.
Ich möchte Ihnen etwas andres abkaufen, sagte er, indem er mit den Fünf-
markstücken klapperte, als müsse er sich dadurch als kaufkräftig legitimieren. Da sah
ich gestern ein dünnes Quartbuch, ein Memorial des Don Diego Colon über die
Bekehrung der Völker der von ihm entdeckten Länder — was würde das kosten?
Der Antiquar suchte den dünnen Band hervor.
Sie meinen jedenfalls dieses hier? fragte er. Es ist der spanische Original¬
text des Berichts an den König, nach dem Manuskript gedruckt im Jahre 1854.
Es kostet zwanzig Mark.
Der Herr nahm das Buch und blätterte darin.
Ich habe zwar nie Spanisch gelernt, bemerkte er, aber ich sollte denken, wenn
Man Italienisch kann, müßte man sich im Spanischen auch zurechtfinden können. Ich
nehme es mit. Hier ist das Geld.
Seyler ließ ihn mit dem Buche ziehen und freute sich der Entdeckung, daß das
Mittel seine Kraft auch den noch kursierenden Münzen gegenüber bewährte. Schon am
Nachmittag war der Käufer mit dem Buche wieder da und sagte ziemlich kleinlaut:
Spanisch ist doch schwerer, als ich annahm. Und dann die vielen Abbrevia¬
turen! Ich habe kaum drei Zeilen herausbekommen. Nein, mit dem Buche kann
ich beim besten Willen nichts anfangen. Es wäre mir lieb, wenn Sie es zurück¬
nehmen wollten. Wenn ich auch nur fünfzehn Mark dafür wiedererhalte.
Der Antiquar war zu dem Geschäfte mit Vergnügen bereit, er hatte seinen
Columbus wieder und nebenbei die frohe Gewißheit, daß auch die fünfzehn Mark ihren
Weg aus der Tasche des Fremden in die Ladenkasse zurückfinden würden. Und in
der Tat ging es so fort: Bücher, die immer billiger, und Geldbeträge, die immer
kleiner wurden, zogen aus dem engen Lädchen in die Welt hinaus, die jenseits der
Mauern von Reichenbachs Hof brandete, und trieben wie von einer verborgnen
Strömung geleitet in den stillen Port zurück, der ihnen vom Schicksal zu einem
Heimatshafen für alle Ewigkeit bestimmt schien. Leute, die sonst jährlich höchstens
ein- oder zweimal irgendeine Kleinigkeit gekauft hatten, erschienen jetzt jeden zweiten
oder dritten Tag, holten und brachten, gleichsam als seien sie von einer epidemischen
Bibliomanie und dabei von einer geradezu pathologischen Abneigung gegen die
glücklich erstandnen Literaturschätze befallen worden. In der Ladenkasse häuften
sich die Überschüsse aus den rückgängig gemachten Geschäften zu ansehnlichen Summen,
und wenn sich Käthchen jetzt am Abend mit Geld zuni Zubrot versah, dann mußte
sie eine ganze Weile unter Goldstücken und Silbermünzen wühlen, bis sie die paar
Nickel fand, die sie zum Einkauf des rohen Schinkens, der Eier oder der Mett¬
wurst brauchte. Aber auch die Nickel wurden über kurz oder lang von dem rätselhaften
Heimweh nach der Schieblade des Empireschreibtisches ergriffen, und meist schon
am nächsten Morgen tauchte in Seylers Lädchen der Kaufmann auf, der im Hof¬
durchgang seinen Stand hatte, und verlangte einen alten Liebesbriefsteller, ein
Traumbuch oder eine Anleitung zu Kartenkunststücken, lauter Bücher, die sich bei
näherm Zusehen als unbrauchbar erwiesen und mit derselben Schnelligkeit wie ihre
gelehrten Verwandten den Weg zu Seylers staubigen Regalen zurückfanden.
Niemand war über diesen plötzlichen Wandel der Dinge erstaunter und er¬
freuter als Käthchen, Wären ihre Gedanken weniger mit ihrer eignen Zukunft be¬
schäftigt gewesen, so würde sie wohl zu der Einsicht gekommen sein, daß der un¬
erwartete Aufschwung des Geschäfts keineswegs allein auf die gesteigerte Tätigkeit
und die tatsächlich ein wenig bezähmte Lesewut des Onkels zurückgeführt werden
konnte. Aber sie weilte mit ihrem Geiste jetzt meist in fernen Gegenden, am Monte
Cristallo, in Schluderbach oder in Cortina d'Ampezzo, und zwischen die abgegriffnen
Blättchen des Zettelkatalogs gerieten jetzt häufiger Ansichtspostkarten, auf denen die
Zinnen der Dolomiten in rosigem Abendscheine über lakonischer aber nicht minder
feurigen Wandergrüßen glühten. Wie hätte sie da also dem geheimnisvollen Zauber
nachspüren können, der in gleicher Weise die Regale und die Kasse des Onkels
füllte! Daß er jetzt, wo sie im Begriffe stand, ihn zu verlassen, auf dem besten
Wege war, ein „vernünftiger" Mensch, das heißt ein tüchtiger Geschäftsmann zu
werden, gewährte ihr eine große Befriedigung. Vielleicht kam er auch noch dazu,
der Pflege seines äußern Menschen etwas mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden, zur
rechten Zeit an die Mahlzeiten zu denken, der herrschenden Mode ein paar kleine
Konzessionen zu machen und Haupthaar und Bart öfter verschneiden zu lassen.
Früher waren ihr dergleichen Äußerlichkeiten nicht aufgefallen, seit sie jedoch den
Doktor Waetzold kannte, fand sie, daß jedes männliche Wesen mit Umlegekragen,
langem Gehrock und hängenden Locken eigentlich ein Scheusal sei, und daß zu den
notwendigsten Requisiten der Manneswürde ein Stehkragen, kurzgeschornes Haar
und ein flotter Jackettanzug gehörten. Und aus dieser Erkenntnis erwuchs bei der
Nichte die Überzeugung, daß der Onkel, wie überhaupt jeder ordentliche Mann, zeit¬
lebens einer ihn sanft leitenden weiblichen Hand bedürfe, und daß es für ihn nur
eine Rettung vor dem ihm mit ihrem bevorstehenden Weggang drohenden Abgrund
gänzlicher Verwilderung gäbe, nämlich so bald als möglich selbst zu heiraten.
Eines Abends bot sich ihr denn auch die erwünschte Gelegenheit, dem Gespräche
die Richtung zu geben, die auf das Thema Heirat führen mußte. Wider Erwarten
blieb der Onkel bei der Stange, schweifte weder zu den Oden des Horaz noch zu
den Briefen des jünger« Plinius ab, sondern hörte Katheders Darlegungen mit
einer Aufmerksamkeit zu, die nur zu deutlich verriet, daß der Gegenstand für ihn
ein mehr als rein philologisch-antiquarisches Interesse hatte. Daß er schließlich
aber doch noch sämtliche Gründe und Gegengründe, die Petrarca in seinem Büchlein
of rsnisciiis ntriusczus tort-unas für und gegen die Ehe ins Feld führt, aufzählte,
schien der Nichte zu beweisen, der Onkel habe sich selbst schon mit der großen
Frage eingehend, wenn auch zunächst rein theoretisch, beschäftigt. Wie erstaunte sie
aber erst, als er dann sein Notizbuch hervorzog und diesem einen mehrfach zu¬
sammengefalteten Zettel entnahm, auf dem von seiner Hand folgender Entwurf
eines Heiratsgesuches stand: Mariage.
Antiquariatsbuchhändler im besten Mannesalter mit kleinem, aber flottgehendem Geschäft
sucht, da es ihm an Damenbekanntschaft fehlt, auf diesem Wege eine Lebensgefährtin. Damen
mit schöner Handschrist, gediegnen Literaturkenntnissen und Verständnis für den Geist des
klassischen Altertums, wenn auch ohne Vermögen — guterhaltne Witwen nicht ausgeschlossen —,
belieben ihre Adresse mit einem kurzen Ourrionwin vitas bei der Expedition dös. Bl. unter ^.rs
aniimäi niederzulegen.
Tageblatt oder Nachrichten? fragte er, indem er die Brille emporschob und
seine Nichte forschend ansah.
Ich würde zunächst das schreckliche Wort „Manage" durch unser gutes
„Heiratsgesuch" ersetzen und aus der guterhaltnen Witwe eine jüngere, kinderlose
Witwe machen, meinte Käthchen. Und dann, fürchte ich, wird durch die Forderung
gediegner Literaturkenntnisse die Zahl der Bewerberinnen allzusehr eingeschränkt
werden.
Das schadet gar nichts, Käthchen, erwiderte der Onkel, je weniger sich melden,
desto besser. Je kleiner die Wahl, desto geringer die Qual. Mit der Mariage und
der guterhaltnen Witwe magst du übrigens Recht haben.
Er nahm einen Bleistift und korrigierte.
So! sagte er befriedigt, jetzt wird nichts mehr daran geändert. Ich dächte,
das Ding hätte Hand und Fuß. Wenn ich es jetzt gleich in die Expedition bringe,
kommts noch in die nächste Nummer.
Er stülpte sich seinen alten Schlapphut auf, warf den Kragenmantel um die
Schultern, ohne den er auch im heißesten Sommer nicht ausging, da man in den
geräumigen Taschen eine ganze Bibliothek unterbringen konnte, und verließ die
Wohnung.
An den beiden nächsten Tagen konnte Käthchen dem Onkel gar nicht oft genug
zur Expedition gehn und nach eingelaufnen Offerten fragen. Gleich das erstemal
brachte sie an die dreißig Briefe mit, die alle in mehr oder minder kalligraphischen
Schriftzügen die verheißungsvolle Aufschrift ^.rs airurnÄi trugen. Herr Polykarp
Seyler strahlte vor Vergnügen.
Das ist ja gerade, als ob wir im Börsenblatt Götziugers Reallexikon gesucht
hätten, bemerkte er. Da kommen die Offerten auch immer gleich dutzendweise.
Die Freude mäßigte sich jedoch, als sich herausstellte, daß die meisten der Briefe
nichts weiter waren als ganz geschäftsmäßige Zuschriften von Heiratsvermittlern, die
samt und sonders ein wohlassortiertes Lager von Damen zu unterhalten schienen,
deren hervorstechendste Eigenschaft ohne Ausnahme das tiefste Verständnis für die
Welt der Antike war. An den übrigen, von zarter Hand geschriebnen Briefen hatte
der Heiratskandidat fast überall etwas auszusetzen. Bei manchen gefiel ihm die
Handschrift nicht, andre waren ihm zu stark parfümiert, wieder andre ließen das
Vurrioulum vitas vermissen oder wiesen darin irgendeinen dunkeln Punkt auf, der
sogar ein so harmloses Gemüt wie das unsers Freundes stutzig machte, einige endlich
verrieten durch mehr oder minder bedenkliche orthographische und stilistische Ent¬
gleisungen, daß nicht einmal der Geist Goethes, geschweige denn der Horazens oder
Ciceros an der Wiege der heiratslustigen Schreiberinnen gestanden hatte.
So blieben also endlich alles in allem zwei Offerten übrig, die nach Form
und Inhalt vertrauenerweckend waren und eine ernstliche Berücksichtigung zu ver¬
dienen schienen. Die erste entstammte der Feder einer Jungfrau mit Namen Rosalie
Schott, die als Tochter des Herrn Friedrich Wilhelm Schott, Kgl. Preuß. Kauzlei-
rats und Ritters des Kroncnordens IV. Klasse in Merseburg das Licht der Welt
erblickt, ihren Lehrerinnenberuf wegen längerer, jetzt aber, Gott sei Dank, gänzlich
behobner Kränklichkeit aufgegeben hatte und nun, achtunddreißig Jahre alt, mit
ausgesprochnen Sinn für alles Schöne in Literatur und Kunst von einer kleinen
Rente und dem Vermieter zweier gut möblierter Zimmer an durchaus solide und
gebildete junge Leute lebte, des Alleinseins müde war und sich befähigt fühlte,
einem gemütvollen Manne in gesetzten Jahren eine behagliche Häuslichkeit zu bieten.
Die beigefügte Photographie zeigte eine offenbar sehr schlanke Dame mit dunkelm
Haar, sorgfältig angeordneten Stirnlöckchen und Klemmer. Sie lehnte an einem
Tisch, auf dem eine Gipsnachbildung der Laokoongruppe stand, und sah über ein
aufgeschlagnes Buch hinweg den Beschauer mit sinnig-gedankenvollen Ausdruck an.
Numero zwei, Frau Minna Krause, bekannte sich zu einem Alter von vier¬
unddreißig Jahren; sie war die Witwe eines Buchdruckereibesitzers (vier Handpressen,
zwei Tiegeldruckpressen, zwei Accidenzmaschinen von König und Bauer), in der
Korrespondenz erfahren, mit buchhändlerischen Verhältnissen nicht ganz unbekannt
und nebenbei eine perfekte Köchin. Sie konnte ihren herzensgute», vor vierzehn
Monaten verstorbnen Mann immer noch nicht vergessen, war aber im übrigen
heitern Gemüts und hatte eine unbezähmbare Leidenschaft für gute Lektüre. Ihre
Druckerei wurde durch einen tüchtigen Faktor geleitet, sie selbst war völlig unab¬
hängig und jederzeit zu einer persönlichen Vorstellung bereit. Auf dem Bilde
(Kabinettformat) präsentierte sie sich als eine untersetzte üppige Blondine mit
lachenden Augen, Stumpfnäschen und „Wuschelkopf".
Den sehr verschiedenartigen Reizen, die mit Hilfe dieser beiden Offerten auf
ihn einstürmten, war Herr Polykarp Seyler nicht gewachsen. Er hätte sich gern
kurzerhand für eine der beiden Schönen entschieden, aber wenn er die Stirnlöckchen
gegen den Wuschelkopf, den sinnig-gedankenvollen Blick gegen die lachenden Augen,
die Rente gegen die Accideuzmaschinen, die vornehme Schlankheit gegen die verlockende
Fülle, den Laokoon gegen die Passion für gute Lektüre abwog, so hielten alle diese
Vorzüge einander die Wage, und er war nach mehrfach wiederholter reiflicher Er¬
wägung, welcher der beiden Konkurrentinnen er die Palme zuerkennen solle, so klug
wie zuvor. Käthchen, die ihm aus seinem Dilemma helfen sollte, hielt mit ihrem
Urteil vorsichtig zurück und meinte, der Onkel solle sich bei seiner Wahl einzig und
allein durch die Stimme seines Herzens leiten lassen.
Unserm Freunde blieb also nichts weiter übrig, als seine beiden Kandidatinnen
zu einem Rendezvous zu bestellen und so aus deu Coeurdamen zunächst Treffdamen
zu machen, wobei er freilich Gefahr lief, eine davon, indem er sich für die andre
entschied, schließlich in eine Pikdame zu verwandeln. Aus seiner Anonymität heraus¬
zutreten beabsichtigte er zunächst nicht, und mehr als ein paar Nachmittagstunden
auf die Introduktion seines Liebesfrühlings verwenden mochte er auch nicht, dazu
war ihm die Zeit zu kostbar, und außerdem war der Andrang der Kunden jetzt
immer so groß, daß Seyler eigentlich keine Minute abkömmlich war. Er fand
deshalb den Ausweg, Fräulein Rosalie auf nächsten Mittwoch, Nachmittags vier
Uhr, und Frau Minna auf denselben Tag, fünf Uhr, nach Neichenbachs Hof zu
bestellen. Jede sollte langsam durch deu Hof promenieren und als Erkennungszeichen
ein weißes Taschentuch in der Hand tragen. Der Herr, der ihre Bekanntschaft zu
machen wünschte, werde ebenfalls an einem weißen Taschentuch kenntlich sein.
Der Mittwoch kam, und mit ihm pünktlich um vier Fräulein Rosalie Schott.
Der Antiquar hatte einen Kunden, der ihn aufzuhalten drohte, geschwinder, als es
sonst seine Art war, abgefertigt, stand nun, das Weiße Taschentuch in der Hand,
vor Aufregung zitternd hinter den Kupferstichen seines Schaufensters und musterte
mit Falkenblick alle Vertreterinnen des schönen Geschlechts, die den langen, schmalen
Hof passierten. Da plötzlich tauchte das ersehnte Erkennungszeichen auf, getragen
von einer Dame, die keine andre als Fräulein Rosalie sein konnte, die aber noch
ein gut Teil schlanker, um nicht zu sagen: magerer und eckiger war, als man nach
der Photographie hätte annehmen können. Sie wandelte so stolz, würdevoll und
siegesbewußt dahin, als schmücke der väterliche Kronenorden auch ihre jungfräuliche
Brust; in ihrem Antlitz war jedoch, was Seyler durchaus erklärlich fand, in diesem
Augenblick von dem sinnig-gedankenvollen Ausdruck, der ihn auf dem Bilde so be¬
zaubert hatte, nicht viel zu bemerken. Sie sah weder nach rechts noch nach links
und schien keine Ahnung davon zu haben, daß sie sich dem kleinen, flottgehenden
Antiquariatsgeschäfte, worin der späte Mai ihres Lebens blühen sollte, bis auf
etwa fünf Schritte genähert hatte.
Dem verborgnen Freier klebte die Zunge am Gaumen. Er wischte sich mit
dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, räusperte sich und stürzte rasch ent¬
schlossen aus der Ladentür. Als Fräulein Rosalie seiner oder vielmehr seines
Taschentuchs ansichtig wurde, stutzte sie, überflog ihn mit einem prüfenden Blick
und blieb, da die Prüfung nicht gerade zu seinen Ungunsten ausgefallen war, hold
errötend stehen. In der Verlegenheit benutzte Seyler das Taschentuch im Sinne
seiner ursprünglichen und von der gesamten Kulturmenschheit anerkannten Bestimmung
und schneuzte sich so ausgiebig, daß die Dame den Glauben an einen Zusammen¬
hang zwischen dem leinenen Gebrauchsgegenstand und ihrem künftigen Lebensglück
verlor und sich anschickte, ihre Wanderung durch den Hof fortzusetzen. Da endlich
sunt der Freier Worte.
Wenn ich nicht irre, habe ich die Ehre mit Fräulein Rosalie Schott? fragte
er mit verbindlichen! Lächeln, während er ihr zu seiner Legitimation das Taschentuch
Präsentierte. Mein Name ist Polykarp Seyler. Sie werden sicherlich schon Kataloge
mit meiner Firma in der Hand gehabt haben. Aber wollen Sie nicht näher treten?
Meine Nichte wird sich freuen, Ihre Bekanntschaft zu machen.
Diese letzte Wendung hielt er für äußerst diplomatisch. Denn es war ja nicht
unmöglich, daß das Fräulein, die Tochter eines Kgl. Preußischen Kanzleirats, Be¬
denken trug, der Einladung eines männlichen Wesens zu folgen, wenn ihr nicht die
Anwesenheit einer Ehrendmne die Garantie dafür bot, daß hier alles nach den
ungeschriebnen Gesetzen der Schicklichkeit vor sich ging.
Fräulein Rosalie ließ sich denn auch nicht lange nötigen, trat ein und wurde
mit Käthchen bekannt gemacht. Sie war durchaus nicht so schüchtern, wie Seyler
vermutet hatte, bewunderte in ihrer temperamentvollen Art die vielen, vielen
»sicherlich furchtbar interessanten" Bücher, geriet in Entzücken über eine kleine
Meißner Rokokotasse und bemerkte beiläufig, ganz genau so eine habe ihre selige
Großmutter, die eine geborne von Köckeritz und eine Nichte des Geheimen Kriegs¬
rath dieses Namens gewesen sei. auch besessen. Es war für den Antiquar eine große
Beruhigung, daß die Dame so ziemlich allein die Kosten der Unterhaltung trug,
denn trotz oder vielleicht gerade wegen seines schönen Fonds an positivem Wissen
fühlte er sich nicht recht befähigt, einem weiblichen Wesen gegenüber den leichten
Konversationston anzuschlagen, der ihm als die Einleitung zu ernstern und gehalt¬
vollern Gesprächen unerläßlich schien. Da er überdies die dunkle Empfindung hatte,
Fräulein Rosalie erwarte jetzt schon einen regelrechten Heiratsantrag, so brachte
er zur Klärung der Lage die Unterhaltung mit einem kühnen Gedankensprung auf
die Presse und äußerte, es sei doch merkwürdig, daß diese gewaltige Kulturmacht
heutzutage berufen sei, nicht nur das politische Leben ganzer Völker zu lenken,
sondern auch bestimmend in das Schicksal des einzelnen Individuums einzugreifen
und zwischen einander fernstehenden Menschen Beziehungen zu vermitteln, die unter
Umständen, das heißt, wenn sich der erste, günstige Eindruck bei näherer Bekannt¬
schaft noch mehr vertiefe, von schwerwiegender Bedeutung für die Zukunft und das
Lebensglück der betreffenden sein könnten.
Zum Glück fiel ihm noch rechtzeitig ein, daß ihm die Presse ja auch noch
Beziehungen zu einem andern Individuum vermittelt hatte, und daß jeden Augen¬
blick ein zweites Taschentuch vor dem Schaufenster sichtbar werden konnte. Fräulein
Rosalie sah nicht so aus, als ob sie die Stätte des „ersten, günstigen Eindrucks"
so bald wieder zu verlassen gesonnen sei, und mußte deshalb schonend darauf vor-
bereitet werden, daß gegen fünf Uhr noch eine andre Dame, „eine entfernte Ver¬
wandte", erscheinen werde, die natürlich nicht zu wissen brauche, welcher Veranlassung
er — Seyler — den Besuch Fräulein Rosaliens verdanke. Sie möge deshalb er¬
lauben, daß er sie der andern Dame ebenfalls als eine entfernte Verwandte vorstelle.
Die Tochter des Kgl. Preußischen Kauzleirats mußte sich nun mit der Unterhaltung
Mthchens begnügen, denn Herr Polykarp Seyler schien plötzlich das dringende
Bedürfnis zu empfinden, das Arrangement des Schaufensters von Grund auf zu
ändern und die Kupferstiche, die bisher auf der rechten Seite gehangen hatten, mit
denen auf der linken Seite zu vertauschen. Er war übrigens jetzt bei weitem nicht
so aufgeregt wie vor einer Stunde, was vielleicht daher kam, daß er den herben
Reizen Rosaliens Geschmack abgewonnen hatte und sich der Hoffnung hingab, Frau
Minna Krause möchte ihm weniger gefallen und deshalb von vornherein für ihn
nicht weiter in Betracht kommen. Eins wußte er jetzt schon: so pünktlich wie die
ehemalige Lehrerin war sie nicht. Fünf war längst vorüber, und noch immer ließ
sich in Reichenbachs Hof kein weißes Taschentuch sehen.
(Fortsetzung folgt)
Der bedeutsamen Monarchenbegegnung in Swinemünde sind zwei weitere
gefolgt, in Wilhelmshöhe zwischen König Eduard und Kaiser Wilhelm, und in
Ischl zwischen König Eduard und Kaiser Franz Joseph. Schon bei Besprechung
der Zusammenkunft in Swinemünde wurde an dieser Stelle hervorgehoben, daß
der angekündigte Besuch König Eduards in Wilhelmshöhe im Zusammenhang
damit betrachtet werden müsse. Es handelt sich bei allen diesen Zusammenkünften
nicht um besondre Abmachungen und Neugruppierungen der Mächte, sondern um
freundschaftliche Aussprachen über die gegebne Lage; ihre Bedeutung liegt lediglich
darin, daß sie zur Klärung beitragen und als Anzeichen dafür gelten können, daß
in der politischen Atmosphäre die Spannungen nachgelassen und die Wolken sich
verzogen haben.
Es ist nicht zu leugnen, daß der Besuch König Eduards bei seinem kaiserlichen
Neffen, so kurz das Zusammensein auch war, entschieden das größte Interesse er¬
regt hat. Es sind nun einmal die beiden Herrscherpersönlichkeiten, die bisher die
Blicke der Welt am meisten auf sich gelenkt haben. Auf beide trifft die Erfahrung
zu, daß die monarchische Würde immer noch — oder vielmehr eben jetzt — sehr
viel mehr bedeutet, als in Verfassungsparagraphen umschrieben werden kann. Es
kommt nur darauf an, daß der Träger der Krone ein starkes Gefühl und ein
lebendiges Bewußtsein hat für die Regungen der Volksseele, die sich in der Per-
sönlichen des höchsten Vertreters der irdischen Gewalt gern spiegeln möchte. Jede
Eifersucht auf die feste Jnnehaltung der Schranken, die Verfassung und Gesetz dieser
irdischen Gewalt gezogen haben, verschwindet gegenüber der volkstümlichen Auf¬
fassung des Herrscherberufs, die ganz ihre eignen Wege geht und ihre besondern
Bedürfnisse hat. Diese Erscheinung fällt fremden Beobachtern viel leichter auf als
den zunächst Beteiligten; nur wird sie in der Regel falsch gedeutet, denn die
Völker kennen sich gegenseitig gewöhnlich recht schlecht. Sie führen alles auf rein
Persönliche Eigenschaften der Herrscher zurück, was zu einem guten Teil den
nationalen Eigentümlichkeiten, dem Charakter und den Einrichtungen des Volkes,
dessen feinfühliger Repräsentant der Herrscher ist, zugeschrieben werden müßte. Die
Engländer halten Kaiser Wilhelm für einen gewaltigen Autokraten, weil sie von
ihrem Standpunkt aus für die Überlieferungen und Eigenheiten der Hohenzollern-
dynastie, für die historischen Bedingungen dieses Königtums keinen richtigen Ma߬
stab und kein rechtes Verständnis finden. Es kommt ihnen nicht der Gedanke,
daß der Kaiser konstitutioneller ist, als er sich zu geben scheint, und daß der ent¬
gegengesetzte Eindruck nur aus einem geschichtlich berechtigten, stolzen Bewußtsein
innerer Einheit zwischen Fürst und Volk entsteht. Sie kennen unsre staatlichen
Einrichtungen und den Geschmack unsers Volkes zu wenig, um zu verstehn, daß
der Deutsche trotz der leidigen Gewohnheit des Räsonierens und Kritisierens
gerade Freude daran empfindet, daß der Mann, der an der Spitze des Reiches
steht, sich auch dieser Stellung entsprechend fühlt und nicht Nur ein Abstraktum,
eine Idee, einen staatsrechtlichen Begriff darstellt. Die Engländer meinen nun,
das deutsche Volk sei unfrei, ganz dem persönlichen Willen des Kaisers anheim¬
gegeben, und dieser Gedanke, daß ein großes, militärisch geschultes Volk ganz einer
einzigen, starken, impulsiver Persönlichkeit ausgeliefert sei, peinigt sie und erfüllt
sie mit Mißtrauen. Dasselbe aber, was sie an unserm Kaiser nicht recht begreifen
können, finden sie an ihrem eignen König ganz natürlich und selbstverständlich.
Mit König Ednard geht es uns Deutschen im Grunde ganz ähnlich. Zweifel¬
los hat er einen ungewöhnlichen politischen Einfluß und erfreut sich einer persönlichen
Macht, wie sie seit zweihundert Jahren kein englischer König besessen hat, obwohl
die geschriebnen Gesetze und die bestehenden Einrichtungen des Landes seitdem kein
Jota den Kronrechten hinzugefügt haben, im Gegenteil der bewußte Genuß der
Volksfreiheit und das entschied»« Streben, die Schranken der Königsgewalt aufrecht
Zu erhalten und womöglich zu verengen, eher eine Zunahme erfahren hat. Das
Geheimnis liegt darin, daß König Eduard eben ganz und gar ein König nach dem
Herzen der Engländer ist, der geborne Repräsentant des englischen Volkes mit seiner
ganzen Eigenart und seinen Traditionen. Was der anerkannt erste Mann in einem
Großstaate mit Jahrhunderte alten Traditionen wirklich vermag, hängt eben nicht
von geschriebnen Satzungen ab. Wir sehen wohl diese auffallende Tatsache des
außerordentlichen persönlichen Einflusses, den ein englischer König ausübt, aber der
Durchschnitt unsrer öffentlichen Meinung erkennt zu wenig, wie dieser Einfluß zu¬
stande kommt. Man sieht persönliche Neigungen und Stimmungen, wo der König
doch nur der vielleicht zu geschäftige Mandatar der englischen Interessen ist.
Aber so wie die Dinge nun einmal liegen, wo die Persönlichkeiten der beiden
Herrscher so sehr im Vordergrunde stehn, und die beiden Nationen alles, was sie
gegenseitig beschäftigt und erregt, dem Herrscher der andern auf das persönliche
Konto schreiben, hat die Frage der persönlichen Beziehungen zwischen den beiden
Monarchen auch wirklich eine Bedeutung erlangt, die geradezu unbegreiflich erscheinen
müßte, wenn man die Verfassungen der beiden Länder ansieht. Es hat bekanntlich
längere Zeit eine Spannung zwischen Kaiser Wilhelm und König Eduard bestanden,
die bei dem Unterschiede des Lebensalters, der Verschiedenheit der Temperamente
der beiden nahen Verwandten wohl erklärlich war, und die durch gewissenlose
Zwischentrcigereien gelegentlich verschärft wurde. Daß diese Spannung jetzt beseitigt
ist, muß im Interesse der Beziehungen zwischen Deutschland und England mit
Freude begrüßt werden, und das ist der zunächstliegende, wichtigste Eindruck der
Wilhelmshöher Begegnung.
Was die weitere politische Bedeutung dieser Begegnung und der in Ischl
betrifft, so kommt neben der allgemeinen, den Frieden befestigenden Wirkung vor
allem eins in Betracht. In den letzten Jahren deuteten mancherlei Vorgänge
darauf hin, daß die alte Gruppierung der europäischen Mächte in Ost- und Westmächte
wieder Bedeutung gewonnen hat. Lange Zeit war sie in den Hintergrund gedrängt
worden, da der Dreibund und der französisch-russische Zweibuud der politischen Lage
das Gepräge gaben. Aber die Gegensätze, die in diesen Bündnissen zum Ausdruck
kamen, milderten sich; wenn die Bündnisse selbst auch fortbestanden und nach der
Ansicht ihrer Teilnehmer nützlich wirkten, so wurde doch durch neue Interessen die
Aufmerksamkeit von ihnen abgelenkt, und besonders waren die Verhältnisse im nahen
Orient nicht in das alte Schema hineinzubringen. Hier führte die Verschiedenheit
der Interessen die beiden Freunde Rußland und Frankreich in verschiednen Richtungen
auseinander, dagegen hielt Nußland es für nützlich, sich mit Österreich-Ungarn zu
verständigen, und Deutschland hatte das durch seine Lage und durch das Bündnis
rin Österreich-Ungarn gegebne natürliche Bestreben, den beiden Kaisermttchten als
Rückhalt zu dienen. Daß England in Angelegenheiten des nahen Orients Frankreich
näher stand als den Ostmächten, beruhte auf alter Tradition und der bekannten
Rivalität in Asien. So bereitete sich schon damals eine Scheidung der Interessen
der Ost- und Westmächte vor. Dann kam die Phase der englischen Politik, die zu
dem vielbesprochnen „Dreibund der Westmächte" führte und auf dessen Erweiterung
zu einem Vierbund durch den Anschluß Italiens hinarbeitete. Die Erweckung des
Anscheins, als ob der alte Gegensatz der West- und Ostmächte in Europa wieder
aufleben sollte, scheint jedoch der englischen Politik selbst unerwünscht und unbequem
zu sein. Nachdem die bekannten zahlreichen Sondercibkommen Englands mit andern
Mächten die vielverzweigten britischen Weltmachtinteressen nach Möglichkeit gesichert
haben, soll der unangenehme Eindruck beseitigt werden, als wolle England eine den
Frieden bedrohende Koalition bestimmter Mächte herbeiführen. Die neue asiatische
Politik Englands forderte ohnedies eine Verständigung mit Rußland, und als
das geschehn war, wünschte das englische Kabinett offenbar zu zeigen, daß es auch
im nahen Orient eine friedfertige Politik treiben wolle, ebenso aber auch, daß dies
alles nicht gegen Deutschland gerichtet sei. König Eduard wurde auch in diesen
Verhandlungen der geschickte und unermüdliche Geschäftsträger der Politik seines
Landes. Er benutzte seine Reise zur Kur in Marienbad, um vorher mit dem deutschen
Kaiser und mit Kaiser Franz Joseph persönlich zusammenzukommen. Man kann
nicht nur hoffen, sondern vielmehr bestimmt annehmen, daß diese vertraulichen Be¬
sprechungen zu dem erwünschten Ziel geführt haben und in ihren Nachwirkungen
eine weitere Beruhigung in der politische» Lage mit sich bringen.
In der innern Politik ist jetzt vielleicht die stillste Zeit des Jahres, aber ganz
ohne irgendwelchen Lärm der Parteikämpfe geht es auch dann nicht ab. Eifrig
werden noch immer die Aussichten der Blockpolitik und die künftige Stellung des
Zentrums erörtert. Die Liberalen haben durch das vorzeitige Anschneiden der
Wahlrechtsreform in Preußen einen Fehler begangen, der jetzt von ihren Gegnern
nach Möglichkeit auszunutzen versucht wird. Das hat wenigstens das Gute, daß
sich die einsichtigen Liberalen rechtzeitig von dieser „Bewegung" zurückgezogen haben,
die ihnen nur Mißerfolge bringen kann und durch die notwendig daraus folgende
Sprengung des Blocks außerdem noch jede Möglichkeit nimmt, sich auch nur die
Vorteile zu sichern, die ihnen die Blockpolitik bringen muß. Soviel also auch über
die Reform des preußischen Laudtagswahlrechts gesprochen und geschrieben werden
innig, recht ernsthaft ist die Sache nicht zu nehmen, denn auch der Sozialdemokratie
glückt es nicht, die Massen für diese völlig aussichtslose Sache zu erwärmen.
Unterdessen hat Herr spähn in einer politischen Versammlung zu Rheinbach
eine Rede gehalten, die den Kombinationspolitikern einige Rätsel zu raten gibt.
Er hat von der Notwendigkeit gesprochen, im nächsten Etat einen Mehraufwand
von 65 Millionen für Heer und Flotte zu bewilligen. Alles soll natürlich in ge¬
ziemendes Erstaunen geraten über die Sachlichkeit, Uneigennützigkeit und opferwillige
Vaterlandsliebe einer Partei, die der Reichskanzler unter der offenbar ganz falschen
Anschuldigung, notwendige Mittel verweigert zu haben, von sich gestoßen hat. Das
könnte ja zunächst nur komisch wirken, wenn es nicht Anlaß zu allerlei Kopfzer¬
brechen gäbe, was Herr spähn damit eigentlich bezweckt hat. Gewiß hat er nicht
gegen seine persönliche Überzeugung gesprochen; er hätte wohl am liebsten schon
im Dezember 1906 alles bewilligt, was die Regierung haben wollte, und einem
Manne wie Herrn Spahn mag es sauer genug geworden sein, sich unter das Joch
des Herrn Erzberger und seiner Demagogengarde zu beugen. Aber nach allem,
was geschehen ist, kann er jetzt nicht so naiv sein, zu glauben, daß man in seinen
letzten Äußerungen bloß das Bedürfnis, seine Meinung zu sagen, erkennt. Ebenso¬
wenig darf man annehmen, er habe das gesagt, um sich der Regierung wieder zu
Gnaden zu empfehlen, oder gar — so weit versteigt sich die mißtrauische Kom¬
binationssucht nicht — weil sich die Regierung bereits insgeheim mit ihm ver¬
ständigt habe. Nein, solche kindliche Politik treiben Regierung und Zentrum denn
doch nicht! Aber allerdings mag Herr Spahn auf die Gespensterfurcht mancher
nationalen Kreise spekuliert haben, die, wie er richtig annahm, sich sofort regen
wußte, wenn aus dem Munde eines Zentrumsführers eine anscheinend regierungs¬
freundliche Äußerung fiel. Und der kluge Herr wußte sehr genau, daß es niemals
schaden konnte, diese Furcht in dem Augenblick anzuregen, wo die Liberalen mit
ihren Erörterungen über das preußische Wahlrecht die Konservativen besonders ver¬
stimmt hatten, und wo die extremen Elemente im konservativen Lager sehr stark an
dem Block zu rütteln begannen. Den Konservativen sollte zu Gemüte geführt
werden, daß das Zentrum nach wie vor bündnisfähig sei, wenn die Liberalen einen
Zu hohen Preis für die Blockpolitik forderten, und daß zur Not die Liberalen ent¬
behrt werden könnten, ohne die nationalen Forderungen für Heer und Flotte zu
gefährden. Also auch dies ein Blocksprengungsversuch in oxtiwÄ tormg.! Dem¬
gegenüber wird es notwendig sein, erst recht an der Blockpolitik festzuhalten, wie
es die einsichtige Mehrheit der Konservativen und der Liberalen auch zu tun ge¬
willt ist
Es vergeht jetzt kaum ein Tag, wo man
nicht in der süddeutschen Presse Klagen und Beschwerden über die Rückstttndigkeit
der bayrischen Verkehrseinrichtungen und des Eisenbahnwesens zu lesen bekommt.
Man macht der Verwaltung den Vorwurf, daß sie zu bureaukratisch organisiert
sei, vor dem beständig wachsenden Fremdenverkehr ratlos dastünde und zu wenig
Verständnis für die Forderungen der Zeit habe. Die Klagen sind nicht unbe¬
gründet. norddeutsche Reisende, die über München in die Alpenländer zu fahren
Pflegen, haben leider auch die Erfahrung machen müssen, daß in den verkehrs¬
reichen Monaten die Zustände, namentlich ans dem Münchner Bahnhof, von Jahr
SU Jahr bedenklicher geworden sind; man merkt in der Tat keine Fortschritte in
der sachgemäßen Leitung und Behandlung des Reiseverkehrs. Oft stauen sich auf
dem Münchner Bahnhof die Fahrgäste zu Hunderten vor den engen Einlaßtüren
des eisernen Gitters, und wenn diese dann geöffnet werden, pflegt ein geradezu
lebensgefährliches Drängen, Schieben und Stoßen zu entsteh», da unter den
Reisenden die Ansicht verbreitet ist, daß wer sich nicht früh genug einen Sitzplatz
erkämpft habe, selbst in der zweiten Klasse während der Fahrt stehn müsse. So
standen auch wir Mitte August vor dem Gitter in einem solchen fürchterlichen
Gedränge Hunderter von Menschen, die den Mittagsschnellzug nach Dresden,
Leipzig oder Berlin benutzen wollten. Plötzlich, etwa fünfzehn Minuten vor Ab¬
gang des Schnellzugs, lief ein Souderzug ein, und — man sollte es nicht für
möglich halten — die beiden Unterbeamten, ein höherer war nicht zu sehen,
dirigierten den ganzen Strom der hernusflutenden Sonderzügler durch die beiden
für den Schnellzug bestimmten Eingangstüren, und die Unglücklichen mußten sich
nun durch die wie eine Mauer dastehende wartende Masse Bahn brechen, was
empörende Szenen zur Folge hatte, sodaß es mit der staunenswerten Lammes¬
geduld des malträtierten Publikums nun doch zu Ende war, und sich die Ent¬
rüstung über eine solche Mißhandlung der Reisenden in der schärfsten Tonart
äußerte. Kaum hatte sich der letzte Reisende des Sonderzugs durch die Menge
durchgearbeitet, was bei den vielen Alpenstöcken, Eispickeln und Steigeisen nicht
ohne Risse und Schrammen abgehn konnte, so stürmten die Schnellzugsreisenden
durch die beiden Pforten, rannten die beiden Beamten über den Haufen, sodaß
von einer Kontrolle der Fahrkarten, vor allem der zeitraubenden Nundreisescheine,
gar keine Rede sein konnte, und stürzten, da nur noch wenig Minuten Zeit
war, auf den Bahnsteig. Zu allgemeinem Erstannen sahen sie aber, daß der schon
in zehn Minuten abzulassende Schnellzug noch gar nicht rangiert war, und daß
nur einige Wagen ohne Lokomotive dastanden. Diese Wagen waren natürlich
sofort bis auf den letzten Platz besetzt, und für die übrigen nach Hunderten
zählenden Reisenden mußten nun erst die nötigen Wagen herangeschoben werden,
wodurch der Schnellzug schon in München eine Verspätung von dreißig Minuten
bekam. Da die meisten Wagen keine Tafeln mit der Aufschrift des Endziels hatten,
so stürmten natürlich — denn jetzt mußte alles hurtig gehn — alle Reisenden
durcheinander, Dresdner, Thüringer, Leipziger und Berliner in die Wagen. Die
Folge davon war, daß auf einer andern Station wieder umgestiegen werden mußte,
und da dort noch ein neuer Wagen durch Arbeiter langsam herangeschoben wurde, so
kam der Schnellzug schließlich mit der Verspätung von fast einer Stunde in Leipzig
an. Die Hauptschuld um dieser Verschleppung trägt die mangelhafte Organisation auf
dem Münchner Bahnhofe. Schon hier hätten die Retsenden nach ihrem Endziel
gruppiert und untergebracht werden müssen; an den Einlaßtüren müßten Tafeln
angebracht werden mit der Aufschrift: Durchgang für Reisende nach Berlin usw.
Es würde durch diese Maßregel wenigstens den empörenden Szenen etwas vor¬
gebeugt werden. Mau sollte meinen, daß ein Schnellzug mindestens zwanzig
Minuten vor der Abfahrt fertig rangiert dastehn müßte; über die Zahl der
Reisenden hat sich die Verwaltung selbstverständlich rechtzeitig Klarheit zu verschaffen.
Die Klagen der süddeutschen Presse über die Verkehrsmisere findet deshalb bei allen
Reisenden ein volles Echo; da diese Klagen aber schon Jahr für Jahr erhoben
worden sind, trotzdem aber keine genügende Abhilfe geschafft wird, so kann man
den Reisenden in die Alpen nur den Rat geben, in der Hauptreisezeit die bayrischen
Bahnen und namentlich den Münchner Bahnhof möglichst zu meiden und andre
Bahnen für ihre Fahrt nach den Alpenländern zu benutzen.
Daß England bei allen vielgerühmten freiheitlichen
Einrichtungen einen ganz gehörigen Rest alter überlebter Kulturformen auch noch
heutzutage mit sich fortschleppt, weiß jeder, der in England gelebt und die mannig¬
fachen Widersprüche genügend beobachtet hat, die sich zwischen Form und Inhalt
bei Hofe, im Parlament, in der Verwaltung, in Kirche und Schule auf Schritt
und Tritt verraten. Einer der merkwürdigsten Perückenstöcke, die noch gegenwärtig
eine Rolle spielen, zuweilen wie ein Schreckgespenst in die Höhe fahren und dann
auf das frische, pulsierende Leben geradezu lähmend einwirken, ist der Theaterzensor,
^xarmusr ok I>1^8. Die Kontrolle der Bühnenstücke und der Theateraufführungen
ist in England nicht Sache der Polizeibehörde, wie in andern Ländern, sondern
gehört zu den Aufgaben des Hofmarschalls, der den Titel Lord Chamberlain führt.
Da dieser Herr nicht wegen seiner literarischen und künstlerischen Vorzüge ein solches
Hofamt erhält, muß er noch einen Hofbeamten anstellen, der die von den Theater¬
direktoren eingereichten Bühnenstücke zu lesen und zu begutachten hat. Auf Grund
eines solchen Gutachtens entscheidet dann der Lord Chamberlain, ob das Stück auf¬
geführt werden darf oder nicht. Eine höhere Instanz gibt es nicht. Dieses
absolutistische Privilegium, das zu der parlamentarischen Regierungsform wie die
Faust aufs Auge paßt, ist eine merkwürdige Erscheinung. Schon zur Zeit der
Königin Elisabeth hat es in der Gestalt des Nastsi' c>k tus Rsvsls, einer Art von
Zeremonienmeister, einen solchen Zensor gegeben, und durch die ganze Geschichte der
englischen Bühne geht, wie Watson Nicholson in seinem Buche StruWls lor
a ?rss Ltsg's (London, 1907) nachgewiesen hat, ein beständiges Klagelied über die
tyrannische Wirtschaft des Zensors, der sich jederzeit durch sein Amt eine hübsche
Einnahme zu verschaffen wußte. Schon 1833 wies Bulwer in seinem Vorschlage
zu einem Theatergesetz (Ora>ma,t,lo ?srtorraanos8 Bill) auf die Überflüssigkeit und
Schädlichkeit eines Zensors hin; der einzige wahre Zensor der Zeit sei der Geist
der Zeit, das Publikum und die Presse seien bessere Kunstrichter als ein im Hof¬
amt stehender Ignorant und Pfuscher. Im Jahre 1343 wurde die Gründung
neuer Bühnen in London durch die ?Iisg.t.rs RsAulation, Bill zwar freigegeben,
aber die Oberaufsicht über die Stücke und damit das Schicksal der dramatischen
Literatur blieben doch in der Hand des Hofbeamten, der seltsamerweise keiner
Behörde, auch nicht dem Parlament für seine Maßregeln verantwortlich war. Es
ist klar, daß bei den Entscheidungen des Zensors viele Mißgriffe vorkommen mußten.
Besondre Entrüstung erregte in diesem Jahre das Verbot, die Operette „Der
Mikado" von Gilbert und Sullivan aufzuführen, da sich die in England weilenden
Japaner verletzt fühlen könnten. Die englische Kritik wußte anfangs nicht recht,
was sie zu dieser sentimentalen Rücksicht sagen sollte; erst als sich die Japaner
selbst über dieses Verbot lustig machten, ging der Lärm in der Presse los, und
selbst ruhige und vorsichtige Zeitschriften, wie llrs ^o^äsen^ hielten es doch für
ihre Pflicht, nunmehr gegen dieses die englische Nation lächerlich machende Verbot
Ku Protestieren und dem Lord Chamberlain sowohl wie dem Zensor gehörig die
Wahrheit zu sagen. „Die Aufgabe, darüber zu entscheiden, was auf irgendeinem
Gebiete der Moral oder der Kunst zuzulassen oder zu verbieten ist, erscheint fast
unlösbar, und das ist tatsächlich ein großes Argument gegen alle Zensorenwirtschaft.
Aber wenn diese Pflicht einem Departement übertragen wird, das keine Kenntnis
von dem vorliegenden Gegenstande und kein Interesse daran hat, so muß das Er¬
gebnis unvermeidlich zu einer heillosen Verwirrung führen." In den letzten Jahren
hat der englische Zensor die Aufführung folgender Stücke untersagt: Norm-i. Varmg.
und Sistsr ?fre-W von Maeterlinck, Slrosts (Gespenster) von Ibsen, ^ Nees, Um-es
von d'Annunzio, ^d.s vsnoi von Shelley, dreier Stücke von Brieux: ^iis rin-so
^auAktsrs ok U. vuxont, Natsrnitö und Lss ZÄ-instons, ferner Ars. ^Varrsn's
^wkEWioii von Bernard Shaw und Lalcnris von Oskar Wilde. Als Grund für
die Ablehnung von Norma Varin wird angegeben, der Zensor habe in der Regie-
bemerkung anstatt nus sans mis-ntsarl gelesen nus sans rür ir^ntsau, er sei
darüber heftig errötet und habe die Aufführung untersagt.
Stoffe, die aus der Bibel entlehnt sind, dürfen nach den alten Grundsätzen
des Zensors überhaupt nicht auf die Bühne gebracht werden —- ein unglaublicher
Rest der alten, bornierten puritanischen Weltanschauung. Masfenets Oper Hsroäias
konnte deshalb erst dann in Convent Garden aufgeführt werden, als alle biblischen
Namen geändert worden waren, und man glaubt, daß der Zensor auch nur dann
Strcmßens Salome zulassen wird, wenn andre, möglichst moderne Namen in die
Rollen eingesetzt werden. Es ist aber zu erwarten, daß sich Strauß zu einem
solchen Humbug nicht hergeben wird. Das Verlangen der Mnsikenthnsicisten nach
Salome ist so groß, daß es in der nächsten Saison offenbar zu einer gewaltigen
Agitation kommen wird, bei der hoffentlich der Zensor mit seiner ganzen Puder¬
perücke und seinem wurmstichigen ästhetischen Glaubensbekenntnis aus dem englischen
Mit dem Dichter und Zeichner Reinick
und dem Landschaftsmaler Schirmer gehört der Ästhetiker Bischer zu den nun ein
Jahrhundert alten. Zweiunddreißigjährig sind diese drei in Rom zusammengetroffen,
und Wischers damals in Italien an die nächsten Verwandten und den Freundeskreis
der Strauß, Mörike usw. geschriebnen Briefe hat sein Sohn, der Göttinger Kunst¬
historiker, soeben als Büchlein herausgegeben.*) Die Ausgabe läßt manches zu
wünschen übrig — von den schwäbischen Kraft- und Dialektwörtern Wischers zum
Beispiel werden nur die wenigsten erklärt, was Auftätscherles, Möbel, Gemals, ein
sturzener Ofen, Kressich, ahnt ist, wüßten wir Nichtschwaben auch gern, und wenn Bischer
die Abteilung Castel-lamare in einem Buche von sich hätte gedruckt lesen müssen,
hätte er wohl einen tüchtigen Fluch losgebrannt —, aber die Briefe sind trotzdem
unterhaltend zu lesen, für den Laien wegen ihres Humors, für den historisch Ge¬
bildeten auch wegen des Zeitkolorits, d. h. der Wende von Jean Paul zu dem
Realismus gegen 1870 hin. Bischer schreibt zwar einmal nach Hause, die schönsten
Stellen aus Goethes Briefen aus Italien summten ihm immer in den Ohren, dabei
erscheint er aber unwillkürlich mehr als ein schöpfte in Italien, und mit derselben
Sentimentalität wie Albano die von seiner Ziehschwester Rabette gestickte Brieftasche
holt der junge Tübinger Professor die ihm von seiner Schwägerin gestickte zu seiner
eignen Überraschung in Italien aus dem Rocke.
In anderm Sinne darf der lebende Bischof von Rottenburg, Dr. Paul Wilhelm
von Keppler, ein altschwäbischer Ästhetiker genannt werden. Er erfreut uns in seinem
neusten Buche**) als feinsinniger Führer auf einer Wanderung durch Württembergs
letzte Klosterbauten, lehrt uns den Zauber des Freiburger Münsterturmes kennen,
betrachtet mit abgeklärt katholischem Verständnis Rubens als religiösen Maler, Rasiciels
Madonnen und das Sposalizio und Thomas von Aquin als Gegenstand der mittel¬
alterlichen Malerei — immer mehr den Gefühls- und geistigen Inhalt als das
eigentlich sehbare darlegend — und macht schließlich gegenüber der schlimmen
Gegenwart seinem Herzen Luft in einer liebenswürdigen, auch anmutend illustrierten
oratio xro lastitis..
!0 immer England ein Land in seine Interessensphäre hineinzog
— und es ist kein kleiner Teil des Globus, Mo dies geschehen —,
haben Sie niemals die Entwicklung des fremden Landes danieder¬
gehalten und unterdrückt, wie manche andre Nation es zu ihrem
! eignen Schaden getan, sondern Sie haben Ihre Kräfte und Arbeit
dafür eingesetzt, die Produktionsquellen des Landes zu erschließen und es der
Kultur und der Zivilisation näher zu bringen. Von dieser Arbeit schlössen
Sie auch andre Staaten in den unter britischen Einfluß stehenden Gebieten
nicht aus, sondern ließen sie den gleichen Weg mit Ihnen gehn. Einen der
größten Triumphe feierte diese Ihre Politik jetzt in Ägypten. In geradezu
erstaunlicher Weise hat der eminente Staatsmann, Lord Cromer, nach diesem
Prinzip handelnd, es verstanden, das alte Land der Pharaonen zu neuem
Leben, zu neuer Kraft zu erwecken." Diese Worte sind der Rede entnommen,
die Unterstaatssekretär von Mühlberg am 29. Mai d. I. an die im Zoologischen
Garten zu Berlin versammelten englischen Journalisten gerichtet hat. Lord
Cromer, dem er darin so hohes Lob zollt, ist seitdem von der Stätte seines
langjährigen Wirkens zurückgetreten. Vor uns liegt heute der letzte von ihm
verfaßte Bericht über die Finanzen, die Verwaltung und die allgemeine Lage
Ägyptens und des Sudans, ein umfangreiches Blaubuch, wie er solche all¬
jährlich dem britischen Parlament als Urkunde seines Schaffens und Wirkens
vorzulegen pflegte.
Haben wir vor kurzem dem Kritiker das Wort gegeben, der die Frage
nach Ägyptens Zukunft aufwarf (siehe Grenzboten 1907, Ur. 26: „Die Zukunft
Ägyptens"), so soll heute der verantwortliche Leiter der Geschicke des Landes
auf Grund seines amtlichen Berichts seine Anschauungen vertreten. Manche
Frage wird hier in andrer Beleuchtung vor uns auftauchen; aber gerade die
Ansichten des unverantwortlichen Beobachters und des verantwortlichen Staats¬
mannes einander gegenübergestellt, ergänzen sich zu einen? abgeschlossenen
Bilde.
Und Lord Cromer maß seinen Berichten eine große Bedeutung bei und
hoffte namentlich durch die in arabischer Übersetzung verteilten Abdrücke den
vielerlei falschen Darstellungen, die zumal im vergangnen Jahre die einheimische
Presse zu verbreiten beliebte, mit Erfolg entgegenarbeiten zu können. Von
den 11500 Abdrücken des Berichts von 1905 gingen 5500 in arabischer,
5175 in englischer und 825 in französischer Sprache hinaus.
Lord Cromer ist aber auch keineswegs von der unerreichten Vorzüglichkeit
des in Ägypten geschaffnen durchdrungen. Offen gibt er zu, daß eine Reihe
von Fehlern und Mängeln in der Verwaltung und der Regierung des Landes
vorhanden seien. Während er den Ursprung eines Teils dieser Fehler in der
Vergangenheit, eines andern Teils in dem allzu raschen Anwachsen des Wohl¬
standes sieht, hofft er, der Mehrzahl durch eine neuzuschaffende, den gegen¬
wärtigen Anforderungen des Landes besser entsprechende Gesetzgebung entgegen¬
arbeiten zu können. Auf diesen Punkt wird weiter unten noch näher einge¬
gangen werden.
Eine wichtige politische Frage fand im Jahre 1906 eine befriedigende
Lösung, die Streitfrage um die türkisch-ägyptische Grenze. Ein am 1. Oktober 1906
unterzeichnetes Übereinkommen schaffte sämtliche Punkte des längere Zeit die
Beziehungen beider Staaten trübenden Streits aus der Welt.
Die Sinaihalbinsel hatte bisher unter der Aufsicht zweier Departements
gestanden, der nördliche Teil unter dem Ministerium des Innern, der mittlere
und der südliche unter dem Kriegsministerium. Jetzt soll die ganze Halbinsel
dem Kriegsministerium unterstellt werden. Ein britischer Offizier des ägyp¬
tischen Heeres wird Kommandant mit dem Hauptquartier in Nekhl. Im
Jahre 1907 will man die Araber in den entferntern Teilen der Halbinsel
unter eine Art von Kontrolle bringen, auch soll das Justizwesen nach und
nach gehoben werden.
Einen breiten Raum nehmen in Lord Cromers Darstellung die dem
„ägyptischen Nationalismus" gewidmeten Ausführungen ein. Den Orient mit
seinen Eigenheiten und das eigenartige Gefühlsleben der eingebornen Be¬
völkerung wirklich zu verstehn, ist ungeheuer schwer, wenn auch, nach Lord
Cromers Ansicht, nicht so schwer wie in Indien, wo das Kastenwesen für einen
sozialen Verkehr zwischen Europäern und dem größern Teil der Bevölkerung
eine große, beinahe unüberschreitbare Schranke aufbaut. Die große Schwierigkeit,
die in der überaus langsam zu erwerbenden Kenntnis des orientalischen Wesens
liegt, wird noch bedeutend vermehrt dadurch, daß nur ganz wenige ägyptische
Politiker klar wissen, was sie auf dem Gebiete der Politik und der Verwaltung
eigentlich wollen. Der Wunsch, sich alle Vorteile der britischen Besetzung — und
diese Vorteile werden in vollem Umfang anerkannt — zu erhalten, aber ohne
Beibehalt der Besetzung, dieser oftmals offen ausgesprochne Wunsch kenn¬
zeichnet am besten die im Lande herrschende Stimmung.
Lord Cromer bezeichnet zwar die Behauptung, die ägyptische nationale
Bewegung sei ausschließlich panislamitischer Natur, als ganz unrichtig, gibt
aber ohne weiteres zu, daß sie vom Pauislamitismus start durchsetzt sei.
Der Pauislamitismus aber strebt eine Vereinigung aller Moslems der ganzen
Welt an zum Zwecke der Herausforderung der christlichen Mächte und des
Widerstandes gegen diese. Von diesem Standpunkt aus muß die Bewegung
von allen europäischen Nationen, die Interessen im Osten haben, mit aufmerk¬
samem Auge verfolgt werden, da sporadische Ausbrüche des Fanatismus in
verschiednen Teilen der Welt durchaus im Bereiche der Möglichkeit liegen.
Stand man aber in Ägypten im letzten Frühjahr recht nahe vor einem solchen
Ausbruch, so hält doch Lord Cromer ernstere Folgen der ganzen Bewegung
für ausgeschlossen, in erster Linie, weil er nicht an einen tatsächlichen Zu¬
sammenhalt und an ein Zusammenarbeiten der ganzen moslemitischen Welt
zu glauben vermag, wenn es sich einmal darum handeln sollte, von Worten
zu Taten überzugehn.
Neben diesem weitern Begriff bedeutet aber Pauislamitismus, auch enger
gefaßt, eine mehr oder weniger vollständige Unterwürfigkeit unter den Sultan.
Und diese Fassung des Begriffs ist für Ägypten die richtigere. Hinzu kommt
dann noch ein Streben nach Wiederauffrischung des Islams im Sinne von
tausend Jahre zurückliegenden Gesetzen und Bestimmungen. Gründe, aufgebaut
auf solchen Betrachtungen und unabhängig von Erwägungen politischer Art
führen dazu, daß alle, denen es mit ägyptischen Reformen ernst ist, den Pan-
islamitismus verdammen müssen. Bei dem berechtigten und notwendigen
Eingehen auf die nationalen Bestrebungen der eingebornen Bevölkerung ist mit
größter Sorge darauf zu achten, daß man nicht in ein rückschrittliches, gefahr¬
bringendes Fahrwasser kommt, da es nicht immer leicht ist, das wahre pan¬
islamitische Gesicht unter der Maske des Nationalismus zu erkennen. Dazu
kommt noch, daß es äußerst fraglich erscheint, inwieweit die sogenannte National¬
partei tatsächlich die Wünsche und Neigungen der Masse des Volkes darstellt.
Sehr häufig haben führende ägyptische Männer dem britischen Generalkonsul
gegenüber Verwahrung eingelegt gegen die Anmaßung eines solchen Namens,
noch dazu durch Leute, die nach der Ansicht jener sich keineswegs immer von
edeln Beweggründen leiten lassen und auch keinerlei Recht darauf haben, als
Vertreter des Volkes zu gelten. Aber die fortschreitende Erziehung des Volkes
hat in einer Menge von Leuten den Ehrgeiz geweckt. Der geringste Fellache
weiß heute, daß er vor dem Gesetz jedem Pascha gleich ist. Ein Geist der
Selbständigkeit hat sich entwickelt. Die besser ausgebildete Jugend verlangt
noch einen größern Anteil an der Regierung und der Verwaltung des Landes
als bisher. Wenn man aber auf der einen Seite dieser Bewegung ihre Be¬
rechtigung nicht absprechen kann, so müssen andrerseits gerade im Anfang einer
solchen nationalen Bewegung gegenüber bestimmte Grenzen festgehalten werden.
So kann das Streben der jungen Ägypter nach höhern Ämtern im Regierungs-
dienst, die jetzt in den Händen von Engländern sind, keineswegs von der Hand
gewiesen werden. Etwas andres ist es dagegen mit der im engern Sinne
politischen Seite des nationalen Programms, dem Verlangen nach größerer
Ausdehnung parlamentarischer Einrichtungen.
Über die tatsächlich vorhcmdne Ausdehnung der parlamentarischen Ein¬
richtungen in Ägypten wird weiter unten noch gesprochen werden — hier soll
zunächst nur die Frage erörtert werden, inwieweit eine Ausdehnung der Be¬
fugnisse des „Gesetzgebenden Rats und der gesetzgebenden Versammlung"
möglich und wünschenswert erscheint.
Wenn auch die ägyptische Nationalpartei ihr Programm keineswegs genau
festgestellt hat, so scheint sie doch die Schaffung einer Einrichtung ähnlich dein
Haus der Gemeinen in England anzustreben. Die Absicht, daneben auch eine
zweite Kammer, ähnlich dem Hause der Lords, oder aber nur eine einzige, die
ganze Macht in sich vereinigende Kammer zu schaffen, ließ sich noch nicht
deutlich erkennen. Ebenso ist es fraglich, ob dieses angestrebte ägyptische
Parlament seine gesetzgebende Tätigkeit auf alle Einwohner des Landes oder
nur auf die Eingebornen ausdehnen soll. Der erste Gedanke würde die Zu¬
stimmung aller Mächte nötig machen, die sicher nicht zu bekommen wäre. Ab¬
gesehen aber von diesen freilich höchst wichtigen Erwägungen geht allem Anschein
nach die Absicht dahin, erstens ein der Kammer verantwortliches und von ihrer
Mehrheit abhängiges Ministerium zu schaffen, und zweitens, die gesamte Auf¬
sicht über die Finanzen des Landes dieser Kammer zu übertragen. Während
aber die Annahme des ersten Vorschlags ein reines Chaos zur Folge haben
müßte, würde die Einführung des zweiten fast unvermeidlich zum Staatsbaukerott
führen. Die ganze Frage läßt sich überhaupt nur mit Mühe ernsthaft erörtern.
Wie kann in einem Lande, das durch Jahrhunderte unter den schlimmsten
Formen einer Mißregierung zu leiden hatte, und in dem vor zehn Jahren (1897)
nur 9,5 vom Hundert der Männer und 3 vom Hundert der Frauen lesen und
schreiben konnten, plötzlich die Fähigkeit vorhanden sein, das volle Recht der
Selbstverwaltung zum Segen für sich und andre ausüben zu können? So er¬
scheint heute das Programm der „nationalen Partei" völlig undurchführbar.
Hat somit der „ägyptische Nationalismus" in der Form, wie ihn die
ägyptische Nationalpartei vertritt, wenig oder keine Aussicht auf Erfolge, so
gilt das nicht in gleicher Weise für ein andres Ideal, wie es die gesamte
Nation, einschließlich praktisch denkender Politiker, wohl anstreben könnte. Ein
solches Ideal aber sieht Lord Cromer selbst in der Zusammenfassung aller
Bewohner des Landes ohne Rücksicht auf Rasse, Religion oder Herkunft zu
einer einheitlichen ägyptischen Nation. Der Verwirklichung dieses Ideals stehn
heute freilich noch die „Kapitulationen" in ihrer gegenwärtigen Gestalt ent¬
gegen, die eine Trennung nicht nur zwischen Eingebornen und Europäern,
sondern auch zwischen Europäern verschiedner Nationalität mit sich bringen.
Eine wirkliche Zusammenfassung aller kann nur erreicht werden durch die
Schaffung eines lokalen internationalen Gesetzgebenden Rates. Neben andern
Gründen spricht für eine solche Schöpfung der Umstand, daß dadurch eine
Interessengemeinschaft zwischen der so vielfach verschiednen Bevölkerung des
Niltales entstünde und mit ihm der erste Schritt auf der Bahn zu einem
ägyptischen Nationalgeist. Und wenn auch die Verwirklichung dieses Gedankens
noch lange auf sich warten lassen wird, so ist sein endgiltiger Erfolg doch mit
Sicherheit zu erwarten.
Daß in Ägypten, wie anderswo, die Presse eine bedeutende Rolle spielt,
zumal die eingeborne, ist durchaus begreiflich. Lord Curzon war immer der
Ansicht, ihr einen ziemlich freien Spielraum zu lassen, im Gegensatz zu manchen
andern, die einschränkende Maßnahmen lieber sehen. Denn eine Reihe von
Blattern in arabischer Sprache benutzt ihre Verbreitung zu wühlerischer und
hetzerischer Tätigkeit. Auch Gründe, die im letzten Jahre zu einer Einschränkung
der Presse hätten führen können, hat Lord Curzon nicht in diesem Sinne auf
sich wirken lassen. Er hat zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung,
und um deu treuen Auhüngern der Negierung Vertrauen einzuflößen, eine
Verstärkung der britischen Garnison beantragt; zu diesem Zwecke muß eine
neue Summe von 900000 Mark auf die Köpfe der ägyptischen Steuerzahler
umgelegt werden.
Lord Cromer liest selbst zahlreiche arabische Zeitungen, die sich gegen die
britische Regierung richten, kommt aber zu dem Schluß, daß diese ganze arabische
Presse voll von Irrtümern und fanatischen Ideen ist und weder in ihren An¬
schauungen noch in ihren Beweggründen auf der Höhe steht. Nirgends finden
sich klare, verständig geschriebne Artikel über Verwaltung^- und Rechts¬
fragen u. a., die irgendwelchen höhern Wert hätten. Anders die europäische
Presse, die, vereinzelte Schmutzblätter ausgenommen, einen durchaus wohl¬
tätigen Einfluß auszuüben vermag.
Eine wichtige Rolle in der Frage der besten Leitung der innern Ver¬
waltung des Landes spielen die „Kapitulationen". Die Absicht Lord Cromers
geht schon seit längerer Zeit dahin, dieses System der Kapitulationen abzuändern
und modern zu gestalten. Dagegen handelt es sich nicht, wie vielfach fälschlich
behauptet wird, um eine Ablösung dieser Kapitulationen und um eine Auf¬
hebung der den Europäern heutzutage gewährten Rechte und Privilegien. Es
wird hier keine Gerichtsreform geplant, sondern eine Reform des gesetz¬
geberischen Systems. Diese aber ist nötig, da heutzutage, wenig Fälle aus¬
genommen, ein auf die in Ägypten wohnenden Europäer anwendbares wichtiges
Gesetz nicht Zustandekommen kann ohne die Zustimmung von fünfzehn ver¬
schiednen Mächten. Dadurch ist Ägypten auf einem Standpunkt gesetzgeberischer
Impotenz festgelegt, denn die Übereinstimmung aller Mächte zu erreichen, ge¬
lingt erfahrungsgemäß höchstens bei Angelegenheiten von größter Wichtigkeit;
aber auch bei weniger wichtigen Fragen ist das ganze Verfahren so zeitraubend,
daß meist die ägyptische Regierung, bei der die Initiative liegt, schon von
vornherein auf einen Versuch verzichtet. Das Unhaltbare dieses Zustandes
aber nimmt von Jahr zu Jahr zu im Zusammenhang mit den Kultur¬
fortschritten, die bei immer zahlreichern Fragen eine gesetzliche Regelung nötig
machen.
Der neue Vorschlag geht dahin, die Gesetzgebung durch die Diplomatie
teilweise abzulösen und an ihre Stelle die gesetzgeberische Tätigkeit eines nur
aus Europäern bestehenden lokalen Rates zu setzen. Jedes Gesetz müßte dann
künftig, um Giltigkeit zu erlangen, von der Mehrheit dieses Rates angenommen
sein und die Billigung der ägyptischen und der britischen Regierung ge¬
funden haben.
Eine solche Änderung ist aber für Lord Cromer wohl denkbar ohne die
von mancher Seite verlangte Übernahme eines ausgesprochnen Protektorats
über Ägypten, die auf unübersteigbare Schwierigkeiten stoßen und eine Änderung
des gesamten politischen Status nötig machen würde, während andrerseits die
Dauer der britischen Besetzung ohne zeitliche Beschränkung von mehreren Gro߬
mächten zugestanden wurde.
Welches sind nun aber die derzeitigen Vorrechte der Europäer? Es sind
die folgenden: 1. die Behandlung aller zivilem oder Handelsstreitfälle und
aller Streitfälle um Landbesitz zwischen Europäern und Ägyptern oder zwischen
Europäern verschiedner Nationalität durch „Gemischte Gerichtshöfe"; 2. die
Erledigung von Strafsachen gegen Europäer durch Konsulargerichtshöfe auf
Grund ihrer heimischen Gesetze; 3. Verbot des Betretens der Häuser von
Europäern durch die Polizei, außer, nachdem die Erlaubnis des konsularischen
Vertreters des betreffenden Landes eingeholt worden ist und in Anwesenheit
eines Konsulatsbeamten; 4. direkte Steuern dürfen Europäern nur mit Zu¬
stimmung aller Mächte auferlegt werden.
Im einzelnen durchzuführen, wie sich Lord Cromer die Neuregelung dieser
Vorrechte nach den von ihm geplanten Reformen gedacht hat, dazu fehlt hier
der Raum. In großen Zügen ging seine Ansicht dahin, den fünfjährigen
Wechsel in den „Gemischter Gerichtshöfen" aufzuheben und ein System un¬
verändert bleibender Gerichtshöfe in derselben Zusammensetzung wirken zu lassen
bis zu einem Zeitpunkt, wo der zu schafsende lokale internationale Gesetzgebende
Rat Änderungen ausgearbeitet hat, die die Billigung beider Regierungen
finden. Die Konsulargerichtshöfe sollten aufhören und an ihre Stelle Straf¬
gerichte treten, über deren Zusammensetzung und Machtvollkommenheit der nur
aus Europäern zusammengesetzte Rat zu befinden hätte. Um es der Polizei
zu ermöglichen, das Haus eines Europäers zu Haussuchungen u. a. zu be¬
treten, würde an Stelle der vorher einzuholenden Erlaubnis des betreffenden
Konsuls die Zustimmung eines europäischen Beamten und die Anwesenheit
eines europäischen Polizeioffiziers verlangt werden. Eine Vermehrung der
Polizei in den Städten durch Europäer ist ohnehin angebahnt. Daß es in
Zukunft unmöglich sein wird, den steigenden Bedürfnissen der ägyptischen
Städte ohne Regelung der Beiziehung von Europäern und Ägyptern zur
Leistung von lokalen Abgaben gerecht zu werden, hatte Lord Cromer schon
bei frühern Gelegenheiten ausgeführt.
Schon aus dem erwähnten geht hervor, welcherlei Aufgaben dem zu
wählenden Gesetzgebenden Rat zufielen. Auf ihn muß nun noch näher ein¬
gegangen werden. Es muß betont werden, daß es sich nur um persönliche
Ansichten Lord Cromers handelt, zu deren Verwirklichung die Negierung
keinerlei Schritte bis jetzt getan hat, da die Kapitulationen nach wie vor zu
Recht bestehn und nur mit Zustimmung der Mächte geändert werden können.
Das wichtigste wäre, eine Art der Zusammensetzung des zu schaffenden Rates
zu finden, die diesem von vornherein das Vertrauen der Europäer gewinnen
müßte. Hierdurch würde die Hauptschwierigkeit aus dem Wege geschafft werden
können. Der Rat müßte notwendigerweise einen kosmopolitischen Charakter
haben, wie das Land, dem er dienen soll, ein kosmopolitisches ist und auch
immer bleiben wird nach Lord Cromers Ansicht, der die Möglichkeit, Ägypten
werde einmal eine britische Kolonie werden, nicht nur als irrig, unausführbar,
sondern geradezu als absurd bezeichnet. Das Gerichtswesen und das gesetzgeberische
System muß deshalb nach seiner Ansicht international gemacht werden.
Im einzelnen sollte sich der Gesetzgebende Rat teils aus gewühlten Mit¬
gliedern, teils aus solchen, die von der Regierung ernannt werden, zusammen¬
setzen. Lord Cromer hat in seinem diesjährigen Bericht die Zahl von etwa
sechsunddreißig bis vierzig Mitgliedern ins Auge gefaßt, von denen vier Re¬
gierungsbeamte, sieben Richter aus den gemischten Gerichtshöfen, auf deren
Anwesenheit im Rat er großen Wert legt, und zwanzig von den verschiednen
Nationen zu wählende Mitglieder sein sollten. Die Teilnahme der Nationali¬
täten würde sich nach der Stärke ihrer Bevölkerungszahl und nach dem An¬
teil richten, den sie am gesamten Handel nehmen. Im ganzen würden sie etwa
zwanzig Mitglieder stellen, zu denen dann noch fünf von der ägyptischen Re¬
gierung zu ernennende unoffizielle Mitglieder kämen.
Lord Cromer gibt ohne weiteres zu, daß er nicht glaubt, in seinen Vor¬
schlägen etwas vollkommnes zu bieten. Er hofft aber, daß sich nach und nach
aus seinen Vorschlügen etwas unbedingt brauchbares gestalten lasse, da es nur
auf diese Weise möglich sei, sich selbst eignes Recht zu schaffen an Stelle der
unhaltbaren Zustünde, die es oft zur Entscheidung einer Frage nötig machen,
an fünfzehn Orten um die Ansicht zu bitten und sich nach den wechselnden
Stimmungen der Politik zu richten.
tie Rückständigkeit der Katholiken auch im Wirtschaftsleben ist ein
vielerörtertes Thema, aber, so oft es schon durchgesprochen worden
sein mag, noch lange nicht spruchreif. Wo fände man alle die
Vorfragen befriedigend beantwortet wie: Ist der Pole darum rück¬
ständig geblieben, weil er katholisch, oder weil er Pole ist, oder
weil er ein reichliches Jahrtausend in einer Gegend zugebracht hat, die vor der
Einführung der modernen Verkehrsmittel von der westlichen Kultur nicht leicht
beeinflußt werden konnte? Sind die Franzosen darum schon rückständig zu
nennen, weil ihre gewerbliche Tätigkeit in mancher Beziehung anders geartet
ist als die der Engländer? Wie kommt es, daß die Italiener vom zwölften
bis ins fünfzehnte Jahrhundert, wo sie doch auch schon Katholiken waren, so
gewaltige Fortschritte nicht bloß auf allen Gebieten der Wissenschaft und Kunst
sondern auch in Gewerbe und Handel gemacht haben und dann der Stagnation
verfallen sind? Daß die Verlegung der Handelswege eine der Ursachen dieses
Wandels gewesen ist, wird ja wohl allgemein anerkannt. Zeigen nicht über¬
haupt die vier oder fünf romanischen Nationen ganz verschiedne Physiognomien
mich im Wirtschaftsleben, obwohl sie sich sämtlich, wenigstens äußerlich, zum
Katholizismus bekennen? Und wäre die Tatsache der Rückständigkeit aller
katholischen Nationen und Völkerbruchteile oder wenigstens der meisten festge¬
stellt, wäre auch bewiesen, daß die Konfession daran teilhat — alleinige Ur¬
sache kann sie nicht sein, weil ganz ohne Zweifel der Volkscharakter, die geo¬
graphische Gunst oder Ungunst des Landes und politische Umwälzungen sowie
Änderungen der Verkehrswege mächtig einwirken —, so wäre noch zu fragen,
wie der Einfluß der Konfession eigentlich zu denken sei. Liegt das schädigende
oder Hemmende bloß im Kult? Daß zum Beispiel die vielen Feiertage früher
die Gewerbtütigkeit beeinträchtigt haben, wie sie denn heute noch in Rußland
nicht bloß volkswirtschaftliche sondern auch ethische Verheerungen anrichten,
läßt sich nicht leugnen. Oder schadet das Dogma? Und in welchem Umfange
und Jntensitätsgrade wirkt dieses, wie weit bleibt es harmlose Theorie? Diese
Theorie darlegen, das gehört also zu den Vorbereitungsarbeiten für die Lösung
der großen Frage. Oder ist die Theorie, sind überhaupt die volkswirtschaft¬
lichen Theorien der Konfessionen vielleicht schon allgemein bekannt?
In der neuesten Zeit hat Max Weber die der reformierten Kirche, des
Kalvinismus, entwickelt, Ernst Troeltsch die lutherische wenigstens kurz charak¬
terisiert. Was die katholische betrifft, so hat man sie natürlich bei Thomas
von Aquin zu suchen, den ja Leo der Dreizehnte aufs neue als den authen¬
tischen Darsteller der römischen Kirchenlehre empfohlen hat. Das herrschende
protestantische Vorurteil gegen die Scholastik hat Harnack für unbegründet
erklärt. Sie war wissenschaftliches Denken, schreibt er in seiner Dogmenge¬
schichte. Daß dieses Denken von Vorurteilen abhängig war und sich teils gar
nicht, teils nur sehr langsam von ihnen befreite, das sei ein Gebrechen, an dem
die Wissenschaft aller Zeiten kranke. Es sei auch nicht richtig, daß im Mittel¬
alter die deduktive Methode allein geherrscht habe; man habe vielfach die Er¬
fahrung herangezogen; nur habe man das Sinnliche weniger zu beobachten
verstanden als das Geistesleben und darum in den Naturwissenschaften keine
Fortschritte gemacht. „Somit ist die Scholastik einfach Wissenschaft gewesen,
und es wird lediglich ein ungerechtfertigtes Mißtrauen dadurch verewigt, daß
man diesen Teil aus der allgemeinen Geschichte der Wissenschaft mit einem
besondern Namen glaubt absondern zu dürfen." Das Vorurteil beginne ja zu
weichen. Man lese die Scholastiker wieder und finde, daß sie nicht so unver¬
nünftig sind, wie man sie sich vorgestellt hatte. Hier und da würden sie sogar
überschätzt, so von einem berühmten Juristen. Damit ist ohne Zweifel Jhering
gemeint, der in der zweiten Auflage seines Werkes: Der Zweck im Recht
(2. Anmerkung auf S. 161 des 2. Bandes) schreibt: „Kaplan Hohoff ... weist
mir durch Zitate aus Thomas von Aquin nach, daß dieser große Geist das
realistisch-praktische und gesellschaftliche Moment des Sittlichen ebenso wie das
historische bereits vollkommen richtig erkannt hatte. Den Vorwurf der Un¬
kenntnis, den er für mich daran knüpft, kann ich nicht von mir ablehnen, aber
mit ungleich schwereren Gewicht als mich trifft er die modernen Philosophen
und die protestantischen Theologen, die es versäumt haben, sich die großartigen
Gedanken dieses Mannes zunutze zu machen. Staunend frage ich mich, wie
war es möglich, daß solche Wahrheiten, nachdem sie einmal ausgesprochen
waren, bei unsrer protestantischen Wissenschaft so gänzlich in Vergessenheit ge¬
raten konnten? Welche Irrwege hätte sie sich ersparen können, wenn sie
dieselben beherzigt hätte! Ich meinerseits hätte vielleicht mein ganzes Buch
nicht geschrieben, wenn ich sie gekannt hätte, denn die Grundgedanken, um die
es mir zu tun war, finden sich schon bei jenem gewaltigen Denker in vollendeter
Klarheit und Prägnantester Fassung ausgesprochen."
Dieses Zitat wird den Grenzboten hoffentlich Absolution dafür erwirken,
daß sie sich einmal mit einen: Scholastiker abgeben. In der nachfolgenden
Skizze der volkswirtschaftlichen Ansichten des Aquinaten stütze ich mich auf die
vortreffliche Studie von Max Maurenbrecher: Thomas von Aquins Stellung
zum Wirtschaftsleben seiner Zeit (Leipzig, I. I. Weber, 1898), und ziehe noch
einen Katholiken zu Rate, Franz Walter: Das Eigentum nach der Lehre
des heiligen Thomas von Aquin und des Sozialismus (Freiburg i. Vr.,
Herder, 1895).
Thomas hat dem Wirtschaftsleben kein besondres Werk gewidmet, sondern
nur gelegentlich einzelne wirtschaftliche Fragen erörtert sowie sozialpolitische,
die mit wirtschaftlichen zusammenhängen. Es geschieht dies teils in den
Kommentaren zur Ethik und zur Politik des Aristoteles, teils in einigen seiner
kleinern Schriften, teils an verschiednen Stellen seiner theologischen und seiner
philosophischen Summa. Wo es sich nicht um geoffenbarte Wahrheiten handelt,
übernimmt er einfach die Gedanken des Aristoteles, denn er sieht in ihm die
verkörperte Vernunft; mit den Worten: xlüloMpllus äivll, zitiert er ihn ge¬
wöhnlich. Die Aussprüche des Philosophen erläutert er dann noch mit An¬
führungen aus der Heiligen Schrift, aus den Kirchenvätern und dem kanonischen
Recht. Zugleich aber läßt er sich auch durch die ihn umgebende Wirklichkeit
beeinflussen und unterwirft die sämtlichen Autoritäten, die er benutzt, seiner
selbständigen Beurteilung hauptsächlich zu dem Zwecke, sie miteinander in Ein¬
klang zu bringen. Nicht immer ist es leicht, zu unterscheiden, ob das, was er
aus seinen Gewährsmännern anführt, zugleich seine eigne Ansicht ausdrücken
soll, und ob Abweichungen von ihnen bei der Wiedergabe ihrer Ansichten auf
Mißverständnissen beruhen oder Korrekturen sein sollen. Dem Aristoteles
entlehnt Thomas den Grundgedanken aller Gesellschaftslehre, daß der Mensch
von Natur ein politisches Wesen ist, aber er versteht ihn ganz anders als der
Grieche. Dieser wollte damit sagen, daß der Mensch dazu bestimmt sei. im
Staate zu leben, und zwar, weil er sonst nicht wirklich Mensch sein, seine
Persönlichkeit nicht vollenden könne. Thomas denkt gar nicht an den Staat,
sondern meint nur, daß der Mensch ein Gemeinschaftswesen sei und es sein
müsse zur Befriedigung seiner Bedürfnisse. „Den übrigen aillnullibus, schreibt
er, hat die Natur ihre Nahrung, ihr Haarkleid, ihre Verteidigungsmittcl wie
Zähne, Hörner, Krallen oder wenigstens die Mittel zu rascher Flucht verliehen;
der Mensch dagegen ist mit nichts dergleichen ausgerüstet. Dafür ist ihm die
Vernunft gegeben, durch die er sich mittelst seiner Hände das alles selbst be¬
reiten kann. Aber dazu genügt ein Mensch nicht. Darum ist das Leben in
der Gesellschaft das für den Menschen natürliche. Ferner ist den andern Lebe¬
wesen eine natürliche Lebenskunst (ngturalis mäustris,) angeboren in Beziehung
auf alles, was ihnen nützlich oder schädlich ist, sodaß das Schaf im Wolfe
seinen Feind erkennt, die Tiere überhaupt die ihnen heilsamen Pflanzen, und
was sonst zu ihrem Leben notwendig ist. herausfinden. Der Mensch aber
besitzt nur allgemeine Erkenntnisprinzipien, aus denen er das für den besondern
Fall Notwendige erst ableiten muß. Ein einzelner Mensch vermag aber nicht
alle notwendigen Erkenntnisse abzuleiten. Darum müssen viele zusammenleben,
damit einer dem andern helfe, indem dieser dieses, der andre etwas andres er¬
finde, der eine sich der Medizin, der andre einer andern Kunst widme. Diese
gegenseitige Hilfe leisten sie einander schon durch die Sprache, die einen jeden
befähigt, seine Vorstellungen dem Genossen vollständig mitzuteilen, während
die übrigen Tiere nur ihre Affekte auszudrücken vermögen, wie der Hund den
Zorn durch Bellen." Und an andern Stellen: „Obwohl der Mensch von
Natur den Trieb hat, sich das zum Leben Notwendige zu verschaffen, ist es
doch nicht notwendig, daß jeder einzelne diesem Geschüft obliege. Auch im
Bienenstock betreiben ja nicht alle dasselbe; sondern die einen sammeln Honig,
die andern bauen Wachszellen, und die Könige tun keins von beiden. Ähnlich
ist es bei den Menschen. Weil zu ihrem Leben vielerlei notwendig ist, was
nicht alles von einem einzelnen geleistet werden kann, müssen verschiedne Ver-
schiednes betreiben: die einen den Acker bestellen, die andern Häuser bauen.
Und weil der Mensch nicht allein der körperlichen, sondern noch mehr der
geistigen Güter bedarf, müssen einige von der Sorge fürs Zeitliche freibleiben
und sich der Besserung der übrigen widmen. Die Verteilung der verschiednen
Ämter (ollioia) an die verschiednen Personen geschieht in der Weise, daß durch
eine Veranstaltung der göttlichen Vorsehung die einen mehr diesem, die andern
mehr jenem Amte zuneigen. ... Die Natur verfährt nicht so, daß sie einen
und denselben für verschiedne Ämter befähigte (oräivst), sondern sie bestimmt
(Äoxuwt) jeden nur für ein Amt. .. . Wie der eine Mensch verschiedne Glieder
für verschiedne Verrichtungen hat, so verhält es sich auch mit dem, was für
die ganze Gattung notwendig ist; deshalb müssen (nach Römer 12,4) ver¬
schiedne Menschen in verschiednen Ämtern tätig sein. Diese Differenzierung
lMvvrsiüoatio) beruht ursprünglich auf der göttlichen Vorsehung, die den Zustand
der Menschheit so eingerichtet hat, daß es nie an alledem fehlt, wessen die Menschen
zum Leben bedürfen, in zweiter Ordnung auf natürlichen Ursachen, indem die ver¬
schiednen Menschen verschiednen Verrichtungen und Lebensweisen zuneigen."
Demnach führt Thomas das gesamte Gesellschaftsleben auf die Arbeits¬
teilung zurück, die es allein ermögliche, daß alle menschlichen Bedürfnisse be¬
friedigt werden, eine Arbeitsteilung, die durch die Gliederung in verschiedne
Berufe bewirkt wird, also nicht die von Adam Smith beschriebne ist, obwohl
man diese als die radikale Durchführung jener ansehen kann. Von hier aus,
meint Maurenbrecher, gewinne Thomas die Möglichkeit einer sittlichen Wertung
des Berufs, wie man sie vor ihm wohl kaum in der Kirche gekannt habe, und
die schon an die reformatorische Auffassung heranreiche, nach der jede Berufs¬
arbeit ein Gottesdienst ist. Von Aristoteles habe er diese Einsicht nicht. Daß
es verschiedne Kunstfertigkeiten gibt, wisse dieser natürlich auch; aber daß
jemand sie zur Unterlage eines Erwerbs machen könne, erscheine ihm so un¬
natürlich, daß er es sich nnr aus einem gänzlichen Verfall der Sitten, als
Ausfluß unersättlicher Geldgier erklären könne, und daß er den Bevölkerungs¬
klassen, die auf solchen Erwerb angewiesen sind, das Vollbürgerrecht nicht ein¬
räumen möge. Eher fänden sich bei den Stoikern Anklänge, die Thomas auf
seine Idee gebracht haben könnten. Sollte er sie nicht aus Paulus geschöpft
und durch die Beobachtung der Wirklichkeit bestätigt gefunden haben?
Unter den mancherlei menschlichen Gemeinschaften, deren Mitglieder für
die Bedürfnisbefriedigung zusammenwirken, erscheint ihm die Stadt als die
vollkommenste, weil — sie es in seiner Zeit tatsächlich war, namentlich in
Italien. Mit Aristoteles stimmt er darin überein, daß ihm Stadt und Staat
in eins zusammenfallen. Aber während Aristoteles die Polis ethisch faßt als
höchste Form des menschlichen Gemeinschaftslebens, versteht Thomas sie räumlich:
als den Ort, wo in der einen Straße die Bäcker, in einer andern die Schlächter,
in einer dritten die Weber oder Schreiner oder Goldschmiede wohnen, sodaß
in einem solchen Gemeinwesen ein jeder alle seine Bedürfnisse leicht befriedigen
kann. Das städtische Leben hält er darum für das der Menschennatur ange¬
messenste. „Er sagt sogar ausdrücklich, daß einer, der außerhalb der Stadt
lebe, entweder ein Verbannter oder so arm sein müsse, daß er gezwungen sei,
zu ackern und das Vieh zu hüten; eine solche Erscheinung widerspreche aber
dem Satze, daß das städtische Leben das natürliche sei, so wenig wie das Vor¬
kommen von Einarmigen der Wahrheit, daß der Mensch von Natur zwei Arme
habe." So ist denn auch der Begriff der Autarkie bei Thomas ein andrer
als bei Aristoteles. Jener versteht darunter die vollkommne Bedürfnisbe¬
friedigung in der Stadt, dieser, daß der Staat den Menschen in den Stand
setzt, dnrch Tugendübung glücklich zu werden. (Das besorgt bei Thomas
natürlich die Kirche.) Bei der Gründung einer Stadt, führt Thomas in der
Schrift <Zs rsMinins vrinoixnin aus, sei auf die Erfüllung folgender Be¬
dingungen zu achten. Es müsse eine fruchtbare Gegend gewählt werden, denn
es sei das sicherste und würdigste, wenn sie ihre Nahrungsmittel vom eignen
Grund und Boden gewinne und vom Auslande möglichst unabhängig sei.
Ganz werde sich ja Umtausch des Ertragüberschusses gegen auswärtige Er¬
zeugnisse nicht vermeiden lassen, doch solle der Handel möglichst eingeschränkt
werden. (Plato wollte ihn ganz verbannt und darum seine Jdealstcidt möglichst
weit von dem zum Handel verführenden Meere entfernt ins Land hinein ver¬
legt wissen.) Zweitens müßten die geeignetsten Plätze für die Anlage der
Kirchen, der Gerichte, der Handwerkerwohnungcn ausgewählt werden. Drittens
müsse je einem Gewerbe seine besondre Straße angewiesen werden (wie es in
den mittelalterlichen Städten tatsächlich geschah). Und viertens müsse die Ne¬
gierung dafür sorgen, daß jeder Stadtbürger sein Auskommen habe. Wie er
sich das denkt, erfahren wir nicht, weil er das Werk nicht vollendet hat. Den
Territorialstaat, der mehrere oder sogar viele Städte umfaßt, kennt Thomas
natürlich — hatte er ihn doch in Neapel wie in Paris vor Augen —, aber
er schreibt ihm nur militärische, nicht wirtschaftliche Überlegenheit über die
Stadt zu.
Die Abneigung gegen den Handel teilt er mit den Alten, mit dem ganzen
Mittelalter und — mit nicht wenigen Menschen unsrer heutigen Zeit. Der
Handel innerhalb der Stadt darf nur im unmittelbaren Verkauf des Produ¬
zenten an den Konsumenten bestehn, der Handel mit dem Auslande oder mit
andern Städten nur Passivhandel sein, das heißt die Einwohner dürfen zwar
Produkte kaufen, die von auswärtigen Händlern gebracht werden, aber sie sollen
nicht selbst Händler werden, nicht vom Handel leben; eine Forderung, die im
damaligen England so ziemlich erfüllt war, mit der italienischen Wirklichkeit
aber im stärksten Widerspruch stand. Dagegen stimmen in Beziehung auf den
Erwerb seine Ansichten mit dem Wirtschaftsleben seiner Zeit und seines Landes
überein und unterscheiden sich deutlich von dem Ideal der antiken Wirtschaft,
das sich sonst oft in seinen Schriften spiegelt. Dem Aristoteles namentlich ist
der Oikos, das Haus als Wirtschaftsorganismus, Grundlage der Existenz.
Man darf nicht meinen, daß damit auch Aristoteles die Bedarfsdeckung auf
die Arbeit- und Berufteilung gründe, da ja ein solcher sich selbst genügender
Oikos eine Anzahl von Sklaven voraussetzt, von denen die einen landwirtschaft¬
liche, die andern gewerbliche Arbeiten verrichten, wieder andre häusliche und
Persönliche Dienste leisten; die Sklaven galten ihm ja nicht als Menschen,
sondern nur als beseelte und redcbegabte Werkzeuge des Herrn, der alles das
selbst und allein durch sie tut. Für Thomas ist das Haus bloß Wohn- und
Arbeitstätte, und seine Nahrung gewinnt-, der Bürger nicht ausschließlich vom
eignen Grund und Boden — die wenigsten können das, bemerkt er einmal —,
sondern meist durch Verkauf seiner gewerblichen Produkte oder durch Leistungen,
die bezahlt werden. Während Aristoteles das Streben nach Gelderwerb für
unsittlich erklärt, hält Thomas die Ausübung eines Berufs, die Geld einbringt,
für erlaubt, den redlichen Geldverdienst für gerecht und sagt ausdrücklich, ohne
Geld könne kein Haushalt auskommen. Aristoteles fordert im Gegenteil, daß
der Oikos alle Bedürfnisse befriedige, sodaß sein Herr keines Geldes bedürfe.
Zu den erlaubten Geschäften rechnet freilich Thomas die noch nicht, die später
aus deu Florentiner Medici Fürsten gemacht haben: sich Wechselgeschäfte be¬
zahlen lassen, das Geld aus dem Umsatz des Geldes selbst, nicht aus dem
Umsatz natürlicher Gebrauchsgüter gewinnen, das hält er für unnatürlich und
darum unsittlich. Als allgemeines Gesetz der Güterverteilung gilt ihm, daß in
der Stadt ein jeder sein standesgemäßes Auskommen für sich und die Seinen,
aber auch nicht mehr als dieses finden soll; denn da die Scheidung der
Menschheit in Berufsstände ein Werk der göttlichen Vorsehung ist, so wäre es
Sünde, sich über seinen Stand erheben zu wollen. Den Stand zu ändern ist
nur in dem Falle erlaubt, wenn man den weltlichen Stand mit dem geistlichen ver¬
tauschen will. Aber jeder Stand hat seine Ehre, weil die in ihm zu leistende Arbeit
für die andern Menschen verrichtet wird, der Stand selbst also ein Amt ist.
Gehört nach allem bisher ausgeführten und nach der Heiligen Schrift, die
Thomas natürlich vielfach anführt, die Arbeitspflicht zur natürlichen Aus¬
stattung des Menschen, so fragt es sich noch, ob diese Pflicht jedem einzelnen
oder nur der ganzen Gattung auferlegt sei. Die Gegner der Bettelmönche
behaupteten das erste: wer nicht arbeiten wolle, der solle nach 2. Thessa-
lonicher 3, 10 auch nicht essen, und zwar verstanden sie unter der jedem einzelnen
anbefohlnen Arbeit die körperliche Arbeit. Thomas entgegnete: allerdings
wurzle die Arbeitspflicht im Naturrecht; allein nicht jede naturrechtliche Ver¬
pflichtung binde jedes Individuum. Essen, trinken, tugendhaft leben, dazu sei
allerdings jeder einzelne verpflichtet; dagegen gelte das Gebot: Seid fruchtbar
und mehret euch, offenbar nur der Gattung, nicht jedem einzelnen. So stehe
es auch um die Verpflichtung zur körperlichen Arbeit. Das Menschengeschlecht
sei von Anfang an berufsteilig gegliedert gewesen, anders als in solcher
Gliederung gar nicht denkbar, die Berufsteilung aber ermögliche es, daß auch
solche zu essen haben, die ihre Nahrungsmittel nicht mit der Arbeit ihrer eignen
Hände beschaffen. Seinen eignen Orden hat er gegen die erwähnten Angriffe
in einer eignen Schrift verteidigt und gelegentlich auch in andern Werken, sehr
ausführlich in der philosophischen Summa. (Lumina, oontrg. Amelies; in
mehreren Kapiteln des dritten Buches; das interessanteste ist das hnndertfünf-
unddreißigste.) Er beweist zunächst, daß die Nachfolge Christi in vollkommner
und freiwilliger Armut erlaubt, löblich und Gott wohlgefällig sei, setzt dann
auseinander, daß die Klosterbrüder ihre Bedürfnisse auf mehrerlei Weise be¬
friedigen können: durch deu Ertrag eines gemeinsamen Besitzes, durch eigne
Arbeit und durch Bettel, und widerlegt die gegen diese Befriedigungsweisen
erhobnen Einwendungen. Gegen den gemeinsamen Besitz werde eingewandt,
daß er den Zweck des Klostcrlebens vereitle: frei von der Sorge um Irdisches
in Gebet und Betrachtung die christliche Vollkommenheit zu erringen, da ja
die Verwaltung eignen Besitzes in irdische Sorgen verstricke. Darauf sei zu
erwidern, daß die Verwaltung einen: oder einigen der Brüder übertragen werden
könne; was diese an Muße verlören, dafür leiste ihnen das aus Liebe gebrachte
Opfer Ersatz. Gegen die Handarbeit der Mönche zur Gewinnung des Lebens¬
unterhalts wurde dasselbe eingewandt. Thomas entgegnet: da doch nur das
Notwendigste beschafft werden solle, so beanspruche die dafür nötige Hand¬
arbeit nicht die ganze Zeit der Mönche, sodaß ihnen noch genug Muße übrig
bleibe. Auch verbiete der Herr in den bekannten Worten der Bergpredigt nicht
etwa die Arbeit, sondern nur die ängstliche Sorge. Wenn er auf die Blumen
und die Vögel hinweise, so wolle er damit nicht sagen, wir sollten leben wie
die Blumen und die Vögel, sondern uns nur Vertrauen einflößen: wenn die
göttliche Vorsehung diese Wesen versorgt, die sie nicht mit den uns verliehenen
Hilfsmitteln ausgerüstet hat, um wie viel mehr die Menschen, denen Gott eine
höhere Stellung angewiesen, und die er mit der Fähigkeit ausgestattet hat, sich
ihren Lebensunterhalt selbst zu erwerben. Die sich einbilden, Gott verbiete
jede Sorge um die Bedürfnisbefriedigung, sind nach ihm einem ganz unver¬
nünftigen Irrtum verfallen. Jede Handlung erfordert Sorgfalt und Aufmerk¬
samkeit. Wäre es uns verboten, zu sorgen und aufzumerken, so dürften wir
gar nichts Weltliches betreiben, was weder möglich noch vernünftig ist.
(Wenn Thomas die nabelbeschauenden buddhistischen Heiligen, die sich bei vielen
unsrer Allermodernsten der größten Hochschätzung erfreuen, gekannt hätte, so
Würde er sie als abschreckendes Beispiel solcher Verirrung angeführt haben.)
Denn Gott ordnet jedem Wesen nach seiner Natur auch eine gewisse Tätigkeit
zu. Da nun der Mensch aus Leib und Seele besteht, so muß er sowohl
leibliche wie geistige Tätigkeiten ausüben. Freilich ist er um so vollkommner,
je mehr die geistige Tätigkeit überwiegt, aber ganz kann er die körperliche
nicht einstellen, weil er dadurch sein Leben gefährden würde, das zu erhalten
er verpflichtet ist. Erwarten, daß Gott ihm unmittelbar bescheren werde, was
er sich selbst beschaffen kann, das hieße Gott versuchen. Nicht so wirkt Gottes
gütige Vorsehung, daß sie einem jeden Wesen unmittelbar meente, wessen es
bedarf, sondern so, daß sie jedes Wesen antreibt, zu seiner Selbsterhaltung die
seiner Natur angemessenen Tätigkeiten auszuüben.
Gegen den Bettel endlich wurde eingewandt, daß er entwürdige. Das
sei, meint Thomas, im allgemeinen allerdings der Fall, aber nicht, wenn er
zu einem edeln Zwecke geübt werde, und bringe er auch in diesem Falle einmal
Unehre, so sei deren Erduldung eine Übung in der edeln Tugend der Demut,
wie ja zur Selbstverdemütigung oder aus Nächstenliebe auch niedrige Dienste
verrichtet würden. Wenn außerdem eingewandt werde, daß es unrecht sei,
Almosen ohne Gegenleistung zu empfangen, so treffe das hier nicht zu. Die
menschliche Gesellschaft bedürfe außer der körperlichen Arbeit (wir Heutigen
würden sagen: der ökonomisch produktiven, denn diese ist gemeint) auch andre
Leistungen: die Soldaten, die Regierenden können auch nicht von ihrer Hände
Arbeit leben, sondern müssen mit dem gespeist werden, was andre erzeugen.
So dienen auch solche, die in Armut Christo nachfolgen, dem Gemeinwesen,
indem sie entweder das Volk durch Weisheit, Gelehrsamkeit und Beispiel er¬
ziehen oder ihm mit Gebet und Fürbitte helfen.- In Beziehung auf die Volks¬
erziehung hat Thomas vollkommen recht. Es handelt sich hier um ein Stück
gesellschaftlicher Arbeitteilung, und zwar um ein ganz wesentliches. Im frühern
Mittelalter gab es, im Norden wenigstens, keine andern Erziehungs- und
Unterrichtsanstalten als die Benediktinerklöster, die freilich nicht vom Bettel,
sondern von Grundbesitz lebten, den sie teils selbst, teils durch Hörige bebauten.
Doch ist auch gegen das Betteln, das wir heute lieber terminieren oder Kollekten
einsammeln nennen, nichts einzuwenden, wenn die Mönche und Nonnen einen
w edeln Dienst verrichten wie unsre Barmherzigen Brüder und Schwestern.
Je mehr sich später das weltliche Unterrichtswesen entwickelte, desto weniger
bedürfte man der Klöster. Übrigens kann man unsre heutigen Volksschullehrer
und wohl auch die meisten Mittelschullehrer mit größerm Rechte arm nennen
als die Mitglieder eines reichen Benediktinerstifts. Doch können auch bei voll¬
kommen befriedigender Ausgestaltung des höhern, mittlern und niedern Unter¬
richtswesens und bei guter Organisation der wissenschaftlichen Forschung klöster¬
liche Institute, die sich gelehrten Spezialitäten widmen, wie die Oratorianer
und die Mauriner im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, sehr verdienstlich
wirken. Der Jesuitenorden gewährt heute schon dnrch seine die ganze Erdkugel
umspannende Organisation seinen gelehrten Mitgliedern Vorteile, die weltlichen
Universitätslehrern kaum durch hohe Subventionen für Forschungsreisen vom
Staate verschafft werden können. Ob sich die Mitglieder solcher gelehrter
Gesellschaften durch Gelübde binden sollen oder nicht, danach braucht in diesem
Zusammenhange nicht gefragt zu werden. Das Gebet freilich können wir
Heutigen als eine nach dem Prinzip der Arbeitteilung auf Entschädigung An¬
spruch verleihende Leistung fürs Gemeinwesen nicht anerkennen.
Daß Thomas die geistige Arbeit höher schätzt als die körperliche, werden
ihm heutige Gegner der Sozicildemokratie am wenigsten zum Vorwurf machen
wollen. Daß er in Übereinstimmung mit den Alten und mit Lukas 10,42
(Maria hat das bessere Teil erwählt) das Leben in beschaulicher Muße am
höchsten stellt, darf man einem, der, im neunundvierzigsten Lebensjahre ver¬
storben, als Frucht solcher Muße siebzehn Folianten (lauter gediegne Arbeit,
kein leeres Geschwätz) hinterlassen hat, nicht als Liebe zur Faulheit deuten.
Und wenn er mit den Alten die körperlichen Arbeiten opera ssrvilia nennt, so
spricht er doch nur aus, was bis auf den heutigen Tag allgemein gilt. Nur
muß man den Ausdruck nicht wie Maurenbrecher mit Sklavenarbeit übersetzen.
Die katholische Kirche nennt schmutzige Arbeiten und Arbeiten, die ein be¬
deutendes Maß körperlicher Anstrengung fordern, falls sie um Geldlohn ver¬
richtet werden, bis heute oxer» ssrvilia, und die deutschen Katechismen sagen
dafür: knechtische Arbeiten. Werden diese Arbeiten etwa nicht von Knechten
und von den ihnen gesellschaftlich gleich oder nahestehenden Tagelöhnern
und Lohnarbeitern verrichtet? Welcher angesehene, welcher wirtschaftlich unab¬
hängige Mann verdient sich denn heute seinen Lebensunterhalt mit solcher
Arbeit? Steht der kleine Tischler oder Schuster, der für ein Magazin arbeitet,
viel höher als die oben angeführten Klassen abhängiger Leute? Spinoza, der
sich seinen Lebensunterhalt mit Brillenschleifen verdient hat, kann doch nicht als
Norm für unsre heutigen Philosophen angesehen werden, wenn man mit diesen
die Mitglieder der philosophischen Fakultäten meint.
In der Würdigung der verschiednen Kategorien von Handarbeitern unter¬
scheidet sich Thomas dadurch von Aristoteles, daß dieser die Bauern, jener die
Handwerker höher schätzt. Die Landwirtschaft versteht Thomas weder wirt¬
schaftlich noch sozial noch ästhetisch und hygienisch zu würdigen; der Italiener
ist nun einmal bis auf den heutigen Tag Stadtmensch, man könnte ihn Mauer¬
schwalbe nennen (wie denn italienische Maurer in allen Landen arbeiten); auch
wohlhabende italienische Städte, soweit ich sie kenne, entbehren der schönen
Park- und Gartenanlagen, mit denen sich jede nicht allzuarme oder allzukleine
deutsche Stadt schmückt. Unter den Handwerkern unterscheidet Thomas die
angesehenen, die am Stadtregiment teilnehmen (hier malt er wieder einfach die
ihn umgebende Wirklichkeit ab), und die „gemeinen" Handwerker. Von diesen
sagt er, was dem Aristoteles für alle Handwerker gilt, daß sie ursprünglich
servi gewesen seien und es in manchen Städten noch seien. Er wird an die
Textilarbeiter und die Hilfsarbeiter der Textilindustrie gedacht haben, die im
dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert so oft durch Aufstände und Aufstände
ihre Lage zu verbessern strebten. Die Lohnarbeiter teilt er in gelernte und
ungelernte ein; zu jenen rechnet er die Köche, zu diesen die ländlichen Tage¬
löhner (worin er irrt, da der ländliche Tagelöhner gar nicht wenig zu lernen
hat. Maurenbrecher bemerkt, von den einzelnen Verrichtungen in Landwirt¬
schaft und Gewerbe habe Thomas offenbar nur sehr dunkle Vorstellungen ge¬
habt; aus eigner Anschauung die äußere Welt kennen zu lernen, wird er sich
eben bei seiner ganz aufs Geistige gerichteten Tätigkeit keine Zeit genommen
haben). In andrer Beziehung stellt er die Köche sehr tief, und zwar neben
die Straßenkehrer, weil sich beide schmutzig machen. Je weniger an einer
Verrichtung die Vernunft teil hat, je mehr sie bloß Körperkraft fordert, wie
die der Lastträger und der Läufer, desto unedler ist sie. Die allerunedelsten
sind die Gewerbe, zu deren Ausübung das geringste Maß geistiger und körper¬
licher Tüchtigkeit erfordert wird. Handwerker (g-rtitivos), die reich geworden
sind, können sogar in einer Stadt mit aristokratischer Verfassung am Stadt¬
regiment teilnehmen. Leute, die ihre Arbeitskraft verdingen müssen, sind arm,
und darum soll ihnen ihr Lohn sofort nach der Arbeit gezahlt werden, weil
sie sonst darben würden; Leute, die Sachen vermieten, werden meist reich,
darum gilt mit Beziehung auf sie nicht das Gesetz baldiger Bezahlung.
In dem Kommentar zur Ethik des Aristoteles und sonst trügt Thomas
die bekannte aristotelische Ansicht von der Sklaverei vor, ohne daran Kritik zu
üben, sodaß er sie sich unverändert anzueignen scheint. Das macht auf uns
Heutige einen sonderbaren Eindruck. Die Verwunderung schwindet jedoch,
wenn man folgende Umstände erwägt. Wo in antiken oder mittelalterlichen
Büchern äulos oder ssrvus steht, pflegen wir „Sklave" zu übersetzen. Mit
diesem Worte verbinden sich für uns Vorstellungen, die unser Empfinden empören,
und diesen Vorstellungen haben ja in der Tat sowohl die Gesetze der antiken
Staaten wie in vielen Fällen, keineswegs in allen, die tatsächlichen Zustände
entsprochen. Für die Alten und für die lateinisch schreibenden Autoren des
Mittelalters aber bedeutete ssrvitus bloß den Zustand der unfreien Arbeiter,
die ein unentbehrliches Glied des Produktionsorganismus waren, im allge¬
meinen ohne genauer? Bestimmung, sodaß damit sehr verschiedenartige Zustände
gemeint sein konnten, und kein Grund vorhanden war, beim bloßen Hören des
Wortes zu erschrecken. Sodann möge man sich erinnern, daß es keineswegs
die in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts aufgeblühte Humanität gewesen
ist, was die verschiednen in Europa noch bis in den Anfang des neunzehnten
Jahrhunderts bestehenden Formen der Unfreiheit hinweggeschwemmt hat, sondern
eine gewaltsame politische verbunden mit einer automatisch wirkenden wirtschafts¬
technischen Umwälzung, und daß in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts
zur Verteidigung der Negersklaverei, die wirkliche Sklaverei war, noch ein
großer Krieg geführt worden ist. Ja während in Altrom und im christlichen
Mittelalter Freilassungen häufig gewesen waren, während sie auch im spanischen
Amerika von den Gesetzen begünstigt wurden, bereitete ihnen in den Süd¬
staaten der Union und im englischen Westindien die Gesetzgebung Schwierig¬
keiten: es standen empfindlich hohe Geldstrafen darauf. (Westermarck, Ursprung
und Entwicklung der Moralbegriffe S. 577 bis 578.)
Ferner hatte Thomas ebenso wie Aristoteles die Sklaverei vor Augen,
und nicht erst seit Hegel pflegt man das Bestehende so lange für das Ver¬
nünftige zu halten, als man nicht selbst darunter leidet. Seit dem achten bis
ins sechzehnte Jahrhundert haben die Sarazenen (vom sechzehnten an die
Türken) alljährlich massenhaft Christen, besonders Knaben und Mädchen, in
die Sklaverei fortgeschleppt — die Venezianer sogar sich an dem sehr gewinn¬
reichen Sklavenhandel nach der Levante und nach Afrika beteiligt —, und die
Christen vermochten nicht einzusehen, warum sie, wenn sie im Kriege mit den
Mohammedanern Gefangne machten, diesen eine bessere Lage bereiten sollten,
als sich ihre Angehörigen in den Ländern des Islam gefallen lassen mußten.
Es gab darum das ganze Mittelalter hindurch Sarazenen und Neger als
Sklaven in den christlichen Ländern, besonders in Italien in der Zeit, als seine
Handelsstädte mächtig und reich waren und in lebhaftem, bald freundlichem
bald feindlichem Verkehr mit den östlichen und südlichen Küsten des Mittel-
meers standen. Neger waren als Luxussklaven beliebt und hatten es, wie alles
Bedientenvolk, gar nicht schlecht. (Die ersten ausführlichen Nachrichten über
diese Sklaven habe ich in einem Jahrgange des ^rodivio Ltorioo Iwliano ge¬
funden; jetzt veröffentlicht Karl Schneider eine Abhandlung darüber im April¬
heft der von Professor Dr. Julius Wolf herausgegebnen Zeitschrift für Sozial-
wissenschaft.) Daß es nun gerade diese wirklichen Sklaven sind, die Thomas
bei Übernahme der aristotelischen Sklaventheorie meint, hat Maurenbrecher nach¬
gewiesen. Von den verschiednen Klassen ländlicher Hörigen spricht er überhaupt
nicht; bei seiner Geringschätzung des ländlichen Lebens mag er es nicht für
der Mühe wert gehalten haben, sich mit ihnen zu befassen. Oolovi im allge¬
meinen, Lohnarbeiter und Handwerksgesellen aber unterscheidet er ausdrücklich
von den ssrvi. So meint er, der Gläubige dürfe oolonns eines Ungläubigen,
zum Beispiel eines jüdischen Grundherrn, oder winistor eines unchristlichen
g.rtitsx werden, aber nicht S6rv>i8. Denn dieses würde gefährlich sein, weil der
8srvu8 lebenslänglich und mit der Verpflichtung, jeden geforderten Dienst zu
verrichten, dem Herrn untergeben ist, während die Arbeiter der andern beiden
Kategorien nur bestimmte Dienste zu leisten haben und nicht lebenslänglich ge¬
bunden sind. Gelegentlich deutet er an, daß er mit den servi häusliches Ge¬
sinde meint, und er nennt sie Barbaren, das seien die Völkerschaften, die nicht
durch Vernunft, durch Gesetze regiert würden, die es also entweder überhaupt
noch nicht zu einem gesetzlich geordneten Leben gebracht hätten, Wilde, wie wir
sagen, oder unter unvernünftigen Gesetzen lebten. Ein solcher Zustand könne
von dem erschlaffenden heißen Klima herrühren oder von lasterhaften Gewöhn-
selten, in denen der Mensch verliert werde. In der Schrift <Zs rexiiniok
xrinoixuin. kommen einige interessante Bemerkungen über den Einfluß des
Klimas auf den Menschen vor — allerdings in den Teilen, die nicht mehr
von Thomas selbst stammen (dieser hat nach Maurenbrecher nur das erste Buch
und die ersten vier Kapitel des zweiten verfaßt; das übrige haben Unbekannte
in der Absicht, das im ersten Buch aufgestellte Programm auszuführen, hinzu¬
gefügt; sie haben aber doch jedenfalls Ansichten ausgesprochen, die ihren Zeit¬
genossen geläufig waren, und die wahrscheinlich auch von Thomas selbst ge¬
teilt wurden). Es heißt da unter andern:, die Menschen seien nach Himmels¬
strichen verschieden: die einen für ein Leben in Freiheit, die andern für ein
Leben in Knechtschaft disponiert. Und an einer andern Stelle: wenn Pflanzen
und Tiere in ein andres Land verpflanzt würden, so nähmen sie dessen Natur
an. Ebenso verhalte es sich mit den Menschen. „Gallier" seien in drei
Schichten nach Sizilien versetzt worden: in der Zeit Karls des Großen, mit
Robert Guiscard und „in unsrer Zeit" (durch Karl von Anjou). Diese alle
hätten die Art der Sizilianer angenommen, ipsorum (Livuloruiv.) iindusruut
uawriim. Nach der Natur des Landes, die eben auch die Natur seiner Be¬
wohner ist, muß nun, meint der anonyme Theologe, die Negierung eingerichtet
werden. Knechtische Völker müssen absolutistisch (prineipaw clespotioo) oder
wenigstens monarchisch regiert werden; solche von männlichem Geist und mutigen
Herzen dagegen, die zugleich auf ihre eigne Einsicht vertrauen, können nicht
anders als in einer republikanischen Verfassung (vrinoixg.w xolitioo) leben, zu
der auch die Aristokratie zu rechnen ist. Diese Verfassung blüht besonders in
Italien, das immer schwer zu unterjochen war; wollen es Alleinherrscher
regieren, so müssen sie tyrannische Mittel anwenden (t^rimniiiarö). Darum
haben die Inseln, die immer Monarchien waren, immer Tyrannen gehabt;
Oberitalien kann von Fürsten nur regiert werden, solange sie Tyrannen sind,
ausgenommen Venedig, dessen nox ein gemäßigtes Regiment führt.
Kehren wir von dieser Abschweifung noch einmal zur Sklaverei zurück, so
ist als letztes und entscheidendes beizufügen, daß Thomas doch in andern
Schriften, namentlich in der theologischen Summa, den Kernpunkt der aristo¬
telischen Theorie, die Herabwürdigung des Sklaven zum redenden Werkzeug,
entschieden ablehnt. Die Hauptstellen, denen freilich einige der oben ange¬
deuteten zu widersprechen scheinen, lauten: „Der ssrvus wird vom Herrn, der
Untergebene vom Vorgesetzten zum Handeln in Bewegung gesetzt (movsntur),
jedoch in andrer Weise als die vernunftlosen und die unbelebten Wesen von
ihren Bewegern. Denn diese Wesen empfangen den Antrieb (aAuntur) nur
von einem andern, sie selbst treiben sich nicht an, weil ihnen der freie Wille
fehlt, der die Herrschaft über das eigne Handeln ermöglicht, und darum hängt
die Richtigkeit ihres Handelns nicht von ihnen selbst, sondern von ihren Be¬
wegern lmotoriws) ab. Aber die dienenden (ssrvi) Menschen und die Unter¬
gebnen aller Art werden durch Befehle in Bewegung gesetzt, auf die hin sie
sich selbst durch ihren freien Willen bewegen; darum müssen sie in sich selbst
eine Richtschnur des Handelns tragen (rsquiriwr in sis Mg,sag.in rsvtio reZi-
mini«), nach der sie den Gehorsam gegen die Gebietenden übe»; und zu dieser
Richtschnur ^heutige Philosophen werden wahrscheinlich übersetzen: zu diesen
Prinzipien) gehört auch die Art Klugheit, die man Politik nennt." Der Sklave
kann demnach auch Glied des Staates sein. „Der Untergebne ist nicht ver¬
pflichtet, dem Vorgesetzten zu gehorchen, wenn dieser etwas befiehlt, was nicht
in den Bereich seiner Zuständigkeit gehört (in quo el non sudäs-or). Denn
Seneca spricht: »Der irrt, der meint, die Knechtschaft unterjoche den ganzen
Menschen (sörvitutem in totum ooininöin ässoenÄsrs); der bessere Teil ist
ausgenommen: der Leib gehört dem Herrn, die Seele ist sui juris.« Deshalb
hat der Mensch in den Dingen, die sich auf seine innersten Willensregungen
beziehen, nicht einem Menschen, sondern nur Gott zu gehorchen. Der Mensch
hat dem Menschen zu gehorchen in Beziehung auf körperliche Tätigkeiten, jedoch
nicht in solchen, die zur Natur des Leibes gehören; auch in diesen darf er nur
Gott gehorchen, denn von Natur sind alle Menschen gleich, nämlich in den
Dingen, die zur Erhaltung des Leibes und zur Erzeugung der Nachkommen¬
schaft gehören; darum brauchen weder die sea-ol ihren Herren noch die Kinder
ihren Eltern zu gehorchen, wenn es sich um die Entscheidung für Eingehung
einer Ehe oder für Bewahrung der Jungfräulichkeit handelt. sDie NichtVer¬
pflichtung in Beziehung auf das, was zur Erhaltung des eignen Leibes gehört,
haben wir wohl so zu verstehn, daß der Knecht nicht zu gehorchen braucht,
wenn ihm der Herr einen das Leben gefährdenden Auftrag erteilt, und daß er
sich gegen den Willen des Herrn Speise verschaffen darf, wenn dieser ihn
hungern küßt.j Wo dagegen eine Tätigkeit angeordnet und über Sachen ver¬
fügt wird, die dem Vorgesetzten unterstehn, hat der Untergebne zu gehorchen;
so der Soldat in dem, was zur Kriegführung, der ssrvns in dem, was zu
seiner Dienstleistung (ack oxsra, ssrvilig, exsMenäg.), der Sohn dem Vater in
allem, was zur Lebensführung und zur Hausordnung (aä cIi8oiMns.ni viws
et onrkun äorns8tioNn) gehört. . . . Der ssivns sse res äoinini in Beziehung
auf Dinge, die zur Natur hinzukommen; aber im Natürlichen sind alle gleich;
daher darf der ssrvns gegen den Willen des Herrn einem andern Menschen
durch die Ehe Gewalt über den eignen Leib einräumen." Mit den Kirchen¬
vätern hält Thomas die Sklaverei für eine Folge des Sündenfalls. Vorge¬
setzte, die nicht um ihrer selbst willen gebieten, würde es auch in einer sünde¬
losen Menschheit geben, nicht aber Herren, die lediglich zu ihrem eignen Nutzen
und Genuß über die Handlungen andrer verfügen. Vom Standpunkte des
Menschheitsideals also wird die Sklaverei verworfen; als Sündenstrafe dagegen
gehört sie zur göttlichen Weltordnung und zur bestehenden Rechtsordnung; daß
ihre Abschaffung erstrebt werden solle, das füllt ihm so wenig ein wie den
Kirchenvätern; vielmehr, schreibt Maurenbrecher, „hält er den Gedanken, daß
das Christentum die Aufhebung der Sklaverei fordere, für eine Ketzerei, die
aus dem Judentum wohl auch in einzelne christliche Kreise eingedrungen sei,
die aber der Erlöserabsicht Christi direkt widerspreche; denn Christus sei nicht
gekommen, die Ordnung der Gerechtigkeit aufzuheben, oder, wie er an einer
andern Stelle sagt: das göttliche Gesetz ist nicht gegeben, um das menschliche
abzuschaffen".
^«on den Zinnen oder dem Umgang der Burg weitet sich Blick und
Herz. Unten ungesehene Fernen erschließen sich dem staunenden
Auge, entzückt gleitet es über Bache, Fluren und Seen und den
grünen Wald, und des Dichters Ohr vernimmt auch wohl an¬
dächtig des nahen Klosters abendlich Geläut. Durch die offnen
Fenster schaut in der Nische sitzend sinnend der Wandrer über geborstne Säulen
und verfallne Hallen. Es ist still. Ein Grabstein gemahnt vielleicht in ernster
Sprache an die Toten, die einst hier fröhlich die Sonne begrüßten in Freud
und Leid. Kein Schwert erklirrt mehr, kein flüsternd Geständnis der Liebe, die
dem Stahlpanzer zum Trotz den Weg ins Herz gefunden und dort verwundet
hat, ertönt, nur die alte Linde rauscht eine wehmütige Weise von treuer Liebe,
bitterm Todesschmerz und vergeblichem Versuch, hinter Klostermauern zu ver¬
gessen. Kein Lied und Harfenklang erklingen mehr zum Lobe der holden Frauen,
kein Becher kreist in kühner Recken Runde.
Aber wie versöhnend tönt der Vöglein Zwitschern über Verfall und Ruinen
der „schicksalsknndigen Burg", Staub und Totengebein, und
Doch damit nicht genug! Wenn die Sonne sank, ist erst recht die Zeit,
wo die Geister der Verstorbnen erwachen, wo um die mitternächtige Stunde
wie mit einemmal Lichtschein Burg und Saal erhellt, schwer dröhnender Schritt
von Gepanzerten ertönt, Hornruf von der Zinne erschallt, die weiße Frau um¬
geht, und unermeßliches Gold aus dem sich öffnenden Boden des Hofes gleißt
und glänzt!
Wo in aller Welt gibt es aber auch ein fruchtbareres Feld für die köst¬
lichen Blüten, die die deutsche Sage treibt, als dort oben oder am wellen¬
umspülten Grunde der Wasserburg? Und wie üppig schoß sie empor!
Sie umrankt den Namen und die Entstehungsgeschichte der Burg, indem
sie erklärt, was dem schlichten Volksverstande die Namendeutung zu sein scheint.
„Wart Berg, du sollst mir Burg werden" läßt sie den Landgrafen ausrufen,
da er den Berg bei Eisenach erspäht und passend zum Burgbau findet. Wir
haben es hier mit einer völlig abgegrenzten, reichbesetzten Gruppe von Sagen¬
gebilden zu tun, und es ist nur zu wünschen, daß die zweifellos richtigere
Etymologie nach sprachwissenschaftlichen Grnndsützen nicht den Klang der ein¬
fachen, einfältigen Auslegung der Burgmauer durch das ungelehrte Volk für
immer verwehen läßt. Auch die einzelnen Bauteile der Burg zieht die Sage
in ihren Kreis, indem sie für deren An- und Urraum eine plausible Erklärung
zu schaffen sucht und „Schwalbennest, Seltenleer, Trutz, weiße Rübe, blauer
Storch, Hungerturm" zu deuten sich bemüht.
Aber nicht nur den unbelebten Stein und das tote Metall bespricht sie.
Das gesamte Leben der Burgherren und -mannen, wie es sich in edeln oder
schurkenhaften Taten äußert, spiegelt sich in ihren Überlieferungen. Vor allem
rohe, fleischliche Lust der Ritter führt sie vor, meist und gern mit dem be¬
friedigenden Ausgang, daß den Übeltäter die Strafe des Himmels ereilt. Und
daneben strahlt in der Sage wieder das reine Glück der Ehe des Burgherrn
und seiner Gattin. Liebliche Kinder blühen heran, treue Diener und Mannen
bewachen das Haus als der schönste und beste Wall. Aber die Stunde der
Trübsal kommt auch hier über den Burgweg zu den Menschen. Verleumdung
vergiftet des Burgherrn Herz, er zeiht die Gattin der Untreue, und Tod oder
finsterer Kerker harrt ihrer, sie muß untergehn, wenn nicht ein treuer Diener,
ein Rabe oder sonst ein Retter Speise und Trank bringt, bis ihre Unschuld
an den Tag kommt. Da ist es wohl der Burgkaplan, dem die Sage die
traurige Rolle des Intriganten zuweist. Auch Ammen und Mägde läßt sie
neben der höchsten Treue die Züge der häßlichsten Falschheit an sich tragen.
Standhaftigkeit und Unterliegen der Burgfrau, deren Herr ins Gelobte Land
oder in Fehde gezogen ist, und auf die ein andrer in verbotner Leidenschaft
ein lüstern Auge geworfen hat, ist ein äußerst beliebtes und vielseitig ver¬
arbeitetes Sagenmotiv. Oder wenn jahrelang keine Kunde vom Eheliebsten
kam, macht sich die harrende Gattin auf, um im Heiligen Lande den Geliebten
zu suchen, ihn verkleidet zu befreien und unerkannt über die Zugbrücke der
heimischen Burg zu geleiten.
Auch vor der Doppelehe scheut sie nicht zurück, wenn der Herr im fernen
Osten einer Türkin Herz und Hand geschenkt hat, ein Vorkommnis, das vor
allem in der Sage des Grafen von Gleichen seinen, auch anderwärts vor¬
kommenden Ausdruck findet. Friedlich, heißt es dann, lebten die beiden Frauen
nebeneinander noch lange Zeit.
Aber solche friedliche Tage erfuhren auf den Burgen oft schnelle und
gründliche Trübung. Nicht umsonst spähte der Wächter bei Tag und bei Nacht,
ob nicht Gefahr drohe, Belagerung, Mord und Brand. Dann berichtet die Sage
Von Wundern der Tapferkeit, Ausdauer, aber auch von feigem Verrat und
köstlichen Stücken von allerlei List, um dem Belagerer den Glauben beizubringen,
als wimmle die Burg, obwohl sie in Wirklichkeit stark mitgenommen ist, noch
von Verteidigern und Lebensmitteln: ein Ziegenbock wird an den Zinnen gezeigt
oder Brot den Burgberg hinabgerollt, Krebse mit Lichtern auf dem Rücken
täuschen zur Nachtzeit dem Feinde einen Angriff vor. Fällt dann die Burg, so
ziehen die Frauen zum Belagerer um die Gnade bittend, mit „dem Liebsten"
abziehen zu dürfen, und wie sie die gegebne Zustimmung zu deuten wissen, ist
durch die Sage der Weiber von Weinsberg ja männiglich bekannt. Wer aber
Abzug nicht wünscht, oder in Haft gehalten wird, für den bleibt immer noch
ein kühner Sprung mit dem Pferd über den Graben übrig, wie ihn Eckelein
von Gailingen in Nürnberg und anderwärts andre getan haben, deren beim
Aufspringen entstandne Hufspur von dem modernen Asphaltarbeiter mit besondrer
Pietät „erhalten" wird.
Man kann begreifen, daß mancher lieber so in die grausige Tiefe sprang,
als dem Verlies der Burg einen Besuch für längere Dauer abzustatten, dem
Raum, von dem Adelbert von Chamisso singt:
Auch hier rankt die Sage ums Gitter, fürchterliches weiß sie von den Schreck¬
nissen der dunkeln, feuchten Tiefe zu berichten, aber durch die Züge der Grau¬
samkeit, durch Hunger, Marter und Pein in den Armen der „eisernen Jung¬
frau" dringt ein Lichtstrahl, wenn die Befreier nahen, wenn Blondels Lied wie
süßer Lebens- und Heimatklang ertönt, wenn dem Gefangnen im Brot einge¬
backen eine Feile und ein Brecheisen entgegenfällt und den Weg zur goldnen
Freiheit bahnen hilft, den womöglich noch eines liebeverheißenden Frauenblicks
strahlender Glanz erhellt. Eine stattliche Reihe solcher Erzählungen schmückt den
deutschen Sagenkranz mit den anmutigsten Zügen deutscher Treue in guten und
bösen Tagen.
So sehen wir die Sage vordringen bis in die Tiefen des Burgbaues.
Unterirdische Gänge, oft meilenlang, sind eines ihrer Lieblingsgebilde, sei es,
daß man durch sie zur Kirche, sei es an den Fuß des Burgberges gelangt,
dem belagernden Feinde zum Hohn. Auch die Brunnen sind für den Sagen¬
forscher unerschöpflich, wenn auch ihre Tiefe längst versandet und versteint dem
modernen Menschen prosaisch entgegenschaut. Hier Hausen Geister, nixenartige
Gestalten entsteigen ihnen zur Nachtzeit, hier klagt die Seele der Kinder des
verstorbnen Burgherrn, die der von der Mutter verschmähte böse Freier, um sich
SU rächen, in die Tiefe geworfen hat. Ja sogar ein so hoher Herr, wie Kaiser
Karl der Große, muß sich bequemen, vom Volk in den Brennen der Nürnberger
Burg versetzt zu werden.
Aber nicht nur Kaiserkronen schimmern im Bergesinnern unter der Burg
Auch reiche Schätze, Gold und Silber, köstliche Gefäße und Gestein funkeln
dort, vor Krieges Gefahr in ein Gewölbe geflüchtet, beim Untergang der Burg
verschüttet oder verzaubert, der Preis des, der sie hebt. Mancherlei Geister
bewachen sie, Jungfrauen, Hunde, schreckliche Getiere, mitunter spaltet sich die
Erde, und die Schätze werden sichtbar, ein Flammenschein tanzt über der Stelle,
Rauch wallt auf, köstlicher Wein liegt im Keller „in der eignen Haut". Eine
weiße Frau geht um; erscheint sie, so zeigt sich etwas an, hier Unheil, dort
Glück, überall aber ist sie Verkünderin eines bevorstehenden besondern Ereig¬
nisses. So zahlreich sind die Sagen von ihrem Weben, daß „die weiße Frau"
ein stehender, fest umschriebner Begriff in der Sagengeschichte der Schlösser und
Burgen geworden ist. Und wie wir beobachten, daß aller Aufklärung zum
Trotz die Schatzgräbereien bis hoch ins achtzehnte Jahrhundert die Köpfe er¬
regt und die Spaten bewegt haben, so ist der Spuk von der weißen Frau nicht
aus den gebräuchlichsten und liebsten Sagenvorstellungen unsers Volkes ge¬
wichen, sondern hat sich fast überall, wo Schlösser und Burgen ragen, erhalten,
und hinter der weißen Frau ziehen in gespenstischem Zuge die Geister aller
Ruhelosen, Verwünschten, die zahllos auch in Burgruinen umgehen, bis der
rechte Mann zur rechten Zeit das rechte Wort der Erlösung findet.
Auch der bildende Künstler hatte, solange die Burg bewohnt stand, keine
Veranlassung, in ihr eine besonders wertvolle Staffage für seine Darstellungen
zu sehen, zumal da die religiösen Motive die landschaftlichen völlig zurück¬
drängten. Erst Albrecht Dürer hat die Burg und die Ruine als wirkungs¬
volles Mittel, den Hintergrund zu beleben, eingeführt oder sie wohl gar zum
Schauplatz seiner Bilder gemacht. Von da an vermögen wir dann in einer
reichen Zahl von Kunstwerken, auf Gemälden und Altarflügeln, dem Burgen¬
bild zu begegnen, meist freilich nur als fast selbstverständlichen Abschluß der
Berggipfel und der Kuppen in der deutschen Landschaft, dessen wir aber wohl
entraten könnten, ohne diese hierdurch zu schädigen. Anders aber steht es da,
wo die ragende oder die verfallne Burg einen unentbehrlichen Bestandteil des
Kunstwerks bedeutet, sei es, daß ihr architektonisches Bild, sei es, daß ihr
romantischer Reiz dargestellt werden soll. Das erste Ziel verfolgt eine Reihe
von Burgenabbildungen in den bekannten Jllnstrationswerken von Münster,
Meisner, Dilich, Merian und im 1d.6g,drum Luroxg.6um, deren Ruhm als natur¬
getreue Abbildungen freilich neuerdings zum Teil erblaßt ist, das letzte ist die
beliebte Aufgabe einer Anzahl Meister vornehmlich des neunzehnten Jahr¬
hunderts gewesen.
Wer zum Beispiel je eine Schwindmappe durchgeblättert hat, fühlt bald
heraus, wie lebendig der Meister den Burgenzauber empfunden haben muß, den
er so reizvoll darzustellen weiß, einerlei, ob ein liebendes Paar im Nachen an der
Ruine vorübergleitet, ob wir den durch seine Doppelehe bekannten Grafen von
Gleichen bei seiner Heimkunft nach langer Fahrt empfangen helfen oder des
Künstlers Wartburgfresken beschauen. Da muß eben eine Burg den Berg¬
gipfel krönen und herübergrüßend ihr Teil dazu beitragen, daß das Ganze
uns „wie ein gemaltes Volkslied" anmutet. Und wenn er uns im Bilde vor¬
führt, daß treue Mannen die beste Mauer der Burg sind, so beweist er zugleich,
wie die Poesie dieses Gedankens auf dem Wege durch seine gestaltende Hand
nicht an Wirkung eingebüßt hat.
Und wie ferner Ludwig Richter! Blätter wie Schwinds „Auf der Wander¬
schaft", Richters „Am Rhein" sind in Striche gebannter Burgenzauber. Besonders
gilt dies auch von der „Überfahrt am Schreckenstein". In dem auf seinen Stab
gestützt sinnend nach der Rinne hinaufschauenden Wanderburschen glaubt jeder
Burgenfreund sich selbst zu erkennen, und alle Mittel, ein deutsches Gemüt be¬
sonders zu packen, sind da: die Mondsichel, auf schroffer Hohe die verfallne Burg,
der Klang einer Volksweise von den Saiten des Harfners, Wellenplütschern und
Ruderschlag, vielleicht in der Ferne verhallendes Abendgeläut. Klingts hier
leise und wehmütig durch die Brust des Beschauers, so schwillts in uns zu ge¬
waltigen Akkorden, wenn wir vor Arnold Böcklins „Ruine am Meer" stehn;
eine schaurige Ballade erscheint auf die Leinwand geworfen, und mit sicherm
Pinsel sind die Worte Walter Scotts geschrieben:
Viel nüchterner als Dichter und Künstler tritt der Geschichtsforscher an
die Aufgabe heran, die Schicksale einer Burg zu beschreiben. Vielleicht, seit sich
die Wissenschaft von aller Sentimentalität und Romantik frei gemacht hat, oft
etwas zu prosaisch. Man räumte — mit Recht — unter unbewiesnen Über¬
lieferungen gründlich auf, gewöhnte sich, nur zu glauben, was das Auge in
Akten oder in Steinresten gesehen hatte, verfiel aber doch bald wieder in den
Fehler, Bauperioden und Burgengruppen zu konstruieren; in demselben Maße,
wie der Text kritischer wurde, wurde die Form der Darstellung oft nachlässig
und trocken, und bei mancher burgenkundlichen Schrift hat weder Klio noch
Apoll die Hand des Autors geführt, Lorbeer und Zauberstab sind bedingungslos
dem Zirkel und dem Metermaß gewichen. Das mag für die Gelehrten gut sein,
aber das Volk, das seine Burgen liebt, will mehr als Maße und Tabellen!
Da ist nun gerade zur rechten Zeit die Wissenschaft der Volkskunde wie ein
verzaubertes Dornröschen vom Schlummer erwacht, und zu den Altertümern,
auf die einer ihrer ersten Blicke fiel, gehörten die Burgen und ihre Geschichte,
die für das Fühlen und das Empfinden unsers Volkes, wie wir gesehen haben,
überreiche Anregungen ausstrahlen.
Es ist ohne jeden Zweifel eine große, wohltätige Errungenschaft, daß an
Stelle romantischer, unkritischer Schwärmer Männer der Wissenschaft, vor allem
auch Bauverständige getreten sind und am verfallnen Bau der Burg Operationen
vorgenommen haben, die vielleicht schmerzten, auch wohl entstellten, aber doch
Vor dem Untergang retteten, erhielten, aber es ist zu wünschen, daß nun
auch die Jünger der Volkskunde Stimmrecht erhalten im Rat, der die wichtigen
Fragen der Renovation oder des Wiederaufbaus einer Burg, vor allem aber
ihrer Beschreibung zu erörtern hat. Burgen sind eben nicht nur Denkmäler
der Baukunst: „Diese Steine reden von den Geschicken und der Gesittung des
Volkes." Mehl.)
Sie planmäßig zu erhalten, zu bewahren vor Wetter, Menschen und Ele¬
menten, ist die hohe Aufgabe vornehmlich des Architekten. Kein wahrhaft ver¬
ständiger Burgenfreund kann verhindern wollen, daß der Efeu, so poetisch er
auch Mauer und Zinne umrankt, entfernt wird, wenn wirklich seine Zweige das
Mauerwerk zerstören; Entfernung der Tagwässer, Verstreben, Verankern, Aus¬
streichen der Fugen, unauffälliger Ersatz verwitterter Steinteile, Decken, das ist
alles des Baumeisters eigenstes Feld. Aber er gehe mit Maß ans Werk und
bedenke ein treffend Wort, das ein verdienter Kunstarchäologe über die Schäden
an Bauwerken ausgesprochen hat: „Solche Spuren, wenn sie nicht die Sicherheit
des Bestandes berühren, sind den Narben eines Soldaten oder den Kugelspuren
zu vergleichen, die die Fahne eines tapfern Regiments durchlöchert haben. Alle
Zeichen des Alters und die Spuren schwerer Schicksale zu verwischen, gehört
nicht zu den Aufgaben einer tüchtig geleiteten Restauration."
Wenn sich Baumeister, Archivare und Geschichtsforscher zu gemeinsamer, allen
Errungenschaften vorurteilsfreier Forschung und der Technik Rechnung tragender
Tätigkeit vereinen, dann steht es gut um Burgenerneuerung und -erhaltung
im deutschen Lande, und der Burgenzauber läuft keine Gefahr, fürderhin die
Herzen weniger zu bewegen als je zuvor. Wir dürfen uns nicht verhehlen,
daß wir wenig unbedingt sicheres über die Burgen und ihre Bewohner wissen,
wenig, gemessen an der Bedeutung der Stätten für die Kultur in Kampf- und
Friedenszeit, für die Blüte des Rittertums und des Minnesanges. Da sollte
man das Bild um so fester halten, wie sich die Burg widerspiegelt im Volks¬
gemüt, seiner Sage und Dichtung, und diese mit hineinbeziehen in die Burgenkunde
und nicht die volkstümlichen Züge der Überlieferung mit verächtlicher Kürze ab¬
machen und kein mitleidiges Anführungszeichen dem Worte: Burgenzauber bei¬
fügen. Wenn wir nur wissen, daß es Geschichten sind, und keine Geschichte!
Sie gewähren tiefe Blicke in das Hoffen, Fürchten und Meinen der Deutschen.
Das ist ja das Wesen des Treppenwitzes der Geschichte, daß er Empfindungen
an Stelle von Tatsachen setzt. Aus der grauen nüchternen Alltäglichkeit rettet
sich das Volksempfinden heraus und formt die Geschehnisse, wie sie Hütten sein
sollen, um schön zu sein. Eine liebenswürdige Täuschung vielleicht, doch kein
Betrug, solange sie nicht als „historisch" ausgegeben werden. Die Sage ist
in unsrer Geschichte wie ein harmloser Hausgeist, der niemand etwas zuleide
tut, und den man nicht mutwillig scheuchen soll, da sein Auszug leicht Un¬
heil bedeuten könnte. Wissenschaft und strenge Forschung in Ehren haltend,
sollte man des Goethischen Wortes eingedenk sein: „Höchst reizend ist für den
Geschichtsforscher der Punkt, wo Geschichte und Sage zusammengrenzen. Er ist
weitaus der schönste der ganzen Überlieferung. Nur müßte man nicht so gries¬
grämig, wie es würdige Historiker neuerer Zeit getan haben, auf Dichter und
Chronikenschreiber herabsehen."
Also neben unerschrocknen Blick für die oft poesielose Wirklichkeit in der
Burgenkunde offne Herzen für den Burgenzauber, empfänglicher Sinn für die
Schönheiten der Bauten aus vergangnen Tagen, in dem erlaubten Maß von
Begeisterung, die auch dem kritischsten Forscher wohl ansteht; nicht träumerische
Romantik, aber auch kein kleinlicher Streit um fünf Jahre Differenz bei der
Altersbestimmung und fünf Meter beim Höhenmaß eines Berchfrits. Kein ver¬
zagendes Verzichten, sondern frisches, tatkräftiges Wiederaufrichten rufe der
Anblick der Burgenbauten in uns hervor.
Eine im Kranz der deutschen Burgensagen oft wiederkehrende Erzählung
berichtet von einer Jungfrau, die in einsamer Burgstadt auscrlesnen Menschen
den Schlüssel oder eine Blume reicht, damit das Tor zu öffnen,' das zu den
gleißenden Goldschätzen im Innern des Burgbergs führt. Sie gemahnt den
von dem Reichtum geblendeten nach Herzenslust mitzunehmen, aber „das Beste"
nicht zu vergessen: die Eintritt schaffende Wunderblume. Da aber ihr Rat un-
gehört verhallt, schwindet mit Donnerschlag Jungfrau, Blume und Schatz.
Noch heute schlummern unter den Burgen riesige geistige Schätze, der sie
hebenden Geschichtsforscher und Altertumsfreunde harrend: wer sie heben will,
vergesse „das Beste" nicht: den Burgenzauber!
as soll der Junge werden, wenn er aus der Schule kommt?
„Er soll ein Handwerk lernen", sagt der Herr Onkel, der Ge¬
schichtsprofessor ist. „Wenn schon, dann darf es nicht mein
Handwerk sein", sagt der Vater nachdenklich, denn er kennt die
Lehrlingsmisere seines Berufs und neigt begreiflicherweise zu der
Ansicht, daß es in andern Handwerksberufen besser bestellt sei. „Ein Handwerk
lernen!" ruft die Mutter mit beleidigtem Stolz. „Nein, dafür ist mein Junge zu
gut. Er muß was besseres werden!" Was besseres? Kann es denn was besseres
geben als ein edles Handwerk, ein Kunsthandwerk, das in alten Zeiten der
Stolz der Kultur war und stets die Grundlage einer wahrhaft volkstüm¬
lichen Bildung gewesen ist? Ohne Handwerk gibts keine Kunst. Es ist der alte
Nährboden der Kunst und der Kultur, und das Sprichwort will sogar wissen,
daß es auch ein goldner Boden sei. Aber daran glauben heute nur noch sehr
wenig Leute. Die Mutter behält in der Regel recht, der Sohn wird was
„besseres".
In der Schule stellt sich die Sache so dar, daß nur die ganz unbrauch¬
baren Elemente, die gar nicht weiter können, dem Handwerk zugeführt werden.
Die es halbwegs vermögen, drängen nach der Mittelschule, die übergroße
Mehrzahl hält sich ein paar Klassen laug mit Ach und Krach und wendet sich,
mit einem dürftigen Halbwissen ausgestattet, einem der mittlern Berufe zu.
Wenn sie auch nichts besondres werden, so sind sie nach ihrer Meinung zu etwas
aufgestiegen, das ihnen höher als der Handwerkerstand scheint. Sie sind Herren.
Du lieber Himmel! Das sogenannte geistige Proletariat hat in den Städten
einen Umfang angenommen, von dem man sich noch keine rechte Vorstellung
macht. Die Väter und Mütter würden von der klaren Erkenntnis der Sachlage
viel für ihre Kinder profitieren können, aber trotzdem — vorläufig steht es
fest: Der Sohn wird kein Handwerker.
Werfen wir nun anch einen Blick in das Handwerk selbst, und zwar ins
Kunsthandwerk, von dem ich erfahrungsmäßiges mitteilen will. Vielleicht ist
hier eine Erklärung der sonderbaren Abneigung gegen die Lehrlingspraxis zu
finden; sie ist in der Tat so bedenklich, daß man sie einmal vor der Öffent¬
lichkeit behandeln muß. Die Meister aller Handwerke klagen einstimmig über
den Lehrlingsmangel. Es ist festgestellt worden, daß zum Beispiel im Tischler¬
gewerbe einer großem Stadt auf 400 Schreinermeister etwa 84 Lehrlinge, also
auf jeden fünften Meister nur ein Lehrling kommt. In andern Zweigen des
Kunsthandwerks sieht es wohl noch schlimmer aus. Den Meistern wird himmel¬
angst, und die Frage entsteht: Was soll denn mit dem Handwerk werden, wenn
der Nachwuchs gänzlich versiegt? Der Fachverband zur Wahrung der wirt¬
schaftlichen Interessen im Kunstgewerbe hat kürzlich auf seinem Kongreß in
Düsseldorf diese Frage auf die Tagesordnung gesetzt. Dieser Fachverband ist
jüngst durch seine heftigen Ausfülle gegen Hermann Muthesius, einen der Vor¬
kämpfer des neuen deutschen Kunstgewerbes, zu einer gewissen traurigen
Berühmtheit gelaugt. Nichtsdestoweniger haben die Kongreßverhandlungen dieses
Verbandes über das Lehrlingswesen Bedeutung, weil sie der unverfälschte
Ausdruck über die in den Gewerbebetrieben herrschende Auffassung sind. Wenn
man diese „Meister" hört, gewinnt man den Eindruck, daß sie sich dem Lehrling
gegenüber zwar sehr vieler Rechte, aber keineswegs ebenso vieler Pflichten
bewußt sind. Es scheint tatsächlich, was durch viele Erfahrungen bestätigt wird,
daß der Lehrling in den häufigsten Fällen für den Lehrherrn nur wegen der
materiellen Vorteile in Betracht komme. Die Lehrlingsausnutzung ist tatsächlich
die eigentliche Ursache der Handwerksuntüchtigkeit. Diese Ausnutzung ist so
selbstverständlich geworden, daß die Referenten auf dem Düsseldorfer Kongreß
sogar den Besuch der Fachschulen, der in die Arbeitszeit fällt, als lästig und
die Interessen des Lehrherrn schädigend bezeichneten. Erhebungen, die sich
jederzeit nachprüfen lassen, haben festgestellt, daß bei einer drei- oder vierjährigen
Lehrzeit der Durchschnitt der Lehrlinge in den ersten zwei Jahren überhaupt
keine wesentlichen Anleitungen zu einer soliden Arbeit erhält. Natürlich gibt
es Ausnahmen. Bei der großen Mehrzahl von Lehrlingen stellt sich die Ent¬
wicklung so dar, daß sie in der Regel erst in der Gesellenzeit das erlernen,
was sie hätten als Lehrling erfahren sollen. Es darf immerhin schon als
ein persönliches Glück angesehen werden, wenn ein solcher junger Mensch
nach seiner Freisprechung in wirklich anständige Meisterhände kommt und Ge¬
legenheit findet, das Versäumte nachzuholen. Vielen bleibt die Gelegenheit
verschlossen, und bei den meisten ist der Schiffbruch im Leben die Folge einer
unglücklichen Lehrzeit.
In einer nicht begüterten Familie, wo mehrere Söhne sind, ist es trotzdem
heute noch ausgemacht, daß einer von den Jungen ein Handwerk lernt. Vielleicht
findet der Junge eine im landläufigen Sinne gute Lehre, das heißt eine solche,
wo er nicht bloß für Laufburschendienste und Taglöhnerarbeiten ausgenutzt wird.
Er hat Wohnung und Verpflegung beim Meister und kommt gelegentlich an
Sonntagen zum Familientisch heim. Schon nach wenig Wochen oder Monaten
rücken die Geschwister von ihm ab. Es sind Veränderungen mit ihm vorgegangen,
die seine Gesellschaft geradezu widerwärtig machen. Er hat Ausdrücke unflätigster
Art. Er hat Bewegungen, die gemein sind. Seine Art, etwas zu verlangen
oder zu nehmen, ist roh und unfreundlich. Man legt ihm nahe, nicht zu Tisch
zu kommen. Nur die Mutter hat ein großes Herz. Sie bewirtet ihn, wenn er
kommt, in der Küche, die Geschwister aber vermeiden es, ihn zu sehen. Der
Junge hat die dunkle Empfindung, daß er sich eine hochmütige Behandlung
nicht gefallen lassen dürfe. Er läßt sich immer seltner sehen und schließlich
gar nicht mehr. Woher das? Die oft ganz unglaubliche Roheit der Gesellen,
gemeiner Schimpf und oftmals Schläge sind nicht die Erziehungsmittel, die
einen Knaben zum Kunsthandwerker machen könnten. Die Gesellen haben es
in ihrer Jugend nicht besser gehabt, auch sie sind verhärtet und neigen zur
Wiedervergeltung. Warum soll es der Lehrjunge heute besser haben? Am
Düsseldorfer Kongreß wurde der nüchterne Versuch gemacht, diese Übelstände
zur Sprache zu bringen und auf die ethischen Pflichten dem Lehrling gegenüber
aufmerksam zu machen. Aber diese Versuche wurden als ungehörige Kritik am
eignen Beruf abgelehnt, und dagegen wurde der Standpunkt festgehalten, daß
mehr als aller Humanitätsdusel, mehr als alle geistige und sachliche Fortbildung
dem Lehrling die Ohrfeigenmethode fromme.
Was nützen die von dem Fachverband vorgeschlagnen Mittel zur Abhilfe
des Lehrlingsmangels, wie Lehrlingsvermittlungsstellen, Ausrufe an die Eltern
und eine ähnliche Propaganda, wenn bei einem großen Teil des Handwerker¬
standes das ethische Bewußtsein fehlt, daß dem Lehrling gegenüber nicht so
sehr Rechte, sondern vor allem Pflichten zu erfüllen sind? Der Klageruf auf
dem Kongreß, daß die Lehrlinge immer seltner werden, entsprang nicht der
großen Auffassung, daß es zu den Pflichten jedes Gewerbetreibenden gehöre,
auch mit eignen Opfern für einen veredelten Nachwuchs zu sorgen, sondern der
Klageruf kam aus dem kleinlichen egoistischen Interesse, das in dem Lehrling
vor allem eine billige Handlangerkraft sieht. Hier sitzt der Haken. Es ist
absurd, für den Lehrlingsmangel die Kunstgewerbeschulen verantwortlich zu
machen, wie es auf dem Düsseldorfer Kongreß geschehen ist. Die Zöglinge
der Kunstgewerbeschulen werden in der Hauptsache für die Lehrlingspraxis
überhaupt nicht in Frage kommen, auch wenn es Kunstgewerbeschulen nicht
gäbe. Man kann gegen den Dilettantismus der Kunstgewerbeschule sehr viel
einwenden und mit Recht die größern Vorzüge der Meisterlehre dagegen geltend
machen, aber es ist bei der heutigen Auffassung der menschlichen Dinge niemand
zuzumuten, eine drei- oder vierjährige Lehrzeit in schlechter Behandlung und
zum großen Teil in Handlanger- und Laufburschenarbeit zuzubringen. Von
einer solchen Erziehung ist für den künftigen Mann und Fachmann nichts zu
erwarten. In Staaten mit völliger Gewerbefreiheit, wie zum Beispiel in
Amerika, bestehen praktische Handwerkerschulen, in denen jedes Handwerk binnen
fünf Monaten vollkommen gelehrt wird. Die Routine ergibt sich allerdings
erst in der Praxis, aber was tut das? Der junge Mann hat eine drei- oder
vierjährige Lehrzeit erspart und in den fünf Monaten sicherlich mehr gelernt
als die meisten unsrer Lehrlinge. Vor allem aber hat er die demoralisierende
Wirkung der bei uns eingewurzelten Mißstände nicht kosten müssen. Hier hilft
nichts als rückhaltlose Aufrichtigkeit. Das Handwerk selbst ist an dem Lehr¬
lingsmangel schuld. Lehrlinge zu erziehen, das heißt für einen hochstehenden
Nachwuchs zu sorgen, ist keine leichte und vor allem auch keine billige Aufgabe.
Nur ein Beruf, der durch hohe Leistungsfähigkeit sein soziales Ansehen gesteigert
hat, ist dieser Aufgabe gewachsen. Weder Staatskontrolle noch Polizeimaßregeln
noch Unterdrückung der Schulen oder ähnliche rückschrittliche Tendenzen können
dem drohenden Lehrlingsmangel Einhalt gebieten, sondern nur eine hohe ethische
Auffassung und eine vorurteilsfreie persönliche Initiative im Handwerk selbst
kann der Gefahr vorbeugen.
Hier liegt nichts Unmögliches vor. Gerade in den letzten Jahren sind
die Leistungen des Handwerks wieder so im Ansehen gestiegen, daß sein
Vorzug vor der bloß halbwissenschaftlichen Bildung ohne weiteres wieder an¬
erkannt wird. Ockama Knoop drückt es drastisch aus: „Jeder Knabe, der die
Wissenschaften studiert, sollte darum ein Handwerk lernen, damit er sich doch
auch einmal geistig beendigen kann." Dieses Ansehen der Handwerksarbeit, die
nach und nach wieder in den Mittelpunkt der allgemeinen Bildung rückt, ist
allerdings nicht vom Handwerk selbst aus bewirkt worden, sondern von solchen,
die ursprünglich außerhalb des Handwerks standen und sich mit einer reifen
menschlichen Bildung dem Handwerk zugewandt haben. Durch diese Erneuerer
des Kunsthandwerks, die eigentlich Outsiders sind, haben die handwerklichen
Edelberufe eine neue ethische Grundlage empfangen. Die ethische Bewegung
im Kunsthandwerk ging von England aus, von Nuskin und Morris. Der
erste war der Theoretiker, der zweite der Praktiker. Morris hatte sich als
Schriftsteller und Dichter einen großen Namen erworben, ehe er sich dem
Handwerk zuwandte. Er hat eine Unmenge von Handwerkstechniken erlernt
und praktisch ausgeübt. Er ist der eigentliche Erneuerer des Kunsthandwerks,
und sein Beispiel wirkt begeisternd. Ich erwähne von der großen Zahl seiner
Nachfolger vor allem Cobden-Sanderson, der die Advokatenrobe auszog, um
Buchbinder zu werden und nach Morris als der Schöpfer des modernen Kunst¬
einbandes gilt, namentlich was die Handvergoldekunst betrifft. Dieses geistige
Fluidum, das von solchen Erneuerern des Kunsthandwerks ausging, bewirkte
in der ganzen Welt eine gesteigerte Auffassung von dem Adel des Handwerks.
Diese geistige Bewegung wird es dahin bringen, daß auch die geschilderten
Mißstände überwunden werden. Freilich wird dies in einer andern Weise
geschehen, als es die rückschrittliche Tendenz auf dem Fachverbandkongreß
voraussieht. Wir alle, die ganze Öffentlichkeit, der Staat und die Gesellschaft,
haben ein lebendiges Interesse daran, daß alle Edelberufe im Handwerk die
unentbehrliche ethische Grundlage gewinnen und wieder als eigentliche Kultur¬
träger den Stolz und die Freude der Handwerksangehörigen sind, wie es im
alten Nürnberg der Fall gewesen ist. Dazu aber gehört, daß der ganze Umfang
moderner Bildung ohne jede engherzige zünftlerische Einschränkung mit dem
Handwerk verbunden werde. Um es kurz auszudrücken, eine Erneuerung der
ethischen Grundlagen ist nötig, wenn die wirtschaftlichen und geistigen Interessen
auf die Dauer gestärkt werden sollen.
So sehr die Mutter recht hatte, der Sohn solle etwas besseres werden,
so traurig ist es, daß dieses bessere etwas andres sein solle als ein edles
Handwerk. Nein, ein Kunsthandwerk oder überhaupt nur ein anständiges Hand¬
werk lernen und ausüben ist das beste, was wir allen Jungen wünschen
können. An und für sich ist ein solcher Beruf so wertvoll, daß der Sohn
oder die Tochter, die sich ihm zuwenden, im Familienkreis hochangesehen
und geehrt dastehen müßten, und daß der Gymnasiast, der etwa seinen Bruder
in der Arbeitsbluse auf der Straße sieht, seinen Kollegen zuruft: Hut ab,
das ist mein Bruder, ein Handwerker, ein Kunsthandwerker!
Daß es wieder zur rechtmäßigen Bewertung des Gewerbes und vor allem
des Kunsthandwerks komme, bedarf es allerdings der Mitarbeit vieler Kräfte
außerhalb des Berufs. Denn es ist nötig, daß das Publikum gute Handwerk¬
arbeit wieder schätzen lernt als eine Bedingung der künstlerischen Qualität,
sowie daß die solide Arbeit wieder einen angemessenen Marktpreis gewinnt,
der dem Handwerker den wirtschaftlichen Bestand sichert. Was in dieser Hinsicht
noch möglich ist, beweisen die modernen englischen Buchbinder, wie der erwähnte
Cobden-Sanderson, Cockerell u. a., die mit wenig Gehilfen arbeiten und jährlich
24000 Mark verdienen, wobei der Produktionsgrundsatz nicht auf die Quantität,
sondern auf die Qualität gestellt ist. Die Erkenntnis gewinnt täglich mehr
Anhang, daß die Ausübung eines edeln Handwerks den Einsatz der besten
Menschlichen Kräfte fordert, weil keine Arbeit gut getan werden kann, wenn
nicht Herz und Hirn an der Leistung der Hand beteiligt sind. Es gibt keine
höhere Bildung als die Fähigkeit, edle Arbeit hervorzubringen oder edle Arbeit
zu erkennen und zu fördern. Edle Arbeit macht uns menschlich reich und nährt
die Freude am Schönen, und vom Schönen lebt nach Feuchtersleben das Gute
im Menschen. Von der Höhe der gewerblichen Arbeit hängt die Höhe der
nationalen Kultur ab, das soziale Ansehen und die Menschenwürde des ge¬
werblichen Arbeiters. Die Steigerung der Kunst hängt vor allem von der
Steigerung der Leistung im Gewerbe ab.
Glücklicherweise können wir den vorher geschilderten Schattenseiten freund¬
liche Bilder entgegenstellen, die als Beispiel ihren erziehenden Wert nicht ver¬
fehlen werden. In modern geleiteten Betrieben wächst die Sorge für einen ver¬
edelten Nachwuchs. Da es am ersprießlichsten ist, Erfahrungen mitzuteilen, so will
ich hier in einigen Zügen das Programm einer von mir geleiteten Lehrlingsschule
anführen, die in Verbindung mit den Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst
ins Leben gerufen wurde. Die Schule ist zunächst für die Lehrlinge des eignen
Betriebs eingerichtet, doch ist daran gedacht, daß auch die Gehilfen teilnehmen
können und Lehrlinge andrer kleinerer Werkstätten von der Beteiligung an dem
Unterricht nicht ausgeschlossen sind. Die Lehrlinge arbeiten während einer
dreijährigen Lehrzeit täglich von fünf bis sieben Uhr in der Werkstätte und
werden an Aufgaben beteiligt, die die beste Ausbildung verbürgen. Der
theoretische Unterricht baut sich auf der gewerblichen Grundlage auf, umsaßt
Materialkunde, Holzchemie, Patent- und Musterschutz, juristische Grundbegriffe,
Kontorpraxis, Praxis im Zeichenbureau, Zeichnen und Modellieren nach der
Natur und aus der Erinnerung, Volkswirtschaft, Lektüre und Besprechung von
Meisterwerken der Literatur und ähnliches. Stillehre wird grundsätzlich nicht
gelehrt, dagegen die organischen Funktionen des Mobiliars und der Wohnräume,
die zwecklichformalen Grundlagen festgestellt und auf Grund der gewonnenen
Erkenntnis und Anschauungen die Formen freihändig skizziert. Die Skizzen
dienen als Grundlage für die Anfertigung genauer Fachzeichnungen in ein
Zehntel naturgroße und von Werkzeichnungen. Die Schule ist als Neform-
anstalt aus der Unzufriedenheit mit der schematischen Fortbildungsschule ent¬
standen und will an die Stelle des Schemas die persönliche Initiative setzen.
Zeugnisse, Klassifikationen, Strafen, wie überhaupt jede Kathederform, sind
abgeschafft. Die Unterweisungen erfolgen im Wege der Diskussion und des
freundlichen Umganges, das Du-Wort in Schule und Werkstatt, die Inan¬
spruchnahme von Laufburschendiensten, jedes unfreundliche oder kränkende Wort
den Lehrlingen gegenüber ist streng verpönt, dagegen ist von vornherein in
der Behandlung wie im Unterricht auf Grundlage der praktischen Ausbildung
das ganze Gewicht auf die Hebung der menschlichen Qualität gelegt, weil nicht
einzusehen ist, wie sonst gewerbliche Qualität entstehen könnte. Für Söhne
aus wohlhabenden Häusern ist ein hohes Lehrgeld bestimmt, was den Zweck
hat, in Verbindung mit dem hohen materiellen Pflichtanteil, den der Betrieb
hinzugibt, einer möglichst großen Zahl unbemittelter junger Leute alles nötige
kostenlos zu sorgen. Die Zahl unsrer Lehrlinge und Schüler muß natürlich
eng begrenzt werden, wir können nicht durch die Masse wirken, sondern durch
das Beispiel. Es wird dazu beitragen, die gewerblichen und kunsthandwerklichen
Betriebe im Interesse der allgemeinen Sache an Pflichten zu erinnern, die
nicht hoch genug gefaßt werden können. Wir sind natürlich keine Schulmeister
und sind deshalb der Überzeugung, daß wenn eine Sache etwas wert ist, sie
es nur durch die Kraft der Gesinnung wird.
Warum sind uns englische Fachschulen und das neue englische Kunsthand¬
werk so überlegen? Ihr Programm beruht nicht auf dem starren schematischen
System, sondern auf persönlicher, hochgesinnter Initiative, ihre Lehrer sind
nicht Schulmeister, soudern Weltleute im besten Sinne. Nichts steht im Wege,
daß sich überall die vom neuen Geist geleiteten Betriebe mit geeigneten Per¬
sönlichkeiten zur Veredlung des Nachwuchses und Hebung des handwerklich¬
künstlerischen Geistes verbinden und durch die Kraft eines erfolgreichen Beispiels
die Widerstrebenden zu einer gleichen Arbeit zwingen. Die schematische, staatliche
Fortbildungsschule, die allabendlich Hunderte von Lehrlingen zu unterrichten
hat, kann nichts wesentliches für die menschliche und geistige Höherbildung
leisten; wer es mit seiner Aufgabe genau nimmt, kommt alsbald zur Über¬
zeugung, daß der schwerfällige mechanische Apparat staatlicher öffentlicher
Fachschulen nicht im entferntesten soviel geben kann wie die privaten Zu¬
sammenschlüsse hoher gewerblicher, künstlerischer und geistiger Intelligenzen,
die durch Selbsthilfe die soziale, ethische und praktische Bildung des deutschen
Kunsthandwerks und seines Lehrlingswesens vornimmt. Was fehlt, ist die hohe
Gesinnung und das strenge Pflichtgefühl. Aber es sind gottlob zahlreiche
fruchtbare Keime da, die nur der Stärkung und der Entwicklung bedürfen.
Kräftige Beispiele tun not, um den Umschwung zu fördern. Die Beispiele
werden sich mehren.
er alte Kaspar David Friedrich, dessen Kunst durch die Jahr¬
hundertausstellung den Leuten wieder ins Gedächtnis gerufen
worden ist, hat ein Bild von Greifswald gemalt. Vorn Wasser,
Boote, Segel, gespannte Fischnetze; im Hintergrunde die Silhouette
der Stadt mit den drei Türmen von Se. Nikolai, Se. Marien
und Se. Jakob. Alles ist in einen Nebelschleier getaucht, der die
Linien unsicher verschwimmen läßt. Ich kenne nur das Blatt, das der Kunst¬
wart verbreitet hat, nicht das Original. Von welchem Standort aus der
Maler diese Ansicht der Stadt hatte, ist mir trotz allem Grübeln nie deutlich
geworden. Dem Fremden kann das gleich sein, dem Kunstgenießer auch, und
wer von diesen beiden dennoch nebenher ein bißchen zum „sachlichen" hin
will, zum Objekt der Darstellung, dem wird diese in Schleier gewickelte
Silhouette als Bild einer Küstenstadt immerhin plausibel sein. So, in Duft
und Dunst, ist man ja gewöhnt, sich die Anwohner der Wasserkanten vor¬
zustellen. Freilich, so ähnlich habe ich Greifswald auch manchesmal gesehen.
Manchmal im Nebel, manchmal im Höhenrauch, der mit braunem Gespinst
die Sonne verdunkelte und sich schwer über das Land legte.
Aber nicht dieses Bild hat sich mir in die Seele gegraben. Ein ganz
andres! Blaßblauer Himmel überm tiefblauen Bodden, hellblau hinten die
Wand von Rügen; hier und da und dort terrakottafarbige Segel; ein Streif
von lichtgrünem Buchenwald; und scharf, wie mit der Schere in den Himmel
geschnitten, die drei Türme. Zwischen ihnen die wellige Linie von alten
Baumkronen, rechts und links unermeßliches Land, in das sich die Chausseen
wie weißgraue Bänder aufrollen. Grünes Land, zumeist mit glänzenden
Rübenblättern bedeckt. Ewig ein leiser, bald an- bald abschwellender Wind:
jetzt bringt er die Kühle des Meeres, dann wieder ein paar üble Gerüche vom
Ryk, und nun gar den scharfen Dunst der Räuchereien.
So sehe ich Greifswald. Die echte, rechte Ostseestadt. Denn so allein
entfaltet, scheint mirs, die Ostsee ihre eigne und einzige Schönheit. Nicht,
wenn sie weiße Kämme schlägt, über denen mit weißeren Schwingen die Möwen
flattern. Nicht wenn sie graue Nebel ins Land schickt. Dann fordert sie den
Vergleich mit der Schwester zur Linken, der Nordsee, heraus — und wird
klein in jeder Hinsicht. Sturm, Regen, Nebel an der Nordsee, das alles kann
Größe haben, hat sie oft; an der baltischen Küste ist das alles trostlos, nur
trostlos. Aber die Ostsee bei klarem Himmel und leuchtender Sonne! Wer
sie so einmal gesehen hat — etwa auf Rügen, vom Nordpeerd bei Göhren
oder vom Königsstuhl bei Stubbenkammer: die unendliche, hellblaue Fläche,
spiegelglatt oder nur leicht, nur hier und da gekräuselt, und zu Füßen dieses
Blau mit einemmal in smaragdnes Grün gewandelt, einen schmalen Streif
nur, wo das Meer an die Felsen tritt, und zwischen Blau und Grün eine
märchenhafte Palette von vermittelnden Tinten: der hütet sich, sie je einem
andern Meere zu vergleichen. Denn so gewiß sie kleiner, unbedeutender, lang¬
weiliger sein kann als alle andern, so gewiß ist sie in solchen Stunden
größer, herrlicher, zauberhafter. So trage ich sie im Herzen und beklage
jeden, der sie so nicht kennt, sich sie so nicht eingeprägt hat. So lag sie an
einem wunderbaren Abend, da ich von Altefähr zum erstenmal die Silhouette
des alten Stralsund grüßte; so lag sie unzähligemale vor Greifswald. So
gab sie mir den Rahmen für Greifswald selber her. Nur in diesem Rahmen
von Himmelsblau und Meeresblau, Buchengrün und Feldergrün ist Greifs¬
wald mir auch rein äußerlich, rein als Bild eine schöne Erinnerung geblieben.
Vielleicht, in mancher Stunde dünkt minds so, die schönste, die ich habe; ganz
gewiß eine einzige: blauer Himmel, blauer Bodden, grüne Buchenhaine,
grüne Rübenfelder, und mitten drinnen das alte, liebe, kleine, rötlich-graue
Nest: Greifswald.
Nicht so sah ichs, als ichs zum erstenmal sah. Ein trostloser Tag.
Mitte Oktober. Mit dem unbändigen Eifer des Mulus traf ich gewissenhaft
zur ersten Immatrikulation des Wintersemesters ein. Hinter mir eine Reise
von achtzehn Stunden im Bummelzug, denn die Finanzlage erlaubte uns nur
die vierte Klasse. Von Kohlfurt bis Frankfurt an der Oder und von Frank¬
furt an der Oder wiederum bis Pasewalk bekam ich keinen Sitzplatz. Es half
meinen geräderten Gliedern wenig, daß ich in Frankfurt meiner grauen Fahr¬
karte zu Trotz in den Wartesaal zweiter Güte ging und der Aufräumerei
zuliebe mit großer Höflichkeit ins Separatzimmer erster Klasse weiter spediert
wurde: die Stunde Schlaf auf dem roten Plüschsofa, die mir das eintrug,
kath wirklich nicht. Als ich in Greifswald ausstieg und in die Stadt
hineinging, da fehlte mir weiter nichts als das Retourbillett, und ich wäre
in den nächsten Zug gestiegen und schnurstracks die achtzehn Stunden zurück¬
gefahren.
Das Meer — es war eine herbe Enttäuschung. Vielleicht, weil ich zu
viel erwartet hatte. Meer, meinte ich, das ist etwas dem Gebirge ebenbürtiges,
ist die Versöhnung der Ebene. Ich glaube, die Sonue schien, wenigstens
zeitweise, als ich mich am zweiten oder dritten Tage gegen den immer noch
eisigen Sturm hinaus nach Eldena kämpfte. Aber es war alles trostlos. Die
kahlen Rübenfelder, die durchweichte Landstraße — und das Meer. Grau,
ein wenig aufgeregt, hier und da weiße Kämme auf den Wellen, aber im
ganzen doch wie ein Teich. Rechts Strand, links Strand, und gegenüber,
unheimlich nahe, wie eben Berge bei schlechtem Wetter sich präsentieren, die
Küste von Rügen. Alles klobig, grob, scharfumrissen, stumpf. Kein Duft,
kein Schleier, keine Weichheit. Ich weiß, daß ich nach dieser Enttäuschung
die Verzweiflung der Ankunft noch einmal durchgekostet habe. Aber nun
half kein Jammer mehr, denn ich war immatrikuliert. Noch ehe ich zum
Meere ging, lief ich auch ein Stück ins pommersche Land hinein. Immer
das gleiche. Traurig, öde. Ich fand ein blankes Hufeisen und steckte es
ein. Ich habe diesen ersten Fund meiner Studentenzeit nachher überall hin
getreulich mitgeschleppt. Dieses Stück Eisen, das ein Ackergaul von Heiligen¬
geisthof oder Alt-Ungnade oder Lewenhagen verloren haben mochte, ist nach
Prag und nach Heidelberg, nach Berlin, nach Schlesien und nach Thüringen
gewandert. Es hat überall meine Pforte bewacht, wie Fciustens Penta-
gramma, und wer Lust hat und Ungeschick dazu, der kann auch heute, da ich
seßhaft geworden bin, an meiner Tür darüber stolpern. Meine erste Jmmatrikel
ist längst verloren, das Hufeisen steht symbolisch für sie.
Fand ich mich also in Wochen und Monden nur mühsam, widerwillig
und unvollkommen mit der Natur und den Menschen im Norden ab (unver¬
geßlich bleibt mir der Jubel der ersten Hochsommerferien, die mich in mein
heimatliches Bergland zurückführten) — so überstieg doch in einem Punkte die
„Stadt am Meer" alle meine Erwartungen. Ich konnte unglaublich billig
leben. Schon ein Lustrum später, als das Geschick mich noch einmal zu
kürzeren Aufenthalt nach Greifswald führte, hatte sich das etwas geändert,
jetzt, nach reichlich einem Jahrzehnt, wird die Verschiebung zur Teuerung hin
wohl noch deutlicher sein. Ich glaube fast, ich habe damals die letzten fetten
Jahre miterlebt. Die Schilderung freilich, daß kein Studio durch die Tore
hereingelassen werde, ehe er sich nicht feierlich verpflichtet habe, ein Stipendium
anzunehmen, ging mir bald als ein arges Märlein auf. Für einen Mediziner
und Nichtpommern war da nicht viel zu haben. Wirklich große Stipendien,
wie ich sie später in Leipzig kennen gelernt und gelegentlich selber bezogen
habe, gab es wohl überhaupt kaum. Man erzählte viel von einem Zwerg¬
stipendium, das, glaube ich, fürs Jahr 9 Mark 43 Pfennige betrage. Da¬
gegen erlangte man volle Honorarstundung und vollen Freitisch ohne sonderliche
Mühe. Und zu dieser Entlastung traten dann die billigen Lebensverhältnisse
M eine höchst zweckmäßige „Symbiose".
Eine Wohnung kostete für den Sommer im Durchschnitt 55 bis 60,
für den Winter samt der Heizung 85 bis 90 Mark. Früher muß es noch
Viel weniger gewesen sein, um die Zeit etwa, wo meine Lehrer in Greifswald
studiert hatten. Gar so niedrig scheinen ja übrigens jene Preise nicht zu sein,
wenn man erwägt, daß ein studentischer Sommer drei Monde und eine
Woche und ein studentischer Winter reichlich vier Monate währt. Aber für
die meisten Zimmer bestand das Recht, sie auch in den Ferien ohne Preis¬
zuschlag zu behalten. Wir Füchse hatten davon nichts, als die Sicherheit,
bei der Rückkehr ins Semester wieder den alten Bau zu finden. Die höhern
Semester dagegen nutzten die Wohnung wirklich aus. Ältere Mediziner machen
ja kaum noch Ferien, und unter ihnen habe ich manchen gekannt, der für
150 Mark das ganze Jahr seine Bude mit Heizung, Bedienung und Früh¬
stück gehabt hat.
Großen Komfort boten die Zimmer freilich nicht, aber so nackt und un¬
gemütlich, wie ich sie später in Jena gefunden habe, war in Greifswald kaum
eins. Die meisten, wenigstens die in der Altstadt, hatten einen uralten
Geruch und eine ebenso alte, spießbürgerliche Gemütlichkeit. Geheizt wurden
sie im ganzen gut. Im ersten Semester fiel ich in meiner Unkenntnis der
Dinge auf ein Parterrezimmer in der Rotgerbergasse hinein. Diese Gasse ist
der Durchgang zu den Kliniken und naturwissenschaftlichen Instituten, und
von meinen Bekannten brachte es natürlich keiner übers „Herz, an meinen
Fenstern vorüberzueilen, ohne kräftig daran zu klopfen. Überdies lag dicht
daneben ein Restaurant, in dem verschiedne Vereine kneipten, was die Nacht¬
ruhe nicht eben vermehrte. Trotzdem ist mir die Kündigung, die erste im
Leben, unsäglich peinlich gewesen. Ich log der Wirtin vor, ich bezöge eine
andre Universität. Sie roch natürlich den Braten, und so gut sie mich vorher
versorgt hatte, von dieser Stunde an spielte sie die Gekränkte, und der Glanz
meiner Stiefel verblich mit jedem Tage mehr. Ich fand dann ein urgemüt¬
liches Stübchen in der Brüggstraße; niedrig, sodaß ich mit der Hand an die
Decke reichen konnte, aber behaglich, mit einem grünen Plüschsofa, was mir
sehr feudal vorkam, und die Wirtschaft in den Händen eines jungen, glücklichen
Ehepärchens mit einem zweijährigen Sprößling. Das gab zwar manchmal
Geschrei, aber auch vielen Spaß, namentlich wenn der Kleine mich als Papa
begrüßte; und meine Verpflegung hat unter dem jungen Glück nie zu leiden
gehabt. Ich habe bis zum Physikum dort gehaust und bin mit Wehmut
weggegangen, obwohl sich die Atmosphäre in den letzten Wochen durch die
Erwartung eines zweiten Sprößlings und dnrch das Debüt einer Maus unter
meinem Schreibtisch zu umwölken anfing.
Für einen, der mit bescheidnen Mitteln rechnen muß, ist die Wohnungs¬
angelegenheit besonders wichtig, weil er natürlich viele Zeit daheim zubringt.
Das Abendessen nahm ich, wie übrigens die meisten meiner Bekannten, die
ganze Woche hindurch auf dem Zimmer ein. Die Einkäufe dazu erstreckten
sich in der Regel auf Fischwaren der verschiedensten Art, Käse und Wurst.
Billig war alles, und manches unglaublich billig. Über 20 Pfennige kam
mir der Einkauf selten zu stehn, und besonders im Winter, wo man sich
Vorrat für ein paar Tage anschaffen konnte, hatte man dafür einen Tisch
voll Herrlichkeiten. Noch reichhaltiger wurde das Menu, wenn sich Bekannte
zusammenladen, um auf einer Bude zu essen und jeder seine Schätze mit¬
brachte. Trotz der geringen Kosten habe ich später weder in Leipzig noch in
Jena, weder in Berlin noch in Heidelberg wieder so gut gelebt wie in dieser
Greifswalder Fuchsenzeit. Das ist keine Erinnerungstäuschung, wie sie dem
romantisch verklärten Gefühl zustößt, sondern eine Erfahrung, die der kühlsten
Überlegung standhält.
Es war übrigens auch nötig, denn der Freitisch nährte uns nur sehr
fragmentarisch. Anfangs war er schlecht, öfters ungenießbar, später wurde er
verlegt und besserte sich recht sehr; aber an Quantität büßte er desto mehr
ein, und recht satt bin ich nur selten aufgestanden. Durch Bier konnte ich
das Defizit nicht decken, denn das Greifswalder Gebräu widerstand meinem
Magen. So mußte das Abendbrot füllen, was das Mittagessen leer gelassen
hatte, und der Sicherheit halber, auch aus Liebhaberei, trank ich Tag für
Tag noch einen halben Liter Milch, in allen erdenklichen Formen, mit Vor¬
liebe aber als „dicke Milch". Wenn ich mich recht erinnere, kostete der Liter
Vollmilch damals 12 Pfennige — mittlerweile wird das Milchtrinken wohl
auch in Greifswald ein kostspieligeres Vergnügen geworden sein.
Am Sonntag Abend ging man ins Restaurant, in den Ratskeller oder
zu Mülling Jhlenfeld. Dort gabs „Stamm". Das war der Isi-minus
tsoKmonZ für folgende Herrlichkeiten. Erst kam Fleisch, meist Gulasch oder
Ragout und hierzu ausgezeichnete Bratkartoffeln — diese A clisvröticm, ge¬
wöhnlich war die Schüssel schon reichlich, aber trotzdem haben wir noch welche
nachbestellt. Dann folgte der zweite Gang: die „kalte Platte" — nämlich
ein Scheibchen Pumpernickel, ein Scheibchen Käse, zwei Scheibchen Wurst,
eine Sardelle oder zwei Anschovis und ein Klümpchen Butter. Und dazu aß
man Schwarzbrot oder Weißbrötchen — ä cliservtion. Alles zusammen kostete
40 Pfennige. Wie die Restaurants dabei bestehn konnten, ist mir immer ein
nationalökonomisches Rätsel gewesen; aber seine Lösung war schließlich nicht
unsre Sache, und unsre cUsorötion haben wir uns durch diese Sorge jedenfalls
nie verkümmern lassen."
Nach diesem Souper ging es gewöhnlich in die „Bierhallen. Dort er¬
warteten uns zwei besondre Genüsse: Lichtenhainer und — zarte Bedienung.
Das Lichtenhainer war trefflich gepflegt, Kamraden und Länzchen peinlich
sauber, und ich habe mich rasch an das merkwürdige Getränk gewöhnt; später
in Jena hat der Massenkonsum es mir wieder verekelt. Die Bedienung war
sozusagen anständig — das heißt, fürs Privatleben der holden Schönen über¬
nehme ich keine Bürgschaft; ihren „Schatz" hat wohl jede gehabt — nicht
viel anders, als ich es später in Heidelberg fand, vielleicht gelegentlich eine
Nüance Zweideutigkeit mehr. Von Urinieren oder Mittrinken war aber
nie die Rede. Die Müdel scherzten, kokettierten ein bißchen, und was die
Hauptsache war, sie waren fast immer hübsch und fesch angezogen. Darauf
hielt der „alte Kunoldt" ebenso wie auf den guten Ton in seinem Lokal.
Ich gedenke gern der Abende, die ich dort verbracht habe. Der seelisch ge¬
sunde Mensch braucht ein weibliches Fluidum, und da er es in der „Gesell¬
schaft" damals noch viel schwerer fand als heute, wo der Sport den Verkehr
der Geschlechter unbefangner gestaltet hat, so ist es gut, wenn es in leidlich
harmloser Art ihm auf andre Weise geboten wird. Die Kellnerinneninstitution
des deutschen Südens ist nach meinem Gefühl die beste Lösung des Problems,
und wir haben es immer dankbar empfunden, daß Greifswald uns auch eine
solche Lösung bot. Fehlt sie, so ist der Abstieg in dunklere Tiefen meist
unvermeidlich. Die Philister, die über die Damenbedienung zetern, mögen
erst einmal den jungen Leuten Gelegenheit zu einem harmlosen Umgang mit
Mädchen geben; solange der regelmäßige und zwanglose Verkehr in einer
betöchterten Familie von ihnen als halbe Verpflichtung zur Verlobung auf¬
gefaßt wird, dürfen sie sich über nichts beklagen.
Wir empfanden also die Luft bei Kunoldt als eine höchst wohltuende und
sind nirgends so gut aufgelegt gewesen wie dort. Auch an herzhaftem Spaß
fehlte es nicht. Jeder Fuchs mußte den „Tiegenhöfer" kosten, einen Schnaps,
der eine Art Paprikaextrakt war; wenn man das verwünschte Zeug getrunken
hatte, bekam man einen ordentlichen Erstickungsanfall, prustete, stöhnte und
schnappte nach Luft — und goß unzweifelhaft ein Lichtenhainer nach, was
aber die Sache nicht besserte, denn das fürchterliche Brennen verlor sich nur
durch geduldiges Abwarten. Die Kellnerin war natürlich eingeweiht und
kredenzte nur dem ahnungslosen Opfer den Teufelskraut, während die Zech'
genossen einen gleichfarbigen, aber harmlosen Schnaps bekamen. Ich möchte
wohl wissen, ob das artige Stücklein noch im Schwange ist! Einmal hatten
wir einen außergewöhnlich orthodoxen Theologen bei uns, der uns schon im
Ratskeller und unermüdlich in den Bierhalleu die Überlegenheit der alttesta-
mentlichen Kosmogonie über alle modernen Schöpfungsgeschichten explizierte.
Der Mann bekam seinen Tiegenhöfer, und das nahm er noch gefaßt auf.
Dann aber hetzten wir unsre Hebe auf ihn, und die legte ihm nun die Hand
auf die Schulter, gab ihm auch einmal einen Klaps auf den Rücken und
provozierte auf jede Art Berührungen. Der gute Mensch aber zuckte dabei
zusammen, als ob die Klaue des Satans selber ihn gepackt hätte, und schlie߬
lich bat er, mit mir den Platz tauschen zu dürfen. Er hat das „aufdringliche
Lokal", wie er beim Heimgehen sagte, nie wieder betreten.
So ein Sonntag Abend verlief also sehr bescheiden und in harmloser
Fröhlichkeit. Die Nachwirkung aber zeigte sich bei uns in einer sehr merk¬
würdigen Neigung: man lechzte nach dem „Stamm", hatte die ewigen Fisch-
und Wurstessen satt und versuchte sich auf der eignen Bude in warmer Küche.
Einige haben es dabei zu ganz respektcibeln Erfolgen gebracht. Ich nicht,
wie ich beschämt gestehen muß. Drei Mißerfolge dieses Ehrgeizes sind mir
noch jetzt in lebhafter Erinnerung geblieben. Einmal wagte ich mich an eine
Omelette. Ich muß wohl die nötigsten Ingredienzien vergessen haben, denn
trotz unermüdlichen Rührens kam ein veritabler Kleister heraus, den ich aber
doch mit Todesverachtung hinuntergewürgt habe. Ein andermal stand mein
Gelüsten nach „Fischsuppe". In meiner Unschuld nahm ich Wasser, Salz,
Pfeffer und ließ darin einen — geräucherten Hering, oder waren es gar zwei,
kochen. Es gab so eine Art Rauchfleischbrühe, die mir schwer im Magen
lag. Später legte ich mir zur Hebung der Ernährung Haferflocken zu. Ich
wußte, daß sie lange kochen müssen. Ursprünglich wollte ich dabei bleiben;
aber — wer ist Herr seiner heimtückischen Regungen? „Plötzlich ist es ihm
gewesen: Knopp, du mußt noch etwas lesen", sagt Busch. Ich verschwand,
und „als ich wiederkam", war die Bescherung fertig. Die Grütze kochte und
kochte, „es wallet und siedet und brauset und zischt, wie wenn Wasser mit
Feuer sich mengt" — und kochte immer munter in meine Stiefel hinein, die
neben dem Kochtischchen auf der Erde postiert waren. Sie waren tagelang
nicht wieder recht trocken zu kriegen. Mit diesem Mißerfolg erhielt, soviel
mir erinnerlich ist. meine Ambition ihren Todesstoß, und ich kehrte reumütig
und endgiltig zu Fischen, Wurst und Kühe zurück.
So gestaltete sich der Zuschnitt des materiellen Lebens im Winter. Im
Sommer waren wir oft Sonntags über Land, an Wochentagen Abends
draußen am Bodden, in Eldena oder Wiek, und aßen dort unser Abendbrot.
Teuer war es nie und nirgends. Bratfisch mit Bratkartoffeln war die Regel.
Wer je einmal an der Waterkant frisch gebratne Heringe gegessen hat, wird
es zu schätzen wissen. Weiter draußen im Lande oder in den herrlichen
Buchenwäldern der Küste spielte die dicke Milch eine große Rolle. Für eine
gerüttelt volle, große Schale mit Zucker und geriebnem Brot zahlten wir
zwanzig Pfennige, und hinterher trank man behufs besserer Verdauung
,,'n indem Kuhrn". An einem Pfingstsonntag wanderten wir nach Stralsund;
und in dem einfachen Gasthause, wo wir Mittags einkehrten, war der Wirt
so begeistert über unsern Parforcemarsch und unsre sprudelnde Laune, daß er,
um ven Ausdruck zu verleihen (in Worten gelingts so einem richtigen
Pommern nicht recht), uns zu Koteletten und Bratkartoffeln gratis eine
tüchtige Portion Spargel beilegte. Wofür wir ihn hoch leben ließen. Und
auf einer mehrtägigen Rügenwanderung kehrten wir über Tag gar nirgends
ein, sondern lebten von Brot und Wurst und Eiern, die wir mit uns
schleppten — wir kauften sie allmorgens im Dorf oder Städtchen und handelten
von den Preisen noch ein gut Teil ab.
Auf die Gefahr hin, als Materialist anrüchig zu werden, muß ich be¬
kennen, daß sich auf diesem Wege durch Mund und Magen ganz allmählich
eine leise Liebe zur nordischen Natur in mir entpuppte. Weil wir die
Wanderungen immer mit wenig Groschen bestritten, waren sie eine reine Freude
für uns, wie denn überhaupt einfache Lebensführung und gelegentliche Ein¬
schränkung für unverdorbne Gemüter in diesem Alter einen echten, tiefen
Zauber hat. So lernte ich die Natur mit fröhlichen Augen anschauen, und
jeder weiß, daß dies der Schlüssel zu ihren verborgnen Reizen ist. Im ersten
Winter gings damit freilich nur sehr langsam. Einen entscheidenden Eindruck
empfing ich an einem Sonnenlichter und doch frostglitzernden Kaisersgeburts¬
tag, an dem ich einen Eislauf über den damals fast gefrorenen Bodden wagte.
Es war ein toller Streich, denn unter uns krachte die Fläche, als müsse sie
in jedem Augenblick bersten, und um ein Haar wäre ich in ein riesiges
Fischerloch hineingesaust. Aber unvergeßlich ist es mir geblieben, wie die
Sonne unterging: die riesige Eisfläche rötlich und goldig schimmernd, der
hellblaue Winterhimmel, und drüben die Küste von Rügen. Zum erstenmal
ergriff mich norddeutsche Schönheit. Und als wir dann, müde und durchfroren,
in Wiek einkehrten und bei prasselndem Feuer einen dampfenden Grog
schlürften, da stieg die leise Ahnung jener Stimmung auf, die etwa der An¬
fang von Pierre Lotis „Jslandfischern" in uns anrührt: „Draußen, da mußte
die Nacht sein und das Meer..."
Und der Frühling kam, und Greifswald legte sein Kleid von Flieder
und Jasmin an. Welch ein Unterschied gegen die Tage, da ich hier einge¬
zogen war! Abends, so im Juni, wenn man über den Wall schlenderte, der
den größten Teil der Stadt rund umhegt, lag das Nest da wie ein Märchen:
die grauen und roten Dächer mitten im Grün — und der Duft — und der
fremdartige Zauber der hellen Sommernacht! Rügen vollends ließ das letzte
Eis schmelzen. Auf dem Wege von Saßnitz nach Stubbenkammer und auf
dem Turm der Granitz verstummte alles törichte Vergleichen mit Berg und
Felsenhang, Quelle und Tal: das hier war eine Schönheit für sich, und sie
griff mir gewaltig an die Seele. Nun war aus dem Saulus der Paulus
geworden. Nun riß ich die Freunde mit; und jeden Sonntag, an dem die
Sonne schien, wanderten wir über Land, einmal durch wunderbaren Wald
nach Hanshagen, einmal, das Meer zur Rechten, nach dem stillen, schwer¬
mütigen Gristow — hier habe ich die Gewalt der Melancholie dieser Land¬
schaft erlebt — und auch ins Land hinein, über Dersekow, Ungnade, Lewen-
hagm, einmal nach Stralsund und einmal nach Wolgast. Freilich, die ersten
großen Ferien in der Heimat haben mich dem Neuen rasch entfremdet. Wieder
mußte ich mirs erobern, als ich zurückkam — doch nach dem zweiten Sommer
ging es mir merkwürdig: ich stand auf den Höhen meiner schlesischen Herrlich¬
keit, und wie ich den Blick über diese lachenden Gefilde schweifen ließ, da
fehlte mir etwas. Eine Sehnsucht ergriff mich, die Berge füllten mich nicht
aus wie früher — ich hatte ein Neues in mich aufgesogen, das nun seine
Rechte forderte — die Liebe zum Meer! Ich suchte das Meer!
Und diese Liebe habe ich nie wieder vergessen.
Freilich, das kam erst, als ich das Meer in allen Wandlungen seiner
unerschöpflichen Wunderfülle gesehen hatte. Mit der „Geographischen Gesell¬
schaft" fuhr ich hinüber nach Dänemark und Schonen. Allpfingstlich fand so eine
Reise statt, und den Studenten kostete sie herzlich wenig. Was aber genoß
er dafür! Wie ein Wunderland erschloß sich mir in diesen fünf oder sechs
Tagen die fremde nordische Welt. Am gewaltigsten wirkte Schweden. Die
groteske Natur des Kullengebirgs, wo von Kullangaard das Auge übers blaue
Kattegatt hinüber bis Helsingör und die schwedische Küste entlang schweifte;
zwei wunderbare Abende in Helsingborg, bei goldigem schwedischen Punsch und
in mühsam reizvoller Verständigung mit blonden schwedischen Frauen — und
über allem die wundersame Helldämmerung der Juninacht — mit einemmal,
ich fühlte es, ging ein Sprung durch meine innere Welt, alles wurde mir zu
eng, nicht bloß Schlesien, ganz Deutschland zu klein, unendliche Sehnsucht in
die Ferne und Fremde quoll in mir auf. Dort ist mir die Liebe zum Meer
gekommen, als zum Element der Freiheit, zur Pforte der weiten Welt; diese
Tage auf skandinavischen Boden, im Anblick germanischer Nassenpracht und
einer stolzen, frohen Kultur, zählten zu den folgenreichsten, den innerlich be¬
deutendsten, die ich erlebt habe. Seit ihnen hat mein Herz den Norden zu
lieben nicht mehr aufgehört.
Und seltsam! Diese mit elementarer Gewalt erwachende Liebe umspannte
das alte Greifswald mit. Als wir in Kopenhagen zur Rückkehr an Bord
gingen, noch ganz erfüllt von dem letzten Gang auf nordischem Boden, der
Wanderung von Skodsborg nach Klampenborg, da bangte mir davor, wie
öde und eng mich nun die pommersche Kleinstadt anmuten werde. Es kam
so ganz anders! Greifswald erschien mir in Wahrheit Fleisch von nordischem
Fleisch; über den Abenden am Bodden lag es wie ein Abglanz der skandi¬
navischen Herrlichkeit, und wenn die Glocken läuteten, so sangen sie von
Tagen, in denen die Ostsee ein nordisches Binnenmeer gewesen war. Und
nicht anders sah ich Stralsund, an einem stillen Sommerabend, von Altefähr
herüber; vom Baltischen Meer bespült, voll von gewaltiger Vergangenheit,
schwermütig und groß — eine nordische Stadt. Und es kamen Tage, da ich
mich glücklich pries, von meinem Schicksal nach Greifswald geführt worden
zu sein.---
Die Pfingstfahrten der Geographischen Gesellschaft taten noch eine andre
bedeutungsvolle Wirkung. Sie brachten Universitätslehrer und Studenten in
eine höchst zwanglose Berührung miteinander. Die Ausschließung alles Weib¬
lichen, an das sich sonst ja doch der Mensch zwischen achtzehn und zweiund¬
zwanzig wie eine Klette Hunger würde, ließ diese Annäherung in ihrer Fülle
erschöpfen. Nicht das Wenigste trug hierzu freilich auch der gute Geist
Rudolf Credners bei, des Geographen an der Greifswalder Universität und
Lpiritus rsetor dieser Fahrten. Der knorrige Prachtmensch eroberte sich das
Herz jedes Jünglings, der in den Bannkreis seiner Persönlichkeit trat. Zu
seinen Füßen saßen wir, aus allen Fakultäten zusammengemischt, hörten
Kolonialpolitik und folgten mit verhaltnen Atem den rücksichtslosen Attacken
dieses Konservativen wider den neuen Kurs, der Afrika verschenken wollte und
schon halb und halb verzettelt hatte. Dieser wurzelfeste Mann, der wieder¬
holt Rufe an größere Hochschulen abgelehnt hat, wußte die Pfingstfahrt mit
dem besten Geiste zu beleben. Er belehrte, erheiterte, befahl, tröstete und
erfüllte vor allem die lebendige Anschauung der Natur mit mühelosem Ver¬
ständnis ihrer Erscheinungen. Wie wuchs Rügen vor unsern Augen aus der
schaffenden Arbeit der Kräfte von Jahrmillionen empor! Die Geographie,
auf der Schule fast jedem verekelt, wurde zur schönsten aller Wissenschaften,
wie wir sie von ihm empfingen; und ihm danke ich es, wenn sie mir die
liebste und wertvollste aller Mußebeschäftigungen geblieben ist. Ich weiß, daß
ich nicht der einzige bin, dem es so erging, und wenn ich in den Jubeltagen
der H,1eng. inatsr (Z^Mia zu etwas besonders herzlich gratuliere habe, so war
es zum Besitz dieses Mannes, den ich ihr auf lange, lange Jahre noch er¬
halten wünsche!
Noch ein paar andre markante Erscheinungen treten mir neben Credner
von jener Fahrt her in die Erinnerung. Im sonoren Baß und mit homerischen
Lachsalven betätigte der Jurist Pescatore seinen Humor, das besiegende Lachen
gar oft dem Witz vorausschickend, der im Lachen selber schließlich unterging.
Um einen aufgespannten Entoutcas sammelte der süddeutsche Demokrat
Stengel unsre Sektion, die seinem Schutze anvertraut war, gütig hinter den
Brillengläsern hervorlächelnd. Der Pathologe Grawitz, Virchows Schüler,
gab den Pfeffer zum Ganzen, den kaustischer Witz, die bissige Ironie, die er
mit seinem Meister gemein hatte; sein riesiger Schnurrbart war uns überall ein
wertvoller Orientierungspunkt. Und um sie und noch manchen andern scharten
sich die Studenten, bald Rat suchend, bald der Belehrung lauschend, bald
harmlos plaudernd und sich vergnügend, und bald in gemeinsamer Begeisterung,
wie im Anblick der gastronomischen Herrlichkeiten einer üppigen schwedischen
„Sexa" in Helsingborg, bald in gemeinsamem Leid, wie bei der stürmischen
Fahrt zwischen Arkona und Möen, die Lehrer und Schüler zu Dutzenden auf
Deck und in den Kajüten zu heillosen Jammer daniederwarf.
Hier enthüllte sich die ganze Zauberkraft der kleinen Universität. Auch
an den großen Hochschulen fehlt es nicht an Veranstaltungen, die Lehrer und
Schüler einander menschlich nahe bringen sollen. Das Sollen ist manchmal
etwas auffällig dabei, immer aber ist die Masse zu groß, und in ihr tauchen
gar bald Cliquen auf, die durch andre Zufälle den Meistern enger liiert sind.
Der Universitätslehrer an kleinen Hochschulen kann die Fühlung viel enger
nehmen — und halten. Veranstaltungen wie die Greifswalder geographischen
Pfingstfcchrten sind schlechterdings nur an einer kleinen Universität mög¬
lich — vielleicht überhaupt, jedenfalls aber so, in diesem Geiste möglich. Aus
ihnen strömt mit belebendem Odem die ganze innere Wärme, die das Arbeiten
und Genießen im engen Kreise vor jedem andern voraus hat und die für den
Studenten, richtig aufgenommen und richtig bewahrt, eine höchst erquickende
Atemluft ist.
Ich hätte gewiß nicht immer in Greifswald sein wollen. Die Kleinstadt
allein kann heute, wie sich das Leben einmal gestaltet hat, nicht mehr die
Waffen für den Kampf ums Dasein schleifen. Ich sah manchen, den es hier
zehn Semester festgehalten hatte, und der nun unzulänglich gerüstet hinaus
in die rauhe Wirklichkeit ging. Und selber danke ich den Jahren, die ich
nachher in Leipzig verbracht habe, für den äußern Lebenserfolg wahrscheinlich
mehr, berechenbar mehr, als den Semestern an der Ostsee. Aber der äußere
Erfolg ist nichts ohne den innern. Und wenn heute die Schule den Jüngling
entläßt, so ist der Sprung in die Großstadt für manchen ein Kopfsprung, der
ihm übel bekommt. Nicht von den „Versuchungen" rede ich, im bekannten
Sinne. Sie waren auch in Greifswald da, wenngleich nicht so aufdringlich
wie in der Friedrichstraße oder auf der Leipziger Messe. Aber der ganze
Strom großstädtischen Lebens ist zu reißend, der Reize und Bilder sind zu
viele, die junge Seele wird hin und her gezaust, und die Gefahr ist groß,
daß sie um alle Nuhe, Wärme und Sammlung kommt. Darum danke ich
dem Schicksal, das mich gerade im Anfang an eine kleine Universität ge¬
führt hat.
Mit meiner Fakultät konnte ich überdies zufrieden sein. Greifswald ist
ja immer eine Medizineruniversität gewesen, und damals fing sie auf dieser
Linie an, sich neu zu verjüngen. Die Anatomie wurde frisch besetzt. Unbe¬
greiflicherweise tat das Vorlesungsverzeichnis dieses Faktums keine Erwähnung,
sondern ließ die anatomischen Kollegien einfach ausfallen, und mit düstrer
Sorge fuhr ich ins Studium — ängstlich, ob wohl in Greifswald überhaupt
Anatomie getrieben werde. Ich habe über den Muluskummer später oft
herzlich lachen müssen. Als ich hinkam, war auch der neue Anatom schon
da: ein glänzender Gelehrter; er ist mein bester akademischer Lehrer geblieben.
Beim Präparieren konnte er manchmal bajuvarisch deutlich sein, aber das ist
auch nötig, wie jeder Eingeweihte weiß. Und im übrigen belebte er uns die
Anatomie bis in jede Faser hinein mit jener genetischen Auffassung, die aus
des alten Hyrtl „trockner Materia" eine der fesselndsten Disziplinen macht und
der „würzenden Zotteln" wohl entraten kann.
In den Hallen, wo Bonnet herrschte, hat sich denn auch während dieser
ersten vier Semester der Hauptteil meines Arbeitens abgespielt. Das ist so in
der Ordnung, denn die Anatomie lernt man im Anfang, oder aber man lernt sie
nie wieder. Alles andre kann man eher nachholen. Die übrigen Vorlesungen
habe ich denn auch recht homöopathisch besucht. Ich will sie nicht namentlich
aufzählen, denn ich kann nicht alle loben, die sie lasen, bei manchem habe
ich mich bitter geödet. Dem originellsten Gemüt unter ihnen, dem alten
Landois habe ich schon früher einmal ein paar Gedenkblütter gewidmet; etliche
Leute haben sich darüber aufgeregt, daß ich ihn nicht restlos als gewaltigen
Forscher, sondern als tüchtigen Praktikus und wurzelfesten Menschen schilderte —
nun, so mag die konventionelle Lüge regieren, nach der jeder Ordinarius ein
Bahnbrecher und jeder Verstorbne ein Genie gewesen, und über alle Toten
nicht bloß vsuö, sondern auch bonum geredet werden muß.
Als ich nach vier Semestern, das bestcmdne Physikum in der Tasche, an
einem schönen Julimorgen von Greifswald schied, hatte ich das gewisse Gefühl,
ich werde die Stätte meiner Fnchsenjcchre in kurzem wieder betreten. Eine
vage Ahnung, wie sie uns in solchen Stunden zuweilen überkommt. Sie er¬
füllte sich nach reichlich zwei Jahren. Aber. . . Nach zwei Jahren Leipziger
Lebens. Neue Welten hatten sich mir aufgetan: Welten der Erkenntnis, des
Genusses, der Tat, wissenschaftliche, künstlerische, politische. Ich hatte zu Füßen
eines Wundt, eines Lamprecht, eines Rcitzcl gesessen, hatte der Jbsengemeinde,
die damals in Leipzig den Meister ehrte, angehört, hatte den aufgehenden
Stern Max Klingers begrüßt, hatte Wahlkämpfe mit durchlebt, in denen der
Nationalsozialismus durch Sohns Mund zum Kampfe rief — und in einem
Kreise von internationaler Geistigkeit, wie das experimentalpsychologische
Institut ihn sammelte, mit Russen und Amerikanern, Bulgaren und Norwegern
war alles dies besprochen, diskutiert, immer aufs neue durchgelebt worden.
Weiter: ich hatte auf der Schloßterrasse in Heidelberg gestanden, hinter der
Hardt die Sonne versinken und Stadt und Strom in die Dämmerung tauchen
sehen — an einem weichen, braungoldigen Oktobertage, und hatte leise zu
dieser Herrlichkeit „Auf Wiedersehen!" gesagt. Endlich: ich kam nach Greifs¬
wald, erstens um mein Staatsexamen zu machen, zweitens um einjährig zu
dienen: d. h. zu Arbeit, Aufregung, Mühsal, Plackerei, Ärger. Solange
derlei an der Herrschaft ist, „erlebt" man eigentlich überall dasselbe. Nur
große und tiefe Gemütsbewegungen, Freude und Schmerz, Glück und Kummer,
Hoffnung und Gram modellieren auch die Lebensschauplätze zu Individuali¬
täten. Und in der Tat, in diesem spätern Jahre, das ich in Greifswald zu¬
brachte, ist es mir eigentlich nie sonderlich zum Bewußtsein gekommen, ob ich
nun gerade in Greifswald sei — oder irgendwo anders.
"
Nur einen „guten Abgang hat mir das gütige Geschick ersonnen.
Es war der Tag, an dem wir einjährigen Mediziner entlassen werden
sollten, ich, damit sogleich am nächsten Morgen aus der Raupe des Musketiers
durch den kurzen Puppenzustand einer Eisenbahnfahrt in Zivil der Schmetter¬
ling des Einjährigen Arztes drunten in Jena auskrieche. Nach militärischem
Prinzip galt es aber, uns noch an diesem Morgen mit etwas zu beschäftigen.
Der Oberst war zu einer Besichtigung eingetroffen, man schaffte uns also
beiseite und ließ uns, ein Dutzend glaube ich an Zahl, mit einem sehr be¬
liebten Oberleutnant ausrücken, um am Bodden auf einige Scheiben mit
scharfen Patronen „gefechtsmüßig" zu schießen. Eine Stunde lang hatten wir
da herum geknallt und etliche bemalte Pappdeckel demoliert — und dann kam
der Schluß.
Es war der letzte Märzentag. Auf den Feldern lag noch Schnee, der
Himmel war blaßblau wie im Winter, aber die Sonne schien so warm, und
die Luft ging so weich, der Bodden, nur leicht gekräuselt, lag so lockend, so
schimmernd blau drüben die rügensche Küste, als wollte sich just heute
der Frühling zum Einzug rüsten. Und nun ließ uns der Offizier nieder¬
knien, in einer Reihe, und kommandierte eine Salve auf den Bodden hinaus.
Ein Krach, ein Zischen und Spritzen, und dann rollte das Echo gewaltig über
die Flut und grollte zurück von Ludwigsburg und Lauterbach.
Ich hätte dem Norden kein feierlicheres Lebewohl sagen können. Und
diesmal fühlte ichs mit Gewißheit: für immer! Es ging gen Süden: vor
mir lag Jena erst, dann Heidelberg. Und der Süden ist meine neue Heimat
geworden.
Lasse ich von jener Greifswalder Zeit den Blick über die spätern Jahre
schweifen, so haftet er unwillkürlich auf einem davon, das mir noch einmal
unbändige Genußfreude, reichliche Muße bei zielbewußter Arbeit, die Fülle
einer anmutigen Natur und die Fröhlichkeit eines zechfesten Freundeskreises
beschert hat: dem Heidelberger. In Greifswald das Maien der Jünglings¬
jahre, in Heidelberg ihr Herbsten: als ich auf der alten Neckarbrücke Abschied
nahm, da sank diese Sonne für immer. Es waren so ganz andre Stimmungen,
dort und hier. Und dennoch, so oft Erinnerung mich heimsucht, stehn die
beiden nebeneinander und wollen verglichen sein.
Du armes, stilles Greifswald! Über Heidelberg liegt ein Glanz, eine
Fülle, eine Wärme ohnegleichen gebreitet, gestern und heute und immerdar;
der Glanz, die Fülle, die Wärme einer der mächtigsten Stätten deutschen
Geisteslebens, geweiht auf Schritt und Tritt durch die Größe seiner Ver¬
gangenheit! Heidelberg ist mir wie ein üppiges, reifes Weib, dessen heißer
Zauber auf alle überströmt, die sich ihm nähern; wie man sich eine vornehme
Wienerin denkt, elegant und distinguiert, dabei liebenswürdig und ewig lachend,
und schön, schön, den Vollklang dieses mißbrauchten Wortes ausschöpfend.
Heidelberg, das ist der Süden und der Westen geeint: die südmaiuische Be¬
haglichkeit und die rheinische überströmende Lust. Greifswald? Daneben gleicht
es einem schüchternen Mauerblümchen im anspruchslosen Mnllkleidchen. Sein
Zauber fängt recht zu wirken erst an, wenn man es verlassen hat. Mit
seinen stillen blauen Augen schaut es einem durchs Leben nach. Es hat
etwas von der ungelösten Sehnsucht des Nordens, zu dem sein Meer hinaus¬
weist, und sonst die spröde Schlichtheit deutschen Ostens. Norden, Osten — das
kommt herüber zu mir wie ein ferner, lieber Klang und läßt in der Seele ein leises
Heimweh erzittern.
üblich, endlich — es fehlte nicht mehr viel an halb sechs — tauchte
aus dem Dämmer des Durchgangs ein Strohhut auf, dessen Blumen¬
schmuck die Vermutung wachrief, die kleine Witwe habe sich zur Auf¬
gabe gemacht, zur Erinnerung an ihren herzensguter Mann den
ganzen Rosenflor des Johannis-Friedhofs mit sich herumzutragen.
> Denn daß die Trägerin des Hutes tatsächlich Frau Minna war, bewies
nicht nur das Taschentuch, sondern auch ein blonder Kopf, der noch viel wuscheliger,
und eine Körperfülle, die noch viel blühender und üppiger war, als das Kabinettbild
angedeutet hatte. In der Linken trug sie das Erkennungszeichen, im rechten Arm
einen in Papier gewickelten Gegenstand, den man nach Form und Größe für eine
Literflasche halten konnte.
Sobald Schier das Taschentuch bemerkte, schlüpfte er aus der Ladentür, ent¬
faltete das seine aber wohlweislich erst draußen.
Wenn ich nicht irre, sagte er, die das erstemal mit so schönem Erfolg an¬
gewandte Redensart wiederholend, habe ich die Ehre mit Frau Minna Krause?
Die Witwe blieb stehn, zupfte ihre Bluse zurecht, nahm den eingewickelten
Gegenstand in den linken Arm und bot dem Herrn im besten Mannesalter lachend
die Hand. Man merkte ihr an, daß sie der Situation gewachsen und trotz ihres
unvergeßlichen ersten Gatten unter allen Umständen fest entschlossen war, so bald
wie möglich noch einmal ihren vollen Nacken unter das Joch der Ehe zu beugen.
Aber das ist komisch! sagte sie, Seylers Hand schüttelnd, Sie sehen ganz genau
so aus, wie ich Sie mir vorgestellt hatte! Das ist wohl Ihr Geschäft? Sie musterte
das Lädchen mit kritischen Blicken. Dabei las sie auch die Firma.
Polykarp heißen Sie? fragte sie. Ein drolliger Name! Mein Erster hieß
Oswald. Aber man gewöhnt sich schließlich an alles. Polykarp klingt beinahe wie
Polykrates. Wissen Sie — der Ring des Polykrates. Den hatten wir in unserm
Lesebuch.
Wollen Sie denn nicht näher treten, verehrte Frau? Sie werden allerdings
Gesellschaft finden. Meine Nichte und dann noch eine andre junge Dame — eine
entfernte Verwandte. Der Antiquar konnte seine Verlegenheit doch nicht ganz über¬
winden.
Ja, fuhr er fort, sie kam vor einer guten Stunde und sitzt noch immer im
Laden. Das beste wird sein — ja — das beste ist vielleicht, ich stelle Sie auch als
eine entfernte Verwandte vor, denn sie braucht nicht gleich zu wissen, um was es
sich handelt. Sie haben doch nichts dagegen?
Frau Minna Krause hatte nichts dagegen, und so standen sich die beiden
„entfernten Verwandten" denn gegenüber. Wenn Fräulein Rosalie von Anfang an
nicht schüchtern gewesen war, so war es Frau Minna noch weniger. Vielleicht glaubte
sie es der ihr aufgezwungnen Rolle einer „Verwandten" schuldig zu sein, sich so
unbefangen zu geben, als ob sie seit Jahr und Tag bei Seyler verkehrt habe. Das
wirkte anch auf ihre Rivalin ansteckend, die sonst gewiß so zurückhaltend sein mochte,
wie es der preußische Kronenorden ihres seligen Vaters und der Adel ihrer Gro߬
mutter verlangten, nun aber in der Betätigung verwandtschaftlicher Gesinnungen nicht
hinter der jungen Witwe zurückstehen wollte. Käthchen, die wenig an den Umgang
mit Geschlechtsgenossinnen gewöhnt war, konnte sich eigentlich am wenigsten in die
Situation finden, sie kam gar nicht aus der Verwunderung heraus und verhielt sich
so schweigsam wie möglich.
Für Seyler hatte die Sache zunächst den Reiz der Neuheit. Nicht, daß ihn
der Inhalt des sehr lebhaft geführten Gesprächs gerade gefesselt hätte! Ach nein,
er mußte mehr als einmal nachsichtig lächeln, wenn sich die beiden Damen über
Polichsche Kostüme, Kramersche Binsen und Ahlemannsche Hüte ereiferten oder darüber
stritten, ob Herr Demuth oder Herr Merkel der größere Künstler sei. Dabei lehnte
er an seinem Pult, betrachtete als ein neuer Paris mit Forschermienen unter seiner
Brille hinweg bald die strengen Züge Rosalie-Atheneus, bald die schwellenden Formen
Minna-Heras und suchte eine Gelegenheit zu erwischen, den beiden Kandidatinnen
in xuuczto Literaturkenntnisse ans den Zahn zu fühlen. Als er damit endlich zum
Ziele kam, entpuppte sich Fräulein Rosalie, deren tiefgründigen Seminardrill siebzehn
lange Jahre offenbar nichts hatten anhaben können, als eine Dame von achtung¬
gebietenden pädagogischen Kenntnissen, verbreitete sich wie ein Buch über Pestalozzi,
die Brüder Zeller, Türk, Blochmann und Diesterweg und legte sich mit anerkennens¬
werten Eifer für die Tugend als den Endzweck der Erziehung im Sinne Herbarts
ins Zeug. Dabei versäumte sie nicht, ganz beiläufig andre Gebiete des Wissens zu
streifen und hier und da vielversprechende Perspektiven in die glitzernden Zauberhöhlen
ihrer universellen Bildung zu eröffnen. Daß sie gerade vom klassischen Altertum nur
das Allernotwendigste wußte, du lieber Gott! das war wirklich nicht ihre Schuld.
Ihre Entwicklung war eben in eine Zeit gefallen, wo man die Notwendigkeit des
humanistischen Studiums für das weibliche Geschlecht erst zu ahnen begann.
Frau Minna Krauses literarische Kenntnisse waren andrer Art. Der Quell,
aus dem ihr Wissen sprudelte, waren vierzehn Bände Gartenlaube, und das Drei¬
gestirn, das über ihrer Weltanschauung leuchtete, hieß Marlitt-Heimburg-Werner
oder mit bürgerlichem Namen John-Behrens-Bürstenbinder. Auch der Geist der
Antike war ihr nicht ganz fremd, aber er hatte sich ihr im hochgeschürzten Gewände
der Offenbachschen Muse offenbart, und deshalb verknüpfte sich für sie mit den
olympischen Göttern untrennbar die Erinnerung an Tricots, Perücken, falsche Bärte,
Puder und Schminke,
Für Herrn Polykarp Seyler eröffnete sich hier also ein Feld, auf dem zunächst
gründlich gerötet und dann erst gesät werden mußte. Denn seine Hoffnung, die
Witwe möchte ihn völlig kalt lassen, hatte sich nicht erfüllt, im Gegenteil, es gab
Augenblicke, wo ihre naive Fröhlichkeit den väterlichen Kronenorden, den gro߬
mütterlichen Adel und die Herbartsche Tugend Fräulein Rosaliens in den Schatten
stellte. Ganz allerliebst fand er zum Beispiel, daß Frau Minna nach einem Blick
auf die Uhr erklärte, um diese Zeit pflege sie sonst zu Vespern, ob der Herr Vetter
dritten Grades nicht irgendetwas trinkbares zur Hand habe? Als Seyler daraufhin
seine Nichte bat, drüben in der Kulmbacher Bierstube vier Seidel des braunen
bajuvarischeu Gebräus zu holen, meinte die junge Witwe, ihretwegen möge sich das
Fräulein nicht bemühen, denn das Kulmbacher Bier gefährde ihre Schlankheit, und
wenn man zufällig ein paar Gläser und einen Pfropfenzieher da habe, werde sie
lieber selbst einen Tropfen zum besten geben. Sie habe gerade für ihre Hausapotheke
bei Bruckner und Lampe eine Flasche Maraschino geholt, und da man so jung nicht
wieder zusammenkomme, wolle sie das edle Naß dem Gemeinwohle opfern. Seylers
Einwände ließ sie nicht gelten, suchte vier Trinkgefäße zusammen — die Meißner
Rokokotasse war auch darunter! —, enthüllte die mitgebrachte Flasche und forderte
so gebieterisch einen Pfropfenzieher, daß der Antiquar, der ein solches Instrument
noch von seiner Kocherei her auf dem Pulte liegen hatte, die Waffen streckte. Bald
füllte ein seiner Duft, der an Orangenblüten und bittre Mandeln erinnerte, das
ganze Lädchen, und die Kunden, die von Zeit zu Zeit erschienen, Bücher holten
oder wiederbrachten und den Hinweis auf das „flottgehende Geschäft" glänzend
rechtfertigten, schnoperten umher und warfen erstaunte Blicke in den dd'mmrigen
Winkel, aus dem verhaltues Lachen und das Getuschel weiblicher Stimmen erklangen.
Als das kleine Gelage zu Ende war, schloß Herr Seyler, voll von den Ein¬
drücken des Nachmittags, den Laden, während seine Gäste, noch immer lachend, im
dunkeln Durchgang verschwanden, und Käthchen ein Paar Flundern zum Abendbrot
holte. Trotz alles Nachdenkens konnte er nicht mit sich darüber ins reine kommen,
welche der beiden Damen ihm am besten gefiel. Da gewährte es ihm denn einigen
Trost, daß beide sehr bereitwillig eine Wiederholung ihres Besuchs für den über¬
nächsten Tag in Aussicht gestellt hatten. Vielleicht entschied sich dann, ob ihm vom
Schicksal Fräulein Rosalie oder Frau Minna bestimmt war. Inzwischen wollte er
die Zeit nicht unbenutzt verstreichen lassen und eine Art von Lehrplan ausarbeiten,
mit dessen Hilfe er die beiden Damen zunächst in die Geschichte der römischen
Literatur einzuführen gedachte. Denn auf diesem Gebiete des Wissens — darüber
gab er sich keinen Illusionen hin — waren beide, so verschieden sie sonst auch sein
mochten, gleich schlecht beschlagen, und wenn er schließlich auch nur eine von ihnen
heiraten konnte, so sollte die andre aus der kleinen Episode doch einen Gewinn für
das ganze Leben davontragen.
Wider Erwarten kam die junge Witwe schon am nächsten Tage wieder und
fragte nach, ob sie etwa gestern ihre Handschuhe — hellgraue Glacehandschuhe,
Nummer 5^ — habe liegen lassen. Das war zwar nicht der Fall, aber Seyler
benutzte doch die Gelegenheit, ihr in knappen Zügen ein Bild der römischen Literatur¬
entwicklung im engen Anschluß an die politische Geschichte zu entwerfen und die
fünf Hauptperiodcn kurz zu charakterisieren. Zwischen der zweiten, der Blütezeit der
klassischen Prosarede, und der dritten, durch die Bezeichnung „Augusteische Ära"
genugsam gekennzeichnet, mußte Käthchen Kaffee kochen, ein Getränk, das unser Freund
zur Anregung der Aufmerksamkeit für zweckdienlicher hielt als den bitter-süßen
Maraschino, von dem ein recht bescheidner Rest übriggeblieben und von Frau
Minna zu künftigen Orgien im Lädchen zurückgelassen worden war.
Aber noch ehe der braune Trank in den Tassen dampfte, noch ehe Pnblius
Virgilius Maro Zeit gefunden hatte, in Andes bei Mantua das Licht der Welt
zu erblicken, erschien Fräulein Rosalie Schott, warf ihrer Rivalin einen erstaunten,
nicht gerade liebevollen Blick zu und erkundigte sich, ob Herr Seyler ihr nicht eine
gute deutsche Übersetzung des Horaz leihen könne. Sie müsse zu ihrer Schande
bekennen, daß sie von diesem Dichter bisher noch keinen Vers gelesen habe.
Wenn unser Freund drei Minuten vorher nahe daran gewesen war, sich für
die junge Witwe zu entscheiden, so neigte sich sein Herz jetzt in heißer Liebe Fräulein
Rosalie zu, bei der das Interesse für das klassische Altertum in so unerwartet schöner
Weise zutage trat. Die gewünschte Übersetzung hatte er zwar nicht, aber er traute
sich die Fähigkeit zu, die Horazischen Oden aus dem Lateinischen gleich in eine
Poetisch gehobne deutsche Prosa zu übertragen, und versprach sich von dem lebendigen,
von echter Begeisterung inspirierten Worte eine ganz andre Wirkung, als von einer
gedruckten Übersetzung, die irgendein alles poetischen Empfindens barer Philologe
in sklavischen Anschluß an das Versmaß des Originals zusammengestoppelt hatte.
Aber ehe er dazu kam, mußte er dem Fräulein den einleitenden Vortrag halten,
den die Witwe schon über sich hatte ergehen lassen, und dessen zweite Hälfte dann
beide, Damen gemeinsam genießen sollten. Da aber Frau Minna keine Miene
machte, das Feld zu räumen, und ebensowenig geneigt schien, die beiden ersten
Perioden der römischen Literatur noch einmal zu durchleben, blieb Herrn Polykarp
nichts weiter übrig, als seine Lektion für heute abzubrechen und Fräulein Rosalie
zu bitten, am nächsten Tage eine Stunde früher zu erscheinen.
Aber, wie es so häufig geschieht: der Eifer des Lehrers war größer als der
der Schülerinnen, und wenn sie sich auch täglich pünktlich einstellten, so taten sie
es doch mehr in der Absicht, einen möglichst günstigen Eindruck auf den Besitzer
des flottgeheudeu Geschäftes zu machen, als den Schatz ihres Wissens zu bereichern.
Wenn jemand das Spiel der beiden heiratslustigen Damen hätte durchschauen
können, so wäre es Käthchen gewesen, aber diese war mit ihren eignen Angelegen¬
heiten jetzt lebhafter als je beschäftigt. Sie hatte nämlich von der Mutter ihres
Bräutigams einen Brief erhalten, worin diese sie einlud, so bald wie möglich zu
ihr aufs Land hinaus zu ziehen, damit mau sich vor der Hochzeit, die im Spät¬
herbste gefeiert werden sollte, doch gegenseitig erst genauer kennen lernen könne.
Was mußte da nun noch alles geordnet und erledigt werden! Der Tag der Abreise
stand nahe bevor, aber immer noch bedürfte die Garderobe einer Ergänzung, und
das junge Mädchen, das sich wie ein Kind darauf freute, endlich in Luft und Licht
und Freiheit hinauszukommen, war Tag und Nacht in Sorge, ob die Schneiderin
auch Wort halten, und ob das Wäschegeschäft das in Auftrag gegebne Weißzeug
auch rechtzeitig liefern werde. Ein wahres Glück nur, daß der Onkel kein Knauser
war und ihr aus seiner Kasse, in der jetzt immer Hochflut herrschte, reichliche Bar¬
mittel zur Verfügung stellte! ^ .
Wenn er erst selbst so weit gewesen wäre wie seine junge, in «Seligkeit
schwimmende Nichte! Wenn er sich erst darüber klar gewesen wäre, ob sein Herz
für Fräulein Rosalie oder für Frau Minna schlug! Ach es war so schwer, so schwer
die Wahl zu treffen, doppelt schwer, weil beide Damen so grundverschieden und
deshalb eigentlich gar nicht miteinander zu vergleichen waren! Als Käthchen ihre
Reise antrat, bat er sie, ihm offen und ehrlich zu bekennen, welche von beiden ihr
°in meisten gefiele Aber Käthchen fand alle beide, jede in ihrer Art „ganz nett",
sei es, weil sie die Verantwortung für eiuen entscheidenden Schritt des Onkels
nicht übernehmen wollte, sei es, weil ihr weder die eine noch die andre ihrer
präsumtiven Tanten so recht gefiel. Als sie weg war — draußen in Licht, Luft und
Freiheit! —verfiel der Onkel auf einen Ausweg, der nach feiner Überzeugung mit
absoluter Gewißheit aus dem Labyrinth des Zweifels zu einem endgiltigen Entschlüsse
führen mußte: er nahm, wenn die Damen auf ihrem Nachmittagsstammplatz hinter
dem breiten Stehpult saßen, jeden Kunden, der in den Laden trat, und bei dem
er einigen Geschmack voraussetzen durfte, beiseite, machte ihm kurze Andeutungen
über seine verzwickte Lage und bat ihn, einen Blick über das Pult zu werfen und
ihm dann ohne Rückhalt zu sagen, welche er an seiner Stelle heiraten würde. Die
Antworten, die er erhielt, lauteten in bunter Abwechslung: „die blonde", „die
dunkle", „die dürre", „die dicke", „die vergnügte", „die ernste", und so stellte sich
denn aus der Praxis die Notwendigkeit heraus, eine Liste mit zwei Rubriken an¬
zulegen, in deren erster unter dem Kopfe „M" alle Stimmen verbunst wurden, die
auf die blonde, die dicke und die vergnügte fielen, während die zweite mit dem
Kopfe „R" die Vota vereinigte, die zugunsten der dunkeln, der dürren und der
ernsten gesprochen wurden. Seyler hatte sich vorgenommen, dieses Verfahren bis zum
Ende des Monats fortzusetzen und dann auf Grund seiner Statistik seinen längst
formulierten Antrag an die zu richten, die aus der kleinen Wahlkampagne mit ein¬
facher Stimmenmehrheit hervorgehen würde. Als nun der einunddreißigste gekommen
war, holte er die Liste hervor, addierte beide Kolumnen und fand — daß jede
achtundfunfzig Stimmen auf sich vereinigte.
Nun war er wieder so klug wie zuvor. Er tröstete sich damit, daß eine von
beiden endlich die Geduld verlieren und von selbst wegbleiben werde. Aber er hatte
dabei weder mit der Ausdauer heiratslustiger Damen noch mit der Wirksamkeit
seines Zaubermittels gerechnet, das mit seiner wunderbaren magnetischen Kraft nicht
nur Bücher, Geld und Kunden, sondern auch die beiden Heiratskandidatinnen in das
Lädchen zog. Wie stark dieses Mittel war, das hätte ihm zum Bewußtsein kommen
müssen, als kaum acht Tage nach ihrer Abreise auch die Nichte wieder anlangte und
reuigen Sinnes erklärte, sie habe es da draußen in dem geräumigen, kahlen Herren¬
hause, auf den sonnenbeschienenen Stoppelfeldern und in der schrecklichen Untätigkeit
nicht länger aushalten können und wäre vor Sehnsucht nach dem gemütlichen engen
Gewölbe, dem anheimelnden Dämmerlicht und dem geliebten Zettelkatalog beinahe
gestorben.
Während Katheders Abwesenheit hatte Seyler die beiden Damen nicht mit
Kaffee bewirtet, sondern mit Rüdesheimer, den er sich aus einer benachbarten Wein¬
handlung hatte schicken lassen. Die Flasche kostete fünf Mark, aber was wollte das
sagen, wo sich die Ladenkasse gleichsam immer wieder von selbst füllte! Nun blieb
man beim Wein, denn es hatte sich herausgestellt, daß er den Lerneifer und das
Auffassungsvermögen der Schülerinnen in geradezu wunderbarer Weise beeinflußte.
Oder kam es dem Manne nur so vor, der verklärten Antlitzes an seinem Stehpult
lehnte und mit echt dichterischer Begeisterung die großen Poeten des Altertums
verdeutschte, während seine ZuHörerinnen schweigend dasaßen, sich verstohlne Blicke
zuwarfen oder über den Rand des grünen Römers, in dem der edle Wein perlte
und duftete, den seltsamen Rhapsoden halb belustigt, halb gelangweilt betrachteten?
Bei alledem verschloß sich Herr Polykarp Seyler keineswegs der Erkenntnis,
daß er so nicht zum Ziele komme. Die beiden Göttinnen mußten um den Paris¬
apfel ringen, nicht im Pentathlon körperlicher Stärke und Geschicklichkeit, sondern
im Wettkampf geistiger Kräfte. Eines Tages fanden sie auf ihrem Stammtische im
Ladenwinkel neben den Römern zwei antiquarische Exemplare einer lateinischen
Schulgrammatik und vernahmen aus Seylers Munde, in den Geist der klassischen
Literatur vermöge nur der völlig einzudringen, der zum mindesten die lateinische
Sprache beherrsche. Er habe sich deshalb entschlossen, ihnen lateinischen Unterricht
zu erteilen, und bäte sie, die Bücher freundlichst anzunehmen und fleißig zu benutzen.
Bei einigem Eifer würden sie dann binnen einem Jahre imstande sein, die leichtern
Autoren fließend zu übersetzen und sich, wenn auch nicht in der Sprache Ciceros,
so doch in der der Neulateiner, korrekt und verständlich auszudrücken. Im stillen
fügte er noch hinzu: Wer es zuerst dahin bringt, ein kleines lateinisches Gespräch
ohne grobe grammatische Schnitzer zu führen, wird geheiratet.
Die beiden Kandidatinnen seufzten und blätterten mit verhaltnen Gähnen in
den ziemlich abgegriffneu Büchern, denen man es ansah, wie wenig liebevoll sie
von ihren frühern Besitzern behandelt worden waren. Seyler begann seinen Vortrag,
ließ seine etwas widerwilligen Schülerinnen Zusätze an den Rand der Seiten schreiben
und überflüssige Ausnahmen wegstreichen, wurde aber durch den beinahe ununter-
brochnem Besuch von Kunden so oft gestört, daß er mehr als einmal seinen Faden
verlor und in einen Zustand der Gereiztheit und Nervosität geriet, der ihm bisher
gänzlich fremd gewesen war.
Das wiederholte sich nun jeden Tag. Die Damen lernten zwar ihre Lektionen,
aber sie schienen den Unterricht mehr als einen scherzhaften Zeitvertreib zu betrachten
und ließen sich durch jeden geringfügigen Zwischenfall ablenken. Da bemächtigte sich
unsers Freundes wieder ein ähnlicher Haß gegen jeden, der in der Absicht, ein Buch
zu kaufen, das Leibchen betrat, wie ehedem, wo er in jedem Kunden einen persön¬
lichen Feind gesehen hatte. Nein, dieses ewige Aus- und Eingehen mußte aufhören!
Was hatte er davon, daß die Goldstücke in der Schieblade des Empireschreibtisches
haufenweise lagen, daß die Bücher in den Regalen keinen Platz mehr fanden und
in hohen Stößen auf die Dielen aufgestapelt werden mußten, wenn er seine Ge¬
sundheit, seinen Seelenfrieden, die heitere Gelassenheit seines Gemüts dabei zusetzte!
Was nützte es, daß Frau Minna über eine ungewöhnliche Auffassungsgabe verfügte,
daß Fräulein Rosalie ein wunderbares Gedächtnis hatte, wenn sie sich durch die
schiefsitzende Kravntte des Herrn Geheimrath Stengel und durch die Harmonikahosen
des Herrn Professors Wernicke so aus der Fassung bringen ließen, das sie äomus
als Maskulinnm behandelten!
Und der Haß. den der Antiquar gegen die Kunden hegte, fraß wie der Rost
auf einer blanken Klinge immer weiter um sich und dehnte sich auf den seligen
Beireis aus, der so viel Zeit und Mühe auf die Erfindung der unseligen chemisch¬
magnetischen Salbe verwandt hatte. Es war ein wahres Glück, daß der Vorrat der
silbergrauen Mixtur bis auf einen ganz kleinen Rest erschöpft war. Mit dem wollte
unser Adept noch einmal — zum letztenmale! — die Schwelle bestreichen, dann aber
für alle Zeit auf ein Mittel verzichten, das ihm zwar Geld und Gut gebracht, dafür
aber auch die Ruhe seines Lebens geraubt hatte. Für alle Zeit? Nun, das war
ja nicht gerade nötig. Aber doch für ein paar Monate, wenigstens so lange, bis
seine Schülerinnen die unregelmäßigen Verden bewältigt hatten. In der Laden¬
kasse mochte getrost einmal Ebbe eintreten, die Regale mochten sich leeren, es lag
ja in seiner Hand, jeden Tag den Goldstrom wieder in das Lädchen zu leiten, denn
er besaß ja das Rezept und von den meisten der Ingredienzien noch mehr oder
minder bedeutende Vorräte.
Von nun an hatte er ein wachsames Auge auf die Türschwelle und beob¬
achtete mit Genugtuung, wie der schmale silbrige Streif, den er an dem Abend
gezogen hatte, wo der Entschluß, auf die rätselhafte Naturkraft freiwillig zu ver¬
zichten, in ihm gereift war, unter den Sohlen der Besucher langsam verschwand.
Immerhin vergingen etwa acht Tage, ehe die letzte schwache Spur gänzlich getilgt
war. Und wunderbar, schon das Bewußtsein, von dem unheilvollen Zauber erlöst
zu sein, gab ihm den Frieden seiner Seele zurück! Wie er einst, am Morgen nach
jener Gewitternacht, mit Sehnsucht auf einen Kunden geharrt hatte, an dem er die
Wirksamkeit seines Dekokts erproben wollte, so wartete er jetzt auf einen Bücher¬
käufer, der durch sein Nimmerwiederkehren den Beweis erbringen sollte, daß der
Bann, der auf dem düstern Gewölbe lag, gebrochen sei.
Aber er mußte lange warten. Die Leute, die Reichenbachs Hof passierten,
blieben zwar vor dem Schaufenster stehn, betrachteten sich die Hogarthschen Stiche
und die französischen Reiterpistolen, lasen auch die Prendelschen Bekanntmachungen
und studierten die Titel der vergilbten Bücher, aber dann gingen sie weiter. Und
doch waren manche darunter, die erst vor zwei oder drei Tagen im Laden gewesen
waren und irgend etwas von Seylers Schätzen käuflich erworben hatten. Das war
ein gutes Zeichen. Gegen Mittag kam ein Gymnasiast, offenbar ein strebsamer
Primaner, und verlangte aus dem Schaufenster Brambachs metrische Studien zu
Sophokles. In der Freude seines Herzens nahm der Antiquar nur eine Mark
dafür, obwohl er das Buch vor Jahr und Tag selbst doppelt so teuer bezahlt
hatte. Der Jüngling ging mit seinem Brambach von dannen und ward nicht mehr
gesehn. Wäre die chemisch-magnetische Kraft noch wirksam gewesen, so würde das
Büchlein spätestens am dritten Tage wieder in Seylers Hände zurückgelangt sein.
Die Freude unsers Freundes wurde jedoch nicht wenig durch die ebenso plötz¬
liche wie merkwürdige Veränderung getrübt, die mit Knieheben vor sich gegangen
war. Sie saß jetzt meist untätig vor ihrem Zettelkatalog, verwechselte, wenn sie
wirklich einmal eine Offerte aufschrieb, die Rubriken „Gesuchte Bücher" und „An¬
gebotene Bücher" und erklärte, als der Onkel sie nach der Ursache ihrer seltsamen
Gemütsverfassung fragte, sie könne gar nicht begreifen, weshalb sie neulich sobald
schon von ihrem Besuche bei den künftigen Schwiegereltern zurückgekehrt sei. Es
sei da draußen auf dem Lande eigentlich doch viel schöner gewesen als hier in der
Stadt und ganz besonders in Reichenbachs Hof und der schrecklichen engen Bude
— sie sagte wirklich „Bude", ein Wort, das dem Onkel ins Herz schnitt —, wo
man weder Luft noch Licht habe, und wo sich einem der müssige Bücherduft so
schwer auf die Brust lege, daß man gar nicht recht atmen könne. Und was müßten
Doktor Waetzolds Eltern von ihr gedacht haben! Sie hätten sie doch so liebevoll
aufgenommen, ihr das schönste und geräumigste Zimmer zur Verfügung gestellt, ihr
zu Ehren jeden Mittag eine süße Schüssel auftragen lassen und Nachmittags mit
ihr Ausflüge zu Wagen gemacht, und trotz alledem habe sie die Taktlosigkeit
begangen, fortwährend von ihrem Heimweh nach Leipzig zu reden, und nachdem
sie kaum sechs Tage die Gastfreundschaft der guten Menschen genossen, ihren Koffer
zu packen und wieder abzureisen. Sie müsse jetzt unbedingt einen Brief schreiben,
Waetzolds um Verzeihung bitten und fragen, ob sie wiederkommen dürfe, denn das
lächerliche Heimweh habe sie jetzt völlig überwunden.
Seyler hörte kopfschüttelnd zu, hatte aber nichts dagegen einzuwenden, daß
die Nichte den Brief schrieb und abschickte. Die Antwort ließ nicht lange ans sich
warten, siel jedoch nicht ganz so aus, wie Käthchen gehofft hatte. Man freue sich,
so schrieb die alte Dame, daß das Bräutchen ihres geliebten Sohnes so bald zur
Einsicht gekommen sei, und erwarte ganz bestimmt eine Wiederholung ihres Besuches,
dann aber für längere Zeit. Man müsse sie jedoch bitten, nicht vor dem 15. Sep¬
tember zu kommen, denn man stehe im Begriff, für einige Tage nach Magdeburg
zur landwirtschaftlichen Ausstellung und von da zu einer silbernen Hochzeit nach
Celle zu reisen. Wenn man aber dort einmal in der Gegend sei, so könne man
nicht umhin, verschiedne Verwandte, die in der Nachbarschaft auf Gütern säßen, zu
besuchen, und so werde die zweite Septemberwoche herankommen, bevor man wieder
zu Hause und in der gewohnten Ordnung sei. Das war nun freilich bitter, denn
Käthchen hätte am liebsten Laden und Onkel und Bücher im Stiche gelassen und
wäre Hals über Kopf wieder in die Luft, in das Licht und in die Freiheit hinaus¬
gezogen, nach denen sie jetzt eine doppelte Sehnsucht verspürte.
Herrn Polykarp Seyler wurde Plötzlich klar, daß die Wandlung in Katheders
Wesen nur mit der ausgehöhlten Kraft in Verbindung stehn könne, deren Wirk¬
samkeit sich ja nach Beireis eignen Angaben auch auf Menschen erstreckte. Sollte
damit etwa auch zusammenhängen, daß seine beiden Schülerinnen jetzt bei weitem
nicht mehr mit der gewohnten Regelmäßigkeit und Pünktlichkeit kamen? Allerdings
setzte er ihnen seit einigen Tagen keinen Rüdesheimer mehr vor, sondern begnügte
sich damit, sie wieder mit Kaffee zu bewirten, denn daß nun in der Ladenkasse
wirklich die ersehnte Ebbe einzutreten begann, machte ihm mit einemmale Sorgen
und veranlaßte ihn, sich in der Tugend der Sparsamkeit zu üben, aber des Weines
halber waren die Damen — davon glaubte er fest überzeugt sein zu dürfen —
doch auch früher nicht gekommen. Jetzt fehlte bald Fräulein Rosalie, bald Frau
Minna bei den gemeinsamen Lektionen, und dabei ließen sie sich immer deutlicher
merken, daß ihnen das Studium keineswegs so amüsant erscheine, wie er wohl
glaube.
Eines Tages machte die junge Witwe die nicht mißzuverstehende Andeutung,
daß bei der ganzen Lernerei Herr Seyler das Vergnügen, sie aber und Fräulein
Rosalie die Arbeit hätten, und daß sie für ihre Mühe doch eigentlich eine kleine
Entschädigung verdienten. Und dann fuhr sie mit einem vielsagenden Blicke fort,
ihre einzige Leidenschaft sei das Theater.
Der Antiquar war kein Unmensch. Er lächelte nachsichtig und sagte, jede auf
ernste Studien gerichtete Mühe trage ihren schönsten Lohn in sich selbst, trotzdem
wolle er den Damen, wenn am nächsten Tage in der dritten Konjugation alles
klappe, eine Überraschung bereiten, für die sie ihm sicherlich dankbar sein würden.
Und als dann bei der nächsten Stunde wirklich alles klappte, holte er die Komödien
des Terenz hervor, sprach einige orientierende Worte über die Bühne der Alten
und übersetzte aus dem Stegreife „Das Mädchen von Andros", ein Stück, das
er für die Blüte des Humors und für die Krone aller Lustspiele erklärte.
Frau Minna seufzte und rückte mit seltsamer Ungeduld auf ihrem Stuhle hin
und her. Mitten im Monolog des Davus erhob sie sich, bemerkte, sie müsse heute
zeitiger nach Hause, da sie beim Birneneinmachen sei, und verließ mit kühlem Gruße
den Laden. Seyler brach seine Vorlesung ab, fand es unbegreiflich, daß man bei
einem so feinen Wortspiele, wie der Vers Ma iuvsxtio sse Ä,ro.Mtwm,, Kana
aus.iitwiQ sei, an häusliche Verrichtungen denken könne, und vertröstete Fräulein
Rosalie, die des Trostes gar nicht einmal so bedürftig war, wegen der Fortsetzung
der Terenzlektüre auf den nächsten Tag.
Da trat etwas völlig unerwartetes ein: Frau Minna Krause schrieb auf einer
Postkarte, sie bedaure lebhaft, in Zukunft auf das Kaffeestündchen in Herrn Seylers
Laden verzichten zu müssen, da sie sich entschlossen habe, auch noch größere Vorräte
von grünen Bohnen, Steinpilzen und Preißelbeeren einzumachen, die in diesem Jahre
außerordentlich wohlfeil seien. Als gute Hausfrau halte sie es für ihre Pflicht,
diesen Umstand auszunutzen, denn man könne nicht wissen, ob eine so günstige
Gelegenheit bald wiederkehre. Die lateinische Schulgrammatik habe sie gestern
gleich im Laden liegen lassen, Herr Seyler werde sie rechts von dem Empire¬
schreibtisch, im untersten Fache, wo die leeren Weinflaschen stünden, wiederfinden.
Sie danke auch vielmals für seine Bemühungen um die Vervollkommnung ihrer
Bildung und lasse sich Fräulein Käthchen und Fräulein Rosalie aufs schönste
empfehlen.
Und dabei hat sie noch keine Ahnung von der vierten Konjugation! sagte
Herr Polykarp, nachdem er sich vom ersten Schrecken einigermaßen erholt hatte.
Bei sich aber dachte er: Gut! Mag sie wegbleiben! Wer bei der Andria des
göttlichen Karthagers an grüne Bohnen, Steinpilze und Preißelbeeren zu denken
fähig ist, dem sind die Musen Stein!
(Schluß folgt)
Endlich scheint „Europa", das so oft angerufne und ersehnte Europa, als
eine Art von einheitlichem Körper wirklich da zu sein. Das Gleichgewicht der
großen Mächte — die kleinern Staaten sind aus der Weltpolitik so gut wie aus¬
geschaltet — macht sich so energisch geltend, und die Gefahren eines europäischen
Krieges find so ungeheuer, daß kein Staatsmann einen solchen riskieren mag, trotz
oder vielmehr wegen der riesigen Streitkräfte zu Land und See, von denen der
Erdteil starrt. Was kein Vertrag und kein Friedenskongreß jemals zustande ge¬
bracht hat, das haben die militärischen Kraftentfaltungen geleistet, und das alte
lateinische Sprichwort: 8i vis xaosm, x^rg. hönnen ist in ungeahnter Ausdehnung
zur Wahrheit geworden. Dazu kommt etwas andres. Seitdem Italien und
Deutschland, die jahrhundertelang die Schlachtfelder und die Siegespreise für die
Kriege ihrer Nachbarn abgegeben hatten, sich als geschlossene Nationalstaaten kon¬
stituiert haben, ist die äußere politische Entwicklung Europas in der Hauptsache
auf Grund des Nationalitätsprinzips zu einem Abschluß gelangt, an dem kein
Krieg etwas Wesentliches mehr ändern könnte. Nur da, wo die Nationalitäten
zu sehr dnrcheinandergeschoben sind, haben sich nationale Staatengebilde als un¬
möglich erwiesen. Den Anfang zur heutigen Ordnung der Dinge bildete der
mitteleuropäische Dreibund. Das an sich unnatürliche französisch-russische Einver¬
ständnis sollte ihn gewissermaßen ausbalancieren und im französischen Sinne die
„Revanche" für 1870 vorbereiten. Doch tatsächlich legte er Frankreich, das sich
allein zu einer solchen immer unfähiger fühlte, an die Kette, da die russische
Politik, so deutschfeindlich sie unter Alexander dem Dritten auch war, die Front
mehr und mehr nach dem fernsten Osten kehrte und trotz der schönen Redensart,
der Weg nach Konstantinopel führe durch das Brandenburger Tor, kein wirkliches
Interesse an der Schwächung Deutschlands hatte. Der japanische Krieg und seine
Folgen machten für Rußland jede aggressive Politik nach außen vollends unmöglich.
Dafür spitzte sich der zunächst wirtschaftliche Gegensatz zwischen Deutschland und
England, zumal da die Stimmung der Engländer durch die unverständige Partei¬
nahme eines großen Teils der deutschen Presse für die von ihr idealisierten
Buren noch gereizter wurde, so zu, daß ein kriegerischer Konflikt nicht ausgeschlossen
schien, und das englisch-französische Einverständnis, die „Erdeulen", in die Eng¬
land außerdem mit allen möglichen Mächten trat, die vielen Reisen König Eduards,
das ganze völlig ungewohnte starke persönliche Hervortreten des englischen Monarchen
als des eigentlichen Leiters der auswärtigen Politik Großbritanniens wurden be¬
kanntlich ziemlich allgemein mit einer gegen Deutschland gerichteten „Etnkreisungs-
politik" in Verbindung gebracht, bedeuteten jedenfalls, daß England aus seiner
lange beobachteten Zurückhaltung gegenüber den festländischen Verhältnissen ent¬
schieden heraustrete und auch an der europäischen Politik einen maßgebenden
Anteil zu nehmen entschlossen sei. Hat jene Einkreisungsabsicht jemals bestanden,
so ist sie aufgegeben, und selbst der gefürchtete englische Abrüstungsantrag, der ein
Vorgehen gegen Deutschland einleiten konnte, ist an die Friedenskonferenz im Haag
offenbar nur noch aus Anstandsrücksichten und in einer so harmlosen Form gelangt,
daß er tatsächlich gar nichts bedeutete und ohne jede Aufregung in der Versenkung
verschwand. Die Empfindung für die Solidarität der europäischen Kulturvölker
ist eben so stark geworden, daß sie, mag auch hier und da, vor allem in englischen
Blättern, wie zum Beispiel in unsrer alten guten Freundin, der Mtioual Rovis^,
die Hetze gegen Deutschland fortdauern, jeden Gedanken, Gegensätze zwischen den
einzelnen Staaten mit den Waffen zu entscheiden, ausschließen. Wie dies in einer
Reihe von Monarchenbegegnungen während dieses denkwürdigen August, in Swine-
münde, Wilhelmshöhe und Ischl, zum Ausdruck gekommen ist, so haben diesen Ver¬
ständigungsaktionen in diesen Tagen die Ministerzusammenkünfte auf dem Semmering
zwischen Aehrenthal und Tittoni und auf Norderney zwischen Fürst Bülow und
dem französischen Botschafter Cambon in Berlin sowie die Begegnung König
Eduards mit dem französischen Ministerpräsidenten Clemenceau in Marienbad das
letzte Siegel aufgedrückt. Kein Zweifel: alle Mächte wollen heute ehrlich den
Frieden und sind entschlossen, dort, wo die Verhältnisse noch nicht fest konsolidiert
sind, gemeinsam vorzugehu und sich wegen verhältnismäßig untergeordneter An¬
gelegenheiten nicht zu entzweien.
Schon seit längerer Zeit sind die dort interessierten Mächte, Österreich, Ru߬
land, England, Frankreich und Italien, gemeinsam tätig, um in dem vielgeplagten,
national und religiös so zerrissenen alten Mazedonien eine leidliche Ordnung herzustellen,
ohne die Souveränität des Sultans anzutasten. Denn nach den Erfahrungen der
letzten dreißig Jahre denkt kein verständiger Politiker in Europa mehr daran, daß
eine der Nationen auf der Balkanhalbinsel dazu berufen sein könnte, dort an Stelle
der Türken die Hegemonie zu übernehmen, oder daß die nach ihrer Befreiung
untereinander fortwährend hadernden und in Mazedonien einander mit Brand und
Mord bekämpfenden Völker jemals eine freie Konföderation bilden könnten. Wie
sollten Nationen von so verschiedner Abstammung, Sprache und Kultur, wie Griechen,
Bulgaren, Serben und Albanesen, das jemals fertig bringen, nachdem die kirchliche
Einheit, die die meisten von ihnen unter dem Patriarchat von Konstantinopel jahr¬
hundertelang unter türkischer Herrschaft gebildet hatten, durch die „autokephalen"
Nationalkirchen aufgelöst worden ist. Heute ist die Aufrechterhaltung des türkischen
Reichs in seinem geschmälerten Umfange auf Grund des Berliner Friedens von
1878 einschließlich der Oberhoheit des Sultans über Bulgarien, dessen etwaige
ehrgeizige Bestrebungen weder in Wien noch in Petersburg Unterstützung fänden,
ein europäisches Gesamtinteresse, denn nur so ist die „friedliche Durchdringung", die
psiMration xaoik<zus, des immer noch gewaltigen Reichs, an der Deutschland einen
so hervorragenden Anteil nimmt, überhaupt möglich. Dahin gehört auch die
„Pazifikation" Mazedoniens durch finanzielle und juridische Reformen unter der Ge¬
samtaufsicht der Großmächte und durch europäische Beamte, aber unter der Autorität
der Pforte, in deren Dienste der Chef der neuen mazedonischen Polizei, der italienische
General de Giorgis, ebenso gut steht wie seinerzeit die deutschen Offiziere, die die
türkische Armee so trefflich organisiert haben. Den in Frankreich, von der Ksvus
ciss vsux Nonciss, kürzlich geäußerten Verdacht, Italien möge den Ehrgeiz haben,
in Mazedonien einen seiner Prinzen als Gouverneur einzusetzen, der schließlich das
Oberhaupt eiuer Balkankonföderation werden könne, weist ein dortiges führendes
Organ, die Mova L.meo1oAia vom 15. August, mit aller Schärfe zurück; keine italienische
Regierung werde jemals dafür Zustimmung im Lande finden, kein Prinz des Hauses
Savoyen werde ein so unglückliches Unternehmen (wlÄusta iinxrssa,) unterstützen; Italien
erstrebe auch dort weiter nichts, als im Einklang mit den andern Mächten vorzugehn,
vor allem mit der ihm benachbarten und Verbündeten Großmacht, mit Österreich.
Auf eine härtere Probe könnte das europäische Einvernehmen in Marokko ge¬
stellt werden, wenn nicht die Algecirasakte existierte. Freilich gefallen sich einige
deutsche Blätter immer noch darin, zum Ruhm ihres Vaterlandes, in der Algeciras¬
akte eine Niederlage Deutschlands zu sehen, eine grundlose, geradezu lächerliche
Behauptung, die dadurch nicht richtiger wird, daß sie immer wiederholt wird. Bei¬
läufig bemerkt: wenn zuweilen bitter geklagt wird, daß die deutsche Presse bei unsern
Regierenden zu wenig Achtung fände, so mag sie doch erst dafür sorgen, daß
wenigstens alle ihre größern Organe soviel Sachkenntnis, Nationalstolz und poli¬
tischen Takt zeigen, wie sie der englischen und französischen Presse längst eigen sind,
die solche Achtung genießt. Doch das nebenbei. Jetzt kann in Marokko keine
europäische Macht auf eigne Hand vorgehn, sie muß sich bei jedem Schritt des
Einverständnisses mit den übrigen beteiligten Mächten versichern. So hat Frank¬
reich gehandelt, als es wegen der Ermordung von zehn französischen und italie¬
nischen Technikern und Arbeitern die Hafenstadt Casabianca zusammenschoß und
besetzte. Allerdings, die Art des Vorgehns war, wie sich aus den neuesten Berichten
ergibt, so unüberlegt und brutal, daß sie den Fanatismus der benachbarten Stämme
erweckte, und daß sich die kleine französische Abteilung, die jetzt die Stadt hält,
beständig heftigen Angriffen ausgesetzt sieht; ja schon ist ein neuer Sultan, Muley
Hafid, proklamiert, der vielleicht den „heiligen Krieg" gegen die Ungläubigen
predigt, die Ausländer wollen Fez verlassen und fühlen sich auch in den Küsten¬
städten nicht mehr sicher, der Handel aber ist dort auf lange Zeit hinaus ruiniert,
zum schweren Schaden auch der deutschen Kaufleute. Doch was dort auch sonst
noch geschehn mag, Frankreich hat keinen Zweifel darüber gelassen, daß es nichts
weiter will, als mit Spanien zusammen nach der Algecirasakte in den Hafenstädten
die Ordnung sichern, aber an Eroberung nicht denkt, kein zweites Algier aus
Marokko zu machen beabsichtigt, was ja bei der Tapferkeit dieser stolzen, niemals
unterworfnen Stämme ein ganz unabsehbares Unternehmen wäre, und das übrige
Europa denkt ebensowenig daran, die Franzosen an der Erfüllung einer freiwillig
übernommnen Aufgabe zu hindern; es läßt ihnen den Vortritt, und keine andre
Macht hat bis jetzt auch nur Kriegsschiffe zum direkten Schutze ihrer Untertanen
dorthin geschickt, selbst England nicht, das es doch von Gibraltar aus so nahe hätte.
Das ist die Frucht der vielverspotteten Algecirasakte; ohne sie würde heute die
Rivalität der beteiligten Mächte sofort hervorbrechen und wahrscheinlich den euro¬
päischen Frieden gefährden. Und doch ist es gerade aus diesem heißen Boden höchst
bedeutsam, daß Europa dem islamitischen Fanatismus geschlossen gegenübertritt.
Was ein Kolonialkrieg zu bedeuten hat, das haben wir selbst in Südwestafrika
erfahren. Leider ist es nicht ausgeschlossen, daß das Kriegsfeuer im Süden der
Kolonie wieder aufflackert, da am 13. August Morenga, der schlaueste und gefährlichste
Bandenführer der Hottentotten, dem die Kapregierung ein Asyl gewährt hatte, statt
ihn an Deutschland auszuliefern, und ohne ihn auch nur gehörig zu überwachen,
die deutsche Grenze mit einigen hundert Mann überschritten hat. Zum Glück
stehen diesmal die Dinge für uns weit günstiger als 1904. Zunächst verfügen
wir jetzt über etwa 6000 Mann schlagfertiger und landeskundiger Truppen, die
sich allmählich gegen Morenga zusammenziehen, und wenigstens über einen großen
Teil der Eisenbahnlinie Lüderitzbucht-Keetmanshoop als unentbehrliche Zufnhr-
straße; sodann ist uns die Haltung der lapländischen wie der englischen Regierung
jetzt freundlich, während vorher das Gegenteil der Fall war; sie sind bereit, mit
uns gegen den Bandenführer zusammenzuwirken, und so wird die treffliche kap-
ländische Grenzpolizei hoffentlich helfen, ihn möglichst rasch unschädlich zu machen.
Sicherlich freilich stehn uns wieder Unannehmlichkeiten und Verluste aller Art
bevor. Das eine Gute hat indessen doch die schlimme Sache: sie führt nachträg¬
lich den kurzsichtigen Antrag des Zentrunis, unsre südwestafrikanischen Truppen
möglichst schnell auf 2500 Mann zu vermindern (aus Sparsamkeitsrücksichten!), in
der beschämendsten Weise absuräurn und zeigt unwiderleglich, wie notwendig
die Auflösung des Reichstags am 13. Dezember v. I. war. Mit dem alten Reichs¬
tage hätten wir Südafrika schimpflich verloren.
„Die Kolonialpolitik beherrscht zur Zeit die Welt", so hat auf dem inter¬
nationalen Sozialistenkongreß in Stuttgart sogar der holländische Delegierte van Kot
bekannt, und er hat es den deutschen Sozialdemokraten zum herben Vorwurf
gemacht, daß sie sich gar nicht um die Kolonialpolitik kümmerten, nichts davon
verstünden, auf diesem Gebiete ihre Schuldigkeit nicht getan hätten, während nun
wieder ihre angeblich schlaffe Haltung gegenüber dem „Militarismus" die scharfe
Kritik der französischen AntiMilitaristen herausforderte. In Summa: die deutschen
Sozialdemokraten erschienen den „Genossen" aus den politisch ältern und reifern
Völkern als reaktionäre Utopisten und Dogmatiker, was sie sind, und sie bewährten
auch diesmal ihren alten schimpflichen Ruhm, in einem Grade vaterlandslos und
antinational zu sein wie in keinem andern Lande. Hat doch Bebel selbst offen
geäußert, wenn er die Wahl habe zwischen der französischen Republik und der
deutschen Monarchie, so werde er keinen Augenblick zweifelhaft sein. Und das ist
die Monarchie, die für die handarbeitenden Klassen unendlich mehr getan hat als
das parlamentarische England oder das republikanische Frankreich! Mit einer solchen
Partei unter keinen Umständen politisch zu paktieren, sollte jede nationale Partei
für eine einfache Anstandspflicht halten. Leider hat aber der Sozialdemokrat
von Vollmar Recht, wenn er in Stuttgart gesagt hat, in keinem Lande sei die
Stimmung weniger chauvinistisch, d. h. in diesem Falle, der Nationalstolz geringer
als in Deutschland. Immer wieder taucht in linksliberalen Blättern die Hoffnung
auf, die deutsche Sozialdemokratie werde sich mausern, werde sich schließlich von
ihren internationalen Utopien bekehren, den längst widerlegten Marxismus über¬
winden, sodaß sie sich einem „entschieden liberalen" Block anschließen könne. Es
gilt aber nicht, die Sozialdemokratie zu bekehren, sondern die deutschen Arbeiter
von ihr allmählich loszulösen. Das allein ist ein würdiges Ziel, das andre ist
ein Hirngespinst. Fanatiker und Dogmatiker sind eben Vernunftgründen und Er¬
fahrungen allezeit unzugänglich. Es ist deshalb töricht und unwürdig zugleich, um
ihre Gunst zu werben. Dergleichen Versuche verstärken nur die Bedeutung und den
Dü
In allen Büchern und Schriften über die Schlacht bei Jena und, soweit
sie mir zugänglich waren, auch in allen Zeitungsartikeln, die zur Erinnerung an
den Tag erschienen sind, geschieht der kurzen Worte nicht Erwähnung, die ein
Jenaer Student über seine Erlebnisse während des Schlachttages in einer spätern
Erinnerung niedergeschrieben hat. Ich lasse den kurzen Bericht, der längst gedruckt
vorliegt, hier im Wortlaut folgen: „Gegen Ende April 1806 trat ich ganz allein
über den Thüringer Wald, alle meine Habseligkeiten in einem Ränzchen auf dem
Rücken tragend, die Reise zu Fuß, meist noch in tiefem Schnee, nach Jena an.
Hier aber ging mir nun eine ganz neue Welt auf. (Folgen Mitteilungen über
Professoren und gehörte Vorlesungen.) Die Schlacht bei Jena unterbrach meine
Studien schon nach dem ersten Semester. Sie kostete mir fast selbst das Leben,
indem beim ersten Straßengefecht, dem ich neugierig von meinem Fenster aus zu¬
sehen wollte, mir eine Flintenkugel kaum eine Spanne weit am Kopf vorüber¬
sauste und in die vorstehende Wand des Nachbarhauses einschlug. Nach einer
lustigen, ganz in studentischer Weise zurückgelegten Reise mit fünfzehn Kommilitonen
in die Heimat, wo ich mehrere Wochen verweilte, kehrte ich im November nach
Jena zurück." Das ist alles. Trotz der nur beiläufigen Erwähnung der Schlacht
ist die Erzählung von Interesse. Sicher schon des Schreibers wegen. Denn der
so neugierig aus dem Fenster der Studentenbude dem Straßenkampf zusah, wie
irgendeinem gleichgiltigen Gassenvorkommnis, der von der verirrten Flintenkugel
so erschreckt wurde, der kurz nach der Schlacht trotz der argen Nöte der Zeit auf
der fröhlichen Heimreise sich erlustigte, das war kein geringerer als der einst ver¬
ehrte und geschätzte Königsberger Professor der Geschichte Johannes Voigt. Voigt
war 1786 in einem Dorfe bei Meiningen geboren, die Königsberger Professur
erhielt er 1817 und blieb in dieser Stellung bis zu seinem Tode 1863. Seine
wissenschaftlichen Arbeiten, es sind zahlreiche Bände, galten der Geschichte der neuen
Heimat, er wurde der eigentliche Historiker des Deutschen Ordens. Heute sind
diese Bücher wohl nur noch dem Fachmann, der auf demselben Gebiet arbeitet,
bekannt. Nach seinem Beruf und nach seinen Büchern kann an der vaterländischen
Gesinnung des Mannes gar nicht gezweifelt werden. Als er in hohen Jahren
den Abriß seines Lebens niederschrieb (er erschien 1861 als Vorwort zu dem heute
noch lesenswerten Buche: Blicke in das kunst- und gewerbreiche Leben der Stadt
Nürnberg im sechzehnten Jahrhundert), schildert er sein Verhalten am Schlachttage
wahrheitsgetreu und unbefangen, er fand daran nichts zu tadeln. In dem damals
zwanzigjährigen Jüngling von nicht gewöhnlicher Begabung steckte Tüchtiges, und
doch erkannte er die gefährliche Lage des ganzen Vaterlandes nicht und nahm
nicht einmal im Greisenalter Anlaß, den Irrtum der Jugend zu erklären. Voigt
war Thüringer, da mochte er wohl in der Schlacht von Jena nur die Niederlage
des preußischen Heeres sehen, die weitern Folgen des unglücklichen Tages entzogen
sich seinem Verständnis. Als kleines, aber sicher nicht erfreuliches Stimmungsbild
ZmM! achten im vorigen Artikel auf Lord Cromers Plan eines lokalen
internationalen gesetzgebenden Rates näher eingegangen wurde,
von dein man nicht weiß, ob er jemals von seinem Nachfolger
wieder aufgenommen werden wird, der aber zweifellos genug des
! Interessanten bietet, muß nun die jetzige Znsammensetzung der
ägyptischen Regierung kurz berührt werden. Diese besteht zurzeit aus dem
„Gesetzgebenden Rat" und der „Generalversammlung".
Der Rat, die wichtigere von beiden Körperschaften, besteht aus dreißig Mit¬
gliedern, von denen vierzehn, einschließlich des Präsidenten und des einen Vize-
Präsidenten, durch Dekret des Khcdiven ernannt worden sind, während die sech¬
zehn andern aus einer Wahl hervorgehn, die ein „Provinzialrat" abhält, dessen
Mitglieder von den „Delegierten" der einzelnen Dörfer gewühlt worden waren.
Die „Generalversammlung" wird gebildet aus dem gesetzgebenden Rat, zu
dem noch die Minister und sechsundvierzig Notabeln treten, von denen elf die
wichtigsten Städte, fünfunddreißig ländliche Distrikte vertreten, und die in ähn¬
licher Weise gewählt werden wie die gewählten Mitglieder des Rates.
Der Rat versammelt sich sechsmal im Jahre, die Generalversammlung
mindestens einmal aller zwei Jahre.
Kein wichtiges, sich ans die Verwaltung beziehendes Gesetz oder Dekret
kann ohne vorherige Vorlage an den Rat veröffentlicht werden. Der Rat kann
die Regierung zu gesetzgeberischen Maßnahmen veranlassen. Der Staatshaus¬
halt für das kommende Jahr und ebenso die Abrechnung für das abgelaufne
müssen dein Rat vorgelegt werden.
Zur Einführung neuer direkter Steuern, Grundsteuern oder persönlicher
Steuern muß die Zustimmung der Generalversammlung eingeholt werden, wie
sie auch bei öffentlichen Anleihen, bei mehrere Provinzen berührenden Kanal-
und Eisenbahnbnuten und bei der Klassifizierung des Landes zum Einschätzen
für die Grundsteuer gefragt werden muß.
Der bereits erwähnte Provinzialrat, über dessen Wahl durch die Delegierte»
der einzelnen Ortschaften schon gesprochen worden ist, besteht aus drei bis acht
Mitgliedern, je nach der Größe der Provinz. Er muß gefragt werden bei
Änderung von Abgrenzungen der Gemeinden, wegen Abhaltung von Märkten;
auch kau» sein Rat erbeten werden in Fragen, die die Regierung zu seiner
Kenntnis bringt, wie den Fortschritt des Unterrichts oder des Unterhalts, Ver¬
besserung der Ernte, der Bewässerungsanlagen, Auffüllung von Teichen u. a.
Der schwächste Punkt in dieser Einrichtung ist, daß ihre Zusammensetzung
hauptsächlich abhängt von den Persönlichkeiten, die in den einzelnen Ortschaften
zu Delegierten erwählt werden. Dies kann erst nach und nach besser werden,
wenn sich der Stand der Erziehung bessert, und wenn die Gewohnheit, sich
selbst eine Meinung zu bilden, bis in die kleinsten Gemeinden durchgerungen
ist. Man kann von einem Volke, das durch Jahrhunderte weder Stimme noch
irgendwelche Vertretung gehabt hat, nicht verlangen, daß es auf Grund einer
geschriebn«» Verfassung plötzlich Stimme und Recht der eignen Vertretung sach¬
gemäß ausübt, zumal wenn es noch nie dem Wunsch nach eigner Vertretung
selbst Ausdruck gegeben hat.
Fortschritte sind gemacht worden, indem man in den einzelnen Städten
Stadtverwaltungen geschaffen hat. Hier stößt man aber sofort auf die größte
Schwierigkeit, da die europäischen Bewohner frei von lokalen Abgaben sind,
und somit die entstehenden Unkosten schwer die nötige Deckung finden. In einer
Reihe von Städten hat die Bevölkerung die erwachsenden Steuern freiwillig
auf sich genommen. Auch andre Maßnahmen auf dem Gebiete der Selbstver¬
waltung sind in den letzten Zeiten getroffen worden. So besteht in jeder Provinz
eine Kommission zur Beurteilung aller Fragen, die sich ans Wahlen, Entlassungen
und Bestrafungen von Beamten u. a. beziehn. Es bestehen Kanal- und Damm¬
kommissionen, Kommissionen zur Kontrolle der Überwachung der Nildämme
durch die auf besondern Listen laufenden Bewohner. Die Nildammhochwcisser-
kommission in jeder Provinz tritt in Tätigkeit, wenn während der Zeit des
Nilhochwassers das Wasser eine bestimmte Höhe über den Nilmesser von Kairo
erreicht. Neben diesen besteht noch eine Reihe andrer Kommissionen, z.B. eine Heu¬
schreckenkommission, die sämtlich mit ausgedehnter Strafgewalt ausgerüstet sind.
Auf diese Weise hofft man, das Volk nach und nach zur Teilucihme an
den Einrichtungen des allgemeinen öffentlichen Wohles und der Landesverwal¬
tung mit heranzuziehen.
Ju derselben Art geschieht alles mögliche, um auch dem andern Wunsche
des Landes entgegenzukommen, nämlich eine möglichst große Zahl von Ägyptern
in den Stellen der höher» und nieder» Staatsverwaltung zu sehen. Seit der
britischen Besetzung im Jahre 1882 war es die dauernd im Auge behaltne
Politik der Regierung, die Zahl der Europäer in Regierungsstellen möglichst
zu beschränken und Ägypter in großer Mehrzahl in den untergeordneten und
in großer Zahl in den höhern Verwaltungsstellen zu verwenden, des weitern
aber Schritt für Schritt den Boden zu ebnen für erhöhte Beiziehung von
Ägyptern in höhere Stellen. Die Ausführung dieser Politik geht ans ver-
schiednen Gründen nicht allzu rasch vonstatten. Denn zunächst war die vor-
handnc Zahl von Ägyptern, die die nötigen Fähigkeiten hatten, gering. Dann
stellte der ungeahnte, plötzliche Aufschwung des Landes dieses vor eine Reihe
schwieriger Aufgaben auf rechtlichem und technischem Gebiete, denen eben wieder
nur höher geschulte Europäer gerecht zu werden vermochten. Inzwischen aber
ist vieles geschehn, um die Bildung der Ägypter zu heben und sie für die ihnen
in der Staatsverwaltung harrenden Aufgaben vorzubilden. Dies beweisen am
besten folgende Angaben. Im Jahre 1888 war es noch nicht möglich, andert¬
halb Millionen Mark für Erziehungszwecke auszugeben; damals bestanden nur
vierzehn Negierungsschulen mit 135 Lehrern und 2373 Schülern. Im Jahre
1907 betrügt der Aufwand für öffentlichen Unterricht siebeneinhalb Millionen
Mark. Es bestehen jetzt 50 Negierungsschulen und -kollegien mit 849 Lehrern
und 11063 Schülern. Die Zahl der unter der Negierung stehenden Dorf¬
schulen („Kuttabs") ist auf 122 gestiegen mit 266 Lehrern und 8890 Schülern.
Das Erziehungsdepartement beaufsichtigt und unterstützt außerdem 4432 „Kut¬
tabs" mit 6358 Lehrern und 156542 Schülern. Im letzten Jahrzehnt wurden
über neun Millionen Mark für Schulbänken ausgegeben; für dieses Jahr sieht
der Haushalt 1,8 Millionen Mark für diesen Zweck vor.
Auf diese Weise wird sich nach und nach der Bildungsstand der Ägypter
heben und sie zur Teilnahme an der Regierung ihres Landes befähigen. Da¬
neben werden aber immer Europäer nötig sein, einerseits ans Gebieten, die
höhere technische Kenntnisse verlangen, und dann als Gegenmittel gegen gewisse
Schwächen des ägyptischen Charakters, dem es zunächst noch an Verantwortungs¬
freudigkeit, Festigkeit und Selbständigkeit fehlt.
Im ganzen ist im Jahrzehnt 1896 bis 1906 die Zahl der Beamten im
ägyptischen Zivildienst gestiegen von 9134 auf 13279, also um 4145. Von
diesen sind 3583 Ägypter und 562 Europäer, sodaß im Jahre 1906 12027 ägyp¬
tische und 1252 europäische Beamte arbeiteten; von diesen sind wieder 662 bri¬
tischer, 590 andrer Nationalität. Von den 562 im letzten Jahrzehnt hinzn-
gekommnen Europäern kommen 303 ans die Eisenbahnverwaltnng, auf der eine
ganz besondre Verantwortung richt.
Bei der hier gegebnen Darstellung ist bis jetzt der Hauptwert auf die
politische Leitung des Landes durch Lord Cromer und auf seine Stellung zu
den verschiednen Fragen der Regierung und der Verwaltung gelegt worden. Es
bleibt somit nur wenig Raum für die ökonomische Seite seiner Tätigkeit übrig,
der deshalb nur die wichtigsten Angaben entnommen werden sollen.
Die Domäuenverwaltung verkaufte im letztem Jahre meistbietend 1913 aors-z
in Stücken von etwa 17 aorss (1 g-ors 40,46 Ar). Der erreichte Durchschnitts-
preis belief sich auf 1008 Mark für 1 aoro. 545 Leute boten, darunter nur
fünf Nichtägypter. Der Gewinn aus diesem Lande wird auf dreieinhalb bis vier
Prozent angegeben.
Folgende Zahlen geben ein Bild von dem vorhandnen kulturfähigen Lande:
Davon standen im Jahre 1906 1506290 g-pres unter Baumwolle. Rechnet
man die gegenwärtige Baumwollernte auf 303^ Millionen Kilogramm, so
betrügt der Durchschnittsertrag 202,5 Kilogramm auf den aors.
In Unterägypten sind 1260107 aoros oder vierzig Prozent des bebauten
Landes, in Oberägypten dagegen nur 246183 aores (wegen ungünstiger Be¬
dingungen) mit Baumwolle bestanden. Eine Verbesserung der Bcwüsserungs-
aulagen zumal in Oberügypten wird eine Fläche von 5600000 aeres dem
Baumwollbau erschließen. Es bleiben dann nur noch etwa 800000 8,vro8 süd¬
lich von Assiut unbebaut. Dieses Gebiet kann später gegen 450 Millionen
Kilogramm Baumwolle hervorbringen.
Diese Prodnktionssteigerung ist zunächst durch die Erhöhung des Dammes
von Assuan und ähnliche Maßnahmen hervorgerufen worden. Späterhin werden
auch die Seen in Unterägypten und die Oasen herangezogen werden.
Der Zuckcrbcm hängt in seiner Ausdehnung von den Preisen des Welt¬
marktes im Vergleich mit ander,: Erzeugnissen ab. In den südlichen Provinzen
scheint der Zuckerbau seinen Platz zu behaupten, während in Mittelägypten die
hohen Baumwollpreise die Grundbesitzer dazu veranlasset!, an Stelle des
Zuckers mehr Baumwolle zu bauen. Hier hat sich das mit Zuckerrohr be¬
pflanzte Gebiet vermindert.
Die Politik der Regierung arbeitet auf die Erhaltung und die Vermehrung
des eingebornen Bauernstandes hin. Den Erfolg beweisen nachstehende Zahlen:
Die eingetragne Landstände ist in den letzten zehn Jahren gewachsen von
5001001 auf 5298772 aeres, also insgesamt um 297 771 apres. Vou diesem
hinzugekvmmnen Gebiet gehören 58 703 levres Europäern lind 239068 Ägyptern.
Der Umlauf der von der Ägyptischen Nationalbank ausgegebnen Noten
ist stetig gewachsen. Der Tagesdurchschnitt an Noten in Händen des Publikums
belief sich auf 37,3 Millionen Mark im Jahre 1906 gegen 18,9 im Jahre 1905.
An dieser Zunahme hatten alle Noten teil, besonders die im Wert von
V, und 1 Ägyptischen Pfund (10,30 und 20,7 Mary. Am 31. Dezember 1906
betrug der Wert der sich im Umsatz befindenden Noten 44,9 Millionen Mark
gegen 28,7 Millionen Mark am 31. Dezember 1905.
Der Gesamtwert der aus- und eingeführten Waren belief sich in, Jahre
1906 auf 1012 Millionen Mark oder um 144 Millionen Mark mehr als im
Jahre 1905 oder auf mehr als das Doppelte wie im Jahre 1398.
Die Einfuhr belief sich auf 497 Millionen oder 11,3 Prozent mehr als
im Jahre 1905; die Ausfuhr auf 515 Millionen Mark oder 22,1 Prozent
mehr als im Vorjahre.
Der Voranschlag des Staatshaushalts für 1906 hatte folgende Zahlen
auf
gewiesen:
Diesen stehn folgende Zahlen des Rechnungsabschlusses gegenüber:
Der Reservefonds wies am 1. Januar 1907 die Summe von 228,85 Millionen
Mark auf.
Die Ägyptische Schuld belief sich am 31. Dezember 1905 auf 1968 Millionen
Mark und am 31. Dezember 1906 auf 1962 Millionen Mark. Von dieser
Summe waren 1783 Millionen in den Händen des Publikums, der Nest von
179 Millionen ist in Händen der Regierung oder von Schuldkommissareu.
Der ägyptische Steuerzahler hat somit für 68,7 Millionen Mark Zinsen aus¬
zukommen.
Im Jahre 1383, dem Jahre uach der britische» Okkupation, hatte die Staats¬
schuld, die damals ausschließlich in Händen des Publikums war, 1968 Millionen
Mark betragen. An Zinsen usw. waren damals 87 Millionen aufzubringen.
Durch verschiedne Operationen ist es somit in der Zeit von 1883 gelungen,
die Gesamtschuld um annähernd sechs Millionen Mark zu verringern, oder
wenn man den in Händen der Regierung und der Schuldkommissare zurück-
behaltnen Anteil mit in Betracht zieht, sogar um 185 Millionen Mark. Ebenso
hat sich die vom ägyptischen Steuerzahler für Verzinsung aufzubringende Summe
in derselben Zeit um über achtzehn Millionen Mark verringert. Im ganzen
jedenfalls ein vorzügliches Ergebnis, das deutlicher als vieles andre die großen
Vorteile der britischen Okkupation für das ägyptische Volk dartut.
Der Haushalt für 1907 sieht folgende Zahlen vor:
Von diesem Voranschlag wird besonders betont, daß er mit der größten
Vorsicht aufgestellt worden sei, was ohne weiteres schon daraus hervorgeht,
daß er um ein Beträchtliches in den Einnahmen hinter den im Vorjahr tat¬
sächlich eingegangnen Summen zurückbleibt,
Auf die finanziellen Beziehungen Ägyptens zum Sudan hier näher ein-
zugehn, fehlt der Raum,
Dagegen sollen die Bewässerungsanlagen eine kurze Erwähnung findein
Das Staubecken von Assumi hat wieder seinen ungeheuern Wert bewiesen. Die
Füllung begann am 9. November 1905; am 9. Januar 1906 erreichte das
Wasser seinen höchsten Stand, aber erst vom 10. Mai an wurde dem Fluß eine
Wassermenge zwischen sechs und zwanzig Millionen Kubikmeter wechselnd täg¬
lich zugeführt. Am 21. Juli, einer Zeit, bis zu der das Flutwasser Assuan
passiert hatte, war das Becken leer.
In Mittelägypten wurden im vergangnen Jahre mit einem Aufwands von
14,5 Millionen Mark 64550 aeres von Bassinfeldern hergestellt. Es bestehn
jetzt im ganzen 286618 g-orss, die einen Durchschnittsaufwand von weniger als
1361 Mark für den aors nötig gemacht haben. Für 1907 sind 12,8 Millionen
für diesen Zweck vorgesehen; Ende 1908 soll die Arbeit vollendet sein.
Ferner wurde beschlossen, bei Esneh mit einem Kostenaufwande von 20,4
Millionen Mark einen Staudamm zu errichten, um die Wasserflüche zu Be-
rieselungszwccken zu heben und von dein jeweiligen Wasserstande des Flusses
unabhängig zu machen. Mit der Arbeit wurde im Jahre 1906 begonnen.
Das in den ägyptischen Eisenbahnen ruhende Kapital wird für 1906 auf
480 Millionen Mark geschätzt; die Reinerträgnisse beliefen sich auf 30,5 Millionen,
was einer Verzinsung mit 6,75 Prozent entspricht (gegen 5,79 Prozent im
Jahre 1904 und 6,03 im Jahre 1905).
Im ganzen wurden im Jahre 1906 22550000 Reisende (gegen 20036000
im Jahre 1905) und 6 712019 Tonnen Güter (gegen 5622202 im Vorjahr)
befördert.
Außer diesen dem großen Verkehr dienenden Eisenbahnen besteht ein Netz
von 1145 Kilometern leichter Feldbahnen für landwirtschaftliche Zwecke. Diese
Bahnen find in den Händen von drei Gesellschaften, die sämtlich im vergangnen
Jahre mit Erfolg gearbeitet haben; im ganzen wurden in dieser Zeit 6 834 000
Reisende und 929000 Tonnen Güter befördert.
Die Telegraphen haben 2,15 Millionen Mark im Jahre 1906 eingebracht;
die Ausgaben betrugen hier 1,87 Millionen.
Zurzeit bestehn ferner 1375 Telephoulinien, die eifrig benützt werden.
Auch die Zahl der in Ägypten landenden europäischen Reisenden ist in
stetem Steigen begriffen; sie betrug im Jahre 1906 in Alexandria 87097 und
in Port Said 16850, zusammen rund 104000 (gegen 90000 im Jahre 1904
und annähernd 100000 im Jahre 1905). Außer diesen landeten 14862 Reisende
(ausschließlich der Pilger) in Suez.
Lord Cromcrs hochinteressanter Jahresbericht ist damit noch nicht zu Ende;
wir müssen es uns aber des begrenzten Raumes wegen versagen, auf die andern
Teile des Berichts noch näher einzugehn. Sie alle weisen ebenfalls einen erfreu¬
lichen Aufschwung auf, mögen sie nun das Gebiet der öffentlichen Arbeiten
(Häfen, Nilbrücken, öffentliche Gebäude) behandeln oder die Einzelheiten der
Verwaltung (zumal die Polizei und ihre Tätigkeit) oder das Gesundheitswesen,
die Rechtspflege, die Volkserziehung und -bildung oder Künste und Wissen¬
schaften. Auf Schritt und Tritt fühlt man die Hand des unermüdlichen, her¬
vorragenden Staatsmannes.
Der zweite Teil des Blaubuchs ist den Verhältnissen des ägyptischen
Sudans gewidmet und muß einer spätern Besprechung vorbehalten bleiben.
Lord Cromer schließt den Ägypten gewidmeten Teil des Blaubuches mit
einer dringenden Ermahnung an alle britischen Beamten, alles zu tun, um sich
dauernd das Vertrauen der eingebornen Bevölkerung zu erwerben und jegliche
Verletzung durch gedankenlose oder unüberlegte Äußerungen und Handlungen
zu vermeiden, da sie oftmals nie geahnte, weit reichende Folgen haben. Ge¬
lingt es ihnen, die Zuneigung der Bevölkerung zu erwerben, so werden sie
leichter arbeiten zum Wohle des ganzen Landes.
Niemand wird das Buch aus der Hand legen, ohne die Überzeugung ge¬
wonnen zu haben, daß hier ein hervorragender Staatsmann, eine glänzende
Verwaltungskraft tätig war; und mit gespanntem Interesse wird man in Zukunft
die Geschicke Ägyptens verfolgen und zusehe», inwieweit die Reformen, die Lord
Cromer angebahnt hat, von der Regierung fortgesetzt werden. Lord Cromer
hat sich in der Art und Weise, wie er das Land nach andauernder Mißregie¬
rung in den fünfundzwanzig Jahren seit dem Beginn der britischen Besetzung
wirtschaftlich in die Höhe gebracht hat, ein Denkmal gesetzt, das Generationen
überdauern wird.
cum wir als Deutsche deu Begriff Adel vor uns aufsteigen lassen,
erscheint mit ihm ein buntes, freundlich bewegtes Bild, eine Welt
von Romantik wird in uns lebendig und mit ihr — ein Stück
unsrer Jugend. Waren es doch für viele, für die meisten meiner
Altersgenossen, die liebsten Stunden in der Schule, wenn uns
em tüchtiger Lehrer das Aufblühe» des Rittertums vortrug, und wie oft hat
Wohl jeder einzelne Deutsche Gustav Freytags „Ahnen" verschlungen! Rittertum
und Adel! Ritterlichkeit und Edelsinn! Bedarf es noch der Erklärung, was
uns Deutschen der Adel immer war und sein wird? Der deutsche Adel hat
w einer bestimmten langen Zeitspanne eine gewaltige Kulturarbeit geleistet
und manchen Eckstein errichtet, worauf alles das gebaut worden ist, was uns
heute teuer ist. Diese Verdienste um das russische Volk hat sein Adel nicht.
Darum bitte ich die Herren von der Kreuzzeitung, mich nichteinen „gehässigen
Demokraten" zu schelten, wenn ich dem in Nußland lebenden Adel nicht mit
denselben Gefühlen entgegentrete wie dem deutschen.
In der russischen Sprache ist das Wort „Adel" oder „Noblesse" nicht
bekannt. Seine Anwendung auf äwvrMnin ist eine Nachlässigkeit des Sprach¬
gebrauchs. Als sich die Russen Rurik (862 bis 79) und Olcg (879 bis 912)
ins Land riefen, gab es nur Älteste iMrsenijö) und Fürsten (KiMSM). Beides
sind Bezeichnungen für Familieuvberhäupter gewesen.*) Die, die sich dem
Moskaner Großfürsten, dem Ältesten aller als Diener anschlössen, wurden die
«Irusliiiwilci, d. h. die Freunde genannt. Im Laufe der Zeit wurden diese
«Zruslünnilll nach der Art ihrer Beschäftigung oder Verwendung durch den
Großfürsten verschieden benannt. Erst 1176 wird der dritte Grad**) der
drusniimiki in Nordrußland mit der Bezeichnung ävorjans, d. h. die zum Hofe
des Großfürsten gehörenden belegt.***) Der russische Adel war somit schon am
Anfang der Staatsbildung in seinen wesentlichsten Bestandteilen mehr der
Dienende des Großfürsten und nicht durch eigne Macht oder Besitz Mitglied
einer herrschenden sozialen Schicht. Daneben wuchsen freilich die Nachkommen
Ruriks und Olegs in einigen Zweigen auf. Doch diese gingen bald unter der
Verfolgung der Moskaner Fürsten unter, und es gibt gegenwärtig nur ver¬
einzelte Adelsfamilien, die eine direkte Abstammung von jenen Begründern des
Reichs nachweisen können. 1') Der Adel war keine in sich abgeschlossene Kaste
aus sonst unabhängigen Individuen, sondern mehr eine zufällig zusammen¬
geführte Genossenschaft, die nach Ermessen des regierenden Großfürsten ver¬
größert oder verringert wurde. Ein Russe^) kennzeichnet die Vorfahren seiner
Standesgenossen durch folgenden Vergleich:
„Der deutsche Adel bestand aus den Nachkommen der kleinen besitzenden
Feudalen, die im Laufe der Zeit in ihrem Kampfe gegen die höhere Gewalt
unterlagen und sich ihr unterwerfen mußten. Die Erinnerung an die Zeit, wo
diese Feudalen selbständige Herren waren, hat sich im Gedächtnis ihrer Nach¬
kommen wach erhalten. Ebenso ist ein Gefühl dynastischen Stolzes, als Folge
der Einnerung dessen, was sie ehemals gewesen, geblieben und damit auch das
Gefühl der ständischen Ritterehre sowie die Gewohnheit, Ehrenbezeugungen zu
beanspruchen. ...
... Der russische Adel dagegen war stets Diener des den Staat ver¬
körpernden regierenden Fürsten oder Herrschers. Ihren Stolz und ihre Ehre
sahen die russischen Adlichen in genauer und hingebender(?) Diensterfüllung
gegen Zar und Vaterland. . .. Überhaupt bedeutete das Wort Ehre für die
russischen Bojaren und Adlichen mehr Annäherung an die oberste Gewalt und
deren unmittelbarste Unterstützung in der Verwaltung des Landes. Die Ehr¬
losigkeit entsprach dem Begriff der Ungnade. Bei einer solchen (rein äußerlichen)
Auffassung des Ehrbegriffs seitens der russischen Adlichen konnte er keinen
Widerspruch zu seiner Stellung darin sehn, wenn er sich noch in der Epoche
der Zaren (bis Mitte des achtzehnten Jahrhunderts) unter Bittschreiben als
»Sklave« oder in verkleinernder Form: Fedjka, Wanjka, Waßjka unter¬
schrieb ..."
Tatsächlich hat der Teil der Gesellschaft, der sich der russische Adel nennt,
bei seinem Entsteh» nichts besessen, sei es an ideellen oder materiellen Eigen¬
schaften, was geeignet gewesen wäre, ihm die Autorität innerhalb der Bevölkerung
zu sichern, die der Adel in Westeuropa zu allen Zeiten auch dort besessen hat,
wo er angefeindet wurde. Diese Erscheinung geht aus dem von den Russen
selbst zugegebncn weiblichen Charakter des Volks hervor, den gewisse Kreise
durch starke Entwicklung des demokratischen Sinnes zu bemänteln suchen. Diese
Eigenschaft hat zu der Erniedrigung des Volks geführt, die in der Berufung
Fremder, der Runks, zur Herrschaft liegt. Keiner der vorhandnen Stammes-
oder Familienoberhäupter war stark, fleißig und mutig genug, sich die zum
Herrschen notwendige Macht zu schaffen. Aber auch in den niedrigen Schichten
des Volks fehlte es an irgendeinem kräftigen Triebe, der über die Befriedigung
materieller Interessen hinausging und zum Betriebe einer territorialen Interessen-
Politik geführt haben könnte. So kam es, daß die Autorität der ävorMns nicht
in der kriegerischen oder wirtschaftlichen Tüchtigkeit einer ganzen sozialen Schicht
begründet lag, sondern lediglich in dem Maß der Gnade, die jedem einzelnen
von dem Herrscher entgegengebracht wurde. Die Bewirtschaftung und Aus¬
breitung ländlichen Besitzes wurde nur wenig gepflegt. Vom Tage ihres Ent¬
stehens an ist darum die ä^vorMstvo ein Hof- und Beamtenadel ohne gemein¬
schaftliche ständische Interessen, die doch nur aus der Summe ähnlicher Interessen
aller der einzelnen Persönlichkeiten entsteh« könnten. Dieser Charakter findet
sich auch in dem Umstände, daß die clruslimniki und die spätern äworjane die
Hauptaufgabe ihres Daseins in der Unterstützung des Großfürsten bei der Ne¬
gierung über die Bauern sahen. Daß es zunächst auf die Ausbeutung der
Bauern ankam, braucht hier nicht besonders erörtert zu werden.'") Im Verlauf
des siebzehnten Jahrhunderts wurde der Adel, der nur als Werkzeug des
Großfürsten zu bestehn vermochte, geradezu zum Sklaven des Staats. Er
wurde verpflichtet, lebenslänglich Staatsdienst zu tuu, und wurde durch den
Staat grausam verfolgt, sofern er sich seinen gesetzlich festgelegten Verpflichtungen
entziehn wollte. Der Adel wurde sogar der Prügelstrafe unterworfen!
Die sich hieraus ergebenden Wirtschaftsverhältnisfe haben dann der schnellen
Erstarkung der Staatsgewalt bedeutend Vorschub geleistet. Sie griff dort am
meisten in die soziale Entwicklung der Gesellschaft ein, wo sie den geringsten
Widerstand fand. Das war aber in der sozialen Schicht der Großgrundbesitzer,
des freiwillig dienenden Adels. In der Zeit von 1484 bis 1584, in die be¬
sonders die militärische Erstarkung des Staates fällt, verlieren die wenigen
alten Bojarenfamilien ihre Bedeutung. Neben den höfischen Dienstadel trat
der militärische. Schon 1484 hat Iwan der Dritte mehr als 8000 Guts¬
herren, die sich nicht zum Kriegsdienst verpflichten wollten, ihres Landes be¬
raubt und an ihre Stelle zu zeitlichem Nießbrauch Mitglieder des ständigen
Heeres gesetzt. Infolge dieser innern und äußern Verhältnisse hatte die
ä>orskmstvw vielfach die Verbindung mit dem Lande verloren. Auf dem
platten Lande und in den Provinzstädten gab es darum auch fast gar kein ge¬
sellschaftliches Leben. Die Provinzstüdte waren unbedeutend, ihre außer¬
ordentlich geringe Bevölkerung gehörte vorwiegend den untern Schichten an,
die keine ständischen oder zünftigen Unterscheidungen kannten. Verwaltungs¬
behörden waren nur in geringer Zahl vorhanden, und Adliche fanden in ihnen
kaum Verwendung. Der Adel befand sich im Staatsdienst**) in den Haupt¬
städten oder im Heere an den Grenzen des Reiches. In den Landkreisen selbst
lebten Adliche nur ausnahmsweise. Das waren größtenteils aus dem Staats¬
dienst verabschiedete Greise und die allerärmsten Vertreter ihres Standes. Das
Leben dieser adlichen Landbewohner unterschied sich nur wenig von dem der
Bauern; sie hausten in demselben Dorf, in den gleichen mit Stroh gedeckten
Hütten, führten dieselben Unterhaltungen, hatten dieselben Interessen wie die
Bauern.
Besser war das Leben in den Hauptstädten. Dort fand sich ein ver¬
hältnismäßig wohlhabendes und anziehendes Milieu, fanden sich mehr und ver¬
schiedenartigere Interessen, bessere Erziehung und Bildung sowie eine größere
Mannigfaltigkeit der Lebensweise. „Das war aber auch alles, meint Tschetschulin,
im übrigen war das Leben des Adels ebenso einfach und unkultiviert wie in
den kleinen Städten." Unter diesen Umständen war auch in der eben skizzierten
Periode eine Entwicklung ständischer Interessen kaum möglich. Solange sich
der Adel in den Hauptstädten und beim Militär im aufgezwungnen Dienst
befand, hatte jeder einzelne nur sein persönliches Fortkommen, seine Stellung
und das Avancement im Staatsdienst im Auge. Jedes Einzelnen Denken und
Fühlen war auf den Staatsdienst gerichtet, der ihm allein die Mittel zu einer
bessern Existenz und zur Befriedigung eines, wie wir sahen, äußerlichen Ehr¬
geizes bot. So wirkten, abgesehen von innern Gründen, auch alle äußern
Verhältnisse dcchiu, den Adel vom Lande in die Städte, in den Staatsdienst
zu treiben, er verlor auch durch die unwirtschaftliche Verwendung seiner Ein¬
künfte die geringe Bodenständigkeit, die er teils durch die Gnade des Gro߬
fürsten als deren Lehens- oder Dienstmann besessen hatte.
Dann kamen die Reformen Peters des Großen und mit ihnen neue An¬
sprüche des erstarkenden Staates. Der Dienst selbst wurde schwieriger. Das
Reich dehnte sich nach Westen hin aus. Mit den neuen Landesteilen kamen
Vertreter deutschen Adels an den Zarenhof. Die Zaren und Zarinnen selbst
waren keine Russen, sondern Germanen, in germanischen Anschauungen erzogen
und fühlten sich als erste Vertreter des Adels. Alle diese Neuerungen der
ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts mußten die clvorsimswo beun¬
ruhigen. In ihre Domäne, den Staatsdienst, brachen neue Elemente ein,
die besser dafür vorbereitet waren als sie selbst. Elisabeth, Peter der Dritte
und später Katharina die Zweite, befangen in ihren deutschen Anschauungen,
deuteten die in der änorjanstvo aufkommende Bewegung so, als wünsche sie
eine ähnliche Stellung im Lande einzunehmen, wie sie der Adel des Westens
iniie hatte. Es schien ihnen, als sei das bis dahin schlummernde Standes¬
bewußtsein erwacht. Auf dieser Auffassung beruhen die Reformen von 1762
bis 1795.
Peter der Dritte erließ am 17. Februar 1762 sein berühmtes Manifest
von den Freiheiten des Adels, das die a>orjg,ii8t>on> u. c>. von der Ver¬
pflichtung entband, dem Staate zu dienen. Mit welcher Verbitterung und
wie ungern der Adel den durch Peter den Großen reformierten Staatsdienst
trug, geht aus dem Umstände hervor, daß nach dem Manifest in kurzer Zeit
Tausende die Armee und die staatlichen Kanzleien verließen, um sich auf die
eiguen oder den Verwandten gehörenden Güter zu begeben. Doch damit
wurden nur negative Kräfte ausgelöst, der Beamtenadel wurde kein Gutsadel.
Nach den Berichten damaliger Chronisten veränderte sich wohl das Leben in
der Provinz gegen früher zwischen 1762 bis 1767 von Grund aus, aber nicht
die Auffassung der clworjan^ über Standespflichten. Bis dahin in der Provinz
unbekannte gesellschaftliche Kräfte und Talente mit Ansprüchen, mit gewisser
Bildung und neumodischen Lebensgewohnheiten strömten auf das platte Land.
Da sie aber vom Regiment oder von der Zentralbehörde her an geselliges
Leben gewohnt waren, schlössen sie sich auch in Kreisen und Gouvernements
zusammen, und nach Verlauf von kaum zwei bis drei Jahren gab es
vorübergehend eine adliche Gesellschaft mit sie verbindenden geistigen, gesell¬
schaftlichen und teilweise auch wirtschaftlichen Interessen. In der schweren
Zeit von 1700 und 1767 schien sich der Dienstadel eines besondern ständischen
Wertes bewußt geworden zu sein und sich in einen geschlossenen Stand um¬
gewandelt zu haben. Doch wie die weitere Entwicklung zeigt, war diese Um¬
wandlung der alten äworM^ in eine ständische Organisation wirklich eine mir
scheinbare. Es war nicht das Bewußtsein übernommner Pflichten gegen sich
selbst, gegen die eigne und weitere Familie oder gegen den Stand, sondern
einfach eine jener rätselhaften Reaktionen des slawischen Charakters auf un¬
bequeme äußere Eindrücke. Wäre es anders gewesen, wäre in der äMor^n8t^vo
wirklich ständisches Selbstbewußtsein erstarkt, dann hätten wir in den sechziger
Jahren des achtzehnten Jahrhunderts neben einem Aufblühen der Landwirt¬
schaft auch die Bildung von Kreis- und Gouvernementscliquen, Brüderschaften
und Vereinigungen aller Art mit politischem Unterton sehen müssen. Der
unzufriedne, angeblich zur Gewalt strebende Adel hat tatsächlich keinen einzige,?
praktischen Schritt getan, um die Wurzel seiner Macht in den Grundbesitz zu
versenken und aus seiner wirtschaftlichen Tätigkeit zwischen Wäldern und
Sümpfen mit Hilfe der Bauern die Fundamente zu legen, die den Bau einer
oligarchischen Verfassung, wie sie Graf Pcmin anstrebte, hätten ertragen und
halten können. Der Adel strömte in die Provinz, um zu faulenzen, um ein
ihm neues geselliges und sorgloses Leben zu führen, nicht um sich der Bevor-
mundung des Staates für immer zu entziehen. An dieser Auffassung kann
auch das Auftreten solcher Männer nichts ändern, wie das des Fürsten
Schtscherbntow in Katharinas bekannten Kommissionen. Im Gegenteil, es
bestärkt unsre Auffassung, daß die eworjanstwo trotz ihrer Flucht auf das
Laud auch um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts nicht befähigt war,
ihre Autorität aus andern Quellen zu schöpfen, als aus der Gnade der
Herrscher oder konkret ausgedrückt aus dem Staatsdienst. Infolgedessen ist
auch Schtscherbatows Auffassung, als seien die Rangtabellen Peters des Großen
an dem niedrigen Niveau der ävoi-Mnstwo schuld, nicht gerechtfertigt.*) Gewiß,
besser ist die Nachkommenschaft der alten ärusuinnilci durch die Ergänzung
aus landfremden Abenteurern nicht geworden — aber sie haben auch nicht
danach getrachtet, sich mit solchen Elementen zu verbinden, die sie Hütten
innerlich umwandeln und für ständische Organisationen befähigter machen
können. Der nationale Dünkel verbot ihnen, sich den deutschen und schwedischen
Adelsfamilien anzuschließen. Wenn also Schtscherbatow damals in deutschem
Sinne forderte, der Adelsstand solle sich nur durch solche vom Monarchen
Persönlich ernannte Individuen ergänzen dürfen, nicht aber könne er in den
Staatskanzleien von jedem Beliebiger ersessen werden, so wäre die Genehmigung
dieser Vorschrift wahrscheinlich ohne praktischen Nutzen für den Staat geblieben,
weil eben der Adel tatsächlich ohne innern Halt war. Aus den innern Gründen
ergab sich auch, daß die ständische Organisation/) die Katharina dem Adel
gab, sehr bald jede Bedeutung verlor. Schon gegen Ende der achtziger Jahre
des achtzehnten Jahrhunderts, das war somit, als die rechtliche Stellung des
Adelsstandes ihren Höhepunkt erreicht hatte, ^) da schien es unmöglich, die
Wählämter in der Provinz, die einzig Adlichen zur Verfügung standen, würdig
zu besetze» und die ständischen Bureaus, Schulen oder sonstige dem Adel zu-
gestnndnen Einrichtungen der Leitung unbescholtner Männer aus dem Adel
anzuvertrauen. Der Adel war längst wieder in den Staatsdienst und in die
Städte zurückgekehrt, und nur seine schlechtesten Vertreter wurden zu Re¬
präsentanten des Standes. Der Adel nutzte nicht die ihm gebotne Gelegen¬
heit, um durch Vermittlung der Adelsmarschälle und Kreisrichter im Zusammen¬
wirken mit dem Großgrundbesitz seiner trotz allem vorhandnen Autorität neue
Kraftqncllen zu geben. Jeder diente uur sich, seinem kurzsichtig erkannten
Vorteil, und dazu brauchte er keine ständischen Organisationen. Diese wurde
ihm für seine egoistischen Ziele eher hinderlich. So wurden nicht die Adlichen
Herren der Provinz, sondern die Gouverneure und Generalgvuverneure, das
heißt Beamte, die die Monarchen ernannten. Als Pauls des Ersten unseliges
Wirke» später die wichtigsten Privilegien zerstörte, hatten somit die betreffenden
Ukase in vielen Fällen nur den Wert von formellen Bestätigungen dessen,
was die ävorMnswo in der Praxis längst preisgegeben hatte. Der volle
Unwert der ÄvorjÄNstwo als monarchisch gesinnter Stand zeigte sich dann in
der Ermordung des Kaisers Paul (11. März 1801), in den Geheimbündeleien
während Alexanders des Ersten Regierungszeit, im Dekabristenaufstande und
nicht zuletzt in seinen vielfachen Beziehungen zu deu polnischen Revolutionären.
Wären zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts Staatsinteressen maßgebend
gewesen, so hätte die Bewegung im Adel nicht den philanthropischen Charakter
annehmen können, der schließlich zur Befreiung der Bauern geführt hat.
Alexander der Erste gab die dem Adel durch seinen Vorgänger genommnen
Rechte wieder, der Adel aber blieb dennoch, was er war, kein Stand, sondern
eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft von Stellenjägern im Staatsdienst.
Die Entwicklung des Adels unter Nikolaus dem Ersten bot keine Ab¬
weichungen von der frühern. Alle Versuche des Monarchen, den Adel boden¬
ständig zu machen, scheiterten an dessen Indolenz. Das Beamtentum spielte
die erste Rolle im Staate und wurde allmächtig.
In den sechziger Jahren gab es tatsächlich keinen russischen Adelsstand,
sondern nur ein als Adel bezeichnetes bureaukratisches Gefüge, in dem drei
einander feindlich gesinnte Gruppen der Gesellschaft mechanisch vereinigt waren:
das Beamtentum, der Großgrundbesitz und die Intelligenz, alle drei durchsetzt,
ergänzt, beeinflußt von starken Elementen, die aus der Bauern- und Kaufmann--
schaft zu thuen übergetreten waren.
I:MVMHK«zx>
V>'AW^
wMH
W-MMK^protestantische Autoren pflegen Thomas zu beschuldige«, daß er
den Kommunismus für naturrechtlich geboten erkläre. In Wirk¬
lichkeit tut er gerade das Gegenteil. Im Anschluß an Aristoteles
erklärt er das Privateigentum aus drei Gründen für notwendig.
I I. Weil ohne solches ein wichtiger Antrieb zur Arbeit fehlen
würde. „Ein jeder ist mehr besorgt um das, was in seinen ausschließlichen
Wirkungskreis gehört, als um die gemeinsamen Angelegenheiten vieler, weil
sich die meisten der Arbeit gern entziehen, und jeder seiue Aufgabe dem
andern zuschiebt, wie wir dies in einem Hause sehen, das viele Dienstboten
hat." 2. Weil die Geschäfte ordentlicher erledigt werden, wenn einem jeden
die Besorgung eines bestimmten einzelnen obliegt; wenn jedermann jedes
beliebige Geschäft zu besorgen hätte, würde Verwirrung entstehen. 3. „Weil
der Friede unter den Menschen besser erhalten bleibt, wenn sich ein jeder mit
dem Seinen begnügt. Unter solchen, die ein Gut gemeinsam und ungeschieden
besitzen, zum Beispiel unter Geschwistern, sehen wir häufig Streit entstehn."
Während sich die ersten beiden Gründe nur auf die Verwaltung des Besitzes
und die Verrichtung der Arbeiten beziehen, die auch bei Kollektiveigentum ge¬
schieden werden können, indem eine Obrigkeit jedem seine besondre Aufgabe
meent, fordert der dritte ausdrücklich die Scheidung des Besitzes. Allerdings
finden sich auch Aussprüche, die, wenn man die übrigen außer acht läßt, kom¬
munistisch gedeutet werde» können (im Zusammenhang und systematisch hat ja
Thomas das Eigentum so wenig wie irgendeinen andern volkswirtschaftlichen
Gegenstand behandelt). Er sagt zum Beispiel: die Verwaltung müsse getrennt,
der Gebrauch oder der Genuß dagegen gemeinsam sein. Das zweite meint er
aber nur in dem Sinne des Aristoteles, daß unter Freunden alles gemeinsam
sei, und in dem Sinne der Bibel, die Gott als den Oberherrn von allen: an¬
sehen lehrt, der die Güter dieser Erde der gesamten Menschheit in gemeinsamen
Besitz gegeben hat, so zwar, daß der eine mehr, der andre weniger empfängt,
daß aber jener bereit sein müsse, dem Armem aufzuhelfen. Unbedingt konnte
Thomas jede Art von Gemeinbesitz schon deshalb nicht verwerfen, weil er Mönch
war, aber er sagt ausdrücklich, daß ein hoher Grad sittlicher Vollkommenheit
dazu gehöre, auf das Privateigentum zu verzichten und als Mitglied einer Ge¬
nossenschaft zu leben, die nur Gemeineigentum gestattet. Das ist nun freilich
das Gegenteil von Fichtes Ansicht, nach der das Sondereigentum gerade die
unerläßliche Bedingung zur Entfaltung der sittlichen Persönlichkeit des Menschen
sein soll, sodaß also die Vollkommenheit nur bei Sondereigentum erlangt werden
kann, und das möge wohl, bemerkt Maurenbrecher, die Ursache davon sein, daß
die protestantischen Gelehrten Thomas als Vertreter des Privateigentums nicht
anerkennen wollen; indes dürfe man einem Autor des dreizehnten Jahrhunderts
keinen Vorwurf daraus macheu, daß er eine am Ende des achtzehnten cmfge-
kommne Ansicht noch nicht gekannt habe.
Die Lehre des Thomas bedeutet sogar, wie Maurenbrecher beweist, eine
entschiedne Abwendung von dem grundsätzlichen Kommunismus, dem vor ihm
wirklich die Kirche gehuldigt hatte. Die Urgemeinde hatte einen Kommunismus
der Bruderliebe geübt, der jedoch, wie die Erzählung von Ananins und Saphir«
beweist (Apostelgeschichte 5; der Vers 4 entscheidet), jeden Zwang, jede Ver¬
pflichtung ausschloß und darum als grundsätzlicher Kommunismus nicht be¬
zeichnet werden darf; er war nur ein Kommunismus aus exaltierter Freund¬
schaft. Nach der Auflösung der Urgemeinde blieb dieser Kommunismus das
Ideal der Christenheit, das freilich nur im Mönchtum vollkommen verwirklicht
werden könne. Dem Motiv der Liebe gesellte sich dann der asketische Beweg¬
grund bei, daß das Aufgeben des Besitzes an sich schon etwas Löbliches und
Gott Wohlgefälliges sei — als ein Akt der Entsagung. Einige Kirchenväter des
vierten Jahrhunderts, namentlich Basilius und Ambrosius, sind dann »veiter
gegangen. In Anlehnung an die Stoiker lehrten sie, die irdischen Güter seien
den Menschen zu gemeinsamem Besitz und Genuß gegeben; im Laufe der Zeit
hätten sich jedoch einzelne mehr davon angeeignet, als sie brauchten, und so
seien die Vermögensunterschiede entstanden — durch Raub: jeder Reiche sei ein
Ungerechter oder der Erbe eines solchen, der Reichtum an sich ein Unrecht.
Darum gehöre das Überflüssige von Rechts wegen den Armen, das Almosen
sei eine Pflicht der Gerechtigkeit; wer es verweigere, verletze nicht allein die
Liebe, sondern auch das Recht. Daraus schöpft das Almosen seine sündentilgende
Kraft: es macht ein begangnes Unrecht wieder gut. Durch Jsidor von Sevilla,
der diese Anschauung in den Text eines römischen Juristen hineininterpretiert
(Wasser, Ufer und Luft gehöre nach Naturrecht allen gemeinsam), geht in das
kanonische Recht die Lehre über, das Naturrecht fordere den gemeinsamen Besitz
aller Güter, Freilich wurde das Verbot des Diebstahls und aller andern Ver¬
gehungen gegen das Privateigentum nach wie vor eingeschärft, aber man be¬
trachtete dieses als einen nicht mehr zu ändernden Abfall von der ursprüng¬
lichen Naturordnung, der durch Almosen gesühnt werden müsse. Thomas nimmt
den Satz: nach Naturrecht ist alles gemeinsam, zwar an, gibt ihm aber eine
neue Bedeutung. Es werde damit weder der Gemeinbesitz empfohlen, noch das
Privateigentum verboten, sondern nur gesagt, daß die Eigentumsverteilung eine
Wirkung des positiven Rechts sei. Demnach sei das Privateigentum nicht gegen
die Natur, sondern komme als ein Ergebnis der Vernunfttätigkeit zur Natur
hinzu (Iluäs xroxristas xosssWwnuiu nein sse voudra jus ng-wriits, shal fnri
neckurali suxöracläitur per aäinvövtioiiem, r^tionis llumg-ng-e). Das ist ganz
dasselbe, wie wenn die neuern Staatsrechtslehrer sagen: außerhalb des
Staates, von Natur, gibt es kein Recht; erst der Staat schafft das Recht.
Sehr gut ist die folgende Stelle. „Von Naturrechts wegen, das kann einen
zweifachen Sinn haben. Man kann damit meinen, daß die Natur dazu neige,
zum Beispiel dem Nächsten kein Unrecht zuzufügen; oder auch, daß das Gegenteil
von Natur uicht vorhanden ist. So könnte man sagen, es sei für den Menschen
das Natürliche, nackt zu gehn, weil nicht die Natur ihm Kleider gibt, sondern
die Kunst sie erfindet. So darf man auch sagen, von Natur sei aller Besitz
gemeinsam und seien alle Menschen gleich frei, weil die Besitzverteilung und die
Sklaverei nicht von der Natur, sondern zur bessern Gestaltung des mensch¬
lichen Lebens (ack utiliwtsin Iiuing.iiÄ6 vitg.6) vou der Vernunft der Menschen
eingeführt worden sind." Thomas spricht hier in sehr cmsprnchloser Form die
Wahrheit aus, die vielen Naturschwärmern bis auf den heutigen Tag noch nicht
aufgegangen ist, daß der Menschenvernnnft die Aufgabe gestellt ist, die Natur
durch die Kultur zu vollenden, oder um es kurz zu sagen, daß der Mensch kein
Tier ist.
Daß das Privateigentum eine Folge der Sünde sei, gesteht Thomas den
Kirchenvätern zu, nur meint er auch dieses wieder anders als sie. Während
sie die Entstehung des Privatbesitzes auf wirkliche Frevel einzelner, auf Raub
zurückführten, hält Thomas nur die Sündhaftigkeit des Menschengeschlechts im
allgemeinen für die Ursache, daß das Privateigentum notwendig geworden sei;
eine sündelose Menschheit hätte die Güter ohne Zwietracht gemeinsam besitzen
und genießen können, wie das ja auch einer Genossenschaft von Männern oder
Frauen möglich sei, die nach der christlichen Vollkommenheit streben (hier ent¬
geht ihm die Hauptsache: daß in einer kleinen Genossenschaft sehr vieles möglich
ist, unter anderen auch die Demokratie, was in einer großen oder gar in einem
nach Millionen zählenden Volke immer unmöglich sein wird). Die Verderbnis
der Sünde hat das nun geändert; diese jedoch vorausgesetzt, ist das Privat-
eigmtum eine wohltätige und heilsame Einrichtung, die allein eine friedliche und
geordnete Verwaltung und Benutzung der Güter möglich macht. Was die Güter¬
gemeinschaft der Urchristen betrifft, so meint Thomas, eine solche Einrichtung
sei wohl möglich, aber nicht auf die Dauer; die Apostel hätten sie getroffen,
weil sie im heiligen Geiste vorausgesehen Hütten, daß die Gemeinde zu Jerusalem
nicht lange bestehen werde; bei den Heiden, unter denen die Kirche Bestand
haben sollte, hätten sie sie nicht eingeführt. Entscheidend ist endlich für seine
Auffassung, daß er die Verpflichtung, von dem, was über das standesgemäß
Notwendige einkommt, Almosen zu geben, nicht aus der Gerechtigkeit ableitet
(wozu doch der Wortlaut der Bergpredigt Matth. 6, 1 leicht verleiten kann),
sondern aus der Liebe, und die Bestimmung des Maßes ganz dem freien Willen
des Schenkenden anheimstellt. Daß er den „Mundrand" in sxtreina nseessitsits
für erlaubt erklärt, als Beweis für seinen Kommunismus anführen wollen,
wäre unverständig. Friedrich der Große hat in einem Briefe an einen seiner
Franzosen (das Zitat daraus habe ich leider verloren) es ausgesprochen, daß in
diesem Falle, wo die gesellschaftliche Ordnung ihren Zweck dem einzelnen Menschen
gegenüber nicht mehr erfüllt, dieser durch sie auch nicht mehr gebunden, für ihn
der Naturzustand zurückgekehrt ist, wo die Gebrauchsgüter piimi oeeuvimtis sind.
Heutige Richter sprechen mit dieser Begründung mitunter in solchen Fällen frei.
Bei dem allgemein bekannten und viel erörterten kanonischen Zinsverbot
brauchen wir nicht zu verweilen. Auch Thomas hat es mit der schon den Alten
gelüufigeu Ansicht von der Unfruchtbarkeit des Geldes begründet. Das Geld
sei nichts als Tauschmittel, kein fruchttragender Gegenstand. Beim Verleihen
oder Vermieter eines solchen dürfe man sich selbstverständlich einen Anteil an
der Nutzung, einen Leihzins oder Pachtzins ausbedingen, nicht aber beim Ver¬
leihen eines Gegenstandes, dessen Benutzung in seinem Verbrauch bestehe, wie
eines Brotes oder einer Geldsumme; hier dürfe nur die Zurückerstattung des
Verliehenen, natürlich nicht des identischen Gegenstandes, der ja nicht mehr vor¬
handen sei, sondern seines Äquivalents gefordert werden. Diese Anschauung
enthält zwei Wahrheiten, die immer wieder zu predigen zu allen Zeiten not¬
wendig sein wird: daß man aus der Not des Nächsten keinen Vorteil ziehen,
daß man nicht Wucher treiben darf, und daß es unsittlich ist, dem eine Frucht
abzunehmen, dein keine gewachsen ist. Ein Notdarlehn ist seiner Natur nach
ein Werk der Nächstenliebe, und wer es zu einem Geschäft benutzt, der ist eben
ein Wucherer. Nun waren in der Zeit, wo die Lehre vom Wucher ausgebildet
wurde, sowohl im klassische-, Altertum wie im frühen Mittelalter, die Darlehn
gewöhnlich Notdarlehn, und gerade erst in der Zeit, da Thomas schrieb, be¬
gann sich der Produktivkredit in größerm Maßstabe zu entfalten, zunächst in
den Handelsstädten, wo oft Geld für kaufmännische Unternehmungen aufge¬
nommen wurde. Dem Thomas Hütte es ja schon einfallen können, daß man
mit Geld eine Kuh kaufen kaun, die Kälber wirft und Milch gibt, oder einen
Acker, oder einen Garten voll Fruchtbäume, oder ein Frachtschiff, mit dem viel
Geld verdient werden kann, oder eine mit Werkzeugen ausgestattete Werkstatt.
Daß ihm diese handgreifliche Widerlegung der das ganze Zeitalter beherrschenden
Ansicht nicht eingefallen ist, wird man ihm bei der Macht herrschender Vor¬
stellungen über die Gemüter um so mehr verzeihen, weil sie auch Luther noch
nicht einzusehen vermocht hat. Die eigentliche Verschuldung des kanonischen
Rechts und der Scholastik besteht darin, daß sie ans gegenwärtigen Verhältnissen
und Zuständen einen allgemeinen Begriff: Unfruchtbarkeit des Geldes ableiteten
und diesem Begriff das gesamte Wirtschaftsleben zu unterwerfen versuchten.
Ähnliches tun zwar andre Leute auch, zum Beispiel die heutigen Marxisten,
und auf andern Gebieten, besonders in der Politik, doch auch in den Natur¬
wissenschaften, kommt dergleichen vor; es gibt eben immer und überall Doktrinäre.
Im vorliegenden Falle wirkte jedoch der Doktrinarismus oder Scholästizismus
ganz besonders schädlich, weil sich die Kirche des allgemeinen Begriffs be¬
mächtigte, ihn zu einem Dogma stempelte, das geglaubt werden müsse, und auf
Grund dieses Dogmas sich anmaßte, dem Wirtschaftsleben Gesetze vorzuschreiben,
dem Verkehr die Bahnen zu weisen für alle Zeiten. Die wirtschaftliche Ent¬
wicklung hat sich natürlich nicht um das Dogma gekümmert, und die Theologen,
die Kanonisten, die Juristen sahen sich aller Augenblicke genötigt, die Theorie
durch eine neue Auslegung dem praktischen Lebensbedürfnis anzupassen. Wilhelm
Endemann hat (in seinen Studien über die romanisch-kanonistische Wirtschafts¬
und Rechtslehre) diesen langen Anpassungsprozeß beschrieben. Schön war er
nicht, denn es gehörten viel Sophismen dazu, das „unerträglich vertunstelte,
das natürliche Rechtsbewußtsein verletzende und die gesunde Entwicklung des
Verkehrs schwer schädigende Konglomerat von Rechtssätzen", das die Folge des
kanonischen Zinsverbots war, aufzubauen und dann Stück für Stück wieder
abzuhauen.
Überschauen wir nun das Ganze, so müssen wir sagen: die thomistische
Lehre greift weder die Grundlagen unsrer heutigen Gesellschaftsordnung an,
noch enthält sie eine Rechtfertigung der Faulheit oder eine Einladung zum
Müßiggang. Nicht irgendeine volkswirtschaftliche Lehre, sondern ein Institut,
das von einem theologischen Dogma empfohlen wurde, hat wirtschaftlichen
Schaden angerichtet. Indem Beschaulichkeit als höchste Vollkommenheit und
das Gebet als eine Leistung fürs Gemeinwesen angepriesen wurde, lag darin
eine Aufforderung an die Faulen, diese bequeme Leistung mühseligern Leistungen
vorzuziehen, und so züchtete die Lehre von dieser Art guter Werke einen Stand
zahlreicher Drohnen. Außerdem wirkte die Lehre von den guten Werken, zu
denen Schenkungen an Kirchen und Klöster gerechnet wurden, mit der Natural¬
wirtschaft, die eine andre Besoldungsart als die Nutzung von Grundstücken
nicht kannte, zusammen, ein Dritten des europäischen Grund und Bodens in den
Besitz der Toten Hand zu bringen, was bei wachsender Bevölkerung die ge¬
sunde wirtschaftliche Entwicklung selbst dann schwer geschädigt haben würde, wenn
der kirchliche Grundbesitz durchweg gut verwaltet worden wäre, und wenn seine
Nutznießer dem Gemeinwesen die ihrem Einkommen entsprechenden Dienste ge¬
leistet hätten, was bekanntlich beides nicht der Fall war. Darum forderte der
Zustand Europas um das Jahr 1500 eine durchgreifende Änderung. Die Re¬
formation beseitigte die Drohnen und vermehrte die Zahl der Arbeiter. Sie
schaffte das kanonische Recht ab und gab den weltlichen Obrigkeiten die volle
und unbeschränkte Gewalt in weltlichen Dingen, sodaß diese ohne Rücksicht auf
unveränderliche Dogmen je nach Art und Zeit in angemessener Weise geordnet
und getroffne Anordnungen nach Bedürfnis geändert werden konnten. Und durch
die Einziehung der Kirchengüter, die später auch auf die katholischen Staaten
ausgedehnt worden ist, wurden dem Staat die Mittel für Erfüllung seiner Auf¬
gaben zur Verfügung gestellt. Sie sind nicht sofort überall richtig verwandt
worden, aber durch die Befreiung aus der Gewalt der Toten Hand wurden
sie wenigstens in Umlauf gesetzt, sodaß sie mit der Zeit in die besten Hände
gelangen konnten. Ein Amerikaner meint, die vordem „imaginative" und
„emotionelle" Bevölkerung Europas sei damals „ökonomisch" geworden und
habe darum eine wohlfeilere Religion gebraucht; was einen sehr komplizierten
Prozeß nach amerikanischer Art einseitig, oberflächlich und ein wenig karikiert
darstellt. (Brooks Adams: Das Gesetz der Zivilisation und des Ver¬
falls; mit einer Einleitung von Theodor Noosevelt.)
Diese Wirkung der Reformation ist ihren beiden Hauptzweigen gemeinsam;
dagegen besteht in einer andern Beziehung ein tiefgehender Unterschied zwischen
ihnen. In der Ablehnung aller Erscheinungen und Bestrebungen, die wir heute
mit den Ausdrücken Kapitalismus, modernes Wirtschaftsleben kennzeichnen, steht
Luther fest und ohne Wanken auf dem Boden der alten Kirche, und auch die
lutherischen Bevölkerungen und Regierungen sind noch lange darauf stehen ge¬
blieben. Nicht bloß schilt er auf die Fuggerei und hält am kanonischen Zins¬
verbot fest, sondern er will auch, daß ein jeder in dem Stande verbleibe, in
den Gott ihn gesetzt hat, und sich mit seinem standesgemäßen Einkommen be-
guiige; besonders die Dienstboten sollen bei billigem Lohn und fleißiger Arbeit
ausharren. Der Kaufmannsstand wird durch Regelung der Ein- und Ausfuhr
sowie durch Preistaxen auf ehrbar bescheidnen Gewinn eingeschränkt. Strenges
Verbot des Müßiggangs und des Bettels, schreibt Troeltsch in dem (bei Anzeige
der „Kultur der Gegenwart" von uns besonders gelobten) Essay: Protestan¬
tisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, „fordert eine unausgesetzte Arbeit¬
samkeit; daß aber die Arbeit innerhalb des gegebnen Systems nährt, das ist teils
durch den Vorsehungsglauben, teils durch die Wirtschaftspolitik der Regierungen
und die Dünnheit der Bevölkerung gesichert. Ju möglichst abgeschlossenen
Handels- und Erzeugungsgebietcn wird nach dem Prinzip des Nahrungsschutzes
jedem seine Sphäre garantiert; dafür ist er Fleiß und Dienstwilligkeit schuldig.
So ist zu erwarten, daß ^wie Seckendorff schreibt! »keinem Untertan die Notdurft
zu seinen Lebensmitteln außer sonderbarer Strafe und Verhängnis Gottes und
sein Verschulden mangle«. Beweglichkeit der Güter und des Besitzes, auch der
Menschen, wird nach Möglichkeit verhindert, Fremde und Vagabunden werden
abgeschoben. Das Ziel der Arbeit ist, wie für die mittelalterliche Wirtschafts¬
lehre, das Auskommen und das Übrighabcn für Liebcszwecke. Der Reichtum
und Überfluß ist volkswirtschaftlich erwünscht, aber kein Ziel für das Individuum.
Es ist nicht bloß der überwiegend agrarische Charakter des Luthertums und
der Boden unentwickelter wirtschaftlicher Verhältnisse, der sich in dem Ausschluß
oder der äußerste» Einschränkung der Zinses äußert. Es ist die religiös-ethische
Abneigung des Asketismus gegen den Besitz und seine Gefahren, die hier vor
allem wirkt. Die Pflege des innern Menschen und des Gefühlslebens, die
Verwerfung der sündigen Welt und ihrer Versuchungen läßt trotz manchen
incrkantilistischen Versuchen der Obrigkeiten den Geist des Kapitalismus nicht
aufkomme». Eine so schriftlich-patriarchalisch, wie das später bezeichnet wirdj
erzogne Bevölkerung stellt gute Beamte, gute Untertanen, gute Soldaten und
willige Arbeiter, aber sie bringt keine Initiative und Planmäßigkeit des
individuellen wirtschaftlichen Handelns hervor. Es ist eine sonderbare Ver¬
schränkung gegenüber dem Calvinismus. Ist dieser in seiner puritanischen
Strenge dem Vergnügen und dem Lebensgenuß viel feindlicher als das Luther¬
tum, so ist wiederum die Askese des Luthertums der Entwicklung der modernen
Wirtschaft und des Kapitalismus, der Technik und der Unternehmungslust viel
feindlicher als der Calvinismus, der diese Dinge für das Gedeihen des christ¬
lichen Gemeinwesens benutzen zu müssen meint. Hier wirken Mittelalter und
kanonisches Recht im Luthertum fort, während der Calvinismus es hier scharf
durchbrochen hat, um an andern Punkten um so schroffer alte Wege zu gehn."
Daß der Kapitalismus bei den Calvinisten entstanden und heute in den
von ihnen beeinflußten Ländern am vollkommensten ausgebildet ist, hat man
jn schon immer gewußt, aber erst Max Weber hat in seiner klassischen Ab-
handlung*) klar gemacht, daß es wirklich der Glaube Calvins gewesen ist, der
den Geist des Kapitalismus, und damit diesen selbst, erzeugt, und wie er das
zustande gebracht hat. Jn einem sehr verwickelten Prozeß ist es geschehen;
wer diesen wirklich verstehen will, muß Webers Essay studieren; hier können
nur Andeutungen gegeben werden. Zur Charakteristik des kapitalistischen Geistes
führt Weber Stellen aus Mahnungen Benjamin Franklins an. Hier nnr einige
Worte daraus! „Bedenke, daß die Zeit Geld ist, daß Kredit Geld ist, daß Geld
von einer zeugungskräftigen und fruchtbaren Natur ist. Wer nutzlos Zeit im
Werte von 5 Schillingen vergeudet, verliert 5 Schillinge und könnte ebensogut
5 Schillinge ins Meer werfen. Wer 5 Schillinge verliert, verliert nicht nur
diese Summe, sondern alles, was damit bei Verwendung im Gewerbe hätte
verdient werden können, was, wenn ein junger Mann ein höheres Alter er¬
reicht, zu einer ganz bedeutenden Summe aufläuft." Das ist noch nicht der
ganze Geist des Kapitalismus, aber ein wesentlicher Bestandteil von ihm: Geld
verdienen, immer Geld verdienen, bloß um des Verdicnens willen; Geld als
Lebenszweck, was unnatürlich ist, da das Geld seiner Natur nach nur ein Mittel
zur Beschaffung der Lebensbedürfnisse ist, sodaß einer, der nur mäßige Be¬
dürfnisse hat, nicht mehr zu verdienen wünscht, als zu ihrer Befriedigung not¬
wendig ist, und nicht mehr arbeitet, als dieser Zweck fordert. Traditivnalismus
nennt Weber diese natürliche Anschauung und die ihr entsprechende gemächliche
Art zu arbeiten, aus der die moderne Konkurrenz allüberall den Handwerker,
den Kaufmann, den Landwirt hinauspeitscht. Diese Arbeitweise war dem Alter¬
tum und dem Mittelalter eigen, und zu ihr neigt die katholische Bevölkerung
noch heute. Sie will arbeiten, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen und zu ge¬
nießen, nicht um Geld aufzuhäufen. War nun etwa die Änderung dieser An¬
schauung und Stimmung eine Wirkung veränderter wirtschaftlicher Verhältnisse,
marxistisch gesprochen, der ideologische Nberbnn eines neuen Wirtschaftssystems?
Das Mittelalter hielt den Handel für sittlich bedenklich, die Kirche tolerierte
ihn bestenfalls. Die Kaufleute selbst schämten sich ein wenig ihres Gewerbes
und suchten auf dem Sterbebette durch milde Stiftungen die Sünden zu sühnen,
die sie durch Geldverdicuen begangen hatten. „Wie ist um aus diesem sittlich
tolerierten Gebaren ein Beruf im Sinne Frnnklins geworden? Wie ist es
historisch erklärlich, daß im Zentrum der »kapitalistischen« Entwicklung der mittel¬
alterlichen Welt, in Florenz iber Stadt der großen Bankiers als sittlich be¬
denklich galt, was in den hinterwäldlerisch-kleinbürgerlichen Verhältnissen von
Pennsylvanien im achtzehnten Jahrhundert, wo die Wirtschaft aus purem Geld¬
mangel stets in Ncituraltausch zu kollabieren drohte, von größern gewerblichen
Unternehmungen keine Spur, von Banken nur die vorsintflutlichen Anfänge zu
bemerken waren, als Inhalt einer sittlich löblichen, ja gebotnen Lebensführung
gelten konnte? Hier von einer Widerspiegelung der materiellen Verhältnisse in
dem ideellen Überball reden zu Wollen, wäre ja barer Unsinn."
Nicht materieller Zwang, sondern die Religion hat den Wandel bewirkt.
Die leitenden Geister des sechzehnten Jahrhunderts waren ausschließlich von
dem Gedanken an das Jenseits erfüllt, alles lag ihnen an der ewigen Seligkeit;
das Weltliche schien an sich wertlos. Nicht etwa die suri 8aorg. lÄmes hat sie in den
Kapitalismus hineingetrieben; die ist zu allen Zeiten vorgekommen; die spanischen
Konquistadoren, deren Hidalgogeist das Gegenteil des kapitalistischen war, wurden
von ihr getrieben. Auch war der Calvinist keineswegs gewissenlos im Handel,
sondern höchst reell. Den kapitalistischen Geist sowohl in den Unternehmern
als in den Arbeitern auszubilden, dazu ist eine lange Erziehung notwendig ge¬
wesen. Den Anfang hat Luther gemacht, indem er die Erfüllung der Berufs-
pflicht für den eigentlichen Gottesdienst erklärte und zugleich für die vollkommne
Sittlichkeit, über die hinaus eine vollkommnere nicht gesucht oder erstrebt werden
dürfe. Auch den Begriff des Berufs im modernen Sinne, behauptet Weber,
habe erst Luther geschaffen. Paulus meine mit xX^c.- nur die Berufung zum
ewigen Heil, nicht die Arbeit des Handwerkers, des Dieners, der Hausfrau.
Nur die Sprachen der protestantischen Völker wendeten ans diese Pflichterfüllung
das Wort Beruf, oalliiuZ, an, das einen religiösen Sinn habe. Die Romanen
gebrauchten voeaticm svoeaeioir, vovWicms) nur im Sinne des paulinischen
Wortes x/>.5t7es; den bürgerlichen Beruf bezeichneten sie mit xrotosÄon, rastier
und ähnlichen Ausdrücken. Damit war nun freilich ein wichtiger Schritt vor¬
wärts getan, aber bei diesem ist es auch im Luthertum geblieben. „Luther las
die Bibel durch die Brille seiner jeweiligen Gesamtstimmung, und diese ist
im Laufe seiner Entwicklung zwischen 1518 und 1530 nicht nur traditiona¬
listisch geblieben, sondern immer traditionalistischer geworden." Die calvinistische
Askese oder Selbstdisziplinierung mußte hinzukommen, dem neuen Begriff welt¬
bewegende Kraft zu verleihen. Als die Träger des asketischen Protestantismus
nennt Weber den Calvinismus, den Pietismus, den Methodismus und die
täuferischen Sekten; da jedoch die kräftigsten Antriebe vom Calvinismus aus¬
gegangen sind, und zwar von der Form, die er im schottisch-englischen Puritancr-
tum angenommen hatte, so werden hauptsächlich dessen Erscheinungen der Dar¬
stellung zugrunde gelegt.
Die Prädestinationslehre wird uach der ^VestmiuLtei- Ocmtsssicm von 1647
vorgetragen. Diese furchtbare Lehre mußte zunächst das Gefühl einer unerhörten
innern Vereinsamung erzeugen. Der gläubige Calvinist sah sich dem unabänder¬
lichen Dekret gegenübergestellt, das ihn entweder zur Seligkeit berief oder ewig
verdammte. Im ersten Falle hatte er alles und brauchte niemand und nichts;
im zweiten Falle konnte kein Mensch, kein Prediger, keine Kirche und kein Gott
ihm helfen. Tiefes Mißtrauen selbst gegen die nächsten Freunde wird aus¬
drücklich von den calvinischen Predigern geraten. Nur auf Gott darf der Er¬
wählte vertrauen, nur Gott darf er zum Freunde, zum Vertrauten haben: er
ist ganz auf sich allein und auf Gott gestellt. Dazu gesellte sich die qualvolle
Angst vor dem Tode und vor dem, was nach dem Tode droht. Dieselbe Angst,
die man bei katholischen Heiligen findet. Während aber viele von diesen sie
durch Selbstpeinigungen zu mildern suchen, ergreift der Calvinist rastlose Arbeit
als das geeignetste Mittel. Diese ist ihm ja als Pflicht auferlegt. Er soll das
äußere Leben nach dem Willen Gottes gestalten, und durch welche Mittel, das
sagt ihm eben sein Beruf, der Ruf Gottes, der ihn in eine bestimmte Lebens
Stellung versetzt und ihm einen bestimmten Wirkungskreis zugewiesen hat. Un¬
ablässige, womöglich körperliche Tätigkeit hilft ihm über die Angst hinweg und
macht ihm die Vereinsamung erträglich. Doch darf diese Tätigkeit keine plan¬
lose Geschäftigkeit zum Zweck der Betäubung sein, und damit ist ein zweiter
Hauptbestandteil des kapitalistischen Geistes gegeben: die Nationalisierung der
Arbeit, der Produktion. Aufgabe des Erwählten ist, als Werkzeug Gottes an
der rationellen Gestaltung des Kosmos mitzuarbeiten. Und zwar in einem
doppelten Sinne. Zunächst das eigne Leben, die eigne Person vernünftig zu
gestalten, alles triebhafte, gefühlsmäßige Tun auszuschließen, durchaus verständig
und nach einem festen Plane zu handeln, sich selbst methodisch — der sogenannte
Methodismus ist eine Frucht dieses Geistes — zu erziehen, zu bessern. Darum
wird strenge Selbstkontrolle geübt. Es ist die alte methodische Klosteraskese in
einer neuen Gestalt. „Die christliche Askese trägt in ihren höchsten Erscheinungs¬
formen schon im Mittelalter durchaus diesen rationalen Charakter. Die welt¬
historische Bedeutung der mönchischen Lebensführung im Occident im Gegensatz
zum orientalischen Mönchtum beruht auf ihm. Sie ist im Prinzip schon in
der Regel des heiligen Benedikt, noch mehr bei den Kluniazensern und Zister¬
ziensern, am entschiedensten endlich bei den Jesuiten, emanzipiert von planloser
Weltflucht und virtuosenhafter Sclbstqunlerei. Sie ist zu einer systematisch
durchgebildeten Methode rationaler Lebensführung geworden, mit dem Ziel, den
stg.Ws nawiÄS zu überwinden, den Menschen der Macht der irrationalen Triebe
und der Abhängigkeit von Welt und Natur zu entziehen, der Suprematie des
Planvollen Wollens zu unterwerfen----Die puritanische, wie jede rationale
Askese, arbeitet daran, den Menschen zu befähigen, seine konstanten Motive,
insbesondre die methodisch eingeübten, gegenüber den Affekten zu behaupten, ihn
zu einer Persönlichkeit, zu einem bewußten, wachen, hellen Leben zu erziehen,
die Unbefangenheit des triebhaften Lebensgenusses zu vernichten." In der
alten Kirche war diese Methodik auf die Ordensleute beschränkt geblieben, wenn
auch der Tertiarierorden des Franziskus sie in einem Teile der Laienwelt ver¬
breitete. (Heute geschieht dies durch die Missionen, durch die frommen Bruder¬
schaften und durch die geistlichen Exerzitien für Gymnasiasten, Studenten, Lehrer,
Gewerbetreibende, Frauen in größerm Umfange.) Der Calvinismus trug diese
Askese in die Welt hinaus und unterwarf ihr alle, die zu seiner Gemeinschaft
gehörten. Die tägliche Gewissenserforschung wurde von den Asketen beider
Konfessionen geübt, nur daß den Calvinisten der kontrollierende und die Selbst¬
erziehung leitende Beichtvater fehlte; der Calvinist kontrollierte sich selbst, oft
mit Hilfe eines Tagebuchs, und richtete sich auch selbst; dabei verging er sich
nach dem Urteile der Lutheraner durch Selbstgerechtigkeit und Werkheiligkeit.
An die Stelle der Mönchsaristokratie trat im Calvinismus die Aristokratie der
Auserwählten. Und hier sind nun noch zwei andre Dienste zu erwähnen, die
der Arbeiteifer dem Calvinisten leistete. Was ihn am meisten quälte, war der
Zweifel, ob er erwählt sei. Seine Kirchengemeinschaft umfaßte ja auch Ver¬
worfne. Diese sollten nicht ausgestoßen, sondern zur Ehre Gottes unter das
von den Auserwählten ihnen auferlegte Joch der christlichen Lebensordnung ge¬
zwungen werden; äußerlich also unterschied sich beider Wandel nicht. Nun war
es nicht bloß Bedürfnis für ihn. sondern es galt als Pflicht, sich für erwühlt
zu halten. Wie sollte er diese Überzeugung erlangen? Ein Mittel war rastlose
Berufsarbeit: daß er freiwillig tat, was die Verdammten nur gezwungen taten,
daran war die Erwählung zu erkennen. Außerdem aber war rastlose Berufs¬
arbeit, Verkürzung des Schlafes und der Erholung, neben Mäßigkeit und Ent¬
haltung von allem, was die Sinnlichkeit reizt, ein Mittel, sich vor Sünden zu
bewahren, besonders vor der Sünde, die der Puritaner am meisten fürchtete.
Auch in dieser Empfehlung der Arbeit als eines Mittels, sich vor fleischlichen
Anfechtungen zu bewahren, stimmt die puritanische mit der katholischen Askese
überein. „Die sexuelle Askese ist ja im Puritcmismus nur dem Grade, nicht
dem Prinzip nach von der mönchischen verschieden, und infolge der Erfassung
auch des ehelichen Lebens weiterreichend als jene. Denn der Geschlechtsverkehr
ist auch in der Ehe nur als das von Gott gewollt« Mittel zur Mehrung seines
Ruhmes, entsprechend dem Gebot: Seid fruchtbar und mehret euch, zulässig."
Die rationale Selbsterziehung führt nun auch zur Rationalisierung der
Berufsarbeit, also, da die Puritaner weder Beamte noch Gelehrte zu sein
pflegten, sondern meistens Landwirte und Gewerbetreibende oder Kaufleute
waren, der Produktion und des Handels. Vor allem wird ein bestimmter Beruf
gefordert. Der angesehenste puritanische Theologe, Baxter, lehrt: „Außerhalb
eines festen Berufs sind die Arbeitsleistungen eines Menschen nur unstete Ge¬
legenheitsarbeit, und er verbringt mehr Zeit in Faulheit als in der Arbeit. Der
Bernfsarbeiter wird seine Arbeit in Ordnung vollbringen, während ein andrer
in ewiger Verwirrung steckt; darum ist ein fester Beruf für jedermann das
beste." „Dem Leben des Berufslose», bemerkt Weber hierzu, fehlt eben der
systematisch-methodische Charakter, den die innerweltliche Askese verlangt. Auch
nach der Quükerethik soll das Berufsleben des Menschen eine konsequente as¬
ketische Tugendübung, eine Bewährung seines Gnadenstandes an seiner Gewissen¬
haftigkeit sein, die in der Sorgfalt und Methode, mit der er seinem Beruf nach¬
geht, sich auswirkt. Nicht Arbeit an sich, sondern rationale Berufsarbeit ist
eben das von Gott verlangte. Auf diesem methodischen Charakter der Berufs¬
askese liegt bei der puritanischen Berufsidee immer der Nachdruck, nicht, wie
bei Luther, auf dem Sichbescheiden mit dem einmal von Gott zugemessenen
Lohn. Darum wird nicht nur die Frage, ob jemand mehrere eMinM kom¬
binieren dürfe, unbedingt bejaht — wenn es für das allgemeine Wohl oder
das eigne zuträglich und niemand sonst abträglich ist, und wenn es auch uicht
dazu führt, daß man in einem der kombinierten Berufe ungewissenhaft wird.
Sondern es wird auch der Wechsel des Berufs keineswegs als an sich verwerflich
angesehen, wenn er nicht leichtfertig, sondern um einen Gott wohlgefälligem
und das heißt dem puritanischen Prinzip entsprechend nützlichem Beruf zu er¬
greifen erfolgt. Und vor allem: die Nützlichkeit eines Berufs und seine Gott¬
wohlgefälligkeit richtet sich zwar in erster Linie nach.sittlichen und demnächst
nach Maßstäben der Wichtigkeit der darin zu produzierenden Güter für die
Gesamtheit, aber alsdann folgt als dritter und natürlich praktisch wichtigster
Punkt: die privatwirtschaftliche Profitlichkeit. Denn wenn jener Gott, den der
Puritaner in allen Fügungen des Lebens wirksam sieht, einem der Seinigen
eine Gewinnchance zeigt, so hat er seine Absichten dabei; mithin hat der gläubige
Christ diesem Rufe zu folge», indem er sie sich zunutze macht." Dabei muß
aber mit strengster Rechtschaffenheit verfahre» werde», teils ans Gewisse»haftigleit,
teils, wie der rationale Geschäftsbetrieb bald erkennen läßt, weil donsst^ ein?
böse rMvy ist.
So hätten wir nun auch ein drittes Element des kapitalistischen Geistes:
Profitmacher, ist Pflicht; und nehmen wir noch das vierte hinzu, so haben wir
alles Wesentliche beisammen. Der Reichtum ist bedenklich — doch nicht an
sich, sondern nur als Verlockung zum Genuß. Sport als Erholung zur Wieder-
herstellung und rationeller Pflege der Kräfte wird gestattet. Dagegen „der
triebhafte Lebensgenuß, der von der Berufsarbeit wie vou der Frömmigkeit
gleichermaßen abzieht, war eben als solcher der Feind der rationalen Askese,
mochte er sich als kavaliermüßiger Sport oder als Tanzboden- und Kneipen-
besuch des gemeinen Mannes darstellen. Mißtrauisch und feindlich ist dem¬
gemäß auch die Stellung zu den uicht direkt religiös zu wertenden Kultur¬
gütern. Nicht als ob ein düsteres, kulturverachtendes Banausentum im Lebens¬
ideal des Puritanismus enthalten gewesen wäre. Das gerade Gegenteil ist
wenigstens für die Wissenschaft richtig." Aber in allen Gebieten der nicht
wissenschaftlichen Literatur und der „Sinnenkunst" legte sich ein Reif auf das
Leben des alten fröhlichen Englands. Die Nomcmleserei, das Theater, der
Schmuck der Person wurden verpönt, die Lebensführung und Kleidung uui-
fvrmiert, die bildenden Künste gering geachtet. „Daß in Holland für die Ent¬
wicklung einer großen, oft derb realistischen Kunst Raum blieb, beweist nur,
wie wenig exklusiv die dortige autoritär gehandhabte Sittenreglementierung »ach
diesen Richtungen gegenüber dem Einfluß des Hofes und des Regentenstandes,
aber auch der Lebenslust reich gewordner Kleinbürger zu wirken vermochte,
nachdem sich die kurze Herrschaft der calvinistischen Theokratie in ein nüchternes
Staatskirchentum aufgelöst und damit der Calvinismus seine asketische Werbe¬
kraft verloren hatte." Zur puritanischen Askese gehörte auch noch der Grundsatz,
daß erlaubte Genüsse nichts kosten dürfen. Geld darf nur auf Notwendiges
und Nützliches, nicht auf Überflüssiges ausgegeben werden. Das führt unter
anderm zur Ausbildung der Kunst des Komforts, der zu den Gesundheit fördernden
und darum nützlichen Genüssen gerechnet wird. Die innerweltliche protestantische
Askese, so faßt Weber das Ergebnis seiner Untersuchung zusammen, „wirkt mit
voller Wucht gegen den unbefangnen Genuß des Besitzes; sie schnürt den
Verbrauch, speziell die Luxuskonsumtiou ein. Dagegen entlastet sie den Güter¬
erwerb von den Hemmungen der traditionalistischen Ethik, sie sprengt die
Fesseln des Erwerbsstrebens, indem sie dieses nicht nur legalisiert, sondern direkt
mis von Gott gewollt ansieht. Der Kampf gegen die Fleischeslust und gegen
das Hängen an äußern Gütern ist kein Kampf gegen Reichtum und Erwerb,
sondern gegen die damit verbundnen Versuchungen. Diese aber liegen vor allem
w der Wertschätzung der als Kreaturvergötterung verdammlicher ostensiblen
Formen des Luxus, wie sie dem feudalen Empfinden so nahe liegen, anstatt
der von Gott gewollten rationalen und utilitarischen Verwendung für die
Lebenszwecke des Einzelnen und der Gesamtheit. Dem Flitter und Schein
chevaleresken Prunkes, der, auf unsolider ökonomischer Basis ruhend, die schäbige
Eleganz der nüchternen Einfachheit vorzieht, setzen die Quäker die saubere und
solide Bequemlichkeit des bürgerlichen lions als Ideal entgegen. . . . Halten
wir nun noch die Einschränkung der Konsumtion mit der Entfesselung des Er¬
werbsstrebens zusammen, so finden wir als Ergebnis: Kapitalbilduug durch
asketischen Sparzwang „und asketischen Arbeiteiser". Im Mittelalter galt es wie
im klassischen Altertum für erlaubt, ohne Arbeit vom Ertrage seines Vermögens
zu leben, wenn man solches hatte; ja wer dem städtischen Patriziat angehören
wollte, der war verpflichtet, „müßig zu gehn". Bei den Puritanern durfte
niemand müßig gehn. Und wie dem Unternehmer, so ist dem Arbeiter der
Trieb, mehr zu verdienen, als er braucht, anerzogen worden, obwohl lange Zeit
hindurch die Calvinisten gerade so wie die Lutheraner darauf bedacht waren,
ihren Arbeitern die Genügsamkeit zu erhalten, also ihnen eine von der eignen
verschiedne Moral einzuimpfen. Die religiösen Wurzeln, aus deuen der
Kapitalismus herausgewachsen ist, sind abgestorben, und an manchen seiner
heutigen Formen würde weder Calvin noch Baxter Frende haben. Doch bedarf
der Kapitalismus der religiösen Motive nicht mehr. Er ist heute „ein uuab-
ünderliches Gehäuse, in das der Einzelne hineingeboren wird, und das diesem
die Normen seines wirtschaftlichen Handelns aufzwingt. Der Fabrikant, der
diesen Normen dauernd entgegenhandelt, wird ökonomisch ebenso unfehlbar
eliminiert, wie der Arbeiter, der sich ihnen nicht anpassen kann oder will, als
Arbeitloser auf die Straße gesetzt wird." Doch ist etwas zurückgeblieben, das
an den religiösen Ursprung des kapitalistischen Geistes erinnert: die gute
bürgerliche Moral, wie man sie besonders in den Häusern solider Kauf¬
leute findet.
Um die beschriebne Leistung des Calvinismus voll zu würdigen, müssen
wir noch bedenken, daß wir dem kapitalistischen Geiste, den er erzeugt hat, die
moderne Technik verdanken; denn diese würde nicht entstanden sein, wenn nicht
die Konkurrenz der Erwerbsgierigen dazu gezwungen hätte, unausgesetzt auf
Verbesserung und Beschleunigung des Produktionsprozesses zu sinnen. Der
oben genannte Brooks Adams nennt nicht den kapitalistischen Geist, sondern
— amerikanisch roh — das Kapital selbst, und zwar das Geldkapital im ur¬
sprünglichen Sinne, das Hartgeld, den Erzeuger: dem Golde, das die Engländer
in Indien geraubt haben, sei die Maschinenindustrie zu danken gewesen; ohne
dieses Gold würde die Dampfmaschine gleich vielen andern früher gemachten
Erfindungen ungenutzt geblieben sein. Daß dieses Gold den Engländern große
Dienste geleistet hat, soll nicht geleugnet werden, aber die Maschinentechnik hat
es nicht erzeugt. Gold haben auch die Römer und die Griechen gehabt,
trotzdem sind alle Erfindungen ihrer Physiker (mit der Verwendung der kom¬
primierten Luft im Hcronsball waren diese der Entdeckung der Dampfkraft schon
sehr nahe gekommen) nur für Spielereien verwandt worden, weil der sie be¬
herrschende Geist das Gegenteil des kapitalistischen gewesen ist, der sich, um das
noch einmal zu sagen, keineswegs im Znsammenrauben von Edelmetall oder in
dem Einfordern von Wucherzinsen äußert, und der sich, wie Weber hervorhebt,
immer das Geld zu verschaffen weiß, dessen er bedarf. Ist es nicht ganz offenbar,
daß die Vorsehung jene religiöse Erregung des sechzehnten Jahrhunderts zu
dem Zwecke erweckt und mit ihr ganze Völker ergriffen hat, um dadurch eine
großartige wirtschaftliche und technische Umgestaltung zu bewirken, die moderne
Welt zu schaffen? Ihre Seelen gedachten die Calvinisten zu retten, Millionen,
ja Milliarden Leibern, und damit natürlich auch den zugehörigen Seelen, haben
sie d
s ist eine leider nicht zu bestreitende Tatsache, daß die Dichter
Deutschlands ein so geringes Interesse an den politischen Er¬
eignissen und Dingen im weitesten Sinne nehmen, wie keine
andre Gruppe geistig tätiger Menschen im Vaterland überhaupt.
Wenn mau von dem einen Ernst von Wildenbruch und etwa
"on Johannes Trojan, dem Redakteur des Kladderadatsch, absieht, so muß
man schon weit suchen, um Dichter zu finden, die selbst den größten Fragen
politischer, nationaler Entwicklung ein erkennbares, ihre Tiefen durchlenchtcndes
Interesse entgegenbringen. Werden dann einmal Versuche, gar Kollektivversuche
nach dieser Richtung gemacht, so kommen wunderbare Dinge zutage, wie
bei der Bewegung gegen die sogenannte Lex Heinze. Die Tradition ist jäh
abgebrochen. Wilhelm Jordan und Gnstcw Freytag haben keine Nachfolger
gehabt, und es ist deshalb heute ein recht wehmütiger Genuß, Dichterstimmen
ans frühern Jahren deutscher Entwicklung wieder lebendig zu machen, Dichter-
stimmcn von Männern, die nicht fern dem großen Leben der Nation und fremd
ihrer täglichen harten politischen Arbeit, so oder so in Gleichgiltigkeit oder gar
M dekadenter Nichtachtung lebten, sondern die mit jedem Atemzug nationaler
Erwartung und nationaler Enttäuschung mitjnbclten und mitzitterten. Es
kommt gar nicht darauf an. einen solchen Dichter, wie das etwa mit Herwegh
geschah.' auch einmal ordentlich zu überschätzen, wenn man mir einen hat.
Ferdinand Freiligrath war so einer, und sich das wieder gegenwärtig halten,
ist die schönste Freude, die uns ans der Beschäftigung mit seinen Werken heute
erblühen kann. Die wohlgeordnete Ausgabe, die Ludwig Schröder in der be¬
kannten trefflichen .wsseschen Klassikerbibliothek veranstaltet hat (Ferdinand
Freiligraths sämtliche Werke in zehn Bünden mit Bildnis usw. Leipzig, Max
Hesse), bietet dazu in bequemer Form und in noch nicht erreichter Vollständigkeit
Gelegenheit. Gewiß war auch Freiligrath kein Lyriker, der aus der Tiefe
Kleinodien von unvergänglicher Leuchtkraft emporhob. Dazu gelang ihm der
Vers zu schnell, ihm fehlte die Straffheit der Selbstbescheidung, und sogar in
jenen uns lieb gewordnen Versen: „O lieb, solang dn lieben kannst" empfinden
wir bereits den Hauch einer Vergänglichkeit, die zu überwinden die Konzentration
des Gedichts nicht stark genug ist. Aber wenn Freiligrath ohne jede Pose ans
einem, wie seine Geständnisse ergeben, von selbst erwachsnen Herzensdrang
heraus mitjubelt in dem Jubel seiner Tage und mitjammert uuter ihrem
Druck — dann geht auch uns, die wir diesen Kämpfen nun lange entrückt sind,
das Herz auf. Wenn wir den großen Erfolg seines ersten Gedichtbandes versteh»
wollen, müssen wir uns schon umständlich in die Zeit seines Erscheinens ver¬
setzen. Um die Wirkung des „Glaubensbekenntnisses" oder des ()g. ira! nach¬
zufühlen, bedarf es dessen nicht. In diesen Versen bebt und lebt zu viel
Durchrungnes, von einer starken Seele ganz Durchempfundnes, und ihr Bestes
wird und soll noch auf lange hin nicht vergessen sein. Die neue Ausgabe
bringt in dem nun schon gewohnten Gewände alles, auch an Übersetzungen,
was von dem Dichter überhaupt dem Druck zugänglich war. Die Biographie
von Ludwig Schröder ist wohl aus verlagstechnischen Gründen nicht so aus-
führlich geworden, wie sie Schröder nach verschiednen eingestreuten Bemerkungen
gern gegeben hätte. Wir Hütten es ihm gedankt, ebenso wenn es möglich gewesen
wäre, die Anzahl der prächtigen Briefe des Dichters auch in dieser Ausgabe
uoch zu vermehren. Hoffentlich findet Freiligrath, dessen Persönlichkeit in ihrer
ganzen hellen Lebensfähigkeit, in ihrem mutvollen Idealismus klar hervor¬
tritt, von neuem viel Verbreitung.
Wenn Freiligrath und seine Zeitgenossen, auf welcher Seite sie auch standen,
den politischen Umschwung der Dinge aufs heißeste mitempfanden, so hat doch
kaum einer die große technische Umwälzung im zweiten Viertel des neunzehnten
Jahrhunderts nach ihrer vollen Bedeutung erfaßt. Auch wer nicht, wie Justinus
Kerner. grollend die Tür verschloß vor Dampf und Kohlenstaub, wußte doch
die eigentümliche Bedeutung, die eigentümliche Schönheit dieser Umwälzung
kaum zu fassen. Max Eyes, von dem ich im 22. Heft an dieser Stelle ge¬
schrieben habe, hat das oft beklagt und war selbst Poet genug, an seinem
Teil die Lücke auszufüllen. Und eine ihm verwandte Gestalt ist Max Maria
von Weber, dessen gesammelte Schriften seine Tochter, Frau Maria von
Wildenbruch, jetzt unter dem Titel „Aus der Welt der Arbeit" (bei G. Grote in
Berlin) neu herausgegeben hat. Auch Weber, der Sohn des großen Komponisten,
war Ingenieur, Eisenbahner; auch er empfand zugleich durchaus als Künstler
und wußte die Eindrücke, die Beruf und Leben ihm brachten, in einer Form
wiederzugeben, die sich der Dichtung zum mindesten nähert. In dem köstlichen,
nicht genug zu empfehlenden Buche, zu dem Ernst von Wildenbruch eine tief¬
ernste Einleitung und der verstorbne Max Jähns eine warme Biographie
geschrieben haben, finden sich prachtvolle Sachen. Techniker, denen wir viel ver¬
danken, ohne gemeinhin viel von ihnen zu wissen, werden in scharfer Profilierung
dargestellt. Das Leben des Lokomotivführers auf den Schienen, in eisiger
Winternacht, bei einer Katastrophe, wird anschaulich und immer aus einer
Perspektive dargestellt, die die Erzählung über die Höhe eines Tagesfeuilletvus
weit hinaushebt. Dazwischen werden noch lehrreiche Vergleiche der verschiedensten
Eisenbahnsysteme gezogen, große Brückcnbauten und andre schwierige technische
Arbeiten liebevoll und ohne eine Spur von Langeweile dargestellt. Max Maria
von Weber, das lehrt jede Zeile, muß einer der eigenartigsten Menschen ge¬
wesen sein, die Deutschland gekannt hat. Er erscheint als eine glänzende
Mischung zwischen dem praktischen Mann des industriellen Aufschwungs unsrer
Tage, wie ihn die germanische Rasse zuerst in den angelsächsischen Ländern
ausgebildet hat, und dem humanistisch gebildeten und gerichteten Deutschen der
Tage seines Vaters und seiner Jugend.
Ich kann noch einmal auf meinen letzten Aufsatz zurückgreifen, worin ich
Lulu von Strauß und Torney als Novellistin pries. Sie hat inzwischen einen
Roman „Lucifer" veröffentlicht (bei Egon Flcischel u. Co. in Berlin), der von
ihrem Talent eine noch stärkere Vorstellung gibt. Wieder eine historische Er¬
zählung, wieder mit außerordentlicher Lebendigkeit hingestellt in ihre Zeit, und
diesmal doch zugleich mit wärmerm Anteil an den dargestellten Menschen. Das
Prachtstück unter den vielen Charakteristiken ist der Bischof von Olmütz, ein
Schauenburger, der den großen Kreuzzug gegen die Stedinger mit anführt.
Ein Mann, den Lulu von Strauß in dem ganzen Buch nicht viel sprechen
läßt, und der doch in jedem Zuge so lebendig wird wie kein zweiter, wie
selbst der Held kaum. Es ist ein ehrliches Stück Kunst, das hier niedergelegt
ist, und zugleich ein höchst spannendes Werk, was man ja auch einmal hervor¬
heben darf.
Auch der neue Roman von Clara Viebig ^.bsolvo es (ebenfalls bei
Flcischel n. Co.) beginnt so, als ob er in starker Spannung zu Ende gehn
würde. Aber leider läßt dieser Eindruck sehr bald nach. Schon die überreichen
Wiederholungen derselben Vorgänge und derselben Empfindungen ermüden ans
die Dauer. Wir haben schließlich wirklich kein Interesse mehr daran, ob Herr
Tiralla von seiner Frau umgebracht wird oder nicht, und wir verlieren auch
jedes Interesse an dieser Frau, die auf die Dauer nichts als unsympathisch,
bar jedes menschlich wahren Zuges wirkt. Der Grundfehler liegt freilich da,
wo wir ihn leider bei Frau Viebig schon öfters haben suchen müssen. Diese
hochbegabte Frau, deren Schaffen in den letzten Jahren ja in diesen Blättern
regelmäßig verfolgt worden ist, geht immer wieder Pfade, die gerade sie nicht
zum Ziele führen können. Denn die Verquickung katholischer Gläubigkeit mit
einer bestündigen Sucht zum Verbrechen, wie sie in Frau Tiralla dargestellt
sein soll, ist gewiß ein Problem, das einen Dichter reizen kann. Und ich zweifle
nicht, daß zum Beispiel eine Enrica von Handel-Mazzetti oder Lulu von
Strauß so etwas darstellen könnten. Frau Viebig fehlen hierfür die innern
und wohl auch die äußern Maßstäbe. Sie ist in der Eifel zu Hause, kennt
sich dort, an Rhein, und was die Hauptsache ist, in den Seelen der Bürger
und kleinen Leute ihrer Jugend aus wie wenige. Ihre Eifelnovellen und ihre
„Wacht am Rhein" waren dafür glänzende Zeugnisse. So oft sie sich, von
einem falschen Ehrgeiz oder einer schiefen Selbstbeurteilung schlecht beraten,
äußerlich oder innerlich ans andre Gebiete gewagt hat, ist ihr die Vollendung
eines runden Kunstwerks, ja auch nur (was wir dankbar hinnehmen würden)
eines fesselnden Unterhaltungsromans versagt geblieben. Und diesmal fehlen
sogar die reizvollen Einzelheiten, die sonst noch jedes ihrer Bücher aufwies.
Ich möchte wünschen, daß wir einmal drei Jahre lang gar nichts von Frau
Viebig zu lesen bekämen, und glaube, daß sie uus dann wieder etwas geben
könnte, was auf der in allzu hastiger Produktion verlassenen Höhe früherer
Schöpfungen steht.
Eine dritte Frau, Emma Flügel, die unter dem Namen Ernst Dahlmann
schreibt, scheint am Beginn eines Aufstiegs zur Kunst und zum Erfolge zu sein.
Freilich fehlt ihrem neuen Ruch „Lüttjeudörp. Eine niedersächsische Dorf¬
geschichte" (Leipzig, Atom Schmidt) die volle Nundung zur Einheit. Über der
Wiedergabe vieler Einzelheiten dörflichen Lebens ist der Verfasserin das zu¬
sammenhaltende Band ein wenig entglitten, und so bleiben es mehr einzelne
Bilder, was wir mitnehmen, als ein ganzes Gemälde. Diese Bilder aber zeigen
einen großen Fortschritt gegen den frühern Roman „Imme" (vgl. Grenzboten
vom 15. September 1904) in der Echtheit der Zeichnungen. Es „stimmt"
eigentlich alles und geht über früheres auch hinaus in einem manchmal bittern,
im großen und ganzen aber erquickenden Humor. Emma Flügel, die bisher im
Schatten stand, scheint nun ins Licht zu rücken. Ich schließe das besonders
aus einem der letzten Hefte des Kuustwarts. Ich freue mich dessen und wünsche
ihrem äußern Aufstieg die erfreuliche Folgerichtigkeit ihres innern Wachstums.
Auch Dietrich Spcckmann hat in den letzten Jahren mit seinen beiden
niedersächsischen Erzählungen „Heidjers Heimkehr" und „Heidehof Lohe" (beide
bei Martin Warneck in Berlin) verdientermaßen Erfolg gehabt. Es sind reine,
schlichte, stille Bücher, bei denen das Poetische wie von selbst aus den ge¬
schilderten Menschen und Dingen hervortritt. Die Menschen der Lüneburger
Heide, um die es sich hier handelt, sind gegeben in einfacher Anschaulichkeit.
Es wird nicht der Versuch gemacht, durch straffe Führung konzentriertes Leben
zu geben, sondern Speckmann erzählt unbesorgt weiter im Flusse seiner Ge¬
schichten. Unbesorgt auch betont er die Tendenz seiner Bücher zur Heimat und
zum Festhalten am Alten, solange das Neue nur neu und nicht auch erprobt
gut ist. So wenig wie sich die Tendenz aufdrängt, so wenig tun es Speckmauns
Menschen, mit denen wir gern zusammen sind. Es wird freilich kaum einer
von ihnen als starke Einzelerscheinung in uns weiter leben; dazu ist Speck¬
manns dichterische Gestaltungskraft nicht groß genug, und dazu erhebt er sich
auch auf der andern Seite wohl mit Absicht nicht genug über das Typische.
Es sind reine Bücher, gute Bücher insbesondre für die deutschen Häuser, in
denen man nicht nur die Zeitung und den neusten Seusatiousroman oder das
neuste angebliche Bekenntnisbuch liest.
Der Erzähler Hermann Stegemann tritt in diesem Jahre mit einem Band
Gedichte vor das Publikum: Vit» Somnium vrsvs (bei Egon Fleischel u. Co.
in Berlin). Die Kunst Stegemanns in diesen Versen bringt nicht den lauten
Schrei einer ersten Leidenschaft, sondern den vollen, aber durch die Erfahrung
reifer Jahre abgetöntem Nachhall.
Echte Lebenslaute, in deren schönem Fluß fast nirgends Ungeschmack der
innern oder äußern Form zu vermerken ist. Nächtliche Phantasien, die nicht
schematisch dargeboten werden, sondern aufs klarste immer persönlichen Erleb¬
nisse» entwachsen sind. „Auf und nieder in der Nacht" geht der Rhythmus der
Verse anders als am hellen Tage. Kurz und gut, ein schönes Buch, aus dem
ein männlicher, warmer Geist spricht, nicht unbedingt originell, aber künstlerisch
gebändigt und lebenswahr wie wenige unsrer Lyriker.
Von dem Versbuch „Thcmatos". das A. K. T. Tielo (bei Axel Juncker
i" Stuttgart) herausgegeben hat, könnte man fast Satz für Satz das Gegen¬
teil sagen wie von dem Stegemanns. Es ist noch keineswegs reif, der unaus-
getragnen Phantasien und Gedanken sind viele, überall wird Originalität auf
abseitsliegenden Wegen erstrebt und oft genug erreicht. Ein junges Herz gibt
sich hier, wo dort ein Mann, der über die erste Höhe schon hinaus ist, Garben
sammelt. Dafür ist Tielos Buch freilich ein starkes Versprechen für die Zukunft,
ein ungewöhnliches Zeichen dafür, wie unsre junge Kunst heute lebt. Tielo ist
ein Ostpreuße aus Litauen, dessen Kunst mir schon auffiel, als wir uns im
Musenalmanach Berliner Studenten von 1896 zuerst begegneten. Er hat seit¬
dem unablässig an sich gearbeitet und sich vor allem an Spitteler erzogen,
dessen Formenstrcnge er anstrebt. Nur fehlt ihm der romanische Einschlag,
der bei Spitteler unbedingt herauszufühlen ist. dafür hat er das Erbteil ferner
litauischen Heimat, das heißt in diesem Falle gerade das Gegenteil, nämlich
eine auf schroff geformtes Wesen nicht gerichtete, dämmerige Naturschilderung.
Den Kampf dieser beiden Elemente in Tielo zu beobachten, ist reizvoll, und
er ergibt in dem reichen Buch oft genug Meisterwerke. So wenn sich in dem
.Kinderspiel" die Mittagsstimmung eines litauischen Dörfchens gebannt steht
in prächtig aufgebnute Neunzeiler, so wenn umgekehrt der antike Stoff der
Penelope in weichfließende Gewänder gekleidet wird. Ich setze dieses Gedicht
Durch Plutos schwarze, nebelnde Zupressen.
„Odüsseus kommt! Auch ihn, den meerumstürmten,
Ruhmvollen Helden mit dem Denkerhaupte
Hinstreckte Thanatos. Schon raucht gen Himmel
Auf Ithaka des Königs Flammengrust."
„Odüsseus kommt." Und aus dein Schwarm der Schatten
An des Kokutos fahles Felsenufer
Vordrängten all die fürstlich hohen Frauen,
Die ihn geliebt! die bleichverhärmte Mutter,
Nausikaa, schlank, des Phäakenlandes
Tiefschöne Tochter — lauschend mit Kaluvso
Die kluge Kirke, scheu gefolgt von Löwen,
Zuletzt Athene mit gesenktem Speere,
Im schlachtgewohnten Auge feuchten Glanz.
Doch zwischen ihnen glitt gedämpftes Fragen:
„Odüsseus kommt — wo weilt Penelope?
Sie, die auf ihn gewartet zwanzig Jahre,
Vom Sumpfe frecher Freier unvergiftet,
Vergaß die Gattin ihn in dem Gefilde
Des immergrünenden Elusiums?"
Und dumpfer schluchzte die umwölkte Welle,
Und Ruderschläge schollen. Charons Nachen
Herwälzte sich durch Dunst und Todesgrauen —
Versonnen hob sich eine greise Schläfe,
Zwei Arme kreuzten sich im Purpurmantel
Auf starrer Brust —Da traf das graue Schweigen,
Das Klageruf und Gruß sonst unbarmherzig
Erdrückt, ein greller Schrei.Und jäh vom Abhang
Wie dämmeriges Nandgeröll sich löste
Ein Schatten, o, der stillste aller Schatten,
Der unbemerkt seit Monden dort gekauert —
Ums müde Antlitz wogten Witwenschleier —
Sie war es, die Vermißte, Leidverlorenc,
Die ewig nur im Herzen Einen trug.
Die schweren Säume raffend, kielentgegen
Ihr Fuß stob in das eisige Gewässer.
Schon aber zog Odysseus die Geliebte
Zum Felsenbord.Da bebten sie und hielten
Sich fest umschlungen — die «ersehnten Lippen
Fanden sich neu, die blassen Lippen färbte
Ein Hauch von Blut und Jugend — holde Ahnung
Verlieh den blassen Lippen Morgenschimmer —
Daneben finden sich Stücke titanischer Natur in das knappste Kleid ge¬
preßt und Balladen von starkem Gehalt, nicht ohne Humor, freilich auch nicht
ohne Unausgeglichenheiten. Jedenfalls aber ist Tielo ein Dichter, der in der
Gegenwart auf eignen Füßen steht, und von dem wir Vedentendes zu erwarten
haben. Der Band enthält von Anfang bis zu Ende nichts, was bloß klappert,
nchts, was nur gereimt worden wäre um des Reimes willen, ohne innern
Zwang.
Das Beste habe ich mir hente bis zuletzt aufgehoben. Richard Dehmel
seine gesammelten Werke in zehn wohlfeilen Bänden (bei S. Fischer in
Berlin) erscheinen. Es liegen bis jetzt drei vor, die die Gedichtsammlungen
»Erlösungen", „Aber die Liebe", „Weib und Welt" enthalten. Was zuerst Be¬
wunderung verdient, ist der Bienenfleiß, mit dem Dehmel hier die alten
Sammlungen umgearbeitet, in manchen Gedichten Zeile für Zeile geändert und
gewandelt hat. Es ist doch wahrlich ein Zeichen hoher künstlerischer Vor¬
nehmheit, wenn man sich noch in so schafsensfrohen Jahren nicht mit dein
Abdruck alter Auflagen begnügt, sondern immer wieder felle und bessert, um
sein Werk reiner und reiner zu gestalten. So wird es gewiß nötig sein, wenn
alle zehn Bände vorliegen, und das ist für das Jahr 1909 versprochen worden,
sich die bisherige Lebensarbeit dieses Dichters ganz von neuem zu vergegen¬
wärtigen. Heute genüge ein Hinweis. Die Zeit ist ja vorbei, wo Dehmel
co Besitz ganz enger Kreise war, der von Fernstehenden teils absichtlich ge¬
mieden, teils belächelt wurde. Immer weiter ist die Erkenntnis gedrungen, in
alle Lager der Literaturgeschichte und der Kritik, soweit beide ernst zu nehmen
sind, und zu Kunstfreunden aller Art, an denen das materiell aufsteigende
Deutschland doch schließlich auch reicher wird: die Erkenntnis, daß in diesem
Dichter so viel von der besondern Art und Größe unsrer Zeit lebt wie in
keinem andern. Dehmel ist der stärkste Gestalter (denn auch der Lyriker ge¬
staltet) seiner Generation. Ich glaube, daß aus seinen Werken einmal nicht
nur der künftige Literaturhistoriker, sondern insbesondre der Historiker der
Psychologie, der künftige Kulturforscher, lernen werden, was an unsrer Zeit
das Eigentümliche, das Große war. Es gibt für mich kaum eine komischere
Behauptung, als daß Richard Dehmel Dekadent wäre. Nein im Gegenteil,
während unsre lieben Dekadents aus der „dumpfen Sucht" nie Herauskommen,
hat er sich längst zu „lichter Glut" emporgeläutert. Und wie er äußerlich an
seinen Werken bessert, so geht seine innere Entwicklung (das lehrt fast jedes
neue Gedicht) immer wieder zur Hohe. Bartels hat jüngst Dehmel als wert¬
vollern und kräftigern Ersatz für Heine empfohlen. So sehr ich wünschte, daß
Dehmel annähernd soviel gelesen würde wie heute Heine, so sehr erscheint mir
doch die darin liegende Parallele falsch. Mir scheint, daß sich Bartels da durch
bestimmte ältere Dehmelsche Gedichte und Gcdichtkreise und durch Dehmels
persönliche Stellung zu Heine hat verführen lassen. Denn Dehmel wächst
nicht nur in seiner lyrischen Kunst weit über Heine hinaus, dem ja Bartels
selbst mit Recht einen Platz neben unsern Größten (also Goethe, Mörike,
Storm, ich rechne auch Liliencron hinzu) nicht einräumen will; Dehmel bedeutet
auch seiner ganzen Weltanschauung, seinem ganzen Ernst, seiner ganzen Per¬
sönlichkeit nach viel mehr als Heinrich Heine. Er hat einmal sehr geistvoll
Goethe den ewig Trächtigen, Schiller den ewig Trachtenden genannt. Danach
würde man ohne Zwang ihn gegenüber seinem Freund Liliencron auf die
Schillersche Seite als ewig Trachtenden stellen können. Aber in der seltsamen
Mischung der Elemente, die dieser Dichter darstellt, findet sich dann wieder
ein Zug trotziger Härte des Wollens und der Form, wie sie etwa Hebbels
Persönlichkeit und Hebbels großartigsten lyrischen Schöpfungen eigen sind.
Kurz und gut, das Problem Dehmel ist nicht so einfach, aber es ist in jedem
Falle ein Problem. Dehmel ist eine Größe, um die niemand herum kann,
und mit voller Absicht empfehle ich deshalb an dieser Stelle die neue, auch
äußerlich sehr schöne Gesamtansgabe. Ich vermute, daß unter den Grenzboten¬
lesern viele sind, die Dehmel noch völlig fern stehen. Ich weiß auch, daß
mancher, der vielleicht auf diese Zeilen hin seine Bücher vornimmt, sie wieder
weglegt, ohne von den Versen nahe berührt zu sein. Das ist einmal nicht
anders; gibt es doch heute noch sehr viele, denen zum Beispiel Hebbel oder
andre Größen aus der Vergangenheit völlig unzugänglich sind. Aber ich weiß
auch, daß sehr viele und gerade reife Münuer und Frauen, wenn sie sich
nur mit Ernst und Liebe Dehmels Dichtungen nahen, daraus Erquickung und
Genuß und die Bekanntschaft mit einem seltsam bedeutungsvollen Geiste schöpfen
werden. Daun aber wird Dehmel auch auf sie weiter wirken. Wie er gleich
allen überragenden Geistern mit einem Schlagwort nicht zu fassen ist, so soll
man auch, ungeblendet durch die Schlagworte derer, die ihn nicht kennen, und
derer, die in ihrer krampfhaften Modernität ihn für sich reklamieren, an ihn
^
ern draußen an dem unsäglich reinen Himmelsrande tauchen zwei
gelbe Flecken auf. Eine Zeit lang schwimmen sie am Horizont
wie zwei Wasserlilien, lösen sich dann und wachsen langsam auf
schlanken weißen Stengeln aus dem Meere empor. Sie zittern
in der sonnenflimmernden Ferne wie zwei Staubträger, und
zwischen ihnen erhebt sich eine große gelbe Blumenkuppel. Man starrt und
staunt ob dieses Wachstums, das an das der Gräser erinnert und so langsam
vor sich geht wie dieses; man ist erwartungsvoll gespannt und wird doch nicht
ungeduldig. Die See dämpft; und das bedächtige Tempo, der nimmer ruhende
Stempelschlag des Schiffes, der eintönig fällt wie der Puls des Wiederkäuers,
macht ruhig und friedlich. Und dies Wachsen da draußen teilt einem etwas
mit von der großen Geduld der Ewigkeit, so unendlich langsam ist es.
Sie ziehen andre mit sich; seltsame Formen und Farben sprossen aus der
Tiefe auf und schmelzen zusammen zu einem mächtigen weißen Beet — die
See blüht. Es nimmt gebrochne Konturen an: Zinnen, minaretartige Türme,
Kuppeln; es zittert eine Weile vage vor dem Auge, fern, unwirklich — ein
Silberschloß mit Kuppeln aus Gold, das sich auf einer blendenden Kreidebank
aus dem blauen Meere hebt. Bis die weiße Masse vor dem Blicke in un¬
zählige Flächen bricht, und sich die Stadt wie eine Wasserlilie ausbreitet auf
dem blauen Ozean, sich auf Blättern und Stielen wiegend — die Kuppel
und die beiden schlanken Turmspitzen der Kathedrale als Krone und Staub¬
träger in die purpnrgesättigten Lüfte erhebend. Sechs Fahrstunden sind es nnn
her, seit wir die ersten schwachen Pünktchen entdeckten, so klar ist die Luft.
Während man in der Bucht von Cadiz Anker wirft, und sich der Blick in
die herrlich daliegende Stadt versenkt, klopft einem das Blut in den Adern.
Diese fremden Linien; dies wunderbar reine Weiß, nun im Dezember mit
Hellem Frühlingsgrün vermischt; diese ganze blendende Masse, eingefaßt von
dem tiefen Indigo des Meeres und der leichten Mischung von Purpur und
Gold und Blau, die der Himmel zeigt, unter der schneeweißen Hülle selbst in
Farben spielend, die so fein, so leicht angedeutet sind, daß man sie von keiner
andern Stadt in der Erinnerung trägt — das muß das Märchen sein, das wir
schon als Kinder ungläubig belächelten: das wunderbare Märchen, aus dem
Meere selbst geboren und jubelnd hinaufgehoben in Sonnenglanz und Farben,
in Goldschimmer und Blau.
In demselben Jahre, wo Methusalem sein Leben beschloß, segelten einige
junge kühne Phönizier ein wenig über das Ende der Welt hinaus, das sich
dazumal bei Gibraltar befand, und gründeten die Stadt Cadiz. Sie kam auf
eine kleine Insel zu liegen, die sich, durch einen langen schmalen Sandstreifen
mit Spanien verbunden, wie ein dünner Hals in das Meer vorschob.
Cadiz wurde bald eine für jene Zeiten bedeutende Stapelstadt; sie wurde
das Mittelglied für allen Seehandel zwischen dem Orient und England-Ostsee-
Nordfrankreich. Gold, Bernstein, Purpur, Erz, kostbare Stein- und Holzsorten:
alle Schütze des Altertums überspülten auf ihrem Wege hin und zurück die
Stadt. Sie wuchs und erstarkte hieran an Reichtum und Schönheit und einer
eignen weiblichen Herrschbegier, die sie bestimmte, sich der Reihe nach den
Mächtigsten hinzugeben, zuerst Karthago, dann Rom. Cäsar befestigte die
Stadt und machte sie zum Kriegshafen: allmählich wurde sie der Mittelpunkt
des Welthandels, die Königin des Meeres. Der wandernde Brennpunkt der
Zivilisation flackerte eine Weile suchend über sie hin, ehe er weiterglitt zu
Cordova und Sevilla.
Die Mauren wußten aus der Stadt, dicht umschlossen von tiefem Wasser,
wie sie war, keinen Gewinn zu ziehen. So versank sie wieder ins Meer,
tauchte jedoch ein Jahrtausend später wiederum auf, ein Ausbeutungsobjekt der
Neuen Welt. Wieder wurde Cadiz Mittelglied, diesmal zwischen zwei Welten,
große Schiffsbauten erhoben sich, und alle Bank- und Handelshäuser der Erde
errichteten dort ihre Filialen. Die Stadt wurde bei der Heimkehr der großen
Handelsflotten aus Amerika von Kaufleuten überschwemmt: russischen, jüdischen,
indischen; Berbern, blonden Nordländern, schlauen Griechen, riesengroßen
Sklavenhändlern aus Westafrika. Es waren auch marokkanische Seeräuber
darunter; sie erkundigten sich insgeheim, wann dieses oder jenes Schiff mit
seiner Ladung Gold daheim erwartet werde. Das Gold klang wieder in den
verschiedensten Zungen, sein Glanz brach sich in allen Hautfarben.
Und es gab Gold genug für den, der es einzufangen verstand! Das
Gold und Silber allein, das Cadiz in einem einzigen Jahre (1790) aus
Amerika erhielt, belief sich auf einen Wert von 100 Millionen Kronen; und
zu einer so gewöhnlichen Ware wurde das Gold in der Stadt, daß selbst die
Hunde es als Kette verschmäht und der Freiheit deu Vorzug gegeben haben
sollen. Nur die Menschen blieben dem edeln Metalle weiterhin treu.
Seinen großen Stoß als Stapelplatz der Alten Welt erlitt Cadiz durch
den Aufschwung der Dampfschiffahrt vor etwa dreißig Jahren. Kein Hafen
konnte sich einer bessern Lage rühmen: just an der Meeresstraße mit ihrer
reißenden Strömung und ihren streitbaren Winden, die es zu einer zuweilen
gefährlichen und oft ökonomisch zweifelhaften Sache für die Segelschiffe machten,
die Reise zu den weitgestreckten reichen Küsten des Mittelmeeres fortzusetzen.
Aber das Dampfschiff ist nicht wie das Segelschiff an einen Bestimmungs¬
ort gebunden, der dicht an den großen Meeren mit weitem Wasser und regel¬
mäßigen Winden liegt; es geht gegen den Wind und gegen den Strom, läuft
durch schmale Meerengen und stromaufwärts durch die Flüsse, löscht ein wenig
da und ein wenig dort, setzt so weit wie möglich jeden Hafen in direkte Ver¬
bindung mit der großen Welt, vermeidet Umladung, Zwischenhändler, Stapel-
Plätze. Und damit war Cadiz als Handelsstadt im Grunde fertig. Ihren
letzten Rest erhielt die Stadt, als Spanien 1898 seine Kolonien und sie hier¬
durch ihre Bedeutung als Ein- und Ansschiffnngsplatz zwischen diesen und dein
Mutterlande verlor.
Die Stadt ist in den letzten dreißig Jahren von 100000 auf etwa
65000 Einwohner herabgegangen, die nun von einem stillen Wiederkänen der
Erinnerungen vergangner Größe leben. Sie hat keine häufigere Zugver¬
bindung mit der Außenwelt als eine jütländische Landstation von 200 Ein¬
wohnern; täglich kommt ein Postzug an, mit einer regelmäßigen Verspätung
von zwei Stunden. Die Madrider Morgenblätter sind erst am Abend des
nächsten Tages in Cadiz und kommen, soweit sie abonniere sind, infolge der
Verspätung des Pvstzugs den Lesern selten vor dem Morgen des dritten Tages
zu Händen.
In Cadiz fließt das Leben still dahin. Die Stadt wirkt wie ein feines
altes Lächeln, von weißen Locken eingefaßt, wie eine weiße Haube, die hinter
einem altväterischen Blumentopfe hervornickt; es gibt große Partien der Stadt,
in denen man wandelt wie auf verschlossenen Villeuwegen, wo verabschiedete
Priester und Lehrer ihre Zufluchtsstätte haben — solch ein friedlicher Schimmer
umwebt die Häuser, solch eine vegetative Ruhe erfüllt alle Lebensäußerungen.
Hier gibt es keine klingelnde, brummende, nervenqnälende elektrische Straßen¬
bahn, keinen Chor krähender Fabrikpfeifen, keine rasselnden Arbeitskarren.
Das ewige Zittern der Luft, das die moderne Stadt kennzeichnet, das unauf¬
hörliche Vibrieren des Bodens und der Mauern, der aufreizende Wespenton
von Millionen klirrender Dinge, das Menschengewoge — all dies gibt es nicht
in Cadiz, dessen einzelne Laute weit hinaus hörbar sind wie in einem Dorfe
auf freiem Lande.
Der Caditcmer sitzt innerhalb seiner vier Wände und hält seine Stadt
für die lebhafteste in ganz Andalusien, so natürlich erscheint ihm die Stille.
Cafes und Plätze — diese natürlichen Sammelstätten des Südländers —
stehn leer, die Promenaden mit ihrer entzückenden Vegetation liegen un¬
genützt. Nur im Volke, das sich überall und uuter allen Verhältnissen gleich
bleibt, regt sich dasselbe bunte Leben wie allerwärts, gard und lärmt es wie
überall.
Von allen Seiten wird Cadiz vom Meere begrenzt, das die Stadt wie
ein Eisenbart dicht umklammert und sie gehindert hat, während des Zustroms
der Aufschwungsperioden ihre Grenzen zu erweitern. Steil über dem Wasser
erhebt sich die hohe Bastion und läuft wie eine gekrümmte Riesenschlange rund
um die Stadt; in ihrem Magen rumort die Artillerie, auf ihrem Rücken läuft
die herrlichste menschenleere Promenade, breit wie eine Landstraße und mit
alten Feldkanonen geschmückt, die mit Ofenschwärze gebürstet werden. Auf der
einen Seite öffnet sich eine weite entzückende Aussicht über die Bucht und das
Festland, aus der andern gibt es kleine Anfluge hinab in enge reinliche
Gäßchen, wo die Männer gleich drapierten Versteinerungen stehn, und die
Weiber wie längliche Gebetbücher dahinschreiten, bleich, schwarzgekleidet, ernst¬
haft. Nur wenn sie einem Fremden begegnen, kommt Leben in sie; sie bleiben
stehn und schlagen ein gellendes Gelächter an. So weit ist die Stadt nun
von der ehemaligen Weltstadt entfernt, in deren Straßen alle Volksstämme
wogten und feilschten.
So still wie Cadiz ist selten eine Stadt, so reinlich keine. Mit Aus¬
nahme des Volksviertels um Santa Elena, wo mit Ungeziefer bedeckte Weiber¬
gruppen, Kehrichthaufen und krätzige, kahle, herrenlose Hunde ein echt süd¬
ländisches Großstadtbild schaffen, ist die Stadt so peinlich sauber, fast zierlich,
wie das Stübchen einer alten Jungfer. Der Asphalt in den schmalen Güszchen
ist rein wie ein Zimmerböden, und die Häuser erheben sich gleich weiß mit
grünen Fensterläden oder Glasveranden durch alle Stockwerke. Rein, kühl, still,
in Schatten gehüllt — so liegt die Stadt da unten mit ihren Säulenhöfen, in
denen die Springbrunnen plätschern und Palmen, Nerien, Platanen jahraus
jahrein grünen. Oft sind diese Säulenhöfe glasüberdeckt und mit Teppichen
und Diwans zu kühlen Sommerfrischen eingerichtet.
Richtige Höfe zum Waschen, Trocknen und dergleichen wird man dagegen
in dieser dichtgebauten Stadt, wo jedes Karree eine einzige kompakte Häuser-
masse ist, vergebens suchen. Bis man eines Tags eines der fünftausend
Türmchen der Stadt ersteigt und über die flachen Dächer hinausschaut. Jedes
Haus hat sein flaches Dach mit einer ringsum laufenden Brustwehr und in
der einen Ecke als Abschluß der Wendeltreppe ein Türmchen. Hier ist der
Hof, der Waschplatz, die Trockenstelle, vielleicht nebstbei ein wenig Garten oder
Werkstätte — eine ganze Stadt in schonungsloser Sonne und stechend weißem
Lichte; fünftausend Würfel, ein wenig höher oder niedriger, aber zusammen¬
hängend. Von hier aus gesehen gleicht es einer großen durchschnittenen
Bienenwabe, die auf dem klaren Wasser schwimmt, verziert mit kleinen Elfen¬
beintürmen, weißer Wäsche und brennend roten Pelargonien. Man möchte
das alles durchwandern, über die schmalen Spalten springen, die die Gassen
bilden, und weiter ziehen, hinüber zu der andern Küste — wenn nur nicht die
Sonne so brennend wäre und einen längern Aufenthalt hier oben unmöglich
machte. Am Abend ist es hier wunderbar, wenn der Himmel flammt und das
Meer von allen Seiten wie geschmolznes Gold herbeikommt, um noch einmal
die weiße Stadt zu bereichern.
Ein Sandstreifen von einer Meile Länge und einem Steinwurf Breite
verbindet wie ein Nabelstrang die Stadt mit dem Festlande. Zur Linken leckt
das Wasser der Bucht träge über einen glatten Strand von bläulichem
Kleisand; zur Rechten wälzen sich vor einer Reihe schöner Dünen die Wogen
des Atlantischen Ozeans daher wie ein gelbgrüner Brei aus Sand und Wasser;
sie kentern am Gestade und fallen dröhnend auf die weiße Küste nieder.
Zwischen den Dünen liegt eine Zigeunerhütte, aufgeführt aus alten
Lumpen, Aloeblätteru und rostigen Blechplatten. Ein zehnjähriger kleiner
Bursche in bloßem Hemde kommt auf uns zu und bettelt, während er mit
den Nägeln lange weiße Striemen in die schwarzbraune Haut der Lende kratzt,
die von zahlreichen Jnsektenbissen in Form kleiner aufgeworfner Krater mit
einem roten Funken in der Mitte besät ist. So oft er uns aufgeben will,
spornt ihn ein altes Weib unten aus dem Dorf in einer sonderbar gellenden
Sprache von neuem an.
Die Straße, die wir gehn, bestätigt ausnahmsweise das bekannte Sprich¬
wort und führt wahrhaftig bis nach Rom. Sie läuft über Sevilla - Sala-
manca-Südfrankreich und ist in ihrer ganzen Länge von Römern angelegt.
Noch zeugt ihr seither teilweise ergänztes Mauerwerk von römischer Geschicklich-
keit. Allmählich erweitert sich die Sandzunge und wird zu einer flachen
nackten Marschgegend mit Kannten, die an Zahl und Breite zunehmen, bis sie
zuletzt den größten Teil des Terrains bilden. Zwischen den Kannten ist die
schwarze Erde von vielen Hufen und Füßen zu einem einzigen ausgetretnen
Geleise zusammengeknetet; man folgt ihm wie dem Ariadnefaden und gerät
tiefer und tiefer in das Labyrinth magerer Jnselchen, auf denen das Vieh
weidet, und da und dort eine weiße Pyramide aufragt. Zu allen Seiten,
soweit das Auge reicht, erstreckt sich dieses Land, das mit seineu Kannten,
seinem Vieh und den seltsamen Pyramiden einem sauern Marschboden gleicht,
in dem ein Nomadenvolk gehaust und, plötzlich verjagt, seine Hunderte von
Zelten zurückgelassen hat. Näher besehen erinnern die Pyramiden an schmutzigen
Schnee, und kostet man von ihnen, so erweist es sich, daß sie aus Salz
bestehen.
Diese anscheinend unfruchtbare Gegend ist eine von Spaniens großen un¬
erschöpflichen Quellen des Reichtums — es sind die Salzgärten von San
Fernando. Dies ganze Wirrwarr von Kanalstückm, das mehrere Quadrat¬
meilen bedeckt, ist durch schmale Schleusen mit den langen Hauptkanälen ver¬
bunden, die ihrerseits mit dem Meere in Verbindung stehn, sodaß bei Eintritt
des Hochwassers jeder Deich gefüllt werden kann. Nun zur Winterszeit ruht
die Arbeit, und die Salzteiche füllen und leeren sich viermal des Tages von
selbst, je nach Ebbe und Flut. Im Mai aber, wenn die Sonne heiß bäckt
und mehrere Monate lang kein Regen fällt, beginnt die Salzbereitung; das
Seewasser wird eingeschlossen und steht 4 bis 5 Viertelellen hoch in den
Deichen. Im Laufe von zehn Tagen verdampft es vollständig und hinterläßt
am Grunde der Deiche eine zwei Zoll dicke Salzschicht, die an Wieseneis er¬
innert, unter dem das Wasser teilweise versickert ist.
Ist die Kristallisierung zu Ende, so wird das Salz zusammengeschaufelt,
auf Esel geladen und bei den großen Kannten pyramidenförmig aufgestapelt,
von wo flache Prasum es hinausführen zu den Schiffen in der Bucht. Die
Arbeit erinnert den Nordländer auffallend an das Schneeschippen auf einer Eis¬
bahn und bildet einen eigentümlichen Kontrast zu der tropischen Sonne.
Sobald das Salz entfernt ist, werden die Kanäle von neuem gefüllt, und
unter normalen Verhältnissen kann dies vier- bis sechsmal in einem Sommer
wiederholt werden. Fällt aber Regen während des Verdampfungsprozesses, so
scheidet sich das Salz nicht ab, und die Ernte ist zerstört.
Die starke Sonne, die sommerliche Trockenheit und die Salzhaltigkeit des
Meeres schaffen hier so günstige Bedingungen wie selten anderwärts. Aber
nur wenige der Salzgärten werden noch benützt; der Rest des ungeheuern
ausgegrabnen Gebiets liegt da als Tummelplatz für Garnelenfischer und See-
Vogel, erstickt unter der toten Hand des Staates.
Man wundert sich nicht, das; das Salz hier am Erzengungsorte die
Konsumenten viermal soviel kostet wie in Dänemark, da ja der Staat
12 Millionen Franken jährliche Steuer auf dieses unentbehrliche Nahrungs¬
mittel setzt, man ist es hier gewohnt, jede Quelle des Reichtums von dieser Seite
getrübt zu sehen. So lächerlich es scheint, so ist es hier mitten in den Salz¬
gärten ein einträgliches Geschäft, einige Pott Salz zu stehlen; und um den
Salzdiebstahl zu verhindern, wird ein kostspieliges Bewachungssystem unter¬
halten und die Oberfläche der Pyramiden verhärtet, sodaß es oft der Anwendung
von Dynamik bedarf, um sie anzubohren.
Und die Stadt Cndiz muß ja auch leben trotz ihrer Weiße. Sie bietet
den Schiffen nicht einmal einen Hafen, sucht sie aber statt dessen auf jede Art
zu brandschatzen, durch Abgaben und schwindelnde Proviantpreise. Die Frachten
verteuern sich hierdurch, und die Schiffe ziehen es vor, in das Mittelmeer
einzulaufen, zu den neu aufgetauchten Salzgärten in Sizilien und an der nord¬
afrikanischen Küste, während diese hier zuwachsen und bald nicht einmal mehr
mit trocknem Brot all die Menschenarbeit verzinsen, die in ihre» Ausgrabungen
niedergelegt ist.
s ist eine häufig beobachtete Tatsache, daß das Maß der Entfernung
für viele Dinge der eigentliche Wertmesser ist. Wie oft hatte der
Freiersmann in Neichenbachs Hof den Augenblick herbeigesehnt, wo
eine der beiden Kandidatinnen freiwillig den Kampfplatz räumen
und ihm dadurch den Entschluß, der andern einen Heiratsantrag zu
machen, erleichtern würde! Jetzt war der Augenblick eingetreten,
es bedürfte nur eines einzigen Wortes, die leicht angewelkte Rosalie in eine neu¬
aufblühende Rose zu verwandeln. Sie wäre bereit gewesen, errötend an seine Brust
zu sinken, schon zitterte in ihren schlanken, überschlanken Armen das Verlangen, sich
um seinen Nacken zu schlingen — aber das Wort blieb ungesprochen. Und weshalb?
Weil ihm Frau Minna, jetzt, wo sie seinen Blicken unerreichbar war, wo er ihrR
Lachen nicht mehr hörte und keinen Ärger über ihre ketzerischen Marginalien zum
unvergänglichen Texte der großen Dichter und Redner des Altertums mehr empfand,
als die Perle aller Frauen erschien. Sie war das Urbild des Lebens und der
gesunden Sinnlichkeit im Sinne Catulls, sie war eine plastische Illustration zu der
L.rs s-inkiM des Ovid, sie war für ihn die majestätische Hera, die schalkhaft¬
schmeichlerische Aphrodite und — daran waren hauptsächlich die grünen Bohnen
schuld — die Hestia der Griechen oder die Vesta der Römer in einer Person!
Was half es, daß sich Fräulein Rosalie, die ganz genau wußte, daß sie in
der jungen Witwe eine Rivalin losgeworden war, jetzt von ihrer vorteilhaftester
Seite zu zeigen suchte, daß sie ihre Verden durch alle Tempora herunterschnurrte
und aus freien Stücken in den gallischen Krieg des großen Julius Cäsar zog!
Sie war um doch einmal nicht Frau Minna! Wenn sie ausharrte, so tat sie es,
weil der Name Polykarp mit glühenden Lettern in ihr jungfräuliches Herz geschrieben
stand, während Frau Minna — leider, leider! — nur durch die geheimnisvolle
Kraft der Wundersalbe an das Lttdchen gefesselt worden war. Aber dem Manne,
der so lange wie Buridans Esel zwischen den beiden Heubündeln hin und her
geschwankt hatte, erschien jetzt plötzlich die wenn auch erzwungne Liebe der rund¬
lichen jungen Witwe tausendmal süßer und begehrenswerter als die freiwillige, immer
deutlicher erkennbare Zuneigung der magern Jungfrau.
Fräulein Rosalie konnte dies auf die Dauer nicht verborgen bleiben. Aus der
Tatsache, daß er ihre Übersetzungen deutscher Sätze ins Lateinische nur noch flüchtig
ansah und grobe Fehler ungerügt ließ, schloß die ehemalige Lehrerin auf ein Er¬
kalten seiner Gefühle. Und da er immer wieder die entschwundne Witwe erwähnte,
wurde ihr klar, daß mir die unfreiwillige Trennung von der Treulosen die uner¬
wünschte Wirkung auf sein Herz ausgeübt hatte. Was blieb Fräulein Rosalie also
anders übrig, als zu demselben Mittel ihre Zuflucht zu nehmen? Sie setzte sich
eines Tages hin und schrieb, so schwer es ihr auch wurde, an unsern Freund ein
nach einem unbestimmbaren Parfüm duftendes Briefchen, worin sie ihm mitteilte,
sie fühle sich in der letzten Zeit nicht ganz wohl und wolle ein paar Tage das
Bett hüten. Er möge entschuldigen, daß sie gezwungen sei, die lateinischen Stunden
für eine Weile zu unterbrechen.
Nun hätte es sich gehört, daß Herr Polykarp Seyler diese Botschaft mit
einigen Zeilen der Teilnahme beantwortet und sich von Zeit zu Zeit nach dem
Befinden der Patientin erkundigt hätte. Das tat er jedoch nicht, sei es aus Purer
Vergeßlichkeit, sei es, daß er dem Leiden Fräulein Rosaliens keine besondre Be¬
deutung beimaß. Er wartete ruhig auf ihre Wiederkehr, wartete, als sich diese
immer weiter hinauszog, sogar mit einer Art von Ungeduld, nicht gerade wie ein
Liebender auf die Geliebte, sondern wie ein Lehrer auf die Schülerin wartet, von
der er Pünktlichkeit gewohnt ist, und die nun plötzlich den ihr erteilten Urlaub
unberechtigterweise und ohne ein Wort der Entschuldigung über Gebühr ausdehnt.
Und währenddessen wartete sie auf einen Brief von ihm, wartete zuerst mit einer
Art von süßen Aufregung, dann mit nervöser Gereiztheit, endlich mit der ganzen
Bitterkeit eines in seinen heiligsten Gefühlen gekränkten Herzens. Sie begann an
ihre Krankheit selbst zu glauben und empfand es als eine unerhörte Rücksichts¬
losigkeit seinerseits, daß er sich nicht im geringsten um sie bekümmerte. Am liebsten
wäre sie gestorben, bloß um ihn dadurch von der Schwere ihres Leidens und der
Größe seiner Schuld zu überzeugen. Sie wollte ihm schreiben, ihm Vorwürfe
über Vorwürfe machen, aber da legte sich ihr Stolz ins Mittel, und sie beschloß,
schweigend zu leiden und ihren Schmerz und ihren Zorn mit in das kühle Grab
zu nehmen.
Inzwischen war Seyler nicht in der besten Stimmung gewesen. Käthchen sprach
immer häufiger von ihrer bevorstehenden Abreise, die Kunden blieben nach und
nach weg, und die lateinische Schulgrammatik, die noch immer auf seinem Pulte
lag, mahnte ihn fortwährend an die glücklichen Stunden und die heitre, aber
dennoch auf ernste Ziele gerichtete Geselligkeit, deren Schauplatz das enge, dämmrige
Lädchen so lange gewesen war. Noch hatte der Antiquar die Hoffnung nicht auf¬
gegeben, seine Schülerinnen — oder doch zum wenigsten eine von beiden, und dann
womöglich die junge Witwe — möchten reuigen Sinnes zurückkehren, da traf wie
ein Blitz aus heiterm Himmel ein Blatt imitierten Büttenpapiers ein, auf dem in
einer sehr modernen Schrift gedruckt stand, daß sich Frau Minna vero. Krause,
geborne Nühlemcmn mit Herrn Konstantin Voigt, Wolle engros, verlobt habe.
Daß sie für ihn nun unwiederbringlich verloren war, darüber gab sich Polykarp
Seyler keiner Täuschung hin. Und da er zu den glücklichen Naturen gehörte, die
sich mit dem Unabänderlichen schnell abfinden, so entließ er die Trinität von Hera,
Aphrodite und Hestia kurzerhand ans seinem Olymp und beschloß endgiltig, sein
Herz bedingungslos auf den Altar der strengen Athene zu legen. Wenn diese nur
ein Lebenszeichen von sich gegeben hätte! War sie wirklich ernstlich krank? Wollte
sie vielleicht nur seine Ausdauer auf die Probe stellen? Oder wandelte sie etwa
gar ans den Pfaden der treulosen Frau Minna? Bei dieser Erwägung packte ihn
eine sonderbare Angst. Wenn Käthchen nun wegzog — auf immer, das wußte er! —,
und wenn sich dann auch Fräulein Rosalie Schott vou ihm abwandte, so war er
ein einsamer Mann. Denn auf ein zweites Heiratsgcsuch würde er sich nach den
Erfahrungen, die er mit dem ersten gemacht hatte, nicht einlassen. Aber er war
nun auch so sehr an den Umgang mit Frauen gewöhnt, daß er nicht mehr darauf
verzichten mochte.
Es galt also, sich Frciuleiu Rosalieus zu versichern, ehe es zu spät war, ehe
auch ihr Name mit dem irgendeines Mannes vereint in einer modernen Schrift
auf einem Blatte imitierten Büttenpapiers stand. Das einfachste wäre wohl gewesen,
er hätte an die Dame geschrieben und ihr reinen Wein eingeschenkt. Sie würde
seinen Antrag angenommen haben, auch wenn sie etwa gemerkt hätte, daß er sie
nur als einen nicht ganz vollwertigen Ersatz für die ihm entgangne junge Witwe
betrachtete. Aber auf diesen naheliegenden Ausweg kam er nicht. Er war durch die
mit Frau Minna gemachten Erfahrungen unsicher und zaghaft geworden. Daß das
Fräulein, wenn er ihr schrieb, wiederkommen würde, davon war er überzeugt. Was
nützte das jedoch, wenn er nicht die Gewißheit hatte, sie festhalten zu können?
Und dazu besaß er ja glücklicherweise das rechte Mittel. Er brauchte nur die
bewährte Wundersalbe wieder anzufertigen und die Schwelle seiner Tür damit zu
bestreichen. Betrat sie dann wieder das Lädchen — und dazu wollte er sie schon
durch eine Epistel bringen, die nach Stil und Inhalt ein Meisterstück sein sollte —,
so war sie dem alten Banne verfallen.
Als Käthchen nach Tisch in das Gewölbe herunterkam, bemerkte sie, wie der
Onkel mit seltsamer Hast in allen Regalen herumsuchte. Sie sah ihm eine Weile
dabei zu und fragte dann teilnehmend: Du hast Wohl etwas verloren, Onkel?
Hin. Verloren gerade nicht, aber verlegt.
Ein Buch?
Einen einzelnen Band.
Vielleicht kann ich dir helfen. Was war es denn?
Hin. Ein Pappbändchen: Lengrich, Beyträge zur Kenntniß seltener und merk¬
würdiger Bücher mit Rücksicht auf die Numismatik.
O — das ist längst verkauft. Am letzten Donnerstag, gerade als du auf
der Stadtbibliothek warst, hat es ein Herr mitgenommen.
Das ist ja gar nicht möglich, erwiderte Seyler, bleich vor Schrecken, den
zweiten Band habe ich ja noch hier.
Waren es zwei Bände? fragte Käthchen kleinlaut. Ich fand nur den einen
und glaubte deshalb, wir hätten ein inkomplettes Exemplar gehabt. Ich war des¬
halb froh, als der Herr ihn mitnahm. Er hat fünf Mark dafür bezahlt, und mehr
War das Buch doch auch komplett nicht wert.
Ach Kind, du hast ja keine Ahnung, was das Buch wert ist — mir wert
ist! stöhnte der Onkel. Weißt du denn wenigstens, wer der Käufer war?
Es schien einer von auswärts zu sein. Er fragte uach numismatischen Werken
und speziell nach einer Dissertation über Quedlinburger Münzen.
Wie sah er denn aus?
Es war ein untersetzter Herr Ende der Dreißiger, mit kurzem blonden Haar
und rötlichen Schnurrbart. Er glich ein wenig dem Assessor Seufferth, der neu¬
lich die Zöpflsche Ausgabe der Carolina kaufte.
Am Donnerstag ist er hier gewesen?
Donnerstag oder Freitag. Es muß ja aus dem Kassabuch hervorgehn. Sie
blätterte in dem Buch und sagte dann: Hier stehts! Donnerstag, den 8. September.
Woraus schließt du, daß er von auswärts war?
Er hatte es eilig und wollte noch zu andern Antiquaren. Er hatte auch den
neuesten Münzkatalog von Zschiesche und Köder bei sich, und an dessen Umschlag
klebte noch ein Stück von einer Zehnpfennigmarke. Er muß den Katalog also
unter Streifband durch die Post erhalten haben.
Käthchen, sagte der Onkel, nachdem er einige Minuten nachgedacht hatte, sei
doch so gut und hole mir meinen Hut und meinen Mantel.
Sie verließ den Laden. Als er allein war, nahm er das schwarze Papp-
bändchen, worin die Hälfte — ach, nur die Hälfte! — des Beireisschen Rezepts
stand, rückte den Empireschreibtisch von der Wand, öffnete ein Geheimfach an
dessen Rückseite und legte das Buch hinein. So! Der zweite Band war jetzt in
Sicherheit gebracht. Hätte er doch rechtzeitig alle beide an diesen Ort geborgen!
Als Käthchen dann zurückkehrte, stand der Schreibtisch wieder an seinem Platze.
Ich gehe einmal weg, sagte Seyler, wenn etwa Fräulein Schott kommen
sollte, so bitte sie, ein wenig zu warten. Ich werde mich beeilen.
Damit verließ er den Laden und begab sich mit schnellen Schritten von Anti¬
quariat zu Antiquariat. Überall stellte er sehr diplomatisch Nachforschungen nach
einem untersetzten blonden Herrn mit rötlichen Schnurrbart an, der am Donners¬
tag dagewesen wäre und nach numismatischen Werken, speziell nach einer Disser¬
tation über Quedlinburger Münzen gefragt hätte. Die Auskünfte, die er erhielt,
waren wenig befriedigend und zum Teil einander widersprechend. Dem einen war
der Herr groß und schlank, dem andern klein und dick aber brünett erschienen.
Dieser glaubte, es sei ein Gymnasiallehrer aus Goslar gewesen, jener hielt ihn
für einen Archivar aus Dessau, aber auf die Frage nach der Dissertation über
Quedlinburger Münzen wußten sich alle ganz genau zu besinnen. Zuletzt ging
Fehler zu Zschiesche und Köder, und hier erfuhr er, daß der Herr ein Doktor Rothe,
Privatdozent aus Jena, gewesen sei.
Unser Freund rannte nach Haus, ließ sich von seiner Nichte die alte ver-
schabte und wurmstichige Reisetasche packen und fuhr noch an demselben Abend nach
Jena. Am nächsten Morgen machte er dem Doktor einen Besuch und vernahm,
daß er in der Tat den Käufer des Buches vor sich habe, zugleich aber auch, daß
dieser den Band nicht mehr besaß, sondern an einen Freund in Braunschweig
weitergegeben hatte. Seyler ließ sich die Adresse dieses Herrn geben und reiste
unverzüglich nach Braunschweig. Dort erfuhr er zu seinem größten Kummer, daß
das Buch längst nicht mehr in den Händen des Braunschweiger Herrn, sondern
im Besitze von dessen Tante, einem alten Fräulein in Mühlhausen war, die als
eine Urgroßnichte von Beireis die Traditionen der Familie aufrecht erhielt, mit
einer Art Fanatismus das Andenken des großen Uronkels kultivierte und alles,
was sich auf diesen bezog, pietätvoll sammelte.
Der Antiquar ahnte, als er im Zuge nach Mühlhausen saß und die Vorberge
des Harzes an sich vorüberziehn sah, daß ihm ein heißer Kampf bevorstünde. Und
richtig: die alte Dame war nicht zu bewegen, das Buch, das auf dem Titel den
Bibliotheksstempel und auf den Vorsatzblättern eigenhändige Aufzeichnungen des
Familienheiliger trug, wieder herauszurücken. Nur die unbegrenzte Hochachtung,
mit der unser Freund von Beireis redete, und die mit einer verblüffenden Be¬
stimmtheit cmsgesprochne Überzeugung, daß die Zeit nicht mehr fern sei, wo man
die Verdienste des genialen Forschers nach Gebühr würdigen werde, erwirkten ihm
die Erlaubnis, sich die handschriftliche Eintragung abzuschreiben. Was wollte er
auch mehr? An dem Buche selbst lag ihm nicht das geringste; das Ziel seiner
Wünsche war ja nur die erste Hälfte des kostbaren Rezepts, ohne die die zweite,
die er daheim in seinem Empireschreibtisch liegen hatte, wertlos war.
In der heitersten Stimmung trat er die Heimreise an, mit triumphierender
Miene begrüßte er zu Hause die Nichte, die er wohlweislich über das Ziel und
den Zweck seiner Reise im unklaren gelassen hatte. Da fiel ihm im Lädchen eine
kleine Veränderung auf. Das große Stehpult war weiter nach der Wand zu gerückt,
und der Tisch, an dem Frau Minna und Fräulein Rosalie einst in Rüdesheimer
und klassischer Latinität geschwelgt hatten, stand jetzt da, wo früher der Schreib¬
tisch der hochseligen preußischen Königin seinen Platz gehabt hatte.
Den Heimgekehrten überkam Plötzlich eine bange Ahnung.
Wo ist das Empiremöbel? stieß er hervor.
Verkauft, Onkel! Glücklich verkauft! Ein Amerikaner hat achthundert Mark
dafür gegeben.
Seyler sank auf einen Stuhl und rang nach Atem.
Aber der Inhalt? schrie er, der Inhalt?
Du meinst die Ladenkasse und die vielen Flaschen und Tuten? Die habe ich
natürlich vorher herausgenommen.
Ein Buch hast du nicht darin gefunden?
Ein Buch? Nein. Wie sollte das auch hineingekommen sein?
Das Geheimfach hast du nicht geöffnet?
Ein Geheimfach? Davon habe ich nichts gewußt.
Du konntest auch nichts davon wissen, Käthchen. Aber nun sage mir um alles
in der Welt: wo ist der Amerikaner geblieben?
Da fragst du mich zuviel, Onkel. Er kam, wollte Reliquien aus der Völker¬
schlacht sehen, war schon im Begriff, die beiden Pistolen zu kaufen, entdeckte den
Schreibtisch, hörte den Preis, bezahlte bar, ging weg und kam nach einer halben
Stunde mit zwei Männern wieder, die das Möbel auf einen Handwagen luden
und damit wegführen. Ich glaube, er sprach davon, daß er eine große Kiste
zimmern und den Schreibtisch darin nach seiner Heimat senden lassen wolle.
Hast du keine Ahnung, in welchem Hotel er wohnte?
Nicht die geringste. Er kam von Dresden und erwähnte nur, daß sein Schiff
schon am nächsten Tage führe.
Seyler preßte die Hände gegen den Kopf und stöhnte zum Erbarmen. Es
dauerte eine geraume Weile, bis er sich wieder beruhigte, dann aber stand er ent¬
schlossen auf, nahm das Blatt Papier mit der Abschrift der ersten Hälfte des
Rezepts aus der Brieftasche und zerriß es in lauter winzige Fetzen.
Es war ein Wink des Schicksals, sagte er mit leise zitternder Stimme, und
ich habe ihn verstanden. Sieh, eine große Mitgift kann ich dir nicht geben,
Käthchen. Ich bin mit dem Gelde schneller fertig geworden, als ichs gedacht hatte.
Aber die Wäscheausstattung und die Kleider und die beiden Zimmereinrichtungen
in Nußbaum, die hast du ja. Ist es nicht viel, so ist es doch etwas. Die acht¬
hundert Mark, die du für den Schreibtisch gelöst hast, sollst du auch uoch bekommen.
Aber etwas, und zwar das wertvollste, kann ich dir außerdem noch geben: den
guten Rat, niemals zu übernatürlichen Mitteln deine Zuflucht zu nehmen. Ich
kann ja begreifen, daß dn deinen Doktor Waetzold an dich fesseln willst, aber ich
bitte dich dringend, nimm weder Kampfer noch Aloe, weder Angelika noch Krebs¬
schalen, weder Cremortartari noch pulverisierte gebrannte Katzenknochen dazu,
sondern brauche nichts weiter als deine natürliche Liebenswürdigkeit, und wenn
er wirklich einmal dumme Streiche machen sollte, was ich aber gar nicht von
ihm glaube, ein wenig Nachsicht. Bei der Kocherei ist kein Segen, das heißt:
bei der alchimistischen natürlich. Sonst ist es sogar recht gut, wenn du dich um
das Kochen kümmerst, denn dein Doktor sieht gerade nicht aus, als ob er bloß
von der Liebe leben könnte. Das halte dir allezeit vor Augen und sei gescheiter
als dein Onkel, der es inoäo n^xörxQ/sioo versuchen wollte.
Nimm-mirs nicht übel, Onkel, aber du sprichst in Rätseln, sagte Käthchen,
Seyler mit einem unsicher!? Blicke musternd.
Das schadet nichts, Kind. Auch das Leben spricht in Rätseln. Ich will mich
jedoch deutlicher ausdrücken. Halte dich an das Einfache, ganz besonders beim
Kochen. Das Einfache ist jederzeit das Beste, schmackhafteste und Gesündeste. Du
weißt, was Juvenal und Petron über die kulinarischen Ausschweifungen der Römer
in der Kaiserzeit berichtet haben. Hüte dich vor solchen Dingen. Wir müssen doch
noch ein antiquarisches Exemplar von Allesteins Kochbuch dahaben? Nun ja, das
kannst du dir heraussuchen und behalten. Und dann: lies niemals den Lukianos.
Es stehen Dinge darin, die du nicht wissen solltest. Er verspottet den Glauben
an das Übernatürliche ja mit unvergleichlich feinem Witz, aber man gewinnt diesem
Übernatürlichen gar zu bald Geschmack ab, und dann begibt man sich auf Gebiete,
wo des Menschen Fuß leicht strauchelt. Wenn du Verlangen nach Lektüre hast,
so halte dich an die guten lateinischen Rhetoren und Historiker; die stehn durchaus
auf dem sichern Boden der Wirklichkeit.
Käthchen hätte nicht behaupten können, daß sie nun klüger gewesen wäre als
zuvor, aber sie empfand, daß diese Rede, die zugleich die Abschiedsrede des treuen
Onkels an die ihrem Glück entgegenziehende Nichte sein sollte, gut gemeint war.
Noch in derselben Woche reiste sie ab, hinaus in das Licht, die Luft und die Frei¬
heit, die sie fortan nicht wieder losließen.
Über Herrn Polykarp Seyler aber kam nun, wie unsre modernen Dichter
sagen würden, eine große Stille. Das Lädchen wurde für ihn wieder zur Bibliothek,
die recht vereinzelten Kunden mußten wieder warten, bis seine Schätze zum Ver¬
kauf reif waren, und blieben, da dieses Stadium der Reife immer seltner eintrat,
schließlich ganz weg. Die goldne Flut in der Ladenkasse hatte sich längst verlaufen,
aber der Bäcker und der Fleischer, bei dem unser Freund, wenn ihm wirklich ein¬
mal der Hunger zum Bewußtsein kam, seinen geringen Bedarf an Leberwurst oder
Mettwurst deckte, borgten ihm noch eine Weile ruhig weiter, denn sie dachten an
die schöne Zeit, wo alles bar bezahlt worden war, und wo man hinter dem hohen
Stehpult Rüdesheimer getrunken und Kuchen gegessen hatte, und rechneten darauf,
daß diese Zeit wiederkehre.
Aber in dem Maße, wie sich der Staub in den Regalen häufte und die
Not — die ganz gemeine Not des Lebens - stieg, wuchs auch das Glück des
sonderbaren Mannes, der nach und nach alle Bande abstreifte, die ihn an das Irdische
gefesselt hatten, der in den kalten Winternächten, ohne den Frost zu spüren, beim
Scheine eines Talglichts über seinen Büchern saß (denn die Gasleitung war ihm
längst gesperrt worden!), und der, von geistiger Nahrung gesättigt, immer wieder
zu vergessen schien, daß auch sein Körper nach Kost verlangte. In Reichenbachs
Hof sprachen die Leute kopfschüttelnd davon, daß der Antiquar, seit er nicht mehr
unter der Obhut der Nichte stehe, ganz und gar verkomme, und ein bekannter
Buchhändler, der sich schon immer für den gelehrten Kollegen interessiert hatte,
und dem die Not des Sonderlings zu Ohren gekommen war, besuchte ihn und
händigte ihm eine größere Summe ein, die er als Betriebskapital betrachten und, wenn
er es einmal zu einigem Wohlstand gebracht haben werde, zurückerstatten sollte.
Schier nahm das Geld mit Dank an und verwandte es noch an demselben
Tage zum Ankauf eines kompletten Exemplars von Bursians Jahresbericht über
die Fortschritte der klassischen Altertumswissenschaft.
Acht Tage darauf blieb eines Morgens das Lädchen geschlossen. Die Nach¬
barn, denen bekannt war, daß Seyler nie mehr in seine Wohnung hinaufging,
sondern Tag und Nacht in dem Gewölbe hauste, verständigten die Polizei. Man
erbrach die Ladentür und fand den Bücherfreund, in seinen alten Lodenmantel
gehüllt, tot an dem Tische sitzend, auf dessen Platte noch die Spuren 'eines gänz¬
lich herabgebrannten Lichts zu bemerken waren. Seine Hände umklammerten die
^.rs »NianÄi des Ovid, das Haupt war auf die Brust gesunken, aber auf dem
bleichen Antlitz mit den unter den Brillengläsern halb geschlossenen Augen lag ein
Schimmer stiller Seligkeit.
Der Arzt, der die Leiche untersuchte, stellte als Todesursache Entkräftung
infolge mangelhafter Ernährung fest. In der Ladenkasse jedoch entdeckte man noch
fünfundsiebzig Pfennig — und das ist das Allerwunderbarste an dieser Geschichte!
Von den vielen Kongressen, die in diesen Wochen auf deutschem Boden tagten,
wollen wir außer dem Sozialistenkongreß, von dem schon die Rede gewesen ist,
noch den „Deutschen Tag" in Bromberg am 17. August und den Katholikentag in
Würzburg hervorheben. Jener war ein erfreulicher Beweis davon, daß das
Deutschtum der Ostmarken sich auf sich selbst und seine nationalen Pflichten besinnt
und gewillt ist, mit der Regierung zusammenzuarbeiten, aber nicht alles von ihr
allein zu erwarten. Ob alle die in Bromberg angenommnen Resolutionen beifalls¬
würdig oder ausführbar sind, wollen wir hier nicht erörtern; die Hauptsache ist,
daß die Versammlung im ganzen mit der bisherigen Polenpolittk der Regierung
einverstanden ist und keine Umkehr wünscht, wie manche ernste Politiker empfehlen,
indem sie die völlige Erfolglosigkeit dieser Politik behaupten. Ob ein solches
Urteil auch gegenüber dem ausführlichen Bericht, den jüngst die Ansiedlungs-
kommission über ihre zwanzigjährige Tätigkeit (seit 1886) in Posen und in West¬
preußen erstattet hat, aufrechterhalten werden kann, ist doch sehr zweifelhaft.
Jedenfalls ist das Deutschtum in diesen Provinzen wesentlich gestärkt, sein Rück¬
gang zum Stillstand gebracht, der Wohlstand und die Steuerkraft gerade der An-
siedlungskreise wesentlich gesteigert worden. Daß das Polentum diese ganze Politik
als eine große Härte empfindet, ist selbstverständlich, daß die Polen durch die
deutsche Schulsprache nicht germanisiert werden, ebenso sicher. Aber die, die der
Regierung eine Umkehr empfehlen, mögen doch erst sagen, wie sie sich eine solche
im gegenwärtigen Augenblicke denken, und wie diese ohne die schwerste Schädigung
der Regierungsautorität, und ohne die dortigen Deutschen vor den Kopf zu stoßen,
möglich sein soll. Wir befinden uns dort eben in einem Kriegszustande; wir
können das materiell und kulturell durch den deutschen Staat außerordentlich ge¬
hobne Polentum mit den Mitteln, die dem modernen Rechtsstaats zur Verfügung
steh», ebensowenig bewältigen wie jemals aus diesen längst halbdeutschen Land¬
schaften wieder weichen. Es gibt nur ein Mittel, dem Kriegszustande ein Ende
zu machen, nämlich den ehrlichen Verzicht der Polen auf ein Polenreich, das Posen
und Westpreußen mit umfaßt, ihre Anerkennung eines historisch gewordnen, mehr
als hundertjährigen Zustandes, der zum guten Teil durch die Unfähigkeit und die
Selbstsucht des polnischen Adels und den Zwang der geographischen Lage herbei¬
geführt worden ist, diese Gebiete aber auch der Kultur erst gewonnen hat.
"
Eine Woche nach dem „Deutschen Tage in Bromberg trat die vierundfünfzigste
Generalversammlung der deutschen Katholiken in der alten Bischofsstadt Würzburg
zusammen. Ein solches offnes Bekenntnis Tausender von gebildeten Männern zu
einer bestimmten geschlossenen Weltanschauung hat unleugbar etwas Imposantes,
man mag zu dieser selbst stehn, wie man will. Jedenfalls brächten die Anhänger
keiner andern Weltanschauung eine derartige Kundgebung fertig, am wenigsten die
der modernsten naturwissenschaftlichen Dogmatik, und der Politiker hat mit Wirklich¬
keiten, nicht mit bloßen Möglichkeiten, mit der Stärke und nicht mit der Schwäche
zu rechnen. Bezeichnenderweise war von der gerade in Würzburg entstnudnen Be¬
wegung für die Revision des Index mit keiner Silbe die Rede, schon weil sich die
theologische Fakultät der Universität völlig zurückhielt; alle Wortführer und ihnen
folgend die ganze Versammlung bekannten sich zu der päpstlichen Unfehlbarkeit in
Sachen des Glaubens und der Lehre und zeigten damit, daß, wie vorauszusehen war,
jene Nevisiousbewegung, die doch schließlich auf einer schüchternen Betonung des
Rechts zu freier Forschung beruht, in den katholischen Massen gar keinen Boden
hat. Der monumentale Satz des Präsidenten Fahrenbach im Schlußwort: „Die
Forschung ist Sache der Wissenschaft, aber die Entscheidung ist Sache des kirch¬
lichen Lehramts" fand stürmischen Beifall. Dafür forderte der Historiker Martin
spähn aus Straßburg, daß die Universitäten überhaupt eine auf christlicher und
deutscher Grundlage beruhende Weltanschauung vermitteln müßten, was vielen der
dort lehrende» Herren als eine sonderbare Zumutung erscheinen wird. Daß man
sich für die konfessionelle Volksschule aussprach, war selbstverständlich und ist nicht
»ur eine katholische Forderung; auch dem wieder aufgestellten sozialen Programm
kann man im ganzen zustimmen. Eine entschiedne Änderung gegen früher be¬
zeichnete es, daß diesmal die Forderung der „territorialen Unabhängigkeit" des
Papsttums nicht wiederholt, sondern nur seine finanzielle Unabhängigkeit als un¬
entbehrlich bezeichnet und demgemäß zur reichlichen Spende des Peterspfennigs er¬
nährt wurde. Eigentliche Polemik gegen den Protestantismus wurde vermieden,
^ wurde vielmehr in seinen Leistungen anerkannt, wenngleich natürlich der
Katholizismus als die allein richtige Auffassung des Christentums gepriesen und die
Los-von-Rom-Bewegung zugleich abfällig kritisiert und als in der Abnahme be¬
griffen bezeichnet wurde; denn treues Festhalten an Rom war der Grundton des
ganzen Katholikentages. Sympathisch berührte das unumwundne Bekenntnis zu
deutsch-nationaler Gesinnung, denn man hat kein Recht, an seiner Ehrlichkeit zu
zweifeln (obwohl taktische Rücksichten dabei mitgespielt haben mögen), man müßte
denn liberal und deutsch-national für identisch halten.
Wie mächtig sind doch die grundsätzlichen Gegensätze im deutschen Leben, die
in diesen Wochen wieder zutage getreten sind: Sozialdemokratie und Katholizismus,
Deutsche und Polen, von den eigentlich politischen Parteien noch ganz zu schweigen.
Kein großes Kulturvolk ist nur entfernt in einer ähnlichen Lage. Und das alles
muß zusammengehalten werden, wenn die Nation bestehn soll. Um so wichtiger ist
es, wenn ihr lebendiges Zentrum, ihr Oberhaupt, der Kaiser, von Zeit zu Zeit
besonders stark hervortritt, wie es in diesen Tagen zuerst in Hannover, dann in
Münster geschehn ist, dort in einer neu erworbnen Provinz, wo immer noch das
schwindende iutransigente Welfcntum einer kleinen Gruppe, von der die große Mehr¬
heit der Bevölkerung längst nichts mehr wissen will, ihre vorsintflutlichen An¬
schauungen zu Markte trägt, hier auf einem altgeistlichen Boden, in einer streng
katholischen Bevölkerung, die lange dem preußischen Staate abgeneigt gegenüber¬
stand, weil sie keinen Staat, sondern nur eine Mutter Kirche kannte. Seitdem
haben diese tapfern, zähen Niedersachsen, der Stamm, der im zehnten Jahrhundert
unter den Ottonen die stärkste Stütze der Reichsgewalt war, im elften Jahrhundert
nnter Heinrich dem Vierten ihr schlimmster und hartnäckigster Feind wurde, die
deutsche Reichseinheit unter Preußischer Fahne mit erstreiten helfen.
In der Debatte über die sächsische Wahlrechtsfrage ist die Regierung jetzt aus
ihrer Neutralität insofern herausgetreten, als ihr offiziöses Organ, die Leipziger
Zeitung, zuerst erklärt hat, sie halte an den Grundlagen des Entwurfs „unent¬
wegt" fest, ohne eine Erörterung von Einzelheiten abzulehnen. Seitdem hat das
Blatt auch einige charakteristische Kundgebungen konservativer Blätter abgedruckt,
die allerdings zeigen, daß die ablehnende Haltung der bisherigen konservativen
Führer keineswegs von der ganzen Partei geteilt wird. Das alles kommt natür¬
lich bei den bevorstehenden Landtagswahlen einigermaßen den Liberalen zugute, die
bis jetzt in der zweiten Kammer zu einer ohnmächtigen Minderheit verurteilt waren.
Auch die Mittelstandsvereinigung und der große Verband der sächsischen Indu¬
striellen haben sich jüngst grundsätzlich für die Wahlrechtsvorlage ausgesprochen,
von der sie eine gerechtere Berücksichtigung ihrer Interessen erhoffen. So wird die
Landesversammlung der konservativen Partei, die Mitte September stattfinden soll,
vor einer schon wesentlich geklärtem Situation stehn. Soviel steht wohl schon jetzt
fest: nur irgendwelcher Partei zuliebe werden sich die sächsischen Wähler nicht
in Bewegung setzen, sondern zum Besten des Landes. — In dem Streit um die
Demokratisierung des Preußischen Landtagswahlrechts erheben sich jetzt auch im
Freisinn beachtenswerte Stimmen, die die radikale Forderung des Reichstagsstimm¬
rechts verwerfen und für einen Kompromiß eintreten, weil die Fortsetzung jener
Agitation den konservativ-liberalen Block im Reichstage zu sprengen drohe, der
doch aus nationalen Gründen unentbehrlich sei, damit nur die Geschäfte der
Sozialdemokratie und des Zentrums besorge und den Liberalismus zur Unfrucht¬
barkeit und Erstarrung verurteile, aus der er eben nach langem Schlafe glücklich
erwacht sei. Gewiß, je maßvoller der Liberalismus auftritt, je weniger er die
historischen Bedingungen unsers vielgestaltigen, von den mannigfaltigsten Kräften
bewegten und erhaltnen Staatslebens verkennt, desto mehr hat er Aussicht, die
liberalen Ideale zu verwirklichen, deren es bedarf, um einer neuen Zeit zu genügen.
In Marokko hat sich die Lage uur insofern verändert, als der neu cmsgerufne
Sultan Muley Hafid in immer weitern Kreisen des Landes Anhang und Anerkennung
findet. Ist er wirklich geneigt, mit den Fremden über eine Entschädigung zu ver¬
handeln, und kann er diese Absicht gegenüber der Stimmung seiner Untertanen
wirklich durchführen, so wäre damit eine Aussicht auf eine raschere Beilegung des
ganzen Konflikts eröffnet, denn um den „legitimen" Sultan Abdul Asif würden
sich dann die Mächte wohl wenig kümmern.
Während in Europa die internationalen Verhältnisse an einem gewissen Ruhe¬
punkte angelangt find, entwickeln sich auf der andern Hälfte der Erdkugel merk¬
würdige Dinge, die nicht gerade auf eine friedliche Zukunft hindeuten. Die Be¬
ziehungen der Union zu Japan sind und bleiben gespannt, und es ist kein Beweis
dagegen, daß die anfangs angekündigte, dann wieder abgeleugnete Entsendung der
nordamerikanischen Schlachtflotte nach dem Großen Ozean doch noch stattfindet, und
daß von der Befestigung Hcuvais, der Philippinen und der amerikanischen Ostküste
die Rede ist. Die große Bundesrepublik hatte bisher im politisch-militärischen Sinne
keine Nachbarn; Kanada wäre ihrem Angriff gegenüber zu Lande wehrlos, und
Mexiko ist erst unter Porfirio Diaz zur Konsolidation gelangt, hat aber Mühe,
gegen das Übergewicht des nordamerikanischen Kapitals seine wirtschaftliche Selb¬
ständigkeit zu behaupten. So hat denn die Union bisher niemals ernsthafte Land¬
kriege zu führen gehabt und ist darauf auch gar nicht eingerichtet. Mit Milizen
und Freiwilligen gewinnt man gegen reguläre Heere vielleicht Schlachten, aber keine
Feldzüge, und die stehende Armee des Bundes ist dazu viel zu schwach, wenn sie auch
stark vermehrt worden ist. Seitdem nun die Union mit der Okkupation der spanischen
Antillen und der Philippinen über ihren natürlichen Machtkreis hinausgegriffen hat,
zum „Imperialismus" übergegangen ist, hat sie sich in der jungen japanischen Gro߬
macht mit ihrem gewaltigen siegreichen Heere und ihrer starken Flotte, die die größte
Seeschlacht seit Trafalgar geschlagen und gewonnen hat, einen höchst gefährlichen und
ehrgeizigen Nachbarn selbst geschaffen. Mag sie ihm zur See gewachsen sein — noch
fehlen freilich die Proben, da die Siege über die veraltete, schlecht gerüstete spanische
Flotte nichts bedeuten —, zu Lande kann sich die Union heute ganz gewiß nicht im
entferntesten mit den Japanern messen. Um das zu können, müßte sie eine stehende
Armee von ein Paarmalhunderttausend Mann aufstellen, da die jetzige kaum aus¬
reicht, um kleine Expeditionen, wie die kubanische, zu unternehmen und die beab¬
sichtigten Küstenbefestigungen angemessen zu besetzen. Daß eine stolze, kräftige, reiche
und energische Bevölkerung von 80 Millionen das alles mit Leichtigkeit leisten könnte,
wenn ihr die nötige Zeit bleibt, ist unzweifelhaft. Aber eine solche starke Armee,
die doch Bundessache sein müßte, würde die Bundesgewalt ungeheuer verstärken
(Milizen und Freiwillige sind bekanntlich Sache der Einzelstaaten) und der demo¬
kratischen Verfassung und Sitte innerlich widersprechen, weil sie ohne einen straff
militärischen Geist der Unterordnung und des Gehorsams undenkbar ist. Zugleich
ist diese demokratische Gesellschaft in der dringendsten Gefahr, wirtschaftlich und dadurch
mich politisch unter die Oligarchie einer Anzahl von „Milliardären" zu geraten, die
gerade aus der absoluten demokratischen Freiheit des wirtschaftlichen Lebens erwachsen
sind und mit ihren „Trusts" die Eisenbahnen des ungeheuern Landes und den Handel
mit seinen wichtigsten Produkten unbedingt beherrschen. Daß der Präsident Theodor
Roosevelt, einer der bedeutendsten, die jemals die Union gelenkt haben, energisch in
dem Kampf gegen die korrumpierende Macht der „Trusts" auftritt und schon alle
die Eisenbahnen, die das Gebiet mehrerer Staaten berühren, unter eine gewisse
Aufsicht der Bundesgewalt gestellt hat, bedeutet offenbar eine Stärkung dieser Gewalt,
"tho der Staatsgewalt überhaupt, die hier denselben Kampf mit dem privaten
Großbesitz führt, den die deutschen Monarchien seinerzeit mit den feudalen Gro߬
grundherrschaften zu führen gehabt haben. Unter dem doppelten Drucke dieses Kampfes
gegen die Trusts und der veränderten internationalen Lage, die sie zu einer aktiven
auswärtigen Politik großen Stils zwingt, geht die Union wahrscheinlich großen innern
Veränderungen entgegen. Es kann kommen, wie in den Grenzboten schon vor Jahren
gesagt worden ist, daß sie vor die Wahl gestellt wird, ob sie ihre Demokratie in
Unter diesem Titel hat W. von Massow
die zweite, völlig umgearbeitete Auflage seines vor vier Jahren zum erstenmale er¬
schienenen Buches veröffentlicht (Berlin, Alexander Duncker, 1907, 428 S.). Er
kommt damit einem lebhaft empfundnen Bedürfnis entgegen. Denn die Polen¬
gefahr in unserm Osten ist eine allgemeine nationale Angelegenheit, nicht nur eine
preußische; diese Landschaften sind uns ebenso unentbehrlich wie Elsaß und Lothringen.
Von diesem Standpunkte aus, der noch keineswegs allgemeine Anerkennung ge¬
funden hat, am wenigsten im Westen, wo man vom Osten viel zu wenig weiß und
ihn selbstgenügsam womöglich als ein halbbarbarisches Laud betrachtet, beleuchtet
Massow zuerst die Entwicklung der Polenfrage und des polnischen Volkstums unter
preußischer Herrschaft, sodann das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen in
diesen Provinzen, die allgemeinen Grundsätze der preußischen Polenpolitik und die
Stellung der verschiednen Elemente des Staats (der Parteien, des Beamtentums,
des Heeres) zu ihr, die wirtschaftlichen Maßregeln gegen das Polentum, namentlich
die Ansiedlungspolitik und ihre Ergebnisse, endlich die besonders hitzig umkämpfte
Sprachenpolitik, alles mit eindringender, aus langen Studien hervorgegangner
Sach- und Geschichtskenntnis. Als Resultat ergibt sich ihm die unbedingte Not¬
wendigkeit, in der einmal eingeschlagnen Richtung energisch und ruhig weiter fort-
zugehn, denn es handelt sich um „ein Gebot der Selbsterhaltung für unser Volk
und unsern Staat". „In der Bereitwilligkeit, an der Erhaltung aller seiner Kräfte
zu arbeiten, liegt für ein Volk die wahre Gerechtigkeit und Humanität." Das
absprechende Urteil des Auslands, auf das sich die Geguer dieser Polenpolitik ge¬
legentlich berufen, darf uns darin nicht irre machen; in solchen Fragen muß jedes
Volk selbst am besten wissen, was ihm frommt, mag es den Fernerstehenden human
und liberal erscheinen oder nicht. Vollends wir Deutschen in unsrer eingeengten
zentralen Lage sind wirklich nicht imstande, in Grenzprovinzen, die wir absolut
brauchen, ein fremdes, uns feindseliges Volkstum, das sich von unserm Staatswesen
losreißen will, übermächtig werden zu lassen. Die Jrländer sollten nur etwas
Ä
Gerade in den Tagen, wo in Ur. 24 der Grenz¬
boten Joseph Aug. Lux über den Kunstgenuß auf Reisen schrieb und zutreffend
bemerkte, daß keins der üblichen Reisehandbücher den Bedürfnissen einer echten
Kunstbetrachtuug und Reisebevbachtung entspräche, ist ein Buch") erschienen, das den
von Lux geforderten Ansprüchen zu genügen imstande ist und mit Freuden begrüßt
werden darf. Die Bändchen wollen eine Anleitung zu Kunststudien beim Spazieren¬
gehn geben und sind deshalb außer mit je 24 eignen Aufnahmen des Verfassers
mit 16 leeren Seiten für Bemerkungen und Skizzen versehen.
Der bekannte, in Altona an der Knnstgewerbeschule tätige Verfasser hat dieselbe
Empfindung wie Lux über die Reisehandbücher gehabt und sagt deshalb im Vorwort,
daß seine Kunst-Wanderbücher zu jenen Seitenstücke sein sollen, die durch die deutsche
volkstümliche Kunst Führerdienste leisten und zum eignen Sehen, Versteh» und Lieb¬
gewinnen auf Reisen und beim Wandern anregen möchten. Sie wollen dazu bei¬
tragen, einen festen, in Heimatsinn und Heimateigenart wurzelnden Untergrund für
eine frische, natürliche, bodenständige, volkstümliche Kunst zu schaffen, und weisen uns
zu diesem Zwecke, wie Lux es selbst ausdrückt, auf zahllose künstlerische Schönheiten,
die sich auf dem offnen Lande, in der eignen und in der fremden Stadt, auf denselben
Straßen und Wegen, die wir sonst achtlos Tag für Tag gegangen sind, vor den
gleichsam magisch gewordnen Blicken auftun.
Schwindrazheim beginnt seine Kunst-Wanderung in unsrer Vaterstadt und gibt
danach dem ersten Bändchen den Untertitel Unsre Vaterstadt. Wir müssen uns zunächst
nach dem Grundriß unsrer Stadt umsehen, sodann die Gesamtansicht von verschiednen
Standorten betrachten und gehn demnächst in die Stadt selbst, wo es alte und neue
Stadteingänge, alte Stadttore und Mauern neben neuen Eingängen, alte und moderne
Straßen und Plätze sowie alte und neue Stadtteile gibt. Auf alle diese Gegen¬
stände werden wir aufmerksam gemacht; es werden Vergleiche zwischen dem Einst
und Jetzt, den Vorzügen der alten und den Nachteilen der neuen Straßen und
umgekehrt angestellt und Geschmacklosigkeiten ebenso wie Schönheiten gebührend
klargelegt. Und alles ist so handgreiflich und lebendig geschildert, daß man wirklich
glauben möchte, es sei die eigne Vaterstadt, die zum Muster genommen worden ist.
Von der Straße geht der Verfasser zu den Bürgerhäusern über und stellt
wiederum die alte und die neue Bauweise einander gegenüber: die Grundrisse, die
Stilarten bis auf die Türen, Fenster, Läden, die Schilder und Hauszeichen. In
ähnlicher Weise werden die öffentlichen Gebäude, die Denkmäler, Brunnen, Gärten,
Friedhöfe, die Wagen, Trachten und ähnliche Sachen behandelt und zugleich viele
neue Anregungen gegeben, wie unbeschadet der Errungenschaften der Gegenwart so
manches Gute aus der Vorzeit erhalten werden kann. Die Abbildungen sollen zur
Erläuterung dienen; sie zeigen uns Stadttore, Gäßchen aus alter Zeit, Schindel¬
häuser, Rokokohäuser, Tore und Türen, Fachwerkgebäude, Wirtshausschilder, Kirchen
und Kirchhöfe u. a. Sie sind zumeist Hessen-Nassau und Unterfranken entnommen
und sehr deutlich in dem photographischen Plattenformcit 6x9 ausgeführt.
Der zweite Band mit dem Untertitel Stadt und Dorf leitet von dem Studium
der Vaterstadt zum Studium der Fremde über, und zwar fremder Städte und
Dörfer. Auch hier sind es die Eigentümlichkeiten der Straßen und der Plätze
sowie der Befestigungen und der Häuser, auf die unser Augenmerk gelenkt wird.
Dann aber sind die Hnnsstudien im Dorfe sehr ausführlich behandelt worden; auf
die Frage, ob es im Bauernhause überhaupt eiuen Stil gibt, antwortet der Verfasser,
daß er sich nur in Kleinigkeiten, zum Beispiel in Ornamenten den Forderungen der
historischen Stile anbequemt, im großen und ganzen sich aber wenig darum gekümmert
habe, ob die französische Gotik oder italienische Renaissance oder das französische
Barock in Deutschland Schule machte, daß es aber trotzdem eine ganz überraschende
Vielartigkeit der Bauernhäuser auf deutschem Boden gäbe, über die wir noch bei
weitem nicht genügend unterrichtet seien. Sehr beachtenswert ist, was über die
Dorfkirchen und Friedhöfe gesagt wird. Urwüchsig Eignes vereint sich da oft mit
dem von außen herkommenden Vorbilde zu eigenartigen, einmal drolligen, ein ander¬
mal fein vornehmen, ein drittesmal zu ehrwürdigen oder zu barocken und andern
Gestaltungen von vielfach hohem malerischem Reiz. Allerlei Bauweisen kann man an
den Dorfkirchen beobachten; Bauten aus farbigen erratischen Blöcken bis zur Turm¬
spitze. Holzkirchen, Fachwerkbauten mit allerlei Türmen und Hauben. Kirchen mit
Befestigungsanlagen, Türme, ans alten Römerbauten errichtet, oder anch ganz kalte,
stiminungslose, schablonenhafte rote gotische Backsteinkirchen ohne den leisesten Versuch.
°n den alten, aus der Gemütsart der Bewohner, dem landesüblichen Baumaterial
und den natürlichen Bedingungen hervorgegangnen Kirchentypus der Gegend anzu¬
knüpfen. Die Abbildungen des zweiten Bandes zeigen Stadteingänge, Bauernhäuser.
Dorflindeu. Kirchen. Glockentürme u. a. in derselben saubern Ausführung wie.im
ersten Bande Man könnte meinen, daß damit nun der Stoff erschöpft sei. wenn
Stadt und Land hinsichtlich der Volkskunst geschildert worden sind. Dem ist aber
nicht so; es gibt noch ein drittes: das ist die freie Natur, die zwischen Stadt und
Dorf liegt. Und deshalb betitelt Schwindrazheim das dritte Bändchen: In der freien
Natur. Für die meisten Leser bringt gerade dieser letzte Teil ganz neue Gedanken
zur Sprache, die in der Regel nicht beachtet werden und doch von großer Wichtig¬
keit sind für einen richtigen Genuß der Landschaft. Da sind Studien über die
Perspektive, über die Spiegelung, über die Beleuchtung, über Licht und Schatten,
Farben, über die Linien der Landschaft zu machen; es ist zu beachten, von welchem
Standpunkt aus die Landschaft gesehen, ob sie von Bäumen eingerahmt und von
der Sonne beschienen wird, ob sie am Hange eines Berges in voller Beleuchtung liegt
oder ein Wolkenschatten den Hintergrund verschleiert: kurz für eine ganze Reihe von
Merkmalen, die sonst nur für Maler von Wichtigkeit sind, öffnet das Buch dem einfachen
Wandrer die Augen, um die Wanderung möglichst genußreich und gewinnbringend
zu macheu. In Anknüpfung hieran werden die Maltechniken und die Naturstudien
des Plastikers, des Kunstgewerblers und des Laien besprochen und durch Abbildungen
erläutert.
Die Kunst-Wanderbücher haben für unsre Bestrebungen auf dem Gebiete der
Heimatkunde und Heimatkunst einen ganz besondern Wert, weil sie ohne jede Vor¬
bereitung von jedem einzelnen auf ihre Nichtigkeit geprüft werden können. Man braucht
nur auf die Straße oder vor die Stadt zu gehen, dies oder jenes Kapitel durchzulesen
und dann selbst zu beobachten und die Angen richtig aufzumachen. Auf Schritt und
Tritt stoßen wir auf Gegenstände, seien es Baute» oder Naturgebilde, die wir nach
den Schwindrazheimschen Bemerkungen ganz anders zu beurteilen vermögen wie
vielleicht bisher. Und darin liegt eben der große Gewinn und die Freudigkeit, etwas
Auf Seite 324
der Ur. 32 heißt es mit Bezug auf „die" Fahne des 61. Regiments: „Tags
darauf von den Frcischärlern gefunden, wurde sie später von Garibaldi in ritter¬
licher Weise an das Regiment zurückgesandt, da sie nicht im Kampfe selbst erobert
worden sei." Hierzu muß bemerkt werden, daß es sich nicht um „die" Fahne,
sondern um eine der drei Fahnen des Regiments, nämlich um die des II. Bataillons
handelt. Ferner hat Garibaldi diese Fahne nicht dem Regiment zurückgeschickt,
sondern sie ist nach vielen Irrfahrten dem Jnvalidendom überwiesen worden, wo
sie sich zusammen mit der bei Vionville—Mars la Tour genommenen Fahne des
II. Bataillons Regiments 16 noch befindet. Also II./16 und II./61, nur die Zahlen
umgestellt.
Garibaldi hat übrigeus in der Tat ritterlich gehandelt. Er ließ, wie die
Geschichte des Regiments 61 schreibt, am 24. Januar, also am Tage nach dem
Gefecht, „durch einen zu diesem Zweck abgesandten Parlamentär den General
von Kettler benachrichtigen, daß soeben die Fahne des II. Bataillons in der Nähe
des Fabrikgebäudes von Arbeitern aufgefunden sei, zerschossen, zerfetzt und von Blut
überströmt, unter einem Hügel von Leichen". Durch Allerhöchste Kabinettsorder
vom 9. August 1871 wurde dem Bataillon „in Anerkennung der bewiesenen
Tapferkeit" eine neue Fahne verliehen. Am Ende des Bandes der Kriegsdenk¬
münze von 1870/71 befindet sich eine Quaste der Banderole der alten Fahne.
Diese Quaste ist während des Aufenthalts des Regiments in Dijon im Besitz von
Arbeitern gefunden und von Oberst von Wedelt für das Regiment zurückerworben
morden.
user Kaiser hat das innere Bedürfnis, zuweilen seinen Gedanken
und Empfindungen einen starken, rückhaltlosen Ausdruck zu geben.
Er macht damit nur von dem natürlichen Rechte jeder selbständigen
Persönlichkeit Gebrauch, das man ihm nicht verkümmern soll. Er
verlangt ja auch gar nicht, daß jedes seiner Worte als ein für
alle verbindliches Gesetz, jede seiner Empfindungen als etwas für alle Zeit
Giltiges aufgefaßt werde. Sie sind, so eigentümlich und beachtenswert sie sind,
Ergebnisse der Stimmung, oft des Augenblicks, sie beanspruchen nicht eigentlich
Politische Bedeutung. Aber die Rede, die der Kaiser am 31. August in Münster
beim Festmahle der Provinz Westfalen gehalten hat, geht doch weit über die
Bedeutung einer flüchtigen Kundgebung und einer Gelegenheitsrede hinaus. Sie
enthält zugleich ein Programm und ein ganz persönliches Bekenntnis. Des Kaisers
Blick umfaßt, von seiner unmittelbaren Umgebung ausgehend, zugleich die Ver¬
gangenheit und die Gegenwart der Provinz, als eines Teils des preußischen
Staats; über diese Zeitgrenze noch weiter rückwärts geht er nicht, auf die mittel¬
alterliche Geschichte dieser Landschaften läßt er sich nicht ein, denn er spricht als
Landesherr, als König. Was ihm zunächst in die Augen fällt, das ist die
historisch ungewöhnlich bunte Zusammensetzung der Provinz aus ältern und
neuern Bestandteilen, aus den althohenzollernschen Gebieten, die der eben im
Rathaussaale von Münster geschlossene Westfälische Friede (1648) und die Teilung
der jülich-klevischen Erbschaft (1666) an sein Haus gebracht hat, dort das Bistum
Minden, hier Mark und Navensberg, und aus deuen, die erst 1815 dauernd
erworben worden sind, wie die Bistümer Münster und Paderborn, das alt¬
kölnische Herzogtum Westfalen, der Anteil des Erzstifts an der ausgebreiteten
Herrschaft Heinrichs des Löwen nach der Achtung des großen Welsen. „Sie wett¬
eifern aber alle miteinander in der Zugehörigkeit zu unserm Hause." Dieser
politischen Zusammensetzung entspricht die Mannigfaltigkeit der konfessionellen
Verhältnisse. Nebeneinander stehn heute die alten katholischen Bistumslande
und die protestantischen früher erworbnen, in denen, soweit sie aus der jülich-
klevischen Erbschaft stammen, schon seit dem Rezeß von 1672 Lutheraner,
Kalvinisten und Katholiken gleichberechtigt nebeneinander wohnen, das erste
Beispiel konfessionell gemischter Territorien in Deutschland. Auch der Kaiser
macht keinen Unterschied zwischen den Untertanen verschiedner Konfessionen:
„stehn sie doch beide auf dem Boden des Christentums, und beide sind bestrebt,
treue Bürger und gehorsame Untertanen zu sein". Darauf wendet der Redner
den Blick auf das blühende westfälische Erwerbsleben der Gegenwart. Er sieht
vor sich den zähen, fleißigen, fest am Überlieferten haltenden Bauern, den
ruhigen Bürger, der seine Städte immer vollkommner aufbaut, Bergbau und
Industrie, „den Stolz unsrer Nation", zu mächtigem Aufschwünge gebracht hat,
und die Arbeitermassen, die in beiden schaffen und „mit nerviger Faust ihr
Werk verrichten". Mit dieser Schilderung verflicht sich ein soziales Programm.
Auf der einen Seite sieht der Kaiser im Bauernstande „eine feste Grundlage
für unser Staatswesen" und fügt hinzu: „Darum wird Mir der Schutz der
Landwirtschaft stets besonders am Herzen liegen", ans der andern Seite be¬
zeichnet er die Sorge um Wohlstand und Wohlfahrt der Arbeiter als ein
teures Erbe seines Großvaters und als seinen „Wunsch und Willen", „daß
wir auf dem Gebiete der sozialen Fürsorge festhalten an den Grundsätzen, die
in der unvergeßlichen Botschaft Kaiser Wilhelms des Großen (17. November 1881)
niedergelegt sind". Inwiefern er dabei an eine „Fortsetzung" der Sozialreform
denkt, sagt er nicht direkt; genug, daß er sich zur Sozialpolitik bekennt. Das
ist weder neu noch überraschend; seine sozialen Anschauungen sind es ja ge¬
wesen, wie man jetzt ganz genau weiß, die vor allem Bismarcks Entlassung
veranlaßt haben, und er hat immer daran festgehalten; etwaige Zweifel daran
sind völlig grundlos gewesen. Trotzdem wird in manchen Kommentaren der
Rede auf diesen Punkt allein der Ton gelegt und von dem ebenso nachdrücklich
hervorgehobnen Schutz der Landwirtschaft kaum geredet, eine Erklärung, die
heute, wo in manchen Kreisen und Parteien alles „Agrarische" fast als etwas
Unberechtigtes, den Interessen der Industrie weit nachstehendes behandelt wird
(als ob ein gesundes Volk allein von der Industrie leben könnte!), ebenso be¬
deutsam ist wie die Worte über die Sozialreform. Der Kaiser will von einer
Rivalität der einzelnen Erwerbszweige überhaupt nichts wissen; er sieht viel¬
mehr gerade in der Provinz Westfalen den Beweis, „daß die großen Erwerbs¬
zweige einander nicht zu schädigen brauchen, und daß die Wohlfahrt des einen
anch dem andern zugute kommt". Auch hierin also sieht er gerade auf west¬
fälischen Boden das friedliche Zusammenarbeiten verschiedner Elemente ver¬
wirklicht.
Dieses „schöne Bild versöhnlicher Einheit" möchte er auf das gesamte
Vaterland übertragen sehen. Worin sieht er nun die Grundlage für eine solche
Einigkeit? Nicht etwa in irgendwelchen gesetzgeberischen Maßregeln, sondern
in der versöhnlichen Gesinnung aller Teile. Und nun folgt ein merkwürdiges,
ganz persönliches Bekenntnis, das man nicht ohne Bewegung lesen kann. Er
beginnt mit einer Klage: die Menschen, mit denen er in den beinahe zwanzig
Jahren zu tun gehabt, „haben mir oft unbewußt und leider auch bewußt bitter
wehgetan". Erinnert er sich dabei an Undank und Verkennung, die ihm in der
Presse häufig genug aufgefallen sein mögen, oder denkt er an andre Dinge,
die nur Eingeweihte wissen können? Da ist wohl der Zorn in ihm aufge¬
stiegen und der Wunsch nach Vergeltung. Er hat solche Regungen nieder¬
gekämpft als Christ, indem er sich gesagt hat: „Alle sind Menschen wie Du,
und obgleich sie Dir wehe tun, sie sind Träger einer Seele aus den lichten
Höhen — zu denen wir alle einst wieder zurückkehren wollen, und durch ihre
Seele haben sie ein Stück ihres Schöpfers in sich. Wer so denkt, fügt er
hinzu, der wird auch immer milde Beurteilung für seine Mitmenschen haben."
In dieser Gesinnung, die in Christus, „dieser persönlichsten der Persönlich¬
keiten", ihr höchstes Vorbild erkennt, sieht er die Bedingung für eine vollständige
Einigkeit, das Mittel, die Gegensätze der Anschauungen und Interessen zu
mildern, und er will alle die, die in solchem Geiste mit ihm zusammenwirken
wollen, „freudig als Mitarbeiter annehmen, er sei, wer und wes Standes
er wolle".
Mancher Kritiker hat gemeint, das sei ein Hereinziehen der „Religion" in
die Politik und also unstatthaft, denn die Religion dürfe auf das öffentliche
Leben nicht übergreifen. Das ist ein plumpes Mißverständnis. Der Kaiser
hat nur von der Gesinnung gesprochen, die in der christlichen Religion wurzelt,
und diese selbst versteht er nicht „in streng kirchlich dogmatischen Sinne, sondern
im weitern, für das Leben praktischer» Sinne". Wie soll man die Wirkung
sittlich-religiöser Gesinnung vom öffentlichen Leben ausschließen? Wer das
verlangt, der hat vom Wesen der Religion gar keinen Begriff. Wer wirklich
die Gesinnung in sich trägt, die der Kaiser meint, der kann gar keine Scheide-
Wand aufrichten zwischen seiner privaten und seiner öffentlichen Tätigkeit. Auf
der Gesinnung beruht doch schließlich alles, die besten Gesetze bleiben wirkungslos
ohne sie. Gewiß, die wirtschaftlichen und politischen Gegensätze find durch die
Gesinnung nicht aus der Welt zu schaffen; aber wenn jede Partei in ihren
Gegnern nicht nur ihre Feinde, die möglichst geschädigt und niedergekämpft
werden müßten, sehen wollte, sondern auch die Volksgenossen, mit denen man
zusammenleben und sich verständigen muß, um dem Ganzen, dein Vaterlande
zu dienen, dann wäre die widerwärtige Wut der Parteikämpfe und die schänd¬
liche Verhetzung der Gemüter, wie sie nirgends ärger sind als in Deutschland,
unmöglich. Es ist ein Ruf zur Selbstprüfung, zur Einkehr und Umkehr, den
der Kaiser zunächst an die Westfalen und dann an sein ganzes Volk richtet,
eine Mahnung an jeden, die Reformen mit sich selbst anzufangen, denn „die
Menschen sind die Zeiten".
Mag man aber über die Rede denken, wie man will, eins wird niemand
verkennen: ein hochsinniger, geistvoller Mann von starker, ja leidenschaftlicher
Empfindung hat hier gesprochen, und eine schönere, tiefere Auffassung von dem
Berufe des Herrschers, alle Teile seines Volkes zu gemeinsamer Arbeit in fried¬
licher und versöhnlicher Gesinnung gegeneinander zu vereinigen und in dieser
Gesinnung allen selbst voranzugehn, konnte der Kaiser nicht kundgeben. Er faßt
auch hier seinen monarchischen Beruf ganz persönlich auf, aber dieses Festhalten
an der altpreußischen Tradition entspricht dem deutschen Empfinden, das von
I le Studienreise, die den Kolonialsekretär Exzellenz Dernburg zur¬
zeit nach Ostafrika geführt hat, dürfte aller Voraussicht nach
großenteils auch dem Studium des kolonialen Eisenbahnwesens
dienen, worauf ja insbesondre die in das Neiseprogramm auf-
I genommene und inzwischen ausgeführte Fahrt auf der britischen
Ugandabahn schließen läßt, und wir dürfen davon für die weitere, bis jetzt stark
zurückgebliebne Entwicklung unsrer Kolonialbahnen besonders viel erhoffen.
Kurz vor der Abreise des Staatssekretärs hat unter seinem Vorsitz am
6. Juli zu Berlin im Reichskolonialamt eine Besprechung hervorragender Ver¬
treter der deutschen Handelswelt stattgefunden, in der die Frage behandelt wurde,
mit welchen Mitteln man allgemein den wirtschaftlichen Aufschwung der Kolonien
nach Möglichkeit fördern könne. Bei dieser Gelegenheit ist von verschiednen
Seiten hervorgehoben worden, daß an eine wirtschaftliche Erschließung unsrer
Kolonien in wirklich großem Maßstabe erst zu denken sei, wenn ein ausreichendes
Eisenbahnnetz geschaffen wäre, das eine leichte Ein- und Ausfuhr ermögliche.
Auch Dernburg selbst erklärte die Schaffung von kolonialen Eisenbahnen für
eine Aufgabe von höchster Wichtigkeit, der er seine volle Aufmerksamkeit zuzu¬
wenden gedenke. Es scheint demnach, als ob wir am Beginn einer neuen Ära
in der Entwicklung unsrer kolonialen Schienennetze stehn, und es ist bei dieser
Gelegenheit vielleicht angebracht, einen Blick daraus zu werfen, wie es denn
bisher mit den Bahnbauten in den deutschafrikanischen Besitzungen aussieht.
Eisenbahnen von nennenswerter Länge gibt es bisher eigentlich nur in
Deutschsüdwestafrika. Kamerun entbehrt der Bahnen noch vollkommen, denn
eine kleine, private Feldbahn Viktoria-Sopo (43 Kilometer lang) kann nicht
ernstlich mitzählen, und die von Duala ins Hinterland geplante, wichtige Stich¬
bahn nach den Manengubabergen wird erst gegenwärtig abgesteckt. In Deutsch¬
ostafrika ist das bisher Geleistete ebenfalls kaum der Rede wert: von den
beiden Bahnen, die von Daressalaam oder von Tanga aus ins Hinterland führen
sollen, bis an den Tcmgcmyika- oder den Viktoriasee heran, sind bisher nur
einige Dutzend Kilometer fertiggestellt; der Bahnverkehr ist noch kaum über den
Küstengürtel hinausgelangt, und das letzte Ziel, eine Erreichung der großen
Seen durch die Schienenwege, steht noch in der weitesten Ferne. Dabei ist es
bemerkenswert und für uns Deutsche beschämend zugleich, daß das deutsche
Hinterland am Viktoriasee und insbesondre der deutsche Haupthafen an diesem
See, Muanza, in den letzten Jahren trotz des langsamen Fortschreitens der
deutschen Bahnbauten schon einen starken Aufschwung ihres Handels, ihres Auf-
und Einfuhrverkehrs zu verzeichnen hatten, und zwar infolge der 1903 erfolgten
Eröffnung der — englischen Ugandabahn, die Britischostafrika von der Küsten¬
stadt Mombassa bis nach Viktoriastation am Viktoriasee durchzieht, und die in einer
fast beispiellosen Weise das Handels- und Verkehrsleben der gesamten Länder
um den Viktoriasee, der englischen wie der deutschen, befruchtet und gefördert
hat, wobei sie selbst vorzügliche Einnahmen zu verzeichnen hat. Zum ersten¬
mal hat hier ein tiefbinnenländisches Gebiet der deutschostafrikanischen Besitzungen
einen rapiden Verkehrsaufschwung zu verzeichnen, nämlich eine Vermehrung des
Handels um das Neunfache binnen zehn Jahren, und dies erfreuliche Resultat
verdanken wir einer englischen Bahn! Daß die pekuniären Vorteile dieses Auf¬
schwungs bei der Lage der Dinge natürlich auch zumeist in englische Taschen
fließen, sei nur nebenbei erwähnt.
In Togo, das ja von unsern Schutzgebieten überhaupt bisher relativ am
günstigsten dasteht, sieht es mit den Bahnbauten besser aus. Es gibt hier zwei
zwar nnr kurze, aber wichtige Bahnlinien, die am 18. Juli 1905 eröffnete
Küstenbahn Lome-Anecho und die am 27. Januar 1907 dem Verkehr über-
gebne Binnenlandstrecke Lome-Pallme. Die Kosten des Baues der zuletzt
genannten Bahn wurden dem Schutzgebiet in Gestalt eines Darlehns vorge¬
streckt. Die Bahn kostet deshalb dem Reich voraussichtlich nichts, denn daß
es der ertragfähigen Kolonie Togo gelingen wird, aus eigner Kraft das Dar¬
lehn in der vorgeschriebnen Zeit zurückzuerstatten, kann kaum zweifelhaft sein.
Der offenbar sehr glückliche Ausweg, die Kosten eines Bahnbaues in den
Kolonien nur als Darlehn vorzustrecken und nach und nach von dem Schutz¬
gebiet zurückzahlen zu lassen, wird bekanntlich auch bei der neuen südwestafrika-
nischen Bahnlinie Kubub-Kectmanshoop Anwendung finden und dürfte künftig¬
hin bei unsern kolonialen Eisenbahnbauten wohl die Regel werden.
In Deutschsüdwestafrika verfügen wir zurzeit über drei Bahnlinien,
von denen eine nicht staatlicher, sondern privater Besitz ist. Es ist dies die
^78 Kilometer lange, sogenannte Otavibahn, die zwischen Swcikopmund und
Tsumeb gebaut und am 25. August 1906 fertiggestellt worden ist, und die
hauptsächlich dazu dient, die Kupferminen der vielgenannten Otavi-Gesellschaft
M erschließen.
Diese der Otavi-Gesellschaft gehörende Bahn, die unter sehr großen Schwierig¬
keiten während des großen Aufstandes gebaut und vollendet worden ist, hat trotz
ihres privaten Charakters unsre militärischen Operationen im Aufstandsgebiet
sehr wesentlich gefördert und würde eine erfolgreiche Kriegführung noch viel
mehr ermöglicht haben, wenn sie schon bei Beginn der Unruhen im ganzen
Umfang fertiggestellt gewesen wäre. Sie ist die weitaus längste von allen
deutschen Kolonialbahnen und wird in kurzer Zeit eine Abzweigung von Otavi
nach Grootfontein erhalten. Später dürfte sie voraussichtlich einmal Anschluß
an die im Entstehen begriffnen Eisenbahnlinien im südlichen Teil der benach¬
barten portugiesischen Kolonie Angola finden.
Weiter gibt es in Deutschsüdwest die wichtige Regierungsbahn Swakop-
mund-Windhuk, die zweitlängste unsrer Kolonialbahnen, die sich bei der Nieder¬
werfung des großen Aufstands von ganz unschätzbarem Werte erwiesen hat.
Die Verlängerung dieser Bahn bis Rehoboth steht unmittelbar bevor; in spätrer
Zeit soll sie noch viel weiter, nach dem Süden des Schutzgebiets, nach Keet-
manshoop und sogar bis nach Warmbad verlängert werden. Die dritte und
letzte unsrer südwestafrikanischen Bahnen ist die sogenannte „Südbahn". Es ist
dies die vielgenannte, im Reichstag so heiß umstrittne Bahn, die von Lüderitz-
bucht aus ins Hinterland des südlichen Schutzgebiets verläuft, und deretwegen
sich Oberst von Deimling in der berühmten Reichstagssitzung vom 26. Mai
1906 so energisch ins Zeug gelegt hat. Damals war die Bahn bis in die
Gegend von Kubub und Aus gebaut; der Reichstag verweigerte die Mittel zum
geplanten Weiterbau bis Keetmanshoop und wollte die Bahn, um Oberst Deiiu-
lings drastischen Ausdruck zu rekapitulieren, „bei Kubub im Dreck stecken lassen".
Die Verhältnisse haben sich seither gründlich geändert: am 12. März 1907 hat
der neue Reichstag die Weiterführung der Bahn bis Keetmanshoop gutgeheißen,
die denn auch sogleich energisch in Angriff genommen worden ist, sodaß vor
ein paar Wochen schon eine etwa achtzig Kilometer lange, weitre Strecke von
Aus bis Schakalskuppe, zunächst für Militürtransporte, eröffnet werden konnte,
womit die Bahn die schlimmsten „Durststrecken" überwunden hat, sodaß sie speziell
in den neu bevorstehenden Kämpfen gegen Morenga von sehr hohem Werte sein
wird. Auf diese „Südbahn" darf aber auch die Handelswelt besonders große
Hoffnungen setzen, denn wenn sie dereinst voll ausgebaut sein und nicht nur bis
Keetmanshoop, sondern etwa bis Rietfontein an der Grenze des britischen Vetschuana-
lcmdes verlängert sein wird, so kann sie unter Umstünden einen sehr bedeutenden
Teil des südafrikanischen Handels auf sich lenken, und Lüderitzbucht kann, wenn
das Glück uns geneigt ist, zum wichtigsten Handelshafen von ganz Südafrika
werden und, wegen der bedeutend kürzern Verkehrswege, dem britischen Kapstadt
eine sehr fühlbare Konkurrenz machen. Die Engländer erkennen diese Sachlage
auch sehr deutlich und plädieren schon lebhaft für eine sich von Port Nolloth
(im nordwestlichsten Kapland) nahe an der deutschen Grenze hinziehende Bahn,
die der deutschen „Südbahn" den Rang abzulaufen und den Handelsverkehr
der dem Verkehr neuzuerschließenden englischen und deutschen Gebiete über eng¬
lisches Gebiet lenken soll, in ähnlicher Weise, wie sie es in Ostafrika bei der schon
genannten Ugandabahn mit so großem Erfolg schon getan haben.
In den ganzen riesigen Ländermassen, die in Afrika deutscher Besitz sind,
sind bisher, einschließlich der soeben eröffneten Strecke Aus-Schakalskuppe,
nur 1542 Kilometer Eisenbahnlinien vorhanden, von denen obendrein noch weit
mehr als ein Drittel Privatbesitz der Otavi-Gesellschaft ist.
Im einzelnen setzt sich diese Zahl zusammen aus folgenden, schon im Be¬
trieb befindlichen Linien:
Diese 1542 Kilometer, von denen überdies nur 921 Kilometer dem Deutschen
Reiche oder seinen Schutzgebieten gehören, sind der gesamte Besitz an kolonialen
Bahnen in unsern vier großen afrikanischen Kolonien. Wie rückständig wir in
dieser Beziehung noch sind, zeigt am besten ein Vergleich mit einigen Zahlen
ans den französischen und den englischen Besitzungen in Afrika. Allein in Algier
gab es Ende 1906 2917 Kilometer Schienenwege, in Nhodesia, also im innersten
Afrika, 2101 Kilometer, in der Kapkolonie sogar 4934 Kilometer usw. Schon
1879, also lange vor der Aufteilung Afrikas, existierten in der einen Kapkolonie
genau ebensoviel Kilometer Bahnlinie, wie im Jahre 1907 alle vier deutschen
Kolonialgebiete in Afrika zusammen aufweisen! England hat allein in den sechs
Jahren von 1900 bis 1906 in Afrika 7500 Kilometer neue Bahnlinien geschaffen,
also mehr als das Fünffache der Anzahl, über die Deutschland bisher überhaupt
insgesamt verfügt, und die Gesamtlänge der englischen Bahnen in Afrika belief
sich Ende 1906 sogar auf nahezu das Zehnfache des deutschen Besitzes, nämlich
14677 Kilometer. Auch Frankreichs Schienennetz in Afrika umfaßt 6090 Kilo-
Meter, sodaß die Rückständigkeit der deutschen Kolonien allerdings als eine
sehr merkliche bezeichnet werden muß. Sogar ein, was die Kultur anlangt, so
weit ins Hintertreffen geratner Staat wie Portugal hat seine beiden großen
afrikanischen Kolonialbesitzungen, vom Gelde englischer Unternehmer unterstützt,
in einer recht ausgiebigen Weise mit Eisenbahnen erschlossen und ist Deutschland
in dieser Beziehung ganz bedeutend überlegen.
Dabei wäre es grundfalsch, die afrikanischen Kolonialbahnen der europäischen
Staaten, wie es bis zum vorigen Jahre in Deutschland vielfach geschehen ist,
als überflüssigen Luxus zu bezeichnen, als Anlagen, die nur große Anlagekosten
und dauernde Zuschüsse verschlingen würden, ohne sich jemals rentieren zu können.
Vielmehr lehrt die Erfahrung das genane Gegenteil: von verschwindenden Aus¬
nahmen abgesehen, repräsentieren die afrikanischen Bahnen durchweg ein sehr gut
angelegtes Kapital; viele von ihnen pflegen sogar schon in den ersten Jahren
des Bestehens ansehnliche Überschüsse abzuwerfen. Dabei ist der wirtschaftliche
Aufschwung der von den Bahnen durchschnittnen Landgebiete in einigen Fällen
ein nahezu verblüffender. Von der rapiden Entwicklung, die das deutsche Mucmza
und die umliegenden deutschen Gebiete am Viktorinsee infolge der Eröffnung
der britischen Ugandabahn zu verzeichnen hatten, war schon die Rede. Anderswo
sind ebenso erstaunliche Erfolge zu verzeichnen. So ist z. B. in der englischen
Goldküstenkolonie der Wert des Handelsverkehrs durch die 1903 erfolgte Er¬
öffnung der 270 Kilometer langen Bahn Sekondi-Kumcissi binnen zwei Jahren
von 5 auf 11 Millionen Pfund gestiegen, in Sierra Leone aus gleichem
Anlaß (Eisenbahn Freetown-Baimci) von 300 000 Pfund im Jahre 1902 auf
560 000 Pfund im Jahre 1906. Ebenso hat sich in Senegambien durch die
Eröffnung der Bahn Se. Louis-Dakar der Handel mit Erdnüssen in kurzer
Zeit verzehnfacht usw.
Auf Grund solcher Erfahrungen, die die ältern Kolonialstaaten in Afrika
mit ihren Eisenbahnbauten gemacht haben, ist das hohe Interesse verständlich,
das die deutschen Handels- und Kolonialkreise, wie schon erwähnt worden ist,
in fortwährend steigendem Maße der Schaffung eines großen Netzes von deutsch¬
afrikanischen Eisenbahnen entgegenbringen, ein Interesse, das natürlich, wie kaum
noch besonders betont zu werden braucht, von den militärischen Sachverständigen
vollauf geteilt wird. Daß auch der deutsche Reichstag von seiner frühern
Abneigung gegen koloniale Eisenbahnen immer mehr zurückkommt, ist bekannt.
Die entschieden freundlichern Gefühle, die der gegenwärtige Reichstag allen solchen
Bestrebungen entgegenbringt, dürften weiterhin wesentlich verstärkt werden durch
die amtliche Denkschrift: „Die Eisenbahnen Afrikas", die vor kurzem dem Reichs¬
tage zugegangen ist und auf 370 Textseiten an der Hand eines umfangreichen
statistischen Materials eine Reihe von bedeutsamen Nachweisen führt. Folgendes
sind die wichtigsten Ergebnisse aus den zahlenmäßigen Darlegungen dieser Denk¬
schrift (gekürzt):
„Nahezu alle afrikanischen Eisenbahnen mit sehr verschwindenden Aus¬
nahmen haben bereits von der Eröffnung an oder innerhalb sehr kurzer Frist
nachher mindestens ihre eignen Betriebsausgaben einschließlich der Unterhaltungs¬
kosten zu decken vermocht; eine größere Anzahl brachte von vornherein eine
Rente. Die Wirkungen von Eisenbahnen sind überall gewesen: g.) erhebliche
Erhöhung des Einfuhr- und Ausfuhrhandels... d) Erhöhung der Steuer¬
kraft .. . Die Steigerung dieser beiden Einnahmequellen hat fast in allen
Fällen dazu hingereicht, die finanzielle Last für Verzinsung und Tilgung der
für den Eisenbahnbau aufgewendeten Summen mehr als auszugleichen . . .
e) friedliche Ausdehnung der zivilem Gewalt, Eindämmung von Aufstands¬
bewegungen, Ersparnis in den Ausgaben für Expeditionen: 6) gesundheitliche
Hebung der Eingebornen durch Vermeidung von Seuchen und ihre Erhaltung
durch Vermeidung von Hungersnöten."
le politischen Verhältnisse in Sachsen sind, wie Sie in Ihrem
Schreiben vom 27. Juli richtig bemerken, allerdings sehr zugespitzt,
und die sommerliche Stille, die durch die Abwesenheit aller poli¬
tischen Persönlichkeiten bedingt ist, dürfte nur die Ruhe vor dem
Sturme sein. Die Zustünde in der konservativen Partei aber be¬
urteilen Sie von Ihrem — sit öhrig. vervo — einseitigen Standpunkt aus
unrichtig und knüpfen daran für Ihre eignen liberalen Auffassungen durchaus
ungerechtfertigte Hoffnungen. Die in der Versammlung des Dresdner konser¬
vativen Vereins vom 5. April nach dem Vortrage des Oberbürgermeisters
Beutler angenommnen Leitsätze sind von den eignen Parteigenossen im Lande
teils über-, teils unterschätzt und nur selten richtig gewürdigt worden. Nach
weiner Ansicht sollten sie nur eine Neuorientierung der Parteileitung in der
Richtung einleiten, daß den Wünschen der nicht agrarischen Wähler eine größere
Beachtung zuteil werde. Wenn man es von agrarischer Seite vor allem ge¬
tadelt hat, daß die Börsenreform als erwünscht bezeichnet, und daß die Fest-
Haltung am allgemeinen, direkten Reichstagswahlrecht empfohlen wurde, so ist
das ebenso erklärlich wie für den Erfolg der Dresdner Bestrebungen einflußlos.
Denn niemand wird in Sachsen offen gegen die Wünsche von Handel und
Industrie auftreten, und niemand wird es in bezug auf das Reichstagswahlrecht
mehr wagen, öffentlich für eine Einschränkung der Wahlrechte des Volkes einzu¬
treten. Wenn andre Kreise aber die Leitsätze für selbstverständlich und darum über¬
flüssig bezeichnet haben, so kann man auch damit recht zufrieden sein. Denn bisher
galt es nicht als selbstverständlich, daß die konservative Partei für eine kräftige
Ausgestaltung der Selbstverwaltung und für eine lebendige Fortentwicklung unsrer
Volksbildung einzutreten bereit sei. Wird dies jetzt als selbstverständlich betrachtet,
um so besser. Auch hier hat, wie so oft schon, die öffentliche Verhandlung eines
Gegenstandes reinigend und klärend gewirkt. Ich glaube aber nicht nur das,
sondern sie wird auch verbindend wirken; die Gegensätze werden ausgeglichen,
und die konservative Partei wird in neuer Kraft aus dem Streite der Meinungen
erstehn. Sie bezweifeln das mit Rücksicht ganz besonders auf die Aussprache
des Legationsrates von Nostitz in der Verhandlung des Dresdner konservativen
Vereins am 10. Juli. Auch diese Befürchtung kann ich nicht teilen. Was ist
natürlicher, als daß einer Partei, die jahrzehntelang die absolute Mehrheit im
Landtage hat, übermäßiger Einfluß auf die Staatsgeschäfte nachgeredet wird!
Ja, daß sich einzelne von deren Führern vielleicht hie und da zu Äußerungen
von Wünschen und zur Geltendmachung von Bestrebungen außerhalb des Par¬
laments verleiten lassen, die der parlamentarischen Mitwirkung an sich entzogen
sind! Das ist menschlich erklärlich, und dann um so mehr, wenn die Regierung
zeitweilig nicht stark genug ist, um ihre Anschauungen immer lediglich auf sach¬
liche Erwägungen zu stützen, sondern auch freundwilliger persönlicher Beziehungen
bedarf, um sich im Parlament durchzusetzen. Die Schuld an dem Aufkommen
einer Nebenregierung wird immer ebenso sehr die Negierung wie die Partei
treffen, die sich Übergriffe in die Sphären der Regierung gestattet. Es kann
deshalb auch ruhig abgewartet werden, wer mit reinem Gewissen den Beweis
der Nostitzschen Behauptungen fordern wird. Die konservative Partei als solche
hat meines Trachtens keinerlei Veranlassung, sich mit jenen Vorwürfen, die sich,
um das Kind beim richtigen Namen zu nennen, vor allem gegen den Präsidenten
der zweiten Kammer richteten und ebensosehr sein angeblich autokratisches Auf¬
treten in der Partei selbst bekämpften, zu beschäftigen, sie hat vielmehr ein reines
Gewissen für ihre Vergangenheit und hat überdies alle Veranlassung dazu,
ihre Aufmerksamkeit auf andre, sachliche Fragen zu lenken, und dazu gehört
natürlich in erster Linie der Entwurf der Staatsregierung über die Wahlrechts¬
vorlage.
Wenn Sie, mein verehrter Freund, diese Vorlage — wahrscheinlich auf
Grund der ersten Äußerungen in der Presse — als ein totgeborncs Kind be¬
zeichnen, so, glaube ich, sind Sie im Irrtum. Die ersten, allerdings meist ab¬
lehnenden Äußerungen von Journalisten und Parlamentariern waren offenbar
nur auf Grund der Rede Hohenthals in Bautzen erfolgt, die natürlich nur eine
Skizze der wesentlichen Bestimmungen, nicht aber das ganze Wahlgesetz, und
vor allen Dingen deren Begründung enthalten konnte. Spätere Erklärungen
lauten schon wesentlich anders. Und wenn die Kreuzzeitung eine Zuschrift aus
Sachsen gebracht hat, daß auch die Konservativen nicht gewillt sind, ihre Mit¬
wirkung an einer gedeihlichen Ausgestaltung des Wahlrechts zu versagen, so ist
das eigentlich vorläufig hinreichend, um darauf die Hoffnung zu setzen, daß in
der nächsten Session wirklich ein Wahlgesetz zwischen Staatsregierung und
Ständen vereinbart wird.
Meine Ansichten im einzelnen hoffe ich Ihnen bald einmal darlegen zu
Sie schelten mich einen Optimisten, wenn ich annehme, daß sich die beiden
Flügel der konservativen Partei verständigen, und daß die Nostitzsche Rede
keinerlei ernste Folgen haben werde. Ich bleibe aber dabei, daß die einzige Folge
wahrscheinlich die sein wird, daß die Leute, die künftig von der Staatsregierung
etwas wünschen und den leitenden Kreisen der konservativen Partei nahestehn,
in bezug auf ihre Wünsche und Bestrebungen vielleicht etwas vorsichtiger und
zurückhaltender sein werden als früher, und daß an Stelle des „autokratischen"
Regiments in der Partei die wirklich kollegiale Entschließung der zuständigen
Organe treten wird. Das aber scheint mir beides recht nützlich und gut.
Wenn Sie einwerfen, daß sich der Vorwurf, eine Ncbcnregierung versucht
oder gebildet zu haben, nicht nur gegen den Präsidenten der zweiten Kammer,
sondern auch gegen deren einen Vizepräsidenten und gegen den Oberbürgermeister
von Dresden gerichtet habe, nun so ist wohl der von dem konservativen Vize¬
präsidenten der zweiten Kammer geübte Einfluß kaum anders zu beurteilen als
der des Präsidenten; was aber die Hereinbeziehung des Dresdner Oberbürger¬
meisters anlangt, so wird diesen sicher niemand, der die Verhältnisse kennt, mit
Mehrere und Opitz politisch identifizieren.
Ein „autokratisches" Regiment in der Partei aber ist nur dann und nur so
lange möglich, wenn und insoweit man einer einzelnen Person die Arbeit und
damit den Einfluß allein überläßt. Wirklich tätige und arbeitende Politiker
werden sich von andern niemals auf die Dauer ins Schlepptau nehmen lassen.
Die konservative Partei hat es also völlig in der Hand, daß sich die Verhältnisse
in der Führung ändern. Diejenigen aber, die bisher beiseite gestanden haben,
sind nicht befugt, den Leitern der Partei, die die ganze politische Arbeit und
Verantwortung auf sich genommen haben, den Vorwurf eines autokratischen
Regiments zu machen. Wohl aber hat die Partei alle Veranlassung, ihren
Führern ein reiches Maß von Dankbarkeit für die in ihrem Dienste geleistete
Arbeit zu bewahren.
Was die Wahlrechtsvorlage betrifft, so glaube auch ich nicht, daß sie so,
wie sie veröffentlicht worden ist, ohne weiteres und ohne jede wesentliche
Änderung angenommen werden wird. Das dürfte auch die Staatsregierung,
die ja doch auch das parlamentarische Leben kennt, nicht erwarten.
Zwei Grundsätze aber sind es vor allem, über die man sich schlüssig
machen muß, und mit denen das Ganze steht und füllt. Dazu rechne ich
zunächst nicht, wie Sie annehmen, die Wahlen durch die Kommunalverbände.
Diese sind vielmehr erst eine Folge der Verhältniswahl. Diese Verhältniswahl
und das Pluralwahlrecht sind nach meiner Ansicht die vornehmsten Grundlagen
des ganzen Gesetzes.
Sie wissen, daß ich kein Freund der unerprobten Neuerung der Ver¬
hältniswahl bin, daß ich aber das Pluralwahlrecht in etwas weitrer Aus-
gestaltung, als die Vorlage es will, empfohlen habe, weil es die einzige prak¬
tisch mögliche Form bietet, den meist sozialdemokratisch gesinnten Massen der
Wähler die Erlangung der Mehrheit im Landtage zu versperren. Wenn sich
die Vorlage mit einer absoluten Einkommengrenze (1600 Mark) und einer
Pluralstimme begnügt, so kann sie das, weil sie in den Vertretern der kommu¬
nalen Körperschaften einen weitern Damm gegen eine sozialdemokratische Mehr¬
heit errichtet. Ich hatte es, wie Sie sich entsinnen werden, versucht, ohne
solche komplizierte Gestaltung des Wahlrechts auszukommen, indem ich empfahl,
einem bestimmten Prozentsatz der obersten Steuerzahler jedes Wahlkreises eine
dritte Stimme einzuräumen. Werden die Steuerzahler nach der Höhe ihrer
Leistungen an den Staat, selbstverständlich einschließlich Grundsteuer und Ver¬
mögenssteuer, in der Wählerliste geordnet, und wird den obersten Zweizehnteln
der Wähler drei, den nächsten Dreizehnteln der Wähler zwei und den letzten
Fünfzehnteln eine Stimme eingeräumt, so werden nicht nur die Erwerbsver¬
hältnisse jedes Wahlkreises und der in jedem ganz verschiedne Wert des Ein¬
kommens richtig zur Geltung gebracht, sondern man braucht vor allem keine
weitern Aushilfsmittel, um einer sozialdemokratischen Überflutung des Landtags
vorzubeugen. Sie haben mir schon vorgeworfen, daß das Plutvkratismus
wäre; ich bestreite es aber nach wie vor, sondern nenne es nur Einräumung
eines den Leistungen an den Staat entsprechenden Einflusses an die Wähler.
Nun, wir brauchen ja aber diesen meinen Gedanken nicht weiter zu verfolgen.
Denn wenn, wie es den Anschein hat, die Verhältniswahl schließlich allgemeine
Zustimmung erfährt, dann brauchen wir ein andres Mittel, um eine richtige
Zusammensetzung der Kammer zu gewährleisten, als die dritte Pluralstimme.
Diese Verhältniswahl ist theoretisch in dein Entwurf der Staatsregierung sehr
gut begründet. Man will alle Meinungen im Lande, die vertretungsbedürftig
sind, tatsächlich auch zu einer Vertretung im Landtage gelangen lassen und
macht deshalb mit einem Schlage das ganze Land zu einem einzigen Wahl¬
kreise, dessen sämtliche Stimmen zusammengerechnet werden und für die Stärke
der Parteien in der zweiten Kammer maßgebend sein sollen. Die Befürchtung,
daß damit die besondern Verhältnisse der einzelnen Landesteile nicht genügend
berücksichtigt und vertreten werden, läßt sich allerdings nicht von der Hand
weisen, und es dürfte wohl ernstlich zu erwägen sein, ob man nicht wenigstens
jeden Regierungsbezirk (Kreishauptmannschaft) zu einem gesonderten Wahlbezirk
für die Verhältniswahl macht, sodaß also hierauf die Mandate entsprechend
den Minoritäten und Majoritäten sachgemäß zu verteilen wären. Es will dem
einfachen Manne nicht so leicht in den Kopf, daß die Stimmen der Lausitzer
Freisinnigen den freisinnigen Kandidaten aus dem Vogtlande zugerechnet werden
und umgekehrt, oder daß die konservativen Stimmen aus den Oschatzer und
Döbelner Landbezirken vielleicht nicht hinreichend sind, zwei dort aufgestellten
Kandidaten zum Siege zu verhelfen, weil die Wahlkreise dünn bevölkert sind,
und die in den dicht bevölkerten oder großstädtischen Bezirken aufgestellten
konservativen Männer wesentlich mehr Stimmen auf sich vereinigen und deshalb
mit bessern Aussichten für die Wahl aufgestellt werden. Auch wohl in tech¬
nischer Beziehung würden die Proportionalwahlen vereinfacht werden, wenn
die Berechnung und Feststellung jedesmal durch die Kreishauptmannschaften
für ihren Kreis erfolgte, als wenn dies alles in der Zentralinstanz gemacht
werden müßte.
Werden damit auch die Proportionalwahlen einen etwas mehr örtlich ge¬
färbten, sozusagen räumlich gebundnen Charakter erhalten, so würde dies doch
noch immer nicht genügen, sie als einzige Wahlart einzurichten. Vielmehr auch
dann noch würde ich es für wünschenswert halten, sie durch ein rein lokales
System von Wahlen zu ergänzen.
Um zu diesem Ziele zu gelangen, könnte man verschiedne Wege beschreiten.
Die Vorlage der Staatsregierung entscheidet sich für die „Kommunalwahlen" und
lehnt in ausführlicher Begründung das Berufswahlsystem als für das Land zu
kompliziert, wohl nicht mit Unrecht, ab. Alle andern Möglichkeiten werden un-
erörtert gelassen; zu diesen Möglichkeiten hätte aber zweifellos auch gehört, etwa
fünfzig Abgeordnete nach dem jetzigen System und aus Wahlkreisen, die nach
Städten und ländlichen Ortschaften getrennt neu zu ordnen wären, wählen zu
lassen. Ich glaube, daß dies zahlreiche Einwendungen gegen die Vorlage un¬
möglich gemacht haben würde, wenn auch damit die von der Vorlage in Helles
Licht gestellten Vorzüge der sogenannten Kommunalwahlen verloren gegangen
wären. Die Unterscheidung von Stadt und Land für die Wahlen gänzlich und
ohne entsprechenden Ersatz aber fallen zu lassen, dazu werden sich nicht nur
die agrarisch gerichteten Mitglieder der zweiten Kammer, sondern auch zahl¬
reiche andre Politiker nur sehr schwer entschließen, weil diese Unterscheidung
wenigstens in etwas eine sachgemäße berufliche Gliederung der Volksvertretung
gesichert hatte. Also mit einem Worte, ich erachte nicht die Kommunalwahlen,
sondern ganz allgemein auf Grund örtlich abgegrenzter, und wenn irgend
möglich, nach Land- und Stadtgemeinden unterschiedener Wahlkreise vorgenommn?
Wahlen für eine notwendige Ergänzung des Proportionalwahlsystems, und ich
hoffe, daß auf diesem Boden vielleicht eine Verständigung zwischen der Negierung
und der konservativen Partei möglich ist.
Verharrt die Negierung aber unbedingt bei den vorgeschlagnen indirekten
Kommuualwcchlen, so sollte die konservative Partei die Vorlage dennoch nicht
scheitern lassen. Denn noch auf Jahrzehnte hinaus ist völlige Gewähr dafür
geboten, daß hierbei auf Grund der in den Großstädten bestehenden Wahlrechte
und auf Grund des Wahlrechts zu den Bezirksversammlungen wirklich nur
staatserhaltende und überdies im öffentlichen Leben schon geschulte Männer
als Abgeordnete gewählt werden. Allerdings ist es unverständlich, warum man
die Mitglieder der Ratskollegien in den Großstädten nicht als wählbar betrachtet
hat. Die Befürchtung, daß sie die Wahl irgendwie beeinflussen könnten, wie
dies wohl für die NichtWählbarkeit des Amtshauptmanns in den Wahlen der
Bezirksversammlung ausschlaggebend gewesen ist, kommt hier, wie alle Leute,
die den einschlagenden Verhältnissen irgend näher stehn, gewiß bestätigen werden,
nicht in Betracht. Wenn man aber erwägt, daß in die Natskollegien namentlich
zu unbesoldeten Mitgliedern meist nur solche Männer gewählt werden, die sich
schon eine längere Reihe von Jahren in der städtischen Verwaltung und damit
im öffentlichen Leben bewährt haben, so ist es unbegreiflich, daß man gerade
diese Personen von der Möglichkeit, ihre Vaterstadt auch im Landtage zu ver¬
treten, ausschließen will.
Sie begründen Ihre Abneigung gegen die vorgeschlagenen Kommunalwahlen
hauptsächlich mit der Befürchtung, daß damit in diese kommunalen Körperschaften
die Politik gewissermaßen offiziell eingeführt werden würde. Ich kann Ihnen
nicht Unrecht geben und habe diese Befürchtung selbst schon ausgesprochen.
Andrerseits bescheide ich mich aber, daß schon jetzt, in den Großstädten wenigstens,
die Wahlen zu den Stadtverordneten vielfach von den politischen Parteien ge¬
leitet und nach politischen Grundsätzen entschieden werden, und daß dies, je
lebhafter sich unser gesamtes öffentliches Leben gestaltet, wahrscheinlich immer
mehr der Fall sein wird, ob man es nun wünschen mag oder nicht.
Aber Sie sowohl, mein verehrter Freund, als auch die Führer der konser¬
vativen Fraktion haben wohl noch einen andern Grund zu Ihrer Abneigung
gegen das Kommunalwahlsystem, den nämlich, daß Sie auf diese Wahlen von der
politischen Zentralstelle aus sehr viel meniger Einfluß werden ausüben können,
als dies bei jedem andern System der Fall sein würde, und daß die so gewählten
Abgeordneten wahrscheinlich meist recht unabhängige und gegenüber der Partei¬
leitung nicht sehr gefügige Männer sein würden. Das wäre vom Standpunkt
einer strammen Parteileitung aus gewiß zu bedauern, ob aber auch die politischen
Interessen des Landes darunter leiden würden, erscheint doch sicher mehr als
zweifelhaft.
Sie haben zwar Recht, daß die Einkommensgrenze von 1600 Mark, von
der an die zweite Stimme verliehen werden soll, im allgemeinen Zustimmung
erfahren hat. Ich kann mir aber nicht verhehlen, daß sie für die großstädtische
Industrie mit ihren hohen Löhnen sehr niedrig bemessen ist. Dennoch gebe ich
Ihnen Recht, daß es kaum möglich sein wird, im Wege parlamentarischer Ver¬
handlungen diese Grenze hinaufzurücken. Den Ausnahmen, die das Gesetz für
die kleinen Grundstückbesitzer und für die Personen, die die Berechtigung zum
einjährig-freiwilligen Dienst erlangt haben, einräumen will, ist meiner Ansicht
nach eine viel zu große Bedeutung beigelegt worden. Das ergeben schon die
im Entwurf angegebnen Zahlen, die, auf das ganze Land verteilt, sicherlich keine
ausschlaggebende Bedeutung erlangen werden. Das sind Schmuckstücke, die das
ganze Bauwerk des Gesetzes nicht wesentlich berühren, und von deren Annahme
oder Ablehnung sicher kein praktischer Politiker die Zustimmung zur Vorlage
abhängig machen wird. Dasselbe gilt von der Frage, ob man zu diesen Privilegierten
noch die zur Gewerbekammer Beitragspflichtigen hinzunehmen soll oder nicht.
Die Zahl der dort Wahlberechtigten, die nicht einmal ein Einkommen von
1600 Mark zu versteuern haben, wird jedenfalls von noch geringerm Belang
sein, und die Bejahung der Frage ist darum nur ein Akt der Gerechtigkeit, nicht
aber eine politisch wesentliche Angelegenheit.
Sie meinen nun, die konservative Fraktion werde mit nicht wenig Aussicht
auf Gewinnung einer Mehrheit in der Kammer die Wiedereinführung des alten
Wahlgesetzes von 1869 mit Erhöhung des Wahlzensus vorschlagen und empfehlen,
denen, die zunächst von der Wahl nach diesem Gesetze ausgeschlossen sein würden,
ein Wahlrecht in dem Sinne einzuräumen, daß sie im ganzen Lande eine Zahl
von etwa fünfzehn Abgeordneten zu wählen haben. „Wenn mans so hört,
mondes leidlich scheinen", und ich glaube, daß auch ein größerer oder kleinerer
Teil Ihrer Fraktionsgenossen dafür zu gewinnen sein würde. Und dennoch möchte
ich davor warnen. Das Volk wird dadurch in zwei Teile gespalten, und die
vaterländisch gesinnten Elemente in diesen großen Kreisen der minder bemittelten
Bewohner unsers Landes würden selbst dann zu einer bedeutungslosen Minderheit
und zu einem Mangel an entsprechender Vertretung verurteilt werden, wenn man
für sie das Verhültniswahlrecht einführen wollte. Jedenfalls würde die Absicht
des Gesetzes, in den minder bemittelten Kreisen beruhigend und versöhnend zu
wirken, in ihr Gegenteil verkehrt werden, und es würde allen denen, die eine
solche Versöhnung wünschen, auch dann unmöglich sein, für einen solchen Gesetz¬
entwurf einzutreten, wenn ihnen vorgerechnet würde, daß auf lange Zeit hinaus
dann eine vaterländisch gesinnte Mehrheit für die zweite Kammer gesichert sei.
Ich wenigstens könnte mich für ein solches Gesetz nicht entschließen und würde
dann die unveränderte Annahme der Regierungsvorlage trotz mancher Bedenken
noch immer vorziehn.
Sie berühren zum Schlüsse Ihres Briefes noch die Frage, warum Graf
Hohenthal nicht zugleich mit dem neuen Wahlgesetz einen Entwurf über eine
Ergänzung der ersten Kammer vorgelegt hat, und geben Ihrer Genugtuung
darüber Ausdruck, daß dies nicht geschehn ist, und daß die Entscheidung über
eine veränderte Zusammensetzung der ersten Kammer dem nach dem neuen Wahl¬
gesetz wesentlich veränderten Landtag überlassen bleibt. Ich bin der gegenteiligen
Meinung, das heißt nach meiner Ansicht hätte man die Revision der ersten
Kammer noch von der zweiten Kammer in ihrer jetzigen Zusammensetzung
sanktionieren lassen und sie auf die angemessene Vermehrung der von der Krone
frei zu wählenden Mitglieder und die Berufung eines Mitglieds der technischen
Hochschule beschränken müssen. Es hätte das auch noch manche andre Vorzüge.
Ganz abgesehn von der Frage der Kompensation würde die Änderung der Ver¬
fassung endlich zum Abschluß gebracht und nicht ein wesentliches Stück davon
einer ungewissen Zukunft überlassen.
Doch genug für heute. Vierzehn Tage nach den Wahlen schreibe ich Ihnen
!ranz von Assisi*) und Luther, wann wird der dritte kommen? . > ,
Die Menschheit bedarf von neuem eines Franziskus, eines Luther!
Mit diesen Worten schließt Henry Thode, der bekannte Kunst¬
historiker in Heidelberg, sein großes Werk über Franz von Assisi
!und die Anfänge der Renaissance in Italien. Die Nebeneinander¬
stellung von Franziskus und Luther — wirkt sie nicht auf manchen von uns
frappierend? Ich meine sogar, sie könnte hier und da ein gewisses peinliches
Gefühl in uns lebendig machen. Daß man von Luther etwas weiß, verlangen
wir Evangelischen von jedem Gebildeten, auch wenn er der römischen Kirche
angehört. Und wenn das Bild, das sich dort drüben jemand von Luther macht,
ein Zerrbild ist, in dem Luthers Größe nicht entfernt gewürdigt wird, so klagen
wir — und zwar mit Recht! — über Ungerechtigkeit und geflissentliches Sich¬
verschließen. Wir Evangelischen aber — was wissen die meisten von uns von
diesem Franziskus, den jener Kenner der Geschichte wert erachtet, daß er in
einem Atem genannt wird mit einem der größten Männer, die unser deutsches
Volk hervorgebracht hat!
Franz von Assisi und Luther! Wenn nun auch wirklich der Name jenes
Heiligen vielen unter uns nicht unbekannt geblieben ist — es werden doch
wenige sein, die die Berechtigung dieser Verbindung von vornherein zugestehen.
Luther Hütte sich wohl vor allen Dingen selber gegen sie mit Händen und
Füßen gesträubt. Franz war ein Heiliger, ja ein gar vornehmer Heiliger der
römischen Kirche — und die Heiligen standen bei Luther nicht hoch in Ehren.
Heiligendienst ist Götzendienst in seinen Augen, und Gottes Wort ist ihm wert¬
voller als alle Heiligen. Franz war ihm der Erneurer des mönchischen Lebens,
der Erneurer einer weltabgewandten, kulturfeindlichen Frömmigkeit. Er aber in
seiner gesunden Freude an den höchsten Gütern der Kultur, in seiner gesunden
Lebensbejahung sieht in der Möncherei eine „eitle Traumlehre wider Christum,
ein nichtiges und närrisches Werk, welches jeglicher böse Bube wohl tun kann".
Ja, er sieht darin den Inbegriff aller Verkehrung des echten religiösen Lebens,
das für ihn ganz allein auf der Gnade Gottes ruht, während die Mönche mit
ihrem Tun vorgeben, sie könnten einen Stand besondrer Vollkommenheit er¬
reichen. Luther hat das Joch der römischen Kirche von den Schultern des
deutschen Volkes heruntergerissen, Franz aber war ein gehorsamer Sohn der
römischen Kirche, für die er mit seiner Schöpfung neue, feste Stützen im Volks¬
leben geschaffen hat. Luther war ein Mann, der in heiligem Zorn die Geißel
in die Hand genommen und mit mehr als scharfen Schlägen versucht hat, das
zur Mördergrube gemachte Gebäude der Kirche zu einem Bethause zu machen;
er war eine im höchsten Sinne tatenfrohe Mannesnatur. Franz aber war wohl
des tiefsten Schmerzes fähig, nicht aber eines männlichen, starken Zornes und
einer reformatorischen Kraft. So stehen sich die beiden in unsern Gedanken
gegenüber, wie wir meinen, als vollendete Gegensätze. Und selbstverständlich will
es uns dünken, daß sich Luther in seiner Art der Frömmigkeit und mit seinem
derben deutschen Mannesmute von diesem welschen, weltabgewandten, empfind¬
samen Heiligen abgestoßen fühlte. Das aber ist nun eben die Frage, ob Luther,
mit dessen Augen wir versucht sind, jenes Heiligenleben zu betrachten, uns ein
Lehrer auch in geschichtlicher Gerechtigkeit sein kann; ob nicht eben Luthers
Blick für diesen Mann getrübt war. Ich meine: nicht nur Toleranz zu üben soll
evangelische Tugend sein, sondern eng damit zusammenhängend soll gerade der
Evangelische fähig sein, wahre Menschengröße zu würdigen, wo immer er sie
findet. Und in Franz von Assisi begegnet uns ein Mensch von wahrhafter
Größe!
In längst vergangne Zeiten kehren wir zurück. Etwa im Jahre 1182 ist
Franziskus geboren. Seine Heimat im Herzen von Italien schildert uns die
Feder seines begeistertsten Biographen: „Fast spurlos sind die Jahrhunderte an
Assisi vorübergerauscht. Zwar liegt die alte Burg in Trümmern, aber die
langen öden Straßen mit ihren hundertjährigen Häusern machen noch heute den
gleichen Eindruck wie vor sechs- oder siebenhundert Jahren. Terrassenförmig
auf einem Hügel erbaut, der stolz vom Monte Subasio überragt wird, über¬
sieht die Stadt zu ihren Füßen die ganze umbrische Ebene von Perugia bis
Spoleto. Wie Kinder, die sich drücken und drängen und auf die Fußspitzen
stellen, um möglichst alles zu sehen, klettern die Häuser an den Felsen empor.
Und in der Tat ist ihre Lage so günstig, daß man aus jedem Fenster die
ganze Landschaft überblicken kann, bis hin zu den Wellenlinien der fernen Berge,
auf deren Gipfel sich Schlösser und Dörfer deutlich von dem wunderbar klaren
Himmel abheben." Franzens Vater Bernardone war selten daheim. Sein
Kaufmannsberuf führte ihn weit durch das Land, oft auch hinüber bis über die
Alpen in die Provence, das südliche Frankreich. Man sagt, daß die Kaufleute
in jener Zeit auch die Kolporteure der Ideen gewesen seien. Franzens Vater
war nach allem, was wir von ihm hören, ein durchaus praktischer Mann, oder,
daß ich es deutlicher sage, ein Mann, dessen Gedanken vor allem auf das Er¬
werben von Geld und Gut gerichtet waren — neue Ideen haben ihn schwerlich
allzusehr bewegt. Was Franz davon aufgenommen hat, wurde ihm von seiner
Mutter zugeführt, einer vornehmen Frau aus französischem Geschlecht. Von
ihr erbte er wohl die warme Herzensempfindung und den frohen Sinn, die
sorglose Heiterkeit, die angeborne Offenheit, dazu aber auch die Vorliebe für
die französische Sprache, die er oft anwandte, wenn ihm der Mund überging
von dem, des das Herz voll war. Im Elternhause hat Franz eine sonnige
Jugend verlebt. Not und Sorge hatten dessen Schwelle niemals überschritten.
Er ist dort erzogen worden nach der Sitte der Zeit und des Landes, nach der
man nicht nur die Kinder in den nötigsten Fächern unterrichtete, sondern wo man
auch zum mindesten nichts dagegen hatte, daß sie auch die Versuchungen des
Lebens kennen lernten. Neben allerlei Übungen in ritterlicher Kurzweil war
seine Jugend durchzogen von allerlei fröhlichen Gelagen, Ausgelassenheit bis
tief in die Nacht war an der Tagesordnung. Die Notwendigkeit, den eignen
Beruf zu wählen, führte ihn in den Tuchladen seines Vaters, und wiewohl
dem jungen Franz das Geld reichlich locker in der Tasche saß, glaubte Pietro
Bernardone doch, an ihm einen Sohn zu haben, dem er einst mit gutem Ge¬
wissen und ruhigem Herzen das blühende Geschäft übergeben könnte. Merk¬
würdig ists, wie schon in jenen Tagen Ahnung und Tatendrang ihm allerlei
Bilder vor die Seele riefen, von denen er seinen Freunden zuweilen mit den
Worten Kunde gab: „Ihr werdet es erleben, daß mir noch einmal die Welt zu
Füßen liegt!"
In sein dreiundzwanzigstes Jahr fällt schwere Krankheit, verursacht durch
übertriebnen Genuß, der seine Tage füllte. In den Tagen seiner Genesung
atmet er dann in vollen Zügen den Duft des Frühlings ein; aber der Lebens¬
mut der frühern Zeiten war gebrochen, und in den Tagen der Selbstbesinnung
dünkte ihn sein früheres Leben unsäglich leer. Dennoch aber nimmt er es
wieder auf. Anspruchsvoll rüstet er sich darauf zur Teilnahme an einer ritter¬
lichen Fehdefahrt. Den Pagenschild am Arme zog er hinaus aus den Toren
auf stolzem Rosse. Nach wenigen Tagen kehrt er zurück, und daheim in seiner
Vaterstadt wird er ein andrer. In heißen Fiebertagen mußte er es von neuem
erfahren, daß jene Art des Lebensgenusses nur dazu dienen kann, die Seele
freud- und friedlos zu machen. Und es begann nun für ihn in einsamen
Stunden bei Tag und Nacht ein heißes Ringen. Als dann die Geführten
seiner Jugend wieder trachteten, ihn für das alte Leben zurückzugewinnen,
lud er sie freilich noch einmal zu einem prunkvollen Mahle. Aber wiewohl er
das Zepter des Narrenkönigs in seinen Händen hielt, war er still und in sich
gekehrt. spöttelnd ließ einer die Bemerkung fallen: Seht ihr denn nicht, er
will sich vermählen! Franziskus aber nahm diese Worte auf: „Jawohl, ihr
sprecht die Wahrheit, ich sinne darauf, eine Braut zu nehmen, schöner, reiner
und reicher, als ihr es denkt!" Rätselhaft klangen diese Worte; was sie be¬
deuteten, zeigt seine Geschichte.
Von religiösen Einflüssen zeigt bisher sein Leben nicht eine Spur. Ver¬
muten könnte man vielleicht, daß durch seine Mutter ihm etwas zugetragen sei
von jener waldensischen Frömmigkeit, die in ihrer Heimat so viele Bekenner
gefunden hatte. Etwas sicheres wissen wir darüber nicht. Nur daß es tief in
seinem Innern gewaltig gewühlt hatte, ist auf uns gekommen. In jenen Wochen
nun führte ihn der Weg nach Rom. Dort sah er die Gaben der Frommen
für die Armen und die Kranken und verwunderte sich über ihr geringes Maß.
Flugs gibt er alles, was er bei sich hat, und vor allem, er gibt in einer so
herzgewinnenden, freundlichen Art wie niemand sonst. Ja er läßt sich nieder,
wo die Bettler saßen, und bittet für sie! Armenpflege dünkt ihn zu wenig. Bei
den Aussätzigen kehrt er ein und läßt aus seinem sonnigen Herzen heraus
Sonnenschein fallen in ihr armseliges Leben. Und diese Hingebung bleibt auch
für ihn selber nicht ohne Lohn. Er macht die Erfahrung, von der einst Jesus
gesagt haben soll: „Geben ist seliger denn nehmen" und freut sich mit kindlich¬
fröhlichem Herzen der Dankbarkeit, die man ihm zollt. Daheim in Assisi treibt
er es nicht anders. Aber freilich, das Tuch verschenken, das im väterlichen
Laden des Verkaufs harrte, die Kasse leeren, statt sie zu füllen, das mußte
ihn in Konflikte mit seinem Vater bringen. Der sah mit Schrecken, daß sich
die Hoffnungen, die er auf seinen Sohn gesetzt hatte, zerschlugen. Keine Liebe
und keine Strenge fruchtete. Heftige Szenen, unerträglich heftige Szenen wurden
immer häufiger; und schließlich zog Franz seine eigne Straße, für seinen Vater
ein Verlornes Kind!
Bald weist ihn nun sein mächtig erwachtes religiöses Leben auf neue
Wege. In den Kapellen in der Nähe seiner Heimatstadt lauscht er mit zitternder
Seele den Worten der Priester. Er sieht hinein in das Leben Jesu von Nazareth,
in dieses Leben so reich an Opfern wie keines sonst. Je länger desto inniger
gibt er seine Seele diesem Jesus gefangen und vernimmt laut und immer lauter
den Heilandsruf: „Folge mir nach!" Da gewann er dann jene stillen Stätten
frommer Andacht lieb, eine zumal, die Kapelle von Se. Damian. Dort bleibt
er nun wohnen bei Nacht und Tag. Träumerisch, in sich gekehrt, mit seinen
Gedanken in einer andern Welt, so kommt er einst nach Assisi zurück. spottend
rufen die Kinder dem wunderlichen Träumer nach: Ein Narr! Ein Narr! Die
Leute kommen aus ihren Häusern hervor, auch Bernardone, Franzens Vater.
Als der nun seinen Sohn erkannte, kennt sein Zorn keine Grenzen. Halbtot
schlug er ihn und überhäufte ihn mit Vorwürfen bitterster Art. Schließlich
reißt Franziskus sein Gewand ab und bietet das wenige Geld, das er noch
besitzt, dem Vater an. schimpfend und fluchend reißt der an sich, was Franz
ihm bietet, und eilt davon. Franziskus aber spricht mit verklärtem Gesicht:
„Bisher habe ich Bernardone meinen Vater genannt, nun aber sage ich: Unser
Vater im Himmel." Das Verhältnis zu seinem Vater ist und bleibt für unser
Empfinden in jenen Lebensjahren des Heiligen wie ein wunder Punkt. Ist
denn nicht aber gerade dieser Kampf bis aufs Messer gegen die eignen Eltern
etwas, was gar vielen Großen nicht erspart geblieben ist? Und etwas läßt uns
doch ohne weiteres für den jugendlichen Träumer und Stürmer Partei ergreifen,
das ist die mehr als häßliche Art, in der Bernardone noch rettet, was es zu
retten gibt. Und diese Art veranlaßte auch die Zeugen jener Szene, sich auf
des Franziskus Seite zu schlagen, und das herbeigeströmte Volk jauchzte seinem
Bischof zu, der ebenfalls herbeigeeilt war und um den Entblößten den eignen
Mantel schlang! Und nun kehrt Franz nach Se. Damian zurück. Baufällig
steht dort die alte Kapelle. Er will nun diese Stätte seines Glückes würdiger
gestalten. Steine bettelt er und trägt sie zusammen, um sie zu bauen. Als er
sie vollendet hatte, kam eine andre an die Reihe — Maria de la Angeli, die
Portiunkulakapelle. Das wird nun sein eigentliches, weltabgeschiednes Bethel.
Hier dringen ihm mit zwingender Gewalt die Worte zu Herzen: „Gehet
aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.
Machet die Kranken gesund, reinigt die Aussätzigen, wecket die Toten auf und
treibet die Teufel aus. Umsonst habt ihr es empfangen, umsonst gebet es auch.
Ihr sollt nicht Gold noch Silber noch Erz in euern Gürteln haben, auch keine
Tasche zur Wegfahrt, auch nicht zween Röcke, keine Schuhe und auch keinen
Stecken, denn ein Arbeiter ist seiner Speise wert." Und unter diesen Worten
erfolgt nun seine eigentliche Berufung. Hier geht er das Verlöbnis ein mit
jener Braut, deren Bild er schon lange im Herzen trug, jenes Verlöbnis, das
ihm in seinem persönlichen Leben eine unerschöpfliche Quelle seligster Freude
gewesen ist — das Verlöbnis mit der Armut. Unscheinbar mag uns zunächst
dieses Ereignis dünken. Aber der Lauf der Geschichte hat gelehrt, was es be¬
deutete. Es bedeutete die Entstehung einer neuen, weltgeschichtlichen Macht, einer
Macht, die in den folgenden Jahrzehnten das stolze Gebäude der Kirche vielleicht
vor dem Zusammenbruch gerettet hat; einer Macht, deren Einfluß aber auch wieder
nicht an den Mauern der Kirche ihre Grenze finden sollte. Mit diesem Augen¬
blicke hört nun Franziskus auf, Privatperson zu bleiben. Von jetzt etwa an
gehört er der Kirche, gehört er dem Orden, den er ins Leben rief, und in
diesen Zusammenhängen wollen wir nun weiter sein Leben betrachten.
Höher als je zuvor stand in jenen Jahren die Kirche im Leben der Völker.
Auf dem Stuhle Petri saß Jnnozenz der Dritte, der Geisteserbe Gregors des
Siebenten, aus allen Zeiten der königlichsten Gestalten eine auf dem päpstlichen
Throne. Ausgerüstet mit einem scharfen, umfassenden Geiste und mit eisernem
Willen, hatte er als Siebenunddreißigjähriger die Würde des Statthalters Christi
übernommen, und sein Ziel war die Beugung der Völker unter die römische
Gewalt. Erfolg reihte sich ihm an Erfolg, und durch ihn schien das Ideal
Gregors des Siebenten der Verwirklichung nahe. In Spanien hatte Peter der
Zweite von Aragonien aus der Hand des Apostelfürsten seine Krone wieder
empfangen, nachdem er sie zuvor auf dem Grabe der Apostel hatte niederlegen
müssen. Philipp der Zweite August von Frankreich hatte sich von seiner ersten
Gemahlin scheiden lassen. Jnnozenz zwang ihn, seine zweite Ehe zu trennen
und die erste Gattin wieder an seine Seite zu nehmen. Johann ohne Land
von England empfing sein Königtum aus der Hand des päpstlichen Legaten,
nachdem er dem Heiligen Stuhle Unterwerfung, Lehnstreue und jährlichen Tribut
gelobt hatte. Und nur an dem nationalen Sinne der englischen Großen
scheiterten die Ansprüche Jnnozenz des Dritten. In die Thronstreitigkeiten der
deutschen Nation hat wiederum er bestimmend eingegriffen. So war er gewohnt,
Königreiche zu vergeben und den Mächtigsten der Erde den Fuß auf den Nacken
zu setzen. Dabei war er persönlich ein schlichter, frommer Mann, ein gläubiges
Gemüt, wenn er auch mehr ein Moses sein wollte, ein Gesetzgeber der Völker,
als ein echter Nachfolger Christi, ein Hirte der Seelen.
Aber diesem stolzen Bilde der Kirche nach außen entsprach das Innere
nicht. Im Leben der Geistlichen lag vieles im argen. schamlos waren die
Bestechungen, mit denen sie nach Pfründen jagten. Von den Beamten der
Kurie hatte man gesagt, sie seien wie Stein so hart, wenn es zu begreifen, wie
Holz so biegsam, wenn es zu urteilen, wie Feuer so grausam, wenn es zu
wüten, wie Eisen so unbeugsam, wenn es zu verzeihen gälte, falsch wie die
Füchse und aufgeblasen wie die Stiere. Klagen über Völlerei, Ehebruch und
Mord füllen die Berichte. Wo wäre jemals neues Leben dem Schoße der
Kirche entstiegen, ohne daß die Schandtaten der Priester die Folie gewesen
wären! Gegen diese innere Verkommenheit der Kirche hatte sich nun mächtig
das religiöse Bewußtsein, die religiöse Sehnsucht der Laienwelt gewandt. Man
achtete, ja man liebte vielfach die Kirche, aber ihre Diener verfluchte man. Aus
der Sehnsucht nach einer neuen Frömmigkeit, aus dem Wunsche, daß die Geist¬
lichen aus dem üppigen Leben der Gegenwart dem Volke zum Vorbilde zu
apostolischer Einfachheit zurückkehren sollten, aus dem heißen Verlangen nach
einer Verkündigung des göttlichen Wortes an die Laienwelt waren gewaltige
Mächte geboren worden, die die Kirche — es ist nicht zuviel gesagt — in
ihrem Lebensbestande gefährdeten. Immer neue Sekten erhoben ihre Häupter,
unter denen die Waldenser, die Armen von Lyon am ernstesten einen Reform¬
versuch unternommen haben. Daneben aber war namentlich im südlichen
Frankreich in den Katharern eine Gefahr entstanden, deren sich die Kirche nur
durch Feuer und Schwert und durch einen Greuel der Verwüstung, wie ihn
noch keine Zeit gesehen hatte, erwehren konnte.
So etwa sah es in der Kirche aus, als im Jahre 1209 Franz von Assisi mit
seinen ersten Jüngern in Rom anklopfte, um von Jnnozenz die Bestätigung seiner
Ordensregel zu erlangen. Verdammen konnte der Papst sie nicht, bestand sie doch
eben in jenem Worte Christi, das ich vorhin erwähnte, das in der Kapelle Maria
de la Angeli dem Franziskus mit unwiderstehlicher Gewalt in das Gewissen ge¬
drungen war. Aber freilich, vieles, was Franziskus wollte, war nichts andres als
eine Übernahme der waldensischen Frömmigkeit. Den Waldensern aber war schon
1184 das Verdammungsurteil gesprochen worden, und Jnnozenz dachte über sie
nicht anders als seine Vorgänger. Etwas aber — und wir können nicht umhin,
den Scharfblick des Papstes zu bewundern — lag bei diesen Männern vor der Tür
des Vatikans gänzlich anders. Die Waldenser hatten eine Reform der Kirche
gesucht, hatten sich also gegen die Kirche gewandt. Franziskus hingegen war
samt seinen Jüngern der Kirche ein gehorsamer Sohn. Kirchenpolitische Er¬
wägungen lagen ihm gänzlich fern. Er hatte nichts einzusetzen als ein glaubens¬
starkes, liebeglühendes Herz. Seine Frömmigkeit war nichts andres als eben
die Frömmigkeit eines Herzens, das in heißer Liebe dem Herrn, der ihn zuerst
geliebt hatte, seine Liebe vergelten wollte. Jnnozenz hat darum zwar von der
unerbittlichen Strenge der Ordensregel abgemahnt, damit die Bewegung am
übergroßen Ernst nicht scheitern möchte. Aber doch gewährt er ihnen, bewogen
durch Franzens schlichte, glühende Begeisterung und durch sein unablässiges
Drängen, das Recht der freien Predigt. Er verheißt ihnen auch noch mehr —
aber eine förmliche Bestätigung hat er nicht gegeben. Und eines war durch
jene Audienz beim Papste anders geworden: mit der Tonsur gezeichnet ver¬
ließen sie Rom! So hatte die Kirche von ihnen Besitz genommen, so war die
ursprünglich auf freien Glauben, auf die freie, hingebende Liebe gegründete,
unabhängige Bewegung unvermerkt in rein kirchliche Bahnen geleitet worden,
so war der Weg beschritten, auf dem sie je länger desto mehr zu einer rein
priesterlichen Institution herabsinken mußte! Wir können das im einzelnen dann
noch verfolgen. Die erste Regel wird im kirchlichen Sinne ausgebaut; namentlich
tritt die Forderung des Gehorsams immer mehr in den Vordergrund. Franz
ist es gewesen, der das Wort gesprochen hat, auf das sich dann später die
Jesuiten stützten: „Nimm einen leblosen Körper und setze ihn. wohin du willst,
du wirst sehen, daß er der Bewegung nicht widerstrebt; wenn du ihn auf den
Lehrstuhl setzest, wird er nicht nach oben, sondern nach unten blicken, in Purpur
gekleidet, nur um so bleicher erscheinen. Das ist der wahrhaft Gehorsame!" So
sind die spätern Regeln Marksteine in der Verkirchlichung jener einst so unab¬
hängigen Bewegung. Franz hat die Glieder seines Ordens in dieser Richtung
wandern sehen müssen, und oft mit schwerem Herzen. Auch jenes obengenannte
Wort hat er im Gegensatz zu seinem eigentlichen Selbst gesprochen. Dabei hat
er sich aber doch wieder selber vom Papste später einen Beschützer seines Ordens
erbeten und ihn in dem Kardinal Ugolino erhalten, in diesem Manne, der ganz
und gar in kirchlichen Bahnen ging, der damit Franzens Werk immer nach¬
haltiger in ein ihm ursprünglich fremdes Geleise zwang, und mit dem doch
wiederum Franz — merkwürdig genug! — durch ein überaus zartes Freund¬
schaftsband verbunden blieb. Franz beugte sich vor den Ansprüchen der Macht,
sein Herz will nichts andres als Liebe geben, sein Herz sehnt sich nach nichts
anderm als Frieden. Darum ist er ein gehorsamer Sohn der Kirche geblieben
bis an sein Ende.
Mit diesem Ausblick auf die zunehmende Verkirchlichung des neuen Ordens
haben wir schon ein bedeutendes Stück von der Entwicklung, namentlich der
innern Entwicklung vom Werke des Franziskus vorweg genommen. Ich will
nun einiges über die äußere Entwicklung nachholen und über die innere hinzu¬
fügen, was nötig ist. Von einem Orden haben wir geredet — einer Gemein¬
schaft von Brüdern, die durch ein festes Statut, eine feste Ordensregel ver¬
bunden waren. Wir hatten Franz verlassen an der Portiunkulakapelle vor
Assisi. Noch war er allein, aber er sollte so nicht bleiben. „Leise, so etwa
sagt sein Biograph Paul Sabatier, leise ist der Schlummer, der in der Menschen¬
seele den Trieb zum Göttlichen umfängt. Dem Rufe zur Heiligkeit antwortet
der göttliche Zeuge in uns mit freudigem Widerhall, und um die Prediger, die
aus innerstem Drange reden, sammeln sich in langen Reihen die Seelen, die
nach einem Ideale dürsten. Aber das Herz kennt nur eine ungelenke, rückhalt¬
lose Hingabe." Im Bewußtsein seines eignen Opfers begehrte Franz dasselbe
auch von seinen Anhängern. Bernhard von Quintavalle, ein reicher und ange¬
sehener Bürger, hatte dem neuen Apostel oft Obdach gewährt. Im Schweigen
der Mitternacht hatte er unter vier Augen der begeisterten Rede immer wieder
gelauscht. Da wurde er dann eine Beute des Heiligen und errang den Sieg
über sich selbst, alles zu verkaufen, den Erlös den Armen zu geben und das
arme Leben Jesu mit Franz zu teilen. Andre gesellten sich hinzu, und ihre Regel
war nun nicht eigentlich das Neue Testament, sondern das opferfreudige Leben
des Franziskus selbst. Wo Feuer ist, da pflegen Funken zu sprühen, und wo
sich der Zunder gehäuft hat, da pflegen sich unter den sprühenden Funken neue
Feuerherde zu entzünden. Kaum je aber hat das Feuer der dankbaren Liebe
gegen Jesus in einem Herzen Heller gelobt als bei Franziskus, und kaum je
ist diese Lohe zündender in andre Herzen übergesprungen als bei seinen Ge¬
fährten. „Machet Kranke gesund, prediget das Evangelium" — so sendet er
sie hinaus ohne Gold, ohne Silber, ohne Tasche, ohne Schuhe, und sie gehen
hinaus. Heftig mögen ihre Angehörigen über ihre Narrheit schelten, bitter mag
sich über ihr sonderbares Beginnen der Spott der Menge ergießen: in der
Kraft des Glaubens und der Liebe, in der heitern Freudigkeit des Meisters
halten sie stand, und mancher, auch mancher Spötter beugt sich schließlich, über¬
wunden durch die Gewalt ihrer Worte und ihres Geistes.
Der fruchtbarste unter diesen „predigend Reisenden" war Franziskus selbst.
Die Städte Italiens durchzog er, und überall, wohin er kam, drängten sich die
Menschen um ihn. Daß ein Zündstoff auf das von ihm ausgehende Feuer
allerorten wartete, davon haben wir schon gehört. Was für Früchte die religiöse
Sehnsucht jener Tage zu zeitigen vermochte — beweist es nicht, um eines nur
M nennen, der Kinderkreuzzug. bei dem Tausende, Knaben und Mädchen, voll
überschwenglicher Hoffnung hinausgezogen sind, das Heilige Land zu befreien.
Tausende, deren Spur sich in unbekannter Ferne verloren hat? Und nun trat
in Franziskus ein Prediger auf in apostolischer Armut, der kein Ansehen der
Person kannte, mit hinreißender Kraft der Beredsamkeit zugleich eine herz¬
gewinnende, hilfreiche Persönlichkeit. Auch von ihm gilt es, er predigte nicht
wie die Schriftgelehrten seiner Zeit, hochtrabend, gelehrt, spitzfindig, sondern er
griff hinein ins volle Menschenleben, redete in der Sprache des Volkes unter
freiem Himmel, in den Straßen, auf den Feldern. Das Feld war reif zur
Ernte, und Franz legte die Sichel an und brachte die Garben ein.
^>>«,^x^/
^M»^6)!me lange und weite Fahrt war geplant, deshalb wählten wir
den größten Ballon des Berliner Vereins, den 1380 Kubikmeter
umfassenden Bezold und ließen ihn in Bitterfeld mit Wasserstoff
füllen. Ein flotter Nordwest hatte den Tag über geweht und
l uns auf einen Flug über Böhmen weit nach Ungarn hinein
hoffen lassen. Alle sonstigen Bedingungen dafür waren ja vorhanden: 951 Kilo¬
gramm Auftrieb gegen 537 Kilogramm bei Leuchtgasfüllung und reichliche
Lebensmittel für zwei Tage. Auch die meteorologische Abteilung des Physi¬
kalischen Vereins in Frankfurt am Main, die neuerdings die Fahrten des
Berliner Vereins wissenschaftlich bearbeitet und uns ihre Auffassung von der
Wetterlage telegraphisch mitteilte, rechnete mit dieser Möglichkeit: zunächst nach
Südost etwa 40 Kilometer die Stunde, dann mehr Südsüdost und abnehmende
Geschwindigkeit. Und doch sollte sich auch diesmal wieder die alte Luftschiffer¬
erfahrung bestätigen: es kommt meist ganz anders, als man gedacht hat. Hätte
die Abfahrt zur anfänglich festgesetzten Zeit, nach Eintritt der abendlichen Luft¬
abkühlung, erfolgen können, so wären wir vom Nordwest rasch über Sachsen
und das Erzgebirge in Gebiete geführt worden, in denen nach Ausweis der
Wetterkarte des folgenden Tages, des 18. Mai. die Winde südöstliche Richtung
beibehielten. Aber die Füllung des großen Ballons nahm zuviel Zeit in An¬
spruch. Als wir nachts 10 Uhr 40 Minuten aufstiegen, war der Wind träger
geworden und trieb uns nach Osten, zum sechstenmal Richtung Spreewald,
voraussichtlich wieder über unser altes, gutes Kottbus!
Unter klarem Sternenhimmel und im Scheine des ersten Mondviertels
gings bei 4 Grad Celsius über die Mulde, die Dübener Heide, die Elbe bei
Pretzsch, über Loben auf einer Insel der vielgewundnen Schwarzen Elster,
12 Uhr 50 Minuten über Schloß Bollensdorf, das Besitztum eines Meißners
des Majors Freiherrn von Bischoffshausen, am Rande der zum Flaming ge¬
hörenden Dahmer Heide — in dem großen, waldumgebnen Körbaer Teiche
südlich davon spiegelten sich die Sterne und beleuchteten ein Jnselchen nahe
am Ufer —, über Luckau, dessen innere Stadt mit Wall und Graben noch
heute den Eindruck einer kleinen Feste macht, bei Lübbenau über die Spree und
die Berlin-Görlitzer Bahn, östlich davon über die bekannten beiden Spree¬
walddörfer Lehde und Leipe. In der Ferne zur Rechten zeigt sich der Licht¬
schein einer größern Stadt, richtig Kottbus! Die Wasserfläche der zu einem
großen Ganzen vereinigten vier Peltzer Seen, die bei der nächtlichen Fahrt
im vorigen Sommer im Scheine des Vollmonds glänzten, schimmert nur matt
wie blind gewordnes Spiegelglas, denn der Himmel hat sich bewölkt, aber
die erste Morgendämmerung läßt sie uns doch deutlich wahrnehmen. Nördlich
und östlich davon die dunkeln Riesenwaldungen von Tauer, Lieberose und
Jänsch. Ein Kuckuck ist erwacht, und sein Rufen weckt die übrigen, sodaß
die Wälder überall von ihren ländischen Terzen widerhallen. Bei Groß-
Gastrose südwestlich vom hellerleuchteten Guben kreuzen wir die Wasser- und
inselreiche Reiße.
Bald nach 3 Uhr schon wird es hell. Dichte Forste und üppige Fluren
wechseln unter uns. Über den Wellmitzer See mit einer Insel mitten drin
nähern wir uns dem Jähnsdorfer See und den nach Norden vorgelagerten
Ortschaften Jähnsdorf und Sectors. Die Lage der beiden Orte und ihre Um¬
gebung, die Biegung und Verzweigung der Straßen ist so ausgeprägt, daß
wir ohne Schwierigkeit die Stelle auf der Karte finden. Gegen 5 Uhr ist bei
Kunow und Tornow zwischen Wald und Lues der Bober erreicht.
Bis hierher hatten wir, meist nur wenige Kilometer nördlicher, genau
dieselbe Strecke zurückgelegt wie auf unserm Fluge nach Rußland. Anfangs
hatte die Wärmeausstrahlung des Gases die ruhige Bewegung unsers Ballons
verhindert und uns während der ersten zwei Stunden zur Ausgabe von drei
Sack Ballast genötigt, dann aber zeigte die sogenannte Fahrtkurve bis Sonnen¬
aufgang (4 Uhr) eine fast schnurgerade wagerechte Linie, ohne daß wir ein
Körnchen Sand verbrauchten, und 31 Sack hatten wir mitbekommen! Noch
war also Aussicht auf eine außergewöhnliche weite Fahrt etwa über Warschau
vorhanden. Barometer und Barograph erwiesen sich beide als unzuverlässig
und mußten erst durch lange Bemühungen einigermaßen instant gesetzt werden.
Dagegen arbeitete das in seiner Konstruktion wieder verbesserte Windrädchen
(Vertikalcmemoskop), auf das wir inzwischen allein angewiesen waren, ganz tadel¬
los. Zum Schutz gegen jede Beeinflussung durch wagerechte Strömungen war es
mit einem Zylinder umgeben worden. Auch die leiseste Bewegung nach oben
»der unten wurde von ihm angezeigt und konnte sofort ausgeglichen werden.
Vor allem aber ist damit noch ein weiterer Vorteil verbunden.
Wie die Strömungen des Wassers, so haben auch die der Lust ihre Wellen¬
bewegung, ja es sind sogar sehr hohe Wellen hier oft zu bemerken, nur sind
sie fürs Auge nicht wahrnehmbar. Befindet sich nun der Ballon auf der ab¬
steigenden Seite einer solchen Welle, so zeigen zwar Barometer und Barograph
ein Sinken an, das Windrädchen aber rührt sich nicht. In diesem Falle wäre
es zwecklose Ballastverschwendung, das Fahrzeug zu erleichtern. Wie die
fallende Welle den mit ihr schwimmenden Ballon mit hinabgerissen hat, so
wird ihn die nächste steigende Welle wieder emporbringen. Dasselbe, nur
weniger zuverlässig, erreicht man auch durch Beobachtung einer feinen Flaum¬
feder, die man mittelst eines dünnen Seidenfadens an einem Stock befestigt
zum Korbe heraushängt. Wenn sich der Ballon mit der umgebenden Luft
im Gleichgewicht befindet, so bleibt die Feder, gleichviel ob die Strömung
steigt oder füllt, ganz unbeweglich. Flattert sie dagegen nach oben, so ist
das ein Beweis, daß der Ballon sein Gleichgewicht verloren hat und von
der Strömung unabhängig sinkt. Auch ausgeworfne Papierschnitzel lassen
eine Gleichgewichtslage erkennen, wenn sich der Korb mit ihnen in derselben
Höhe hält.
Während der Nacht hatten wir mehr als sonst unter Müdigkeit zu leiden
gehabt, einer wie der andre fiel für längere oder kürzere Zeit diesem Ruhe¬
bedürfnis zum Opfer, es mußte wohl der Einfluß der Frühlingsluft sein. Auch
der Führer durfte sich gelegentlich ein Ausruhen gönnen, für seinen bewährten
Reisegefährten und Führeraspiranten Justizrat Dr. Reiche! war dies ja die
Prüfungsfahrt, ihm konnte er also getrost die Führung des Bcillous wiederholt
überlassen. Dabei bereitete ein Gedanke uns viel Vergnügen. In Zeitungs¬
berichten über Ballonfahrten pflegt die Bezeichnung „die kühnen Luftschiffer"
nie zu fehlen, und mancher, der es liest, denkt wohl mit geheimem Grausen an
die Aufregung und Lebensgefahr, in der sie bestündig schweben, und vergegen¬
wärtigt sich ihre schreckensbleichen, angstverzerrten Gesichter. War nun wieder
mal einer der Mitreisenden — oder auch gleich zwei auf einmal —, die
Beine über Sandsäcke lang ausgestreckt, auf seinem Ecksitzchen in sanften
Schlummer versunken und unterbrach die Stille der Nacht durch behagliche
Töne, die man sonst wohl von bequemern Lagerstätten her zu vernehmen ge¬
wöhnt ist, dann machten wir andern uns lachend gegenseitig auf den „kühnen
Luftschiffer" aufmerksam. Übrigens hatten wir, obwohl zu Vieren, diesmal doch
etwas mehr Platz. Es war der neuste und geräumigste Korb des Vereins, den
wir mitgenommen hatten, innen sogar mit Plüsch ausgeschlagen, freilich auch
etwas schwerer, doch kam es bei so reichlichem Auftrieb des Ballons auf ein
paar Säcke Ballast weniger nicht an.
Tornow am Bober war sowohl auf der Fahrt nach Rußland als bei der
heutigen der Punkt, bis zu dem wir fast in gerader Linie nach Ostnordost ge¬
trieben wurden. Von hier bogen wir im August 1906 nach rechts ab an der
Oder aufwärts nach dem Oberlauf der Warta, wie der Fluß in Nußland ge¬
nannt wird, heute umgekehrt nach links in das Gebiet der untern deutschen
Warthe und darüber hinaus. Der Wind war immer schwächer geworden:
anfangs 36 Kilometer, dann 30, 25, jetzt nur noch 20 in der Stunde. Wir
schweben über waldbedecktes Hügelland, meist dichte Laubwaldungen, unterbrochen
von Rodungen mit kleinen freundlichen Ortschaften und ansehnlichen Bauern¬
gütern, Liebtal mit Mühle, Treppeln am Fuße der nach ihm benannten
„Berge". Plothow, Lausitz und Krämpe. Südlich von uns erhebt sich das
Gelände bis zu 200 Metern, das sind die Rebenhügel und Obstgärten von
Grünberg, vor ihnen baut sich die alte Kreisstadt selbst auf als Mittelpunkt
von acht radienförmig verlaufenden Straßen. Die Karte belehrt uns, daß dort
die unbebaute Fläche östlich vom Bahnhof „Säure" heißt, in einer durch ihren
Weinbau berühmt gewordnen Gegend ein etwas unvorsichtig gewählter Name!
Jetzt weitet sich der Blick. Eine Landschaft, die an Großzügigkeit der
Rheinebene bei Worms nur wenig nachsteht, bietet sich unsern Blicken dar,
von den mächtigen Windungen der Oder durchzogen. Wo ihr Lauf von Osten
nach Westen mehr gestreckt ist, setzen sich nach Süden zu, ganz wie dort beim
Rhein, halbmondförmige Reste ihres verlassenen alten Flußbettes an, Werber
und Weiher auch hier, nur lugen sie schimmernd aus Wäldern hervor. Auf
die beinahe rechtwinklige Biegung des Flusses bei Gipstal fliegen wir zu.
Dort endet die früher weiter aufwärts von uns beobachtete Oderregulierung
mit ihren von beiden Seiten in den Fluß vorspringenden Buhnen. Am nörd¬
lichen Ufer zieht sich eine lange Kette von Weinbergen hin, die uns lebhaft
an die Meißner Heimat erinnern. Dahinter auf dem flachen Plateau liegt
eine Stadt, Züllichau.
Bei Tschicherzig westlich von dem erwähnten Knie erreichen wir früh
6 Uhr 15 Minuten in 400 Meter Höhe den breiten Strom, etwa 30 Kilo¬
meter nördlich von unsrer frühern Übergangsstelle bei Umsatz. Es ist eine
geographisch höchst merkwürdige Stelle. Die rechtwinklige Biegung ist nur
scheinbar, vielmehr mündete hier der obere Lauf der Oder als Nebenfluß in
den mittlern Parallelzug des großen ostwestlichen norddeutschen Urstroms.
Was der Scharfsinn des Gelehrten in zeitraubenden Studien mühsam ergründet
hat, das liegt für das Auge des Luftschiffers sonnenklar zutage. Die steil-
abfallende nördliche Böschung mit ihren Weinbergen biegt nicht etwa, dem
Laufe der Oder entsprechend, ebenfalls rechtwinklig nach Süden um, sondern
setzt sich geradlinig nach Osten fort, das Bett des Urstroms aufwärts begleitend,
das durch den schmalen Obrakanal und, etwa von Padligar an, durch die Faule
Ovra noch jetzt angedeutet wird. Es ist der Teil des Urstroms, der, im Osten
mit der Warthe beginnend, bei Sabrina sich westwärts durch den Oderbruch
Mr Oder wandte, dann durch deren Flußtal bis oberhalb Frankfurt und den
Friedrich-Wilhelm-Kanal, endlich durch die Spree über Berlin und die Havel
bezeichnet wird, bis er sich bei deren Einmündung in die Elbe mit dem nörd¬
lichen Arme des Urstroms vereinigt.
Der Wind, der sich mehr und mehr verlangsamt, treibt uns gerade über
dem Bette dieses Urstroms die Weinhügel entlang ostwärts und bietet uns so
Gelegenheit, uns diese für die deutsche Heimatkunde so wichtige Stelle für immer
einzuprägen. Das Auge wird hier überdies durch die auffallend schöne Färbung
des Ackerbodens gefesselt: große schwarze Streifen schieben sich zwischen die ver¬
schieden abschattierten graubraunen Flächen ein. Der Himmel hat sich mit
Stratokumuli bedeckt, bisweilen bricht die Sonne wärmend durch, dampfende
Haufenwolken begrenzen rings in müßiger Entfernung unsern Gesichtskreis und
nehmen uns zeitweise in ihren feuchten Schoß auf, sodaß sich unsre Fahrtlinie
recht unregelmäßig gestaltet.
Drei preußische Provinzen greifen hier ineinander. Bei Liebtal und Treppeln
waren wir noch über brandenburgischen Gebiete, bei Grünberg über schlesischen,
bei Tschicherzig und Züllichau wieder über Brandenburg. Der Obrakanal führt
uns nach der Provinz Posen, und es scheint zunächst, als sollten wir auf ihre
Hauptstadt zutreiben. Aber auch darin täuschen wir uns. Es ist die Vorderseite
eines Tiefdruckgebietes, auf der wir uns entlang bewegen, und da hier die
Winde als Zyklone in umgekehrter Richtung des Uhrzeigers wehen, drehen
wir uns allmählich immer weiter nach links, das heißt die östliche Richtung
wird mehr und mehr zu einer nordöstlichen.
Eine Reihe von Seen beginnt, sofort jenseits der Provinzengrenze, zunächst
der Woynowoer und der Tuchalasee. Wir könnten glauben, der so oft über-
flogne Stern der Dahmeseen bei Schmöckwitz südöstlich von Berlin läge unter
uns, auch die Waldumgebung stimmt dazu, nur sind die Verhältnisse hier viel
zierlicher. Der Liehner und der Wonchabnoer See nördlich von Unruhstadt
leiten dann über zu einer langen, sich von Süden nach Norden erstreckenden
Kette großer Wasserbecken, die von der Obrci gebildet werden, mit reicher Ufer¬
gliederung und mehreren Inseln, die Seen von Großdorf, Köbnitz, Groitzig,
Neudorf und endlich der stattliche Bentschener See, der nach Norden zu in den
Wolken verschwünmend wieder einmal den Anblick einer Meeresbucht vortäuscht.
Die Sonne zieht uns auf 1000 Meter empor, die unter uns gelassenen
Wolken verwirren und verschönen zugleich das Bild, sie haben nur geringe
Vorwärtsbewegung, ziehn sich aber von allen Seiten duftig und durcheinander
wogend zusammen; wo sie den Blick freigeben, bestrahlt die Sonne glitzernde
Gewässer und blaugrün schimmernde Wälder. Da plötzlich ein seltsames Flimmern
vor den Augen, wir fahren in 1200 Meter Höhe durch eine Wolke, die aus den
feinsten Schneekristallen besteht.
Der Bentschener See ist längst südwestlich hinter uns geblieben, aber sein
Spiegel bleibt uns lange Zeit noch sichtbar. Mächtige Wälder westlich von
Neutomischel, viele Schlösser und Rittergüter mit schmucken Herrenhäusern werden
von uns überflogen, die Orientierung im einzelnen aber ist erschwert, zumal da
wir immer aufs neue durch Wolken und leichtes Schneegestöber (bei 3 Grad
Celsius) hindurchkommen. Erst Pinne mit seinem Schloß und der Pinner See
inmitten saftig grüner Matten südlich von der Bahnlinie Birnbaum-Posen
können wir wieder mit Sicherheit bestimmen.
Punkt 10 Uhr haben wir das Schlepptau ausgelegt, gerade zur rechten
Zeit. Die Abkühlung des Gases in den kalten Wolken und ein stark absteigender
Luststrom bringen uns der Erde nahe. Eine Fahrt am Schlepptau hat ihren
großen Reiz, da man so nahe dem Boden alle Einzelheiten der Landschaft genau
betrachten kann. Auch einen großen Vorteil bietet sie: man könnte stundenlang
so fahren, ohne Ballast zu geben. Der Ballon gleicht ja in diesem Falle selbst¬
tätig die Schwankungen seines Gewichtes aus. Je schwerer er wird, und je
tiefer er infolgedessen sinkt, um so länger wird das auf der Erde schleppende
Ende des Taues, dadurch aber entlastet er sich selbst; sobald er dann, etwa
durch Erwärmung und Ausdehnung des Gases, wieder leichter wird und sich
hebt, verkürzt sich das schleppende Ende, und der Ballon belastet sich durch den
größern freischwebenden Teil des Taues. Übrigens sollte man, um die Ent¬
fernung des Ballons über dem Boden sicherer abschätzen zu können, mindestens
in der Mitte des 100 Meter langen Taues einen auffallenden Knoten anbringen.
Leider ist nun aber aus andern Gründen eine längere Schlepptaufahrt selten
ausführbar, schon wegen der Gefahr, in bewohnten Gegenden Schäden anzurichten,
und weil das Tauende, zumal wenn es nicht durch einen Lederschuh geschützt
ist, sich bald aufdrieselt und dann an einem Baume oder an andern Gegen¬
ständen hängen bleibt, bei schwachem Winde auch ohnedies leicht festgehalten
wird. Deshalb schleppt man in der Regel nur kurz vor der Landung eine
Strecke, um diese aus geringer Höhe zu bewerkstelligen.
Rasch hat das Tau aufgesetzt und sich der Ballon eine Gleichgewichtslage
geschafft. Wir schleppen also über einen bewaldeten, nach der Karte 130 Meter
hohen Hügel hinweg, gleich darauf freilich auch über eine Telegraphenleitung,
was nach der Führerinftruktion nicht zulässig, bisweilen aber nicht zu vermeiden
ist- Auf der Straße von Pinne nach Chelmno trabt eine Reiterin, von einem
großen Hunde begleitet, das Pferd stutzt, als es in einiger Entfernung von
sich unser Tau rauschen hört, und fällt in Galopp, wird aber von seiner Herrin
gewandt gezügelt. Harmloser ist der Schreck, den wir einem Feldhasen einjagen.
Das Schlepptau scheint ihn gestreift und aus dem Schlafe aufgescheucht zu haben,
er ist ratlos, wohin er sich wenden soll, doch übt das Tau offenbar eine un¬
heimliche Anziehungskraft auf ihn aus, er kehrt immer wieder zu ihm zurück und
begleitet es in drolligen Sprüngen. Dennoch erscheint es uns ratsam, wieder
hoch zu gehen. Eine Moorfläche, zart hellbraun getönt, liegt unter uns mit
seltsamen grünen Figuren darin. Als wir eben wieder einmal aus einem un¬
durchsichtigen Wolkenkesfel glücklich heraus sind, fällt unser Blick auf zwei Seen,
den Lubosiner und den Buszewoer See, aber nur flüchtig, denn aufs neue um¬
geben uns graue Wolkenwände, die aber, je höher wir steigen, um so leichter
werden, während es unter uns schneit.
Entzückend ist die Lage von Scharfenort am gleichnamigen See, auf das
wir aus 1000 Meter Höhe hinab sehen. Südlich davon schauen kleine Laub¬
wäldchen aus dunkeln Nadelwaldungen hervor. Die Wolken bieten jetzt einen
ganz wundersamen Anblick, sie hängen rings um uns wie ein dunkelgrauer
Vorhang herab, ohne jedoch den Boden zu berühren, hinter ihnen scheint die
Sonne und sendet ihre Strahlen unter den Fransen dieses Vorhangs hervor,
wie wohl die Beleuchtung einer Bühne bei nicht ganz herabgelassenen Vorhang
unten sichtbar wird und uns die noch verhüllte Dekoration ahnen läßt. Dann
wieder bewirkt ein ganz dünner, aber von oben hell beleuchteter Wolkenschleier
über der Gegend, daß die Farben viel kräftiger hervortreten, die Ziegeldächer
erscheinen viel greller rot als sonst, die Schieferdächer in hatten Blau, wohl¬
gepflegte Gurten in prächtigem buntem Farbengemisch und Parkanlagen tiefgrün,
künstlich verschlungne Wege bilden scharfe Umrisse wie auf einem modernen
Reklamebilde.
Die Bahn von Wronke nach Posen, der wir uns nähern, durchschneidet
eine fruchtbare Landschaft mit regelmäßig angelegten langgestreckten Feldern und
Wiesen, musterhafte Ordnung und Sauberkeit kennzeichnet die Wohnhäuser, jedes
am schmalen Ende der Felder fast in gleichen Abständen voneinander gelegen,
bei jedem ein baumreicher, hübscher Garten, es sind deutsche Ansiedlungen in
vormals polnischen Landen. Soweit das Auge reicht, dehnen sich die grünen
Fruchtgefilde, von schwarzen Streifen guten Brachlandes durchsetzt.
Bald nach 12 Uhr mittags zeigt sich auch der nördliche Arm des ostwest¬
lichen Urstroms, die Warthe in ihrem Laufe zwischen Posen und Küstrin, an ihr
zwei Orte, Obersitzko diesseits, Grünberg jenseits des Flusses, durch eine Brücke
miteinander verbunden. Aber erst fünf Kilometer östlich davon überfliegen wir
sie 12 Uhr 50 Minuten. Die Geschwindigkeit hatte am spätern Vormittag nur
noch 10, dann 6 Kilometer in der Stunde betragen, jetzt stand der Wind völlig
ab. Dabei ist der Himmel dicht bewölkt, die Luft von Schneeflocken belebt, für
unsern Photographen, der gerade auf die Mittagszeit seine Hoffnung gesetzt
hatte, eine schmerzliche Enttäuschung.
Eine Stunde schon schweben wir fast genau auf demselben Flecke über dem
riesigen Obersitzkoer Forste, die Gegend darüber hinaus in unsrer bisherigen
Fahrtrichtung, das Land zwischen Warthe und Netze, erscheint reizlos: eintönige
Heide und spärliche Besiedlung. Wir nehmen die Übersichtskarte zur Hand und
beraten über die Möglichkeiten, die sich uns bieten. Obwohl wir bei dem Be¬
mühen, endlich einmal wieder eine Gleichgewichtslage zu erlangen, viel Ballast
haben opfern müssen, verfügen wir doch noch über achtzehn Sack, mit denen bei
halbwegs günstiger Witterung die Fahrt über eine zweite Nacht bis weit in den
folgenden Tag auszudehnen wäre, haben wir uns doch schon mit fünf Sack im
ganzen bei einer Tagfahrt über acht Stunden gehalten. Aber die Witterung ist
eben nicht günstig, aus dem Schneegestöber sind Regenschauer geworden, und
die schweren dunkeln Wolken über uns lassen noch Schlimmeres befürchten. Und
wohin würden wir kommen?
Für eine Fahrt über die Ostsee, an die überhaupt nur bei plötzlich ein¬
tretender flotter Luftbewegung zu denken wäre, ist unsre Windrichtung die alter-
ungeeignetste. Etwa bei Danzig würden wir die See erreichen, dann aber uns
ziemlich in der Mitte zwischen Gotland und Kurland halten, und die erste Ge¬
legenheit zur Landung würde sich vielleicht auf einer der Älcmdsinseln finden,
wahrscheinlich aber würden wir, vorausgesetzt, daß Mangel an Ballast nicht früher
schon eine Katastrophe herbeiführte, über den Bodenlöcher Meerbusen nordwärts
getrieben werden. Träte eine Steigerung der in der Wetterlage begründeten Links¬
drehung ein, die uns allmählich auf die Rückseite des Tiefdruckgebietes brächte, so
könnte allenfalls eine Landung in Schweden erfolgen. Der Gedanke an einen Flug
über die See ist also unter diesen Verhältnissen völlig ausgeschlossen. Was aber
nun? Die Fahrt bis Danzig fortsetzen? Bei der herrschenden Windstille und
den drohenden Regenwolken? Für die 230 Kilometer bis Danzig würden wir
bei der durchschnittlichen Geschwindigkeit der letzten drei Stunden etwa einen
ganzen Tag brauchen. Das lohnt sich nicht. Aber mit achtzehn Sack Ballast
landen? Das wäre unerhört.
So beschließen wir denn 1 Uhr 45 Minuten, zur Ausnützung des Ballasts
eine kleine Hochfahrt in den Sonnenschein anzuschließen. Wir nehmen einen
Sack nach dem andern zur Hand und lassen seinen Inhalt ausfließen. Mit
1500 Meter haben wir den untern Rand der Wolken erreicht und dringen nun
in diese selbst ein. Die Erde entschwindet unsern Blicken, über uns, unter uns,
rings um uns dieselben trüben, grauen Massen, nicht wogend, sondern wie er¬
starrt, kalt und feucht, bei 2000 Meter zeigt das Thermometer minus 2 Grad
Celsius an. Die Nässe beschwert den Ballon und zwingt uns zu größern Sand¬
opfern. Jetzt aber ändert sich die Farbe unsrer luftigen Umgebung mit jedem
Augenblick, je höher wir steigen. Immer lichter wird das Grau, schon könnten
wir glauben, in einem Märchenbau aus Milchglas zu verweilen, bis es schließlich
in ein blendendes Weiß übergeht, sodaß die Augen uns schmerzen, und wir sie
durch dunkle Gläser schützen. Das ist ein gutes Zeichen, daß wir unserm Ziele
näher kommen. Auch von den wärmenden Sonnenstrahlen spüren wir schon
etwas, trotz der noch über uns lastenden Decke, und obwohl das Thermometer
nicht steigt.
Es ist eine Schicht von großer Mächtigkeit, und doch haben wir Glück, wir
durchstoßen sie an einer verhältnismäßig schwachen Stelle. Bei 2500 Meter
surge sie an sich zu lockern, das so oft schon von uns geschaute und doch
ruiner aufs neue wieder entzückende Spielen und Treiben beginnt, und durch
wirbelnde Schneeflocken wird es noch reizvoller. Wir selbst sind in einem Tal¬
kessel, um uns aber auf allen Seiten türmen sich Haufenwolken zu riesigen Ge¬
bilden auf. Auch über uns ist der Himmel noch lange nicht frei, wir ahnen
Wohl den Stand der Sonne, und auf den Inhalt unsers Ballons übt sie auch
schon ihre Wirkung aus, wir steigen einige Minuten, ohne Ballast auszugeben,
aber sie selbst sehen wir noch nicht. Freilich währt diese Freude nicht lange,
eine Schneewolke hüllt uns wieder ein und bewirkt sofortiges Fallen. Das
darf nicht sein, also weiter empor! 2 Uhr 30 Minuten, in 3150 Meter Höhe,
haben wir sie unter uns, ein zartes Blaßblau wird über uns sichtbar, etwa
wie an hellen Wintertagen, einige kühngezogne feine Cirrusstreifen entziehn uns
noch immer den ersehnten Anblick der Sonne.
Wir sind bis 3600 Meter gestiegen, das Blau des Himmels vertieft sich
immer mehr, und jetzt bietet sich uns ein Schauspiel, wie es Wohl nur wenige
Augen je gesehen haben: die Sonne tritt frei hervor und spiegelt sich in einem
Schneetreiben unter uns. Wieder sind es dieselben ganz feinen Kristalle, wie
sie uns heute in 1200 Meter Höhe schon einmal begegnet sind, aber die Wirkung
im Glänze der unverhüllten Sonne ist jetzt eine ganz andre, zauberhafte. Es
ist ein Flimmern und Glitzern, ähnlich wohl wie das einer leicht bewegten
Wasserfläche, aber es übertrifft diese an Zartheit wie frische Spinnweb ein
grobes Hanfgewand.
So ist unsre Sehnsucht nun erfüllt, wir sind heraus aus der trüben
irdischen Atmosphäre, in der kein Frohsinn aufkommen konnte. Morgen ist
Psingstsonntag, aber das liebliche Fest mit sonniger Frühlingsstimmung in der
Natur, auf das wir Erdenbewohner uns gefreut haben, wird es nicht sein.
Begehen wir es darum heute schon! Das ist eine Feierstunde, die uns für
vieles im voraus zu entschädigen vermag. In heiterm Sonnenschein, behaglich
durchwärmt, erheben wir uns langsam bis zu 3800 Meter und erhalten uns
in dieser Höhe durch einige Spenden aus unserm nun allerdings stark zusammen-
geschmolznen Ballastvorrat.
Über die Kumulusschicht sind wir jetzt völlig erhaben, das ist uns nichts
Neues mehr, aber so wie heute sahen wir die Wolken unter uns noch nie, Worte
freilich vermögen diese Pracht nicht zu schildern. Keine Spur einer geschlossenen
Masse, wie uns sonst wohl die Wolkenmeere erscheinen, und doch haben wir
es beim Aufsteigen selbst ermessen, daß ihre Tiefe fast 2000 Meter beträgt.
Da strebt alles locker und luftig auseinander, unter den gebirgsartigen Bildungen
ist die Belchenform, wie wir sie aus Schwarzwald und Vogesen kennen, vor¬
herrschend, daneben beobachten wir zahllose andre Gestalten, und an den
Rändern setzen sich Cirrusstreifen an, die sich wie Niesenfücher mehrere tausend
Meter über uns emporstrecken. Wer solchen Anblick doch auf die Platte
bannen könnte, um andern nachträglich an dem Genusse Anteil zu geben, aber
für diese Lichtfülle und eine Wiedergabe, die an Zartheit den wirklichen Farben
annähernd entspräche, wären Apparate nötig, wie wir sie noch nicht besitzen.
Auch liegt das Überwältigende gerade in der unendlichen Ausdehnung der
Naturerscheinungen, von der wir nur winzige Ausschnitte zu bieten vermöchten,
nur Zerrbilder der unvergleichlichen Schönheit.
Die Nachmittagssonne wendet langsam ihr Antlitz von uns und verbirgt
es, erst hinter die Cirrusstreifen, dann auch hinter die Köpfe der Altokumuli,
die uns in der Ferne umgeben. Damit beginnt die Abkühlung des Gases.
Wir sinken, und nun wäre jedes weitere Ballastopfer unnütz. Wir müssen Ab¬
schied nehmen von der himmlischen Klarheit und dahin zurückkehren, wohin wir
gehören, in die irdische Trübseligkeit. So lassen wir uns denn fallen, und in
umgekehrter, aber hastiger Folge gleiten alle die Bilder, wenn auch mannigfach
verändert, wieder an uns vorüber, die wir beim Steigen geschaut haben.
Fröstelnd durchschlagen wir die immer dunkler sich zusammenschließende graue
Schicht, Schneeflocken umtanzen uns, Regentropfen umsprühen uns. Die
Schnelligkeit, etwa 5 bis 6 Meter in der Sekunde, ist zwar im Verhältnis zu
der gewöhnlichen Geschwindigkeit der wagerechten Fortbewegung, 10 bis 15 Meter
in der Sekunde, an sich nicht bedeutend, aber doch sehr empfindlich für den
Körper, der sich dem so rasch zunehmenden Luftdruck nicht gleich anpaßt. Daher
starkes Drängen im Ohr nach dem Trommelfell, das sich bei unserm jüngsten
Reisegefährten zu heftigen, noch lange über die Landung hinausdauernden
Schmerzen steigert.
Wo mögen wir jetzt schweben? Immer noch über dem langweiligen Ge¬
lände zwischen Warthe und Netze? Wir haben ja keine Ahnung davon, ob wir
während der ganzen Zeit unsrer Hochfahrt stillgestanden oder ob und wie schnell
wir uns vorwärts bewegt haben. Die Wolken Hunger noch tiefer herab als
am frühen Nachmittag. Erst als wir in ununterbrochnem Fall bei 500 Meter
angelangt sind, tritt die Erde in Sicht, und was liegt gerade unter uns? Ein
See mitten in einem größern Walde. Das gäbe einen garstigen Spritzer.
Darum schnell gebremst! Vier Sack sind dazu nötig, neun hatte die Hochfahrt
gekostet, fünf bleiben uns noch übrig.
Wir schwimmen eine Weile in 750 Meter Höhe, doch zeigt der Ballon
eine so starke Neigung zum Sinken, daß wir an Beendigung der Fahrt denken
müssen. Noch immer sind wir über dem See; er ist zwar schmal, und wir
hoffen, nach links oder rechts über seine Ufer hinauszukommen, unser Pech aber
will es. daß wir, wieder bei trägem Winde, langsam über seine ganze Länge
hin nach Nordosten zu treiben. Eine menschliche Ansiedlung ist weder am See
noch im Walde zu sehen. Die Möglichkeit, ins Wasser zu fallen, besteht weiter,
wir müssen nochmals steigen und verschwinden in den Regenwolken. Als wir
uns wieder herablassen, ist die Bahn frei, der See liegt hinter uns, vor uns
zunächst noch ein kleines Stück Wald, dann Felder und Wiesen. Wir gehen
ans Schlepptau, gleiten an einigen armseligen, strohgedeckten Lehmhütten mit
kleinen, trüben Fenstern vorüber und landen Nachmittag 4 Uhr 20 Minuten
unter strömendem Regen, aber sehr glatt bei Ossowo. nächste Bahnstation Linde,
Kreis Flatow, Regierungsbezirk Marienwerder, Provinz Westpreußen, südwestlich
von Konitz. Der See, den wir zuletzt überflogen hatten, war der Vorowno-
see in der Kujaner Heide.
Das war allerdings eine große Überraschung. Wir messen auf der Karte
«ach und entdecken, daß wir über den Wolken, westlich an Kolmar, und nach
Kreuzung der Netze östlich an Schneidemühl und Flatow vorüber, in reichlich
2 Stunden 86 Kilometer zurückgelegt haben, während unten, in Posen wie in
Westpreußen, fast Windstille herrschte. Wären wir also bei anhaltendem Sonnen-
schein und geringerm Ballastverbrauch etwa noch 2 bis 3 Stunden über den
Wolken geblieben, so hätten wir beim Niedergehn die Ostsee unter uns gehabt!
Die Fahrtlinie Bitterfeld-Osfowo betrug 470 Kilometer bei 27,65 Kilometer
mittlerer Geschwindigkeit, die Zeitdauer 17 Stunden und 40 Minuten.
So waren wir also statt zu den Magyaren nach Ungarn zu den Kassuben
in Pomerellen gekommen. Ebensoviel Lechisch als Deutsch hörten wir sprechen,
als sich die übliche Volksmenge um uns Scharte. Recht niedlich war, was der
Bauer, auf dessen Felde wir landeten, von seinem dreijährigen, geweckten
Söhnchen uns erzählte. Der Kleine hatte beim Spielen im Freien unsern gelben
Ballon entdeckt und eilte nun in die Stube: „Vater, komm schnell heraus! Es
kommt eine Leuchte vom Himmel." Gleich darauf aber kehrte er zurück: „Die
Leuchte ist weg, sie ist wieder in den Himmel gegangen"; waren wir doch über
dem See in den Wolken verschwunden. Endlich kam er zum drittenmal: „Vater,
die Leuchte ist wieder da, sie kommt gerade auf uns zu!"
LAGT/^«^>)S^«Äis mich der Bahnzug in schwerer Steigung hinauf nach Lauscha
führte, das für einige Herbstwochen mein Domizil bilden sollte, wußte
ich von dem großen Glasbläserdorf nicht viel mehr, als daß es
etwa 720 Meter über dem Meer liegt und um das Jahr 1597
! „unter Johann Casimir Hertzogk in Sachsen, Landgraff in Düringen"
! durch die Glasmacher Hans Greiner (Schwabenhans) und Christoph
Müller, die beide zur Sekte der Wiedertäufer gehörten und aus Süddeutschland
stammten, aber aus Böhmen zugewandert waren, gegründet worden ist, um eine
Zeit, wo der Naturwald schon dem forstwirtschaftlichen Betriebe hatte weichen
müssen, wo das Schwarzholz das Weißholz verdrängt, Eiche, Buche, Ulme usw.
im Bewaldungsplan der Fichte und der Tanne Platz gemacht hatten. In der
den Glasmachern über bedeutende Gerechtsame — betreffend Rodeland, Wiesen-
und Bauland, Fischerei in der Lauscha, Hütefreiheit — ausgestellten Urkunde ist
von Tannenholz zum Geschäftsbetrieb der Glasmacher die Rede, das mit vier
Groschen für die Klafter bezahlt werden sollte. Die Glasmacher hatten für die
ihnen gemachten sehr großen Zugeständnisse jährlich einen schmalen Erbzins zu
zahlen und ein Schock Trinkgläser, ebenfalls jährlich, an die Hofhaltung zu liefern.
Außerdem sollten sie angehalten sein, alles, was von Glaswerk zur Hofhaltung ge¬
braucht wurde, dieser um einen Pfennig für das Stück billiger als Fremden ab¬
zulassen.
„Geschehen vnd gegeben zue Coburgk am zehenden January Nach Chrisn
vnsers Erlösers vnd Seligmachers Geburtt im sunffzehen Hunderten vnd Sieben
vndt Neuntzigsten Jhare. Johann Casimir H. z. Sachssen."
Der junge Ort Lauscha ist schnell und kräftig angewachsen, die Glasindustrie
hat stetig zugenommen an Umfang und Ansehen. Heute zählt das große, zu
Sachsen-Meiningen gehörende Dorf etwa 5500 Einwohner, drei Glashütten sind
im Betrieb, die eine, Elias Greiner Vetters Sohn, mit einer Farbenmühle ver¬
bunden, deren Erzeugnisse sich auf dem Arbeitsmarkt hohen Rufes erfreuen.
Die ersten Produkte der Lauschaer Glasindustrie sind Butzenscheiben gewesen,
Medizinfläschchen, in denen die Olitcitenhändler ihre wundertätigen und heilkräftigen
Balsame und Mixturen in die Welt trugen, und Trinkgläser, die bald mit Sprüchen
und Malereien versehen wurden. Stengelgläser folgten, Glasspielzeug, Tiere usw.
Diese zuletzt genannten Artikel etwa seit 1800. Etwa fünfzig Jahre später begann
dann die Fabrikation der Glasmärbel. Blumen, Früchte werden in Lauscha ge¬
arbeitet, Glashaar, Perlen, Zterglciser nach venezianischer Art. Der Leineweber
Geißler trug im ersten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts die Fabrikation von
Physikalischen Instrumenten hierher. Im Jahre 1835 machte der 1888 ver¬
storbne Müller Uri die ersten Menschenaugen. Vor einer verhältnismäßig kurzen
Spanne von Jahren tauchte der Christbaumschmuck auf, der sich im Umsehen den
Weltmarkt eroberte.
Der Versand, den früher die Glashändler besorgten, Männer mit Bürden,
die sie auf dem Rücken trugen, wird jetzt von Post und Bahnverwaltung ausge¬
führt, die Verpackung, ehemals ein Erwerbszweig der Schachtelmacher, geschieht
gegenwärtig in kleinen meist abgefächerten Pappkartons, die in Holzkisten verladen
werden. Das Rüböl, Paraffin, Petroleum der Arbeitslampe des Glasbläsers ist
durch die Gasflamme verdrängt worden. Ebenso haben die Schmelzöfen statt der
Holzfeuerung die Gasfeuerung angenommen. Lauschaer Glasmacher und Glasbläser
sind in aller Herren Länder gezogen, als Gründer von Glashütten und als aus¬
übende Künstler in ihren Spezialfächern. Ein Sohn des Müller Uri verfertigt
seine künstlichen Menschenaugcn in Leipzig, ein entfernterer Verwandter in Wies¬
baden. Die Nachkommen des Jgelshieber Leinewebers Geißler haben persönlich
den Ruf ihres Namens nach Bonn und nach Berlin verpflanzt."
Es sei mir vergönnt, ein wenig über die Glasindustrie „in der Lausche, wie
ich sie gesehen habe, zu erzählen. Bei dem Glasmacher muß ich den Anfang
machen. Denn bevor der Glasbläser seine Arbeit beginnen kann, muß der Glas¬
macher in Aktion getreten sein und muß den Stab oder die Röhre von Glas ge¬
zogen haben.
Ich wohnte dem Röhrenziehen in der Schlotfegerhütte bei (Greiner und Co.),
in deren Schmelzofen zehn Töpfe in zwei Reihen stehn. Der Vorgang spielte
sich wie folgt ab. Der Glasmacher hob mit der Pfeife, einem langen Eisenrohr,
das flüssige Glas aus dem Glaskopf heraus, drehte die entnommne Masse auf
der Walzplatte fest und wiederholte, unter gelegentlichem Lufteinblasen, diese
Prozedur — das Hineinstecken des Rohrs in die rotglühende Masse, und das
Binden des frischen Glasansatzes mit dem schon vorhnndnen durch Drehen auf der
deinen amboßartigen Platte —>, bis der anhaftende Glasklumpen die gewünschte
Größe erreicht hatte, die sich nach dem größern oder dem geringern Durchmesser
der zu ziehenden Röhren richtet. Der zweite Glasmacher, der indessen ebenfalls
Glas aus dem Topf entnommen und es zu einer flachen festen Scheibe an seinem
Stab geformt hatte, nahm auf dieser Scheibe den entstandnen zäh flüssigen Glas¬
kolben in Empfang, worauf beide Glasmacher, Läufer und Bläser, dieser indem
er beständig Luft in die Glasmasse eindlich, rückwärtsschreitend die Röhren zogen,
die um so dünner werden, je schneller sich die beiden Männer voneinander entfernen.
Der fortschreitenden Verkühlung der Glasmasse hat sich Lauf und Blasen anzu¬
passen, wenn gleichmäßig weite Röhren hergestellt werden sollen. Sind die Röhren,
die während des Ziehens auf die Erde niedergelegt worden sind, erkaltet, so
werden sie nach Maß in Stücke von etwa anderthalb Meter Länge zerschnitten und
zum Verkauf in Pakete zusammengebunden.
In der Schlotfegerhütte sah ich auch der Fabrikation der Glasmärbel zu, die
mit der Märbelschere aus einem wurstartigen Glasstrang geschnitten werden, einem
Instrument, das aus einer halbkugligen Form und einem Messer besteht. Es gibt
Marbel aus den herrlichsten bunten Glaswindungen und ganz weiße mit einer
kleinen Figur aus gebranntem Ton als Einlage, die nach der Fertigstellung größer
erscheint und einen silbernen Schimmer angenommen hat. Die Märbelschere ist
eine Erfindung vom alten Vetterle, einem Vorfahren derer von der Seppenhütte,
der Elias Greiner Vetters Sohn. Bekommt ein Topf oder Hafen im Schmelz¬
ofen einen Riß, so wird vorerst das Glas durch Ausschöpfen geborgen, sodann der
gesprungne Topf entfernt und der neue, schon angewärmte Topf eingeführt, nach¬
dem die Stelle, auf der der alte Topf gestanden hat, ausgebessert worden ist.
Dieser Prozedur zuzusehen ist außerordentlich interessant. Der Topf wird dazu
auf einen Hebebaum, der durch einen Querbalken gestützt wird, gewissermaßen auf¬
gespießt und zum Standort hiutrcmsportiert. Das schreibt sich ganz leicht und
liest sich ganz leicht, ist jedoch in der Praxis so einfach nicht. Man sieht in der
unruhigen Weißlohe des geöffneten Ofens die beiden Reihen der Töpfe stehn, man
sieht die schweißüberlaufnen Gestalten der Arbeiter in Hemd und Hose den neuen
Tontopf, der rund und von grauweißer Farbe ist, auf den Ofen zudirigieren. Er
schwebt auf dem Hebebaum. Der Druck nach unter auf den Querbalken ist sehr
stark und zwingt die Träger zu großer Kraftentfaltung. Wundervoll lebendig ist
das Bild, die starke Arbeit, das Aufmerken, das Konzentrieren auf den einen
Punkt, dazu der aufgerissene Drachenschlund des Ofens, dem höllenheißer Atem
entströmt, und aus dem das Feuer weißlohend herausglotzt und unbarmherzig die
Augen blendet.
Ist der Topf glücklich im Ofen gelandet, so muß er auf seinen Platz gerückt
werden, wozu vou der Seite aus mit eisernen Haken nachgeholfen wird. Vor
jedem Topfstand befinden sich übereinander zwei Öffnungen, von denen die untere
nach erfolgter Postierung zugeklebt wird, während man die obere, durch die
nachher die Entleerung des Topfes erfolgt, nur durch eine Türplntte verstellt.
Zuletzt brennt alles, die Stangen, der Hebebaum, Geruch vom schwelenden Holz
zieht durch die Hütte.
Auf dem Gang durch Lauscha begleitet den Wandersmann eine eintönige
Musik, das sanfte Sausen der Gasflammen. Die Glasbläser arbeiten in ihren
Betrieben. Nur in Hemd und Hose, die Augen auf das Arbeitsobjekt in der
Gasflamme gerichtet, den Fuß am Blasebalg, so sitzen sie, wenn sie nicht gerade
fröhlich das Blaumachen üben, vom frühen Morgen bis in die tiefe Nacht um ihrer
Arbeitsstätte. Freilich gibt es auch Betriebe, bei denen nicht geblasen wird, zum
Beispiel beim Glasspinnen, das ich bei Ludwig Greiner Adam mit angesehen habe.
Es handelte sich hier um Glaslocken zum Christbaumschmuck. Arbeitsmaterial
waren weiße Glasstäbchen verschiedner Härtegrade, von denen immer je zwei dieser
ungleich harten Stäbchen der bequemern Hantierung wegen oben durch Siegellack
verbunden waren.
Der Spinner an der Lampe, der drei bis fünf dieser Doppelstäbchen in der
Hand über der Flamme hält, zieht von jeder Gruppe einen Faden, den er auf das
ein, auch anderthalb Meter Durchmesser haltende Rad wirft. Ein andrer Arbeiter,
Mann oder Weib, Kind oder erwachsne Person, vermittelt die Umdrehung. Ist
das gehörige Quantum abgesponnen, so wird der Glashaarstrang durchschnitten,
der sich sofort — eine Folge des verschieden harten Materials, das in denselben
Faden versponnen wurde — in tiefe Zacken wellt. Auseinandergezogen und ein
wenig geschüttelt gibt es ein gleißendes Gelock von weißer, märchenhafter Schön¬
heit, Man denkt an die Eiskönigin, der der Schmuck ihres Hauptes geraubt
worden ist. Allerlei weiche, liebe Trcmmgedcmken kommen einem. Und sie werden
wiederkehren, wenn die weiße Glaslocke den Weihnachtsbaum schmückt, an der
Spitze befestigt, ihn einspinnt mit tausend lockern schimmernden Fäden, die im
Schein der Lichter in ihrem geheimnisvollen blendenden Weiß aufblitzen in
Millionen und aber Millionen gleißender Strahlen und Punkte. Das zu stcirkerm
Faden und glatt gesponnene, nur aus Stäbchen gleicher Härtegrade gezogne Glas¬
haar wird mannigfaltig verarbeitet. Der Lauschaer Gesangverein Frohsinn besitzt
eine Fahne aus Glasgespinst, Krawatten werden davon angefertigt, bescheidne
Schmucksachen, Pinsel zum Polieren für die Goldarbeiter. Der Chemiker schätzt
den Glasfäden als vorzügliches Filtriermaterial.
Seine Verarbeitung zu Christbaumschmuck, zu Flügeln an Engeln, Vögeln
und Schmetterlingen sah ich in den Arbeitsräumen von Albrecht Kob. Das glatt
gesponnene Glashaar hing in verschiedenfarbigen, straffen, harten, glänzenden
Strähnen an der Wand, bar alles Reizes. Aber es sah bald anders aus, als es
in die gehörige Länge geschnitten, fächerförmig entfaltet und zu Flügelform aus¬
gestanzt vor mir lag. Pinsel und Farben taten das übrige. Am reizvollsten
und farbenfreudigsten gestalten sich natürlich die Schmetterlingsflügel. Vorzüglich
bei dieser Produktion, die entzückende kleine Gebilde schaffen könnte, habe ich den
Druck des Marktpreises mit Bedauern empfunden. Alles ist auf einen bestimmten
niedrigen Satz festgelegt, und so ist schließlich beinahe jeder Pinselstrich auch be¬
rechnet — sehr zum Schaden der Erzeugnisse, wie ich an der gebräuchlichen
Lieferungsware im Gegensatz zu einzelnen entworfnen Mustern, die aber des höhern
Preises wegen keine Besteller fanden, mit Bedauern sah. Die farbigen Flügel
werden schließlich mit ihren Objekten, mögen dies nun Engel-, Vögel- oder
Schmetterlingsleiber sein, durch Klebung verbunden. Und nun mögen sie eben¬
falls in den Weihnachtsbaum gehängt werden als anmutig sich wiegender Schmuck.
Denn sie sind mannigfaltig in der Anordnung, wie sie es in der Farbe sind. Es
gibt Vögel auf dem Nest und Vögel im Flug und kleine Hocker in schwermütiger
Grüblerstellung, die um verschneite Triften und die Qual eines hungrigen Magens
erinnert.
Das Blasen von Blumen, Kugeln, Nüssen, allerlei Christbaumschmuck habe ich
in dem Betrieb von Eduard Greiner Vetter gesehen. Von seinem Material, der
Glasröhre, dreht der Bläser, wenn er seine Arbeit beginnt, indem er die Röhre
«n der Gasflamme rotglühend macht, das erforderliche Stück ab, schließt es an der
Raume an dem einen Ende, während er das andre stark verdünnte Ende als
Handhabe und Blasrohre benutzt. Darauf bläst er beispielsweise seine Glaskugel
und buchtet sie seitlich, nachdem sie an der betreffenden Stelle der Flamme aber¬
mals ausgesetzt worden ist, durch Atemeinziehen ein. Über die so entstandne Mulde
spielt die Gasflamme und macht sie kraus. Wenn die Kugel in ihrem Umfang
drei oder vier dieser Einbuchtungen erfahren hat, so ist die Arbeit des Glasbläsers
°" ihr getan, und sie wandert nnn in die Hände der Frauen, die sie verspiegeln,
sie durch Einspritzung mit einer Silberlösuug innen belegen, sie bemalen, mit
blitzendem farbigem Puder oder mit Perlpuder bestäuben und mit Anhängern ver¬
sehen. Besonders gebuckelte Behänge, wie Nüsse und blumeuartige Gebilde, werden
"i eine zweiteilige Holzform geblasen. Blumen zu Zierzwecken, zur Füllung von
Vasen usw.. werden aber aus freier Hand gemacht. Werkzeuge dazu sind die
Schere, mit der die geblasne heiße, weiche Kugel zu Blättern aufgeschlitzt wird,
und mit der die Blättchen an den Rändern umgebogen werden, ferner ein
Glasstab für die völlige Teilung der Blätter, der nachher wieder die Zusammen¬
setzung über der Flamme folgt. So viel Atem der Röhrenzieher zu seiner Arbeit
verbraucht, so wenig bedarf dessen der Glasbläser. Er hilft zugleich auch mit den
Händen durch Drehen, Dehnen, Biegen und Zusammendrücken. Blüten wie Ver¬
gißmeinnicht werden aus dem Stab gemacht, unter Zuhilfenahme der Zange, mit
der die kleinen, cmgeschmolznen Glasballen zu Blättchen breit gedrückt werden.
Und nun bin ich beim finstern Mai angelangt, bei dem ich das Figuren¬
blasen sehen wollte. Ich hatte viel schon von ihm gehört. Der Lauschaer Kirchen¬
chor hat seine Berühmtheit seit langer Zeit. Zu seinen besten Sängern hat ehedem
der „finstre Mai" gehört. Die Lauschaer haben den Ruf des Schelmenbluts, der
Übermuts- und Neckgelüste. Dem finstern Mai hat außerdem das Duckmäuserige
angehaftet. Er ist einer von denen gewesen, die ein ehrbares Gesicht machen,
wenn sie ihre Schelmenstücke aushecken.
Die Lauschaer sind ihrem Herzog gute Landeskinder. Sind es auch um
Anno 1843 gewesen. Aber doch war die Freiheitsluft ihnen damals ein wenig
zu Kopf gestiegen, sodaß sie ihren Schießprügel zu sich nahmen und wildern gingen.
Damals ist viel Rehwildbret „in der Lausche" gegessen worden. Den ungeheuer
gelichteten Wildbestand sollen die Lauschaer Glasbläser jener Zeit auf dem Gewissen
haben. Katastrophen haben sich, soviel ich hörte, nicht ereignet. Der Lauschaer
hat vielmehr immer mit Witz, Heiterkeit und flinken Beinen gewußt, sich aus der
Schlinge zu ziehen.
Ich trottete gemach die steil aufsteigende Straße des Oberlands hinauf und
stellte wieder einmal meine lustige Signatur Lauschas fest: schwarze Schieferhäuser —
spähend herausgebeugte Köpfe — hier und da ein Pack prächtiger Betten in der
Zugluft der offnen Fenster — und Vogelbauer, eins oder deren mehrere, außen
an den Häusern . . . dazu die sanfte surrende, an eine eifrige Spinnerin gemahnende
Musik der Gasflammen. Nun sah ich einen alten Mann daher kommen. Fünf-
undachtzigjcihrig, wie ich später erfahren habe. Haupthaar und Bartwuchs grau¬
weiß und von unerhörter Fülle. Er trug einen Packen Glasröhren im Arm und
ging unmittelbar vor einem Wagen dahin, der, mit unruhigen Pferden bespannt, vom
Oberland herabdrängte. Das war „der alt Mai". Stocktaub.
Und richtig sah ich am andern Tage bei ihm das Tierblasen. Er blies einen
Hirsch. Wer hat das nicht schon gelegentlich bei einem umherziehenden Glaskünstler
mit angesehen und ist mit Interesse dem durch Blasen bewirkten Modellieren des
Körpers gefolgt, der Biegung des Halses und des Kopfes, dem Ansetzen der Läufe
und des Geweihs! Aber wie ganz anders noch gestaltete sich mir das Interesse
dem Greise gegenüber, der mit den jungen, festen, glatten Händen eines kaum
Vierzigjährigen seine Milchglasröhre in der Flamme drehte und mit stillen Greiseu-
augen den Fortgang seiner Arbeit begutachtend verfolgte! In der Hose und dem
bunten Barchenthemd saß er da, der Bart hing ihm bis auf die halbe Brust hinab,
aus dem dicken, weißgrauen Haupthaar sah ein schmaler Streifen des Ohrs heraus.
Der Mund war eingezogen. Unter dichten Brauenbüschen lagen seine stillen Augen.
Ja, der finstre Mai ist ein alt Männle geworden, aber seine Händ sind jung
geblieben! Ich sah noch allerlei Getier seiner Kunstfertigkeit, Schwäne, Störche,
Schafe, Hunde. Auch menschliche Gestalten, Bürschte und Mädle. Von früh sieben
Uhr bis nachts um elf sitzt er vor seiner Gasflamme mit dem Fuß am Blasebalg.
Vielleicht tauchen dabei die Neckstreiche seiner jungen Jahre wie blasse, schon ein
wenig fremde Bilder in seiner Erinnerung auf, ergötzen und erstaunen ihn — und
ziehen vorüber.
Nach dem „finstern Mai" suchte ich „die Sens auf." „Ja, das is a Freud und a
Leid mit der Sens. A Freud ihm zuzusehen, und a Leid, daß mer dabei muß
denk, was ra ölls könnt gemach und darfs nit, dem Brotkorb wegen!"
Christian Eichhorn Sens ist ein Künstler. Und der Künstler sitzt da und bläst
Christbaumbehang. Freilich hat der Behang, der sich dem Marktpreis aber anpassen
muß, eine feinere Note, etwas Geschmackvolles in der Art und Färbung. Es fliegt
ihm von der Hand. Er bläst ein wenig, klappt in die Form, brennt riesenhafte
Kelche, hilft mit irgendeinem Instrument nach durch feine Kippung und Biegung
an den Rändern. Und nachher bei der Tönung: Husch! sind die Schreifarben hin¬
gehaucht. Und sie verzichten auf die aufdringliche Wirkung und werden pikant. Früher
hat „die Sens" Gläser und Blumen gemacht, die Blumen in natürlichen Farben und
mit ganz natürlicher Art des Wuchses. Man sieht, wo die kommende Knospe den
Stiel bedrängte, ihn weidete, ihm entsproß. So sah ich Hyazinthen und Glockenblumen
bet ihm, Reste eines ehemaligen Bestandes feiner künstlerischer Arbeiten. Ein paar
Väschen nach Art der Venezianer. Und dann kam er mit einem ganz besondern
Gläschen, der Fuß durchsichtig grün, der Kelch opalartig, eine Milchglasmischung
mit einem Schuß gelb und grün und bis auf Fingerbreite hinauf von innen mit
einem verwischten Himbeerrot durchzogen.
Und die Sens sprach also: „Hiervon hab ich sechs Stück zu ra Hochzeit gemacht.
Dös hier is a bißle mißrot, das will ich Jhre schenk." Es steht vor mir auf dem
Tisch neben dem Hirsch vom finstern Mai.
Und nun saß die Sens vor der Flamme, nahm eine lange Nadel, schmolz
vom grünen Glasstab ein Kügelchen daran und begann aus diesem Kügelchen ein
Getier zu entwickeln, mit langem nach unten gespaltnen Schwanz, gierig gestrecktem
Leib, wundervoll kampflustig gebognem Hälschen und sperrendem, geierschncibelartigen
Rachen. Flügel. Auf dem Rücken entlang bis zur Schwanzspitze eine Folge kleiner
rötlicher Höcker. Auf dem Kopf ein ebensolches Horn. Die Augen grell. Ein
kleiner Drache in entzückend lebendiger Haltung des Zuspringens, mit dem Ausdruck
der Beutesicherheit.
Die Sens trat gelegentlich den Blasbalg, um die Stichflamme herauszujagen,
drehte ein wenig mit der Nadel und dem abfließenden Glasstab. Im übrigen
sah es aus, als entstehe das kleine Scheusal mit dem um die Nadel geringelten
Schwanz ganz von selbst. „A Hutnadel", sagte die Sens. Und ich kaufte sie. Er
bat einmal in Leipzig im Schaufenster ein von ihm gearbeitetes Gläschen wieder¬
gesehen, für das er vom Händler eine Mark erhalten hatte. Jetzt stand es für den
sechsfacher Preis zum Verkauf vor ihm.
Neben dem Geräusch der Gasflammen hört man gelegentlich noch ein andres
charakteristisches Geräusch aus Lauschas Häusern herausbringen, es rollt wie von
geschüttelten Erbsen. Die Perlenmacher sind bei der Arbeit. Fischperlen werden
gemacht, die einen großen Handels- besonders Exportartikel Lauschas bilden. Die
Perlen selbst werden geblasen. Eine Hauptstätte dafür ist unter andern auch die
Hausindustrie des nahen Jgelshieb. Der Farbstoff wird den Perlen, die durch Siebe
uach ihrer Größe sortiert worden sind, durch Einblasen mitgeteilt. Darauf kommen
sie in wiegenartige Schüttertabletts, die hin und her geschaukelt werden, damit sich
die ziemlich dicke Farbschicht gleichmäßig der ganzen Perle innen anlegt. Später
werden sie auf Mulltablette zum Völligtrocknen gelegt. Gereinigt von dem nach
außen gekommnen Farbstoff werden sie über der Spiritusflamme in leinenen Säckchen
durch leises Schütteln und Erhitzen. Zum Schluß gelangen sie in die Hände der
Aufreiherinnen, von wo sie, zum Handel fertig, in zwölfreihigen Maschen hervor¬
gehn. Sie sehen wunderhübsch aus und ähneln — wir wollen einmal optimistisch
sein — in besonders schön geratnen Exemplaren ein wenig, ein ganz klein wenig
der echten Perle.
Ich sah die Herstellung bei Adolf Rupp. Hier wurde mir auch der gallertartige
irisierende Farbstoff gezeigt, der aus den Schuppen des Ukelei gewonnen wird,
eines kleinen Fisches der Ostsee und der Süßwasserseen, ich glaube vorzüglich
Pommerns. Und zwar ist der Ukelei aus Anklam der gesuchteste.
Von den freundlichen Perlenmacherinnen führte mich mein Weg zu dem Ver¬
fertiger physikalischer Instrumente, Reinhold Müller seu. Sein Verzeichnis physi¬
kalischer Apparate für den naturwissenschaftlichen Unterricht in Schulen, das vor
mir liegt, umfaßt zweiundvierzig Nummern. Eine ganze Anzahl davon hat mir
Herr Reinhold Müller in liebenswürdiger Weise vorgeführt. Er hat aus dem
Herousball das Fontänchen aufsteigen lassen, hat mir Hohlspiegel und erhabnen
Spiegel gezeigt, hat mir den Pulshammer in die Hand gegeben, dessen eingeschlossene
Flüssigkeit sehr rasch zum Sieden kam, hat die Saugpumpe in Aktion gesetzt, ich
glaube, es war auch was mit dem Saugheber und Stechheber los, aber ich kann
nicht darauf schwören; hat mir die Wasserschraube demonstriert, die lange, sehr
kunstvolle gewundne Glasröhre, die an einem Ende einschöpfte und am andern
Ende auflud. Dann einen komplizierten hübschen Apparat, der den Kreislauf des
Blutes erläutern sollte, ferner Barometer und Thermometer. Meine eingeschlafneu
Schulkenntnisse wurden gefährlich rege und belästigten mich in der Nacht im Traum
in Gestalt von Zentrifugalapparaten, Bologneser Fläschchen, Feuerspritzen, Glastränen,
Retorten und ähnlichem.
Aber am Morgen setzte ich mich hinter ein Schriftchen, das vom alte»
Ludwig Müller Uri erzählte, der, ein sehr geschickter Glasbläser, hauptsächlich Ver¬
fertiger von Tier- und Puppenaugen, durch Professor Adelmann in Würzburg auf
die Fabrikation von Menschenaugen aufmerksam gemacht worden ist. Das war um
das Jahr 1835, wo die Flamme des Lampenbläsers, noch mit Talg oder Rüböl
gespeist, keine besonders starke Hitze entwickelte, wo das Glasmaterial, seither durch
Christian Müller Patle vervollkommnet, oft im letzten Augenblick durch Zerspringen
alle Mühe des Augenmachers zunichte machte. Der Markt der Augenfabrikation
lag damals noch in den Händen der Franzosen. Und an Pariser Vorlagen hat
auch Müller Uri unter Beratung von Professor Adelmanu in Würzburg und Doktor
Buhner in Meiningen gelernt. Hauptsächlich aber doch an seinen eignen Mi߬
erfolgen. Und eben so sehr, wie ihn die Fingerzeige der beiden Gelehrten antrieben,
seine Versuche fortzusetzen, hat dies sein eigner reger Eifer getan, der unermüdlich
war, und den keine Enttäuschung zum Erlahmen brachte.
Nach wenigen Jahren schon hat Ludwig Müller Uri denn auch die Franzosen
durch die größere Schönheit und Naturtreue der von ihm gefertigten Augen gründlich
überflügelt. Ehren und Auszeichnungen sind ihm in reichem Maße zuteil geworden.
Im Jahre 1849 ging er, ohne der Sprache des Landes mächtig zu sein, nach
Paris, um womöglich sich hier in seiner Kunst noch zu vervollkommnen. Er ist bald
wieder nach Lauscha zurückgekehrt und hat es sich zeit seines Lebens nicht ausreden
lassen, daß man ihm drüben in Frankreichs Hauptstadt nach dem Leben getrachtet
habe, weil er von seinem eignen Kunstgeheimnis nichts preisgeben wollte.
Das steht aber nicht alles in dem Büchlein, worin ich gelesen habe, Menschen¬
mund hat über den alten Müller Uri zu mir gesprochen. Denn ob der berühmte
Augenmacher gleich um 1888 gestorben ist, so lebt er doch in seiner Vaterstadt
von Mund zu Munde weiter.
Ich habe auch sein Bild gesehen, ein liebes, kluges, altväterisches Tüftlergesicht.
Und ich hörte einen Ausspruch vou ihm, der Zeugnis von seiner großen Menschen-
kemttnis ablegt. Der „alt Müller Uri" hatte also gesprochen: „Wenn die Frauen
herrschen und besitzen wollen, müssen sie mit Anstand zu kränken wissen." Und dann
ist mir sein Enkelkind, die Trül, manches liebemal gegenüber gesessen oder zur
Seite gelaufen. Sie saß „satt an der Wand" und hörte zu, wenn wir Erwachsnen
Plauderten und erzählten, oder sie sprang beim Spaziergang mit ihren schlanken
Backsischgliedern zur Seite an den Bergsteilen „an Neckele neuf, an Neckele munter"
ohne Gleiten.
Die Fabrikation der künstlichen Augen, wie sie von Ludwig Müller Uri auf
seine nächsten Angehörigen vererbt worden ist, sah ich bei einem Nachkommen des
alten Meisters, einem Enkel, Ludwig Müller Uri Felix. Von einer Glasröhre, die
unter der Verarbeitung milchig anlief, löste er über der Stichflamme das gehörige
Stück ab und blies unter Drehen und mehrmaligem Erhitzen seine Kugel. Als
alles so weit reif und in Ordnung war, wurde inmitten mit farbigem Glasstab die
Grundfarbe der Iris aufgesetzt, gehörig verschmolzen und eingeblasen. Die Pupille
folgte. Alles unter oftmaligem Erhitzen und Aufblasen der milchweißen Glaskugel.
Die Zeichnung in der Iris stellte der Augenmacher im haardünnen Fluß mit mehr¬
farbigen Glasstäbchen her, schnell, mit sichrer Hand, unter scharfer Währung der
beiden Grenzen, der Pupille und des Augapfels. Und dann bildete er die vordere
Augenkammer und die Hornhaut durch eine Auflage von Kristallglas und zog die
feinen roten Äderchen im Augapfel mit rotem Glasstäbchen. Alles wurde fest ver¬
schmolzen. Zuletzt folgte durch Erhitzen der Seitenwände und durch Lufteinblasen
die Dehnung zum Oval und mittelst eines Glasstabs, nachdem seitlich ein Loch ein¬
geblasen worden war, der Zuschnitt, das heißt die Abtrennung des künstlichen Auges
von dem Rest der milchweißen Kugel und der Blashandhabe. Das Auge wurde
mit der Zange gefaßt und der Rand ganz glatt geschmolzen. Schön und strahlend
lag es vor mir in sprechender Natürlichkeit.
Der letzte lebende Sohn des Meisters, Albin Müller Uri in Leipzig, weicht in
der Herstellung feiner Augen von der hier beschriebnen Art insoweit ab, als er
die Zeichnung der Iris nicht mit heißflüssigem Glasstab bewerkstelligt, sondern sie
mit Schmelzfarben durch Malen herstellt, was ihm ein intimeres Eingehen auf die
Art der Jriszeichmmg in bezug auf Pigmentflecke ermöglicht usw. Diese Methode
speziell ist eine Erfindung des alten Müller Uri. Die so hergestellten Augen sollen,
abgesehen von ihrer größern Schönheit, haltbarer sein, weil sie der Spannung
ermangeln, die, erzeugt durch die Verarbeitung von verschieden harten Glasstäben,
^icht zum Zerspringen der künstlichen Augen führt.
Das künstliche Auge wird aus Schönheitsgrüuden getragen, um dem Antlitz
das harmonische Aussehen zu bewahren, dann aber auch aus dem Doppelgrund der
Schönheit und der Gesundheit, in Fällen, wo der Augapfel entfernt worden ist.
Vorzüglich in den Kinderjahren liegt die Gefahr vor, daß ohne das Tragen eines
Ersatzauges eine Verkürzung der einen Gesichtshälfte und eine Verkleinerung der
Lider eintreten würden. Die ersten Augen, die gemacht worden sind, und die
ledenfalls berufen waren, sehr grobe Schönheitsdefekte zu verdecken, da sie selber
kaum Anspruch auf Schönheit erheben konnten, sind die Vorlegeaugen gewesen. Sie
wurden auf Kupfer, Gold, Silber — wie die spätern Einlegeaugen — gemalt, in
Leder gefaßt und vor dem Auge durch eine Feder festgehalten, die ihren Platz am
Hinterhaupt hatte. Das Glasauge ist zuerst zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts
aufgetaucht.
Zu Lehrzwccken findet auch eine Fabrikation von Augen statt in allen möglichen
Krankheitsstadien, von denen die bekanntesten die des grauen, des grünen und des
schwarzen Stars und der Hautüberwucherung sein mögen.
Eine sehr niedliche kleine Geschichte muß ich noch berichten. Kam jüngst nach
Lauscha als Gast ein schönes Mädchen, blind seit seiner Geburt, mit strahlenden
blauen Augen, künstlichen Ersatzdecken, die die unglücklichen Augapfel zudeckten. Das
Mädchen hatte einen fröhlichen aber nichtsdestoweniger hartnäckigen Herzenswunsch.
Es ersehnte nicht etwa das Licht seiner Augen — ganz gewiß nicht. Es hatte
sich seine eigne Welt inwendigen Schauens gebildet, in der es getrost sein Leben
zu Ende spinnen wollte. Es wollte nicht vor Bildern, die ihm fremd waren, er¬
schrecken und von den eignen Bildern seines bisherigen Besitzes als von Täuschungen
Abschied nehmen. Aber es hatte nun achtzehn oder neunzehn Jahre blane Augen
getragen und wollte, wenn die jetzigen Ersatzaugen verbraucht wären, dafür braune
haben. Ja ganz gewiß. Das wünschte sich das schöne Mädchen.
Ich weiß nicht, was mich an der kleinen Episode so sehr gerührt hat. War
es die heitere, naive Herzlichkeit — war es der impulsive Änderungstricb — war
es die stille seelische Kraft? Nichts sonst von großen UnWünschen, nur einmal statt
der blauen Augen braune Augen, die die Besitzerin ihrer Blindheit wegen nicht
einmal selber bewundern konnte!
> le von der Mochwitzer Einwohnerschaft seit Vormittag zehn Uhr sehn¬
lichst erwartete Einquartierung war endlich in der Mittagsstunde
eingetroffen: eine Schwadron kornblumenblauer, goldgelb geschnürter
Husaren mit mohnrotem Kalpak. Von der begeisterten männlichen
Jugend mit atemlosem Staunen empfangen, waren sie abgesessen und
! „Paketelweise" oder einzeln von den Wirten oder deren Abgesandten
im Triumph nach den Quartieren geleitet worden. Mochwitz hatte seit Menschen¬
gedenken keine Kavallerieeinquartieruug gehabt: es lag in einer teichreichen Gegend
abseits von der Heerstraße, und der soeben angelangten Schwadron würde auch
diesesmal eine der mehr zur Hand gelegnen Ortschaften angewiesen worden sein,
wenn nicht die Rücksicht auf die wünschenswerte weitläufige Unterbringung eines
zahlreichen höhern Kominandostabes eine Veränderung des Dislokationstableaus
veranlaßt hätte. Eine Veränderung, die ganz im Sinne der Mochwitzer war, denn
die Gemeinde war wohlhabend, und wo es galt, sich sehn zu lassen und rechtschaffne
Gastfreundschaft zu üben, tat man mit Freuden ein übriges.
Der Quartiermacher hatte sich nach Verteilung der Zettel entfernt, um die
Offiziere und den Wachtmeister nach deren Gehöften zu begleiten, und als schließlich
von der Mannschaft nur noch vier übrig waren, trat ein hübscher strammer Bauer¬
bengel, auf der Grenzscheide des Übergangs vom Jungen zum Jüngling, auf sie
zu: Un Sie, sagte er, Sie wern wohl vors Rote Vorwerk sin.
Jawohl, Anton, sagte der, der den Quartterzettel hatte, alle viere willn mer
hin, un du, du werscht wohl den Noten Vorwerk sei Schtift sin.
Ja, das war er, und sein Vater hatte ihn geschickt, um ihnen den nächsten
Weg zu „weisen", der durch den Busch ging. Ich heeße Friedrich August, und se
rufen mich August.
August is ooch e Scheerer Name, sagte der, der ihn Anton genannt hatte und
selbst Wilhelm Vogel hieß. In der Schwadron nannten sie ihn Spatz, weil er flink,
laut und frech wie ein Sperling war, und von seiner Gesprächigkeit behaupteten
sie, sein Maul gehe wie eine Dreckschleuder. Das war nicht fein, aber für sein
Mundwerk war es ganz die richtige Bezeichnung. Wer nicht sehr behende war,
konnte, wenn Spatz sprach, kein Sterbenswörtchen anbringen. Ob es weit sei bis zum
Roten Vorwerk, wollte er wissen. Ob sie wieder aufsitzen sollten? Wenn es nicht
gar zu weit sei und sich das Wiederaufsitzen nicht lohne, so wollten sie lieber führen.
Nein, aufzusitzen brauchten sie nicht. Es sei ein gemächlicher kleiner Spazier¬
gang von zehn Minuten, im Schatten, und der weiche feuchte Waldboden werde nach
dem Marsch auf der harten heißen Chaussee den Hufen der Gäule gut tun.
Weeßt du ooch schon was von Hufen, kleenes Vorwerk? sagte Spatz, ich dachte,
mit den Viechern würde eenen nur bei uns 's Leben sauer gemacht.
Vater hat ooch gedient. Bei den dritten Reitern in Börne. Er sieht hehre druf,
daß bei unsern Fährn die Hufe in Ordnung sein. Schlechter Huf, schlechtes Fahrt,
hats damals in Börne geheeßen.
So is es ooch, sagte der schönste von den Vieren. Im Gegensatz zu Spatz
hielt er nichts von vielem Reden, aber bei den Frauenzimmern konnte es, wenn er
auch nicht viel sagte, so leicht keiner mit ihm aufnehmen. Sein Familienname war
Herzog, in der Schwadron, wo er wegen seiner Bärenkräfte in Ansehn stand, nannten
sie ihn mit seinem Taufnamen Robert. Er hatte kurzes, krauses, rabenschwarzes
Haar, Augen wie Kohlen, ein pikfeines schwarzes Schnurrbärtchen und winzige Ohren.
Er war braungebrannt wie ein gut angerauchtes Meerschaumpfeifchen, und wie man
zu sagen Pflegt, reif zum Schlachten, breit, feist, voller Säfte und animalischen Feuers.
Seiner Erfolge rühmte er sich nie, auch das wußten die Frauenzimmer neben allem
übrigen an ihm zu schätzen. Der Junge gefiel ihm, er mochte ähnlich aussehende
Schwestern wittern. Er überwand deshalb sein Schweigsamkeitsbedürfnis und fragte
August, wieviel Pferde sie hätten.
Zwölf Fähre, sechs Ochsen und sechzig Kiese.
Ein Wiesengut? fragte Emil Wolf, der Husar, der neben ihm hergehend sein
Pferd mit besondrer Sorgfalt führte, damit es in kein Loch trat und um keine
Wurzel stieß.
Ja, 's sein mehrschtens Wiesen. Micr schaffen de Milch zweemal am Tage an
de Bahne, un von da geht se uach Vautzen.'
So. nach Bautzen geht se, sagte Spatz. Die Art Milch lob ich mir, die de
selber geht un sich abliefern tut. Da melken sich bei Elch ooch wohl de Kiese selber
und waschen nachends de Milcheimer uf?
Nee, sagte August, davor sein de Mägde da, alle fufzigjährig un brandderre.
Aber die eene Kuh, die mer Hain, un die ich Sie weisen were, die läßt de Milch
ganz von alleene, wie Sie de Witze, wenn Sie eenen ufziehn wolln.
Siehste, Schpatz, sagte Robert, was kee Verschtand der Verschtcindigen sieht...
Hast denn du was gesät, Gottlieb? fragte Spatz übers Pferd weg den neben
ihm führenden Kameraden, der ein hübscher Kerl gewesen wäre, wenn er nicht ein
bißchen schlafmützig ausgesehn hätte. Ich habe doch gar nischt geheert.
Ich habe ooch nischt gesagt.
Ach so, ich dachte, weil Robert uf de Eefalt cmschpielen täte.
Gottlieb war ein vorzüglicher Pferdewärter, dafür langten seine geistigen
Fähigkeiten gerade aus, und da er ein braver Kerl war und seinen Braunen wie
einen Bruder liebte, so hätte es der bei keinem andern besser haben können. Aber
mit Meldungen, Rekognoszierungen und Wachposten, wo es auf Fixigkeit und
Findigkeit ankam, wurde er grundsätzlich verschont, weil ihm dazu der „Kribs"
fehlte. Er war die beständige Zielscheibe harmlosen und meist ziemlich öden Witzes.
Spatz konnte deshalb nicht gut ohne ihn leben, und Gottlieb war so gutartig und
harmlos, daß er Spatzens Hänseleien für Beweise von Freundschaft ansah. Es ging
ihm mit Spatz, wie diesem mit ihm, es fehlte ihm etwas, wenn er nicht da war.
Also fufzigjährig un brcmdderre, das sein ja scheene Aussichten, sagte Spatz,
der über diesen Puukt, für ihn bei der Quartierfrage eine große Hauptsache, gern
etwas Näheres erfahre» hätte.
De scheenen jungen sein heite frieh fortgemacht, wie 's hieß, 's kämen Husaren.
Unsetwegen hätten se dableiben können, aler tun euer keenen nischt.
August mochte hierüber trotz seiner jugendlichen Unerfahrenheit seine eignen
Gedanken haben, denn er stieß einen tiefen hohlen Pfiff aus, der wie ein indianischer
Kriegs- und Warnungsruf klang, und fragte Emil, ob er vielleicht dessen Pferd
führen solle. Er tue es gern, und auf den Weg zu achten sei er auch gewohnt,
denn in diesem einen Punkte verstehe sein „Alter" keinen Spaß. In Börne mußten
se satteltragen, wenn se den Gaul schtolpern ließen.
Dem kleinen Vorwerk gefiel von den Vieren Emil am besten. Solche halb¬
wüchsige Jungen haben ihren eignen Geschmack und treffen damit meist das Rechte.
Obwohl Emil wie die drei andern ein Bauernsohn war, sah er mehr wie ein
Städter aus, etwa wie der junge Vormann einer Bauhütte. Nach seiner Entlassung
aus der Ortsschule hatte er in der benachbarten Stadt noch einen einjährigen Kursus
durchgemacht, dessen Erfolg man im Verkehr mit ihm unwillkürlich wahrnahm. Er
war geschliffner als die andern, und da er auch von inwendig fein war, so war,
was seine Bildung als Mensch anlangte, nichts Halbes, sondern etwas sehr Erfreu¬
liches und Wohltuendes fertig geworden. Er war Gefreiter, aber außer Dienst dachte
er nie an die ihn auszeichnenden Wappenknvpfe und überließ Spatz bei jeder Ge¬
legenheit das große Maul und die Führung. Die Art und Weise, wie er Augusts
Anerbieten, sein Pferd zu führen, dankend ablehnte, war ganz und gar nicht die
eines Bauer». Sein Pferd führen, sagte er, sei ja nichts, was ein Reiter nicht gern
tue, und was man selber tun könne, solle man nicht ohne Not andern überlasse».
August sah das ein, und die beiden waren bald, als wären sie alte Bekannte, in
lebhaftem Gespräch. Das Gefühl, einen Fremden vor sich zu habe», verliert man
Leuten von Emils Schlag gegenüber sehr rasch.
Der Weg, auf dem August die vier Reiter führte, lief in einer dicht mit
Bäumen und Buschwerk besetzten Mulde hin, die im Volksmunde uuter dem Name»
Müntzer Tellsje, einer Verballhornung von Mochwitzer Telle, bekannt war. Er
war nicht chaussiert und mochte bei Tauwetter u»d an Regentagen zu wünschen übrig
lassen, jetzt war er leidlich trocken und täuschte dem ein wenig einsinkenden Fuße das
elastische Nachgeben eines Smyrnäer Teppichs vor. Da in dem weichen Erdreich
weder menschlicher Tritt noch Rosseshuf hallte, so zog die kleine Karawane fast
geräuschlos dahin. Nur ab und zu vernahm man den kurzen Schüttelwirbel eines
von den Fliegen behelligten Pferdekopfs oder den leisen metallischen Klang einer von
ungefähr gegen einen harten Gegenstand anschlagenden Säbelscheide. Sonst unter¬
brach kein Ruf, kein Laut die Stille des vertraulichen Waldesschweigens. Die
Mittagsstunde, die feuchte Schwüle der Luft, das Gaukeln der nur verstohlen
zwischen üppigen grünen Laubmassen eindringenden, bald hier, bald da ein Helles
Lichtchen aufsetzenden Sonneustrcihle» hatte die Elfen und Pans Gefolge in tiefen
Schlaf gewiegt. Emils und des kleine» Vorwerks Gespräch verstummte, auch Spatzens
Dreckschleuder hörte nach einigen matter und matter ausfallenden Wurfen zu
funktionieren auf.
Wenn Menschen schweigen, wenn ihnen tiefe Waldesstille ausnahmsweise ein
An- und Abspinnen eigner Gedanken nahelegt, wer da in ihrem Innern lesen,
wer es gewahr werden könnte, wo an dem groben Garne des nächsten Behagens,
wo an den zarten Fäden luftigerer Gespinste gearbeitet wird! Unsre vier Husaren,
was mochten die denken? Gingen doch vielleicht Gottliebs Wünsche über die reichliche
Streu für seinen Braunen und ein solides Mittagsessen für dessen Reiter hinaus?
spiegelte Roberts und Spatzens Phantasie ihnen wirklich nur stramme gesunde
Landpomeranzen vor, die ihrem Geschmacke besser zusagten als die vom kleinen
Vorwerk scherzweise in Aussicht gestellte» fufzigjährigen brandderren? Und Emil,
der eher noch nach einer verfeinerten, weniger materiellen Gedankenwelt aussah,
womit mochten sich dessen Träumen beschäftigen?
Da wurde die Stille des Waldes plötzlich durch lautes Hundegebell unter¬
brochen. Ein zottiges, durch seinen Enthusiasmus doppelt possierliches Ungetüm
stürzte sich, aus dem Busch vorbrechend, mit allen Zeichen ausgelassenster Hunde¬
freude auf das kleine Vorwerk, und seine Zärtlichkeit konnte es sich in den ver¬
zweifeltsten Sprüngen auch dann noch nicht genug tun, als es August, um seinen
Freudenausbruch zu beschwichtigen, trotz seiner Größe und Häßlichkeit einen Augenblick
auf den Arm genommen hatte und sich gutmütig von ihm über Mund und Nase
hatte lecken lassen.
Der Ami sei wohl von malaiischer Nasse, schlug in komisch fragendem Tone
Spatz vor, dessen Sprachwerkzeuge, wie ein frisch aufgezognes Uhrwerk, sofort wieder
in Gang gekommen waren.
August verschmähte es, diese perfide Vermutung zurückzuweisen, und sagte bloß:
Nu wer mer glei da sin, Wenns um de Ecke geht, hat mer de Hitsche vor sich.
Ja, da lag sie, die Hitsche, breit und behaglich hingestreckt, von Garten- und
Wiesenland, von Buschwerk, Obst- und andern Bäumen umgeben. Lange niedrige
ziegelgedeckte Gebäude, die einen viereckigen Hof umschlossen, und über die ein alters¬
grauer hölzerner Taubenschlag mit seinem sechseckigen Dache hinausragte. Da sich
auf der Seite des Vierecks, das nach der Tellsje zu lag, kein Tor befand, durch
das man die Pferde in den Hof hätte ziehn können, sondern nur ein Ausfcills-
pfvrtchen mit ein paar Stufen davor, so führte August seine vier Husaren nach der
Vorderseite des Gutes, wo an dem von zwei mächtigen Linden beschatteten Eingange
der Bauer die ankommenden erwartete. Na da sit er ja, sagte er, un scheenes Wetter
bringt er ooch mit. Kommt nur rinner in'n Hof un macht 's eich un den Fähren
gemietlich. August werd eich den Schtall weisen un sehn, daß es an nischt fehlt.
Einen Versuch des vorlauten Herrn Spatz, seiner Gewohnheit getreu die erste Geige
Su spielen, erstickte er im Keim. Er gab Emil, dessen Gefreitenknöpfe sein altes
Soldatenauge sofort erspäht hatte, die Hand und sagte: Se sein willkommen, Ge¬
freiter. Se wern ja e bissel mit druf sehn, daß nischt vorktmmt. Wenn Se nachends
fertig sein mit ihren Fähren, in der Kinde werd, denke ich, ooch alles soweit sin.
So ein Quartier wie 's Rote Vorwerk fand man nicht alle Tage, darüber waren
>)es unsre Freunde einig. Alles in Hülle und Fülle, und von Herzen gern gegeben.
-Wenn es an etwas fehlte, gleich schleppte August das Benötigte herbei. Er war es
auch, der sie, als die Pferde versorgt waren, hinüber führte in eine große mächtige
^nahe, wo sie seine Mutter und seine beiden Schwestern am Herde fanden und ans
dem Tische mehr, als sie mit dem besten Willen vertilgen konnten. Kaum war das
Essen vorbei, gab es noch Kaffee und Kuchen.
Das Gesinde hatte um elf Mittag gemacht und war schon wieder draußen bei
der Arbeit. Aber um fünf, erfuhr Spatz vom Milchkutscher, der auf dem Hofe ge¬
geben war, weil er da zu tun hatte, kämen sie alle vom Felde und von den Wiesen
herein, denn am Sonnabend würde noch bis in die späte Nacht „gescharwergt",
geputzt und gescheuert, damit es am Sonntag nur noch das allernötigste zu tun gäbe.
Da sein mer ja grade zu passe gekommen, um e bissel zu helfen, sagte Spatz.
Uff Putzen und uff Scheiern tut sich unsereens ooch verstehn. Ne wahr, Gottlieb,
du suchst dir de scheenste raus un tust er an de Hand gehn?
Der werd zum an de Hand gehn keene große Zeit ham, sagte der Milchkutscher,
der fährt um Achte mit mir an de Bahne.
Was willst denn du an der Bahne? De werscht doch nich am Ende gar deine
Hulda erwarten! Zuzutrauen wär dersch.
Nee, sagte gelassen der Milchkutscher, er kimmt nur mir zu Gefälle mit, daß
ich nich alleene zu fahren brauche.'
Nehmen Se sich nur in acht, daß er Sie kee Loch inn Bauch reden tut.
I wenn ooch. 's is doch Scheerer, als wenn daß mer ganz alleene is.
Der Milchkutscher war auch kein Schwalbenfänger, er versorgte seine beiden
Pferde gut, und wenn er nicht ausnahmsweise ein paar über den Durst getrunken
hatte, war er nüchtern. Wer hätte zu ihm besser als Begleiter passen können als
der stille gutmütige Gottlieb! Reden war ja Nebensache, wenn man einander nur
Gesellschaft leistete.
Als nun bald nach fünfen von allen Seiten die Gespanne hereinkamen und
mit ihnen die Knechte und die Mägde, da waren Spatz und Robert erst in ihrem
richtigen Fahrwasser. Wie vor dem Schaugerüste einer Gauklerbude standen die
Hofejungen vor ihnen und starrten sie geöffneten Mundes an. Die Mägde suchten
zwar den lebhaften Wunsch nach näherer Bekanntschaft hinter einer nicht recht farbeu-
echten Zurückhaltung zu verbergen, aber Verstellung war ihnen zu fremd, als daß
sie den ihre Haltung mit eifersüchtigen Blicken beobachtenden Knechten ein X für
ein U hätten machen können. Daß der „Soldaten" halber in spätern Abendstunden
weiblicher Flatterhaftigkeit und Gefallsucht leidenschaftliche Vorwürfe gemacht wurden,
denen zärtliche Versöhnungsszenen folgten, versteht sich von selbst. Einige Knechte
„tückschten", andre machten ihrem eifersüchtigen Unmut dadurch Luft, daß sie das
Benehmen des Frauenzimmers, mit dem sie sich führten, und das sich ihrem Dafür¬
halten nach in zu entgegenkommender Weise mit einem der „Soldaten" eingelassen
hatte, in unverblümter Weise durch häßliche der weiblichen Tierwelt entnommene
Vergleiche brandmarkten. Für die Mägde sowohl wie für die Hofejungen war es
eine Enttäuschung, daß die Husaren ihr buntes Gefieder abgelegt hatten und in
Drellsachen herumstanden; den Knechten dagegen war dieser Umstand ein Trost, denn
sie wußten, daß die Uniform wirklich die eine Hälfte der Gefahr ausmachte.
Von alle dem wäre der harmlose Städter schwerlich etwas gewahr geworden.
Das „Scharwergen", Putzen und Scheuern ging auch heute nach der gewohnten
Schablone vor sich, nur war, wenn weder der Bauer noch die Bäuerin in Sicht
war, unbändiges Lachen und ausgelassenes Gekreisch immer da zu hören, wo es Spatz
gelang, für einen kurzen Augenblick ein dankbares Publikum um sich zu versammeln,
während Robert es vorzuziehn schien, abseits der Menge beschäftigte weibliche
Individuen unter Zuflüsterung spärlicher halblauter Brocken zu hypnotisieren. Den
aus seinem gewohnten Trau auch hier nicht heraufkommenden Gottlieb ließ der
Milchkutscher nicht locker, und den Gefreiten hatte August mit Beschlag belegt. Er
hatte mit dem der Jugend eignen überschäumenden Enthusiasmus seinen Eltern und
seinen Schwestern das Lob seines neuen Freundes gesungen, und seine Worte waren
nicht auf unfruchtbaren Boden gefallen. Ganz abgesehn davon, daß er als Stammhalter
nach seinem Vater die wichtigste Person des Haushalts War, und daß deshalb, er
mochte Recht haben oder nicht, sein Urteil in allen Dingen weit größeres Ansehn
genoß, als man ihm einzuräumen schien, hatten des Gefreiten Aussehn und Wesen
auch ohne diesen feurigen Herold seiner Vorzüge die Familie für ihn eingenommen.
Dem Vater hatte die Gewissenhaftigkeit gefallen, mit der er für seinen Gaul gesorgt
hatte, der Mutter der freundschaftliche Verkehr mit ihrem Sohn, den Töchtern dies
und so manches andre, Don dem es heißt, junge Mädchen dürften kein Auge dafür
haben, das sie aber eher und besser sehn als die Sorgfalt fürs Pferd und die nette
Behandlung des Bruders. Vielleicht haben die Mädchen Recht, daß sie das sehn, und
die es ihnen verwehren wollen, sind deshalb höchst wahrscheinlich im Irrtum. Suscheu
und Hannchen hatten sich nicht verabredet, und doch waren sie beide auf denselben
Gedanken gekommen, daß ihr Ehemann, wenn ihnen einer zugedacht war, am besten
so sein und so aussehn würde wie der nette Gefreite, und daß es das kürzeste und
zweckmäßigste wäre, wenn sie gleich das Probeexemplar behielten, statt sich auf einem
Umwege nach einem andern umzusehn, der dem Probeexemplar gleiche. Bei jungen
Mädchen auf dem Lande, die in heiratsfähigem Alter sind, und die, wenn die elterliche
Hitsche etwas abgelegen zwischen Wiesen, Wäldern und Teichen vergraben ist, nur
selten Gelegenheit zur Umschau haben, um sich den auszusuchen, der ihnen gefällt,
haben solche Gedanken Siebenmeilenstiefel an: es ist erstaunlich, wie rasch Mädchen¬
gedanken mit solchen Siebenmeilenstiefeln beim Altar und bei dem festen Entschlüsse
ankommen: der oder keiner! Suscheu und Hannchen hätten besser getan, sich über
diesen Punkt zu besprechen. Auf den gemeinsamen Gedanken, den Gefreiten bei
lebendigem Leibe zu halbieren, wie die falsche Mutter zur Beilegung des strittigen
Rechtsfalls einst in Vorschlag gebracht hatte, wäre ja doch keine von beiden ge¬
kommen, denn dcizn gefiel jeder der ganze Emil zu gut, und sie hätten sich mit den
Siebenmeilenstiefeln ihrer Wünsche nicht in eine Sackgasse verrannt, aus der es,
Wie dies ja im Wesen jeder Sackgasse liegt, keinen andern Ausweg gab als den,
den man findet, wenn man kurz entschlossen kehrt macht und an den Eingang zurück¬
geht. Bekanntlich ein für das Herz sehr peinliches Manöver, das meistens viele
Tränen und schlaflose Nächte kostet. Freilich brauchte ja streng genommen nnr eine
von ihnen umzukehren, aber welcher von beiden lag diese selbstverleugnende Umkehr
°b? Jung waren sie beide: Suschen war nur ein Jahr älter als Hannchen. und
hübsch waren sie auch beide, das hatten ihnen junge Leute ihres Alters wiederholt
unbefugterweise zu verstehn gegeben, und das sagte ihnen zum Überfluß täglich der
stumme und doch beredte, als wahrheitsliebend bekannte Berater, der zwischen den
beiden Fenstern ihres Schlafzimmers hing. Suschen war brünett, Hannchen blond
wie ihr Bruder. Was mochte wohl Emils Geschmack sein? Natürlich fragten sie sich
das nicht, denn eine jede von ihnen war der Überzeugung, Emil sei ihrer Schwester
gleichgiltig und könne also — es hatte nie ein verwegneres „also" gegeben — nur
sie lieben.
Emil hätte diesen Zweifel losen können. Obwohl Suschen vielleicht die hübschere
von beiden war. gefiel ihm Hannchen doch besser. Besser drückt die Art, wie
'hin Hannchen gefiel, nur sehr unvollkommen aus, denn sie gefiel ihm ganz außer¬
ordentlich gut. Daß sie ihm besser gefiel als Suschen hatte allerhand Gründe, von
denen er sich so rasch kaum recht deutliche Rechenschaft hatte geben können, die aber
dem Leser nicht vorenthalten werden sollen, damit er sich überzeuge, wie gewichtig
und zwingend sie waren. Emil hatte von jeher an jungen Mädchen blonde Haare
lieber gemocht als braune, und solche entzückende blonde Haare, wie sie Hannchen
hatte, waren ihm sein Lebtag noch nicht vorgekommen. Haare waren es eigentlich
S"r nicht, sondern den Kopf umflatternde goldne Sonnenstäubchen, die keine Gewalt
der Erde je zu Herstellung dessen hätte einfangen und zähmen können, was man
unter einem glatten Scheitel versteht. Hierncichst war Hannchen ein bißchen kleiner
und ein bißchen „plnmpsiger" als Suschen. Das traf sich wieder gut, denn Emil
hatte von jeher für die kleinen plnmpsigen eine Vorliebe gehabt. Und dann hatte
Hannchen nicht ganz in der Mitte vom Kinn, sondern etwas mehr nach links, nach
der Herzseite zu ein liebliches Grübchen, das nur sichtbar war, wenn sie lächelte,
und das ihrer Schwester fehlte. Auch hatte Hannchen blaue Augen, Suschen keine,
womit natürlich nicht gesagt sein soll, daß das arme Mädchen gar keine Augen
gehabt hätte: sie hatte nur keine blauen, sondern andersfarbige. Und endlich, um
eine Menge Dinge unerwähnt zu lassen, die von entscheidenden Einfluß waren:
während Suschen etwas stiller und zurückhaltender war, war Hannchen, wie sich
der Herr Papa ohne viel Umstände auszudrücken pflegte, eine freche Rudel. Über¬
mütig lustig, sang und trällerte sie den ganzen Tag. Mit einem so fideler Vogel
konnte es ja gar keine trüben Stunden geben. Emils Wahl wäre also ganz sicher
getroffen gewesen, wenn er überhaupt an eine Wahl gedacht hätte. Von dem tragischen
Konflikt, den er zu veranlassen im Begriff stand, hatte er keine Ahnung. Für den
Augenblick saß er mit lang ausgestreckten und breitgespreizten Beinen, deren Unbeweg-
lichkeit und Steifheit an die der Schenkel eines geöffneten Zirkels erinnerten, auf
den Steinfliesen vor der Küchentür, eifrig bemüht, ans einigen großen Milchlasen
von Eisenblech mit Pinsel und Farbe je zwei breite feuerrote Reifen zu erneuern,
die August durch einen dritten weißen vervollständigte. Diese drei Reifen waren das
Zeichen, an dem der Milchkutscher, wenn die leeren Gefäße zweimal des Tags von
Bautzen zurückkamen, die dem Roten Vorwerk gehörenden erkannte. Nahezu ein
Dutzend Güter und Meiereien schickten die Milch an dieselbe kleine Station: auf den
ersten Blick erkennbare Zeichnung war deshalb äußerst wünschenswert.
Da nach dem Abendessen das allgemeine Putzen und Scheuern mit erneutem
Eifer in Augriff genommen worden war, so wurde Emil zu allerlei leichten Arbeiten
und Hilfsleistungen in der Küche angestellt. Es war, als wenn er schon halb und
halb zur Familie gehörte, und als doppelter Bräutigam in xstto, was er freilich
nicht wußte, konnte er sich über das herzliche Entgegenkommen, das ihm namentlich
von feiten der jungen Mädchen zuteil wurde, nicht beklagen. Als ziemlich spät in
der Nacht — für ländliche Verhältnisse heißt das — alles blank und in Ordnung
war, brachte ihn August, der keinem das Recht für ihn zu sorgen abgetreten hätte,
in das für ihn und seine drei Kameraden bestimmte Gelaß zu ebner Erde, das
weißgetüncht und mit vier Betten, vier Stühlen, einem großen viereckigen Tisch,
einem von August gezimmerten gewaltigen Kleiderrechen und einem Winzigen Wasch¬
tisch mit einem noch winzigem Waschbecken ausgestattet war. Unmittelbar davor
befanden sich im Hofe eine Pumpe für „hartes" und ein Röhrtrog für „weiches"
Wasser: das Vogelnäpfchen auf dem winzigen Tischchen war also wohl nur als
Zierat gemeint und hätte als Paradewaschbecken bezeichnet werden können. Von den
drei andern war noch keiner da. Emil blies das Jnseltlicht aus, das in einem mit
einer Schiebevorrichtnng versehenen Messingleuchter stak, schlüpfte ins erste beste Bett
und lag im nächsten Augenblick im tiefsten Schlummer.
(Fortsetzung folgt)
Deutschland steht im Zeichen der Herbstmanöver, überall wird „Krieg im
Frieden" geführt. Das ist längst kein Exerzieren im Feuer mehr, wie wohl früher,
wo man ungefähr voraus wußte, wie es gehn würde, und wo es mehr auf
Taktik als auf Strategie ankam, sondern es geht mit Platzpatronen und Manöver¬
kartuschen recht ernsthaft zu. So besonders bei den diesmaligen Kaisermanövern
in Westfalen. Die beiden Parteien wissen nur das Allgemeinste voneinander, sie
wissen nicht, wo und wie sie aufeinander stoßen werden, den Feind zu erspähen
ist die Aufgabe der vorauseilenden Kavallerie, und alle modernen Mittel, Tele¬
graphen, Luftballons, Automobile und Radfahrer, werden in angespannter Tätigkeit
sein. Nicht weniger als 100000 Mann marschieren gegeneinander, zwei verstärkte
Armeekorps mit zwei besonders gebildeten Kavalleriedivisionen, das siebente (west¬
fälische) und das zehnte (hannöversche), alles Niedersachsen, gleichgiltig, ob sich diese
Truppen in den beiden preußischen Provinzen rekrutieren oder in den diesen ein¬
gesprengten Kleinstaaten, in Lippe, Oldenburg, Braunschweig usw., und das sind
nicht mehr selbständige „Kontingente", wie in den Zeiten des unseligen Bundes^
tages, der es fertig brachte, das wunderbare neunte Armeekorps aus Sachsen,
Kurhessen, Nassauern und Luxemburgern zu bilden, aus selbständigen, weit aus¬
einanderliegenden Truppenkörpern mit verschiedner Uniformierung, Ausrüstung,
Exerzitium und Kommando, die niemals auch nur zu einem Manöver vereinigt
wurden, es sind vielmehr allesamt Teile preußischer Verbände mit den Landes-
sarben in der Kokarde neben der schwarz-weiß-roten deutschen Kokarde und in den
Feldbinden der Offiziere; ihren Landesherren schwören sie zwar den Fahneneid, aber
ebenso dem Kaiser den Eid des Gehorsams, und jene haben längst auf ihre tutsächlich
immer wertlose Kriegshoheit freiwillig verzichtet und begnügen sich mit Ehrenvorrechten.
Einen „Armeepartikularismus" gibt es in Deutschland nicht, wie einmal ein bayrischer
Offizier im Reichstage sagte, als ein Abgeordneter den unverzeihlicher Versuch machte,
an ihn zu appellieren; der einzige Partikularismus, der noch ein Recht hat, ist der
Wetteifer zwischen den einzelnen Truppenteilen unter den Augen des Kaisers und
ihrer Landesherren. Danken wir Gott, daß wir so weit sind.
Während Blau und Rot der Weser nördlich und südlich von Höxter und
Corvey zustreben, hat der Kaiser bei Berlin am 2. September die Parade über
das Gardekorps abgenommen, ist dann nach Wilhelmshaven gefahren, hat am
3. September bei stürmischer See die Manöverflotte besichtigt, die in zwei Linien
von je 6 Kilometer Länge unter Flaggengala lag, und hat dann mit ihr manövriert.
Dabei griffen auch die schweren Geschütze der Insel Helgoland, die wie Drachen
auf dem hohen grünen Oberlande liegen, in den Kampf ein und bewiesen dadurch,
daß sie einer hier manövrierenden feindlichen Flotte sehr unangenehm werden könnten.
Die gesamte Seestreitmacht des Reichs, mit Ausnahme der Auslandschiffe, sah der
Kaiser schlagfertig vor sich, 16 Linienschiffe, 12 Kreuzer und 70 Torpedoboote,
freilich manches veraltete Material noch darunter, das hoffentlich bald verschwunden
sein wird, in Summa 333000 Tonnen Deplacement, 650000 Pferdekraft, 963 Ge¬
schütze mit 133000 Schuß Gefechtsladung, 250 Torpedoausstoßrohre mit 570 Tor¬
pedos und mit 36000 Tonnen Kohlenvorrat und mit etwa 20000 Mann an
Bord. Angesichts dieser stolzen Machtentfaltung, wie sie Deutschland niemals besessen
hat, durfte er sich sagen, das alles sei doch wesentlich sein Werk, und er durfte
mit Sicherheit auf weitere Ausbildung hoffen. Daß er auch hier von den Leistungen
befriedigt war, zeigten am 7. September seine warmen Worte auf seine Marine und
ihren Chef, seinen Bruder, den Prinzen Heinrich, „den Stolz des Vaterlandes".
Der Parade des Gardekorps wohnten außer dem üblichen glänzenden Schwärme
fremder Offiziere, unter denen sich diesmal auch Japaner, Nordamerikaner und
Brasilianer befanden, zwei etwas exotische Gesandtschaften bei, die Abgeordneten
des Schäds von Persien und die des Negus Negesti Menelik von Abessinien. Von
dergleichen Erscheinungen macht man jetzt nicht mehr viel Aufhebens, am wenigsten
in Berlin; man betrachtet sie als die selbstverständliche Anerkennung für die Welt¬
stellung des Reichs. Gibt es doch jetzt in Teheran eine deutsche Bank, die hier
dem deutschen Kaufmann Raum schafft neben dem englischen und russischen, und
bei dem bevorstehenden Bau von Eisenbahnen im abessinischen Hochlande handelt
es sich Wohl auch um die Beteiligung deutschen Kapitals. Inzwischen schreitet die
Bagdadbahn rüstig fort, und von der Bahn nach Mekka, die zunächst dem Pilger¬
verkehr dienen soll, ist am Jahrestage der Thronbesteigung des Sultans die erste
Strecke eröffnet worden. Die „friedliche Durchdringung" des türkischen Reichs auch
in Asien mit europäischer Zivilisation ist eine Garantie für seinen Fortbestand, und
der regierende Sultan darf sich rühmen, daß er das begriffen hat und danach
handelt, von keiner Seite besser unterstützt als von der deutschen. Die gegenwärtige
friedliche Weltlage begünstigt die deutsche Kulturarbeit in der Türkei.
Erloschen ist freilich diese Eifersucht noch keineswegs; sie bringt es fertig, im
deutschen Südwestafrika unter Umständen eine Gefahr für das britische Südafrika
zu sehen, was ein recht schlechtes Gewissen und einen sehr geringen Glauben an die
Festigkeit dieser Herrschaft verrät; sie sieht in der Erhaltung einer starken Truppen¬
zahl (wir haben jetzt etwa 6000 Mann dort) eine Maßregel, die gegen England,
nicht gegen die Hottentotten gerichtet sei, von deren unmittelbar bevorstehender Unter¬
werfung die Reichsregierung schon gewußt habe, als sie am 13. Dezember v. I.
den Reichstag auflöste, um von der neuen Mehrheit die Bewilligung einer großen
Besatzung zu erlangen, und sie glaubt, daß die deutschen Wähler nur deshalb, also
im Sinne des deutschen „Imperialismus" eine regierungsfreundliche Mehrheit nach
Berlin geschickt hätten. Ja, vom Teufel des Imperialismus sind wir überhaupt ganz
und gar besessen, unsre Zukunft liegt nicht in humanitärer Politik, sondern im Willen
zur Macht; wir denken an gar nichts andres als an „Kolonien und Seemacht und
an Antagonismus gegen das britische Reich". Nur unsern Sozialdemokraten wird
das Zeugnis ausgestellt, daß sie in diesem Sinne nicht zu den Deutschen gehören,
eine Bescheinigung unpatriotischer Gesinnung, die den Parteihäuptern jedenfalls un¬
gemischte Freude bereiten wird (National Kools^, (lsrinan Konto Wohl ^krioa as
an international ?aotor, im Septemberheft). Wenn wir nur die Hälfte von dem
täten oder tun könnten oder auch nur dächten, was man uns ziemlich allgemein
zutraut, wir wären vielleicht weiter. Inzwischen haben die Engländer die Freude,
uuferu Feind Morenga wieder auf ihrem eignen Gebiete zu sehen, und wir zweifeln
nicht im geringsten, daß die Kapregierung ehrlich ihre Pflicht tun wird. Denn zum
Glück verfährt auch die englische Reichsregierung nicht nach Stimmungen und Vor¬
urteilen einzelner Kreise, sondern nach sachlichen Erwägungen. Hoffentlich wird nun
Einst lag er „draußen vor dem
Grimmischen Tore", und vor vierhundert Jahren kam es zu Verhandlungen zwischen
dem Rat und den Klöstern der Stadt, und dann zu landesherrlichen Verordnungen,
wonach daselbst alle die beerdigt werden sollten, die nicht ein besondres Recht hätten
auf Bestattung in den vier Kirchen oder auf den fünf Kirchhöfen der innern Stadt.
Infolge allmählicher Erweiterungen bestand schließlich der Johannisfriedhof aus
fünf Abteilungen., Die erste wurde schon 1846 für Beerdigungen geschlossen; jetzt
ist auch die letzte säkularisiert. Mehr als eine Viertelmillion Menschen haben hier
die letzte Ruhe gefunden, darunter viele von berühmtem Namen. Dichter, Künstler,
Schriftsteller, Gründer weltbekannter Firmen und Stifter bedeutender Vermächtnisse:
Bach, Gellert, Öser, Christian Felix Weiße. Pölitz, Härtel, Sehfferth, Limburger.
Tauchintz, Harkort, Grassi usw. Von diesem wichtigen Denkmal der Stadt liegt
eine mustergiltige und geschmackvoll hergestellte Publikation aus dem Verlage von
Georg Merseburger in Leipzig vor: „Der alte Leipziger Johannisfriedhof und die
Rats- oder Hospitalgruft, ein Beitrag zur Stadtgeschichte, von Paul Benndorf.
Mit siebzig Abbildungen in Lichtdruck nach photographischen Aufnahmen des Ver¬
fassers und zwei Plänen des Friedhofes." Die Aufnahmen sind sehr schön. Der
Text, auf 95 Seiten, enthält fünf Kapitel: Die Johanniskirche, der alte Friedhof,
die Ratsgruft, die 1883 eingezognen Friedhofsabteilungen und die noch bestehenden
Abteilungen 3. 4. 5. Alle sind mit reichlichen Namenverzeichnissen versehen.
Soviel von den Äußerlichkeiten, damit sich unsre Leser ungefähr einen Begriff
machen können, was und wieviel sie für nur acht Mark, das ist der Preis des
stilvoll in Leinen gebundnen Werkes, bekommen können. Nun noch einige Worte
über seinen innern Wert zur Begründung unsers Lobes. Wie uns die Grabmäler
in ihrer äußern Erscheinung den Wandel der Stilformen wiedergeben, von der
Gotik und der Renaissance bis zum Barock und zum Empire, so spiegeln sich in
den Grabschriften und Totenregistern die Wendungen der Geschichte, die Refor¬
mation, der Dreißigjährige, der siebenjährige Krieg, die Franzosenzeit und die Ro¬
mantik. Alle diese stillen Schläfer nahmen einst teil am Leben ihrer Zeit, und
jeder Grabstein spricht seine eigne Sprache. Auf den Einzelnen kommen nur wenige
Zeilen dieser durch Jahrhunderte geführten Chronik. Der Verfasser macht sie uns
durch kurze Notizen der Erinnerung lebendig. Da liegt zum Beispiel Käthchen
Schönkopf Goethischen Andenkens. Dort Herloßsohn, der Herausgeber des „Kometen",
dessen Lieder „Wenn die Schwalben heimwärts ziehn" und „Ob ich dich liebe"
Wohl noch nicht ganz verklungen sind. Dort der Leipziger Handelsherr Wilhelmi
Gerhard, der Dichter des einst ebenfalls vielgesungnen „Auf Matrose», die Anker
gelichtet". Da ruhen Noderich Benedix, Mahlmann, Rochlitz. Höchst interessant
ist die Behandlung der „Natsgruft", die 1783 an Stelle der Grüfte in der Pau-
Unerkirche, namentlich für die Honoratioren der Universität, errichtet wurde. Sie
hat bis 1851. wo sie geschlossen wurde, 107 Leichen aufgenommen, die alle auf¬
geführt werden. Für jeden Platz mußten fünfzig Taler entrichtet werden. Wieviel
Ueß man sich damals eine Beisetzung kosten I Diese Gruft ist noch gut erhalten,
und die Ruhe der Toten ungestört geblieben. Aber ihre Zeit war ja auch noch
nicht lang, und im übrigen ist auch dieser Friedhof durch die Ansprüche der Lebenden
zu einer Stätte des Unfriedens geworden. Benndorfs Geschichte des Johannis¬
sriedhofs verzeichnet getreulich zu jedem Abschnitt die Ausgrabungen und Um-
bettungen. Es kann ja nicht anders sein, aber in jedem neuen Beispiel berührt
doch der Gedanke eigentümlich: mit sorgender Mühe sichert eine Generation ihren
Toten ein enges Ruhebett, und der nächsten oder der folgenden dünkt auch das
"°es zuviel, sie muß den Raum für ihre Zwecke gebrauchen. Die Kirche nimmt
den Entschlafnen — gegen reichliches Entgelt — in ihren Schutz und verheißt ihm
die ewige Ruhe, und dieselbe Kirche gräbt ihn wieder aus und verschachert den
Totenacker als Baugrund, wenn die Konjunktur dafür gekommen ist. Dieser Gedanke
hat etwas so Widerwärtiges, daß man schon um deswillen die Feuerbestattung als
eine neue und bessere Ordnung dieser Dinge herbeiwünschen muß. Doch davon
ein andermal. — Benndorfs schönes Werk gehört zu denen, die ohne eine öffent¬
liche Unterstützung nicht verlegt zu werden Pflegen, für die aber auch in der Regel
Gönner und Wohltäter gefunden werdeu. Der Rat von Leipzig, an dem die Reihe
zunächst gewesen wäre, hat die Gelegenheit an sich vorübergehn lassen. Da der
Verfasser auf Honorar verzichtet hat, so hat der Verleger das Werk auf sich ge¬
in zwei Bänden, herausgegeben von
Prof. Dr. Ludwig Elster. (Jena. Gustav Fischer, 1907.) Von der zweiten, völlig
umgearbeiteten Auflage dieses vortrefflichen Nachschlagewerkes, die wir wiederholt
angezeigt haben, sind jetzt die letzten drei Lieferungen erschienen. Auch in ihnen
ist den in raschem Wechsel aufeinanderfolgenden Veränderungen unsrer schnell lebenden
Zeit durch bedeutende Zusätze und Verbesserungen Rechnung getragen worden, wie
man unter anderm an dem Artikel „Sozialdemokratie" bemerkt, der die neusten
Wandlungen und Schicksale der Partei in den verschiedensten Ländern erzählt und
in einem Nachtrage auch noch über ihre Niederlage bei der letzten deutschen Reichs¬
tagswahl berichtet. Mehrere wichtige Artikel sind neu hinzugekommen, so: See-und
Binnenfischerei, Spiel, Städtische Sozialpolitik, Streikversicherung, Sturmschäden-
Versicherung, Süßstoffgesetzgebung, Warenhaussteuer. Die drei Lieferungen kosten
6 Mark 50 Pf.; der Preis des ganzen Werkes ist broschiert 35, gebunden 40 Mark;
Einbanddecken liefert der Verleger zu 1 Mark 80 Pf. für den Band. Was dem
Werke fehlt, das ist ein alphabetisches Register. Die Zahl der in der Volkswirtschaft
vorkommenden technischen Ausdrücke ist so groß, daß nicht jedem einzelnen ein be¬
sondrer Artikel gewidmet werden kann, der Lernbegierige will doch aber mich über
die fehlenden Aufschluß haben, und er erhält ihn auch, wenn er das Glück hat, die
richtige Stelle zu finden. So zum Beispiel fehlt ein Artikel „Devisen". Der Ge¬
schäftskundige weiß natürlich, daß er unter „Wechsel" zu suchen hat; andern Leuten
aber würde langes, vielleicht vergebliches Suchen erspart, wenn sie ein Register auf
die erste Spalte der Seite 1298 des zweiten Bandes verwiese. Ein gutes Register
cum wir Deutschen seufzen über die Schwierigkeiten, die uns die
drei Millionen Polen innerhalb unsrer Grenzen bereiten, so
können wir das Dichterwort vom Trost über Unglücksgenossen
auf uns anwenden. England hat mit seinen Iren ein ähnliches,
nur noch viel Schwierigeres Problem zu lösen. Seit Jahr¬
hunderten wälzt es den Sisyphusstein der irischen Frage den Berg hinauf,
und wenn es meint, ihn oben zu haben, so heißt es wieder: „Hurtig mit
Donnergepolter entrollt ihm der tückische Marmor." Ein solcher verhängnis¬
voller Augenblick ist eben jetzt wieder eingetreten. Die liberale Partei Eng¬
lands hat in den Parlamentswahlen vom Januar 1906 gesiegt und dabei
die Unterstützung der Iren genossen. Sie hat dabei Versprechungen gemacht;
Kenn sie auch viel vorsichtiger gewesen ist als Gladstone 1893 > der mit
seiner unseligen Homerulebill die Ansprüche der Iren womöglich noch ge¬
steigert, tatsächlich für diese nichts erreicht, seine Partei aber in den Abgrund
gestürzt hat, so kann sie sich doch von dieser verhängnisvollen Hinterlassen-
?chaise nicht gänzlich frei machen. Sie hat, seitdem sie wieder ans Ruder ge¬
kommen ist, schon zwei Entwürfe für die irische Frage vorgelegt: eine Skizze
durch Mr. Bryce, der, sobald die Iren seine Gedanken als unzulänglich zurück¬
gewiesen hatten, schleunigst das Staatssekretariat für Irland mit dem Botschafter-
Posten in Washington vertauschte; und ein fertiges Gesetz durch den jetzigen
Staatssekretär Mr. Birrell. Auch dieses ist von der irischen Nationalkonvention
sofort mit dem größten Hohn verworfen worden. Im englischen Parlament ist
die Entscheidung darüber weit hinausgeschoben worden. Die Konservativen find
Hre geschwornen Gegner, aber auch die Liberalen werden sie nicht genehmigen,
Kenn ihr einziger Zweck, die Zufriedenheit Irlands, nicht wenigstens ernstlich
dadurch gefördert wird.
Daran ist schon nicht mehr zu denken, denn das organisierte Jrentum,
die Hintkü Iiisn I^s^us, hat den Birrellschen Entwurf geradezu mit einer
Kriegserklärung beantwortet. Am 20. Juni hielt sie zu Dublin unter dem
Vorsitz Mr. Redmonds Gericht über ihn. Ihr Führer ließ einen „mächtigen
Ruf zu den Waffen" ertönen; er befürwortete einen neuen Feldzug heftigster
Agitation. Das Volk solle „ohne Verzug eine große und wahrhaft männ-
liche Bewegung ins Leben rufen". Alle Zweigvereine — solche bedecken
nämlich das ganze Land — sollen „eine ganze Reihenfolge großer öffentlicher
Demonstrationen" veranstalten. Alle Parteimitglieder werden gebeten, „sich
kraftvoll dem Zusammenwirken mit dem Vorstande zu widmen, um die Liga
zu einer stets bereiten Macht für alle politischen und sozialen Zwecke zu
macheu". Man weiß, was das zu bedeuten hat. Wer die Geschichte Irlands
im letzten Jahrhundert überschauen kann, sieht einen Gespensterzug an sich
vorüberziehen: den Anschluß der Iren an die französische Revolution, O'Connell
und die Repealbewegung (die die Vereinigung Irlands mit England aufheben
sollte), die jungirische Bewegung, die Feiner mit ihren Bluttaten, ihrem
Terrorismus, die irische Verschwörung gegen Kanada, die zahllosen un-
gesühnten Mordtaten der Mondscheinbanden, die Landliga, die Boukottierung
der gesetzestreuen Untertanen. Die Bewegung setzt schon jetzt wieder unheil¬
drohend ein.
Um das heutige Irland zu versteh», muß man jedoch über das neun¬
zehnte Jahrhundert zurückgehn. Schon daß Kleinbritannien im Gegensatz zur
mächtigen Nachbarinsel niemals teutonisiert worden ist, schafft einen Ab¬
grund zwischen beiden. Auch in den Adern des englischen Volkes rollt
keltisches, gälisches Blut; in Wales und Nordschottland hat sich die Nasse
ziemlich rein erhalten, und erst jetzt verschwindet das Gallsche dort als Volks¬
sprache. Doch wenn auch dort erst die Angelsachsen, dann in kleinerm Maße
die Dünen und zuletzt wieder die Normannen als Eroberer auftraten, die sich
auch große Teile des privaten Eigentums an Grund und Boden aneigneten,
jedesmal unter einfacher Vertreibung der frühern Besitzer, so verschmolzen sie
sich doch alle miteinander zu einer Rasse. Sie wurden Engländer, sie sprachen
englisch. Und dann hat die ganze Bevölkerung die Reformation mitgemacht.
Die Spannung zwischen den einzelnen protestantischen Bekenntnissen hat fast
vollständig aufgehört. In Irland war im Mittelalter die teutonische Ein¬
wanderung so spärlich, daß die Urbevölkerung sie aufsaugen und Iren aus
ihr machen konnte. Die Reformation verschärfte den Unterschied aufs tiefste.
Die Iren blieben der römischen Kirche treu und gerieten staatsrechtlich in
eine Art Pariastellung, während die protestantischen Engländer ein Herren¬
volk sind.
Der Ire ist noch heute ein ausgesprochner Gallier, ein Mann, der nur
zu oft an den von Cäsar geschilderten Bewohner Frankreichs erinnert. Paddy
ist ein wunderlicher Heiliger; rasche Auffassungsgabe, Scharfsinn, Gastfreiheit
und rasch sich entfaltende Aufopferungsfähigkeit kennzeichnen ihn. Ein Stroh¬
feuer der Begeisterung bei ihm zu erregen, ist eben so leicht, wie es schwer
ist, ihn zur beharrlichen wirtschaftlichen Arbeit, zur Selbstbeherrschung und
Wahrheitsliebe zu erziehen. In zwei Punkten hat er jedoch eine bewunderns-
werte Ausdauer bewiesen: in der Anhänglichkeit an seine Nationalität und an
die römische Kirche. Beides hat die Sprache Erins überdauert. Diese ist
jetzt in raschem Rückgang. 1851 bedienten sich ihrer noch 1204000 Menschen,
1891 nur noch 680000; von dieser Abnahme ist jedoch ein großer Teil auf
die Auswanderung zurückzuführen, die die Volkszahl von 8,3 Millionen im
Jahre 1845 auf 4,5 Millionen im Jahre 1901 hat zusammenschmelzen lassen.
Von dieser Zahl gehörten 3,3 Millionen der römischen Kirche an, der Nest
verteilt sich auf die verschiednen protestantischen Bekenntnisse. Alle Katholiken
sind von Partei wegen National-Iren, außerdem aber manche Protestanten;
so war zum Beispiel der frühere Führer Parnell ein Protestant. Der irische
Nationalismus ist also heute weit verbreiteter als die irische Sprache und selbst
als das katholische Bekenntnis.
Dem Iren sitzt der Fremdenhaß von jeher im Blute, denn wer vom
Auslande kam. war immer ein Eroberer. Hatten seine Nachkommen Wurzel
geschlagen, so sahen auch sie sich wieder heimgesucht von erobernden Gästen,
denn auch sie wurden jetzt ihrer Äcker und Häuser beraubt und hatten das Los
der Urbewohner zu teilen. Im Jahre 1168 wandten die englischen Könige zuerst
ihre Waffen gegen Irland; drei Jahre später gelang Heinrich dem Zweiten
die Eroberung der Insel. Doch die Unterwerfung war weder vollständig noch
dauernd. Erst die Tudors erreichten bleibende Erfolge, wesentlich unterstützt
durch umfassende Güterkonsiskationen. Heinrich der Achte führte die Reformation
oberflächlich ein; unter Maria rückgängig gemacht, sollte die Neuerung unter
Elisabeth abermals eintreten. Das gelang nur bei den Engländern, denn
diese gewannen dadurch neue Rechte und einen Halt an der Königsmacht.
Elisabeth hatte mit steigendem Widerstande zu kämpfen, auch Jakob der Erste,
der wieder vielen Grundbesitz konfiszieren ließ. Unter Karl dem Ersten brachte
Strafford dem Lande großen Wohlstand, aber gegen seine andauernden Güter¬
einziehungen erhob sich das Volk. In Cromwell fand dieses seinen gewaltigen
Bezwinger. Der Protektor nahm abermals Massen von Grundeigentum, die
noch in irischen, katholischem Besitz geblieben waren, und belohnte seine alten
Soldaten damit. Die nördlichste Grafschaft, Ulster, ist auf diese Weise über¬
wiegend protestantisch geworden. Die beiden letzten Stuarts bewirkten für
kurze Zeit wieder einen Umschwung zugunsten der Katholiken. Nachdem Jakob
der Zweite die Herrschaft in England verloren hatte, versuchte er nochmals,
sie mit französischer Hilfe von Irland aus wieder zu gewinnen. Die Schlacht
«in Boyne machte dem letzten Königsregiment im Schlosse zu Dublin ein
Ende, nachdem ein furchtbares Wüten der Iren gegen ihre englischen Bezwinger
boraufgegangen war.
Von 1691 bis 1793 hat es nur örtliche Aufstände, aber keine Erhebung
der Insel gegeben. Von neuem traf die englische Herrschaft das Jrentum
mit voller Wucht. Wilhelm der Dritte zog die Güter der Anhänger Jakobs
des Zweiten ein. Er gab, was schon Elisabeth getan hatte, alles Kirchengut
aufs neue der anglikanischen bischöflichen Kirche, obgleich diese fast gar keine
Gemeinden hatte. Die ohnehin zur Armut verurteilten Katholiken mußten
ihre Kirchen und Geistlichen aus dürftigen freiwilligen Beiträgen unterhalten.
Sitze im englischen Parlament konnten die Iren schon als Katholiken nicht
einnehmen, selbst wenn sie in England gewählt waren, die Universitäten wurden
ihnen versagt, nicht einmal Grundeigentum konnten sie erwerben. Wenn im
Mittelalter eine Verschmelzung der Nationalitäten eingetreten wäre, hätte alles
vergessen werden können; konfessionelle Gemeinschaft hätte vielleicht den Ab¬
grund überbrückt. In Irland blieb alles offen. Jedes Jahrhundert wälzte
den Zwiespalt ungelöst seinem Nachfolger zu.
Die Humanitätsperiode im achtzehnte» Jahrhundert versuchte sich ver¬
geblich an diesem Problem. Erfüllt von den Ideen Diderots und Rousseaus
gewährten die Engländer 1782 den Iren sogar ein eignes Parlament — aller¬
dings konnte 'mau sich noch nicht dazu aufschwingen, die Wählbarkeit auf
Katholiken auszudehnen. Schon damals zeigte sich sogar unter den protestan¬
tischen Iren im Parlament zu Dublin ein auffallender Nationalismus gegen
die Engländer. Man stellte wachsende, ja unerfüllbare Forderungen auf, und
als in Frankreich die Revolution ausbrach, ließ man in Irland der Neigung
zur Verbrüderung mit den Frciheitsmänneru die Zügel schießen, sodaß sich
die englische Regierung genötigt sah, die Habeaskorpusakte außer Kraft zu
setzen. Das brachte die Iren vollends zum Bündnis mit dem unter Leitung
des Direktoriums stehenden revolutionären Frankreich. Ein offner Aufstand
brach aus; er wurde mit raschen Schlägen bewältigt, ehe das zur Unterstützung
ausgesandte französische Lcmduugskorps eingetroffen war; auch dieses wurde
im August 1789 geschlagen.
Irland war bisher ein unterworfnes Land. Es hatte keinen Anteil an
englischen Freiheiten, ins englische Parlament zu Westminster durfte es keine
Abgeordneten entsenden. Die parlamentarischen Einrichtungen bezogen sich
nur ans das gelegentlich eingesetzte eigne irische Parlament zu Dublin.
William Pitt der Jüngere machte endlich 1800 den Versuch, das schwächere
Land mit dem mächtigern zu verschmelzen, indem er ihm volle Gleichberechtigung
in bezug auf das Parlament gab. Irland erhielt in beiden Häusern eine
entsprechende Anzahl Sitze, jedoch immer noch mit der auch für England
geltenden Einschränkung, daß nur Protestanten eintreten konnten. Pitt selber
war für die Katholikenemanzipation, konnte sie aber gegen den König nicht
durchsetzen.
Sofort begannen neue Kämpfe. Das katholische Jreutum fand seinen
Führer ein halbes Jahrhundert in O'Connell. Dieser tätige Agitator begann
mit der Forderung einer Gleichberechtigung der Katholiken. Und als seine
Popularität dadurch überwältigend wurde, ging er weiter; er verlangte die
Auflösung der Union zwischen den beiden Inseln, die Gewährung voller
Selbstverwaltung an Irland, allerdings unter dem englischen Könige, aber
nicht unter dem englischen Ministerium und dem englischen Parlament. Das
ist also schon ganz ausgesprochen das. was die Iren noch heute verlangen:
Homerule. Irland für die Iren. Die Gleichberechtigung der Katholiken setzte
1829 das liberale, nur dem Namen nach die Torypartei vertretende Ministerium
Peel durch. O'Connell trat nun ins Unterhaus ein. verlangte die Abschaffung
der anglikanischen Staatskirche und die Auslieferung des Kirchenguts an die
katholische Kirche; alsdann den Widerruf der Union (Repeal, woher er und
seine Partei die Nepealers genannt wurden). Darum drehte sich die irische
Geschichte die nächsten Jahrzehnte. Erfolge wurden jedoch nicht erreicht.
Häufig entstanden Straßenunruhen in den Städten und sonstige Gewalttaten
auf dem Lande. Die Führer verloren die Herrschaft über die leicht entzünd¬
lichen Massen. Die Regierungen, auch die liberalen, sahen sich genötigt, die
Bewegung gewaltsam niederzuwerfen, wozu eine Armee von 42000 Mann
nötig war. Als die Ruhe hergestellt war, gelang es dem liberalen Lord
Mulgrave, nach und nach die drückende Kirchenbausteuer und die Zehntenbill
abzuschaffen und dadurch die Gegensätze etwas zu beschwichtigen.
Für längere Zeit standen um die Iren meist auf feiten der Whig¬
partei, von der sie Reformen zu erwarten hatten, während die Tories Paddh
"ut seine Landsleute als völlig unverbesserlich ansahen. Die Tories wollten
von keiner Einschränkung der Eigentumsrechte der Grundbesitzer zugunsten der
Pächter etwas wissen. Unbeugsam verteidigten sie die anglikanische Kirche, die
von jeher mit ihnen im Bunde gewesen und geblieben ist. Alle die angli¬
kanischen Bischöfe. Dekane und Pfarrer, die in England ihre irischen Pfründen
ohne Gemeinden verzehren konnten, sowie der ganze Nachwuchs solcher Geist¬
lichen, der auf ähnliche Pfründen hoffte, war leidenschaftlich gegen irgend¬
welchen Verzicht zugunsten der Katholiken und protestantischen Nonkonfornnsten.
Als 1841 ein neues Torymmisterium gebildet wurde, flammte die Repeal-
bewegung von neuem so heftig auf. daß gewaltsame Maßregeln getroffen werden
mußten. O'Connell wurde der Prozeß gemacht? nur ein Formfehler rettete
ihn vor Strafe. Kurz vor seinem 1847 eintretenden Tode suchte er sein Pro¬
gramm der vollständigen Aufhebung der Union durch Föderation abzuschwächen.
Das raubte ihm viel von seiner Volkstümlichkeit.
Doch ein andrer, nicht in Menschendienst stehender Agitator hatte es
übernommen, das Jrentum aufzuregen: die Kartoffelkrankheit und in ihrem
Gefolge die Hungersnot. Irland war damals stark übervillkert. Große
Massen lebten nur von Kartoffeln. Als nun 1845 und 846 Krankh en
die Kuollenfrucht heimsuchten und zwei Jahre die Ernten seh schlugen wurde
die Bevölkerung wieder ernstlich unruhig. Gewalttaten mußten mit Gewaw
Mitteln niedergeschlagen werden. Es kam eine Massenanswanderu g nach
Amerika in Gang, und die Regierung beförderte sie mit allen Mitteln, ^n
sechs Jahren verließen fast zwei Millionen Menschen die Heimat. Doch stellte
sich damit noch keine ausreichende Erleichterung für die Zurückbleibenden ein.
Vielmehr steckte die französische Februarrevolution auch die Iren von neuem
an. Es bildete sich die jungirische Bewegung, die mit französischer Hilfe
das verhaßte englische Joch abschütteln zu können hoffte. Aber ehe die Ver¬
schwörung reif war, griff die Regierung durch, sodaß die Häupter nach einem
vergeblichen Aufstandsversuch in ihren Händen waren. Sie wurden zum Tode
verurteilt; die Gnade ermäßigte diese Strafe in Deportation. Die Insel lag
wehrlos zu den Füßen Englands.
Von einem wirklichen Frieden war man weit entfernt. Die Cholera
sorgte für neue Verbitterung. Neue Hoffnungen erwuchsen den Iren, als
jenseits des Ozeans die Massen zu einer Macht geworden waren, um die
jede amerikanische Partei buhlte. England war damals bei den Amerikanern
noch erzverhaßt, sodaß diese den Wühlereien nichts in den Weg legten. Da
im amerikanischen Bürgerkriege Englands Sympathien den Südstaaten gehört
hatten, so sah man im Norden den Iren durch die Finger. Schon 1858
entstand in den Vereinigten Staaten der Bund der Fenier (aus dem irischen
Fionna Eirinn), der die Unabhängigkeit Irlands mit gewaltsamen Mitteln er¬
strebte. In Chicago hielt man 1863, in Philadelphia 1865 ganz offen große
fernsehe Kongresse ab. Im Jahre 1863 tauchte der Bund auch in Irland auf, wo
vergeblich die Regierung ihn zu unterdrücken bemüht war. Wieder hatte sich
eine förmliche Verschwörung gebildet, die 1865 zur Ausrufung der Republik
führen sollte. Sie wurde verraten, sodaß die Regierung das ganze Nest aus¬
heben konnte. Wieder wurde die Habeaskorpuscikte suspendiert und ein Teil
der westlichen Grafschaften in Belagerungszustand versetzt. Die Gereiztheit
zwischen den Regierungen zu Washington und London veranlaßte die ameri¬
kanischen Fenier zu einem förmlichen bewaffneten Einfall nach Kanada. Dort
war man ihnen allerdings nicht wohlgeneigt, und da die kanadische Regierung
auf ihrer Hut war. so blitzte der Versuch ab, worauf sich dann auch die
amerikanische Regierung genötigt sah, der Wiederkehr ähnlicher Vorfälle vor¬
zubeugen. Daheim bildete sich nun immer mehr der Terrorismus aus, der
sich von Irland aus über einen großen Teil Europas verbreitet hat und jetzt
in Nußland an der Tagesordnung ist. Im Dezember 1367 versuchten Fenier,
ein Gefängnis in die Luft zu sprengen; auf den Herzog von Edinburg wurde
ein Attentat gemacht; 1872 bedrohte man sogar die Königin mit dem Revolver,
um sie zur Freilassung gefangner Fenier zu zwingen. Allein starke Ma߬
regeln der englischen Regierung bewirkten doch das allmähliche Hinsiechen des
Fenianismus.
Eine so ernste Erscheinung konnte doch nicht verfehlen, auch in England
selbst den tiefsten Eindruck zu machen. Aus politischen wie aus philosophischen
Gründen kam man immer wieder darauf zurück, daß die Verhältnisse der
Insel von Grund aus geändert werden müßten, schon um England zur Ruhe
kommen zu lassen. An Opferwilligkeit fehlte es nicht. Und zwar verkörperte
sich diese vorzugsweise in der Whigpartei unter Gladstones Führung. Zuerst
ging man an die Aufhebung der anglikanischen Staatskirche. Das Gesetz
von 1869 verteilte alle Kirchengüter unter die Konfessionen nach Maßgabe
der ihnen zugetanen Bevölkerung. Im nächsten Jahre kam die irische Land¬
bill. Ju Irland wie auch in England gibt es wenige Bauern und wenige
selbstwirtschaftende Großgrundbesitzer. Typisch ist, daß der Grund und Boden
unter die Landlords verteilt ist, und daß diese ihn in kleinen Farmer ver¬
pachten. Das alte Gesetz war nachteilig für die Pächter, weil es ihnen keine
Entschädigung für durchgeführte Meliorationen gewährte; das neue sprach
ihnen solche zu. Ein drittes Gesetz, die Universitätsbill, die das höhere
Unterrichtswesen zugunsten der Katholiken regeln sollte, wurde vom Parlament
abgelehnt.
Das war der Anlaß zum Rücktritt des liberalen Ministeriums im Jahre 1874.
Auch die Iren selber hatten bereits das ihrige getan, um die Reformpolitik
Zu diskreditieren. Sie begnügten sich nicht einmal vorübergehend mit dem
Erreichten. Vielmehr riefen die Advokaten Butt und Sullivcm 1872 eine neue
Organisation ins Leben, bestimmt, die Trennung der Insel von England durch¬
zuführen. Die Geschicke Irlands und manchmal auch die innere Politik Englands
wurden nun durch die Wühlereien der Homerulepartei bestimmt. Bald brachte
"le „irische Brigade" im Parlament zu Westminster die Verhandlungen ins
Stocken, bald durchzogen Banden Vermummter, die berüchtigten Mondschein¬
banden, nachts die ländlichen Gegenden, um die ihnen verhaßten Grundbesitzer,
Pächter, Beamten zu ermorden oder ihre Häuser und Wirtschaftsgebäude an¬
zuzünden. Die Übeltäter wurden kaum jemals ermittelt, da jeder Zeuge die
Rache der Partei zu fürchten gehabt hätte. Seit 1880 kam ein neues Verfahren
"uf. Ein Kapitän namens Boykott wurde in Verruf erklärt, sodaß kein Ire
für ihn arbeitete, von ihm kaufte oder an ihn verkaufte. Er konnte kein Brot
kaufen, kein Pferd beschlagen lassen, seine Ernte nicht einbringen. Von daher
kommt das Wort bohkottieren. Die Regierung war an die Tories übergegangen,
die sie von 1874 bis 1880 behaupteten. Beaconsfield vertrat den Gedanken,
baß, da die Reformen nichts genützt Hütten, mit weitern Zugeständnissen inne
Zu halten sei. Er hielt ein strenges Regiment. Noch vor dessen Ende hatte
Ach eine neue irische Organisation gebildet, die Landliga, an deren Spitze
em Protestant, Parnell, trat. Sie zielte weniger auf die Trennung der Insel
bon England, als, wenigstens vorläufig, auf durchgreifende agrarische Reformen
und Selbstverwaltung, In ihrem Verfahren war sie womöglich noch schärfer
die Homerulepartei.
Dagegen nahm Gladstone, der aufs neue Ministerpräsident geworden war,
die Neformpolitik wieder auf. Er strebte in einem neuen Landgesetz die Schaffung
von Bauernstellen an; er gewährte den Pächtern das Recht, ihre Pachtungen
zu verkaufen, und das viel eigenartigere Recht, mit einem fest abgeschlossenen
Pachtkontrakt zum Gericht zu gehn und Herabsetzung des Pachtschillings zu
verlangen (tair rsnt). Wieder zeigte sich, daß mit den Iren keine politischen
Geschäfte zu machen sind. Die Liga wies alles als ungenügend zurück; sie
wollte nicht tair rsnt, sondern on> reut, also entschädigungslos« Aufhebung
des Eigentumsrechts und Auslieferung des Grundbesitzes an die irische Land¬
bevölkerung, die sich noch heute als die Rechtsnachfolgeriu der von den Tudors
und Cromwell Vertriebnen Besitzer ansieht. Nichts macht es ihr aus, daß das
in keinem Einzelfall mehr nachzuweisen ist, und daß die heutigen Besitzer ohne
Ausnahme durch loyalen Kauf oder Erbgang das Eigentum erworben haben.
Das konnte Gladstone ihr natürlich nicht zugestehn, keine englische Negierung
wird das jemals können. Wenn nun Parnell und die offizielle Leitung der
Liga auch bemüht waren, offne Ungesetzlichkeit zu verhüten, so geschah diese
doch massenweise. In Amerika bildete sich unter O'Donnovan Rossa eine
Gesellschaft zur Unterstützung des Terrorismus und des Dynamitardentums in
irischen Angelegenheiten. Nicht nur Geld wurde herüber gesandt, sondern auch
mancher entschlossene Mordgeselle. Man tat alles, um den Eifer der Heimischen
anzuspornen. In Irland hatte sich im November 1381 die Mördergesellschaft
der „Irischen Unüberwindlichen" gebildet, die an Terrorismus alles übertraf,
was sogar Irland bisher aufzuweisen gehabt hatte. Dabei konnte Gladstone
nicht untätig bleiben. Er löste die Landliga polizeilich auf. Parnell, 1880 schon
einmal wegen Organisierung des Boykotts angeklagt, jedoch freigesprochen, wurde
1881 von neuem verhaftet.
Nun folgten sensationelle Ereignisse rasch aufeinander. Gladstone ließ
Parnell, den Gefangnen, zu sich kommen und hatte eine geheime Unterredung
mit ihm, deren Inhalt, der sogenannte „Pakt von Kilmainham", niemals
authentisch bekannt geworden ist. Das war im April 1882, und schon am 6. Mai
setzte ein neuer irischer Mord, wohl der sensationellste von allen, die Welt in
Aufregung. Angesichts des vizeköniglichen Schlosses zu Dublin, im Phönixpark,
ging Lord Frederic Cavendish, Bruder des Ministers Lord Hartington (des
jetzigen Herzogs von Devonshire) und Staatssekretär für Irland, mit seinem
Unterstaatssekretär spazieren. Es war am hellen Tage. Plötzlich stießen einige
ihnen entgegenkommende Männer ihnen Messer in die Brust, worauf sie tot
zu Boden stürzten. Die Mörder entkamen und wurden niemals erwischt. Vom
Schlosse aus hatte man die Szene beobachtet, ohne zu ahnen, um welche beiden
Herren es sich handelte; man hatte geglaubt, es spiele sich eine der dort nicht
seltenen Schlügereien ab. Niemand vermutete, daß Parnell irgendetwas mit
der Schandtat zu tun habe, doch stieg die Erbitterung gegen Gladstones iren-
freundliche Politik immer mehr. Parnell war eine Macht im Parlament zu
Westminster; seine Partei war 68 Mann stark und wie schon so häufig das
Zünglein der Wage zwischen Whigs und Tories. Gladstone war noch der
Führer der liberalen Wählerschaft, er brachte 1884 eine Wahlgesetzreform durch,
aus der sich eine Verdoppelung der Zahl der Wähler ergab. Aber sein Ansehn
hatte durch allerlei Dinge ernstlich gelitten: das Bombardement von Alexandrien,
das Zurückweichen vor Rußland in Afghanistan, die Eroberung Khartums
durch den Mahdi und seine Anhänger, wobei namentlich der Tod Gordons die
Nation empörte. Er und seine Ministerkollegen benutzten einen ganz neben¬
sächlichen Anlaß — die Herabsetzung eines kleinen Bndgetpostens durch das
Unterhaus im Budget Campbell-Bannermans, des damaligen Kriegsministers
und jetzigen Premiers —, um zurückzutreten. Lord Salisbury mußte die Negierung
übernehmen, und da die seindliche Unterhausmehrheit noch vorhanden war, im
Herbst 1885 das Parlament auflösen. Das hatte Gladstone gewollt, denn die
Tories haben bei eignen Parlamentsauflösungcn herkömmliches Wahlunglück.
Sie erlitten es auch diesesmal. Aus dem neuen Parlament, das neben 251 Tories
und 333 Liberalen 86 Iren enthielt, ging wieder ein Whigministerium hervor,
das letzte, das mit diesem Namen bezeichnet werden kann. Es umfaßte die
alten freihündlerischen Whigs, wie den spätern Herzog von Devonshire und
Goschen; Radikale, die die alsbald aufs Tapet kommenden Zugestündnisse an
Irland nicht mitmachen wollten: Chamberlain und den alten John Bright;
endlich Gladstone und seine nächsten Freunde, Campbell-Bcmnerman, Harcourt,
Asquith.^Morley, Gladstones Politik sollte diesen Bund bald sprengen.
le zweite Hälfte des vergangnen Jahrhunderts hat uns eine
wirtschaftliche und politische Umwälzung gebracht, wie sie kein
andres Land in so kurzem Zeitraum erlebt hat. Von einer Wirt¬
schaftsstufe, die noch etwas kleinbürgerliches an sich hatte, sind wir
überraschend schnell zur Großunternehmung, zum Kapitalismus
vorgeschritten. Unzählige einstmals selbständige Existenzen wurden vernichtet
und in die Klasse der unfreien Arbeiter hinabgedrückt, unzählige andre wurde,?
von der heimatlichen Scholle losgelöst. Eine Binnenwanderung sondergleichen
hatte zur Folge, daß das platte Laud und besonders die kinderreichen östlichen
Provinzen entvölkert, daß im Westen auf Kosten des Ostens, in den Städten
auf Kosten des Lands große Mengen von Menschen angehäuft wurden, und
daß gerade die aus dem Osten kommenden, in der Kultur zurückgebliebnen
Elemente in übergroßer Zahl mit dem entnervenden und entsittlichenden Leben
der Großstädte in Berührung kamen. Gefördert wurde diese Bewegung durch
die nationale Einigung, und die Begeisterung einer großen Zeit scheuchte auch
die Kleinmütigen und Schwachen, die Kurzsichtige,, und Wankelmütige« ans
und hob sie über ihre eigentliche Bedeutung hinaus, ließ sie größer erscheinen,
als sie waren.
Aber eine so hochgespannte Stimmung konnte nicht anhalten. Der Über¬
gang vom Kleinbetrieb zur Weltwirtschaft, von dem doch engen politischen Leben
eines im wesentlichen binnenstaatlichen Volks zur Weltmacht war zu schnell,
zu unvermittelt gewesen. Das deutsche Volk war nicht organisch hineingewachsen
in die neuen, großen Verhältnisse, es war uuter der Führung großer Männer
und unter der Gunst der Umstände Hals über Kopf in sie hineingestürzt. Es
war äußerlich und innerlich völlig umgestaltet, aber es war noch nicht in einer
langen Schule der Erfahrung in sich gefestigt, noch nicht politisch reif geworden
für die neuen Aufgaben, die nun zu erfüllen waren. Norden und Süden waren
noch nicht zusammengewachsen. Und diesem von Grund aus aufgewühlten, in
sich noch nicht gefestigten Volke gaben wir nach dem siegreichen Kriege, der
nicht den Abschluß einer langen Entwicklung, sondern den Beginn unsers
nationalen und politischen Lebens bezeichnet, das demokratischste aller Wahl¬
rechte, das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht.
Es ist lehrreich, zu betrachten, wie vorsichtig die Engländer bei dem Ausbau
ihres Wahlrechts verfahren sind. Bis zum Jahre 1832 beherrschte der englische
Adel nicht nur das Oberhaus, sondern auch das Unterhaus, weil er über die
verrotteten Burgfleckcn verfügte, in denen ein großer Teil der Abgeordneten
gewählt wurde. Der Einfluß in diesen rotten dorou^Z wurde wie Eigentum
veräußert und vererbt und mit lo.ters8t bezeichnet. Man sprach von einem
Lsätorä-intersst, einem U'öveg.Leis-intsrkst, je nachdem der Herzog von Bedford
oder der von Newcastle bei der Parlamentswahl über den Ort verfügte. Bei
der Reform von 1832 wurde der Kreis der Wahlberechtigten nur wenig er¬
weitert, dagegen das Vorrecht dieser Wahlflecken beseitigt und eine gerechtere
Verteilung der in Stadt und Land zu wählenden Abgeordneten herbeigeführt.
Ein im Jahre 1867 von dem konservativen Ministerium Derby-Disraeli ein¬
gebrachtes Gesetz führte dann folgende Erweiterungen des Wahlrechts ein:
1. In den Grafschaften wurde für die auf Eigentum beruhende Wahl¬
berechtigung die Forderung eines Reinertrags von zehn Pfund Sterling auf
fünf Pfund Sterling herabgesetzt und die bisher nur in den Städten geltende
0oouvation-trg,Qe,Irish eingeführt. Doch mußte der Wähler seit zwölf Monaten
vor der Wahl ansässig sein und das liegende Gut, das ihn zur Wahl berechtigte,
einen Reinertrag von zehn Pfund Sterling abwerfen.
2. In den Städten wurden zwei Berechtigungen neu eingeführt. Es
erhielten das Wahlrecht die Mieter, die einen jährlichen Mietzins von zehn
Pfund Sterling zahlten und zwölf Monate vorher eingetragen waren, und
außerdem die Inhaber eines selbständigen Haushalts, die ein Haus oder
den Teil eines Hauses bewohnten, zwölf Monate vor dem 15. Juli des
Wahljahres zur Armensteuer eingeschützt waren und diese Steuer auch be¬
zahlt hatten.
Gladstones Reform von 1884 übertrug dann die in den Städten ein¬
geführten Wahlrcchtserweiterungen auch auf das platte Land. Von allgemeinem
Wahlrecht war keine Rede. Schon die äußere Entwicklungsgeschichte des aktiven
Wahlrechts zum Unterhause, sagt Hatschek*). zeigt den innigen Zusammenhang
dieses Rechts mit der realen Grundlage, Grund und Boden. Das aktive Wahl¬
recht ist schon seit früher Zeit als eine Pertinenz und ein Annex des Grund¬
besitzes, als ein im Grundbesitz steckender Besitz aufgefaßt worden und wird
auch heute uoch so aufgefaßt. Als das radikal gesinnte Haus Cromwells die
Einführung des allgemeinen Wahlrechts verlangte, wurde die Forderung vom
Parlament zurückgewiesen mit der Bemerkung, das Wahlrecht sei Property,
sei Eigentum oder eine aus dem Eigentum fließende Befugnis. Eigentum in
diesem Sinne ist aber für den Engländer Grundeigentum, nur daß der Begriff
des Grundeigentums in den Nesormgesetzen eine weitere Auslegung erfahren
hat. Wahlberechtigungen auf der Grundlage von beweglichem Vermögen nennen
die Engländer spöttisch taro^-kranenisW, Phantasiewahlrechte, und als Disraeli
versuchte, ein solches Wahlrecht einzuführen, scheiterte dieser Versuch.
In Deutschland ist jeder fünfuudzwanzigjührige Mann wahlberechtigt, der
nicht unter Vormundschaft steht, sich nicht im Konkurse befindet, der keine
Armenunterstützung empfängt und den Genuß der staatsbürgerlichen Rechte
nicht durch richterliches Erkenntnis verloren hat; andre Schutzwehren gegen
Mißbrauch des Wahlrechts aufzurichten fand man nicht für nötig. In England
sind alle vom Wahlrechte ausgeschlossen, die besitzlos sind und kein Interesse
an der Erhaltung des Staats haben, die also bei einer Umwälzung nur ge¬
winnen können: in Deutschland geben die besitzlosen Massen den Ausschlag.
Die doktrinären Liberalen Deutschlands, die es lieben, immer mehr Rechte und
Freiheiten zu fordern, haben sich von jeher auf England und das freiheitliche
englische Verfassungslebcn berufen. Sie haben es wohl übersehen, die Ent¬
wicklung des englischen Wahlrechts zu studieren, als sie Bismarck zwangen, bei
Einführung des Reichstagswahlrechts noch mehr zu gewähren, als er schon zu
gewähren bereit war, und sie sind ihrem englischen Vorbilde auch jetzt wohl
nicht getreu, wenn sie sich bemühen, das Neichstagswahlrecht auch noch in den
Bundesstaaten einzuführen.
Daß das allgemeine gleiche Wahlrecht das ungleichste aller Wahlrechte
ist. darüber kann doch kein Zweifel bestehn. Es geht zurück auf Rousseaus
Fiktion von der Gleichheit der Menschen, während doch jeder Tag lehrt, wie
ungleich die Menschen sind. Nicht die zur Herrschaft berufne gebildete Minder¬
heit gibt den Ausschlag, sondern die Massen tun es, und es fordert dieses
Wahlrecht geradezu heraus, die Massen demagogisch zu umschmeicheln. Es
Uegt aber auf der Hand, daß Demagogen um so leichtere Arbeit haben mußten
bei einem Volke, das bis vor kurzem in einem Zustande binnenstaatlicher Klein-
wirtschaft gelebt hatte, das dann von Grund aus aufgewühlt nud ungeschichtet
worden war, das aber zugleich politisch noch uicht geschult und gereift war
für die große» Aufgabe» einer neuen Zeit.
Die Wirkungen konnten nicht ausbleiben. Schon im Jahre 1863 hatte
Lassalle de» Allgemeinen deutschen Arbeiterverein gegründet, dessen Programm
sich aber noch nicht wesentlich von dem des liberalen Radikalismus unterschied.
Der Verband deutscher Arbeitervereine nahm dann 1868 unter dem Vorsitze
von Bebel das internationale und revolutionäre Programm von Marx an,
und 1869 konstituierte sich in Eisenach die sozialdemokratische Arbeiterpartei.
Im Norddeutschen Bunde war ja das allgemeine Wahlrecht schon im Jahre 1867
eingeführt worden, und so konnten dem ersten gesetzgebenden Reichstage des
Norddeutschen Bundes schon sieben Sozialdemokraten angehören. Bei den
Wahlen des Jahres 1870 wurden bereits 3,3 Prozent aller Stimmen für
Sozialdemokraten abgegeben, und nun ging es reißend schnell vorwärts. Für
die revolutionäre Partei wurden Stimmen abgegeben 1877: 493258, 1884:
549990, 1887: 763128, 1890: 1427298, 1898: über zwei Millionen, 1903
drei Millionen, 1907 dreieinviertel Millionen Stimmen. Wir haben zu unsrer
Genugtuung erlebt, daß trotz dieses abermaligen Zuwachses an Stimmen die
revolutionäre Partei bei den Wahlen im Januar und Februar 1907 nicht
weniger als 38 Sitze verloren hat, weil das Bürgertum endlich die Kraft
gefunden hat, sich zusammen zu schließen und einen bedeutenden Teil der „Partei
der NichtWähler" mobil zu macheu. Aber die Tatsache, daß die Sozialdemokratie
anch jetzt wieder eine große Zahl neuer Anhänger gewonnen hat, bleibt doch
bestehn, ein Stillstand in der Entwicklung der Partei ist bisher nicht eingetreten,
und man wird also damit rechnen müssen, daß künftige Wahlen, die vielleicht
in einer weniger glücklichen Stunde stattfinden, wieder ein ungünstigeres Bild
zeigen. Auch jetzt und gerade jetzt ist also die Frage berechtigt, wie dieses
stündige Wachstum der Sozialdemokratie zu erklären ist, was getan worden ist,
es zu hindern, und was etwa noch hätte geschehen müssen, welche Fehler also
gemacht worden sind, und was in Zukunft zu geschehen hat, um diese Krankheit
unsers Volkstums zu heilen.
Es kann nicht genügen, den zunehmenden Materialismus aller Kreise des
Volks zu beklagen und in ihm die Wurzel alles Übels zu suchen zu einer Zeit,
wo das Bürgertum eben die Kraft bewiesen hat, den Einfluß der Sozialdemokratie
so stark einzuschränken, wie es geschehen ist. Durch die letzten Reichstagswahlen
ist unsre ganze politische Lage geändert worden. Jedem politisch einsichtigen ist
es längst klar gewesen, daß es ein Verbrechen wäre, an dem Reichstagswahlrecht
zu rütteln, daß schon der Versuch dazu unübersehbare Erschütterungen nach sich
ziehen müßte. Der Ausfall der letzten Wahl wird hoffentlich die wohltätige
Folge haben, daß alle unfruchtbaren und schädlichen Erörterungen über die
Änderung des Wahlrechts endgiltig verschwinden, weil der Nachweis geliefert
worden ist, daß dieses Wahlrecht, so viele unerfreuliche Nebenwirkungen es
auch haben möge, uns doch nicht hindern kann, zu einem erträglichen inner-
Politischen Zustande zu kommen, wenn nur die führenden Schichten des Volks
wissen, was sie wollen, und die Kraft finden, die als richtig erkannten Bahnen
zu wandeln. Gerade jetzt bei der veränderten politischen Lage ist es deshalb
angebracht, die Frage zu stellen: Was haben wir getan, die schädlichen Wirkungen
des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts nach Möglichkeit aufzuheben,
die Massen der Wähler immun zu machen gegen das Gift der demagogischen
Verhetzung, sie reif zu machen für einen vernünftigen Gebrauch der Rechte, die
sie empfangen haben, und ihr Verständnis dafür zu wecken, daß den Rechten
Pflichten gegenüberstelln, ohne deren Erfüllung ein Staatswesen nicht gesund
bleiben kann. Den sozialen Frieden haben wir zu erreichen gesucht durch das
Riesenwerk unsrer sozialpolitischen Gesetzgebung. Auf die Bedeutung und die
Leistungen dieses einzig in der Welt dastehenden Unternehmens einzugehn ist
nicht der Zweck dieses Aufsatzes. Hier muß genügen, darauf hinzuweisen, daß
die deutschen Arbeiter die Wohltaten dieser Gesetzgebung hingenommen haben,
daß aber der Dank dafür ausgeblieben ist. Nicht zum sozialen Frieden sind
wir gelangt, sondern der Klassenhaß ist ständig gewachsen. Die Sozialdemokratie
hat die zugunsten der Arbeiter gemachten Gesetze, besonders das Gesetz über
die Krankenversicherung, im Interesse ihrer Organisation so auszunutzen ver¬
standen, daß die Gegensätze vielfach nicht ausgeglichen, sondern verschärft
worden sind. Dazu kommt, daß unsre sozialpolitische Gesetzgebung neben den,
vielen Segen, den sie geschaffen hat, als unerfreuliche Begleiterscheinung eine
neue Krankheit gebracht hat, die Rentensucht. Die weitesten Kreise unsers Volks
hat diese Krankheit befallen. Wer Jnvcilidenmarken klebt, wer der Unfall¬
versicherung angehört oder Krankenrassenbeiträge zahlt, glaubt auch Anspruch
auf eine Rente oder auf Leistungen der Krankenkasse zu haben, und wer einen
wirklich begründeten Anspruch nicht nachweisen kann, sucht sein Ziel auf Um¬
wegen zu erreichen. Heuchelei, Lug und Trug siud geradezu großgezogen worden,
und was das Schlimmste ist. das Pflichtgefühl, selbst für die eigne Zukunft
und für die der Familie zu sorgen, ist zurückgedrängt, das Verantwortlichkeits-
gefühl geschwächt worden. Rechte, aber keine Pflichten, vom Staate alles
verlangen, das ist die Parole. Wenn den: neuen Reichstage in der Thronrede
und vom Reichskanzler die Fortführung der sozialpolitischen Gesetzgebung an¬
gekündigt worden ist, so ist das gewiß mit Freude zu begrüßen, daß wir aber
auf diesem Wege allein zu gesunden politischen Verhältnissen kommen werden,
das darf man nach den bisher gemachten Erfahrungen doch kaum erwarten.
Es wird andrer Mittel und Wege bedürfen, und diese werden wir nur finden
können, wenn wir ausgehn von den Ursachen der Übelstände, um denen wir
kranken.
Wir haben in frühern Artikeln versucht, nachzuweisen, daß die krankhaften
Zustände unsers Volkslebens zurückzuführen sind auf die soziale und räumluhe
Umschichtung der Bevölkerung, die ihrerseits eine Folge der überstürzten
industriellen Entwicklung ist; und wir haben ferner darauf hingewiesen, daß die
politische Einigung, der Übergang vom binnenstaatlichen und zum Teil klein-
staatlichen Leben zur Weltpolitik und Weltwirtschaft für unser Volk zu un¬
vermittelt kam, daß die Vorbereitung und Schulung fehlte, und damit auch das
Verständnis für die Aufgaben einer neuen Zeit. Auf der Grundlage der Um¬
schichtung des größten Teils unsers Volks und der kapitalistischen Entwicklung
ist der Klassenhaß entstanden; der Mangel an politischer Schulung hatte zur
Folge, daß sich die Massen Führern anvertrauten, deren Ziel es nicht ist, die
Lage der handarbeitenden Klassen innerhalb der Gesellschaftsordnung möglichst
glücklich und gesund zu gestalten, die vielmehr danach streben, diese Gesellschafts¬
ordnung zu zerbrechen, ohne daß sie anzugeben vermögen, was sie an deren
Stelle setzen wollen, und obgleich die Entwicklung der letzten Jahrzehnte gerade
den Arbeitern eine solche Besserung ihrer materiellen Lage gebracht hat, daß
selbst die Utopisten der roten Partei Lassalles Lehre vom ehernen Lohngesetz
als unhaltbar haben fallen lassen müssen. Sollten die Ursachen unsrer Krank¬
heit im wesentlichen richtig angegeben sein, so ergeben sich daraus auch von
selbst die Mittel zur Heilung der Krankheit, dann muß die Losung für die
Zukunft heißen: Bevölkernugspolitik und nationale politische Erziehung.
Wir haben uns daran gewöhnt, vom vierten Stande zu sprechen. So wie
in der französischen Revolution der dritte Stand, das Bürgertum auftrat und
politische Rechte für sich forderte neben Adel und Klerus, so sind im neun«
zehnten Jahrhundert die breiten Massen ans den Plan getreten und haben den
Ruf nach politischer Gleichberechtigung erhoben. In Deutschland haben wir
ihren Forderungen so weit nachgegeben, wie nur möglich war, indem wir uns
die Fiktion von der Gleichheit der Menschen zu eigen machten und dem Arbeiter
dieselben politischen Rechte gewährten wie dem geistig Gebildeten, dem Besitz¬
losen dieselben Rechte wie dem durch Besitz an der Erhaltung des Staates
Interessierten. Und nun haben wir uns daran gewöhnt, alle, die sozial unter
dem Bürgertum stehn, als eine einheitliche Masse zu betrachten und sie zusammen¬
zufassen unter dem Begriffe des vierten Standes. Bestärkt worden sind wir
darin durch die Tatsache, daß der größte Teil der Leute, die dieser untersten
Klasse angehören, zur Fahne der Sozialdemokratie schwört, sodaß der Anschein
erweckt wird, als ob diese Massen tatsächlich in ihren Interessen solidarisch
seien. Wenn man näher zusieht, erkennt man, daß hier ein Irrtum vorliegt.
Masse im eigentlichen Sinn, Proletariat, ist nur die unterste Schicht, sind nur
die Menschen, die keine regelmäßige Arbeit haben, vielfach nur deshalb, weil
sie sie gar nicht suchen. Diese Schicht umfaßt die unruhigen und unzuverlässigen
Elemente, denen man nicht beikommen kann, die zu heben und zu fördern
niemals gelingen wird, weil ihnen Arbeitsamkeit und Streben fehlt. Darüber
steht die große Zahl der arbeitsamen, ungelernten Arbeiter, die, im wesentlichen
auf ihre Muskelkraft angewiesen, von der wechselnden Konjunktur abhängig
sind. Sie haben hohe Löhne, aber bei den teuern Lebensverhältnissen in den
Industriegebieten auch hohe Ausgaben für ihre Lebenshaltung, meist auch schlechte
und enge Wohnungen. Dieser Klasse der ungelernten Arbeiter gehören die vielen
vom Lande und besonders aus dem Osten zugezognen landwirtschaftlichen Arbeiter
an, die von den hohen Löhnen und den städtischen Vergnügungen angelockt die
gesunde Arbeit des Landmannes mit der Arbeit an der Maschine oder im
Schacht der Bergwerke vertauschen, die von der Scholle losgelöst eine Heimat
verloren, aber keine neue Heimat gewonnen haben. Diese Klasse der industriellen
Arbeiter stellt hauptsächlich die Rekruten für die Arbeiterbataillone der Sozial-
demokratie. Hier finden sich in großer Zahl die unzufriednen Elemente, weil
die dieser Klasse angehörenden Arbeiter meist kein Eigentum haben, weil die
ständige Steigerung der Wohnungsmieten und der Preise für Lebensmittel den
Mehrverdienst aufzehren, und weil eigne UnWirtschaftlichkeit und die der meist
ebenfalls in der Industrie aufgewachsnen Frauen jeden Fortschritt hindern.
Weit über dieser Klasse stehen die gelernten Arbeiter, die zum Teil sehr
hoch bezahlt werden und bei einem Umschlag der Konjunktur nicht Spreu vor
dem Winde sind. Und endlich kommen in Betracht die vielen aus dem Arbeiter¬
stande hervorgegangnen Angestellten der Industrie. Werkmeister und ähnliche
in einer Art Beamtenstellung stehende Personen, die man als die Elite der
Arbeiterschaft bezeichnen kann. Will man sich an den vierten Stand wenden
und den Versuch machen, möglichst viele der ihm Angehörenden auf die Seite der
staatserhaltenden Parteien herüberzuziehn, so wird man sich, da es nicht möglich
sein wird, die in langer Zeit versäumte Arbeit schnell nachzuholen, zunächst an
die obersten Schichten des vierten Standes wenden und schrittweise weitergehn
müssen. Man wird versuchen müssen, zunächst die Schichten, die dem Mittel¬
stande am nächsten stehn, dann aber auch möglichst viele von der großen Zahl
der ungelernten Arbeiter mit den Interessen des Staats zu verbinden, und das
kann nur geschehen, indem man ihren Sparsinn anregt und ihnen zu Eigentum
verhilft. Wer etwas zu verlieren hat, wird in der Stunde der Gefahr auf der
Seite der Besitzenden stehn. Daß das richtig ist, hat in der Sitzung des
preußischen Abgeordnetenhauses vom 27. Februar 1907 der Abgeordnete Prietze
bestätigt, indem er sagte: „Ich wollte weiter ausführen, wie sich die Besitz¬
verhältnisse der Bergleute an der Saar im Jahre 1905 ergeben haben. Es
hat sich herausgestellt, daß von 46489 Bergleuten 18223. also ungefähr
46 Prozent Hausbesitzer waren. Nun kann man doch annehmen, daß die ledigen
Leute überhaupt noch nicht Hausbesitzer waren, und da 60 Prozent aller Leute
verheiratet sind, so sind im Durchschnitt 65 Prozent der Verheirateten Haus¬
besitzer und daneben etwa 37 Prozent Besitzer von Wiesen, Gärten und Ländereien.
Damit kann sich der Nuhrbergmann nicht vergleichen. Der Saarbergmann spart
in jungen Jahren, um sich, wenn er es noch nicht von seinen Eltern ererbt
h°t. ein Haus zu erwerben, und dieses Bestreben geht durch die ganze Be¬
völkerung. Wenn eine Frau das Unglück gehabt hat, ihren Mann zu verlieren,
ist sie bestrebt, sich das Haus zu erhalten, und wir haben es beim Redener
Unglück zu unsrer Freude erlebt, daß die erste Sorge der Witwen war, es
möchte ihnen ihr Häuschen erhalten werden."
Derselbe Abgeordnete faßte dann sein Urteil über die Folgen dieser günstigen
Eigentumsverhältnisse und über die Folgerungen, die für eine praktische Politik
daraus zu ziehn sind, in folgenden Worten zusammen:
„Man muß die günstigen sozialen und politischen Verhältnisse an der
Saar in erster Linie den günstigen Besitzverhültnissen zuschreiben. Wir haben
infolgedessen bei der letzten Reichstagswahl im Bezirk Saarbrücken nicht ganz
3000 sozialdemokratische Stimmen und im Kreise Ottweiler sogar nur 500
gehabt. Die Leute kommen gar nicht dazu, den sozialdemokratischen Utopien
nachzujagen. Deshalb bitte ich unsre Staatsverwaltung dringend, in der
bisherigen Ansiedlungspolitik fortzufahren. Ich halte es nicht für richtig, daß
man in letzter Zeit mehr Mietwohnungen gebaut hat. Es finden die Saarberg¬
leute kein besondres Vergnügen an diesen Mietwohnungen, wenn sie sie auch,
vorläufig gern annehmen. Es ist in der Presse schon ausgesprochen worden,
man möchte allmählich diese jetzt erbauten Mietwohnungen den Bergleuten als
Eigentum zuweisen. Diesen Wunsch möchte ich befürworten. Ich bitte deshalb
dringend, Hausbauprämien zu bewilligen, billige Baugrundstücke bereit zu stellen,
wie es die Forstverwaltung hier und da schon getan hat, und mit sonstigen
Unterstützungen an die Bergleute zum Bau von Häusern mit billigen Hypotheken
aus der Knappschaftskasfe vorzugehn."
Eine solche Feststellung, wie sie hier von sachkundiger Seite erfolgt ist,
hat mehr Wert als langatmige sozialpolitische Untersuchungen. Man wird
ruhig annehmen können, daß man in jedem Arbeiter, dem man zu einem kleinen
Hause verhilft, einen Staatsbürger gewonnen hat, auf den man zählen kann.
Eine Wohnungspolitik, die dieses Ziel verfolgte, müßte unbedingt günstige
Wirkungen haben. Nun ist allerdings auf diesem Gebiete manches erreicht
worden, besonders in Rheinland und Westfalen sind durch die gemeinnützigen
Bauvereine hübsche und gesunde Arbeiterhäuser in großer Zahl errichtet worden,
aber daß das Geschaffne für die große und immer wachsende Zahl der gerade
in diesem Jndustriebezirk vorhandnen Arbeiter nicht ausreicht, kann keinem Zweifel
unterliegen. An einer Staatspolitik, die bewußt darauf hinarbeitet, möglichst
vielen Arbeitern zu einem eignen Hause zu verhelfen, hat es in Preußen
wenigstens bisher gefehlt. Das preußische Bausluchtliniengesetz von 2. Juli 1875
kennt nur polizeiliche Rücksichten, jeder soziale Gedanke ist ihm fremd. In
welcher Weise das künftige Gesetz, an dessen Vorbereitung seit langer Zeit
gearbeitet wird, die Bebauung regeln wird, ist nicht bekannt, aber das scheint
doch klar zu sein, daß es den Aufgaben unsrer Zeit nur gerecht werde» wird,
wenn die im Saarrevier und an vielen andern Stellen gemachten Ersahrungen
berücksichtigt werden, wenn also mit diesem Gesetze planmäßig darauf hin¬
gearbeitet wird, aus besitzlosen Arbeitern Eigentümer zu schaffen. Wird zugleich
von der Erbpacht Gebrauch gemacht, so ist die Gefahr ausgeschlossen, daß eine
solche Förderung des Arbeiterwohnungswesens zu Spekulationszwecken aus¬
gebeutet wird. Die politischen und sozialen Wirkungen einer solchen Wohnungs¬
politik würden nicht ausbleiben. Wenn die englischen Arbeiter anerkanntermaßen
Politischen Utopien weniger zugänglich sind als die deutschen, so liegt das doch
gewiß zum Teil auch daran, daß so viele von ihnen nach guter englischer Art
ihr eignes kleines Haus haben. Etwas muß jeder haben, woran er sich auf¬
richten, eine Stelle, an der er sich wohlfühlen kann. Menschen, die in engen
Gassen drei oder vier Treppen hoch in eine schlechte, oft ungesunde Wohnung
eingesperrt sind, ohne Luft und ohne Licht, die können zu keiner Freude am
Leben kommen. Das Wirtshaus ist ihre Erholung, und die Sozialdemokratie,
die ihnen Besserung ihrer Lage verspricht, ihre Zuflucht. Die Kinder aber, die
in diesen Verhältnissen aufwachsen, die können kein Geschlecht werden, dem der
Staat unbesorgt seine Zukunft anvertrauen kann. Es muß auch in Deutschland
dahin kommen, daß die Menschen nach Möglichkeit wieder nebeneinander, statt
übereinander wohnen, daß recht viele Arbeiter wieder ein Heim bekommen und
damit eine Heimat. Nur so wird es gelingen, ein Geschlecht heranzuziehn, das
geistig und körperlich gesund ist.
Da es nun aber selbstverständlich nicht möglich ist. den Arbeitern die
Hauser zu schenken, was übrigens, selbst wenn es möglich wäre, auch ganz
verkehrt wäre, so muß zugleich der Sparsinn der Arbeiter geweckt und gefördert
werden. Unser kommunales Sparkassenwesen reicht dafür bei weitem nicht aus.
Wenn große Industriestädte nur an zwei oder drei Stellen ihres Stadtgebiets
Filialen der Sparkasse haben, so ist es klar, daß das nicht genügen kann, die
Arbeiter zur Sparsamkeit zu erziehn. Mau ist immer geneigt, über alle mög¬
lichen Schäden und Mängel zu klagen, so auch darüber, daß der deutsche
Arbeiter zuwenig bestrebt ist. selbst für die Zukunft seiner Familie zu sorgen.
Sicherlich ist die Klage an sich berechtigt, aber ebenso sicher ist es, daß die
Organisation unsers Sparkassenwesens wenig geeignet ist. den kleinen Mann
zum Sparen zu erziehn. Mag man über Scherif Sparsystem denken, wie man
will, der ihm zugrunde liegende Gedanke, daß der Sparer ausgesucht werden
wüsse. ist unfehlbar richtig. Kürzlich ist in Düsseldorf ans Betreiben des Re-
gierungsrath Lipschitz unter der Mitwirkung der ersten Industriellen Deutsch¬
lands eine große Volksversicherung ins Leben gerufen worden mit dem Ziele,
die wirtschaftlich Abhängigen, insbesondre die Arbeiter dahin zu bringen, daß
sie aus eigner Kraft ihre und ihrer Familien Zukunft sicherstellen. Der Anfang
ist damit gemacht, wenn eine zeitgemäße Reform des Sparkassenwesens folgt
und planmäßig dafür gearbeitet wird, daß möglichst viele Besitzlose zu Besitzenden
werden, so würde das einen großen Fortschritt bedeuten. Hinzukommen muß
die Fürsorge für die Erziehung der Mädchen aus dem Arbeiterstande in Haus¬
wirtschaftsschulen, denn von der Wirtschaftlichkeit der Frau ist die Existenz des
Arbeiters abhängig. In den Industriebezirken gehn die Mädchen nach Be¬
endigung der Schulzeit in die Fabrik, und aus der Fabrik heiraten sie; von
Wirtschaftsführung, von Kochen und Nähen haben sie meist keine Ahnung.
Wer aber gesehn hat, mit welchem Eifer die Mädchen aus Arbeiterkreisen an
dem Unterricht in Hauswirtschaftsschulen teilnehmen, wo solche eingerichtet sind,
der wird sich auch darüber klar geworden sein, wie viel auf diesem Gebiete zu
erreichen ist. Es gibt kaum ein besseres Mittel, die materielle Lage der arbeitenden
Klassen zu heben, als die Erziehung der weiblichen Jugend zur Wirtschaftlich¬
keit, damit die Mädchen, wenn sie Frauen und Mütter werden, ihrer Aufgabe
gewachsen sind. In Süddeutschland ist man auf diesem Gebiete weit voraus,
besonders in Baden, wo dank der unermüdlichen Tätigkeit der edeln Gro߬
herzogin überall in Stadt und Land Frauenarbeitsschulen bestehn.
! on den Kunstgriffen, die geschäftsmüßige Schlaue unter dem Stachel
der Konkurrenz erfunden hat, ist dieBezeichnung allbekannter Waren
mit neuen schönen Namen einer der wirksamsten. Taufe ein Fabri¬
kant sein mehr oder weniger harmloses Fruchtwasser „Sinalco",
! dann nimmt der Absatz so reißend zu, daß er nach wenigen Wochen
schon Pferd und Wagen anschaffen muß oder kann, die gleich den Bierwagen
den Allheiltrank den Kunden täglich vors Haus bringen. In der Literatur ists
nun nicht viel anders. So z. B.: was man früher Herrschsucht oder Expansions¬
drang nannte, das nennt man heute Imperialismus, und die Leser bilden sich
ein, es werde ihnen damit eine neue Offenbarung zuteil. Deu ersten Anstoß
zu der neuen Benennung hat Disraeli gegeben, indem er die Königin Viktoria
als Kaisar-i-Hind ausrufen ließ. Die Titulatur war berechtigt, denn die Herr¬
schaft der Engländer über Indien hat wirklich, wie im 23. Heft der Grenzboten
richtig bemerkt worden ist, große Ähnlichkeit mit der Herrschaft Roms über seinen
ortis körr-u'uiri, und das Wort Imperium, das in dem seitdem aufgekommnen
Ausdruck Imperialismus steckt, bezeichnet die Sache noch treffender als die
Wörter Kaiser und Kaisertum, in denen der Sieg des Alleinherrschers über
die Rivalen innerhalb des eignen Staates zu stark vorschmeckt. Versteht man
unter Imperialismus das Streben der Engländer, zu den schon erworbnen
exotischen Kolonien noch weitere zu erobern, so paßt das Wort, dagegen paßt
es ganz und gar nicht auf die Versuche, von denen soeben wieder einer gescheitert
ist, die Ansiedlerkolonien enger an das Mutterland anzuschließen, denn diese zu
beherrschen, darauf haben die englischen Staatsmänner schon längst weise ver¬
zichtet. Viel eher wären die französischen Expansionsbestrebungen so zu benennen,
und auch das kleine Holland hat sein Imperium, wenn es auch an dessen Ver¬
größerung, also an Imperialismus nicht mehr denken kann. Wird aber vom
Imperialismus der Vereinigten Staaten gesprochen, weil sie ihrem ungeheuern
Gebiet noch ein paar Jnselchen angegliedert haben, so ist das lächerlich:
berechtigt wäre die Redeweise, wenn sie sich im Ernste an das Sinn- und aus¬
sichtslose Unternehmen wagen wollten, ganz Südamerika zu beherrschen. Viel¬
leicht denkt man bei der Phrase mehr an die imperatorische oder cüsarische
Haltung, die der gegenwärtige Präsident angenommen hat. Alles Maß aber
in der Anwendung des neumodischen Ausdrucks überschreitet Ernest Seil¬
liere. Wenn er im ersten Teil seiner „Philosophie des Imperialismus"
Gobineau als den Vertreter des Kastenimperialismus darstellt (37. und 38. Heft
des Jahrgangs 1903 der Grenzboten), so läßt man sich das gefallen, denn den
Germanen wird ja von Gobineau der Herrscherberuf zuerkannt. Wenn dagegen
im zweiten Teile Friedrich Nietzsche als der Repräsentant des individualistischen
Imperialismus behandelt wird, so sehen wir, bei aller Anerkennung der vor¬
trefflichen Charakteristik Nietzsches (14. Heft 1906). in dieser Einzwüngung des
Gegenstandes in das Jmperialismusschema schon eine Künstelei. Im dritten
Teile vollends (Der demokratische Imperialismus; autorisierte Über¬
setzung von Theodor Schmidt; Berlin. H. Barsdorf. 1907) erscheint mir schon
der Titel und dann die verschwenderische Anwendung des Modeworts einfach
als eine Geschmacklosigkeit. Statt Demokratie liest man regelmäßig demokra¬
tischer Imperialismus, statt Romantik romantischer Imperialismus, statt Mili¬
tarismus militärischer Imperialismus oder auch imperialistischer Militarismus
und so fort. Auch noch in einer andern Beziehung füllt das Buch gegen die
ersten beiden Teile bedeutend ab. In diesen hat Seilliere seine glänzenden
Gaben entfaltet: fesselnde Darstellung, scharfe Kritik, Witz und Humor. Er
hatte zwei Männer kritisch zu vernichten, die in ihren Werken der Kritik einen
äußerst dankbaren Stoff geliefert haben, und er hat sich seiner Aufgabe in einer
Weise erledigt, die ihm' den heitern Beifall eines großen Publikums sichert.
Für den vorliegenden dritten Teil hat er sich eine doppelt undankbare Aufgabe
gewählt, die noch dazu viel schwieriger ist und weit mehr Studium und sonstige
Mühe gekostet hat als die erste. Er zergliedert die Werke von sechs Autoren,
von denen drei (Hobbes, Boulainvilliers und Mandeville) dem heutigen Publckum
gleichgültig und die drei andern (Rousseau, Proudhon, Karl Marx) schon bis
zum Überdruß breitgetreten sind. Und er preßt die sechs samt allen, die neben¬
bei gelegentlich erwähnt werden, wie Kant und Hegel, in das Prokrustesbett
des Imperialismus. Zudem wird durch die mühsame Zerfaserung der sechs
Autoren und ihrer Schriften das, was Seilliere beweisen will, nicht klarer,
sondern verdunkelt.
^Was will er beweisen? Wenn ich ihn richtig verstehe, dieses. Mandeville
irrt, wenn er das Machtstreben und den Kulturfortschritt für unsittlich hält.
Rousseau irrt, wenn er den Naturmenschen als Tugendideal verherrlicht und
die Zivilisation für alle Laster und Verbrechen verantwortlich macht. Marx
"re mit seiner Verherrlichung des Proletariats und der Verdammung der
Bourgeoisie. Das Herrschaftsstreben der starken Persönlichkeiten und Völker
ist sittlich berechtigt, ist gesund, dient zu ihrem eignen Wohle wie zu dem der
Unterworfnen. Herrschaftsverhältnisse und Kulturerzeugnisse sind biologische Not¬
wendigkeiten und auf das innigste mit Moral, Sitte und Recht verflochten, die
ihrerseits biologische Notwendigkeiten sind, der Erhaltung, Erhöhung und Ver¬
vollkommnung des Individuums wie der Gattung dienen. Das Ideal, dem die
Entwicklung des Menschengeschlechts zustrebt, ist allerdings nicht eine Abstufung
von Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnissen — diese sind nur Mittel —,
sondern der „stoische Anarchismus", womit ein Zustand gemeint ist, in dem
ein jeder sich nach den Geboten des kategorischen Imperativs selbst beherrscht
und aus solchem Leben aller nach derselben Richtschnur die vollkommenste Har¬
monie hervorgeht. Den Weg zu diesem Ziele, die Herrschaft der Besten zur
Erziehung der übrigen, verwerfen, nennt er ungesunde Romantik oder roman¬
tischen Imperialismus. Das vermeintliche Ziel beleuchtet er nicht näher (in
Heller Beleuchtung würde es zerfließen; einmal scheint er es selbst eine Utopie
zu nennen; es ist nichts andres als das vollendete Reich Gottes, das die Kirche
weislich ins Jenseits verlegt hat). Er erwähnt es nur flüchtig ein paarmal.
Von Rousseaus Gesellschaftsvertrag schreibt er, man müsse diesen „romantischen
Sozialismus zwar abweisen, aber mit Kant die stoische Anarchie swarum nicht
lieber das neutestamentliche Ideal, wie es besonders im achten Kapitel des
Römerbriefes und im vierten des Galaterbriefes gezeichnet wird?j als letzten
Zweck der Menschheit auf Erden anerkennen". Nicht als letzten Zweck, sondern
als Endzustand, wofern, was sehr unwahrscheinlich ist, ein vollkommner End¬
zustand auf dieser Erde möglich und vou Gott der Entwicklung als Ziel gesetzt
sein sollte. Und von Proudhons Anarchie heißt es, sie sei „eine Anarchie im
stoischen und kantischen Sinne des Wortes, d. h. das vornehmste ethische Ideal
des Menschen". Auf die Ethik nämlich hat es Seilliere in diesem Bande abge¬
sehen. In einer Anmerkung schreibt er: „Der Sinn des Wortes Imperialis¬
mus ist so weit geworden, daß Dr. W. Borgius kürzlich eine Broschüre
»Imperialismus« veröffentlicht hat, in der er ihn, so gut es geht, zu definieren
sucht. Zu diesem Zweck hat er sich an einige englische, amerikanische, französische
und deutsche Soziologen gewandt, ohne übrigens sehr tröstliche Auskunft zu
erlangen. Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich diese Verwirrung noch ver¬
mehre, indem ich das Wort auch auf das Gebiet der Moralphilosophie über¬
trage."
Die Verwirrung, die so schon groß genug ist, uoch zu vermehren, war
wirklich recht überflüssig. Ich meine nicht die Verwirrung in der Begriffs¬
bestimmung von Imperialismus, sondern in den Ansichten über die Gegenstände,
die hier in das Jmperialismusschema hineingezwängt werden. Es sind alte
und oft genug, auch in den Grenzboten, behandelte Gegenstände, die aber doch,
da eben die Ansichten darüber vorläufig noch weit auseinandergehn, von Zeit
zu Zeit immer wieder einmal vorgenommen werden müssen. Es handelt sich
um die alten Fragen: Ist der Mensch von Natur gut? Wird er durch den
Kulturfortschritt besser oder schlechter? Ist das Streben der Individuen und
der Völker nach Herrschaft unsittlich? Legen wir unsre Ansicht darüber kurz
dar, ohne uns um Seilliere und seine sechs Denker viel zu kümmern, und ohne
das überflüssige und durch den beschriebnen Mißbrauch zur läppischen Phrase
gewordne Wort Imperialismus zu gebrauchen. Jedem Lebewesen ist der Trieb
eingepflanzt, sich zu erhalten, neben Konkurrenten zu behaupten und zu wachsen —
auch wohl auf Kosten seiner Mitgeschöpfe; dem Vernunftwesen Mensch sind
für diesen Zweck körperliche und geistige Mittel und Werkzeuge verliehen, die
ihn zum Herrn seiner vernunftlosen Mitgeschöpfe machen, und die im Konkurrenz¬
kampfe auch ein Mensch gegen den andern anwendet. Außerdem sind ihm aber
noch andre Triebe eingepflanzt, die wir sittliche zu nennen pflegen, und die das
Walten des Selbstbehauptungstriebes teils regeln, teils einschränken. Bekannte
Biologen behaupten, die Triebe zweiter Art seien nichts andres als Wirkungen
des Selbsterhaltungstriebes, indem dieser von der Einsicht geleitet werde, daß
die Anerkennung und Erfüllung gewisser Pflichten gegen den Nächsten zu den
Bedingungen der Selbsterhaltung gehöre. Wir weisen diese Ansicht zurück, weil
es ja Tatsache ist. daß jede der sittlichen Ideen: Gerechtigkeit. Liebe, Selbst¬
vervollkommnung, sittliche Freiheit unter Umstünden den Menschen zwingt, sein
leibliches Leben zu opfern. Es ist das allerdings auch eine Art Selbsterhal¬
tung: der höhere, der geistige Mensch behauptet sich auf Kosten des leiblichen;
aber man kann diese Selbstbehauptung schlechterdings nicht biologisch, aus
animalischen Trieben, erklären. Dagegen muß zugegeben werden, daß sich die
sittlichen Triebe mir in. Konkurrenzkampfe der Menschen entfalten, indem dieser
zu Verträgen, zu Einrichtungen, zu Gesetzen führt, in deren Schaffung und
Abschaffung. Beobachtung und Verletzung der Einzelne sich über seine sittliche
Natur klar wird und als sittliches Wesen bewährt. Zu den Grundversclncden-
heiten der Menschen untereinander gehört die in den Graden der Energie. Die
einen fühlen den Trieb zur Selbstbehauptung stärker als andre. Die einen
sind aktive, die andern passive Naturen. Jene empfinden den Drang, zu herrschen,
diese den, sich beherrschen zu lassen. Kinder sind bei aller sonstigen Aktivität
leitungsbedürftig und empfinden es als eine Wohltat, wenn eine feste Hand sie
stützt und leitet. Früher glaubte man ziemlich allgemein, das Weib bleibe in
dieser Beziehung dem Kinde zeitlebens einigermaßen ähnlich, heute würden wir
bei den Vertreterinnen des schönen Geschlechts schön ankommen, wenn wir uns
M diesem „von den herrschsüchtigen Männern erfundnen Vorurteil» bekennen
Wollten, auf dessen Prüfung wir uns hier nicht weiter einlassen. Unzählige
Menschen endlich, ja ganze Völker bleiben im angegebnen Sinne zeitlebens
Kinder, und es ist klar, daß ihnen durch die Unterwerfung uuter den Willen
eines Einsichtigen und zur Leitung Befähigten kein Unrecht zugefügt, sondern
eine Wohltat erwiesen wird, wofern die Herrschenden ihre Macht gewissenhaft
anwenden, was freilich nicht ausschließt, daß sie das in selbstsüchtiger Absicht
tun: UM die Zuneigung der Unterworfnen zu gewinnen und sie ohne Gefahr
„ausbeuten" zu können. Augustin faßt diesen Fall ins Auge, wenn er die
Tugenden der Heiden verhüllte Laster nennt, weil sie ja nicht aus Liebe zu
Gott, sondern aus Selbstsucht, aus Ruhm- oder Herrschbegier und zur Befriedi¬
gung der Habsucht, geübt würden. Trotzdem erscheinen ihm die Römertugenden
— es sind die vier, die die christlichen Theologen der aristotelischen Ethik
als „Kardinaltugenden" entnommen haben: Klugheit, Mäßigkeit, Gerechtigkeit
und Stärke — nicht ohne Wert. Ihre Übung schließe die den Menschen ent¬
würdigenden Laster des Sinnengenusses aus, und sie verdienten darum wenigstens
einen irdischen Lohn; dieser sei den Römern in der Beherrschung des Erdkreises
zuteil geworden. Darin liegt schon zugleich die Antwort auf die Frage, in
welchem Verhältnis das Streben nach Herrschaft zur Moralität steht. Die
spezifisch christlichen Tugenden: Demut, Sanftmut, Geduld, Barmherzigkeit
treiben natürlich nicht zu kriegerischen Eroberungen und würden in Eroberungs¬
kriegen mehr hinderlich als nützlich sein; dagegen sind für solche von den oben
genannten vier Tugenden drei nicht zu entbehren. Der Nutzen der Gerechtig¬
keit hängt von Umständen ab. Die Unterjochten gerecht zu regieren ist gewöhn¬
lich klug; aber die Eroberungskriege an sich sind meist ungerecht; nicht immer.
Zum Beispiel nicht in dem Falle, daß ohne die Eroberung eines Grenz¬
landes der eigne Staat vor Angriffen eines unruhigen Nachbars nicht geschützt
werden kann, und das wird immer der Fall sein, wenn dieser ein räuberischer
Barbar ist. Damit sind wir bei dem Konflikt zwischen gleich Energischen ange¬
langt, einem Konflikt, der natürlich nicht bloß zwischen Völkern und Staaten
entsteht, die ihn durch Krieg lösen, sondern auch zwischen Ständen im Staate,
die sich als feindliche Parteien organisieren, und zwischen Privatpersonen, die
wirtschaftliche und Beförderungskämpfe miteinander auszufechten haben; im
Staatsdienst ringen die Streber und die Kleber miteinander; meist so
geräuschlos, daß kein Uneingeweihter etwas merkt; manchmal jedoch macht sich
die verhaltne Leidenschaft Luft, und es kommt zu einem öffentlichen Skandal.
Daran schließen sich Wettkampfe der verschiedensten Art wie Schönheitskonkur¬
renzen, Regatten und mörderische Automobilrennen. Endlich die Kämpfe in den
kleinsten Kreisen bis in die Familien hinein. Und in alledem kann ebensogut
die edelste Ritterlichkeit wie die gemeinste, betrügerische Selbstsucht geübt werden.
Die Kämpfe machen eben den Menschen weder gut noch schlecht oder böse,
sondern sie geben nur Gelegenheit, das Gute, Schlechte oder Böse, das in ihm
steckt, zu offenbaren und zu stärken. Ein Gutes erwirken sie auf jeden Fall:
sie erhöhen die Energie, die an sich, auch wenn sie zum Bösen angewandt wird,
eine virtus im ursprünglichen Sinne dieses Wortes ist.
Die Güte des Naturmenschen, falls es einen solchen gibt oder jemals
gegeben hat, kann natürlich nur negativ gedacht werden. Hat sich der Mensch
aus einem Tiere entwickelt, dann ist er nach Erlangung der Menschengestalt
wahrscheinlich noch lange Zeit Tier geblieben. Das Gewissen hat sich erst aus
den gesellschaftlichen Beziehungen. Konflikten. Einrichtungen und Sitten entwickelt,
und solange er es nicht hatte, konnte er auch nichts Böses tun, erfreute sich
also der Schuldlosigkeit des Tieres. Ist der Mensch, wie die Kirche lehrt, von
Gott gerecht und heilig erschaffen worden, so war doch diese Gerechtigkeit und
Heiligkeit nur in der Anlage vorhanden und konnte erst im Verkehr in,t seines¬
gleichen entwickelt werden. Der Unterschied zwischen dem biblischen Adam und
dem hypothetischen Tiermenschen kann so gedacht werden, daß schon beim ersten
Handeln sich das Gewissen in ihm geregt habe, und die Allegorie vom Sünden¬
fall wird darin Recht haben, daß gleich die ersten Schritte auf dem Lebens¬
wege zu Konflikten zwischen Vernunft und Begier führten, in denen jene manch¬
mal unterlag. Aber ohne diese Konflikte und Niederlagen würde es auch keine
Siege, keine Tugenden und überhaupt keine Moralität gegeben haben. Es gilt
auch von der Kulturentwicklung, was wir soeben vom Machtstreben gesagt
haben, sie macht den Menschen nicht gut oder böse, sondern sie ermöglicht es
ihm. ja sie zwingt ihn. seine Güte oder Bosheit auf das mannigfaltigste zu
betätigen oder seine Schlechtigkeit, seine Unbrauchbarkeit zu offenbaren. Die
verschiednen Kulturstufen und Kulturarten entwickeln nun verschiedne gute und
schlimme Eigenschaften. Der Bauer sündigt selbstverständlich nicht durch Üppig¬
keit und raffinierter Sinnengenuß — den groben und einfachen verschmäht er
keineswegs, wenn er ihn ohne Geldkosten und ohne Störung seiner Wirtschaft
haben kann —; er ist ein gefälliger Nachbar, fleißig und sparsam; doch zeigt
sein Charakter 'auch Schattenseiten, die ja jedermann kennt. Rousseau hatte
nur die Lichtseiten ins Auge gefaßt, die ja als Kontrast zum Leben der da¬
maligen vornehmen Pariser sehr stark auf ihn wirken mußten, und wie immer
die „Wilden", die er nicht aus eigner Anschauung kannte, beschaffen sein mochten,
in der Annahme irrte er ja gewiß nicht, daß sie weder durch übermäßigen
Theaterbesuch noch durch literarische Intrigen sündigten, also insofern bessere
Menschen waren. Arme Lohnarbeiter wissen, wie der Hunger tut, und eine
Fabrikarbeiterin kennt die Sorge um die zu Hause allein gelassenen Kinder; darum
werden großstädtische Fabrikarbeiter gewöhnlich mit andern Armen Mitleid haben
und sich der Kinder ihrer abwesenden Nachbarn und Nachbarinnen annehmen,
auch sonst einander in Nöten hilfreich beispringen. Aus solchen Wahrnehmungen
haben Marx und seine Gläubigen gefolgert, daß der „Proletarier" der moralische
Mensch exoelloueo, der eigentliche Seelenaristokrat sei. und haben den Bour¬
geois, dem sich keine Gelegenheit darbietet, sich in solcher Weise zu Wütigen
(die Philanthropen unter den Bourgeois suchen jedoch die Gelegenheit auf), als
die Verkörperung des bösen Prinzips verschrien. Daß mancher Bourgeois mit
andern Vorzügen glänzt, die dem Lohnarbeiter fehlen, und daß er nicht selten
auch dieselben Tugenden hat. nur sie anders übt, wird übersehen. Das laßt
sich nun verallgemeinern: Berufsstand, Kulturstufe. Wohnort. Zeitumstände
schaffen die Form, in der sich die guten wie die minder guten Eigenschaften und
Anlagen der Einzelnen betätigen.
Wenn endlich Mandeville in seiner Bienenfabel die xriv^te vives eng.als
xudlie bereites darstellt, so übertreibt er zwar ein wenig, aber er malt nicht
falsch. Man braucht es ja nicht gleich Laster zu nennen, daß die Männer Wein
trinken und die Frauen Reifröcke tragen. Überhaupt sollte man mit den der
Ethik entnommnen Bezeichnungen sparsamer umgehn. Die theologischen Zeit¬
alter haben alle Erscheinungen in göttliche und teuflische eingeteilt; das moralisch-
pädagogische achtzehnte Jahrhundert fragte bei allem, was passierte oder unter¬
nommen werden sollte, ob es moralisch oder unmoralisch sei; hat doch Robes-
pierre nur aus lauter Tugendeifer soviel Köpfe abschlagen lassen. Seitdem ist
die Welt viel reicher geworden, und dieser Reichtum laßt sich weder in zwei
theologische noch in zwei moralische Kategorien zwängen. Wir übersehn natür¬
lich den Einfluß uicht, den Kunst, Wissenschaft, Technik, Handel, Gewerbe, Politik
auch auf den Glauben und die Sitten sowie die Sittlichkeit üben können, aber
wir fragen bei einem Kunstwerk, bei einer wissenschaftlichen Entdeckung, bei einem
gewerblichen Unternehmen, bei einer politischen Aktion nicht zu allererst, ob die
neue Erscheinung fromm oder gottlos, gut oder böse sei, sondern welchen Kultur-
wert sie hat, und ob sie dem Gemeinwesen und dem Einzelnen nützt oder schadet.
Und daß es nun nicht gerade lauter edle Eigenschaften oder gar Tugenden sind,
die die Gewerbe in Nahrung setzen und den Steuersäckel füllen, das kann frei¬
lich nicht geleugnet werden. Jetzt eben erklären die südfranzösischen Rebbauern,
sie müßten nach Paris ziehn und alles kurz und klein schlagen, wenn die Regie¬
rung nicht dafür sorge,, daß mehr Wein getrunken werde, und allerorten jammern
bei uns die Brauer und die Bierwirte über die abscheuliche und verderbliche
Antialkoholbewegung. Kürzlich ist wieder in Dänemark ein Prophet aufgestanden,
der verkündigt, der Mensch brauche nicht mehr als zehn Pfennige täglich zur
Ernährung. Wenn man sich auf eine knappe Portion Brot und Wasser nebst
wenigen Kartoffeln und ganz wenig Fett beschränke, so erhalte das nicht allein
gesund, sondern verleihe auch dem Körper das höchste Maß von Kraft, Leistungs¬
fähigkeit und Wohlgefühl. Der Mann soll schon viele Anhänger gewonnen haben.
Ein mir bekannter Schwärmer für naturgemäße Lebensweise, der schon einige
vergebliche Bekehrungsversuche mit mir angestellt hat, erachtet auch die Kleidung
für einen überflüssigen und lästigen Luxus. Er steigt natürlich viel auf den
Bergen herum. Im Winter nun, wo er sicher ist, niemand zu begegnen — sein
Gebirge hat glücklicherweise noch kein Davos —, entledigt er sich seiner sämt¬
lichen Gewandung, steckt sie in seinen Rucksack und wandert so stundenlang-
Will er sich ausruhn, so legt er sich, mit nichts als seiner Haut bekleidet, auf
den Schnee. Wer würde sich nicht einen so unverwüstlichen Körper wünschen?
Aber was würde aus Kultur, Gesellschaft, Staat, wenn alle ihn hätten und
allgemein und immer die praktischen Konsequenzen daraus zögen, die jener
Sonderling nur ein paarmal im Jahre wagen kann? Das wäre noch ein ganz
andrer Kladderadatsch als der vom falschen Propheten Bebel in Aussicht gestellte.
Einen wie großen Anteil an unsrer heutigen Produktion der Luxus und die
Eitelkeit haben, braucht nicht im einzelnen ausgeführt zu werden, und auch zur
Herstellung von Kanonen und Kriegsschiffen treiben Beweggründe, die mehr ans
Ncmbtierleben als an die Gemeinschaft der Heiligen erinnern. Doch wäre es
Übertreibung, wenn man behaupten wollte, daß diese Produktion ausschließlich
auf „Laster" angewiesen sei. Der größere Teil der Produktion dient immer
noch der Befriedigung von Bedürfnissen, die wirkliche Bedürfnisse sind; freilich
Bedürfnisse nicht von Wilden, sondern von Kulturmenschen. Für einen solchen
ist es wirkliches Bedürfnis, sich anständig zu kleiden, behaglich zu wohnen, hie
und da eine Reise auf der Eisenbahn zu machen, Bücher und Zeitungen zu
lesen, Kunstwerke zu genießen. Will man solche Bedürfnisse künstliche nennen,
so muß dazu bemerkt werden, daß eben der Mensch als reines Naturprodukt
»och gar kein Mensch ist; sich selbst und seine Umgebung kunstvoll zu gestalten,
ist dem Menschen natürlich. Von künstlichen Bedürfnissen sollte man im tadelnden
Sinne nur bei solchen sprechen, die den Menschen schädigen, sodaß die Natur
im Recht ist. wenn sie sich dagegen sträubt, daß sie ihr aufgezwungen werden.
Freilich ist die Grenze zwischen berechtigten und unberechtigten künstlichen Be¬
dürfnissen schwer anzugeben. Auch darf und muß bei Prüfung der Volkswirt¬
schaft auf ihre Gesundheit die Moral gehört werden. Wo ein unverhältnismäßig
großer Teil der Produktion der Befriedigung von Bedürfnissen dient, die nach
dem gewöhnlichen Sprachgebrauch, nicht nach dem der Zeloten und der Schwärmer,
unsittlich genannt werden, da ist die Volkswirtschaft nicht gesund, und ihr Be¬
harren in der eingeschlagnen Bahn gefährdet Volk und Staat. Man denke an
die Luxusproduktion bei notleidender Bevölkerung im Frankreich des anvien
rSZiiue, und an die Basierung der Finanzen auf die Trunksucht der Massen im
heutigen Rußland.
Um das Ergebnis dieser Betrachtung kurz zusammenzufassen: jeder Einzelne,
jede Genossenschaft, jedes Volk sucht sich zu erhalten, zu behaupten, zu wachsen.
Wachstum muß sehr häufig schon als Mittel der Selbstbehauptung erstrebt
werden; Einzelne wie Staaten müssen, was Seilliere mit Recht hervorhebt, ihren
Machtbereich erweitern, wenn sie ihre Zukunft sichern wollen. Diese Bestrebungen
und die sich daraus ergebenden Kämpfe schaffen Abhängigkeits- und Herrschafts¬
verhältnisse, in denen sich, wie überhaupt im Kulturleben, vou dem sie eine
Seite darstellen, gleich allen andern Anlagen anch die sittlichen entfalten und
in den mannigfaltigsten Formen, im Guten wie im Schlimmen, beendigen. Für
diesen allgemein bekannten Entwicklungsprozeß die Bezeichnung Imperialismus
einführen, ist überflüssig und stiftet Verwirrung; der Name ist nur für politische
Erscheinungen der eingangs bezeichneten Art berechtigt. Ganz unsinnig ist es,
von individualistischen'und demokratischen Imperialismus zu sprechen. Solange
der Individualist wirklich als Individualist lebt, demnach allein bleibt, herrscht er
"icht. und was die Demokratie betrifft, so gibt es zwar demokratische Mmmtur-
staaten. aber keine demokratischen Jmperia. Was um, im heutigen Großstaat
Demokratie nennt, das ist nur die Organisation des Demos zur Abwehr der von
oben drohenden Unterdrückung. Die „Herrschaft des Proletariats" mögen einige
ehrliche Schwärmer wirklich als Ziel im Auge haben, daß sie es erreichen
werden, glaubt kein Verständiger. Die sehr ausführliche Marxkritik in Seillieres
Buche ist gut ausgefallen, kommt aber um einige Jahre zu spät. An theore¬
tischer Marxkritik haben wir in Deutschland keinen Mangel, und der Verlauf
der wirtschaftlichen Entwicklung hat den im „Kapital" aufgerichteten dialektischen
Kunstbau so vollständig zertrümmert, daß von dem Zusammenbruch auch unsre
sozialdemokratische Partei getroffen worden ist. Ihre Niederlage im letzten Wahl¬
kampfe ist zu einem großen Teil dem Umstände zuzuschreiben, daß die marxischen
Schlagwörter, an die außer einigen unbelehrbarer Doktrinären kein Mensch mehr
glaubt, nicht mehr ziehn. Die deutschen Arbeiter werden sich bald vor die Wahl
gestellt sehen, ob sie die Taktik annehmen wollen, die ihren englischen Genossen
die entscheidenden Erfolge gebracht hat: jedesmal die von den bürgerlichen
Parteien zu unterstützen, die ihnen das meiste verspricht, oder sich als reine
Arbeiterpartei ohne marxistische und Umsturzphrasen zu organisieren.
Gobineau, von dem Seillieres schriftstellerische Tätigkeit ausgegangen ist,
fährt fort, in Deutschland eine Wirkung auszuüben, die sein französischer Kritiker
mit — natürlich ganz unbegründeter — Besorgnis verfolgt. Das Haupt der
stetig noch wachsenden „Gobineau-Vereinigung", Ludwig Schemann, der Über¬
setzer seines Rassenwerkes, hat die Verwaltung der Straßburger Universitäts¬
bibliothek bewogen, dem literarischen und künstlerischen Nachlaß und einigen
Möbeln des verstorbnen Grafen ein Zimmer einzuräumen, und berichtet darüber
in einer Broschüre. (Die Gobineau-Sammlung der Kaiserlichen Universitäts¬
und Landesbibliothek zu Straßburg. Mit drei Tafeln in Lichtdruck. Straßburg,
Karl I. Trübner, 1907.) Vorher schon hatte Fritz Friedrich den Werken
Gobineaus ein Buch gewidmet: Studien über Gobineau. Kritik seiner Be¬
deutung für die Wissenschaft. (Leipzig, Eduard Avenarius, 1906.) Der Verfasser
schätzt Gobineaus Bedeutung sehr hoch, ist aber weder ein schwärmerischer Jünger
noch ein kritikloser Bewundrer des genialen Forschers und Dichters, sondern
unterwirft seine Leistungen einer strengen und sorgfältigen Kritik und scheut
sich nicht, ihm auch „Tertianerschnitzer" nachzuweisen. Seine Ergebnisse stimmen
im allgemeinen, und stellenweise beinahe wörtlich, mit denen meiner eignen Kritik
überein, die allerdings bei weitem nicht so umfangreich und gründlich ausfallen
konnte, da ich ja niemals beabsichtigte, ein ganzes Buch über Gobineau zu
schreiben, sondern nur in den Grenzboten über sein Rassenwerk berichtet habe
(im dritten Bande des Jahrgangs 1898 Seite 442, im ersten Bande des Jahr¬
gangs 1899 Seite 523 und 586 und im vierten Bande des Jahrgangs 1900
Seite 118). Hätte Friedrich diese Aufsätze gekannt, so würde er weniger unwirsch
über einige Äußerungen in der „Sozialauslese" urteilen, die auf ihn den Ein¬
druck gemacht zu haben scheinen, daß ich Gobineau unbedingt und vollständig
ablehne. Er findet unhaltbaren Doktrinarismus darin, wenn ich behaupte, im
Laufe der Jahrtausende könnten durch klimatische Einflüsse aus Kankasiern Neger,
aus Negern Kaukasier werden, scheint aber meine Meinung gründlich mißver¬
standen zu haben, da er sie neben die von Leuten stellt, die behaupten, „jede
beliebige ethnographische Gruppe, ob Mitteleuropücr oder Papua, könne Kultur
entwickeln: womöglich dieselbe Kultur". Einen solchen Unsinn habe ich niemals
behauptet. Das heißt, nur in dem Wort „dieselbe" steckt Unsinn; Kultur, wenn
auch eine sehr niedrige, hat ja der Papua, und Ratzel überzeugt uns, daß die
Kultur der fälschlich so genannten Naturvölker gar nicht so niedrig ist, wie wir
sie uns vorzustellen pflegen. (Ratzel wird von Friedrich meist zustimmend
zitiert, nur will dieser den Lebensbedingungen nicht so viel Einfluß auf die
Kulturentwicklung zugestehn wie jener. Was Schiele in den Grenzboten über
die Neger schreibt, wird lobend als richtig anerkannt.) Es handelt sich um
folgendes. Ich halte den Rassencharakter, namentlich den Charakter der Urrcissen,
für so beharrlich, daß er, wie ja die Erfahrung lehrt, auch starken klimatischen
Einflüssen jahrhundertelang standhalten kann, aber ich halte ihn nicht für
unveränderlich und vermag mir die Entstehung der Menschenrassen auf andre
Weise als durch klimatische Einflüsse nicht zu erklären. Warum diese Entstehungs¬
weise undenkbar sein soll, kann ich nicht versteh«. Man muß doch den Menschen
entweder nach der materialistischen oder nach der idealistischen Hypothese ent¬
standen denken. Im ersten Falle ist nicht einzusehen, warum nicht, wenn sich
die Monere zum Molch, der Molch (wissenschaftlich gesprochen der Lurch) zum
Menschen entwickelt, der Schwarze sich zum Weißen soll entwickeln können, und
zwar auf dem darwinischen Wege, durch Anpassung an veränderte Lebens¬
bedingungen, unter denen die klimatischen und sonstigen geographischen doch
wohl die wirksamsten sind. Will man lieber die drei Grundrassen aus einer
Urrasse hervorgehn lassen, die mit keiner der vorhandnen zusammenfällt, so wird
dadurch an der Tatsache nichts geändert, daß die Rassen durch klimatische Ein¬
flüsse entstanden sind. Huldige man der idealistischen Hypothese, die noch nicht
sofort die christliche zu sein braucht, so nimmt man an, daß, wie bei der Ent¬
stehung der Pflanzen- und Tierarten, die mechanischen Einflüsse der Umwelt
nicht hingereicht haben, diese Differenzierung zustande zu bringen, daß vielmehr
von Gott oder dem Unbewußten oder der Weltseele oder der absoluten Idee
ein Antrieb dazu ausgehn mußte. Nun wird man sich doch diesen Antrieb
heutzutage nicht gern als ein momentan wirkendes Schöpfungswunder vorstellen,
sondern lieber annehmen, der Demiurg habe die Einflüsse, die sonst für sich
allein kleinere Änderungen hervorbringen, so geleitet, daß eine ungewöhnlich
starke Abweichung herauskam, und habe dann, nachdem diese fertig war, den
Art oder Rasse bildenden Motor wieder außer Tätigkeit gesetzt. Der Idealist
wird dabei vielleicht, wie es der Christ tatsächlich tut, nicht den Schwarzen
sich zum Weißen „emporentwickeln", sondern den Weißen zum Schwarzen
degenerieren lassen. Ohne eine solche Annahme bleibt doch zur Erklärung der
Entstehung der Menschenrassen nur das Wunder sg-us xw-ass übrig, für das
unsre Rassentheoretiker, die viel auf strenge Wissenschaft halten, sonst nicht
schwärmen. Daß bei den Völkern niederer Nassen weder die höhere Kultur
überhaupt, noch eine einzelne Erscheinung dieser höhern Kultur entsteh» kann,
daß z. B. unter den Botokuden oder den Buschmännern kein Naffael denkbar
ist, habe ich unzähligemale gesagt. Wenn ein Nachkomme eines Negers Kultur¬
mensch in unserm Sinne wird, so ist dieser Nachkomme eben kein Neger mehr,
sondern etwas andres als sein Ahn. In einer Anmerkung auf Seite 138 schreibt
Friedrich: „Jentsch leugnet jede Beziehung zwischen Germanentum und Pro¬
testantismus, überzeugt aber ganz und gar nicht." Die Polemik gegen Ammon,
die hier gemeint ist, richtet sich nicht gegen die innere Verwandtschaft des Ger¬
manentums mit dem Protestantismus, sondern gegen die Verkoppelung des
Protestantismus mit der Langschädligkeit. Die zuerst genannte Beziehung betone
ich sogar bei andern Gelegenheiten so stark, daß ich die Wiedervereinigung der
Konfessionen für unmöglich halte, weil ich eben die Trennung auf den Rassen-
uuterschied zurückführe; wobei ich freilich wiederum die geographischen Unter¬
schiede sehr stark betone und den Unterschied nicht im Gewissen suche. Der
Ansicht bin ich nicht, daß die Katholiken kein Gewissen oder ein schwächeres
Gewissen Hütten. Wenn Ketteler den Papst fußfällig beschwört, die Unfehlbar¬
keit nicht zu proklamieren, dann aber sich löblich unterwirft, so hat ihn zu
beiden Handlungen sein Gewissen getrieben. Das erstemal trieb es ihn, seine
Überzeugung von der Falschheit oder wenigstens der Jnopportunität der geplanten
Dramatisierung kundzugeben, das zweitemal sagte er sich: ich bin nicht berechtigt,
durch Geltendmachung meiner persönlichen Überzeugung die Einheit der Kirche
zu gefährden, die nach meinem Glauben das höchste Gut der katholischen Christen¬
heit ist. Ähnlich unterwerfen die Mitglieder der politischen Parteien sehr oft
ihre Privatansicht der Parteidisziplin. Der erwähnte Glaube, daß die Einheit
der Kirche ein sehr hohes, wo nicht das höchste Gut sei, ist freilich der Ent¬
wicklung selbständiger Überzeugungen, wenigstens auf dem religiösen Gebiete,
nicht günstig. Nur muß man sich nicht einbilden, nach Beseitigung dieses
Hemmnisses seien alle Germanen selbständig denkende und urteilende Männer
geworden. Wie rührend ist heute der Glaube des durchschnittlichen Staats¬
bürgers an die Unfehlbarkeit der Parteizeitung, des Parteiboß, in den angel¬
sächsischen Ländern des Sektenhauptes, gar uicht zu reden von den Berliner
Spiritisten und Gesundbetern, und von dem allgemeinen Glauben an Kur¬
ne Gesellschaft für Verbreitung der Volksbildung will in diesem
Jahre ihre Hauptversammlung vom 28. bis 30. September in
Hannover abhalten und als einzigen Gegenstand die Beziehungen
der Volksbildung zur Heimatkunde behandeln. Es sind Einzel-
I vortrüge über die Heimatliteratur und die Volksbibliotheken, über
niedersächsische Heimatliteratur, über heimatliche Stoffe für die Volksunter¬
haltungsabende, über rheinisches Leben auf rheinischen Volksunterhaltungsabenden
sowie über die Pflege der Heimatgeschichte durch die Volksbildungsvereine in
Aussicht genommen worden, und außerdem soll über die Naturschönheiten der
Heimat, über Tiere und Pflanzen in der Heimat, über den heimatlichen Boden
und über Naturbeobachtungen und Naturstudien in der Heimat, kurz über die
Naturdenkmalpslege in deu Volksbilduugsvereinen gesprochen werden.
Die Tagesordnung ist also sehr reichhaltig und erschöpft alles, was über
die Beziehungen der Volksbildung zur Heimatkunde gesagt werden kann. Man
darf sich deshalb freuen, daß die Gesellschaft, deren Leiter der Prinz Heinrich
Schönaich-Carolath ist, die mit einem Haushalt von 214050 Mark rechnet und
unter anderm allein für Bibliothekbegründungen im letzten Jahre 13000 Mark,
für öffentliche Vorträge 18000 Mark, für die Zeitschrift Volksbildung 14150 Mark,
für Beschaffung von Lichtbildern 3000 Mark und für örtliche Bildungszwecke
22000 Mark ausgegeben hat, die Frage der Heimatkunde gründlich erörtern
will. Wenn man unter Volksbildung die Erwerbung und Verbreitung von
Kenntnissen allgemein wissenschaftlicher Art versteht, die den Schichten des
Volkes zugeführt werden sollen, die in der Schule nur das notwendigste Wissen
gelernt und im täglichen Berufsleben keine Zeit, Gelegenheit und Mittel zur
eignen Weiterbildung haben, so liegt es nahe, daß diese an die Heimat an¬
knüpft, die in bezug auf Natur, Kunst und Geschichte das bietet, was für
diese Kreise des Volkes wissenswert ist, was am meisten fesselt und begeistert,
am leichtesten zu erreichen und am schnellsten zu sehen ist. Die Schule lehrt
jetzt zwar auch Heimatkunde, aber wegen der vielen andern Fächer kann diese
doch nur nebenher betrieben werden, und den Kindern fehlt mehr oder weniger
das richtige Verständnis dafür; es werden immer nur einzelne sein, die sich
von diesem Stoffe angezogen fühlen und auch außerhalb der Schule damit
befassen. Die Mehrzahl der Kinder kann sich bei der Heimatkunde nichts andres
denken wie bei den sonstigen Fächern, und es ist ja im letzten Grunde ihr
gutes Recht, sich die Köpfe nicht übermäßig vollpfropfen zu lassen von Sachen,
die für die Zukunft nur einen idealen Wert haben. Solche Werte zu wecken
und zu pflegen ist die Aufgabe der Volksbildungsvereine, da die meisten Menschen
der untern Volksschichten von ihrer täglichen Berufsarbeit so in Anspruch
genommen werden, daß sie sich nicht auch noch geistig beschäftigen können,
wenigstens nicht mit der Muße und dem Genuß, den die Gebildeten von geistiger
Beschäftigung haben. Deshalb ist es empfehlenswert und zweckmäßig, die
Heimatkunde in dem weitverzweigten Vereinsleben unsrer Tage weiter aus¬
zubauen, namentlich durch Schriften, Vorträge und Sammlungen.
Man kann immer wieder beobachten, daß die Landleute für ihr Dorf und
dessen Geschichte ebenso großes Interesse haben wie die Bürger für ihre Stadt¬
geschichte. Wer jenen von ihren Fluren, den alten Flurnamen, den Ausgrabungen
auf ihren Feldern oder auch von den einstigen Sitten, Festen und Gebräuchen
erzählt, wer es versteht, ihnen über die großen Kriege der frühern Jahrhunderte
mit Beziehung auf ihr Dorf zu berichten oder ihnen die alten Bauarten der
Höfe vorzuführen, wird stets dankbare Zuhörer haben, die dann wohl auch
nachher aus ihren eignen Beobachtungen erzählen und das Vernommene mit
den gegenwärtigen Zuständen vergleichen. Und ebenso liegen die Verhältnisse
in kleinern Städten, wenn man über die ehemaligen Jnnungseinrichtungen,
über die kirchlichen und städtischen Verhältnisse, über die Kirchen und sonstigen
ältern Bauwerke spricht. Oft genug sind die Leute ganz erstaunt über die Fülle
von Altertümern und Sehenswürdigkeiten ihrer Vaterstadt, von denen sie bisher
keine Ahnung gehabt haben. Nun liegt es freilich in der Natur der Sache,
daß sich der Stoff mit der Zeit erschöpft, und man weiter greifen muß zu
Vorträgen, die nur mittelbar mit der Heimat zusammenhängen. Dahin gehört,
um nur ein Beispiel aus der Geschichte anzuführen, ein Vortrag über die
Geschichte der Vertreibung der Salzburger im Jahre 1732. Diese armen Aus¬
wandrer sind damals durch Mitteldeutschland nach dem Norden, namentlich
nach Ostpreußen gezogen, und fast in jedem Kirchenbuche finden sich Auf¬
zeichnungen über die Durchzüge, über die Aufnahme und Bewirtung in den
Ortschaften, die sie berührt haben. Diese Berichte können recht passend in den
Vortrag hineingeflochten werden und machen einen tiefen Eindruck. Ein weiteres
Thema ist der Heimatschutz und die Pflege der Naturdenkmäler, die gerade
jetzt wieder die ihnen zukommende Beachtung finden. Die wenigsten Menschen
kennen ihre heimische Flora, gehen jahrelang an seltnen Bäumen und Pflanzen
vorüber, die sie niemals näher betrachtet haben. Wenn sie aber durch Vorträge
erst einmal darauf hingewiesen werden, kommt auch der Sinn und das Ver¬
ständnis dafür von selbst, falls überhaupt die Anregung auf einigermaßen
fruchtbaren Boden fällt. Auch Vorträge über das Volkslied passen noch in den
Rahmen der Heimatkunde hinein, denn mehr als je sind die alten Lieder
wieder hervorgesucht worden und werden an den Vereinsabenden gesungen.
Das Volkslied wird noch mehr geschätzt werden, wenn erst die neue, kürzlich
erschienene Bearbeitung der 610 Volkslieder noch bekannter geworden ist. Die
Anregung des Kaisers zu diesem großen Werke wird sicherlich gute Früchte
tragen.
Doch schließlich werden sich die Heimatstoffe erschöpfen, und dann erst
sollte man mit Vortrügen allgemeinen Inhalts kommen. Seitdem sich in den
großen Städten Institute gebildet haben, wie das Laubesche Institut Kosmos
in Leipzig, ist an Vorträgen und Vortragenden kein Mangel. Richard Laube
allein bietet in seiner Jubiläumsanzeige 1500 Vorträge aus allen Gebieten
der Naturwissenschaften an und verfügt über 5000 Lichtbilder. Er hat in den
letzten zehn Jahren diese 1500 Vorträge mit Lichtbildern gehalten und ist
bestrebt, neue Vortrüge auszuarbeiten. Gegen diese Art Volksbildung ist gewiß
nichts zu sagen; die Kleinstädter erhalten dadurch Gelegenheit, ihren Bildungs-
kreis zu erweitern und Land und Leute fremder Gegenden und Erdteile an¬
schaulich kennen zu lernen und tiefere Blicke in die Werkstätten der Wissenschaft
zu tun. Bei alledem aber hat diese Vortragsart etwas gewerbsmäßiges an
sich; man geht gewissermaßen mit der Wissenschaft hausieren und hinterläßt
doch meist nur flüchtige Eindrücke bei den Zuhörern, die sich bestenfalls ein
paar Stunden ganz nett mit den Lichtbildern unterhalten haben. Wenn vollends
die Vereinsvorstände der kleinern Städte Anerbietungen im echten Kaufmanns¬
deutsch bekommen: Offeriere Ihnen Herrn Hauptmann N. N. zu einem Vortrage
über . . . zum Preise von ... — so kann man sich des Eindrucks nicht er¬
wehren, daß es dem Vortragenden ebenso sehr auf das Honorar wie auf die
Hebung der Volksbildung ankommt. Um solche Vortrüge zu hören, müssen die
Vereine immerhin siebzig bis hundert Mark und mehr anwenden. In manchen
Beziehungen mögen die Vorträge recht wirksam sein, wenn zum Beispiel über
unsre Kolonien oder über die Flotte oder die Ostmarkenverhültnisse gesprochen
wird, aber größer ist der Erfolg, wenn Männer der engern oder weitern Heimat,
die bekannt sind, Vortrüge über heimatliche Stoffe halten und aus ihren eignen
Studien, Wanderungen und Anschauungen Mitteilungen macheu.
Ähnlich liegen die Verhältnisse bei der Begründung von kleinern Volks¬
bibliotheken, um die sich die Gesellschaft für Volksbildung große Verdienste
erworben hat. Auch hier sollte man zunächst auf die Zusammenstellung der
Heimatliteratur bedacht sein und solche schaffen, wo sie noch nicht vorhanden
sind. Bücher, wie die herrlichen, den Grenzbotenlesern bekannten Kursüchsischen
Streifzüge von Otto Eduard Schmidt, sollten für alle deutschen Landschaften
geschrieben werden. Es ist freilich nicht jedermanns Sache, solche Wanderungen
in derselben anziehenden, poetischen und doch gründlichen und wissenschaftlichen
Weise, wie es Schmidt versteht, zu schildern; aber gerade an dem Schmidtschen
Stoffe kann man ersehen, was aus Gegenden zu machen ist, die weder landschaftlich
noch geschichtlich besonders hervortreten, vielmehr allgemein recht unbekannt
und unbeachtet waren. Es sind Musterleistungen, wie ehedem die Fontaneschen
Wanderungen in der Provinz Brandenburg, und in bescheidneren Maße lassen
sie sich wohl in allen deutschen Landschaften durchführen, wenn auch nicht immer
ein Fontane, Schmidt oder Trinius, der Thüringer Wandersmann, die Feder
führt. Unter allen Umstünden werden solche Wanderbücher mehr gelesen als
die trocknen Chroniken der kleinen Städte, wenn sie ohne innern Zusammen¬
hang die geschichtlichen Tatsachen lose aneinanderreihen und mit Jahreszahlen
und Statistiker überladen sind, ohne die landschaftlichen und naturwissenschaft¬
lichen Eigentümlichkeiten der Umgegend zu berücksichtigen. Daß die besondern
Werke über die heimische Flora und andre Gebiete in die Volksbibliotheken
gehören, braucht nicht weiter betont zu werden; erfahrungsmäßig gibt es auch
unter den Laien oft genug Leute, die für dieses oder jenes Sonderfach eine
Vorliebe haben und mit Erfolg Studien treiben. Ich kenne einen Tischler¬
meister in Sangerhausen, der die lateinischen und deutschen Namen sämt¬
licher Pflanzen in der Umgebung der Stadt und der Vorharzberge kennt
und die Standorte seltener Orchideen weiß, der außerdem eine reichhaltige
Sammlung von allerlei Merkwürdigkeiten besitzt, die aus der Urväter Hausrat
stammen.
Hiermit ist das dritte Volksbildungsmittel berührt, über das in neuerer
Zeit soviel geschrieben und gestritten worden ist: die Museen und Sammlungen
in kleinen Städten. Es gibt Leute, die alles in großen staatlichen Sammlungen
aufhäufen wollen und der Ansicht sind, daß ein Studium solcher Sachen nur
möglich und fruchtbringend sei, wenn sie vollständig und lückenlos in einem
Zentralmuseum zu finden sind. Diese Anschauung hat gewiß für manche Gegen¬
stünde, wie vorgeschichtliche Funde, ihre Berechtigung, wenigstens insoweit es
sich um selten vorkommende Wertgegenstände handelt, die der reinen vorgeschicht¬
lichen Wissenschaft dienen und nur durch Vergleichung zu wissenschaftlichen
Ergebnissen führen; aber neben diesen Gegenständen gibt es sehr viele, die in
ihrer Umgebung, wo sie gefunden worden sind, bleiben müssen und dort allein
ihren Zweck erfüllen. Man denke nur an Spinnrüder, die der heutigen Jugend
fast unbekannt sind, an Hausgeräte aller Art, die außer Gebrauch gekommen
sind, an Trachten und Handwerkszeuge früherer Zeiten. Das aufblühende
Kunsthandwerk findet reiche Gelegenheit, an alte Formen anzuknüpfen, die
geschmackvoller sind als die neue Fabrikware und den Vorzug der Eigenart
haben. Für alle diese Gegenstünde sind städtische Sammlungen am Platze, die
zeitweilig zugänglich sind und in derselben Weise verwaltet werden müssen wie
die Büchereien und öffentlichen Lesehallen, die einen beachtenswerten Aufschwung
nehmen und dafür zeugen, daß in der Bevölkerung der Drang nach Bildung
vorhanden ist. Einstweilen gehen die großen Provinzialstädtc und die Mittel¬
städte mit gutem Beispiel in der Begründung von städtischen Sammlungen
voran; für die kleinern Städte füllt der Geldpunkt noch zu sehr ins Gewicht,
und es sind zu viel nötigere Bedürfnisse materieller Art zu befriedigen, ehe
an solche Aufgaben gedacht werdeu kann. Aber die Keime für die Sammlungen
sind schon vielfach auch da zu spüren, einige bescheidne Rüume im Rathause
oder in einer Schule sollten überall zur Verfügung stehn. Wer die einschlagenden
Berichte verfolgt, wird mit Genugtuung festgestellt haben, daß in Thüringen
und im Königreich Sachsen fast jede kleine Stadt ihre Sammlung hat, und
daß in den letzten Jahren sogar schon einige Dörfer angefangen haben, den
Hausrat der Vorfahren zu beachten und in der Schule oder einem sonstigen
Passenden Raum aufzubewahren. Es ist zu wünschen, daß die Versammlung in
Hannover die Frage der Heimatkunde und Volksbildung einen Schritt vor¬
rößere Städte haben zumeist irgend etwas an sich, das die Erinne¬
rung an sie unabweisbar begleitet und jedem noch so geringen
Andenken Farbe und Stimmung, vielleicht mitunter auch einen
leise abstoßenden Beigeschmack verleiht. Es kann dies das Bier
sein, wie es klebrig und malzduftend in Münchens Rinnsteinen
fließt, oder das durchdringende Gebrüll menschlicher Stimmen, das Tag und
Nacht Neapel durchdröhnt. In Rom ist es das leise Wassergemurmel hinter
allen Mauern, und wer kann im Geiste Venedig vor sich sehen, ohne daß der
Campanile das Tragende an dem Bilde wird? Über jeder Erinnerung, sogar der
allerblässesten, ragt er empor, auch wenn man ihn mit eignen Augen in Trümmern
liegen gesehen hat.
Es liegt etwas Ansprechendes darin, daß ein Turm eine ganze Stadt
trägt, wie ein Aufgesaug über ihren Hunderttausenden steht und selbst dann
noch steht, nachdem er gefallen ist. Und alle Städte haben ja Türme, die eine
solche Stelle einnehmen könnten. Aber nicht alle offenbaren trotz ihrer architek¬
tonischen Schönheit in ihren Steinblöcken Leben und Sinn, nicht alle begegnen
einem aus der Ferne schon als der kluge, weitschauende Blick ihrer Stadt, bilden
den hohen Hintergrund für jeden Platz, jedes kleinste Gäßchen.
Sevilla hat La Giralda!
Sechs Meilen hinaus ins flache Land, das die Stadt umgibt, ist La Giralda
zu sehen, und die Bauern, die da draußen in der blutroten Erde ackern, weisen
hin und sagen mit leuchtenden Augen: „Seht, dort liegt Sevilla!" Der Turm
spielt im Sonnenlicht mit seinen farbenprächtigen Azulejosfliesen, und unter ihm,
hinter dem Horizont versteckt, liegt die Stadt und feiert. Und eines Tages,
wenn sie Geld genug gesammelt hat, dann — salto, es lebe die Freude! es
lebe das frohe Sevilla!
Durch den schmalen Lauf des Guadalquivirs winden sich skandinavische,
deutsche und englische Dampfschiffe, kriechen mit dem Flußwasser über die Sand-
bunte und zwängen sich zwischen flachen fetten Wiesen durch. Auf diesen Wiesen
weidete einst Geryon seine göttlichen Herden, aber er mußte sie uach Verlauf
weniger Tage in die himmlischen Gefilde hinausbefördern, weil sie bei längerm
Verweilen hienieden vor Fett zu bersten drohten. Nun sind diese Wiesen Eigen¬
tum der großen Viehzüchtereien, die Spaniens zahlreiche Armen versorgen; und
auf ihnen grasen Tausende wilder Stiere mit mächtigen Hörnern. Alle Reisenden
gehn hier in weitem Bogen herum, und die einzige Kenntnis, die die Stiere
von den Menschen haben, besteht darin, daß dann und wann ein Reiter mit
langer spitzer Lanze mitten zwischen sie hineinführt, um ihren Blutdurst zu
erproben. Er jagt ebenso rasch fort, wie er gekommen ist, und die Tiere stoßen
in ohnmächtigem Zorn die Hörner in den Wiesengrund. Und so oft ein Schiff
passiert, laufen sie zum Ufer hinunter und stehn und brüllen ihm herausfordernd
nach. Die lachlustiger Seeleute finden gegen ihre Gewohnheit hierin keinen
Anlaß zur Heiterkeit. Sie gehn jeder abseits, überzählen in Gedanken ihre
Löhnung und spähen hinein nach La Giralda und nach der fröhlichen Stadt.
Und die Tausende von Ausländern, die im April von allen Enden der
Welt zuströmen, um La Feria, den Ostermarkt, und die großen Auferstehungs¬
feste zu sehn, die als die vornehmsten Stiergefechte der Welt gelten, sie beugen
sich weit aus dem Coupefenster hinaus und ergehn sich in begeisterten Ausrufen,
wenn sie die leuchtende Spitze des Turmes in der Ferne unterscheiden. La
Giralda ist 350 Fuß hoch. Ein strahlender Leuchtturm der Freude, winkt er
weit hinaus, den Reisenden zur Botschaft: an seinem Fuße liege eine Klippe,
an der zu stranden herrlich sei. La Giralda bedeutet die Windfahne, der Wetter-
Hahn; und zuoberst auf dem Turme steht eine Bronzefigur — ein Weib. Es
ist vierzehn Fuß hoch, wiegt etwa dreitausend Pfund und stellt den Glauben
vor — und es dreht sich bei dem leisesten Winde.
Welch ein Symbol der Stadt da unten!
Sevilla hat eine glänzende Geschichte, die — wie fast die aller südeuropäischen
Städte — weit in das Altertum zurückreicht.
Soweit wir zurückschauen können, glitzert die Stadt in Sonnenfreude, stets
festlich gekleidet, stets feiernd und gefeiert, unter dem Schutze des mächtigen
Sonnengottes und der schönen Liebesgöttin. Jedes Jahr, wenn die Sonne am
höchsten auf ihrer Bahn stand, wurde das Bild der Liebesgöttin von den vor¬
nehmsten Schönheiten im Triumph durch die Stadt getragen. Die jungen
Mädchen, die ihr nicht rückhaltlos opferten, wurden zum Tode verurteilt, aber
die Sage kennt durch all die Zeiten nur zwei solche Widerspenstige, die Schwestern
Justa und Rufina. Das fröhliche Volk machte hinterher die beiden keuschen
Schwestern zu Heiligen; und noch heutigentags sind sie Sevillas Schutzpatro¬
ninnen und werden mit jener kalten Ehrfurcht verehrt, die die Menschen dem
Unerreichbarem weihen. Nun hat die Mutter Gottes zu all ihren übrigen
Obliegenheiten auch die des Sonnengottes übernommen, und von allen ihren
etwa dreißig Verkörperungen steht dem Herzen des Sevillcmers keine näher als
La Virgen de la Aurora, die Madonna der Morgenröte. Er geht ungern zu
Bett, ehe ihre Messe den Tagesanbruch eingeläutet hat.
Von seiner römischen Periode her bewahrt Sevilla nur wenig Gedenk¬
zeichen: einige Neste von Stadtmauern und Bädern, eine Wasserleitung, die
wieder in Verwendung gekommen ist, alte Münzen, die sich, wie überall, wo
die Römer gewohnt haben, mit vollen Händen in jeder Pflugfurche sammeln
lassen. Dann das herrliche Amphitheater Italie«, eine echt italienische Ruine
mit verstreuten mächtigen Marmorblöcken, zitterndem Venushaar in den unter¬
irdischen Räumen und behenden Eidechsen in jeder Mauerspalte. Die Fest¬
stimmung von damals aber ist geblieben, jener ewige Frohsinn, der die Stadt
zu einem so hinreißenden Aufenthalt für Roms verwöhnte Sommerausflügler
machte.
Und diese Freude starb während der beiden nächsten Perioden, in denen
die Stadt den Vandalen und sodann den Goten als Hoflager diente, keines
Hungertodes.
Mit der Herrschaft der Mauren aber begann eine neue Zeit für Andalusien,
in der Ackerbau und Industrie, Kunst und Wissenschaft aufblühten. Man durch¬
zog das Ackerland mit einem Bcwässerungsnetze, so fein und wirksam wie das
Adernetz im menschlichen Körper, man öffnete die Berge und entnahm ihnen
ihre kostbaren Steinsorten und Metalle, Seidenzucht wurde betrieben, vorzüg¬
liche Universitäten wurden errichtet, und die üppige Phantasie des Morgen¬
länders schoß in wundervollen Märchenschlössern ans dem Boden: Alhambra,
Alcnzar, die Moscheen in Cordova und Sevilla.
Und in einem plötzlichen Anfall von Fleiß hub auch das fröhliche Sevilla
an zu arbeiten, in Gold und Spitzen und Seide: die Seidenindustrie allein
soll Hundertfünfzigtausend Menschen beschäftigt haben. Vom Guadalquivir
strömten die Handelsschiffe hinaus und brachten dem dunkeln Europa Botschaft
von dem Lichtlande Andalusien, wo Fleiß, Aufklärung und Freisinn herrschten;
wo Juden, Christen und Mauren Seite an Seite in bestem Einverständnis
lebten. Aber die Herrschaft der Mauren schwand aus Europa, spurlos wie ein
schöner Traum schwinden kann. Und Sevilla schüttelte seinen Fleiß von sich
ab wie ein Alpdrücken, streifte behend die Einwirkung von sechseinhalb Jahr¬
hunderten von sich ab und begann wiederum Feste zu feiern.
Noch steht Alcazar, La Giralda und ein Teil der maurischen Mauern, die
damals die Stadt umgaben. Die Straßen sind morgenländisch eng mit ihrer dem
Gang der Sonne entgegenlaufenden Hauptrichtung; die Häuser sind weiß gelallt,
geschlossen und haben kühle Höfe, die sich nach oben zu verengen, um die Sonne
auszuschließen.
Der Sevillaner selbst aber erinnert in nichts an den Mauren, weder an
den endigen, hochkultivierten des Mittelalters noch an seinen jetzt lebenden
unfähigen Nachkommen, der mit gekreuzten Beinen in den marokkanischen Rinn¬
steinen sitzt und verhornen vor sich hinstarrt.
Es sei denn, daß die Frauen der höhern Gesellschaftsstufen in ihrem Hang
dciheimzusitzen, in vage Stimmungen zu versinken und Fett anzusetzen, einen
Haremszug bewahrt hätten. Die ganze Woche kann verstreichen, ohne daß man
eine einzige bessergestellte Sevillanerin auf der Straße trifft, und die Stadt
scheint einem zuletzt, trotz ihres Rufes schöner Frauen, eine der schönheitsver¬
lassensten auf Erden. Sonntag Nachmittags dagegen öffnet die Schönheit all
ihre Schleusen, und jedes Herrschaftstor wird zu einem kleinen Born üppiger
weiblicher Reize. Um fünf Uhr wimmelt die Promenade längs des Guadal-
quivir von eleganten Glaskutschen auf Gummirädcrn, und in jeder Kutsche ruht
eine üppige Sevillanerin, großäugig und wuchtig, in Seide und Spitzen gehüllt —
eine tüchtig geschnürte Haremsschönheit.
Diese etwas fetten aber übrigens stilvollen Schönen sind dieselben, die die
sechs andern Tage der Woche von früh bis abend daheim herumsitzen, unge¬
kämmt und in einer kattunenen Nachtjacke, und deren einziger Ausflug von der
Wohnstube auf den Balkon geht. Die sonntägliche Exkursion erinnert an die
wöchentlichen des Serails, nur daß hier das Volk nicht mehr verjagt wird,
sondern vollzählig in allen Abstufungen zur Stelle ist. Sevillas Promenade
ist vielleicht die einzige der Welt, die für alle Klassen da ist; hier promeniert
Pracht und Einfachheit und Armut so natürlich Seite an Seite, als Hütten sie
einander ein Stelldichein gegeben. Hier sind wandernde Lumpenbündel so stolz,
als verbargen sie einen spanischen Granden. Sie schleudern der vornehmsten
Schönen in dreisten Ausdrücken ihre Bewunderung ins Gesicht, die keineswegs
übel aufgenommen wird; und sie saugen den Glanz des Reichtums mit einer
Unverstelltheit in sich ein, die noch nichts von Proletarierhaß kennt. Aber sie
kriechen vor ihm nicht im Staub, er hat keine Macht über sie. Vielleicht ist
dies die Ursache, weshalb sie ihn nicht hassen.
Der Sevillaner ist unfähig, aber nur dem Nützlichen gegenüber. Er hat
einen weitoffnen Sinn für alles, was ablenken und zerstreuen kann, und der
Menschenstrom auf Straßen und Plätzen erzeugt den doppelten Eindruck von
lässigen Müßiggang und rastlosem Jagen. Tausende von Fremden kommen
jährlich nach Sevilla, aber dennoch kann sich die Stadt das billige Vergnügen
nicht versagen, jeden Neuen auszulachen. Sie bilden Spalier, wo der Aus¬
länder geht, Reiche so gut wie Arme, rufen einander unschuldige Witze zu,
schleudern ihm englische und deutsche Brocken nach, puffen sich wohl auch hinter
seinem Rücken und unterhalten sich königlich. Niemand ist zu gering und selten
einer zu vornehm, um nicht an dem Amüsement teilzunehmen. Wendet man sich
mit einer Frage an einen, so antwortet er höflich — sofern er es vor Lachen
kann — und ist im nächsten Augenblick der interessante Mittelpunkt von hundert
Wißbegierigen.
Geht man in einen Laden, so füllt er sich mit Neugierigen, und die, die
keinen Platz darin finden, stehen scharenweise draußen auf der Straße. Der
Geschäftsmann — wenn man einem sevillanischen Handelsbeflissenen diesen
Namen geben kann — fängt sogleich an, im Interesse der Zuschauer seine
Informationen einzuziehen: über Nationalität, Vermögensverhältnisse und Reise¬
zweck, und erst nach wiederholten Mahnungen wird man bedient. „Das erinnert
ja fast an einen Haufen Wilder", sagte ich einmal unter diesen Umständen zu
einem Buchhändler und wies auf die Menge. „Lomos asi — so sind wir nun
einmal", antwortete er etwas spitzig. Er fand meine Kritik übel angebracht.
Und was soll auch hier die Kritik? Sie drängen sich ja nicht, um den
Fremden zu ärgern, sondern um sich selbst zu unterhalten. Er war ja bloß
der kleine Zündstoff, an dem die Freude fing; sie begreifen nicht, wie ihn das
verdrießen kann, da ja in ihrem eignen Kreis niemand fröhlicher dreinsieht, als
der, der die Zielscheibe der allgemeinen Lustigkeit ist.
Und er mag auch getrost wegbleiben. Mit dem Lachen hat es keine Not,
solange man über ein Nichts lachen kann, und das kann der Sevillaner. Der
Humor bricht aus ihm hervor, selbst wenn er allein auf der Straße geht, als
Lächeln, als klingendes Gelächter, als zwei, drei Tanzschritte.
'
Viele Varietes in einer Stadt sind ein Zeichen von Melancholikern.
Sevillas nahezu zweihunderttausend Einwohner haben keines, brauchen keines;
ihr Humor ist so leicht entzündbar, daß er von selbst fängt. Eine Selbsteinkehr
kennen sie nicht; die kleinen Torheiten — wie Anwandlungen von Fleiß, bürger¬
licher Tugend oder Fortschrittsbestrebungen, zu denen man sich im Laufe des
Jahres etwa verleiten ließ — werden abgespült in dem befreienden Lachen über
ein modernes Verantwortlichkeitsdrcima. Ibsen und Björnson wirken hier ein¬
fach als Komiker, die mit trefflich durchgeführten Ernst mit der nordeuropäischen
Kopfhäugerei ihren Spott treiben.
Sevilla ist das Heim der Stiere, der Stierfechter und der Stiergefechte; die
Stadt des Tanzes, der Fächer und der Kastagnetten. Hier kann man sich eines
späten Abends durch enge Gassen winden, gelockt von der lustigsten Musik, und
nicht in einer Tauzkneipe, sondern in einer Kirche landen, wo der Priester vor
dem Altar steht und die Messe hält, unterstützt von einem feierlichen Männer¬
chor. Und so oft der Chor ein paar Strophen in sein düsteres Miserere hinein¬
geraten ist, sprudeln Kastagnetten, Tamburin, Becken und Triangel in einem so
verführerisch wilden Tanz dazwischen, daß die Andacht weichen muß und alle
frommen Madonnenaugen Funken sprühen. Bis daß wiederum die Andacht mit
Hilfe der düsteren Strophen von der heiligen Stätte Besitz ergreift und aber¬
mals weichen muß. Es ist wie ein abwechselndes Überrieseln von Fleisch
und Geist.
Lange hatten wir nach einer Gelegenheit gespäht, sizilianischen Tanz zu
sehen; endlich kam sie — in der Kathedrale selbst. Dort sahen wir eine ganze
Woche hindurch jeden Abend zehn Knaben vor dem Hochaltar tanzen, zum
Preise der unbefleckten Empfängnis. Sie waren in Pagenkostüme aus dem
siebzehnten Jahrhundert gekleidet und sangen und schlugen Kastagnetten zum
Tanz. Schön war es; und es ist begreiflich, daß das tanzliebende Sevilla an
diesem einzigstehenden Kirchenfest Los Seises festhält, das keine andre Kirche
in der katholischen Christenheit abzuhalten Erlaubnis hat, und das mehrere Päpste
vergebens abzuschaffen versuchten.
Denn dem fröhlichen Sevillcmer ist nur eines heilig: die Freude selbst.
Alles, was diese dämpfen will, reizt ihn zu Spott; die Frömmigkeit im eignen
Gemüt füllt ihn mit blasphemischem Verlangen, das mit der Stärke seiner
Gottesfurcht zu wachsen scheint. Nirgends in dem blasphemischen Andalusien
vereint sich Gottesfurcht und Gottesverhöhnung so leicht und natürlich in der¬
selben Person wie hier. Ich könnte dies mit zahlreichen Exempeln beleuchten,
begnüge mich aber nur mit einem der anständigsten.
Während unsers Aufenthalts in Sevilla wohnten wir bei zwei ältern
Damen, Schwestern, die sehr fromm waren und uns bei jedem Schritte der
Obhut irgend eines Heiligen anbefahlen. Aber einen guten Humor hatten sie
dennoch. Eines Tages rieten sie uns eindringlich, zu Zwecken unsers heutigen
Vorhabens zuerst in die Kathedrale zu gehn und die Madonna der Könige,
die diese Art Angelegenheiten unter sich habe, um ihre Gewogenheit anzuflehen,
denn sie könne große Wunder verrichten. So habe einmal ein Priester ihr
Kleid aufgehoben, um zu sehen, „woraus sie gemacht sei; und sie schlug ihn
mit Blindheit. Denn sie war ja nur aus Holz", fügten sie erklärend hinzu
und lachten.
Es war Sevilla, das auf den Gedanken verfiel, ein eingezognes Kapuziner¬
kloster entferne sich gar nicht von seiner Idee, wenn man eine Aktien-Schweine-
züchterei dort errichte. Der Sprung scheint auch nicht groß zu sein, man riecht
den Kapuziner auf größere Entfernung als ein Schwein, und mit Rücksicht auf
die Farbe sind sie so ziemlich gleich. Außerdem war es jedenfalls — was der
Seltenheit wegen hervorgehoben werden muß — ein ökonomischer Fortschritt.
Und jeden Sonntag wandert nun der Sevillaner hinaus und betrachtet die
Hunderte von Schweinen, die sich nun in Zellen und Klostergängen tummeln,
und deren Schinken, in Wein gelegt und in Kräutern geräuchert, das Pfund
einen Dollar kostet.
Als der germanische Gebrauch, auf den Friedhof zu gehn und seine Toten
zu besuchen, vor einigen Jahren auch Sevilla erreichte, faßte man ihn ganz
einfach als Belustigung auf, und alle ehrbaren Familien, ob sie nun draußen
Tote hatten oder nicht, packten Sonntags Speisen und Wein in ihren Korb
und wanderten auf den Kirchhof hinaus, wo sie — so weit als möglich von
dem Grabe ihrer Lieben — ein kleines Freudenfest feierten. Später verbot es
jedoch die hohe Obrigkeit, und seitdem gehn die Leute wieder weit um den
Kirchhof herum.
Sevilla hat trotz seines herrlichen Klimas den höchsten Sterblichkeitsprozent¬
satz aller spanischen Großstädte. Aber wo andre Städte dieser Fatalität mit
Kloakensystem und andern sanitären Vorkehrungen begegnen würden, da setzt
Sevilla ihr bloß ihre unverwüstliche Lebensfreude entgegen; die Stadt hat auch
die höchste Geburtsziffer und weiß nichts von Selbstmord. Aber diese drei Dinge
sind nach Aussage der Nationalökonomen ein untrügliches Zeichen des Rück¬
schritts in der Kultur. Wenig Todesfälle, wenig Geburten und viele Selbst¬
morde, dann erst wird Sevilla der europäischen Kultur teilhaftig sein.
Am höchsten steht die Stadt auch in der Anzahl der Unehelichgebornen,
17,4 Prozent gegen Barcelona 2,6. Das deutet auf verderbte Sitten, sagen
die Priester. Nur nicht Sevillas eigne Priester; sie behaupten energisch, die
Stadt sei die erste Spaniens. Sind die Frauen etwa nicht die anerkannt
schönsten des Landes? Hat die Stadt nicht eine Domkirche, die an macht¬
voller Pracht mit den ersten Kirchen der Welt wetteifert und von manchen
Sachkundigen sogar über die Peterskirche in Rom gestellt wird? Gibt es eine
Bevölkerung, die so vertrauensvoll wie die sevillanische das Himmlische ganz
und gar in die Hand der Priester legt? Oder eine, die ehrlicher die Kirchen¬
feiertage hält? Und das alles ist wahr. Sevilla hat dreißig Feiertage im
Jahre, und die übrigen sind nicht allzusehr Arbeitstage. Dennoch reichen sie
nicht hin, der Freude Ausdruck zu geben, und die ganze Nacht widerhallen
die Straßen von Gesang und Geklimper und heißblütigen Rufen.
Die Nacht in Sevilla ist aber auch unbeschreiblich schön.
!le Bauersfrau hatte ihren Mann geweckt. siech nur einen runger
in'n Hof, sagte sie, wenn nur nich gar etwan eens von den Kälbern
ins Jauchenloch geschterzt is: se schtiehn alle mit brennenden Laternen
!drum rum.
Das Ding sah in der Tat bedenklich aus. Es gibt zwar auf
!so einem Bauerngute bis in die frühen Morgenstunden immer ein
gewisses hin und her, aber ein hin und her, bet dem Laternen grundsätzlich ver¬
mieden werden, und um das sich ein Bauer, der in gewissen Punkten fünf gerade
sein läßt, grundsätzlich nicht kümmert: wenn aber die Knechte mit Laternen hin
und her laufen, ist es eine andre Sache. Da ist etwas los, wonach man sehen
muß, um sich vor weiteren Schaden zu bewahren und bei rechter Zeit Abhilfe
zu schaffen.
Der Bauer hatte sich kaum Zeit genommen, mit den Beinen in eine Hose,
mit den Füßen in ein Paar Pantoffeln zu fahren und war hinunter in den Hof
geeilt. Sie umstanden die Grube mit Laternen, schrien und gestikulierten wild
durcheinander, und in dem dunkeln Element der geöffneten Grube schürfte der
Großkuccht mit einer langstieligen Schöpfkelle herum, einem unheimlichen Suppen¬
löffel, der im Nu alle achtzehnhundertundsechzig Zimmer des Eskorials samt dessen
zweiundzwanzig Höfen mit seinem Duft zu sättigen vermocht hätte. Der dicke
Soldat, den Karl mit nach der Bahn genommen hatte, war, so erfuhr der Bauer,
des Lebens überdrüssig gewesen und hatte in der an sich nicht gerade einladenden
Flüssigkeit ein vorzeitiges Ende und Vergessenheit seiner Leiden gesucht. Sie haltens
ihm gleich angemerkt, daß er das Leben satt hatte, denn es war mit ihm nichts
zu reden gewesen, und er hatte alles stillschweigend über sich ergehn lassen wie
einer, dem im Vorgefühl seines nahen Endes alles gleich ist. Daß er zu Mittag
und zu Abend trotz seines Lebensüberdrusses für zweie gegessen und getrunken
hatte, schien keiner von ihnen bemerkt zu haben: der dicke Soldat war eben ihrer Über¬
zeugung nach lebensmüde gewesen, und daß er mit Karl nach der Station nur gefahren
war, um sich von einem Zuge überfahren zu lassen, war sehr wahrscheinlich. Der
Großknecht fischte vergebens. August, das kleine Vorwerk, hatte sich auch ein¬
gefunden und mit ihm Peterle, das zottige Hundeungetüm, das der Grube keine
Beachtung schenkte und Augusts Aufmerksamkeit vielmehr auf eine dunkle Fährte
zu lenken bemüht war, die, ihre Herkunft durch ihren Duft verratend, quer über
den Hof weg nach einem nicht, wie es die Hofordnung wollte, geschlossenen,
sondern trotz der späten Stunde offnen Gattertor zu führen schien. Peterles Vor¬
schlag fand Anklang. Sämtliche Laternen, Nasen und Urteile stimmten dahin
überein, daß der dicke Soldat von seinem verzweifelten Entschluß, seinem jungen
Leben in der Jauchengrube ein Ende zu machen, zurückgekommen sein müsse und
sich, nachdem er wieder heraufgeklettert, in weiterer selbstmörderischer Absicht nach
der Schwemme begeben haben werde, einem kleinen Teiche, zu dem man durch
das ebenerwähnte Gattertor gelangte, und der außer zum schwemmen der Pferde
auch zuni Waschen der Wagen diente. Zu diesem Zwecke befand sich von alters
her an der nach dem Hofe zu gelegnen Seite eine gepflasterte Rampe, auf der die
Wagen ins Wasser geschoben wurden, und obgleich weiter hin auch Erwachsene
keinen Grund mehr hatten, so diente doch das vom Ufer aus in sanfter Senkung
aus dem seichten allmählich ins tiefere führende Pflaster den Kindern als Bade-,
den Mägden als Waschplatz. Inzwischen hatten sich auch diese und auch Robert
eingefunden. Wenn man einander im Eifer des Suchens auch ab und zu ge¬
hörig mit der Laterne gegen den Schädel stieß, so tat das der unter dem jungen
Volke herrschenden Kirmesstimmung keinen Eintrag: man würde kaum geglaubt
haben, daß Christenmenschen mit solchem Hallo und mit so ausgelassener Fröhlich¬
keit nach einem Ertrunknen suchen könnten. Freilich fanden sie auch keinen,
denn der dicke Soldat schien sich abermals eines bessern besonnen und kehrt ge¬
macht zu haben, als ihm das Wasser an der Kehle stand. Eine mit Hilfe von
Peterle sehr bald ermittelte Spur führte zurück nach dem Hofe, und zwar in
gerader Linie nach dem vor dem Quartiere der Soldaten behaglich plätschernden
Röhrwasser, in dessen Trog zwar kein ertrunkner Soldat, wohl aber ein von
den Miasmen der Grube noch immer nicht befreiter Kommißdrellcmzug ent¬
deckt wurde.
Als man nun in hellen Haufen in das Zimmer der Einquartierung stürmte,
fand man da nicht, wie man erwartet hatte, Gottlieb den dicken Soldaten, sondern
zu manniglichen Erstaunen in eine wollne Decke wie in eine Toga drapiert den
Spatz, der sofort alle Schleusen seiner Beredsamkeit öffnete. Was war das für
eine Art, das Jauchenloch über Nacht offen zu lassen, daß jeder, der keine Laterne
bei sich hatte, hineinfallen mußte? Sollte er sich vielleicht bei denen, die es nicht
der Mühe wert gefunden hatten, die paar Bohlen wieder an Ort und Stelle zu
legen, auch noch dafür bedanken, daß er bei seinem Sturz nicht Hals und Beine
gebrochen habe? Wie kam er dazu, für den Rest seiner Tage wie ein Wiedehopf
zu stinken? Gab es auf dem Hof keine Aufsicht? Für zehn Uhr Vormittags
war eine Aufstellung in Drellsachen befohlen. Wie sollte er die seinigen bis dahin
einweichen, waschen, brühen und wieder trocken kriegen? War es seine Schuld,
wenn er wegen des Gestanks, den er verbreitete, Strafstalldienst aufgebrummt
bekam? Der Schwall seiner Rede war so gewaltig, daß man allgemein einsah, es
sei ihm Unrecht geschehen, und mau dürfe ihn nicht im Stiche lassen. Statt ihn
zu fragen, was er eigentlich bei nachtschlafender Zeit in einem Teile des Hofes
gewollt habe, in dem er nichts zu suchen hatte, bemühte sich der Bauer gutmütiger-
weise, den anscheinend wirklich entrüsteten nach Möglichkeit zu beruhigen, und
nachdem sich alle, die je mit der schrecklichen Grube in geschäftliche Berührung ge¬
kommen waren, hoch und teuer verschworen hatten, sie hätten sie nie ausgelassen,
sondern immer so schnell wie möglich wieder zugemacht, was ja durchaus begreiflich
war, erklärte sich eine der Mägde bereit, sofort den kleinen Waschkessel zu heizen
und alle Hantierungen, die zur Reinigung, Desodorisierung, Trocknung und Mangluug
der mit dem Spatz in die Grube gefallnen Kleidungsstücke nötig waren, so rasch
und so energisch vorzunehmen, daß er in ihnen bei der Aufstellung mit Ehren werde
erscheinen können.
Aber der dicke Soldat, wo konnte der stecken? Weder der Gefreite, der sofort
aufgestanden war, noch die beiden andern hatten ihn gesehen, seit er mit dem
Milchkutscher zur Bahn gefahren war, und aus dem war nichts herauszubringen,
denn er lag in unzurechnungsfähigen Zustande auf einem der Soldatenbetten und
jammerte: nun sein bester Freund ihm in den Tod vorangegangen sei, habe auch
er auf dieser Welt nichts mehr zu suchen. Er hatte, als er von der Station spät
in der Nacht mit den von Bautzen zurückgesandten leeren Milchgefäßen hatte heim¬
fahren wollen, Gottlieb nicht finden können und war ohne ihn, dafür aber in
Begleitung eines ganz gehörigen Affen auf dem Vorwerk angekommen. Hier war
er selbst über eine der herumliegenden Verschlußbohlen gefallen und hatte bei dieser
Gelegenheit eine Husarenmütze aufgelesen, die Spatz verloren hatte, von der er
sich aber einbildete, sie müsse Gottlieb gehören. Er hatte deshalb, in der Hoffnung,
daß rasches Handeln noch Hilfe bringen könne, Lärm geschlagen. Die von ihm
geweckten Knechte hatten seine Schreckensnachricht für bare Münze genommen, und
wenn ihnen nicht Peterle mit seinem gesunden Hundeverstand zu Hilfe gekommen
wäre, stünden sie vielleicht noch da und suchten. Daß Gottlieb nicht in der Grube
und nicht im Teiche als trauriger Überrest eines einstigen Husaren herumschwamm,
war ja nun klar, aber wo war er? Ebenso wie sich der Milchkutscher einen ge¬
kauft hatte, so konnte das auch Gottlieb, der ja in dessen Gesellschaft gewesen war,
fertig gebracht haben. Und leicht konnte ihm in einem solchen Zustande, und da
er mit der Örtlichkeit nicht vertraut war, etwas Ernstliches zugestoßen sein: in
finsterer Nacht ist auf einer Eisenbahnstntion ein Unglück so leicht geschehen. Wenn
man der Sache auf den Grund gehn wollte — und das wollte der Bauer, denn
es sollte nicht gesagt sein, er habe sich nicht, wie es sich gehöre, um seine Ein¬
quartierung gekümmert —, mußte man irgend welche» Anhalt aus dem Milch¬
kutscher herauszubringen suchen. Von vier kräftigen Armen aufgenommen, lag er
im nächsten Augenblick mit dem Kopfe unter der Dusche der Pumpe. Sobald sich
infolge des belebenden Strahls seine Vorstellungen etwas geklärt hatten, und er
wieder einigermaßen Atem holen und stehn konnte, schoß er los. Unweit der
Station befand sich eine Giftbude: Zeidler hieß der Wirt. Die Milchkutscher,
die Abends zu dem um neun Uhr in Bautzen eintreffenden Zuge die Milch von
den Gütern brachten, mußten bis nach zehn warten, wenn sie die am Morgen
voll abgesandten, am Abend leer zurückkommenden Gefäße rin nach Haus nehmen
wollten, natürlich verbrachten sie die dazwischen liegende anderthalb Stunde bei
„Zeidlersch", wo es außer Bier auch Schnaps gab, und wo ihnen in zahlreicher
fideler Gesellschaft die Zeit nie lang wurde.
Mer waren doch bei Zeidlersch gegangen, ich un Gottlieb, so leitete der Milch¬
kutscher seine Aussage ein. Des Wörtchens doch bediente er sich grundsätzlich, wenn
er etwas berichtete, was entweder ungehörig war, oder wovon niemand außer ihm
etwas wissen konnte. Es diente seiner Überzeugung nach dazu, jeden unbequemen
oder vorwurfsvollen Einwand im Keime zu vernichten und gewisse Tatsachen, auf
die er als entlastende Momente rechnete, als notorisch hinzustellen.
Ich tat en freihalten, weil doch mei Bruder ooch bei den Husaren gedient
hat. Un was die andern waren, die taten uns ooch freihalten, weil se sich doch
nich willten lumpen lassen. Wie mer den Zug kommen heerten, machten mer alle
nan uf de Schtation, un wie ich meine fufzehn Kannen beisammen un ufgeladen
hatte, sate ich ieber Göttlichen: Nu wollen mer scene fahren. Ich dachte doch, er
mißte hinter mir schtehn. Wie ich mich aber umsehn täte, weg war er. Ernst,
sat ich ieber Lockes ihren, hast du meinen Soldaten nich gesehn? Nee, sate der,
er war doch eben noch da, wie daß mer de Kannen Sortieren taten. Nu eben, sat
ich und täte Kendlersch ihren frahn: aber der hatt 'n ooch nich gesehn un die andern
ooch nich. Er werd e Schlicke vorneweg gegangen sin, wenn de fix fährscht, holst 'n
noch vorn Dorfe ein. Aber ich tat en nich einholen, und zwee Soldaten, denen
ich im Dorfe mit ihren Mädels begegnete, die hatten 'n ooch nich gesehn.
Da turuf nischt helfu, sagte der Bauer, da missen mer anschpannen un nuf
fahren un uf der Schtation fragen, ob s 'n da nich gesehn ham. Wenn nur da
nich etwan was passiert is. Auf der Bahn konnten sie auch keine Auskunft geben.
Die Morgendämmerung war inzwischen schon hereingebrochen, und zu des Bauern
Beruhigung war auf der Bahnstrecke, soweit man sie übersehen konnte, alles klar
und in Ordnung. Während man im Stationszimmer noch die Möglichkeiten, wie
sich die Sache aufklären könne, besprach, wurde am Apparat angelandet, und Bischofs-
werda meldete: Kollo schlafender Husar aus Güterwagen 2357 ^ ausgeladen. Wird
mit Frühzug retourniert.
Das is Gottlieb, sagte der Milchkutscher durchdrungen, als ihnen der Stations¬
vorstand das Telegramm vorlas. Weil mer doch von den echten Königsberger ge¬
trunken hatten, wo 's Glas hiezu Ferge kost.
Der Bauer bat den Stationsvorstand, sich des Husaren bei dessen Eintreffen
anzunehmen: wenn der Kutscher die Verladung der Frühmilch besorgt habe, könne
er ihn dann gleich mit zurückbringen.
Die Sonne war klar und golden, eine echte Sonntngssonne, an dem wie ein
Opal strahlenden Himmel aufgegangen. Auf einem Gehöfte wie dem Roten Vor¬
werk spürt man in den ersten Morgenstunden den allgemeinen Rast- und Ruhetag
weit mehr als in der Stadt. Die Wagen, Eggen und Pflüge stehn, wie zu einer
Besichtigung, in Reih und Glied, der Hof ist gekehrt, das Vieh, das es sehr wohl
merkt, daß heute eine Stunde später aufgestanden wird, blöke hungrig und durstig
in den Ställen, und die Pferde geben ihre Ungeduld durch Kettenrasseln und un¬
ruhiges Stampfen kund. Nur was mit dem Melken und mit dem Fortschaffen
der Milch nach der Bahn zusammenhängt, will auch am Sonntag in der frühsten
Stunde getan sein, aber sobald der Wagen mit den Kannen weg ist, tritt die
Sonntagsruhe wieder in ihr behäbiges Recht.
Allmählich kam jedoch Leben in die Sache: der Bauer, die Knechte, die Mägde
erschienen, die Bauersfrau ging über den Hof, um die Hühner herauszulassen,
Suschen kam bald hinterher, um thuen Futter zu streuen, August begleitete die
drei Soldaten, die auch Gottliebs Braunen mitzuversvrgen hatten, in den Stall,
und als Gottlieb mit dem Milchwagen ankam, saß man schon beim Frühstück, bet
dem es heute weniger eilig herging als in der Woche. Es war nicht viel aus
ihm herauszubringen: er war zunächst in den Stall gegangen, um nach dem Braunen
zu sehen und den über seine Abwesenheit zu beruhigen, und da er ihn versorgt
und wohlaufgehoben gefunden hatte, war ihm nun mehr am Frühstücken als am
Erzählen gelegen. Er hatte immer einen gesegneten Appetit, der sich auch heute
trotz der genossenen vielen Königsberger nicht verleugnete. Er war nicht in den
Güterwagen gestiegen, weil er ihn für ein Himmelbett angesehen hatte, wie dies
Spatz zu glauben vorgab, sondern um sich nützlich zu macheu und darin nach einer
der Kannen des Roten Vorwerks zu suchen, die der Kutscher anfänglich nicht hatte
finden können, weil sie ein andrer aufgeladen hatte. Als die Tür mit einemmale
zugeschoben worden war, und er sich eingesperrt gefunden hatte, hatte er sich, wie
das seine Art war, ruhig in sein Schicksal ergeben und schlafen gelegt: er war in
Bischofswerva erst entdeckt worden, als man den Wagen irgendwo anders hatte
einrangieren wollen und deshalb nachgesehen hatte, ob er leer sei.
Wie man es dem ganzen Hofe ansah, daß er aus alter Zeit stammte, so
auch dem Garten. Der fette Boden, der Blumen und Sträucher in erstaunlicher
Üppigkeit und Fülle hervorbrachte, war erst durch vieljährige Düngungen zu einem
solchen Reichtum gelangt, und so wenig von einer künstlerischen Anlage die Rede
sein konnte, da nur ein schmaler Weg in schnurgerader Richtung von der Cingcmgs-
tür nach der Laube führte, so bot der Garten doch einen so gedeihlichen Anblick
dar, und der thu erfüllende Duft war so süß und gewürzig, daß dem, der ihn
betrat, die besondre Schönheit, der besondre Reiz des altmodischen Bauern- und
Pfarrgartens wieder recht gefangen nahm. Dem modernen Ästheten sind ja solche
von der Natur mit überschwenglicher, man möchte sagen barbarischer Pracht und
Buntheit überladne Beete ein Greuel, und zwar, was das Prinzip anlangt, vielleicht
mit Recht, aber das Gefühl reichen Gedeihens, das uns in eine so behagliche
genußreiche Stimmung versetzt, der auf den schweren, beinahe zu dicht sprossenden
Blütendolden so warm und so ungestört ruhende Sonnenschein, der Duft von
Hunderten von Blüten, die wir in der Stadt nur wegen ihrer Farbe schätzen
können, sind doch etwas ganz andres als das, was uns nach den Regeln der Kunst
alljährlich neu angeordnete und gestutzte Anlagen zu bieten vermögen.
Emil, dem dieses von Menschenhänden nicht gemodelte, von der Natur mit
ihrem reichsten Überfluß überschüttete Gedeihen recht zu Sinne war, stromerte eben,
Duft und Schimmer durch alle Poren in sich aufnehmend, zum dritten oder vierten
male den schmalen Weg vor und zurück — selbst die Pfauenaugen und die roten
Admiräle kamen ihm hier größer, farbenprächtiger, furchtloser, üppig lässiger vor —,
als er hinter sich das Geräusch der kleinen Schellen vernahm, die, in eine Draht¬
trommel eingeschlossen, ihr Geklirr hören ließen, so oft die durch ein angehängtes
Gewicht zum Selbstschließen eingerichtete Tür geöffnet wurde. Hannchen kam. um
ein paar Blumen und Blätter zu pflücken, möglichst stark riechende, wie Reseda,
Salbei, Pfefferminze, von denen jedes, sie, ihre Mutter und ihre Schwester ein
Strciuszchen mit in die Kirche zu nehme» gewohnt war. Wenn man vom sonnabend¬
lichen „Scharwergen" noch ein wenig ermüdet war, wenn die Predigt ohne Donner
und Blitz, ohne daß der Pfarrer mit den Fäusten den Staub aus dem Kissen des
Kanzelbretts klopfte, in zu gleichmäßigem Rinnsal dahinfloß, als daß sich einem
die Müdigkeit nicht wie ein bleierner Mantel aufs Haupt hätte senken sollen, so
sog man verstohlen den belebenden Duft ein, und die Gefahr des Einnickens war
für ein Weilchen beseitigt.
Natürlich half Emil Hannchen pflücken, und zwischen den beiden kam sofort
stillschweigend eine Arbeitsteilung zustande, die man in solchen Fällen als Symptom
nicht übersehen sollte. Hannchen wies mit ihrem niedlichen rosenfarbnen, wie ihre
ganze Person etwas plumpsigen Zeigefinger auf die Blume, nach der sie Verlangen
trug, und Emil pflückte sie, was natürlich im nächsten Augenblick die Folge hatte,
daß die kleinen plumpsigen Finger bei Entgegennahme des Gepflückten mit den um
ein gutes Stück derbern Neiterfingern in notwendige Berührung kamen, ohne das
als etwas Lästiges zu empfinden. Emil, der ein praktischer junger Mensch war,
riet auch den Asparagus nicht zu verschmähen, da man damit im Augenblick der
Gefahr die Nasenlöcher kitzeln könne, ein Vorschlag, der ein so silberhelles Lachen
hervorrief, daß sich eine der in der Trommel über der Tür eingeschlossenen Schellen
zu ihren Gespielinnen über die unausstehliche Schneegans beklagte, die sich auch
noch etwas auf ihre „gäkige" Stimme einzubilden scheine.
Mit dem Pflücken wäre es noch wer weiß wie lange weiter gegangen, wenn sich
Hannchen, die längst mehr Blumen beisammen hatte, als sie brauchte, nicht erinnert
hätte, daß sie außer um der Blumen willen noch wegen etwas andern in den Garten
gekommen war. Sie zog ein Paketchen aus der Tasche, das Emil für eine eingewickelte
Frühstückssemmel hielt, und überreichte es ihm mit holdem Erröten. Da er morgen
weggehe, sagte sie, so wolle sie ihm etwas, das sie selbst gearbeitet habe, mitgeben,
damit er manchmal an sie denke. Es konnte also doch kaum eine Frühstückssemmel
sein: dazu paßte das „selbst gearbeitet" nicht, und Frühstückssemmeln sind ja doch
auch weniger zum Aufheben als zum baldigen Verzehren da. Es gibt, wenn einem
eine solche Bescherung zuteil wird, allerhand Arten, sich zu bedanken. Wenn die
Geberin jung und hübsch ist, wenn sie bei der Überreichung des Andenkens ein
sanftes Erröten nicht hat unterdrücken können, und wenn man sich obendrein mit
ihr in einem von üppigem Duft erfüllten, von Farbenpracht und Sonnenglanz
strotzenden Bauerngarten allein befindet, so dürfte für einen Husarengefreiten reden
kaum am Platze sein, sondern handeln. Emil hatte eben das Paketchen und
Hannchens Hände erfaßt, um zu handeln, als die neidischen, in ihre Drahttrommel
wie in ein Kloster eingesperrten Schellen, die so etwas nicht mit ansehen konnten,
einen Heidenspektakel ansingen. Emil hatte kaum Zeit, das Tableau wieder bürger¬
lich banal zu gestalten, indem er rasch einen Schritt zurücktrat und die vermeint¬
liche Frühstückssemmel mit Gewalt in seine Tasche pfropfte, als in der geöffneten
Tür ein, was gesundes Aussehen anlangte, ganz zum Garten passender Hvfejunge
erschien, um Hannchen abzurufen, da „die Frau" das Gewürzkästchen nicht finden
könne. Vorwurfsvolle Blicke töten nicht: der pausbäckige Hofejunge wäre sonst
sofort eine Leiche gewesen. Hannchen hatte, seitdem man gestern mit „Schnrwergen"
aufgehört hatte, den Weg zum Altar in ihren Siebenmeilenstiefeln so oft allein
zurückgelegt, daß es nach ihrer Meinung nun Zeit war, auch dem für die eigent¬
liche Fahrt ausersehenen Partner ihre Absichten wenigstens andeutungsweise nahe
zu legen. Ein zartes Geschenk, dachte sie, würde ihm die Augen über ihre Ge¬
fühle öffnen und ihn veranlassen, die Einladung zur gemeinschaftlichen Reise, die
ja, wie sie sehr wohl einsah, von ihm und nicht von ihr ausgehn mußte, in deut¬
lichen Worten auszusprechen. Sie hatte für ihren Bruder, dessen Geburtstag wie
der ihres Vaters im Spätherbste war, ein Paar prächtige Hosenträger mit bunten
Nelken gestickt, die der Bnntzner Beutler mit weißem Waschleder aufs herrlichste
und in einer für lange Jahre allen Strapazen gewachsnen Weise fertig gemacht
hatte: auf der Rechnung stand: mongdiert. Die wollte sie dem netten Gefreiten
zum Andenken und als einen leichten Wink mit dem Schenntor verehren. Wenn
ihm das die Augen nicht öffnete, so war er blind. Ihrem Bruder konnte sie ja,
wenn sie das na'chstcmcil nach Bautzc» fuhren, etwas andres dafür kaufen. Ganz
so deutlich, wie sie es gehofft hatte, war freilich infolge der Dnzwischenknnft des
Hofejungen der Dank nicht ausgefallen, aber der erste Anlauf war doch ziemlich
vielversprechend gewesen, und der heutige Tag war noch laug: vielleicht fand sich
noch eine Gelegenheit, da wieder anzuknüpfen, wo mau unterbrochen worden war.
Auch Emil hoffte auf eine solche. Er hatte das Paketchen verstohlnerweise,
und ohne den andern etwas davon zu sagen, geöffnet. Vom ersten Orte aus, wo
sich ein Postamt befand, wollte er die Hosenträger, die ihm viel zu schön vor¬
kamen, als daß er sie im Dienste hatte trage» mögen, nach Hause schicken und sie
erst an seinem Hochzeitstage zum erstenmal anlegen. Man sieht, auch seine
Wünsche und Hoffnungen waren mit Siebenmeilenstiefeln gereist: Husarensieben-
meilenstiefel sind zwar weniger zart und zierlich, als was höhern Ortes für
Damengebrauch geliefert Wird, aber auch sie bringen ihren Träger — bisweilen
mit einigen Kurven — zu dem von der Gesellschaft aller zivilisierten Länder er¬
wünschten Ziele.
Als Emil mit den drei andern und den vier Pferden bei guter Zeit zur
Aufstellung auf dem Dorfplatze eintraf — die blendende Frische von Spatzens
Leinwandcmzug stellte alle übrigen in den Schatten —, wurde er von dem Wacht¬
meister empfangen, der ihm befahl, seinen Fuchs einstweilen Gottlieb zu übergeben
und, wie er war, in Drellsachen zum Rittmeister zu gehn und sich Instruktion zu
holen: er solle um eins nach Katzenstein hinüberreiten, um da mit den übrigen
Quartiermachern des Regiments zusammenzutreffen. Der Gefreite, der gestern mit
dem Quartiermacher für die Schwadron beauftragt gewesen war, war überraschend
in den Kommandostab kommandiert worden, und nun sollte er an dessen Stelle
treten. Eine Auszeichnung ohne Zweifel, die er noch vor wenig Stunden mit
ungelenker Freude begrüßt hätte. Nun lagen zwischen ihm und einer solchen un¬
gemischten Freude die verheißungsvoller Hosenträger, deren Locken er fürs erste
wenigstens nicht folgen konnte. Wie singt doch Agathe? Denn Liebe Pflegt mit
Kummer stets Hand in Hand zu gehn!
Auf dem Roten Vorwerk tat es allen leid, als sie bei der Heimkehr aus der
Kirche erfuhren, daß der nette Gefreite schon um eins reiten mußte. Der Bauer
erzählte, wie sie im Feldzuge das fix und fertig auf dem Tisch stehende Mittag¬
essen hatten im Stich lassen müssen, die Bauersfrau nahm sich vor, dem „güt¬
lichen" jungen Menschen ein gehöriges Paket Kuchen mit auf den Weg zu geben
— das Gewürzkästcheu mit dem Safran hatte sich natürlich gefunden —, das
kleine Vorwerk versprach seinen neuen Freund ein Stück durch den Busch zu be¬
gleite», damit er die Stelle, wo er rechts abbiegen mußte, nicht verfehlte, nur
Suschen und Hannchen sagten nichts: sie waren bei Tisch bloß ein bißchen weniger
lustig; das Barometer ihrer Stimmung war auf trübe gesunken.
Beim Wegreiten gab Emil allen die Hand, Hannchen sogar zweimal, indem
er ganz zu allerletzt vorgab, ihr noch nicht „Adje gesagt" zu haben, und als August
mit seinem Schutzbefohlnen und dessen Pferde das Gehöft verlassen hatte, sagte der
sofort wieder obenauf gekommne Spatz: Quartiermacher möcht ich ooch sin: die
Schoppen de Sahne ab.
Emil, ich habe ooch noch was für Sie, sagte August, nachdem die Unter¬
haltung ein wenig gestockt hatte, und er eine Weile schweigend neben dem sein
Pferd am Zügel führenden hergegangen war. E Andenken von Suhen, und dabei
händigte er ihm ein Paketchen ein, das wie ein Zwillingsbruder des heute Morgen
empfangner aussah. Se hat se vor Vätern gestickt, aber nu sollen Sie se ham.
Se wem uns ja uf de Kermse besuchen, wie S' es dem Alten versprochen ham.
Wenn Sie meine Schwester ooch gefällt, da können Se ja mit er reden.
Es ist erstaunlich, wie feinfühlig Erfahrung den von ihr belehrten bis in die
äußersten Fingerspitzen macht! Emil hatte sofort „durch das Papier durch" die
für die Ewigkeit berechneten Schnallen und die zur Aufnahme von Knopflöchern
dienenden, birnenförmigen, mit dickem Waschleder geränderten und gefütterten Leder¬
flecke des Bautzner Beutlers erkannt. Ein zweites Paar Hosenträger und mit
ihnen ein zweites weibliches Herz! Er fühlte sich sofort als unheilstiftendes Mikrob,
als Erreger eines schon im Reifen begriffnen Konflikts. Beide Schwestern konnte
er doch hier in diesem christlichen Lande nicht heiraten, und er hatte es ja auch
nur auf die eine, die im Augenblick die andre war, abgesehen.
August, sagte er, kannst du's Maul halten?
Ja, das konnte August.
Un willst ooch keenen nich wieder sagen, was ich dir sagen were?
Keeren, ganz wahrhaftig keenen.
Un ooch euer keenen?
Mädels sa ich erscht recht nischt.
Hannchen hat mir heite frieh ooch e Paar geschenkt, un wenn der dumme
Junge nich derzwischen gelatscht gekommen wäre mit seiner Gewerzbichse, wern mer,
gloob ich, eenig geworden. Ich kann doch keene zwee Paar Hosenträger nich brauchen,
und wenn ich die hier annehmen täte, mißte doch deine Schwester glooben, ich
wäre willens.
August hatte das Paketchen wieder an sich genommen. Nach einigem Nach¬
denken sagte er: Ich geb s' er wieder un sag er, Sie hätten se nich nehmen können,
Sie hätten schon eene.
Emil fiel ein, was Robert auf dem Hinwege gesagt hatte: was kein Verstand
der Verständigen sieht. Sicher war das, was August vorschlug, das einzig Richtige,
und wer die war, die er schon hatte, das würde ja Suschen seinerzeit auch
„weise wern".
Se sein ja alle beede meine Schwestern — hiermit schloß das kleine Vorwerk
die Besprechung des Gegenstandes —, aber wenn ich eene von beeden heiraten
mißte, macht ichs ooch wie Sie.
Sie waren an die Stelle gekommen, wo für Emil der Weg rechts abbog.
Er stieg auf und drückte August die Hand. Ne wahr, waren seine letzten Worte,
ooch von dem andern Paare sagste niemanden nischt niche? Und damit setzte er
seinen Fuchs in Trab und war bald um die Ecke verschwunden.
(Schluß folgt)
Die Lage in Marokko ist noch immer unberechenbar. Die Wirren haben noch
zu keiner Entscheidung geführt, und die Berichte lauten widersprechend. Während
die europäischen Bewohner der marokkanischen Küstenstädte sehr trübe in die Zu¬
kunft sehen, urteilen die Meldungen des Generals Drude, des französischen Befehls¬
habers, sehr optimistisch, und beide Seiten mögen von ihrem besondern Standpunkt
aus Recht haben. Denn daß bei allen militärischen Aktionen der örtliche Erfolg
des Augenblicks auf feiten der Europäer ist, unterliegt wohl keinem Zweifel, so
wenig auch die wilde Tapferkeit und der kriegerische Sinn der Marokkaner unter¬
schätzt werden darf. Aber die europäischen Ansiedler wissen, daß mit solchen Einzel¬
erfolgen gegenüber der fcmatisierten marokkanischen Bevölkerung wenig anzufangen
ist, und deshalb fürchten sie die Rückwirkungen eines lange währenden Kriegs¬
zustandes zwischen europäischen Mächten und Marokkanern, eines Kriegszustandes
noch dazu, der nicht einmal ein wirklicher Krieg ist und ihnen nicht einmal Garantien
für einen genügenden Schutz durch ihre eignen Freunde bietet.
Um in dieser unerquicklichen Lage endlich einen Schritt weiter zu kommen, hat
sich Frankreich mit Spanien dahin verständigt, daß beide Mächte eine provisorische
Polizei in Marokko organisieren wollen, diese natürlich aus europäischen Mann¬
schaften, Spaniern und Franzosen. Die Kosten wollen die beiden Mächte einst¬
weilen ebenfalls übernehmen. Sie haben von dieser Absicht den andern Mächten
in einer diplomatischen Note Mitteilung gemacht. Unter den Antworten, die darauf
eingegangen sind, ist nach der Lage der Sache die deutsche von besondrer Be¬
deutung. Nachdem vor zwei Jahren der Einspruch Deutschlands gegen die fran¬
zösische Marokkopolitik der ganzen Frage eine neue Wendung gegeben hatte, ist die
öffentliche Meinung in Frankreich in diesem Punkte nervös geworden. Wurden
ja doch geflissentlich die eigentlichen Beweggründe des deutschen Vorgehens in der
französischen Presse möglichst verdunkelt. Damals hatte die deutsche Regierung nicht
die geringste Gewähr, daß die französische Politik die deutschen Interessen respektieren
werde. Ja sie hatte allen Grund, das Gegenteil anzunehmen, da Herr Delcasst in
fast herausfordernder Weise Deutschland auszuschalten suchte. Wenn damals Deutsch¬
land bei der Wahrnehmung seiner berechtigten Interessen nahe an einen Konflikt mit
Frankreich geriet, so war es doch nur die Art der Behandlung der Sache von fran¬
zösischer Seite, die es dahin gebracht hatte. Sobald darin eine Änderung eintrat,
hörte auch die marokkanische Frage auf, einen Konfliktstoff zwischen Deutschland und
Frankreich zu liefern. In Frankreich aber scheint mau immer noch daran zu denken,
daß es uns Vergnügen macht, die Marokkofrage als eine Handhabe zu betrachten,
wodurch wir Frankreich Schwierigkeiten und Verdruß bereiten. An diesem Vor¬
urteil ist freilich die jetzige französische Regierung gänzlich unbeteiligt. Sie hat bei
Eintritt des Zwischenfalls von Casabianca Deutschland gegenüber den Weg ver¬
trauensvoller Verständigung betreten und ist von dieser Haltung seitdem nicht ab¬
gewichen. So ist auch die Autwort, die Deutschland auf die letzte Pariser Note
wegen der Organisation einer provisorischen französisch-spanischen Polizei in den be¬
drohten marokkanischen Hafenstädten erteilt hat, an den offiziellen Stellen in Frankreich
mit Befriedigung aufgenommen und ganz richtig gedeutet worden, während sich
im übrigen ein Teil der Presse den Anschein gibt, als sei diese Antwort ein neuer
Beweis des llbelwollens gegen Frankreich. Die deutsche Negierung konnte nämlich
ein ganz vorbehaltloses Einverständnis mit den Mitteilungen der französischen und
spanischen Regierung nicht aussprechen. Sie mußte, wenn auch in der höflichsten
und maßvollsten Form, immerhin feststellen, daß die Einrichtung der geplanten
Polizei mit der Algecirasakte nicht im Einklang stehe. Denn eine Polizei von
Marokkanern mit französischen und spanischen Instrukteuren, wie sie die Algeciras¬
akte fordert, ist doch recht wesentlich verschieden von einer Polizeimannschaft, die
überhaupt aus Franzosen und Spaniern besteht und von den beiden europäischen
Mächten unterhalten wird. Das mußte die deutsche Regierung in ihrer Antwort¬
note deutlich hervorheben und die Versicherung der französischen und spanischen
Negierung, daß es sich nur um eine vorläufige Maßregel handle, gewissermaßen
unterstreichen, damit nicht der Anschein erweckt werde, als ob die freundliche und
loyale Behandlung der Sache durch die französische Regierung etwa der Anlaß sein
könnte, daß Deutschland den seinen berechtigten Interessen entsprechenden Stand¬
punkt verläßt. So weit können wir natürlich nicht gehn. Darum hat die Re¬
gierung auch den Befürchtungen, die sie an ein wenn auch nur vorübergehendes
Hinausgehn über die Algecirasakte knüpft, offnen Ausdruck gegeben. Es ist
nämlich zu besorgen, daß die auf ihre Unabhängigkeit eifersüchtigen Marokkaner in
solchen Maßregeln, deren provisorischer Charakter ihr Mißtrauen nicht beseitigen
kann, einen Angriff der Fremden auf ihre Rechte sehen, und daß dadurch der
Fanatismus der leidenschaftlichen Bevölkerung gegen die Europäer erregt wird.
Dann kommt es erst recht zu neuen Ausschreitungen. Die europäischen Ansiedler
werden schwer geschädigt, und die ganze Lage wird schwieriger als zuvor. Deshalb
erscheint die Mahnung der deutschen Regierung, die sie ihrer Antwortnote in ge¬
schickter Form einfügt, sehr am Platze, daß nämlich solche Experimente, die auf den
Fanatismus der eingebornen Bevölkerung von Marokko in ganz unberechenbarer
Weise wirken können, nur unternommen werden sollten, wenn man eine ausreichende
Truppeumacht zum Schutze der Europäer an Ort und Stelle hat. Dieser Hinweis
ist besonders berechtigt, weil der erste Angriff der Franzosen auf Casabianca und
das Bombardement der Stadt offenbar übereilt ausgeführt worden sind, wodurch
der Schaden, den die Europäer in der Stadt erlitten haben, sehr vergrößert wurde.
Daß die deutsche Antwortnote mit der Hervorhebung ihrer Bedenken keine unfreund¬
lichen oder mißgünstigen Absichten gegen Frankreich verfolgt, sondern nur die wirk¬
lichen Interessen der in Marokko lebenden Deutschen und damit auch der andern
europäischen Ansiedler im Auge hat, wird dadurch bewiesen, daß das Recht der
Franzosen, Genugtuung für die Ermordung ihrer Landsleute in Casabianca zu
fordern, wiederum, wie immer von Anbeginn der Wirren an, unbedingt anerkannt
wird. Aber wir wollen das weitere Vorgehn der Franzosen in der Polizeifrage
davon getrennt wissen. Bemerkenswert ist übrigens, daß auch von spanischer Seite
hervorgehoben wird, die beiden Sachen müßten getrennt werden. Genugtuung für
Casabianca sei Frankreichs Sache allein, nur in der Polizeifrage hatten Frankreich
und Spanien gemeinsam zu handeln.
Bedauerlich ist, daß durch Ausschreitungen in Casabianca, an denen auch fran¬
zösische Truppen beteiligt sind, Deutsche schwer an ihrem Eigentum geschädigt
worden sind. Daß unsre Regierung erschlossen ihre Entschädigungsforderungen
geltend macht und daran festhalten wird, zeigt sich darin, daß sie diese Entschädigungen
schon vorläufig aus der Reichskasse hat zahlen lassen. Wir dürfen dabei auch auf
die Bereitwilligkeit der französischen Negierung rechnen.
Aus Deutschsüdwestafrika kommt die erfreuliche Kunde, daß Morenga seine
Unterwerfung angeboten hat. Zwar sind die Verhandlungen noch nicht abgeschlossen,
und man muß bei diesen Führern der aufständischen Hottentotten immer noch auf
Zwischenfälle gefaßt sein. Aber die Lage hat sich jetzt dadurch wesentlich verändert,
daß die geheime Unterstützung der Aufständischen durch die lapländischen Behörden
aufgehört hat. Diesen Behörden mochte Wohl schon seit längerer Zeit zum Bewußt-
sein gekommen sein, daß sie mit der Nichtachtung der Interessensolidarität der
weißen Rasse in Afrika zu ihrem eignen Schaden arbeiten. Es war eine kurz¬
sichtige und törichte Politik, die nur dahin führen konnte, die Autorität der Weißen
gegenüber den Eingebornen überhaupt zu erschüttern. Die Kapregierung konnte
schon verschiedne Anzeichen beobachten, daß ihr früher kundgetaner Grundsatz, die
Anerkennung der Aufständischen im deutschen Schutzgebiet als kriegführende Partei
müsse das Vertrauen ihrer eignen eingebornen Bevölkerung zur britischen Herrschaft
befestigen, falsch und unhaltbar sei. Aber trotzdem ließ sie sich durch das eigne
Mißtrauen gegen die deutsche Kolonialherrschaft im Nachbarlande und durch die
Hetzereien englischer Jingoblätter immer wieder bewegen, an der alten fehlerhaften
Politik festzuhalten, bis vou London aus infolge der verbesserten Stimmung in der
europäischen Politik andre Einflüsse geltend gemacht wurden, die den skandalösen
Handreichungen an rebellische Eingeborne ein Ende machten. Der schlaue Räuber
Morenga hatte wohl gehofft, öfter von englischem auf deutsches Gebiet und umgekehrt
hinüberwechseln zu können. Aber er hatte für das letzte Überschreiten der Grenze
des deutschen Schutzgebiets einen unglücklichen Augenblick gewählt, als gerade die
Kapregierung von London ans verständigt wurde, der Regierung des deutscheu
Schutzgebiets die Hand zu bieten. Nun konnte er nicht mehr darauf rechnen, sich
mit derselben Leichtigkeit wie früher der deutschen Verfolgung zu entziehn, da ihm
bei wiederholtem Übertritt auf englisches Gebiet das Schicksal der Auslieferung oder,
was auf dasselbe hinauslief, der Nichtcmfnahme drohte. Das scheint ihm, als er
aufs neue Zuflucht jenseits der Grenze suchte, klar geworden zu sein. Vielleicht hat
ihn das bewogen, seinen Frieden mit der deutschen Landesregierung zu machen. Aber
man darf sich bei dem wetterwendischen Sinn dieser Leute vorläufig noch nicht zuviel
davon versprechen. Immerhin ist damit eine erfreuliche Wendung eingetreten, und
wir rücken nun der Zeit näher, wo wir an den stetigen, friedlichen Ausbau auch
dieses Schutzgebiets denken können. Inzwischen schreitet ja auch der Bau der
Eisenbahn im Süden des Schutzgebiets immer weiter vor, sodaß eine Wiederholung
der peinlichen Lage, in die die deutschen Truppen bei der Unterdrückung des Auf¬
standes — dank der Kurzsichtigkeit und dem Unverstande des frühern Reichstags —
gerieten, nicht mehr zu befürchten ist. Der Aufstand hat, so bedauerlich die Opfer
sind, die er uns namentlich an deutschem Blut gekostet hat, wenigstens das Gute
gehabt, daß er die Aufmerksamkeit in mehr als gewöhnlichem Maße auf Südwest-
nfrika gelenkt hat, und daß es jetzt fast überall im Reich Leute gibt, die mit den
Eigenheiten dieses Landes aus eigner Anschauung vertraut sind. Das wird sicher
einen wohltätigen Einfluß auf das allgemeine Urteil ausüben.
In der innern Politik nähern wir uns der Zeit, in der man sich lebhafter
den Vorbereitungen auf den parlamentarischen Winterfeldzug zu widmen beginnt.
Der Monat September ist die Zeit der Parteitage und Kongresse. Jetzt hat der
Parteitag der deutschen Sozialdemokraten begonnen, nachdem die freisinnige Volks-
partei soeben in Berlin getagt hat. Die Stellungnahme der Linksliberalen zu
den gegenwärtig im Vordergrunde stehenden politischen Fragen ist gerade jetzt von
besonderm Interesse. Nicht etwa als ob der freisinnigen Volkspartei eine besondre
Bedeutung und ein besondres Gewicht beizulegen wäre. Im Gegenteil, die Partei
hat sich von ihrem tiefen Daniederliegen noch nicht wieder so weit erhoben, daß
sie auf größre parlamentarische Bedeutung Anspruch erheben könnte. Auch die selbst¬
bewußten und hoffnungsfreudigen Reden der Parteiführer und Delegierten können
diese Tatsache nicht widerlegen. In einer durch und durch realpolitisch gerichteten
Zeit hat der sogenannte „entschiedne" Liberalismus bei uus die Rolle einer „un¬
entwegter", in Wahrheit unfruchtbaren und philisterhaften Opposition durchzuführen
versucht, ohne doch die Kraft der vollkommen rücksichtslosen Verneinung zu haben,
und seine beständig zur Schau getragne Prinzipientreue, die vielmehr in Prinzipien¬
reiterei ausartete, kontrastierte seltsam mit der Inkonsequenz und Schwächlichkeit
seiner Taktik. Daher glückte es dem extremen Sozialismus, das große Heer der
Urteilslosen, die auf freiheitlich klingende Schlagworte eingeschworen sind und hinter
jeder nörgelnden besserwissenden Kritik überlegne Weisheit sehen, dem Liberalismus zu
entfremden. Die unruhig hastende, schwer arbeitende Zeit war dem Typus des räso-
nierenden Stammtischpolitikers alter Art, woraus sich der alteFreisinn in seiner Blütezeit
rekrutierte, nicht günstig. Nun wird aber ein objektives Urteil trotzdem zugestehn
müssen, daß der Liberalismus auch in seinen radikalen Formen immerhin ein Ein¬
schlag ist, den wir in dem Gewebe der Pnrteimeiuungen nicht ganz entbehren möchten.
Der Schwäche und Unfruchtbarkeit dieses Liberalismus, seiner praktische» Unbrauchbar-
keit verdanken wir einen bedeutenden Teil der sozialistischen Verirrungen, die uns jetzt
das Leben schwer machen. Es ist aber nicht nötig, daß der „entschiedne" Liberalismus
immer so unzeitgemäß, so schemenhaft doktrinär, so philisterhaft unverständig bleibt,
wie er es bisher gewesen ist. Man kann im Gegenteil manche Erscheinung in dem
bisherigen freisinnigen Parteileben als geradezu unvereinbar mit einer wirklich
liberalen Anschauung bezeichnen. Eine kommende Zeit wird es z. B. nicht verstehn,
wie eine liberale Partei dazu kommen konnte, sich den Anfängen unsrer kolonialen
Entwicklung zu versagen und sogar zu widersetzen, statt an der Spitze zu marschieren,
wie es echter Liberalismus gefordert hätte und der alte Liberalismus auch tat¬
sächlich forderte. Jetzt tagt es nun wirklich auch in der freisinnigen Volkspartei.
Die junge Generation verlangt danach, die Grundsätze einer wirklich liberalen
Weltanschauung mit den praktischen Forderungen der Zeit in Einklang zu bringen.
Noch sind freilich manche Kinderkrankheiten nicht überwunden — Parteien retten
gewisse Kindereien unter Umständen selbst in das Schwabenalter hinüber. Aber
bei diesem letzten Parteitage war das Bestreben deutlich zu erkennen, eine real¬
politische Richtung gegen den alten, stumpfsinnigen Parteischlendrian zur Geltung
zu bringen. Und so hat man sich denn, wenn auch mit offenbarem Widerwillen und
unter tausend Bedenken, zu der Blockpolitik des Fürsten Bülow bekannt, eine Tat¬
sache, die sich auch durch die allgemeine Fassung der angenommenen Resolutionen
und durch viele Vorbehalte und prinzipielle Verwahrungen nicht verdecken läßt.
Es ist eben doch endlich die Einsicht gekommen, daß die politische Lage, wenn man
nicht direkt zur Zeutrumsherrschaft zurückkehren will, die Blockpolitik gebieterisch
fordert, daß eine Absage der Freisinnigen nur einen noch größern Schaden für den
Liberalismus bedeuten würde, und daß von einem Aufgeben der Parteiprinzipien
und Parteiziele bei der Mitwirkung an der Blockpolitik gar nicht die Rede zu
sein braucht. Mit dem Siege dieser Erkenntnis kann man zufrieden sein.
Der 1842 verstorbne Henry Beyle, der seine
Bücher unter dem Pseudonym Stendhal veröffentlicht hat, gehört zu den Glücklichen,
die ein paar Jahrzehnte nach ihrem Tode berühmt werden. Das Wiederaufleben
seines Andenkens in Deutschland mag Nietzsche zu verdanken sein, der ihn als Geistes¬
verwandten liebte. Übrigens ist Stendhal von Goethe geschätzt worden, und er
hat seinerseits Deutschland gekannt. In den Jahren 1806 bis 1808 war er Kricgs-
kommissar des Okerdepartements, eines Teils des Königreichs Westfalen, und wohnte
in dem Schlosse Richmond bei Braunschweig. Hier verkehrte der Abteirat von
Gcmoersheim, Friedrich von Strombeet, viel mit ihm, ein universell gebildeter Mann,
der den zwölf Jahre jüngern Franzosen lieb gewann. Er sagt von diesem: „er
war wissenschaftlich gebildet, bei echt französischer Lebhaftigkeit von einer Gutmütigkeit,
die nicht übertroffen werden konnte. Fast täglich besuchte er mich, verweilte mit
mir bisweilen ein paar Tage auf meinem Landgut; und selbst auf meinen Harz-
und Brockenexkursionen, die ich auch in jener Zeit nicht einstellte, war er mein
Gefährte." (Frankfurter Zeitung Nummer 96, erstes Morgenblatt.) Einen seiner
Romane: Die Kartause von Parma, hat Arthur Schurig (bei Eugen
Diederichs in Jena 1906) deutsch herausgegeben. Die Geschichte spielt am Hof
eines fingierten Fürsten von Parma. Schurig bemerkt jedoch in der Einleitung,
nicht die Jammergestalten der kleinen italienischen Höfe des neunzehnten Jahrhunderts
seien die Modelle von Stendhals Romnnfignren, sondern die großen Menschen der
Renaissance. „Dem Fabrizzio del Dongo sso heißt der junge Held des Romans^,
diesem wunderlichen Enthusiasten, schaut Alexander Farnese aus den Augen, den
wir als Papst Paul den Dritten kennen. Seine Tante war die berüchtigte
Vanozzci, die Maitresse des nachmaligen Papstes Alexanders des Sechsten, den
Stendhal in sein Herz geschlossen hat, wiewohl ihn die Tradition als Ungeheuer
zu schildern Pflegt. Eben dieser Vanozza ähnelt die Duchezza Scmseveriua, die
daneben eine Schwester der Mona Lisa Lionardos sein mag. Vanozza war die
Mutter der Lucrezia Borgia, die der Kardinal Bembo in feinsinniger Liebe an¬
gebetet und die den Lord Byron in der Ambrosiana zu einem kleinen, selbstgefällig
eingestcmdnen Diebstahl verführt hat. Mvsca endlich öder Geliebte der Duchezza,
der zärtlichen Tante des Helden^ hat seinen genialen Ahnherrn zweifellos in
Machiavell, und die liebliche Clelia Conti jdie Geliebte FabrizziosZ ist dem Nahmen
eines Bildes von Correggio oder Guido Nein entstiegen." Gut charakterisiert wird
der lebenweckende Einfluß der unter Napoleon einmarschierenden Franzosen auf die
von Despoten und Priestern eingeschläferten Italiener und die Beichtväter- und
Maitressenwirtschaft, in die Italien unter der Restauration zurücksank. Was jedoch
die Personen des zweibändigen Romans betrifft — ihre Modelle mögen aus dem
sechzehnten oder aus dem neunzehnten Jahrhundert stammen —, so lassen sie,
seelenlos wie sie trotz aller Leidenschaft sind, das deutsche Gemüt kalt. Ihre drci-
und mehreckigen Verhältnisse, ihre Intriguen, die verrückten Abenteuer des jungen
Fabrizzio erscheinen als ein nur mäßig amüsantes Puppenspiel, und es ist einem
ziemlich gleichgiltig. ob man die Puppen zuletzt am Galgen baumeln oder auf dem
Paradebett liegen sieht. Erst gegen das Ende gewinnt der Held einigermaßen
unsre Sympathie. Er kehrt, ungezwungen, aus dem Palast seiner Tante in seine
Kerkerzelle zurück, wo man ihn vergiften will, nur weil er dort seine Clelia ver¬
stohlen sehen kann, deren Vater der Festungskommandant ist. Das sieht beinahe
groß aus. Fabrizzio entwickelt sich mehr und mehr zu einem Romeo, der aber
widerlich anmutet, weil er Koadjutor des Erzbischofs von Parma mit dem Anspruch
auf Nachfolge ist und wirklicher Erzbischof wird, ehe er seine Romeorolle ausge¬
spielt hat. Er entsagt übrigens seinem Amte und stirbt jung als Mönch in der
Kartause. Die Personen sind naiv gläubig und völlig gewissenlos, ausgenommen
Clelia, die eine Heilige ist, was sie jedoch nicht abhält, dem Fabrizzio ein Kind
zu schenken. Vielleicht darf man in dem Roman einen Beitrag zur Psychologie
des jesuitischen Katholizismus sehen.
Wir haben
häufig Gelegenheit, beim Lesen historischer Arbeiten zu bedauern, daß ihre Verfasser,
oft ausgezeichnet in einer Teildisziplin, etwa der Wirtschafts- oder der Rechtsgeschichte
unterrichtet, dabei aller Kenntnisse in benachbarten Disziplinen bar zu sein scheinen.
Besonders drängt sich diese Beobachtung angesichts der landesgeschichtlichen Literatur
auf. Sucht da zum Beispiel jemand*) die seelische Art des Tiroler Volkes nach seinen
Weistümern zu zeichnen und bemerkt gelegentlich: „Es ist freilich kaum möglich, auf
Grund der Weistümer etwas sicheres über das innerliche Verhältnis des Volkes zu
den höhern Ständen auszusagen. Aber auch kaum auf Grund einer andern Quelle.
Wir müßten da wissen, wie die Bauern im Wirtshause von der Herrschaft sprachen,
wie sie sich zu den Bewegungen der großen Welt verhielten. Wir werden über diese
Dinge wohl nie etwas erfahren." Und dabei liegen in mehreren neuen Ausgaben die
Gedichte des tirolischen Ritters Oswalds von Wolkenstein vor, deren frischeste — aus
dem Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts — eben Szenen zwischen Adel und Bauern
mit naturalistischer Treue wiedergeben, die Teilnahme der Bauern an der Landcs-
politik gerade mit den erwünschten Lichtern grell streifen. Als erste Nebenbemühung
für den Territorialhistoriker wird immer das Studium der Sprache des betreffenden
Landes in Frage kommen. Dann werden in Zukunft auch die wiederholten Re¬
produktionen einer und derselben Urkunde in sprachlich sinnlos entstellter Form
unmöglich werden, wie man ihnen ebensogut etwa in dem sonst wissenschaftlich
trefflichen Trierischen Archivs, von dem uns die neusten Hefte zugegangen sind,
wie anderswo begegnen muß. Schließlich werden dann auch solche teildisziplinarisch
beschränkten Wünsche wegfallen, wie der, daß der Begriff Mittelalter bis an die
französische Revolution heran auszudehnen sei (Trierisches Archiv, Ergttnzungs-
heft VIII, S. IV), und statt dessen sich Einsicht für eine bessere, auf allerlei Gebiete
begründete, in der Tat immer notwendiger werdende Neuperiodisierung unsrer
Geschichte anbahnen.
Die Kunstgeschichte hat so lange über¬
wiegend mit Photographien gearbeitet, daß nur die Entwicklung der Formen einiger¬
maßen aufgehellt worden ist. Welche große Entwicklung Rnffael zwischen 1564 und
1567 im Sehen der farbigen Welt durchgemacht hat, hat noch kein Kunsthistoriker
ausgesprochen. Ju einem der lctzterschienenen Hefte von Seemanns „Galerien
Europas", die durch immer herrlichere bunte Reproduktionen der alten Meister
erfreuen, findet man das Sposaliziv und die Grablegung nacheinander und mag
danach jene Entwicklung ermessen. Die Hauptsache ist: 1564 dnnkelbuute Figuren
vor einem hellen Gcsmntton des Bildes, 1567 dunkelbrauner Grundton, aus dem
die bloßen Gesichter, Arme und Knie vorn herausleuchten. Damit geht freilich
Hand in Hand eine ungeheuer rasche Zunahme der Roumbeherrschung beim Malen,
und — neben dem Studium Lionardos und Michelangelos — kommen als weitrer
Einschlag Elemente der Begeisterung über neu cmsgegrabne Antiken hinzu: der Joseph
von Arimathia der Grablegung ist, was noch nirgends ausgesprochen worden zu sein
scheint, nach dem damals soeben aufgefundnenLaokoon der berühmten Gruppe gemacht.
Die beiden Tiziane dieser Hefte, die Münchner Dornenkrönung und Venus
und Cupido aus der Galerie Borghese, beides Alterswerke des Malerkönigs, sind
vielleicht das allerbeste, was bisher an farbigen Nachbildungen alter Meister ge¬
boten worden ist. Die Schwarzweißreproduktionen des trefflichen Spemannschen
„Museums", die wir noch vor wenigen Jahren empfehlen durften, sehen daneben
wie Totenköpfe aus. Besondern Dank wissen wir dem Verlag, daß er auch solche
Meister des siebzehnten Jahrhunderts, die jetzt gewöhnlich beiseite gestellt werden,
wie Moreelse, Salvator Rosa, Luca Giordano, dieses große Malergenie, Maratta
in ausgezeichneten Reproduktionen vorführt. Viele, die mit den zahlreichen Publi¬
kationen der modernen Kunstgeschichte einigermaßen vertraut zu sein glauben dürfen,
werden durch diese schöne Sammlung ihre Vorstellungen bereichert und ihre Gesamt¬
ährend sich die Zaren bemühten, aus der ävwi-Mök.vo einen Adel
von westeuropäischem Wert zu schaffen, reifte die Bauernfrage
zu immer größerer Bedeutung für den russischen Staat heran.
Gerade in der Zeit, wo der Adel juristisch die höchste Stufe
seiner Stellung im russischen Staate zugewiesen erhalten hatte,*)
die Einführung einiger staatlicher Kreditinstitute**) auch die wirtschaftliche Seite
seiner Lage möglichst günstig zu gestalten suchte, befanden sich die Bauern auf
dem tiefsten Punkt in rechtlicher, wirtschaftlicher und sozialer Beziehung. Die
gutsherrliche Fabrik***) mag das schlimmste gewesen sein, was je einer
Menschenklasse nach dem Mittelalter zugemutet wurde. Wie jede Ungerechtig¬
keit, die gegen ganze Teile der Bevölkerung begangen wird, vor allem die
Stärke des Ungerechten untergräbt, so ging es auch in unserm Falle mit den
eidlichen Fabrikanten. Die Gutsfabriken mit ihren Schrecken sind die Geburts¬
stätte der russischen Revolution. Sie waren der Punkt, an dem sich bei den
unbemittelten Adlichen der Neid gegen den reichen Standesgenossen und das
Mitleid mit den gequälten Fabrikarbeitern entwickelte. Sie stellten das Mittel
sozialer und wirtschaftlicher Differenzierung dar, das den bureaukratisch
zusammengefügten „Adelsstand" zunächst in zwei einander feindliche Lager
teilte. Die Ereignisse in Westeuropa und Rußlands Eingreifen in die Folge¬
erscheinungen jener Ereignisse brachten die Gegensätze zum Bewußtsein der
kämpfenden Teile. Während sich der Adel zerfleischte, erstarkte die Bureau¬
kratie. Aus der Mitte der leibeignen Bauern aber wuchs ein neuer wirtschaftlich
tüchtigerer Unternehmer- und Kapitalistenstand hervor, als es die ä>orjg,Q8t,^c>
sein konnte. Als der Adel, der sich um die Bewirtschaftung seiner Besitztümer
meist nicht kümmerte, die ihm von seinen leibeignen Vertrauensmännern
drohende wirtschaftliche Gefahr erkannte, da war es für ihn zu spät. Die
Entwicklung war ohne sein Zutun schon zu weit gegangen, als daß sie noch
hätte ohne Anwendung von Gewaltmitteln rückgängig gemacht werden können.
Denn auch des Staates Augenmerk war auf diese stärkern, also ihm nützlichem
Elemente gerichtet. Nach der Reaktion unter dem ersten Paul erließ Alexander
der Erste am 20. Februar 1803 das Gesetz über die „freien Landwirte",
Nikolaus der Erste 1842 das von den „verpflichteten Ansiedlern". Beide
Gesetze verfolgten den Zweck, den Großgrundbesitzern zu gestatten, einzelne
Bauern oder ganze Dörfer auf Grund besondrer Verträge freizugeben,*) das
heißt den wirtschaftlich starken Leibeignen die Möglichkeit zu geben, sich aus¬
zulaufen. Gab es doch Leibeigne, die über Millionen Vermögen verfügten
und Handel mit China und Indien trieben. Ferner gestattete Nikolaus un¬
freien Bauern, Land und Häuser zu erwerben, Fabriken und Handelshäuser
zu errichten, öffentliche Arbeiten zu übernehmen usw., aber — nur mit Ge¬
nehmigung ihrer Besitzer. Durch diese Klausel wurde mit Hilfe der wirtschaft¬
lichen Maßregel die Bedeutung des Adels als Organ der zarischen Staats¬
gewalt anerkannt und hervorgehoben, der Adel aber in seinem empfindlichsten
Gefühl nicht beunruhigt. Diese letzte dem Adel gebotne Gelegenheit, seine
Autorität im Staat auf etwas anderm aufzubauen als auf der Gnade des
Zaren, hat er nicht benutzt. Die ihm reichlicher zuströmenden Geldmittel hat
er größtenteils zu fröhlichem Lebensgenuß im Auslande verwandt und dort
am Spieltisch zu Baden-Baden, in den Pariser Chcmtcmts und in den
böhmischen Bädern die Operettensigur des „reichen Russen" geschaffen. Die
Geschäfte des Staates aber besorgten der Tschinownik und verarmte und
heruntergekommne Verwandte, die kaum ein Bauernhaus ihr eigen nannten.
Da brach der Krimkrieg herein, und vor aller Welt wurde die ganze
innere Haltlosigkeit der herrschenden Kreise offenbar. Nikolaus bekannte
seinem Nachfolger, es sei ihm nicht gelungen, ein wohlgeordnetes Reich zu
hinterlassen — und starb. Alexander der Zweite wandte sich an den „wohl-
geborner" Stand um Unterstützung bei seiner Reform zur Besserung der Lage
der Bauern, nicht der Bauern wegen, sondern um den Staat, das russische
Reich zu retten. Er berief sich dabei auf ihre eigne Auffassung, wonach der
Adel dazu da sei, dem Zaren zu helfen, die Bauer» zu regierend) Wie be¬
kannt, hat sich die ävoilaustvo unfähig erwiesen, die ihr zugedachte Aufgabe
zu lösen. Teils aus bösem Willen,**) teils aus Unbildung***) leisteten die
Adlichen den Wünschen des Zaren Widerstand, und dieser sah sich schließlich
genötigt, die Neformfrage in das „geheime Komitee" aus hohen Würden¬
trägern zu geben. 1') Die Absichten des Zaren und die Stellung des Adels
dazu blieben der Gesellschaft nicht verborgen, und die Trägerin der öffentlichen
Meinung, die Presse, die damals nicht wagen durfte, über die Straßen¬
reinigung zu klagen, bemächtigte sich der Frage im Sinne des Zaren. Die
Presse aber wurde größtenteils von dem Teile des Adels geschrieben, den der
Sozialrevolutionär Michailowski später den „bereuenden" nannte. Doch ich
kann hier keine Darstellung der großen Reform geben. Ihr Ergebnis für den
Adel als Stand war dessen Auflösung. 1"i') Den positiven Teil der Reformen
hat die Bureaukratie und die Intelligenz geleistet, während sich der land¬
besitzende Teil des Adels mit dem ihm ausgezahlten Gelde erst recht Aus¬
schweifungen aller Art hingab, oder soweit er Verbindung zum Hofe hatte,
zu retten suchte, was zu retten war. Seit Aufhebung der Leibeigenschaft war
die Adelsfrage ein Teil der Agrarfrage geworden. Wenn seitens des Adels
ständische Interessen in den Vordergrund geschoben wurden, oder wenn der
Adel als Stand den Zaren an der Regierung über die Bauern helfen sollte,
sind ganz nüchterne materielle Erwägungen einzelner am Hofe Mächtiger be¬
stimmend gewesen. Hinter dem Wort Adel verbirgt sich seit 1861 in Ru߬
land der Begriff Clique. Denn durch die Reform wurde nach Lage der
Dinge nicht ein ganzer geschlossener Stand geschädigt, sondern nur der kleine
Teil daraus, der Landwirtschaft mit Hilfe leibeigner Bauern betrieb. Für
diesen Teil des Adels — Nichtadliche hatten keine Leibeignen — brachte die
gewählte Form der Bauernemanzipation eine schwere wirtschaftliche Krisis, die
um so schärfer war, als abgesehen von dem Verlust der Arbeitshände auch die
damit zusammenhängenden Kreditinstitute geschlossen wurden.") In politischer
Beziehung aber wurde die landbesitzende (lvorsaustvo als solche fast völlig
ausgeschaltet. Die Einführung der Sjemstwo, deren Wahlrecht nicht Erbstände,
sondern Berufsstünde berücksichtigte, das Gerichtsstatut, die Bauern- und
Friedensgerichte sowie schließlich die Einführung eines Bilduugszenfns für
den Eintritt in den Staatsdienst nahm dem Adel die wichtigsten Vorrechte,
deren er sich bis dahin gegenüber den andern Ständen erfreut hatte. Der
Adel hatte somit in den sechziger Jahren nach seiner Meinung die Mit¬
wirkung an der Regierung verloren, die er immer als seine Domäne be¬
trachtet hatte.
Was ihm blieb, das war die äußerliche, durch Katharina verliehene ständische
Organisation, einige Vorrechte beim Besuch militärischer Bildungsanstalten
und als größtes Recht das Petitionsrecht beim Zaren durch Vermittlung der
Gouvernementsadelsmarschälle."") Aber — und das scheint mir das Unglück der
gesamten Resormgesetzgebung der sechziger Jahre zu sein — den adlichen Am¬
bitionen blieben zwei große Einfalltore offen, durch die sie in die neue Ordnung
Bresche legen konnten. Das war die Sjemstwoordnung vom 1. Januar 1864
und das Reglement für die bäuerliche Selbstverwaltung.
Die Sjemstwoordnung vom 1. Januar 1864 enthielt folgende für unsre
Betrachtung wesentliche Bestimmungen:
Die Institution der Sjemstwo wurde in 33 russischen Gouvernements
eingeführt. Sie setzte sich zusammen aus Gouvernements- und Kreissjemstwo,
von denen jede ihre eigne Behörde, die Upmwci, und ihren eignen Wahlkörper,
die Ssobrauije, hatte. Die Versammlungen (L8odrs,niji) hatten in den der
Sjemstwo überlassenen Fragen die Initiative, während der Uprawa die Exe¬
kutive oblag. Die Kreissjemstwoversammlung setzte sich zusammen aus Ab¬
geordneten,*) die gewählt wurden von den nicht zu Dorfgemeinden gehörenden
Grundbesitzern des Kreises ohne Unterschied der Zugehörigkeit zu irgendeinem
Stande, von den Städtern ohne Unterschied des Standes, von der Ver¬
sammlung der Wolostültesten sowie den Ältesten aller Dorfgemeinden. Die
gutsherrlichen und die städtischen Wühler übten ihr Wahlrecht entsprechend Um¬
fang und Wert ihres Jmmobilienbesitzes unter Zugrundelegung eines ziemlich
niedrigen Zensus aus, die Bauern wählten ihre Abgeordneten entsprechend der
Größe des Landesbesitzes der in einer Wolost liegenden Dorfgemeinden. Das
Kreisamt bestand aus sechs von den Kreisversammlungen ernannten Bei¬
geordneten. Die Gonvernementssjemstwoversammlung bestand aus Abgeord¬
neten der Kreisversammlungen, und zwar je zwei bis fünf von jedem Kreise
entsprechend der Zahl von dessen Bevölkerung. Das Gouvernementsamt setzte
sich aus sechs von der Gouvernementsversammlung ernannten Beigeordneten
zusammen. Den Vorsitz in der Kreisversammlung führte der Kreisadels-
marschall, in der Gouvernementsversammlung eine dnrch besondern Ukas zu
ernennende Person — meist der Gouvernementsadelsmarschall. Die Sitzungen
waren öffentlich und fanden einmal jährlich statt, wobei die der Gouvernements¬
versammlungen nicht länger als zwanzig, die der Kreisversammlungen nicht
länger als sieben Tage währen durften.
Wie aus der kurzen Darstellung der Sjemstwoordnung hervorgeht, hat
der Adel lediglich als Besitzer einer gewissen Anzahl Deßjatinen Land, die
je nach dem Bodenwert in den verschiednen Kreisen verschieden ist, Zutritt zu
der Sjemstwo, und zwar mit allen Gutbesitzern zusammen. An Stelle des
Erbstandes war der Erwerbsstand getreten und damit durch die Gesetzgebung
einer Entwicklung Rechnung getragen, die sich in der Praxis trotz der Leib¬
eigenschaft längst vollzogen hatte. Daß in diesen Vorschriften von dem bis dahin
über Gebühr verwöhnten Adel eine Zurücksetzung gefunden werden konnte,
mögen folgende Zahlen zeigen. Im Jahre 1878 gab es im ganzen 114716 adliche
Besitzungen. Davon waren 24381 über 600 Deßjatinen groß, 33 784 von
100 bis 500, 42 754 von 10 bis 100 und 13797 nicht einmal 10 Deßjatinen.*)
Das will sagen: von 114716 adlichen Gütern waren höchstens 58165 in den
Sjemstwoversammlungen vertreten, das heißt, wenn nicht eine ganze Anzahl
von Mandaten an die bürgerlichen Vertreter gefallen waren. Also mindestens
die Hälfte des Adels, die bis 1864 als Beamte des Staates und adlicher
Institutionen in der Provinz schaltete, wurde durch das Sjemstwostatut an
die zweite Stelle gerückt. Es läßt sich denken, daß allein schon dieser Um¬
stand eine Menge Reibungen hervorgerufen hat, die vom ersten Tage an
zwischen den Selbstverwaltungskörpern und der Bureaukratie herrschten, um
so mehr als die meisten alten Beamten doch in ihren Stellungen blieben, wenn
auch unter andrer Benennung. Dieser psychologische Punkt, dem ich im Ein¬
verständnis mit Herrn Goremykin und im Gegensatz zu Herrn Witte**) eine
große Bedeutung beilege, fand im Laufe der Jahre stetige Kräftigung aus
zwei voneinander unabhängigen Quellen: aus dem Rückgang des adlichen Be¬
sitzes und aus dem berechtigten Wunsche der Sjemstwo, auch die bäuerliche
Selbstverwaltung in den Rahmen ihrer exekutiven Kompetenzen zu ziehen.
Wie bekannt, wurde die bäuerliche Selbstverwaltung nach dem Jahre 1861
derart eingerichtet, daß weder die Großgrundbesitzer, noch die neuen Provinzial-
selbstverwaltungskörper, nämlich die Sjemstwo, die Möglichkeit hatten, irgend¬
einen Einfluß auf bäuerliche Angelegenheiten zu gewinnen. Diese waren viel¬
mehr von der Zentralgewalt abhängig. Anscheinend sollte diese Unabhängigkeit
der bäuerlichen Gemeinden von allen übrigen Organisationen der Gesellschaft,
in denen die Gutsbesitzer nach Lage der Dinge eine verhältnismüßig große
Rolle spielen mußten, gerade im Gegensatz zu den vor 1861 herrschenden Ver¬
hältnissen der Illusion der Freiheit besonders starken Ausdruck geben. Der
russische Bauer sollte sich entsprechend dem Wunsche der Slawjanophilen im
Rahmen der kommunistischen Mirgemeinde in slawischer und rechtgläubiger
Sonderart entwickeln und darin nicht durch äußere Einflüsse gestört werden.
In dem Lande, wo sich der Adel als unfähig erwiesen hatte, Kulturträger zu
sein, setzte ein Teil der Gesellschaft alle seine Hoffnungen auf den Bauern¬
stand, in dem angeblich alle die nationalen Kräfte aufgespeichert sein sollten,
die später einmal das russische Volk groß machen würden, und die stark genug
sein könnten, alle westeuropäischen Einflüsse aus dem Volksstaat auszustoßen.
So sagten wenigstens die Slawjanophilen, und nach ihren Weisungen handelte
die Negierung. Die vermeintliche Freiheit wurde für die Bauern zu strengster
Abschließung gegen alles das, was wir in Europa schlechthin Kultur nennen.
Sie wurde besorgt durch die Bureaukratie, mit den Organen des Ministers
des Innern (Gouverneure, Krcishcmptleute, Kreisausschuß für bäuerliche An¬
gelegenheiten) und mit denen des Heiligen Synods (Geistlichkeit). Bald stellte
es sich aber heraus, daß in der neuen Organisation irgend etwas nicht in
Ordnung sein könne. Der Adel, das heißt hier einige dem Hofe nahe stehende
übliche Großgrundbesitzer, wies nach, die Schuld an allen Unzutrüglichkeiten
in der Provinz trage die Preisgabe des Adels als Stand. Ihr Ideal war
die Adelsoligarchie, nach der alten Formel: Zar und Adel regieren den Bauern
gemeinsam, alle übrigen Stände haben sich lediglich um privatwirtschaftliche
Fragen zu kümmern! Die Kirche wurde Helferin dieser Kreise. Denn wenn
der Mangel eines Einflusses seitens des Adels bemerkbar wurde, so geschah
das, allerdings im negativen Sinne, in Fragen des Sektenwesens. Während
der Herrschaft Nikolaus des Ersten kamen infolge der Duldsamkeit der Guts¬
besitzer nicht soviel Klagen über Sektierer vor den spröd wie später, als
Pope und Jsprawnik allein mächtig im Dorfe wurden. Mit der religiösen
Bewegung Hand in Hand ging die sozialistische Propaganda der Narodniki.
Das gab den Stimmen größeres Gewicht, die auf den Adel als auf die beste
Stütze des Thrones hinwiesen. Aus dem slawjanophilen Lager vertrat Katkow
solche konservative Anschauungen mit steigendem Erfolge. Alexander der Zweite
beschränkte infolgedessen seine eignen Reformen dort, wo er sie Hütte erweitern
sollen.*) Statt der Sjemstwoorganiscition den Boden freizugeben, in dem
sie hätte Wurzel schlagen können, durch Verbindung der Wolost mit der Kreis-
nnd Gouverncmentssjemstwo, wurden die Funktionen aller Selbstverwaltungs¬
körper beschnitten. Die Besteuerung kaufmännischer und technischer Betriebe
wurde ihr beschränkt,**) ihre materielle Leistungsfähigkeit infolgedessen herab¬
gesetzt.
Die Sjemstwo verlor an Bedeutung in dem Maße, wie Adel und Bureau¬
kratie — immer mehr durchaus identische Begriffe — an Stärke gewannen.
Leider muß ich es mir heute versagen, diesen unterirdischen Kampf, der von
1864 bis 1877 ausgefochten wurde, näher darzustellen. Das würde eine
ganze Reihe von Briefen in Anspruch nehmen. Auch müßten Materialien
herangezogen werden, die heute noch nicht ohne weiteres zugänglich sind, so über
die Vorgänge, die zur Ernennung Tolstojs zum Unterrichtsminister führten,
über die Beziehungen Pobjedvnostzews sowie schließlich über die Stellung ein¬
zelner einflußreicher Familien zum Zaren und zum Thronfolger. Ich kann
mich nur an die äußern Tatsachen halten, und die lassen die Zeit von 1864
bis zum Ausbruch des Krieges gegen die Türkei, ja bis zur Thronbesteigung
Alexanders des Dritten für unsern Zweck unwesentlich erscheinen. Sie wird
kurz gekennzeichnet: der Adel verlor immer mehr an wirtschaftlicher Kraft, und
der Erwerbsstand der Großgrundbesitzer teilte sich in eine Partei, die für die
weitere Ausbildung der demokratischen Selbstverwaltung eintrat, und in eine,
die die Rückkehr zu den Verhältnissen der Zeit vor 1861 wünschte. Diese zweite
wurde trotz ihrem innern Unwert als Kulturfaktor die stärkere, und zwar ganz
abgesehen von den erwähnten politischen Gründen auch deshalb, weil der
Staat durch die vielfachen politischen und großen wirtschaftlichen Unter¬
nehmungen darauf angewiesen war, die Zahl seiner Beamten zu vermehren.
Hierher gehörten vor allem die tief einschneidenden Neuerungen im Zartum
Polen, dessen Justiz- und Unterrichtsbehörden bis Mitte der 1870er Jahre
vollständig in russische Hände übergingen.***) Die Eroberungen in Zentralasicn
schritten mächtig voran. Eine große Anzahl von Eisenbahnen waren gebaut worden.
Sie gehörten zwar Privatgesellschaften, aber zogen dennoch wegen ihrer bessern
Bezahlung viele Elemente in ihren Dienst, die sich sonst dem Staatsdienst zu-
gewandt hätten. Ich glaube nicht, daß der eintretende Beamtenmangel direkt
auf die Entschließungen der Regierung gewirkt hat. Aber ich meine, alle die
angedeuteten Verhältnisse müssen bei einer Regierung, die in den Selbst¬
verwaltungskörpern nicht mehr die wichtigste Schule für die politische Reifung
der Gesellschaft sah, den Gedanken angeregt haben, sich nach einer Klasse in
der Gesellschaft umzusehen, die nach ihrer Meinung geeignet war, die Cadres
der Behörden zu füllen. Diese Klasse aber war der Teil des Adels, der in
altrussischer Auffassung seinen innern Wert aus dem Maße der ihm durch den
Zaren zugewandten Gnade herleitete — der Dienstadel. Diesen Dienstadel
wiederhergestellt und mit Machtbefugnissen ausgerüstet zu haben, war eine
der wesentlichsten Leistungen der Negierung Alexanders des Dritten.
er Versuch, Irland zufrieden zu stellen, ist natürlich des Schweißes
der Edeln wert. Nur hat die Geschichte längst das Urteil for¬
muliert, daß der Versuch, den Gladstone nun unternahm, scheitern
mußte, nicht nur wegen der Abneigung des englischen Volks,
sondern auch an seiner innern Unmöglichkeit. Durch den Rück¬
gang der Bevölkerung Irlands auf die Hälfte des frühern Standes war die
Zahl seiner Parlainentsabgeordneten relativ viel zu groß geworden. Gladstone
wollte sie entsprechend verringern, was natürlich in der Sachlage ganz begründet
ist und auch in England keinen Widerspruch fand. Aber für diese Einbuße
sollten die Iren überreich entschädigt werden. Sie sollten endlich Homerule
erhalten: ein eignes Parlament in Dublin, das die irischen Angelegenheiten
erledigen sollte. Ein zweites Gesetz sollte Farmerstellen aus Großgrundbesitz
bilden. Gladstone verwies auf Österreich-Ungarn; Irland werde nicht so viel
Selbständigkeit erhalten wie Ungarn; sein Verhältnis zu England werde eher
dem jetzigen Bayerns zu Preußen zu vergleichen sein. Das war denn doch den
Engländern zu viel, nicht nur den alten Whigs, sondern auch vielen Radikalen.
Der Herzog von Devonshire, Goschen, Forster, ferner Bright und Chamberlain
trennten sich von den Gladstonicmern, die nunmehr offiziell den Namen Liberale
annahmen, und verbanden sich mit den Konservativen zu der neuen „»monistischen"
Partei; sie wollte die Union Irlands mit England aufrecht erhalten. Das
Unterhaus lehnte das Homerulegesetz ab. Gladstone ordnete Neuwahl des
Parlaments an, erlitt aber eine schwere Niederlage.
Die Folge war, daß im Januar 1887 ein neues konservatives Ministerium
Salisbury gebildet wurde, in das alsbald auch Goschen und Devonshire ein¬
traten. Die neue Regierungspartei wurde vor allem durch den gemeinsamen
"
Abscheu gegen Homerule zusammengehalten. Arthur Balfour, der spätere
Premierminister, wurde Vizckönig von Irland und hielt mit der nötigen Ent¬
schlossenheit die Bewegung in Irland nieder. Er scheute vor Ausnahmegesetzen
nicht zurück. Auch die konservative Regierung entschloß sich nun, wohl unter
dem Einfluß der liberalen Unionisten, zu Reformen. 1887 und 1891 schuf sie
Gesetze, die mit Staatshilfe die Umwandlung von Großgrundbesitzungen in freie
Bauern beförderte. Für Verkehr, für Entwässerung, für Schulwesen wurden
ansehnliche Summen zur Verfügung gestellt.
Eine Episode dieser Zeit bildet eine Anklage der Times gegen Parnell,
daß er Mondscheinbanden organisiert habe und an dem Morde im Phönixpark
mindestens indirekt mitschuldig sei. In einem Prozeß erwies sich das Material,
auf das die Anschuldigung in gutem Glauben gegründet war, als gefälscht.
Schlimme Einbuße erlitt Pcirnells Ansehn 1890 durch einen Ehescheidungs¬
prozeß, in dem er verurteilt wurde. Die irische Partei spaltete sich in Parnelliten
und Antiparnelliten, wodurch wenigstens ihre Aktionsfähigkeit gelähmt wurde.
Auch als Parnell 1891 starb, und der jetzige Hauptführer John Nedmond an
die Spitze der Parnelliten trat, blieb die Spaltung bestehn; erst 1900 ver¬
schwand sie.
Während der unionistischen Regierung erreichten die Ruhestörungen in
Irland keinen sehr hohen Grad. Ihr Sturz 1892 nach Parlamentsneuwahlen
hatte wenig mit irischen Angelegenheiten zu tun. Die Liberalen erlangten wieder
eine Mehrheit, in der jedoch die Iren nicht zu entbehren waren und folglich
eine entscheidende Gewalt ausübten. Gladstone bildete eine neue Regierung,
diesesmal unter Ausschluß der liberalen und radikalen Unionisten. Auch Lord
Rosebery, der kein sehr hitziger Gesinnungsgenosse war und nicht mehr lange
in dem Zirkel der leitenden Liberalen blieb, war Mitglied des Ministeriums.
Die Regierung führte sofort einige Milderungen in der strammen Verwaltung
Irlands ein und kam dann mit einer neuen Homerulebill, die die erste noch
erweiterte. Ähnlich wie in Österreich-Ungarn sollten die auswärtigen Angelegen¬
heiten, Heer, Marine und Zollwesen Reichsangelegenheit bleiben, also in letzter
Linie vom Parlament in Westminster abhängig bleiben, wo die Iren eine stark
verringerte Vertretung hatten. Im übrigen sollte Irland durch einen Vizekönig
und ein dem zu bildenden irischen Parlament verantwortliches Ministerium
selbständig regiert werden. Die Stimmung in England erhitzte sich sehr dagegen.
Im Unterhause wurde die Bill zwar angenommen, doch verließ sich das Ober¬
haus auf die UnPopularität der Maßregel und wagte — wozu es sich wohl¬
weislich nur selten aufrafft — die Ablehnung gegen eine verschwindende
Minderheit. Es wollte eine Neuwahl herbeiführen. Dazu hatte Gladstone nicht
den Mut. Er fürchtete mit Recht eine entscheidende Niederlage bei der Wähler¬
schaft und ließ sich daher den Affront des Oberhauses gefallen. Er selber trat
am 3. März 1894 zurück und ließ die Regierung in den Händen Noseberys
und seiner Freunde.
In Irland machte dieser Gang der Dinge, auch der Mangel an Mut bei
den Liberalen in bezug auf Neuwahlen, einen recht Übeln Eindruck. Die irische
Neformgesetzgebung blieb stecken, teilweise im Oberhause, das seine Macht zeigen
wollte, da es die Neuwahl des Unterhauses nicht fürchtete. Mit einer neuen
Homerulevorlage wagte man nicht einmal vor das Unterhaus zu treten. Ein
Gesetz zugunsten der exmittierten Pächter wurde vom Oberhause verworfen.
Schließlich gab eine Zufallsabstimmung den Ausschlag. Die Regierungspartei
war nicht genügend zur Stelle, sodaß die Opposition ein Mißtrauensvotum
gegen den Kriegsminister Sir Henry Campbell-Bannerman, den jetzigen Premier,
durchbrachte. Die liberale Regierung trat im Juni 1895 ab. Die Konservativen
bildeten das Ministerium Balfour-Chamberlain, das bis zum Januar 1906
dauern sollte. Wieder waren die liberalen und konservativen Unionistcn
verbunden. Vereint erreichten sie eine Mehrheit von über 159 Stimmen
gegen Liberale und Iren. Es war das Ministerium des Transvaalkrieges,
der größerbritannischen Zolleinigung und der Politik der Bündnisse und
Erdeulen.
Im Parlament hatte es keinerlei Schwierigkeiten. Dagegen erwuchsen ihm
solche aus dem alten irischen Hexenkessel in Menge. Gleichwohl blieb es bei
der Reformpolitik und brachte alsbald ein Gesetz zustande, das abermals neue
Begünstigungen für die Schaffung freier Bauernstellen einführte. Es ging
sogar zur Einführung lokaler Selbstverwaltung in Irland über, wie man sie
kurz zuvor im übrigen Großbritannien mit Erfolg geschaffen hatte. Die Sache
wurde in großem Stil unternommen. Eine mit 2^ voni Hundert zu verzinsende
Anleihe, die mit 5 Millionen Pfund Sterling (100 Millionen Mark) jährlich
für die ersten drei Jahre festgesetzt wurde, sollte die notwendigen Mittel
liefern. Die Gesamtsumme der Aufwendungen wurde auf 100 Millionen Pfund
Sterling begrenzt. Das Geld sollte den Pächtern, die ihre bisherigen Pachtungen
in freies Eigentum verwandeln wollten, zu dem gleichen niedrigen Zinsfuß
geliehen werden. Die Rückzahlung sollte erst in einem Zeitraum von 68^ Jahren,
und zwar ganz allmählich, erfolgen. Gegen den Ankauf von Grundbesitz durch
Vodenwucherer oder Geldverleiher waren besondre Vorkehrungen getroffen.
Außerdem wurde ein Fonds von 12 Millionen Pfund Sterling ausgesetzt, um
diese Übertragung des Eigentums dadurch zu fördern, daß der Staat Verluste
auf sich übernähme. Diese Maßregel eines konservativen Ministeriums muß als
großherzig bezeichnet werden. Auch die Liberalen und die Iren konnten nicht
leugnen, daß das Gesetz einen großartigen Fortschritt in der Lösung der Land¬
frage bedeute. Das Unterhaus nahm es am 21. Juli 1903 mit 317 gegen
20 Stimmen an. Auch das Oberhaus billigte es, und es trat unter günstigen
Aussichten in Kraft. Irische Pächter fanden sich anfänglich in genügender Zahl,
um ans diese Weise Eigentümer zu werden.
Allein der große Gegensatz konnte nur zeitweilig überwunden werden.
1898 hatte O'Brien die Unitsä Iiisb I^aAus gegründet, die von da an anstatt
der aufgelösten Landliga die Agitation übernahm. Sie suchte alles zu ver¬
hindern, was zu einer friedlichen Gestaltung der Dinge führen konnte. Die
2^ Prozent Hypothekenzinsen waren doch immer noch eine Rente, sie aber
wollte keine Rente. Der Burenkrieg gab dem Jrentum Gelegenheit, seinen Haß
gegen die Engländer stürmisch zu entfalten, sogar im Parlament wurden
Demonstrationen zugunsten der Buren gemacht. Dagegen konnten den irischen
Regimentern in Südafrika keine Vorwürfe gemacht werden; das veranlaßte die
greise Königin, die fast niemals in ihrem Leben Irland besucht hatte, eine
Reise dorthin zu machen.
Doch was können solche Mittel gegen einen so tiefcingewurzclteu Volkshaß
verschlagen! Schon ein halbes Jahr nach dem Erlaß des Landankaufgesetzes
von 1903 trat John Nedmond wieder mit vollster UnVersöhnlichkeit hervor.
Die Homerulebewegung sollte wieder belebt werden. Kein Zugeständnis Eng¬
lands könne die Iren zufriedenstellen als allein die Einräumung vollständiger
Selbständigkeit. Das Ministerium Balfour gab neue Zeichen seiner Versöhnlich¬
keit. Ein irischer Oberst, Lynch, hatte im Bureukriege offen gegen die Engländer
gefochten und war dafür zum Tode verurteilt worden. Die Negierung veranlaßte
die Umwandlung in lebenslängliche Zuchthausstrafe und würde auch zu weiteren
bereit gewesen sein. Die wachsende Macht der Unitsä Irisli I^öüAus verhinderte
jegliche friedfertige Annäherung. In der Regierung fanden sich Wortführer
weiterer Zugeständnisse. Es hatte sich in Irland eine Irisn Retorin ^ssooiation
gebildet, die den radikalen Widerstand der Nationalisten verschmähte. Sie
betonte mit Recht, daß sich das Neichsparlmneut zu Westminster viel zu wenig
um die laufende Verwaltung der Insel bekümmere. Es müsse ein unter dem
Vizekönig stehender Rat eingesetzt werden, der mit einem ebenfalls zu schaffenden
irischen Parlament die rein irischen Angelegenheiten zu ordnen habe, jedoch auf
der Grundlage des englischen Rechts, nicht irischer Willkür. Das wäre also
ein gemäßigtes Loccil Government gewesen im Gegensatz zu Homerule. Der
Staatssekretär für Irland im Ministerium Balfour, Mr. Wyndham, wollte
derartige Bahnen beschreiten. In seinem eignen Lager war die Mehrheit da¬
gegen, sodaß er im März 1905 zurücktreten mußte. Sein Nachfolger wurde
Walter Long, ein Mann, der von vielen als der künftige leitende konservative
Staatsmann Englands eingesehn wird.
Im Januar des folgenden Jahres kam es zur Neuwahl des Parlaments.
Gegen Balfour und Chamberlain hatte sich viel Abneigung angesammelt. Die
eigentlichen Liberalen entschlossen sich, nicht nur mit der auf dem Boden der
bisherigen Gesellschaftsordnung stehenden Arbeiterpartei zusammenzuwirken,
sondern auch mit den Sozialdemokraten und mit den Iren. Die verbündeten
Parteien erlangten einen großartigen Sieg und eine Parlamentsmehrheit von
beispielloser Stärke. Die Liberalen und die Arbeiterpartei waren sogar für
sich allein stark genug, eine Mehrheit zu bilden, auch wenn die Iren zu den
Konservativen gingen. Sie waren also von den Iren unabhängig. Das alte
Ministerium trat zurück, Campbell-Banuermcm wurde Premierminister, Bryce
wurde Staatssekretär für Irland.
Natürlich hatten sich die Liberalen damit auch Verpflichtungen auferlegt,
wiewohl sie Gladstones Plan von sich gewiesen hatten. Sie bemühten sich
redlich, den Wechsel einzulösen. Es kam zu den beiden Neformentwürfen, die
schon im Eingang dieser Zeilen erwähnt worden sind, dem von Bryce und
dem von seinem Nachfolger Birrell, die beide von den Iren als ungenügend
rundweg verschmäht wurden.
Inzwischen hatten sich die Verhältnisse in Irland wieder ganz trübe ge¬
staltet. Mehr und mehr gehorchten die Pächter dem von der Huitsä Irisü
I,s«,Ano ausgehenden Befehl, keine Käufe vorzunehmen. Dem irischen Volke
solle das ihm einst geraubte Land unentgeltlich zurückgegeben werden. Auf
der lustig im Winde flatternden Agitationsfahne stand das vielsagende Wort:
no reut. Der Boykvtt wurde in umfassendsten Maße gegen alle Grundbesitzer
geübt, einerlei ob Engländer oder nicht; auch gegen Pächter, die dem Gebot
der Liga zuwider überhaupt Pacht zahlten. Auch unter diesen waren manche
redliche Leute; es kam vor, daß sie heimlich ihre Pachtgelder zahlten und sich
eine Quittung verbaten, damit nicht etwa die Revisoren der Liga (den
Camorristcis in Neapel vergleichbar) ein sie belastendes Aktenstück bei ihnen
funden. Die Äcker blieben unbestellt, die Landleute saßen in den Branntwein-
kneipen und politisierten. Auch die Mondscheinbanden trieben wieder ihr Un¬
wesen, selbst in den Straßen von Dublin. Die Polizei fühlte sich nicht stark
genug, um sich an sie heranzuwagen. „Wie können wir auch, so lautete eine
sehr bezeichnende Darstellung von beteiligter Seite, mit den wenigen uns zur
Verfügung stehenden Polizisten Tausende von Häusern und Pächtern überwachen?
Als es noch Zeit war(?), das Übel mit der Wurzel auszurotten, verhielt sich
die Negierung aus befremdlichen Ursachen untätig und ließ die beste Gelegenheit
vorübergehn. Ich verstehe die Regierung im Schlosse zu Dublin nicht.
Augenscheinlich wachsen ihr die Dinge über den Kopf, und es wird schwere
Zeiten geben, wenn es einmal heißt, gründlich aufzuräumen. Tausende von
Pächtern sind gezwungen worden, der Liga beizutreten, sie gewinnt von Tag
zu Tag an Macht. Ein Glück ist es, daß die Geistlichkeit, oder der über¬
wiegende Teil derselben, bisher die Dinge nur aus der Ferne betrachtet und
nicht Partei für die Rebellen genommen hat."
Die größte Macht der Liga liegt im Süden und im Westen. In ganz Irland
hat sie 1200 Zweigvereine, die nicht unähnlich den örtlichen Jakobinerklubs
in Frankreich oder den Femgerichten in Deutschland sind. Heimlich wird be¬
schlossen, einen unbeliebten Mann zu ermorden oder mit einer Anzahl Ver¬
mummter zu überfallen und zu töten oder ihm sein Haus, seine Viehställe und
Scheunen über dem Kopfe anzuzünden. In einigen Grafschaften stehen be¬
ständig Dutzende von Personen unter polizeilicher Schutzbewachung. In vier
Grafschaften standen 120 Pächterhäuser leer, weil die Berechtigten für ihr
Leben fürchteten. Die nächsten Opfer der Gewalttat waren die „Graziers".
Grazier (zu deutsch Gräser) siud Leute, die von den Großgrundbesitzern Weide¬
ländereien pachten, diese im Frühjahr mit jungen Ochsen beschicken, die den
ganzen Sommer durch auf der Weide bleiben und im Herbst nach England
verkauft werden. Da das Jrcntum nicht will, daß Pacht bezahlt wird, so
muß es auch die Gräser stören. Es kommt also nachts zu den Weiden, bricht
die Umzäunungen nieder und verjagt das Vieh. Da die Übeltäter nicht stehlen,
so sind sie schwer zu überführen. Sie rühmen sich, das Vieh in einer ein¬
zigen Nacht auf weite Entfernungen verjagen zu können. Möchten sich doch
die Eigentümer ihre Ochsen an der Ost- oder an der Westküste oder in den
Getreidefeldern der innern Grafschaften wiedersuchen! Oder man bricht in die
Ställe ein und läßt das Vieh laufen; das geringe Aufsichtspersonal wagt gegen
die in gehöriger Anzahl erscheinenden „Mondscheiner" nicht vorzugehn. Das
Zeugenverfahren versagt vollständig. Die jetzige konservative Opposition ver¬
langt von der Regierung stürmisch ein kraftvolles Einschreiten gegen die Übel¬
täter. Aber die Minister, die Polizei sind in einer schlimmen Lage. Hat doch
auch die frühere Regierung dem Unfug keinen Einhalt gebieten können! Die
liberale aber hat die Iren in gewissem Sinne zu ihrem politischen und
parlamentarischen Anhang zu rechnen.
Gleich bei Beginn der neuen Regierung hatten die Iren sie gewarnt, sie
möge nicht glauben, mit einer bloßen Ausdehnung der Selbstverwaltung, auch
wenn sie über Wyndhams Plan hinausgehn wolle, auszukommen. Die Iren
würden im Parlament zu Westminster Obstruktion treiben, auf der Insel aber
jede ordentliche Verwaltung unmöglich machen. Sie seien entschlossen und
Hütten die Gewalt. Schon im Oktober 1906 richtete das Parlamentsmitglied
Mr. Ginnell einen flammenden Appell an das Volk, die Vertreibung des
Dämons des Gräsertnms zu vollenden. Kein Mann von gesundem Menschen¬
verstande werde glauben, daß die liberalen englischen Minister ihnen helfen
würden, dieses Ziel zu erreichen. Im Juni dieses Jahres forderte Mr. Kelly,
ein Ortsvorsteher oder ähnlicher Beamter, eine Versammlung in Galway auf,
den dortigen Großgrundbesitzer Lord Ashtown zu behandeln, wie 1883 John
Blute behandelt worden sei. John Blake war einfach totgeschossen worden.
Das konnte sich doch auch die nachsichtigste Regierung nicht bieten lassen. Sie
setzte Mr. Kelly unter Anklage. Mittlerweile führt dieser in seinen Amts¬
funktionen fort. Neuerlich soll diese eigentümliche Magistratsperson ihren
Amtsbefohlnen gesagt haben, es gebe eine Parlamentsakte, kraft deren alles
Weideland unter das Volk verteilt werden solle; dieses habe ein anerkanntes
Recht darauf. Wenn sich sogar Angehörige der Obrigkeit so äußern, so kann
man sich nicht wundern, daß kaum ein Tag vergeht, an dem nicht die
Zeitungen von Viehverjagung zu erzählen haben. „Es kann niemand wunder¬
nehmen, so sagen die Times vom 20. Juni dieses Jahres, daß die schmerzlichen
Eindrücke unter den irischen Unionisten über die vertuschende Sprache des Lord
Denman, des Sprechers der Regierungspartei in der betreffenden Parlaments¬
verhandlung, beständig stärker geworden sind, und die Äußerung Lord Denmans,
daß nach Meinung der Negierung das Verjagen von Vieh an und für sich
kein Verbrechen von sehr ernster Natur sei, wurde in Irland von den Leitern
der Liga und den Organisatoren des Kampfes gegen die Weidewirtschaften
willkommen geheißen," Man verbreitet ein angebliches Wort des Staats¬
sekretärs Mr. Birrell, daß er für seine Person entzückt sein würde, wenn das
Volk aus eigner Kraft, sei es auch durch rohe Mittel, Abhilfe von dem Übel
der „Gräser" funde.
Durch den schon eingangs erwähnten Ruf der Uvitsä Irisd I^Axrw zu
den Waffen (vom 20. Juni) hat der Kampf noch einen umfassenden Charakter
angenommen, wiewohl von neuen sensationellen Verbrechen für die letzten
Wochen noch nicht gerade zu berichten ist. Vielleicht hat man solche für den
Herbst und Winter zu erwarten, denn auf diese verweist die Kundgebung des
Borstandes mit aller Offenheit. Inzwischen geht die Regierung mit einem
neuen Beruhigungsversuch vor. Die Kviotscl klü-als pill soll den Pächtern,
die, weil sie keine Pacht bezahlt haben, von den Eigentümern an die Luft
gesetzt worden sind, Pachtungen verschaffen. Es waren deren Anfang Juli 8400.
Um diesen Pachtungen von 40 Acres (16 Hektar) zu verschaffen, wären
336000 Acres nötig. Es sind aber nur 80000 Acres unverpachtetes Land käuflich.
Die Kommissare der Regierung sollen nun durch das neue Gesetz das Recht
erhalten, die Eigentümer von Land zu enteignen und ihnen einen Preis nach
Gutdünken dafür zu zahlen, auch wenn sie nicht verkaufen wollen. Sollen
denn, so fragen aufgeregt die Gegner, die Pächter, die ehrlich ihre Pacht be¬
zahlt haben, durch solchen Zwangskauf an die Luft gesetzt werden zugunsten
von Pächtern, die ihren Verpflichtungen nicht nachkommen? Die irische Ver¬
wicklung bringt England auf abenteuerliche Heilungsversuche.
Zu allem Überfluß kommt auch noch eine neue jungirische Bewegung auf;
sie nennt sich Sinn ?einn, zu deutsch: „wir selbst". Ihr Ziel ist ebenfalls
die Loslösung Irlands aus dem englischen Regiment; jedoch soll sie im Gegensatz
zu der Unitsä Irisn I^g-Zue, die England zu der Freigebung der Insel zwingen
will, direkt durch irische Kräfte geschehen. Der äußerste Radikalismus kommt
hier zum Worte. Sinn I^lui sagt: „Ihr verweigert uns Homerule? Wohlan,
wir werden es uns schaffen." Die Kinder Irlands sollen in eignen irischen
Schulen und Universitäten erzogen werden. Landwirtschaft, Industrie, Schiff-
fahrt, Handel, Börsenwesen, alles soll auf eigner nationaler Grundlage unter
Zurückstoßung alles Englischen geschaffen werden. Natürlich ein eignes irisches
Parlament mit eigner irischer Regierung. Eigne Konsulate im Auslande.
»Wir fordern das Volk auf, die Gerichtshöfe zu bvykottieren und ihre Streitig¬
keiten freiwillig nationalen irischen Schiedsgerichten zu unterbreiten." Börsen
und Banken sollen ausschließlich irisch sein. „Wir empfehlen die Boykottierung
englischer Waren und die Verweigerung des Eintritts in den englischen Zivil-
und Militärdienst. Mit der Zeit wollen wir alle englischen Steuern ver¬
weigern und in unsrer eignen Hauptstadt eine mit moralischer Autorität aus¬
gestattete nationale Körperschaft errichten, einen Rat der Dreihundert, der sich
aus Mitgliedern des Generalrats, der Grafschaftsräte, der Gemeinderäte usw.
zusammensetzt und tatsächlich ein irisches Parlament bilden wird, das die Voll¬
macht hat, Beschlüsse zu fassen, die das irische Volk als Gesetze ehren wird."
Das erscheint einem kühlen Beobachter als ein abenteuerliches Programm.
Der irische Kette ist aber nicht kühl, er ist ein Hitzkopf. Einen gewissen Er¬
folg hat Lini ?einn schon errungen, insofern er die Ilmtsä Irislr I^a^ne zu
großem Eifer angespornt hat. Von einer Beruhigung Irlands, einer Ver¬
ständigung der beiden großen Nationen, ist man anscheinend weiter entfernt
als je.
l le Hebung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter ist sehr wichtig,
aber alles ist damit noch nicht getan. Zum Kampfe mit der Sozial-
demokratie bedarf es auch geistiger Waffen, und wir sind in der
glücklichen Lage, daß die Massen der Industriearbeiter der Mehr-
lzcchl nach nicht geistig stumpf sind, sondern nach Vermehrung
ihrer Kenntnisse verlangen. Die schnelle wirtschaftliche Entwicklung, die damit
zusammenhängende Verbesserung der materiellen Lage des Arbeiterstandes und
die angestrengte und fruchtbare geistige Arbeit der führenden Stände haben es
in Deutschland mit sich gebracht, daß sich auch der untern Volksschichten ein
wahrer Bildungshunger bemächtigt hat. Die Volksschule hat sie so weit gefördert,
daß sie jetzt mehr verlangen. Man will sich nach der einförmigen Tagesarbeit
beschäftigen, will teilnehmen an den die Welt bewegenden Tagesfragen, sich in
seinem Spezialarbeitsfache bessere Kenntnisse aneignen. Das Streben, geistig
vorwärts zu kommen, wird bestimmt weiter zunehmen, und ihm entgegenzukommen
ist eine der wichtigsten sozialen Fragen. Das Bildungsbedürfnis der Massen
gibt das Mittel, ihnen nahe zu kommen, ihnen an Stelle der schädlichen, die
niedrigsten Instinkte weckenden Schundliteratur, die jetzt in Millionen von
Exemplaren durch das ganze Land verbreitet wird, gute Bildungsmittel in die
Hand zu geben, sie auch politisch zu belehren, ohne daß der Verdacht staatlicher
Bevormundung entsteht. Die Förderung der Volksbibliotheken ist also ein vor¬
zügliches Mittel gegen die Sozialdemokratie, und von diesem Mittel Gebrauch
zu machen ist um so dringender, als gerade die Sozialdemokratie das Bildungs¬
bedürfnis der Massen längst erkannt hat und eifrig bemüht ist, es durch Ge¬
währung von Büchern, Schriften und Zeitungen auszunützen. In sehr geschickter
Weise gründet die sozialdemokratische Partei Volksbibliotheken überall da, wo
keine öffentliche Bibliothek vorhanden ist, und wenn dann die Gemeinde oder
ein Verein mit der Schaffung einer Bibliothek nachhinkt, so ist es oft zu spät,
den Schaden wieder gut zu machen. In den großen Städten hat man die
Bedeutung der Angelegenheit erkannt und vielfach vortreffliches geleistet. Um
nur einige Beispiele aus den Industriestädten zu geben, sei hier erwähnt, daß
Essen, wo doch schon die große Kruppsche Bibliothek besteht, im Jahre 1907 nicht
weniger als 36000 Mark für seine Bibliothek aufwendet, Elberfeld 26000 Mark,
Barmer etwa ebensoviel, Krefeld 11000 Mark. Um auch eine Vorstellung davon
zu geben, wie sehr diese Bibliotheken benutzt werden, sei hier nur hervorgehoben,
daß in Barmer im Jahre 1906 nicht weniger als 270000 Bünde entliehen
wurden, und daß ein Drittel der Leser Arbeiter waren. In Essen sind sogar
zwei Drittel der die Bibliothek benutzenden Leser Arbeiter. Solche große
Städte sind in der Lage, das Bildungsbedürfnis der Arbeiterschaft zu befriedigen,
und es ist erfreulich, daß sie es tun. Die kleinen Städte und die Kreise haben
aber diese Mittel nicht, was sie leisten, kann nur Stückwerk sein, und hier müßte
unbedingt der Staat eintreten, wie kürzlich erst in diesen Blättern nachgewiesen
worden ist.*> Der preußische Staat hat aber im Jahre 1907 zur Förderung
der Volksbibliotheken nur 100000 Mark in den Etat eingestellt. Daß mit dieser
Summe nichts geleistet werden kann, liegt auf der Hand. Da es an Mitteln
in Preußen nicht fehlt, muß leider der Schluß gezogen werden, daß die Be¬
deutung der Aufgabe, die hier zu lösen ist, noch nicht voll gewürdigt wird.
Je früher man sich entschließt, reichliche Mittel für die Förderung der Volks¬
bibliotheken und Lesehallen zur Verfügung zu stellen, desto besser; das Geld,
das für diesen Zweck ausgegeben wird, ist nicht unnütz aufgewandt.
Eine gesunde staatliche und kommunale Förderung des Arbeiterwvhnungs-
wesens. Anregung des Sparsinns, Erziehung der Mädchen und Frauen zur Wirt¬
schaftlichkeit und Befriedigung des Bildungsbedürfnisses des Volkes, das dürften
hiernach die wesentlichsten Aufgaben einer Politik sein, die sich das Ziel setzt, in
den Großstädten und in den überwiegend industriellen Bezirken die schädlichen
Wirkungen auszugleichen, die von der räumlichen und sozialen Umschichtung
der Nation ausgegangen sind. Andre Aufgaben werden auf dem platten Lande
und besonders im Osten der preußischen Monarchie zu erfüllen sein, also in
den Gebieten, die seit langer Zeit nicht nur ihren Menschenüberschuß an die
Großstädte und an die Industrie abgeben, sondern teilweise, wie gezeigt worden
ist, sogar in der Bevölkerungszahl zurückgehe« und an einer Blutleere leiden,
die jeden, der es gut meint mit unserm Vaterlande, mit ernster Sorge erfüllen
muß. Hier besteht die Aufgabe, wenigstens einen Teil des Geburtenüberschusses
dem platten Lande und dem Osten zu erhalten. Die Losung kann also hier
"ur lauten: Ansicdlungspolitik großen Stils. Es ist bekannt, daß der Kampf
gegen das Polentum in den von diesem besonders bedrohten Provinzen Posen
und Westpreußen den preußischen Staat gezwungen hat, die Ansiedlung von
deutschen Bauern nach Möglichkeit zu fördern, und wieviel in diesen Provinzen
schon geleistet worden ist.
Aber diese aus nationalen Gründen begonnene Arbeit ist eben auf einen
Teil des Ostens beschränkt, für die andern östlichen Provinzen, für Schlesien,
die Mark, für Pommern und für das unter der Entvölkerung in besondern:
Maße leidende Ostpreußen ist bisher wenig geschehen. Und doch muß hier ein¬
gegriffen werden. Wer die Verhältnisse in Ostpreußen kennt, der weiß, daß
es höchste Zeit ist. Die Pflicht des Staates gegenüber den östlichen Provinzen
ist um so größer, als die ungünstigen Agrarverhältnisse, der Rückgang des
Bauernstandes im Osten zum guten Teile auf die Hardenbergische Gesetzgebung
zurückzuführen sind. Es ist unmöglich, hier auf die Einzelheiten einzugehn,
erwähnt sei nur, daß infolge dieser Gesetzgebung, die in dem Streben nach
Befreiung des Verkehrs und des Besitzes durchaus nicht nur gutes geschaffen,
sondern auch viele schwere Fehler gemacht hat, in den östlichen Provinzen im
Wege der Abtretung an den Großgrundbesitz fast 800000 Morgen und im
freien Verkehr über 400000 Morgen Land dem bäuerlichen Besitz verloren
gegangen, daß über 5000 selbständige Bauernwirtschaften eingegangen sind.
Solche Verluste machen sich fühlbar und sind nur durch angestrengte systematische
Arbeit wieder auszugleichen. Es muß also kolonisiert werden im Sinne Friedrich
Wilhelms des Ersten und Friedrichs des Großen. Das hat kürzlich auch der
neue preußische Landwirtschaftsminister Herr von Arnim anerkannt, indem er am
6. März 1907 vor dem Landesökonomiekollegium sagte: „Wir müssen uns darüber
klar werden, daß, wenn wir nicht der Abnahme der landwirtschaftlichen Be¬
völkerung steuern, keine Besserung der Arbeiterverhältnisse möglich ist. Ein
Mittel hierfür ist die Schaffung einer dichtern Bevölkerung. Ich gebe zu, daß
auf diesem Wege keine schnelle Abhilfe der Notlage zu erwarten ist, andrerseits
aber steht fest, daß tatsächlich ohne ein konsequentes Vorgehen mit den Arbeiter¬
ansiedlungen kein Erfolg zu erreichen ist. Ich mache Sie auf die Gegenden
aufmerksam, in denen schon früher Ansiedlungen gegründet worden sind, abgesehen
von den Erfolgen in England, Dänemark und Schweden. So ist der Warthe¬
bruch, der damals eine Wüste war, unter Friedrich dem Großen mit einer
dichten Bevölkerung besetzt worden, und das hat sich noch bis auf den heutigen
Tag bewährt. Ähnliche Wirkungen haben wir mit den Ansiedlungen in West¬
preußen gemacht. Diese Beispiele zeigen, daß ans diesem Wege etwas zu machen
ist. Wenn wir jahrzehntelang konsequent vorgehn, kleine Stellen auf dem
Lande zu schaffen und mit Arbeitern zu besetzen, dann müssen wir einen Erfolg
haben. Ein andres Mittel, die ländliche Bevölkerung zu vermehren, gibt es
nicht, wenigstens kein Mittel von so grundlegender Bedeutung." Leider hat
man in den Kreisen der östlichen Großgrundbesitzer bisher nur wenig Ver¬
ständnis dafür, daß nur durch eine konsequente Ansiedlungspolitik zugleich dem
Arbeitermangel abgeholfen werden kann, unter dem die östliche Landwirtschaft
in einem solchen Maße leidet, daß die schwersten Gefahren daraus entstehn
können. Alle nur erdenklichen Einwendungen werden gemacht, die sämtlich in
dem Satze gipfeln: es geht nicht. Und es geht doch, denn es muß gehn. Der
Beweis dafür ist in einzelnen Fällen auch schon erbracht worden, und von be¬
sondern! Interesse ist es, daß sich unter denen, die auf ihren Besitzungen durchaus
gelungne Ansiedlungsversuche gemacht haben, auch der frühere preußische Land¬
wirtschaftsminister von Podbielski befindet,*) Ähnliche Versuche haben, um nur
einige Beispiele zu nennen, mit Erfolg gemacht ein Herr von Klitzing auf Kolzig
im Kreise Grünberg und besonders der Kreisausschnß des Kreises Briefen. Aber
das sind eben nur Versuche Einzelner. Wirkliche Erfolge hat man auf diesem
Gebiete in dem viel geschmähten Lande Mecklenburg-Schwerin aufzuweisen,
wo man auf den Domcmialgütern des Großherzogs seit dem Jahre 1846
10500 Häuslerstellen neu gegründet hat. Was das bedeutet, wird klar, wenn
man bedenkt, daß man in den sechs östlichen Provinzen 400 000 Häuslerstellen
schaffen müßte, um dem Größenverhältnis entsprechend ähnliches zu leisten, wie
in Mecklenburg-Schwerin geschehen ist. Was auf diesem Gebiete geleistet-werden
kann, wenn der Wille vorhanden ist, das hat auch Dänemark bewiesen. In
vier Jahren hat man dort 1592 ländliche Arbeitsstellen gegründet, und der
Staat stellt jährlich für diesen Zweck drei Millionen Kronen zur Verfügung,
was für den Osten Preußens ungerechnet etwa 25 Millionen Mark jährlich
bedeuten würde. Was Mecklenburg und Dänemark können, muß Preußen auch
können.
Nach der Rede des preußischen Landwirtschaftsministers kann man hoffen,
daß eine Ansiedlungspolitik auch für die bisher vernachlässigten Provinzen
endlich eingeleitet werden wird. Geld wird diese Kolonisation kosten, aber das
darf davon nicht abschrecken. Man ist geneigt, anzunehmen, daß Friedrich
Wilhelm den Ersten und Friedrich den Großen ihre kolonisatorische Tätigkeit
wenig oder nichts gekostet habe, weil damals die Ansprüche auf allen Gebieten
geringer waren. Nach BeHeim-Schwarzbachs Angaben (Kolonisationswerk in
Litauen) kostete Friedrich Wilhelm den Ersten, als er die Vertriebnen Salz¬
burger nach Ostpreußen zog, die Umsetzung jeder Kolonistenfamilie 400 Taler,
eine für jene Zeit und den armen Staat gewiß sehr bedeutende Summe, und
diesen Betrag behielt Friedrich der Große als Norm bei. Die Ausgabe hat
reiche Zinsen getragen, wie heute jedermann anerkennt, und so wird sich jede
Ausgabe lohnen, die auf die Besiedlung des Landes und besonders des Ostens
verwandt wird. Man muß diese Dinge im Zusammenhange betrachten. Eine
große Tageszeitung schrieb kürzlich in ihrem Börsenberichte: Wir sehen ein
Land, das in der Entwicklung seiner wirtschaftlichen Kräfte in einem Maße
fortschreitet, mit dem die Bereitstellung seiner Kapitalmengen nicht mehr gleichen
Schritt hält.*) Das heißt mit andern Worten: unsre industrielle Entwicklung
ist überstürzt, und das ist tatsächlich der Fall. Unsre Industrie arbeitet gerade
so wie vor der letzten Wirtschaftskrisis zum guten Teile nicht für den Konsum,
sondern für die Vergrößerung und Ausdehnung der Industrie, also für die
Vermehrung der Produktion, und damit steuern wir nicht nur auf eine neue
Krisis zu, sondern es ergeben sich daraus zugleich die schwersten Übelstände für
das Leben des Volkes. Worauf es hier ankommt, ist, daß diese überstürzte
industrielle Entwicklung nicht nur mehr Kapital beansprucht, als zur Verfügung
steht, sondern auch mehr Menschen, als die doch fruchtbare deutsche Bevölkerung
zu stellen vermag, und daß daher die Arbeitskräfte allen andern Berufsständen
und hauptsächlich der Landwirtschaft entzogen werden.
Das wird auch nicht besser werden, denn der Konzentrationsprozeß, der
sich fortschreitend in der Industrie und im Bankwesen vollzogen hat und weiter
vollziehen wird, hat natürlich nicht den Zweck, die industrielle Entwicklung zu
hemmen, sondern sie weiter zu fördern, und so wird auch die künftige Ent¬
wicklung dahin gehn, daß in den Großstädten und in den Industriebezirken die
Anhäufung von Menschen fortschreitet, und daß das Land und besonders der
Osten weiter entvölkert wird. Beides ist gleich schädlich, und das Ziel unsrer
Politik muß es deshalb sein, dort, wo große Volksmengen in ungesunder Weise
angehäuft werden, dafür zu sorgen, daß die Menschen soweit wie möglich davor
bewahrt werden, körperlich und geistig zu entarten, in den Gebieten aber, denen
die Arbeitskräfte im Übermaße entzogen werden, durch innere Kolonisation ein
Gegengewicht zu schaffen. Und zwar liegt das nicht nur im Interesse der Land¬
wirtschaft und des Ostens, sondern ebensosehr in dem der Industrie. Denn
die Lande östlich von der Elbe sind nicht nur die Wiege der Monarchie; hier
kamen nicht nur die zähen, harten Männer her, die unsre Heere von Sieg zu
Sieg geführt und schließlich das langersehnte Deutsche Reich gegründet haben,
diese Provinzen sind zugleich das große Meuschenreservoir, aus dem auch der
Westen gespeist wird. Ein großer Teil derer, die im Westen die Maschinen
bedienen, stammt aus dem Osten, die Industrie könnte diese Zuwanderung aus
dem Osten gar nicht entbehren, und wenn der Westen mehr Geld aufbringt, so
gibt es doch etwas Kostbareres als Geld, nämlich Menschen, und indem diese
dem Osten entzogen werden, lebt der Westen zum Teil auf dessen Kosten. Wenn
es so weitergeht, dann müssen diese Provinzen veröden, was sich schwer rächen
würde, nicht nur für die Allgemeinheit, weil kein Staat ungestraft die Grund¬
lagen seiner Macht verläßt, sondern auch für den Westen im besondern, weil
der Menschenzufluß aus dem Osten aufhören müßte. Hier beginnt also die
Solidarität der Interessen von Industrie und Landwirtschaft. Für
den Staat liegt aber noch der besondre dringende Grund vor, die ländliche Be¬
völkerung zu stärken und zu vermehren, weil die von der Scholle losgelöste
städtische und industrielle Arbeiterschaft immer mehr oder weniger geneigt sein
wird, sich den auf Umsturz gerichteten Bestrebungen anzuschließen, weil sie national
niemals so zuverlässig sein wird und sein kann wie der Teil unsers Volkes,
der von dem Ertrage der Scholle lebt und durch sie unlösbar mit der Er¬
haltung der Staatsordnung verknüpft ist.
Wenn man prüfen will, wie das übermäßige Anwachsen der sozialdemo¬
kratischen Stimmen in Deutschland zu erklären sei, so wird man den letzten
Grund darin finden, daß die städtische und industrielle Bevölkerung zu schnell
und zu stark vermehrt, die ländliche Bevölkerung zu sehr geschwächt worden
ist. Will man also die Mächte des Umsturzes nachdrücklich bekämpfen, so wird
das beste Mittel immer sein, den Teil des Volkes zu kräftigen und der Zahl
nach zu vermehren, der, wie die Dinge auch kommen mögen, der sozialdemo¬
kratischen Verführung und Versetzung den stärksten Widerstand entgegenzusetzen
imstande sein wird.
So etwa müßte eine Bevölkerungspolitik aussehen, die es sich zum Ziele
setzt, das deutsche Volk von den Krankheitserscheinungen zu heilen, an denen
es leidet. Eine gesunde Verteilung der Bevölkerung ans Land und Stadt, auf
Osten und Westen und eine planvolle Arbeit, um die von den Hetzern und
Verführern noch nicht vergifteten Teile des Volkes gesund zu erhalten, die
andern aber, soweit es noch möglich ist, für die Staatsordnung zurückzugewinnen,
das ist, was uns fehlt. Natürlich bleiben noch viele andre Aufgaben übrig.
Hier handelt es sich nur um die sozialdemokratische Gefahr und um die Klassen,
die der sozialdemokratischen Verführung um leichtesten verfallen; will man den
auf Umsturz gerichteten Bestrebungen ernstlich entgegentreten, so wird man eine
Politik befolgen müssen, die ungefähr der gleicht, die hier kurz empfohlen
worden ist. _
as sich für und wider den Krieg sagen läßt, das ist in den letzten
Jahrzehnten laut genug erörtert worden. Doch hatte es, so viel
ich weiß, nur die Friedenspartei zu großen zusammenhängenden
Darstellungen ihrer Ansicht gebracht. Jetzt hat uns nun auch ein
begeisterter Freund des Krieges mit einer systematischen und gründ¬
lichen Verteidigung seines Standpunktes beschenkt: Die Philosophie des
Krieges von Or. S. Rudolf Steinmetz im Haag. (Leipzig, Johann Ambrosius
Barth, 1907.) Er weist sowohl die sentimentale wie die doktrinär ethische Be¬
urteilung des Krieges als ganz ungenügend zurück und findet in dem um das
Rassenideal bereicherten evolutionistischen Militarismus die wahre und tiefe
Ethik, von der aus allein der Krieg gewürdigt werden könne. Er geht aus
von der Natur des Urmenschen, die glücklicherweise nicht die des Hasen gewesen
sei. Wäre dieses der Fall gewesen, so würde er entweder ausgerottet worden
oder ein stumpfsinniger Egoist ohne Kultur geblieben sein. Indem er sich gegen
die Tiere wie gegen seinesgleichen zur Wehr setzte, entwickelte er zunächst die
Eigenschaften der Angriffslust, der Grausamkeit und der Begehrlichkeit und dann
später, in Gruppen lebend und den Verteidigungskampf als Glied der Gruppe
führend, alle sittlichen Tugenden, da nur der gemeinsame Kampf gegen ge¬
meinsame Gegner tiefe, leidenschaftliche Sympathie, Opfermut, begeisterte
Hingabe an ein großes Ziel zu wecken vermag. Diese Wirkungen erhöhen
und erweitern sich in dem Maße, als aus der Horde, dem Stamm, der
Stadtgemeinde der Großstaat hervorgeht, der selbst eine Schöpfung des Krieges
ist, sodaß also der Krieg die höchste Form des menschlichen Gemeinschafts¬
lebens erzeugt. Und diese Form zu erhalten und alle in ihr liegenden Keime
zu entfalten, bleibt der Krieg immer notwendig. Er wirkt als Verbreiter der
Kultur, wie die Kriege Alexanders des Großen und die der Römer beweisen,
er räumt veraltete, unlebensfähige Staatengebilde weg, wie die napoleonischen
Kriege getan haben, er ist die größte Gesamtleistung, in der alle Kräfte der
Nation beendigt und aufs höchste angespannt werden, und er beglückt hierdurch,
denn höchste Kraftleistung ist höchstes Glück (zur Veranschaulichung der psychischen
Wirkungen des Krieges wird öfters herangezogen, was Ratzel in „Glücksinseln
und Träume" von seinen Kriegserfahrungen erzählt). Und bereitet der Krieg
tiefstes Leid, so liegt auch darin eine Steigerung des Glücks, da wahres Glück
ohne tiefe seelische Erschütterungen nicht erlangt werden kann. Endlich ist der
Krieg das Weltgericht, das einer jeden Nation ihr eignes Innere enthüllt,
an den Tag bringt, was sie wert ist, wie sie die Friedenszeit angewandt
hat, was sie an Leistungen oder an Nachlässigkeiten und Verschuldungen an¬
gehäuft hat. Diese großartige und notwendige Entwicklungserscheinung aus der
Welt schaffen, ihre Wirkungen durch ausgeklügelte Einrichtungen wie Schieds¬
gerichte ersetzen zu wollen, ist Torheit. Menschenklugheit erscheint als Dummheit
neben der Weisheit der Natur. ' Auch kann der kriegerische Konkurrenzkampf
der Staaten nicht etwa durch deu wirtschaftlichen Konkurrenzkampf ersetzt
werden, denn dieser ist von ganz andrer Natur: er ist rein egoistischer Art,
während der Krieg, in dem sich jeder Einzelne für sein Volk und für die
Enkel dieses Volk opfert, Bewährung des edelsten und reinsten Altruismus ist.
Inwiefern der Krieg selektionistisch wirkt, wird untersucht und nicht in Abrede
gestellt, daß er in einem gewissen Grade auch antiselektionistische Wirkungen
habe. Die schlimmen Wirkungen und Folgen des Krieges werden vollauf
gewürdigt, jedoch durch Berechnung auf ihr richtiges Maß zurückgeführt.
Selbstverständlich wird jede einzelne Behauptung des Verfassers von den
Friedensfreunden nicht bloß bestritten sondern als falsch erwiesen werden, wie
das denn auch vielfach schon im voraus geschehen ist, am scharfsinnigsten wohl
von dem französierten Russen Novicow, gegen den Steinmetz oft polemisiert.
Zufällig hat auch Novicow gerade wieder ein neues Buch herausgegeben (Die
Gerechtigkeit und die Entfaltung des Lebens), von dem mehrere Kapitel der
Bekämpfung des Krieges und des Militarismus gewidmet sind. Anstatt mich
auf die Kontroverse der beiden feindlichen Parteien einzulassen, die vor dem
Weltende nicht zu Ende gehen wird, will ich lieber bei zwei Kapiteln des
Buches von Steinmetz ein wenig verweilen, die eine teils direkte teils indirekte
Kritik preußischer Zustände enthalten.
Zu den schlimmsten Wirkungen des Krieges gehört, daß er die Menschen
verroht. Die moderne Art der Kriegführung hat viele Quellen der Verrohung
verstopft, aber manche fließen noch. „Wir haben vom Kriege bei den direkt
beteiligten Soldaten und Offizieren eine Zunahme von Roheit, Grausamkeit,
Mißachtung fremden Eigentums und Lebens, Selbstüberhebung, Mißachtung
fremder, besonders weiblicher Ehre und Persönlichkeit zu erwarten." Glücklicher¬
weise erfüllt sich diese Erwartung nicht in dem zu fürchtenden Umfange. Die
Kriminalstatistik bekundet keine wesentliche Zunahme der Roheitsverbrechen nach
den Kriegen des neunzehnten Jahrhunderts. Bedenklicher erscheint der Umstand,
daß auch das Soldatenleben im Frieden, das Kasernenleben, nicht mit Unrecht
beschuldigt wird, es verrohe die Menschen. „Die häusliche Zucht hört auf
einmal auf, sie wird durch die militärische nur sehr unvollkommen ersetzt, da
diese sich auf ganz andre Handlungen des jungen Menschen bezieht und ihren
Mitteln nach mehr äußerlich bleiben muß. Gute weibliche Einflüsse, ohne die
jedes Leben, weil einseitig«?), zur Unsittlichkeit hinneigen muß, fehlen ganz.
Aus dem engen Kreise des gewohnten Lebens treten die jungen Leute auf
einmal, ohne Übergang, im sehr empfänglichen Alter in ganz andre Verhält¬
nisse; oft wird der Bauer in die Großstadt verpflanzt. Als die eigentlichen
Erzieher jeder Stunde treten die jungen Genossen in Wirksamkeit, die dazu
am wenigsten geeignet sind, und die keineswegs erhebende Pshchologie der
Menge übt ihren Einfluß mittels der. falschen Scham. Dazu geben die Unter¬
offiziere, die soldatische Roheit manchmal mit dem Größenwahn der Offiziere
Paaren, ihr wohl selten gutes Beispiel. Wer viele von diesen in ihrem Ver¬
hältnis zu Mädchen beobachten konnte, wird von ihrer Einwirkung ans das
Gemüt der jungen Soldaten nur das Schlimmste erwarten. Obwohl der
Verfasser, dessen Vater Oberst war, den wertvollen Einfluß nicht unterschätzt,
den manche Offiziere auf das intimere Leben der Untergebnen ausüben, so
fürchtet er doch, dieser Einfluß möge manchmal fehlen, manchmal ins Ungünstige
entarten. Der dumme Standesstolz, die lächerliche Einbildung, die Anmaßung
den Untergebnen gegenüber, das Kriechen vor den Vorgesetzten, das alles muß
unvermeidlich einen verderblichen Einfluß auf die jungen Seelen ausüben. Das
Schlimmste dabei ist vielleicht die Aufhebung des Glaubens an die Vorgesetzten:
wer sie so täglich in ihrer kleinlichen Anmaßung nicht nur wahrnehmen, sondern
ertragen muß und dennoch ihnen zu gehorchen gezwungen ist, leidet entweder
seelisch furchtbar oder wird in seinem Charakter geschädigt. Jeder Vorgesetzte,
der nicht mit allen Kräften und unausgesetzt danach strebt, auf jedem Gebiet,
vor allem aber in seinem Verhalten zu den Untergebnen, in ihren Augen
musterhaft zu sein, ist eine soziale Gefahr. Jedesmal, wo ein Soldat ein er¬
littenes Unrecht im Angesichte des frechen Vorgesetzten schweigend hinunter¬
würgen muß, entsteht dem Heere und dem Kriege ein weit schlimmerer Feind
als durch das beste neue Buch über den Weltfrieden.... Die Disziplin ist
ein zweischneidiges Schwert, mächtig im Guten wie im Bösen, im Heere aber
absolut unentbehrlich. Gerade deshalb ist es unbegreiflich und empörend, daß
die höchsten und allerhöchsten Vorgesetzten in der Regel die gefährlichsten Ver¬
brechen gegen die Disziplin, die schwersten, die es gibt, weil nur sie die
Disziplin prinzipiell untergraben, am gelindesten, ja überhaupt kaum ahnden,
nämlich die von den Befehlenden gegen die Untergebnen verübten, die Mißbräuche
der Befehlsgewalt. Die ungenügende Bestrafung der Soldatenmißhandlungen
möchte ich als eine schwere Versündigung an der Armee brandmarken. Wer
sich deren schuldig macht, vergißt, daß sie in unsrer Zeit der Verbreitung des
Bewußtseins der Menschenwürde und gerade in einer hochintellektualisierten
Armee nicht mehr vorkommen können, ohne furchtbaren Schaden anzurichten.
Wo so hohe Anforderungen an den Charakter und an die Intelligenz der
Offiziere nicht bloß sondern auch der Soldaten gestellt werden, muß alles
vermieden werden, was die Soldaten zu Maschinen und die Offiziere zu
Maschinenführern erniedrigen könnte. Bei zölibatären Priestern sowie bei
Söldnerheeren kann geraume Zeit eine von der Volksmoral losgetrennte
Staudesmoral bestehen, bei verheirateten Geistlichen und im Volksheere ist das
auf die Dauer unmöglich. Wenn uicht allein die schlechten sondern auch die
guten und sogar die besten Elemente des Volkes in die Reihen der Armee
aufgenommen werden, da darf diese moralisch nicht länger hinter dem besten
Teile des Volkes zurückbleiben." Und deren Zustand darf überhaupt uicht im
Widerspruch stehn mit den Anforderungen, die an den heutigen Staatsbürger
gestellt werden. Das moderne Wirtschaftsleben fordert „einen aufgeweckten
Geist, ein selbständiges Urteil, resoluter Unternehnuuigssinn. Ob diese Eigen¬
schaften durch das Kasernenleben und durch eine nörgelnde Disziplin gefördert
werden?" Zur Hebung des zahlreichsten Teils der heutigen Bevölkerung, der
Lohnarbeiterschaft, gehöre besouders zweierlei: die Arbeiter müssen zunehmen
an Selbstachtung (womit natürlich nicht Selbstüberhebung gemeint ist), „und
sie müssen lebhaft und tapfer am Vereinsleben teilnehmen. Mit dem zweiten
erfüllen sie nicht bloß eine Pflicht der Selbsterhaltung, sondern auch eine
öffentliche Pflicht. An das ganze Publikum, besonders an den höher gestellten
und begabten Teil, ergeht in stetig steigendem Maße die Aufforderung, sich
an den allgemeinen Angelegenheiten tätig und zwar kritisch zu beteiligen.
Unter den vielen Übeln der Vergangenheit, die das Elend der Gegenwart
verschuldet haben, sind die Mißbräuche der öffentlichen Gemalt vielleicht die
schlimmsten gewesen. Diese Gewalt, die schon anfing zurückgedrängt zu werdeu,
breitet sich jetzt aufs neue über alle Gebiete des Lebens aus. Darum gilt
es acht zu geben, daß die Mißbräuche nicht wieder die Oberhand gewinnen.
Die stetig zunehmende Einmischung des Staates fordert von allen Bürgern
eine nie erschlaffende Kontrolle über die Gesetzgebung und Verwaltung. Sonst
droht der Staat, den sie jetzt in allen Nöten anrufen, den sie für ihre
Privatzwecke nicht mehr entbehren können, ihr gefährlichster Feind zu werden,
schlimmer noch, als er es früher gewesen ist, weil sich sein Wirkungskreis so
gewaltig erweitert hat. Das gilt besonders von den Arbeitern, die, vereinzelt
zu schwach, uur in Vereinen organisiert an der Kontrolle teilnehmen können.
Daß die Arbeiter tüchtige Mitglieder ihrer Vereine werden, ist demnach das
Interesse der Gesellschaft, also auch des Staates. Von allen Bürgern werden
heute, mehr als früher, vor allem zwei Tugenden verlangt: die Liebe zum
eignen Volke und der moralische Mut." Die Kaserne, wie sie heute ist, sei
aber wenig geeignet, diese Tugenden zu pflegen und die politische Tätigkeit
der Bürger zu fördern. Dieser Zustand müsse aufhören; „das Volk in Waffen
hat kein von dem sonstigen Volke getrenntes oder verschiednes Interesse".
Wie man sieht, fordert der Verfasser die vollständige Demokratisierung
des Heeres, und es wird sich eben fragen, ob eine solche möglich ist. Was
die Unsittlichkeit betrifft, so erinnert er an vier andre Klassen von Menschen,
die durch Entfernung aus dem einschränkenden und beaufsichtigenden Familien¬
kreise und durch den ausschließlichen Verkehr mit großen Massen Gleichaltriger
ähnlichen sittlichen Gefahren ausgesetzt sind wie die jungen Soldaten: Fabrik¬
arbeiter, Dienstmädchen, Studenten und — mit einigen Modifikationen: die
in exotischen Kolonien Lebenden. Von diesen fünf Personenkreisen ist nach
Ansicht des Verfassers gerade das Heer am leichtesten zu reformieren wegen
der großen Gewalt, die der militärische Vorgesetzte über seine Untergebnen hat.
Die Demokratisierung des Heeres erstrebt Steinmetz noch in einem ganz be¬
sondern Sinne: er verlangt die Abschaffung des zwar nicht mehr gesetzlichen
aber tatsächlichen Privilegs, das der Adel immer noch genieße, obwohl er
keine der Funktionen mehr ausübe, durch die er sich in ältern Zeiten seine
Privilegien verdient habe. „Warum bleibt der Adel, der die Führergaben
nicht mehr besitzt, die Führerpflichten nicht mehr erfüllt, warum bleibt er
dennoch in fast allen Kulturstaaten im Besitz der Führervorrechte, die zwar
gemindert, aber doch noch sehr erheblich sind; wären sie das nicht, wären sie
wertlos, dann würden sie freiwillig aufgegeben werden. Die Erklärung liegt
wohl hauptsächlich darin, daß der Adel aus dem größten Widersacher des
Monarchen seine Stütze und sein Liebling geworden ist." Gewiß hätten die
Junker bis in die heutige Zeit militärische Verdienste aufzuweisen, aber daß
es auch ohne sie gehe, Hütten schon die napoleonischen Kriege bewiesen. Der
moderne Krieg werde vor allem ein Wettstreit zwischen militärischen und technischen
Talenten sein; Geburt aber verbürge nicht die Begabung. Der Krieg werde,
nötigenfalls durch Niederlagen, mit allen alten Vorurteilen und Privilegien
aufräumen. „Das Talmi zum Kommandierer erwirbt sich der wahrhaft Be¬
fähigte leicht, und man bedenke nur: die Soldaten der Zukunft werden in
immer geringerer Zahl kritiklose Bauernjungen und unwissende Proletarier sein.
Wer künftig siegen will, der braucht Soldaten, die denken können, und Offiziere,
die diesen Soldaten überlegen sind. Anschnauzen genügt nicht mehr; auch würde
es der gebildete Soldat der Zukunft nicht länger ertragen... . Wir müssen
uns an den Gedanken gewöhnen, daß der Krieg und seine Vorbereitung
keineswegs unzertrennlich mit dem preußischen Typ von Staat und Gesell¬
schaft verbunden sind — im Gegenteil! Dieser Typus hat nicht bloß sein
Königgrätz und Sedan aufzuweisen, sondern auch sein Jena und Tilsit." In
Preußen erlauben sich Offiziere Übergriffe — fordern zum Beispiel unter
Drohungen von einem Theaterdirektor, daß er ein ihnen nicht genehmes
Stück vom Spielplan absetze —die der Natur des konstitutionellen Staates
widersprechen. Darin ist Deutschland rückständig. Das Volk in Waffen darf
keine Privilegien vor dem übrigen Volke beanspruchen. Es wird sich von dem
unberechtigten Einflüsse des Adels befreien, und es wird sich nie dazu her¬
geben, etwaigen Ausschreitungen der königlichen Gewalt zur Stütze zu dienen.
In England hat man lange Zeit das stehende Heer als eine Gefahr für die
Freiheit gefürchtet. Das Volk in Waffen bedeutet keine solche Gefahr mehr.
Dieses Riesenheer gehört dem Volke, der Gesellschaft, die die Männer, das
Talent und das Geld hergibt; nur aus Courtoisie — oder zäher Gewohn¬
heit — wird es hier und da noch des Königs Heer genannt. Im Volksheere
ist für Byzantinismus kein Raum. Die Redensart ,,mein Heer" ist in jedem
Munde unpassend und höchstens als poetische Floskel zulässig. „In einem
modernen Volke, das seine politische Verfassung seiner Kultur anzupassen ver¬
standen hat, kann das Heer weder die veraltete Macht des Adels verstärken
noch im Fürsten den Zug zum Absolutismus unterstützen. Und je schwerer
der Druck des bewaffneten Friedens lasten wird, je kolossaler die Opfer und
die Schäden eines Krieges werden, um so mehr wird ein selbstbewußtes Volk
danach streben, seine Zukunft in der eignen Hand zu haben, um so widersinniger
wird jede andre als die freieste Selbstregierung. Kleine improvisierte Söldner¬
kriege können für lange Zeit die Macht des Fürsten zum Despotismus steigern,
wenn aber das ganze Volk sein Geld und sein Leben beisteuern, alle die
Friedensjahre hindurch sich unter den größten Opfern auf den Krieg vorbereiten
soll, da verliert das Kriegswesen jede reaktionäre Tendenz." Für diesen Teil
seiner Ausführungen wird Steinmetz mehr Beifall finden in Bebels Lager als
bei den Offizieren und in den Kreisen unsrer hohen Staatsbeamten.
u dem eigentlichen Orden der Franziskaner, oder, daß ich nicht
einen Namen gebrauche, den sie zwar später erhalten, den sie
aber selber nicht verwandt haben, zu dem Orden der Minoriten
oder Minderbrüder, gesellte sich nun bald ein zweiter und dritter
Orden auf derselben Grundlage. Im Jahre 1212 entriß sich Klara
Scivi dem elterlichen Reichtum. Wie eine Ausgießung des Heiligen Geistes war
es ihr unter den Worten des Armen von Assisi gewesen. Nun eilte sie hinaus
zur Portiunkula. Allen ihren Schmuck tat sie von sich. Unter den Jubelgesängen
der Brüder über das neue Verlöbnis mit der Armut empfing Franziskus ihr
Gelübde. Unerschütterlich blieb sie gegen die Bitten ihres Vaters. Bald gesellte
sich Agnes zu ihr, ihre Schwester, und Ortolcme, ihre Mutter, und der Orden der
Klarissinnen mit derselben fmnziskanischen Regel war begründet. Nun war die
Portiunkula die Heimat der Brüder; die Schwestern aber empfingen von der
Kommune von Assisi fortan die Damianskapelle zum weitern Ausbau zu einem
Schwesternhause und zum bleibenden Wohnsitz. Klara war die verständnisvolle
Freundin des heiligen Franz. Die römischen Biographen haben ihr Verhältnis
nur mit Rücksicht auf die mönchische Vollkommenheit und die Ordensinteressen
betrachtet. Deshalb ist es ihnen natürlich nicht möglich gewesen, seine unberührte
Schönheit zu erfassen. „Rein und unbeschwert vom Erdenstaube waren ihre Seelen
hineingetragen in das Allerheiligste. Der Gedanke an eine andre Gemeinschaft
hätte ihnen nicht nur einen Fall, sondern eine Unmöglichkeit bedeutet." Zu ihr
flüchtete Franz immer wieder, und niemals empfing er von ihr mehr als in
den Septembertagen im Jahre vor seinem Tode. Da hatte sie ihm selber im
Klostergarten von Se. Damian in echt franziskcmischer Art die Zelle aus Schilf
zu seiner Wohnstatt bereitet. Viel Schweres hatte er im Laufe der Zeit er¬
fahren. Dort aber fand er sich selber wieder, und oft hörten die Schwestern,
wie sich leise in das Rauschen der Oliven und der Fichten der Klang unbe¬
kannter Lieder mischte, die aus der Schilfhütte ihren Weg zum Himmel suchten.
Und immer weiter griff die siegende Geistesgewalt des Heiligen. Nicht
alle konnten sich mit dem Strick der Franziskaner umgürten, deren Herz durch
ihre Predigt und durch ihr Beispiel überwunden war. Auch das praktische
Leben stellte Forderungen, die manchem unabweislich erschienen — aber ein
Band der Gemeinschaft mußte geschlossen werden. So entstand der sogenannte
Dritte Orden, eine Gemeinschaft von Menschen, die nicht das berufliche Leben
mit mönchischer Art vertauschen konnten, die sich aber doch als Geisteskinder
des heiligen Franz fühlten und bewährten. Freilich ist die Entstehung dieser
Brüderschaft „ein Beweis dafür, daß sich dies Evangelium nicht ohne Kom¬
promisse in der menschlichen Gesellschaft durchführen läßt, andrerseits aber doch
ein leuchtendes Zeichen der tiefen Wirkung der franziskcmischen Predigt". So
war für das stehende Heer der neuen Ordensmönche ein Heer im Volke der
Rückenhalt, und frcmziskcmischer Geist zog werbend, den Ernst der religiösen
Pflicht betonend, apostolische Einfachheit predigend und fordernd durch das
Leben der menschlichen Gesellschaft und fand willigen Einlaß bis hinauf zu den
Häusern der Fürsten und der Könige.
Wenn wir eben von einem stehenden Heere frcmziskcinischer Mönche geredet
haben — ist dieser Ausdruck uun aber nicht doch vielleicht zu weit gegriffen? Wir
versetzen uns in das Jahr 1221. Wie alljährlich wurde vor der Portiunkula in
den Pfingsttagen das Generalkapitel gehalten, wobei ein Lager von dreitausend
franziskcmischen Mönchen den Boden weithin bedeckte. Mönche waren das, die
hinausgezogen waren, wie auch Franziskus selbst, bis in die Länder des Orients,
um zu evangelisieren und zu missionieren, die predigend Italien durchwanderten,
die ihre Mission an Ungarn, an Deutschland usw. erfüllt hatten oder erfüllen
sollten, wie etwa, um einen nur zu nennen, jener Cäsarius von Speier, der in
der unglaublich kurzen Frist von kaum zwei Jahren das ganze südliche Deutsch¬
land für die franziskcmischen Ideale begeistert hat. Und zweiundvierzig Jahre
nach Franzens Tode, im Jahre 1268, so wird uns berichtet, sandten achttausend
Klöster zweihunderttausend Mönche in die Welt hinaus. Welchen zündenden
Eindruck hat die von den Waldensern geweckte, von den Franziskanern eifrig
gepflegte Volkspredigt gemacht! Berthold von Regensburg, etwa 1260 auf der
Höhe seiner Kraft, soll bis zu sechzigtausend Menschen bei seinen Predigten um
sich gesammelt haben! Selbstverständlich bedürfte dieses Heer der Mönche einer
festen Organisation. Nach Provinzen wurde es geordnet und hatte seine Ordens¬
gewaltigen bis hinauf zum Generalvikar, der über dem Ganzen stand, eine Würde,
die natürlich zunächst von Franziskus selber bekleidet wurde.
So hatte die Botschaft der Armut unermeßlichen Erfolg gezeitigt. Und
doch, Franziskus selbst hat an den Anfängen zu dem allen keine reine Freude
mehr empfunden. Seine Hoffnung war gewesen, erneuernd im Sinne des
Evangeliums zu wirken, die Menschen unter dem Banner der reinsten Bruder¬
liebe, des hingehendsten Opferstnncs, in unbedingtester Lauterkeit der Herzen zu
vereinigen. „Er wollte die Welt umwandeln; ein schöner Garten sollte sie sein,
besiedelt von gottinnigen, bedürfnislosen, Christus nachahmenden Menschen.
Aber er hat die Menschen falsch beurteilt, weil er sich selbst, den Ausnahme¬
menschen, zum Maßstab genommen hat." Er mußte es sehen, wie sich allerlei
neue Ideen in den Vordergrund drängten, daß das Heer der Dienenden, wie
er es plante, nicht im Dienst der leidenden Menschheit verharren konnte, sondern
Von der Kirche in Sold genommen wurde, ihre Herrschaft zu stützen. Er er¬
lebte es, daß die schmalen Pforten erweitert wurden und allerhand Elemente
Eingang, ja schließlich das Übergewicht fanden, denen die Lauterkeit des Herzens
fremd war, die den Orden zu einer imposanten Bruderschaft ausgestalten und
auch' in ihm die eigne Ehre suchen wollten. In jenen Zeiten war es, wo
Franziskus von einem Vogel träumte, der die eigne Brut nicht mehr mit seinen
Flügeln decken konnte. Und war das Geschlecht seiner Kinder dem Fittich
seiner Liebe nicht auch entwachsen? In jenen Jahren suchte er dem Orden
einen neuen Meister. Er selbst trat in die Reihen der Brüder ein, um Ge¬
horsam zu üben, Gehorsam, während er oft mit wehem Herzen sehen mußte,
wie auch sein Werk nicht unberührt bleiben konnte vom Staub der Erde, wie
es seine Reinheit verlor, wie auch sein Ideal zu zerbrechen drohte!
Dort sah man einer Sonne Glut entbrennen,
Gleich der am Ganges, klar in heilgen Licht —
Diese Worte aus Dantes Göttlicher Komödie vergleichen den Heiligen von
Assisi mit dem Tagesgestirn, das fern im Osten emporsteigt. Henry Thode
läßt sie sich zum Anlaß dienen, seinen Helden mit einem andern Gestirn zu
vergleichen, das ebenfalls aus den Fluten des Ganges emporgestiegen ist, mit
Buddha, dem Stifter der buddhistischen Religion. Und in der Tat, der Ver¬
gleichungspunkte bieten sich mancherlei, auch abgesehen von den Überein¬
stimmungen in ihrem äußern Lebensgange, daß beide durch Todesahnung und beide
aus dem Sinnenglück eines skrupelloser Lebensgenusses herausgerissen wurden.
Wenn ich jetzt in wenigen Strichen eine zusammenhängende Charakteristik
des heiligen Franz zu geben versuchen will, so möchte ich beginnen mit zwei
Dingen, die beiden gemeinsam sind. Franziskus und Buddha wollten frei
werden von allem Irdischen, und beiden erscheint die Armut als ein Befreiungs¬
mittel, wirksamer als alle andern! Welche Rolle gerade sie im Leben des
Franziskus spielte, haben wir schon gesehen. Sie war die holde Braut, die er
heimgeführt hatte, die Dame seiner Minne, der sein Herz gehörte und seine
Lieder. Man sagt, es liege über dem Leben des heiligen Franz ein unverkenn¬
barer Abglanz jener Ritterlichkeit, die soviel Poesie über seine Zeit gebreitet
hat. Man sagt das nicht mit Unrecht. Die Armut aber war die Braut, der
er die reine Liebe seines Herzens schenkte, der er als Troubadour und Sänger
seine Lieder weihte. Von den Tagen, wo er sich in Assisi für alle Zeiten mit
ihr verlobte, hat er ihr die Treue unverrückt gehalten zwanzig Jahre hindurch,
bis er, kaum vierundvierzigjührig, gebettet auf die nackte Erde in der Portiunkula
sein armes Leben von sich gab! Und wie er, der Poverello von Assisi, so haben
seine ersten Jünger mit einer uns unbegreiflichen Glut in tiefer, stiller Zartheit
um das Herz dieser dem Himmel entstiegnen Braut geworben.
Und noch ein andres gibt es, was Franziskus mit jenem Gestirn aus den
Fluten des Ganges vergleichbar macht. Wie Buddha, so hat auch er eine un-
umschränkte Herrschaft des Geistes über den Körper, fast könnte man sagen
eine Verneinung des Körpers zu erreichen vermocht. Obdachlos, oft nur
kümmerlich genährt, hat er den „Bruder Leib", wie er den Körper zu nennen
pflegte, durch ein schmerzensreiches Dasein hingeschleppt. Was er gelitten und
wie er gelitten — in keiner Zeit tritt es uns deutlicher entgegen, als in den
Monaten vor seinem Ende. Zu immer neuem Dienste an Armen und Kranken
wollte er den Körper zwingen, aber die Kraft versagte. Rasender Kopfschmerz,
der ihm zuzeiten fast ganz die Sehkraft raubte, dazu oft schüttelndes Fieber
waren sein Teil geworden. Er aber wollte nichts wissen von einer Milderung
seines Leidens. Da endlich fragte ihn einer von denen, die ihn liebten: „Kannst
du deinem Körper, o Vater, das Zeugnis geben, daß er sich immer gehorsam
erwiesen im Dienste des Herrn?" Als da Franziskus mit fröhlicher Stimme
bejahende Antwort gegeben hatte, da fuhr der andre fort: „Wo bleibt dann,
Vater, dein frommer Dank? Ist es nicht recht, daß du solchem Freunde, der
sich so oft für dich dem Tode ausgesetzt hat, in seiner großen Not auch hilfst?"
Fortan war Franz geneigt, dem Körper wie einem Fremden zuliebe die Kunst
der Ärzte zu versuchen. Mit glühenden Eisen mußte man ihn brennen. Aber
als ihn nur zu begreiflich ein Angstgefühl beschleichen wollte, machte er über
das Feuer das Zeichen des Kreuzes: „Nun, Bruder Feuer, du weißt, wie ich
dich immer geliebt habe, nun sei mir gewogen!" Als seine Gefährten, die seine
Pein nicht glaubten ertragen zu können, wieder zu ihm kamen, lächelte er sie
an mit verklärtem Gesicht: „O ihr Kleinmütigen, warum seid ihr geflohen, ich
habe keinen Schmerz gefühlt." Das ist in der Tat eine uns schier unbegreifliche
Überwindung des körperlichen Daseins, eine Befreiung des Geistes von der
Last der Erde! Und diese Überwindung des körperlichen Daseins zeigte er bis
zuletzt. Als man ihn durch Olivenhaine nach der Portiunkula hinüberbrachte,
nahm er unter namenlosen Schmerzen, aber doch mit Segensworten auf seinen
Lippen von seiner heimatlichen Erde Abschied. Während sich die Bewohner
von Assise wie Wahnsinnige gebärden — nicht etwa vor Trauer, sondern vor
Freude, daß der große Heilige in ihren Mauern sterben, und daß seine wunder-
verheiszenden Gebeine in ihrem Besitze verbleiben sollten —, „liegt über seinen
letzten Tagen eine strahlende Schönheit". singend rüstete sich Franz, den Tod,
seinen Bruder, zu.empfangen!
Man Pflegt die Franziskaner einen Bettelorden zu nennen. Aber einen
Bettelorden zu gründen lag nicht in Franzens Sinn. „Ein Arbeiter ist seiner
Speise wert" stand in der Regel nach Matthäus 10, und durch Arbeit sich das
Recht auf das Dasein zu erwerben, schärfte er immer aufs neue den Geführten
ein. Sehnsucht nach klösterlicher Einsamkeit hat auch Franz gekannt; aber es
war auch ein Stück seiner Eigenart — und seiner Größe, daß er sie überwand.
Über die Arbeit der Franziskaner hat Berthold von Regensburg gesagt: „ich
han ouch min cunt, predigen ist min amt". Aber daran ließen sie sich doch
nicht genügen. Der Dienst an Armen und Kranken, an den Aussätzigen zumal
War ihre Freude. So hatten sie in der Nahe der Portiunkula ein Hospital
errichtet, und es ist aus deu Herzen der ersten Jünger des Franz ein Strom
barmherziger Liebe in die Welt hinausgeflossen. Daneben aber wechselte man
die Arbeit nach Bedarf. Da hören wir etwa von Egidius, der treuesten einem,
heut ist er Wasserträger in den Straßen der Stadt, auf deren Steinen die
Sonne brütet, und morgen verschafft er sich Binsen, um Körbe zu flechten; hier
trügt er den Fremden ihre Lasten, dann hilft er bei der Ernte der Oliven und
Trauben. Nirgends aber nehmen sie mehr zur Bezahlung, als nötig ist, um
das Dasein kümmerlich zu fristen; nur daß sie auch etwas haben wollen, den
Dürftigen zu geben. Für die Wissenschaft haben sie erst später ihre Kräfte
genützt. Franziskus selber ist aufgegangen in helfender Liebe. Bald aber strahlen
dann aus ihren Reihen Namen hervor wie Thomas von Aquino, Bonaventura,
Albertus Magnus, Namen, die die Wissenschaft des dreizehnten Jahrhunderts
zu ihren besten zählte. Treue, hingebende Arbeit, wo immer es sei — das ist
der echte, unverfälschte Geist des Meisters: wie schnell, wie unglaublich schnell
ist er in so weiten Kreisen des Ordens doch geschwunden.
Noch aber haben wir mit dem allen nicht hineingeschaut in die innersten
Tiefen, in die Geheimnisse des innersten Lebens des heiligen Franz. Während
bei Buddha schließlich das Gefäß des körperlichen Daseins entschwinden mußte
vor der aus seiner Seele heraufsteigenden Welt grübelnder Gedanken, wuchs
aus Franziskus eine andre Welt heraus, und er ging in ihr auf, je länger je
mehr: die Welt des Gefühls. Seine Gebete, die er hinaufsandte zu seinem
Gott, tragen allezeit den Charakter heißer Bemühung, durch die er sich hinein¬
leben und hineinfühlen wollte in den Zusammenhang mit seinem himmlischen
Vater. In seinem Gebet wie in seinem ganzen Leben ist ein stürmisches Vor¬
wärts- und Aufwürtsdrüngen. Man denke nur etwa an jene Regel von 1221,
wo alles hinausläuft auf das hohepriesterliche Gebet: „Du Vater in mir und
ich in dir"; wo sich alles schließlich zurückführen läßt auf das liebeglühende,
gottinnige Bekenntnis: „Ich bin dein!" Wie dieser Gott zu denken sei, ob tran¬
szendent, ob immanent, ob als persönlicher Schöpfer oder als ewiges Prinzip —
diese Fragen haben ihn nicht bewegt. Es liegt über seiner Frömmigkeit etwas
von jener Art des Faust:
Aber einen Namen für dieses Gefühl für das Unnennbare hat er doch gehabt:
Liebe zu Christus hat er es genannt. Und dieses stürmische, glutvolle Vorwärts¬
dringen — ist es ein Wunder, daß ihm das Unsichtbare sichtbar, das Geistige
körperlich zu werden scheint? Da denke ich an seine Weihnachtsfeier zu Greccio.
In einem Kirchlein mitten im Walde wollte er sie begehen. Ochse, Esel und Krippe
hat er dafür gerüstet, und will sich nun hingeben dem süßen Namen, den er kaum
auf seine Lippen zu nehmen wagt. Aber siehe, so berichtet über ihn die Legende, da
er vor der Krippe kniet, trägt er auf seinen Armen das Jesuskindlein, das für ihn
aufs neue Fleisch und Blut angenommen hat. Und dann denke ich vor allen Dingen
an jene Tage auf dem Berg Alverno, da er in glühender Liebe der Passion
seines Herrn gedachte, im Gebete verharrend Tag und Nacht, die Seele erfüllt
von unaussprechlicher Sehnsucht nach der ewigen Heimat. Wie dann dort oben
die Strahlen der aufgehenden Sonne dem halb erstarrten Körper neues Leben
bringen, unterscheidet er plötzlich im Lichtgefnnkel eine seltsame Gestalt, einen
Seraph, der am Kreuze hängt. Als die Vision entschwindet, fühlt er, wie sich
in das Entzücken des Augenblicks durchbohrende Schmerzen mischen. Er sucht
nach dem Grnnde — und siehe, da zeigen Hände und Füße die Nägelmale
des Gekreuzigten. Mag das Zeugnis von diesen Nügelmalen allein zurück¬
gehen auf Elias von Cortona, den listigen Ordensmeister, mag sich alles auf¬
lösen in eine Legende — find diese Legenden nicht Zeugnis von dem, was man
als das Charakteristische an ihm empfunden hatte, ein Zeugnis von der vor¬
wärtsstürmenden, gottinnigen, weltentrückten, mystischen Liebe, von der man
wußte, sie füllte das ganze Herz des Heiligen? Und diese unaussprechliche
Liebesglut erbt sich weiter. Da möchte ich nur erinnern an die Dichtergestalt,
die später ans den Reihen der Franziskaner erstanden ist, an Jacopo da Todi:
„Da löst sich alles Denken, alles Fühlen, alles Dichten in einen einzigen
Schrei der Liebe auf. Man sagt und glaubt, so berichtet über diesen Dichter
ein Manuskript, daß er vor Liebe zu Christus gestorben, und daß aus allzu
großer Liebe sein Herz zersprungen sei." Er aber war ein echter Geisteserbe
des heiligen Franz!
Wir haben den Heiligen im Geiste auf den Berg Alverno begleitet. Etliche
Meilen nordwestlich von Assisi erhebt dieser einsam aus den Höhenlinien der
Apenninen sein ehrwürdiges Haupt. Steil füllt er ab nach allen Seiten. Der
Mensch nur und das Saumtier vermögen auf felsigem Pfade zu seiner Höhe
emporzuklimmen. Von dort grüßen Fichten und Buchen in die Lande zu seinen
Füßen weit hinaus. In ihren Zweigen nisten die Vögel und singen ihre Lieder,
und in ihrem Schatten blühen zahllose Alpenveilchen. Das war das letzte,
eigentliche Heiligtum des Franziskus. Dorthin flüchtete er sich immer wieder,
um allein zu sein mit sich selber und um dem Geheimnis, das auf dem Grunde
seiner Seele wohnte, zu lauschen. Dn schaute er im Glanz der Abendsonne die
Dörfer und Städte in der Tiefe, in denen er die Herzen der Menschen um¬
worben hatte. Und dort oben hat er den keuschen, zarten Liebesbund mit der
hehren, heiligen Natur wenn nicht geschlossen, so doch befestigt. Dort oben, so
erzählt die Sage, kamen die Vögel herbei, um ihren vertrauten Freund mit
ihren schönsten Liedern zu begrüßen. Und dort oben war Franziskus niemals
allein. Mit der Sonne und mit den Blumen, mit den Vögeln und mit den
Lüften redete er, und sie mit ihm. Brüder und Schwestern waren sie ihm alle¬
zeit, Kinder wie. er der einen großen Allmutter Erde. Was er dort oben und
auch sonst erlebte, wenn er mit seinen Brüdern und Schwestern in Gottes
großer Einsamkeit die Gedanken tauschte, das hat er zusammengefaßt in seinem
Sonnengescmge:
Das ist aus diesem Sonnen- und Sterbeliede die erste Strophe, und es
schließt:
Sind diese letzten Worte nicht wie ein Spiegel seines Lebens? Ein Loben
und Preisen war es ohne Ende und ein Dienst seines Gottes in großer
Demut!
Stellen wir nun zum Schlüsse die Frage nach der weltgeschichtlichen Be¬
deutung dieses wundersamen Mannes, so haben wir, abgesehen von der Stütze,
die er der wankenden Kirche geschaffen hat, zwei Punkte ins Auge zu fassen,
die freilich auch eng miteinander zusammenhängen.
Erstens: „In Franz von Assisi gipfelt eine große Bewegung der abend¬
ländischen christlichen Welt, eine Bewegung, die nicht auf das religiöse Gebiet
beschränkt, sondern universell im eigentlichsten Sinne die vorbereitende und treibende
Kraft der modernen Kultur geworden ist: die Bewegung der Humanität. Ihr
Inhalt ist die Befreiung des Individuums von den Fesseln geistiger Knecht¬
schaft." Gewiß, Franz war und blieb ein gehorsamer Sohn der römischen
Kirche! Gewiß, Franz ist der vornehmsten einer unter ihren Heiligen! Dennoch
aber: es fehlt so vieles an ihm, was spezifisch katholisch ist! Vor allem weist
die gebieterische Art, mit der sich in ihm die Persönlichkeit in der Herrschaft
des individuellen Gefühls auf sich selber stellte, im letzten Grunde über die
Schranken des katholischen Glaubens, der katholischen Geistes- und Gewissens¬
knechtung hinaus. Sie weist vielmehr in evangelische Bahnen hinein, auf denen
erst ganz die Zertrümmerung jener Ketten und die Befreiung der Persönlichkeit
erfolgen konnte und erfolgen kann. So hat es sich auch an ihm erfüllt, wie
an all den Großen, die die Träger neuer Ideen gewesen sind: „Ihr seid es
nicht, die da reden, sondern meines Vaters Geist ist es, der dnrch euch redet!"
Und das andre, das wohl auf keinem Gebiete so deutlich zur Anschauung
kommt, wie auf dem Gebiete der Kunst. Bei den künstlerischen Borstellungen
aus dem Leben des heiligen Franz in den Freskogemälden der imposanten
Franziskanerkirche in Assisi kommt zum erstenmal die Landschaft, die Natur zu
ihrem Rechte. Bis dahin galt die Natur als etwas, was dieser im Banne der
Sünde gefangnen Welt angehört, und was darum der gottgeweihte Künstler
scheuen muß. Franziskus hat die Natur aus ihrem Bann erlöst. Von ihm
erst haben die Menschen wieder gelernt, daß die Blumen blühten und die Vögel
sangen, daß die Sonne strahlte und der Himmel blaute. Er hat den Tag herauf¬
geführt, an dem „ein Versöhnungsfest gefeiert wurde, wie es nicht ergreifender
und nicht freudiger sich denken läßt", das Friedensfest zwischen der Natur und
dem Menschen!
Franziskus und Luther haben vieles gemein! Welteroberer sind sie beide
gewesen, Persönlichkeiten von klarer Prägung und von hinreißender Kraft.
Beide haben sie ihrem Volke und ihrer Zeit im Herzen gelesen und haben dann
beide das lösende Wort gesprochen. Gebunden waren sie beide mit Herz und
Gewissen an den einen Meister, und beide waren sie Kinder des einen Gottes!
Und dennoch waren sie wieder so grundverschieden! Gab der eine, Franziskus,
dem Menschen die Natur zurück, die weite herrliche Gotteswelt, so hat der
andre den Menschen auf der eingeschlagnen Bahn höher hinaufgeführt, hat ihn
frei gemacht von der römisch-mönchischen Beurteilung der höchsten Kulturgüter,
hat ihn gelehrt, um nur zweierlei zu nennen, in Beruf und Haus Gaben
Gottes und Aufgaben für die Menschen zu sehen.
Aus welschem Blute der heilige Franz — Luther aber ein deutscher Mann;
Franziskus ein Kind des Friedens — Luther aber ein Held mit gepanzerter
Faust; Franziskus sich selbst verzehrend im Gefühl — Luther aber bei aller
Tiefe des Gemüts ein Mann des Willens und der Tat; Franziskus gehorsam,
sich beugend unter menschliche Autorität, und sei es auch unter dem Opfer
seines Herzens — Luther aber ein aufrechter Mann, ein Herold und Bringer
der Freiheit, die allein gebunden ist in Gott.
Franziskus und Luther: mögen die Römischen uns unsern Luther schmähen,
wir wollen handeln nach dem Gebote der Gerechtigkeit. Römisch mag es sein,
allein zu entscheiden nach der kirchlichen Etikette; evangelisch aber ist es, zu
fragen, wo immer wir sie finden, nach der in Gott gegründeten Menschengröße!
E?MOippolyte Taine sagt in seinen geistvollen und von der feinsten
Beobachtungsgabe zeugenden „Aufzeichnungen über England"
(S. 119): „Der Graben, der hier Tugend und Laster voneinander
trennt, ist tief und steil und hat nicht, wie in Frankreich,
Treppen." Hätte dieser große Kulturhistoriker und Verfasser des
„Modernen Frankreich" China kennen gelernt, so würde er über
dieses Land das gleiche Urteil gefüllt haben, soweit die Stellung des Weibes
zur Familie und zur Gesellschaft in Frage kommt. Trotz der nahen Rassen¬
verwandtschaft zwischen Japan und China kann man sich, was die Stellung
des Weibes zum Manne betrifft, kaum einen größern Gegensatz denken als
den zwischen diesen Ländern auf diesem Gebiete. Der Grund hierfür ist ohne
Zweifel in der Morallehre des großen chinesischen Reformators Kong-fuese zu
suchen. Hat Mohammed auch befohlen: „Kein Mann darf das Gericht eines
Weibes sehen, das nicht seine Mutter, Gattin oder Schwester ist", so verbietet
er doch nicht, ein Weib bei Lebensgefahr durch körperliche Berührung zu retten.
Anders urteilt Kong-fuese (700 v. Chr.). Von einem Jünger gefragt, ob es
einem fremden Manne wenigstens erlaubt sei, ein Weib in Todesnot durch
körperliche Berührung, zum Beispiel Darreichung der Hand vor dem Ertrinken
zu retten, antwortete er kurz: „Vielleicht!" ohne auf die ihm offenbar sehr
peinliche Frage weiter einzugehen. Bei einem solchen Stande der Moral ist
es kein Wunder, daß den chinesischen Prostituierten der Stempel der tiefsten
sozialen Erniedrigung und untilgbaren Schmach aufgedrückt ist.
Man sollte nun annehmen, daß es keine oder doch nur geringfügige
Unterschiede zwischen Prostituierten geben könne. Aber auch in China erwies
sich das Bedürfnis der sozial hochstehenden Kreise nach einer bessern Halb¬
welt stärker als Gesetz und Sitte. Freilich zu der gesellschaftlich sogar fest¬
stehenden Stellung, die hervorragende Courtisanen zum Beispiel in Frank¬
reich einnahmen und noch einnehmen, kann es in China auch die gebildetste
und schönste Halbweltlerin niemals bringen. Von dieser höherstehenden Pro¬
stitution will ich im folgenden meine Beobachtungen und Eindrücke schildern,
denn meines Wissens findet man darüber in den Reisewerken und Schriften
über dieses merkwürdige Land und seine jahrtausendealte Kultur sehr wenig
oder gar nichts. Gewiß, Cantons Blumenboote, Schanghais und Tientsins
landläufige Bordelle werden häusiger kurz erwähnt, wofern die Schriftsteller
es nicht vorziehen, dieses überaus interessante Kapitel zur Beurteilung eines
Volkes entweder totzuschweigen oder mit einigen Ausbrüchen ihres moralischen
Gemüts kurz zu erwähnen. Aber das intime Leben der chinesischen Demi¬
monde, ihr Werdegang, ihre Stellung in der Lebewelt und Gesellschaft ist
für die Europäer durchweg eine tsrra inovAiiita geblieben. Auch ich verdanke
meine Kenntnisse auf diesem Gebiete, das die fremdenfeindlichen, reichen Stock¬
chinesen ängstlich vor den fremden Teufeln verschließen, nur dem Zufall, daß
ich während eines längern Aufenthalts im „Himmlischen Reiche der Mitte"
einen Chinesen zum Lehrer seiner Muttersprache hatte, der der erklärte Lieb¬
haber der ersten Brettldiva und anerkannten berühmtesten Schönheit von
Tientsin war. Wegen seiner Abstammung aus einer sehr alten, vornehmen
mohammedanischen Familie Tientsins (wo allein etwa 150000 chinesische
Mohammedaner wohnen) und wegen seiner Rolle als erklärter Liebhaber der
ersten Sängerin der Stadt war Liu in der ziemlich zahlreichen -lsunessö äorse
eine Hauptperson. Durch ihn wurde ich allmählich mit sehr vielen Mitgliedern
dieser chinesischen Gesellschaftsklasse bekannt, und ich bekam so bestündig Ge¬
legenheit, zwischen europäischen und chinesischen Verhältnissen auf diesem Gebiete
Vergleiche zu ziehen.
Um das Wesen der chinesischen Prostitution kurz zu charakterisieren, so
ist sie ein reines Spekulationsgeschäft wie jedes andre, nur daß hier mit weib¬
licher Ware gehandelt wird, statt mit Zucker, Tee oder Mehl. Kein Wunder,
daß die Stellung des Weibes dabei eine Sklaverei der niedrigsten Art ist, die
sich wieder aus der fast vollkommnen Rechtlosigkeit und Unmündigkeit des
chinesischen Weibes erklärt. Der gewöhnliche Lebenslauf einer chinesischen
Prostituierten niederer Klasse ist der, daß das Mädchen in zartem Alter ent¬
weder von den Eltern aus Not verkauft wird, oder aber, was auch heute
noch vielfach vorkommt, gestohlen oder geraubt und in eine entferntere Provinz
verschleppt wird. Aber auch die Fälle kommen vor, wo entmenschte Eltern
ihre Kinder zur Prostitution direkt erziehen. Ein großer Teil der so geraubten,
gestohlnen oder verkauften Kinder wird im Alter von sieben bis acht Jahren
in die Kinderbordelle verkauft, von denen ich persönlich vier gesehen habe.
Dort geht das erbarmungswürdige Geschöpf entweder frühzeitig zugrunde oder
wird noch vor dem zwanzigsten Jahre zur körperlichen und geistigen Ruine.
Selten, daß sich ein Wesen aus diesen Höhlen zu einer höhern sozialen Stufe
der Prostitution erhebt.
Anders ist der Lebenslauf der gefeierten Sängerinnen und Tänzerinnen.
Sie werden aufs sorgfältigste auf ihren Beruf vorbereitet. Falls sie Stimme
und Temperament haben, lernen sie eine Anzahl meist langer Lieder und
tanzen, wenn man bei den verkrüppelten Füßen ein menuettartiges Umeincmder-
schreiten zweier Mädchen — die Chinesin tanzt niemals, auch öffentlich nicht,
mit einem Manne zusammen — so nennen kann. Bei diesen Tänzen halten
sie ungefähr meterlange, mit Blechplättchen (eine Art Rassel) beschlagne Stäbe
in den Händen, die sie rhythmisch durch sanftes Schlagen gegen Schulter und
Ellbogengelenke leise zum Klirren bringen. Doch die Hauptsache ist und bleibt
für die feinere Demimondäne die Ausbildung des Gesangs. Es ist mir
immer ein Rätsel geblieben, worin eigentlich die Kunst und die Schönheit dieser
mehr dem Katzengeschrei zur Brunstzeit gleichenden und das Ohr eines Europäers
aufs empfindlichste beleidigenden Gaumeutöne bestand. Dabei kein Ausdruck
des Vortrags, kein Heben und Senken des Tones, nicht die geringste
Nuancierung; immer dasselbe harte, fast kreischende Hervorstoßen und Herunter¬
plärren der langatmigen Strophen. Was aber meine Verwunderung noch
steigerte, war die Tatsache, daß eine fast stockheisere Sängerin, die in einer
Art Hosenrolle auftrat (wenigstens hatte sie als Einzige keine verkrüppelten
Füße und trug Knabenkleidung), mit ihren Vortrügen dasselbe lautbewundernde
und ekstatische: „Chan! Chan! Tim-ehrn! Schan-gaudi!" (Gut! Gut! Sehr
gut!) bei gewissen Stellen hervorrief. Dabei war es denn Stil, daß die an¬
wesenden jungen und alten Lebegreise den Daumen der rechten Hand auf¬
richteten und sich gegenseitig Kennerblicke zuwarfen.
Man wird sich am leichtesten das äußere Ideal einer chinesischen Grande-
Cocotte vorstellen, wenn ich die Freundin meines chinesischen Lehrers, die eine
anerkannte erste Schönheit und Sängerin war, schildere. Sie war mittelgroß,
von gut genährter, sogar etwas üppiger Figur. Ich bemerke nebenbei, daß
eine gewisse Üppigkeit und Nnndlichkeit sowohl für männliche wie für weib¬
liche chinesische Schönheit eine Hauptbedingung ist. Schlankheit des Wuchses
und Magerkeit wird nicht geschützt. Ihre hohe rundliche und gewölbte Stirn
war genau das Gegenteil von unserm klassischen Schönheitsideal einer Frau.
Die großen, braunen, leicht geschlitzten Augen glänzten und sprühten von
Lebenslust, Heiterkeit und Sinnesfreude; die Nase, die sich leicht uach unten
verbreiterte, war etwas fleischig undnichtssagend. Dagegen zeigten die
fleischigen, stark sinnlichen Lippen beim Öffnen des Mundes ein so prächtiges
und herrlich geformtes Gebiß, wie ich es mit solchen perlenartigen, gleich¬
geformten Zähnen noch nicht wieder gesehen habe. Leider hatte es, ent¬
sprechend dem chinesischen Mangel an Körperpflege, am Rande des Zahn¬
fleisches einen kaffeebraunen Saum, der den Eindruck sofort herabstimmen
mußte. Eine auffallende Eigenschaft war bei ihr ferner ein natürliches Jn¬
karnat der Wangen, das zu dem Oliventeint ihres übrigen Gesichts vortrefflich
stand. Wenn man sieht, wie in China den kleinen Mädchen von fünf und
sechs Jahren schon die Backen mit Schminke knallrot gefärbt werden, so ist
es ohne weiteres klar, daß gerade das Natnrrot der Wangen eine Haupt¬
ursache war, diese „erste Schönheit" in der Lebewelt so berühmt zu machen.
Wie fast alle Bevölkerungsschichten Chinas vom schwer arbeitenden Kuli
hinauf bis zum krallenbewehrten Literaten (diese ziehen über die oft 3 bis
4 Zentimeter langen Nägel des kleinen Fingers feine Gehäuse aus durch-
brochner Silber- oder Goldarbeit) verfügte sie über eine wundervolle, feinge¬
formte, kleine, weiche Hand mit zierlichen Grübchen über den Handknöcheln
und Gelenken der Finger. Van Dyck hat solche Hände gemalt, nur daß die
der chinesischen Demimondüne im ganzen kleiner waren. Faßte man alles
zusammen, so mußte man sagen, daß ihr Gesamteindruck nach unsern Begriffen
mehr ein sinnlich fesselnder, weniger ein objektiv schöner war.
Sie war von ihrem Adoptivvater gekauft und zu ihrem Beruf ausge¬
bildet worden, um später ausgebeutet zu werden. Offenbar mußte sie beim
Verkauf schon ein älteres Kind gewesen sein, denn sie erinnerte sich des Vor¬
gangs genau und haßte ihren Sklavenhalter tödlich. Dieser, ein Mensch von
ungefähr fünfundvierzig Jahren mit einem abscheulichen Blick, hatte noch eine,
nach chinesischen Begriffen schöne Adoptivtochter von ungefähr achtzehn Jahren;
und als dritte im Bunde verkuppelte er seine eigne, erwachsne Tochter. Es
ist dieses ein raffinierter Trick der Kuppler, besonders wertvolle Mädchen als
Töchter zu adoptieren und nicht als Sklavinnen zu bezeichnen. Eine Sklavin
wird noch einigermaßen durch das Gesetz geschützt, während Töchter und
Söhne — wobei Adoption keinen Unterschied macht — der väterlichen All¬
gewalt vollständig unterworfen sind. Mit diesem Trio von Schönheiten be¬
wohnte er dicht am ersten Teechantant einen sogenannten Damen, der aus
vier aneinanderstoßenden, einstöckigen Gebäuden zu je drei Zimmern bestand,
und der so gebaut war, daß er einen viereckigen Binnenhof hatte, auf den
die Hauseingünge mündeten. Für das Spiel seiner Töchter erhielten weder
er noch sie einen Pfennig Gage, denn das Auftreten dient ihnen nur dazu,
die junge und nicht zuletzt die alte Lebewelt anzulocken, kurz, ist ihre Reklame.
Im Gegensatz zu den vornehmen Chinesinnen Ticntsins, die sich niemals oder
nur in dichtverhängten Sänften öffentlich zeigen, gehn sie zu Fuß über die
Straße, falls das Chantant nicht zu weit entfernt liegt. Nicht selten lassen
sie dabei vor und hinter sich je einen Diener schreiten, um ihre Vornehmheit
und ihre Stellung zu zeigen. Ist das Wetter aber schlecht, und sind die an
und für sich so schmutzigen Gassen voll tiefer Pfützen, Mas bei jedem Regen¬
fall eintritt, so hängen sie sich auf den Rücken eines Kukis, die Unterschenkel
um seine Hüften und die Arme um den Hals geschlagen und lassen sich wie
Mehlsäcke ins Chantant oder nach Hause tragen. Diesen grotesk-komischen
Anblick habe ich häufiger genossen. Sind schon viele ihrer Verehrer im
Konzerthaus versammelt, so erheben diese bei ihrem Eintritt ein lautes Beifalls¬
geschrei, oder sie veranstalten im Laufe des „Konzerts" eine öffentliche Schön¬
heitskonkurrenz, bei der jeder Anwesende seine Stimme abzugeben berechtigt
ist. Relative Majorität entscheidet; und mit welchem strahlenden Gesicht er¬
zählte mir mein chinesischer Mentor, wenn seine Angebetete wieder als Siegerin
hervorgegangen war! Er wußte dabei ganz genau die Zahlen aus dem Kopfe,
die sich auf die zehn Sängerinnen verteilt hatten.
Wie unsre Halbwelt legt auch die chinesische auf schöne Kleidung und
kostbaren Schmuck großen Wert. Da nun das dortige Frauengewand in
seinem gleichförmigen, konservativen Schnitt nur wenig Abwechslung bietet,
und es eine Mode in unserm Sinne nicht gibt, so wählen sie dafür um so
kostbarere und schwerere Seidenstoffe zur Verarbeitung bei ihren Kostümen.
Einen erlesnen Luxus entfalten sie gern in der Auswahl von wundervoll und
zart gestickten Knöchelbündern, mit denen sie ihre unten spitz zulaufenden,
schwarzen Atlashosen über dem Fußgelenk binden. Ebenso weisen Hals- und
Brustlatz, besonders aber die sehr weiten, um- und ciufgeschlaguen Ärmel häufig
die herrlichsten Stickereien auf weißer Seide oder Atlas auf.
Da ich meinen Lehrer des Chinesischen fast täglich als Dolmetscher bei
Einkäufen in Anspruch nehmen mußte, so kann es nicht wundernehmen, daß ich
die Damen des Chantants häufig bei ihrer Toilette überraschte; denn jede
freie Stunde brachte er in der Wohnung seiner Herzliebsten zu. Die „Damen"
ließen sich nun nicht im geringsten dnrch meinen Eintritt bei ihrer Toilette
stören. Es fiel mir auf, wie wenig die Halbwelt Chinas dabei die ein¬
fachsten Grundsätze der Hygiene beobachtete. So wurde zum Waschen und
Reinigen des Körpers nur ein großes Becken aus getriebnen Kupfer, mit heißem
Wasser gefüllt, hereingetragen, in dem ein alter, ehemals weißer, baumwollner,
viereckiger Lappen von doppelter Handflächengröße schwamm. (Im Winter
wäscht sich der Nordchinesc nur mit heißem Wasser.) Dann zogen die
„Damen" ihr Obergewand aus und standen da in ihren schwarzen Atlas¬
hosen, die sie auch nachts nicht ablegen, und in ihrem schmutzig-grauen Hemd
aus Baumwolle mit sehr kurzen Ärmeln. Mit dem zweifelhaft aussehenden
Lappen fuhr man sich über das Gesicht und schüchtern über den Hals, die
Hände und Unterarme bis zu den Ellbogen hinauf; damit war der Reinlich¬
keit Genüge geschehen. Seife kam dabei nicht zur Verwendung. Kein Wunder,
daß unter diesen Verhältnissen — selbst die bestsituierte Halbweltdame nimmt
in China nie in ihrem Leben ein Bad — sie selber eine Quelle aller mög¬
lichen Krankheiten ist. Da man gegen solche Leiden nur von Quacksalbern
hergestellte Pillen aus den sonderbarsten Ingredienzien einnimmt, so ist es
klar, daß durch die Prostitution die verderblichsten Krankheiten in manche
Familien kommen, was schließlich dazu beigetragen hat, große Volksteile zu
verseuchen und zu vergiften.
Ist die „Waschung" beendet, so kommt ein Hauptteil der Toilette an die
Reihe, der Kopfputz, auf den die Sängerinnen den größten Wert legen.
Während des Aufbaues der Frisur durch eine alte Dienerin halten sie ge¬
wöhnlich einen kleinen Handspiegel in der Hand und verfolgen die einzelnen
Phasen der Prozedur sehr genau. Sie geben dabei beständig Anweisungen,
und erscheint ihnen eine „Tour" nicht effekt- und schwungvoll genug, so
reißen sie sie mit ärgerlichem Griffe energisch wieder herunter. Das verdrießt
indes die geduldige Alte, für die, wie bei allen Chinesen, der Begriff Zeit
keine Rolle spielt, nur wenig. Ab und zu hält sie mit ihrer Arbeit inne.
zieht eine ihrer langen silbernen Haarnadeln aus ihrem eignen, kümmerlich
gewordnen Haarschopf, stochert in den Ruinen ihres Gebisses nach alten Speise¬
resten umher und steckt dann den Haarpfeil in aller Gemütsruhe wieder ins
Haar. Zur Erhöhung des meist tiefschwarzen, glänzenden und üppigen
Haares ihrer Herrinnen fährt sie mit einer alten Zahnbürste in einen mit
Gluzerin gefüllten Napf, um dann allmählich die Fettflut zu verkümmen und
zu verstreichen. Als Schmuck ins Haar werden künstliche Blumen befestigt
oder sehr feine Silberfiligranarbeiteu in Form von Küfern, Schmetterlingen nsiv.,
die als Überzug die schillernden Federn des stahlblauen Eisvogels' tragen.
Zum Schluß kommt die dick aufgetragne Schminke. So geschmückt empfangen
die Priesterinnen der chinesischen Venus Vulgivaga schon morgens ihre An¬
beter. Sie tragen, entsprechend dein Sinne ihrer Landsleute für Sparsamkeit,
morgens nur alte ausrangierte Kleider, oft auch bis zum Toilettenwechsel
vor ihrem Auftreten im Theater oder bei den Gastmählern reicher Kaufleute,
von denen sie gegen eine Geldsumme von 30 bis 60 Mark für den Abend
nicht selten ausgeliehen werden, um durch „Gesang" die Ohren der Gäste zu
ergötzen. So empfing mich die Freundin meines Lehrers morgens in einem
ehemaligen Staatsgewcmde aus schwerer, kirschroter Damastseide von ehr¬
würdigen Alter, das vorn auf der Brust und tiefer von Fettflecken, Schmutz
und Essensüberresten geradezu starrte. Auch wenn ihr Liebhaber zufällig
einmal nicht anwesend war, gab sie auf meinen Ruf „Kai-me" dem Türhüter
Anweisung, das immer verriegelte Eingangstor zum Hofe zu öffnen.
Waren der Besucher zu viele auf einmal, so wurden sie auf die ver-
schiednen Häuser des Iamens verteilt, und die Sängerinnen begaben sich von
einem zum andern, um mit ihnen zu scherzen, zu lachen und zu plaudern,
vielleicht auch ein Lied zu singen oder sich zärtlich in die Arme nehmen zu
lassen. Für solche platonischen Besuche zahlen die Chinesen gern zwei bis
vier mexikanische Dollar, das heißt vier bis neun Mark. Die täglichen Ein¬
nahmen ans diesen Besuchen beliefen sich bei meines Lehrers Freundin auf
fünfundzwanzig bis fünfunddreißig mexikanische Dollar, das heißt auf sechzig
bis achtzig Mark, sodaß der alte Kuppler allein aus dieser Tochter jährlich
etwa 25000 Mark zog.
Kein Wunder, daß sich die Schönen wohl ihres Wertes bewußt sind.
Wird ihnen ihre Lage unerträglich, so lassen sie sich nicht selten von ihren
Liebhabern entführen, brennen bei Nacht und Nebel mit ihnen nach entfernten
Provinzen des Innern durch und heiraten sie dort; oder aber sie drohen mit
Selbstmord, um ihren Willen in irgendeiner Sache durchzusetzen. Dieses Mittel
ist sehr gefürchtet, denn die Ausbeuter wissen sehr wohl, daß in China nicht
nur die Männer, sondern auch die Frauen mit dem Selbstmord sehr rasch bei
der Hand sind, denn er wird manchmal schon begangen, nur um den Wider¬
sacher zu ärgern. Von den großen Einnahmen erhält das ausgebeutete
Mädchen nichts. Sie kann froh sein, wenn ihr die Kuppler die nicht selten
kostbaren Schmuckgegenstände lassen, wie Ohrgehänge, Armbänder usw. aus
getriebnen Golde mit reicher Verzierung oder die noch höher geschätzten Arm¬
ringe aus Nephrit, chinesisch Date genannt.
Eine der Haupttätigkeiten der Mädchen darf ich nicht unerwähnt lassen,
nämlich die Zubereitung der Opiumpfeifen für die sie besuchenden Männer.
Ich will dabei nur kurz sagen, daß die Woholpcst bei uns nicht so schlimm
ist wie die grassierende Opiumpest der großen chinesischen Städte des Nordens.
So lebt sie scheinbar sorgenlos dahin, tändelnd, sich putzend und das Leben
genießend. Und das Ende vom Liede? Es gleicht in vielen Stücken dem
ihrer europäischen Schwestern. Hat sie das Glück, sich eines reichen, ver¬
liebten Anbeters zu erfreuen, so kauft dieser sie vielleicht um schweres Geld
dem Besitzer ab und macht sie trotz dein heftigsten Sträuben seiner Hauptfrau
zum Nebenweibe. Denn die ans guter Familie stammende erste, rechtmäßige
Gattin (auf tadellosen Ruf der ersten Frau und ihrer Familie legt der
Chinese den höchsten Wert) sträubt sich natürlich mit Händen und Füßen
gegen das Nebeneinanderwohnen mit einem Weibe von der Vergangenheit
einer öffentlichen Sängerin. Und diesen tödlichen Haß gibt die zur Neben¬
frau erhobne Courtisane reichlich zurück. Ihre Vergangenheit liegt als unüber¬
brückbare Kluft zwischen ihnen. Eine der Hauptursachen der Todfeindschaft
seitens der Hausfrau besteht darin, daß sie die Nebenbuhlerin im Besitze der
Liebe ihres Gatten weiß, dem sie einst, ohne gefragt zu werden, nur nach rein
äußern Rücksichten, oft aus Geschäftsinteresse, durch die Eltern angetraut
wurde. Andrerseits wird der ehemaligen Sängerin das Leben durch den Ge¬
danken verbittert, daß sie den Hauptwunsch jedes verheirateten Weibes nach
der Mutterschaft selten erfüllt sehen wird. Sollte aber ausnahmsweise eine
ehemalige Angehörige der chinesischen Lebewelt als Nebenfran doch schwanger
werden, nun „so kann sie eben keine Kinder bekommen", wie mir ein junger,
vornehmer Chinese auf meine Frage zur Antwort gab mit einem so be¬
zeichnenden Zug um den Mund, der jede weitere Erörterung überflüssig
machte. Wer chinesisches Wesen kennt, dem erscheint die Durchführung dieses
Grundsatzes als durchaus verständlich.
Für den Chinesen, auch die mohammedanischen Glaubens, spielt bekannt¬
lich die Ahnenvcrehrung eine Hauptrolle in ihren religiösen Vorstellungen.
Will deshalb der Chinese dem andern eine tödliche Beleidigung antun, so
beschimpft er dessen Vorfahren, namentlich die Mutter. Nun denke man sich
das unglückliche Los von Kindern, denen man mit Recht vorwerfen könne,
daß die Mutter eine „Frau mit einer Vergangenheit" gewesen sei. Schon
im zartesten Alter würden ihre Nachkommen wie die Pest von andern
Kindern gemieden werden; und Kinder sind bekanntlich fast ohne Ausnahme
grausam. Der Chinese ist in diesen Sachen so intolerant, daß er nie einen
Kuli oder eine Dienerin in sein Hauswesen nehmen wird, die jemals auch nur
in einem öffentlichen Hause im Dienst gewesen sind.
Um deshalb die rechtmüßige, erste Frau doch einigermaßen zu schützen,
bestimmen Gesetz und Sitte, daß ein junger Ehemann vor Ablauf einer be¬
stimmten Zeit kein Nebenweib ins Haus nehmen darf. Für den Fall aber,
daß ihm seine erste Frau einen Sohn geboren hat, darf er überhaupt ohne
ihre Zustimmung kein zweites Weib nehmen. Nur höchst ungern und nach
heftigem Sträuben geben sie diese Erlaubnis zu einer zweiten Heirat, wenn
es sich um ein Nebenweib aus anstündiger Familie handelt. Hört sie aber,
daß das Nebenweib eine Sängerin aus einer öffentlichen Singspielhalle sein
soll, so kommt es zu einem erbitterten häuslichen Kriege, der nicht selten
damit endet, daß der Gatte der Sängerin einen Damen irgendwo in der
Stadt mietet und ganz zu ihr zieht. Sein eheliches Heim betritt er nun nicht
mehr, indem er zu dem echt chinesischen Mittel greift, die Sache hinzuziehen
und den Gegner zu ermatten. Gewöhnlich kommt es denn auch so, daß die
rechtmüßige Frau im Kampfe zuerst erlahmt und nachgibt. Doch kenne ich
verschiedne Fülle, wo die Frauen es vorzogen, lieber auf jede fernere ehe¬
liche Gemeinschaft zu verzichten, als ihre Einwilligung zu dem Nebeneinander¬
wohnen mit einer Demimondäncn zu geben.
Man wird unter diesen Umstünden begreifen, daß das Los, als Neben¬
frau ihr Leben zu beschließen, nur eine verhältnismäßig kleine Zahl der Tee-
haussängerinnen trifft. Gewöhnlich ist der Lebenslauf eines „weiblichen
Invaliden der Liebesarmee" der auch bei uns übliche. Mit zunehmendem
Alter und mit dem Verlust ihrer Reize sinkt sie im Marktwerte. Ihr Aus¬
beuter entledigt sich ihrer wie eines abgetragnen Kleidungsstücks, indem er sie
an Freudenhäuser niedriger Gattung weiterverkauft, wo sie entweder ganz
verkommt oder als Dienerin oder Haussklavin ihr Leben fristet. Hier erlebt
sie dann mit grauen Haaren und zahnlosem Munde jahrein jahraus ihr eignes
Schicksal von neuem an den jungen kaum erblühten Mädchen, die wie sie dem
unersättlichen Moloch „Prostitution" in den Rachen geworfen werden. Die
chinesische Sängerin kann wirklich von sich sagen: I^asoiats oZni sxsrAn^Ä.
/^FV>S_^N^«»> ugust hatte Suschen ihr kleines Paket wieder eingehändigt und dafür
den mit Emil verabredeten Grund angegeben. Sie hatte die Sieben¬
meilenstiefel ohne viel Umstände bis auf weiteres in die Ecke gestellt
und sich gesagt: daß ein Soldat schon eine habe, sei ja nicht weiter
zu verwundern, und daß er die Hosenträger nicht trotzdem als gute
—I Prise habe angehn heißen, sei ein Beweis, wie recht sie gehabt habe,
ihn für einen braven Kerl zu halten. Wäre der Mißerfolg ihrer Hosenträger
Hannchen bekannt geworden, würde er ihr ungleich peinlicher gewesen sein, und
hätte sie gar gewußt, daß Hannchen die eine war, die der nette Gefreite „schon
hatte", so würde die Sache kaum ohne einige Tränen und ohne längeres Schmollen
abgegangen sein.
So saßen die drei Frauen einträchtiglich beieinander im Hofe vor der Tür.
mit Nähen beschäftigt, und besprachen, was sie nach der Kirche von Bekannten über
das und jenes gehört hatten. Der Hof war wie ausgestorben: wer abkommen
konnte, war ins Dorf zu Tanze gegangen, wer wegen der Kälber und der Milch
sowie zum Füttern dableiben mußte, lag faulenzend und schwatzend im Grasgarten
oder auf der Kammer. Spatz und Robert waren mit in die Schenke gegangen,
Gottlieb, der sich nichts aus Tanzvergnügen machte, war auf dem Hofe geblieben,
um dem Braunen und dem Milchkutscher Gesellschaft zu leisten. Auch der Bauer
war gegen Abend fortgegangen: er wollte einen Spaziergang über die Wiesen
machen und dann nach der Schenke gehn, um dafür zu sorgen, daß seine beiden
Soldaten hätten, was sie brauchten. Da sie nicht zum Abendessen kommen wollten,
so war es seiner Ansicht nach nicht mehr als recht und billig, daß er sie in der
Schenke mit einem tüchtigen Abendessen und reichlichem Biere versorgte. Das kleine
Vorwerk war oben in seiner Stube und bastelte an einer Wassermühle, die, seit¬
dem er sie mühsam gezimmert und zusammengesetzt hatte, zwischen langen invaliden
Wochen und Monden immer nur kurzer gesunder Augenblicke froh geworden war.
Es fing schon stark an zu dämmern, und der Milchkutscher war eben beim
Einspänner, als die drei Frauen zu ihrem Erstaunen den Bauer mit langen eiligen
Schritten über den Hof auf sich zukommen sahen: sie hatten ihn nicht vor zehn
Uhr zurückerwartet, und lange, eilige Schritte machte er überhaupt nicht, geschweige
denn am Sonntag, wo er sich für die ganze Woche ausruhte.
E scheenes Tcmzvergniegen, brummte er. Nischt als me große Hauerei is es
gewesen. Daß se unsern Soldaten, natürlich nich den Schwadroneur, nee den andern,
nich mausetot geschlagen ham, is noch e Wunder. Wenn der Kerl sich nich ge¬
wehrt hätte wie e Scheler, un wenn 'n nich schließlich die andern Husaren noch raus¬
gehauen hätten, wäre nischt an en ganz geblieben. Wo ists denn August?
Oben in seiner Stube.
Fix, Hannchen, er fill glei runger kommen un mit mir ins Dorf fahren. Se
ham den Stabsarzt von drieben rieber geholt. Der is mit den Doktor in den seinen
Wagen rieber gekommen, un se nähen en den Kopp wieder zu. Aber bei Besinnung
is er noch nich, das is 's Eklige. Der Stabsarzt sagt, 's is me Gehirnerschitternng.
Dummerweiser is ooch gerade eener von unsern der Attentäter. Wilhelm, das rüde
Vieh, hat en enen Bierkrug usu Koppe entzwee gehaun, un wie mir Brendel sat,
is der of Schlicke gegangen, als wenn er uf en Amboß ufgeschlagen wäre, 's
wäre mer leed um den Kerl, wenn er drufginge: so eenen macht der liebe Gott
nich alle Tage. Se meenten, ich fille en in der Schenke lassen, un de Brendeln
werde ja ooch aus 'n greebsten vor 'n gesorgt ham, aber vor so eenen, der so beese
zugericht is, is es nischt in so euer Schenke. Da is es in e richtg'n Bauernhause
doch was andersch mit der Pflege. Ihr werd ja tun, was der könnt, daß mer'n
dorchbringen. Mer können 'n glei in sei altes Bette lehr: die beeden andern machen
ja doch morgen frieh fort: da hat er de ganze Sehende vor sich alleene. Der
Rittmeister sat, ich fill'n nur behalten mit sänftigen Fähre: er wills verantworten.
Leg e paar Schiller Schtroh uf den Wagen, Angust, un e paar Decken. Un nu
wolln mer machen, daß mer fortkommen.
Nun kam auch uach und nach das Gesinde zurück, einige von den Knechten
arg ramponiert, mit verbundnen Händen und Schädeln, mit verschwollnen Augen
und Nasen, und ein wenig kleinlaut. Nicht dessentwegen, was sie selbst davon¬
getragen hatten — eine gesunde Hauerei geht nun einmal nicht ohne Defekte ab —,
sondern wegen des Soldaten, von dem es hieß, er habe ein für allemal genug
und werde schwerlich wieder aufwachen. Der Stabsarzt ebensowohl wie der Doktor
hatten sich sehr bedenklich geäußert. Der Gemeindevorstand und der Gendarm
hatten sogar die Musikanten nach Hause geschickt und dem Wirt für heute das
weitere Schenken untersagt. Auch die Husaren hatten sich auf Befehl des Ritt¬
meisters in ihre Quartiere begeben müssen. Ganz vom Zaune gebrochen hatte ja
Wilhelm, das rüde Vieh, wie ihn der Bauer genannt hatte, den Streit nicht. Er
hatte schon gestern Ursache zur Eifersucht gegen Robert zu haben geglaubt, und
er war es auch gewesen, der dem „verfluchten Hund" durch Öffnen der Grube
eine Falle gelegt hatte. Spatz, der statt seiner hineingetumpelt war, war auch
nicht ganz unschuldig dazu gekommen, denn er hatte wo anders Werg am Rocken
gehabt, und der von ihm verdrängte Knecht hatte ihm die „Taufe" von Herzen
gegönnt. Auf dem Tanzsaale war natürlich der schwelende Zündstoff sofort in
helle Flammen ausgebrochen, als sich Robert wieder, ohne sich um des andern giftige
Blicke und Drohungen zu kümmern, an das Frauenzimmer Heraugemacht hatte, das
leichtsinnig und treulos genug gewesen war, den altberechtigten Schatz für den ihr
besser gefallenden Husaren im Stich zu lassen. Die Knechte hatten für Wilhelm,
die Husaren für Robert Partei ergriffen, und dem hin und her wogenden Getümmel,
bei dem kein Stuhl und kein Tisch ganz geblieben war — die Musikanten hatten
sich und ihre Instrumente durchs Fenster gerettet —, war erst Einhalt geschehen,
als der von Wilhelm mit dem Bierkrug mitten auf den Schädel getroffne bewußtlos
zur Erde gesunken und dem Angreifenden vom Kruge nur der Henkel in der
Hand geblieben war. Eine dergleichen Katastrophe war zwar der gewöhnliche
Höhepunkt jeder einigermaßen ernsten Hauerei, und sobald einer „lag" und sich
nicht mehr rührte, sprang dann immer ein halbes Dutzend berufner und unberufner
Friedenswächter ein, aber heute hatte der Soldat zu feste dagelegen, ohne sich zu
rühren, und es war deshalb jedem, den eine Verantwortung traf, um die Folgen
ernstlich bange geworden. Der Unteroffizier vom Schenkhausdienst hatte den Wacht¬
meister, der Wachtmeister den Rittmeister herbeigeholt, und dieser hatte sofort seinen
Burschen auf einer äußerst flüchtigen Stute ins Regimentsstnbsauartier geschickt,
um den Stabsarzt zu holen. Es hatte sich gut getroffen, daß der beim Doktor
in Quartier lag, der sofort hatte anspannen lassen und mitgekommen war.
Mit dem Gesinde kam auch Spatz an, der einzige, seiner Überzeugung nach,
der die Sache wirklich gesehen hatte und richtig beschreiben konnte. Lädiert war
er nicht, und daß sich das Drama in einem sächsischen Dorfe und nicht in einem
korsischen Felsenneste abgespielt hatte, konnte man außer an den fehlenden Dolch¬
gürteln, Gamaschen und Donnerbüchsen auch daran erkennen, daß die beiden feind¬
lichen Parteien, sobald die Sache allzu brenzlig geworden war, sofort die Streitaxt
begraben hatten und nun als gute Freunde, die einander das Geschehene nicht
nachtrugen, nebeneinander hergingen.
Als August allein mit dem leeren Wagen zurückkam, erfuhr man von ihm,
daß die Ärzte den Transport zu Wagen nicht für ratsam gehalten hatten. Der
noch immer Bewußtlose war deshalb auf eine Bahre gelegt worden, an der sich
zwei Nummern von je vier starken Lorenzen ablösten, und die, des kürzern Weges
halber durch die Tellsje getragen, jeden Augenblick ankommen konnte. Gleich nach
August kam auch der Doktor angefahren, der ein sehr ernstes Gesicht machte und
darauf bestand, daß, wenn der Verwundete in sein altes Bett gelegt werden sollte,
was sich allerdings wegen des unmittelbar vor der Tür befindlichen Brunnens in
Rücksicht auf die kalten Umschläge empfahl, die beiden andern mit ihren Sieben¬
sachen ausquartiert werden müßten, denn wenn der Patient nicht völlige Ruhe
habe, könne er für nichts stehn; auch so seien die Aussichten, ihn durchzubringen,
sehr prekär. Spatzeus und Gottliebs Betten und deren „Gelumpe" wurden im
Handumdrehen in die sogenannte Knchenstube geräumt, und man war damit eben
fertig, als der erwartete Zug ankam. Se breiigen 'ni Die Anwesenheit des
Wachtmeisters und die drohende Nähe des Gerippes mit der geschwungnen Sense
bedrückte die Träger. Größte Vorsicht war ihnen zur Pflicht gemacht worden.
Der Zug bewegte sich langsam und lautlos — wie e Leichenzug, flüsterte eine
der Mägde schaudernd dem neben ihr stehenden, wie sie den sensationellen Vor¬
gang mit weitaufgerissenen Augen verschlingenden Knechte zu. Zu einem so un¬
heimlichen Aufzuge hatte keine der frühern Hauereien Veranlassung gegeben: was
man von ihnen zu erzählen wußte, verblaßte vor dieser wie von Gespenstern ge¬
tragnen Bahre. Und doch wäre zu einem Hoffnungsvolleu Ausblick Veranlassung
gewesen, denn wie einer der Träger in der Tellsje über eine Wurzel gestolpert
und die Trage dabei arg ins Schwanken gekommen war, hatte der Wachtmeister
den Verwundeten nicht stöhnen, sondern acht- bis neunsilbig fluchen hören. Be¬
ginnendes Delirium, hatte der Stabsarzt gemeint. Der mußte es freilich wissen,
sonst würde der Wachtmeister eher geglaubt haben, ein so kerniger Fluch sei ein
gutes Zeichen, für das Wiedererwachen gesunder Lebensgeister selbstverständlich, nicht
im Punkte der Moral. Delirierende Husaren fluchten ja ausnahmsweise auch, aber
was war das im Vergleich mit den gesunden, die, wie er selbst, immer fluchten!
Unbeweglich liegen und in Zwischenräumen von fünf zu fünf Minuten er¬
neuerte Umschläge. Da der Stabsarzt am nächsten Morgen mit dem Regiment
abrückte, versprach der Doktor herüberzukommen und nach dem Verwundeten zu
sehen. August, zwei der aufgewecktesteu Knechte und Gottlieb wollten sich von
Stunde zu Stunde ablösen. Der Attentäter hatte sich auch angeboten, aber Spatz,
der selber nicht in Frage kam, weil er, wie er sich ausdrückte, kein Vogel aufs
Nachtwachen war, und, wie er behauptete, auch vor dem König seiner Tür auf
Posten einschlafen würde, war dagegen gewesen: es passe sich eenen nich. Ver¬
mutlich hatten sie alle vier in der Hauptsache das Ihre getreulich getan, denn als
Gottlieb, um den Schlaf fern zu halten, eben in eine mit Wurst belegte Brod¬
schnitte eine halbmondförmige Bresche gelegt hatte, hörte er neben sich Roberts
Stimme: Gib mir ooch e Schlicke von der Wurschtbemme, Gottlieb. Mich hungert.
Wegen der nötigen Diät hatten die Ärzte nichts gesagt, und mit der Wurstbemme
wäre Gottlieb lieber allein fertig geworden, aber er zögerte keinen Augenblick,
teilte christlich und sah die halbe Wurstbemme mit einer Schnelligkeit verschwinden,
die einem halbtot geglaubten alle Ehre machte. De Zähne tuu der Wohl nich weh?
fragte er. Nee, der Kopp. — Schluß. — Mehr brauchte es nicht, und mehr
Worte war auch keiner von beiden dran zu wenden willens. Als die Bauersfrau
nachsehen kam und an Gottlieb, der gerade einen frischen Umschlag aufgelegt hatte,
die Frage richtete, ob es an nichts fehle, meinte der: Nee, eegentlich «ich. Aber
uneegentlich? fragte sie. Noch e bissel was zu essen könnten mer alle beede brauche».
So erfuhr sie die Wendung zum Bessern und konnte ihren Mann beruhigen, dem
die Sache sehr an die Nieren gegangen war, um des schönen Kerls willen, um den
es schade war, und wegen des Vorwurfs, der für immer auf dem Roten Vorwerk
gelastet haben würde, daß man einen von der Einquartierung um die Ecke ge¬
bracht habe.
Als Spatz und Gottlieb am nächsten Morgen zum Sammeln abgeritten waren,
war Robert nicht zu halten gewesen. Er hatte die Dienstmütze über die Kompressen
gestülpt und hatte dabei sein müssen. Er hatte Spatz auch eine ihm gehörende
Schmierbürste, die dieser hatte angehn heißen, glücklich wieder abgenommen. Und
nun irrte er, wenn er sich nichts mit seinem Gaule zu tun machen konnte, ruhelos
wie eine Verlorne Seele umher, immer bestrebt, sich mit kleinen Handreichungen
nützlich zu machen, und die Nähe weiblicher Wesen vor der männlicher stark bevor¬
zugend. Der Doktor war wie aus den Wolken gefallen, als er bet seiner Ankunft
den für einen kurzen Augenblick unter den Linden vorm Tore zur Ruhe gekommnen
gewahr geworden war. Er hätte gern mit Wundfieber, das man zu gewärtigen
habe, gedroht, aber der Befund der Wunde und das Allgemeinbefinden waren so
zufriedenstellend, daß er für diesmal die Schwarzseherei lieber aufgab. Donnerstag,
sagte er, werde er wiederkommen und die Nadeln herausnehmen: dann könne der
Husar reiten. Nur vor Bier und Schnaps müsse er auf seiner Hut sein, bis die
Wunde ganz geheilt sei, wenn er nicht wolle, daß ein roter Renommierschmiß daraus
werde, eine Verschönerung, für die bekanntlich nur in gelehrten Kreisen eine Vor¬
liebe besteht.
Da man dem Husaren nicht mit Bier und dergleichen beikommen durfte, so
unterzog man ihn, um ihm doch etwas zugute zu tun, eiuer gewaltigen Milchkur,
und da die Bauersfrau noch überdies bemüht war, ihn mit dem nahrhaftesten, was
Rauchfang und Speisekammer boten, zu rudeln, so sing er schon vom dritten Tage
dieser Behandlung an, bedenklich zu schwellen und wie eine Speckschwarte zu glänzen.
Der Bauer sah das, was hierbei draufgiug, als eine Sühne an, die er von Herzen
gern zahlte, nun die Sorge wegen eines schlimmen Ausgangs von ihm genommen
war. Er war Robert förmlich dankbar dafür, daß er aß und trank, und daß es
bei ihm anschlug.
Wilhelm, der Attentäter, war ein paarmal um Robert herumgegangen, wie
die Katze um den heißen Brei, bis er sich schließlich doch, als ihm die Gelegenheit
günstig erschien, ein Herz faßte. Na, was macht denn dei Kopp? fragte er ihn
mit einem gewinnenden Lächeln, das er eigentlich nur für Frauenspersonen auf
Lager hielt.
Jucken tut er, sagte Robert im gleichmütigsten Tone, als wenn Wilhelm mit
dem „Koppe" nie etwas zu tun gehabt hätte. Wenn nur erscht die dummen Nadeln
raus wären, daß es fixer Heilen täte.
Ich bin nemlich von Natur hehre hitzig, sagte Wilhelm, der sich vorgenommen
hatte, die Sache mit einer entschuldigenden Bemerkung wieder ins Gleiche zu bringen,
soweit das seine Manneswürde erlaubte.
Das ha ich gemerkt, sagte Robert. Mer sillte sich eegentlich allemal ieber-
legen, womit daß mer zubauen tut, aber, fügte er voll Nachsicht bei, in der Hitze
hat mer daderzu mehrschtens keene Zeit. Wenn ich iebrigeus wie du wäre, tat
ich das Frauenzimmer kurz halten: die hat c Herze, wo unse beeden Jahrgänge
bis uf deu letzten Mann neingehn, mit und ohne Sporen.
Das muß wahr hin, sagte Wilhelm durchdrungen: se hat ooch ihre geheerigen
Schwnmse gekriegt.
Man war über die raschen Fortschritte, die die Heilung machte, allgemein er¬
freut: uur Suscheu ging die Sache für ihre Wünsche zu schnell. Bei genauerer
Betrachtung gefiel ihr der etwas derbere Husar womöglich noch besser als der nette
Gefreite, und da er immer um sie und ihre Schwester herum war und zugriff,
wo er irgend konnte, nicht „tapfig", wie es ein Städter getan hätte, sondern wie
einer, der sich auf die Sache verstand — bnttern konnte er halbe Stunden laug,
ohne daß mau ihm Erhitzung oder Müdigkeit ansah —. so hatte sie ganz sachte
die Siebenmeilenstiefel aus ihrer Ecke wieder hervorgeholt und war mit deren Hilfe
ganz unversehens bei dem Herrn Pfarrer und den nebeneinander gestellten beiden
Stühlen zwischen den kugelrunden Myrtenbäumchen wieder angekommen. Ohne
daß sich Robert dessen bewußt war, strömte von ihm ein mir für besonders dis¬
ponierte weibliche Naturen wahrnehmbares Fluidum aus, das Suschen wider ihren
Willen hypnotisierte. Hätte sie ihn ein paar Tage in unverwundeten Zustand
unter deu andern gesehn, würde sie ihn wahrscheinlich etwas zu hahnebücheu und
zu unverfroren gefunden haben. Der gewohnten Kommißatmosphäre entrückt und
durch den erlittnen Aderlaß ein wenig gedämpft, zeigte er sich von der besten Seite.
Selbst die Bauersfrau konnte nicht umhin, wenn er nicht zugegen war, gesprächs¬
weise zu bemerken, daß er gar nicht so rüde sei, wie er ihr am ersten Tage vor¬
gekommen wäre, und den Bauern hatte er von der ersten Stunde an für sich ein¬
genommen. Für das, was er richtige Kerle nannte, hatte er, wahrscheinlich in
erster Reihe als Arbeitgeber, eine Vorliebe, und ein richtiger Kerl war Robert,
das mußte ihm der Feind lassen. Aber auf Süßholz raspeln, was doch Suscheu
erwünscht gewesen wäre, schien er sich nicht zu verstehn, und so kam, auch wenn
die beiden allein waren, die Sache nicht einen Schritt vorwärts. Der Husar hatte
so etwas „Geradezues", Kameradschaftliches, wenn er mit ihr und Hannchen ver¬
kehrte, daß Suschen immer wieder den Eindruck hatte, der Topf lasse sich nicht,
wie sie wünschte, zum Kochen aufs Feuer schieben, denn es fehle am Henkel, um
zugreifen und ihn hantieren zu können. Aber es waren ja die für Vaters Ge¬
burtstag gestickten Hosenträger da; wenn sie diesmal nicht August mit deren Über¬
reichung beauftragte, sondern die Sache selbst in die Hand nahm, so mußte, dachte
sie, dem Topf doch schließlich der fehlende Henkel wachsen. Sie hatte die Sache
von Tag zu Tag verschoben. Erst als der Doktor die Nadeln herausgenommen
hatte, und der zur höchsten Genugtuung des Bauern ebenso wie sein Gent prächtig
herausgefütterte Husar am nächsten Morgen abreiten sollte, um auf Nichtwegen sein
Regiment im Manövergelände aufzusuchen, faßte sie sich ein Herz und steckte das
Paketchen, von dem sie hoffte, es werde als Talisman wirken, in die Tasche. Der
Zufall wollte, daß sie den Soldaten, nachdem sie sich auf dem Hof und in den
Ställen vergeblich nach ihm umgesehen hatte, im Blumengarten auf demselben
schnurgeraden Wege antraf, auf dem der Hofejunge dem Gefreiten und Hannchen
mit seiner höchst unzeitgemäßer Bestellung in die Quere gekommen war. Sie hatte
sich überlegt, was sie sagen wollte, und ihre Rede lief denn auch von Stapel wie
ein braves Schiff, das erst langsam und dann schneller und schneller in sein Element
gleitet. Robert hatte mit einem so gutmütigen und freundlichen Gesicht zugehört,
daß Suschen gewonnenes Spiel zu haben glaubte. Sie hatte ihm gesagt, sie wolle
ihm als Andenken an die auf dem Roten Vorwerk verbrachten Tage ein Paar
Hosenträger schenken, die sie selbst gestickt habe, damit er manchmal an die hier
verlebte Zeit zurückdenke. Sie hoffe, er werde es nicht ungern tun und auch sie
dabei nicht vergessen.
Nee, Fräulein Suschen, das wer ich gewiß nich: se ham ja allemitenander
mehr für mich getan, als ich verlangen konnte, ooch für meinen Braunen.
Das „allemitenander" und das „ooch für meinen Braunen" wollten Suschen
schon nicht recht gefallen, aber wie wurde ihr erst zumute, als Robert mit der
größten Seelenruhe fortfuhr: Aber Ihre scheenen Hoferschen missen se lieber einst¬
weilen behalten un se Ihrem Schatze gehen, wenn der kimmt, was ja bei so e
scheenen Mädel, wie Sie sein, nich fehlen kann. Vor mich werde sichs nich passen,
wenn ich mir so e was von so en scheenen Frauenzimmer, wie Sie sein, willte
schenken lassen. Das wern Se sich Wohl denken können, daß ich in meiner Hecate
eene habe, mit der ichs richtig gemacht habe. Wenn ich mer erhebt bei den Sol¬
daten de Hörner were abgeloofen ham, wolln mer uns ja ooch heiraten, un wenn
die die scheenen Hosenträger zu Gesichte kriegte, täte se mir se uf jeden Bissen,
den ich äße, zu kosten geben. Denn eifersichtig is se hehre, un in solchen Sachen
versehen se keenen Schpaß.
Er war kaum soweit gekommen, da fingen richtig die naseweisen Schellen in
ihrer Trommel wieder an zu klimpern. Diesmal war es kein Hofejunge, der wegen
des Gewürzkästchens kam, sondern eine der Mägde, die ein paar Blätter Petersilie
für die Küche holen sollte. Herr Gott, sagte Suschen, und ich habe die Sülze
noch nich fertig gemacht — und nachdem es wieder in der Drahttrommel wie toll
geklirrt hatte, waren auch schon die „scheenen" Hosenträger samt dem „scheenen"
Frauenzimmer verschwunden.
Fast hätte man sagen können, es walte ein Austern über ihnen. Denn als
der Bauer sie einige Wochen später wirklich als Geburtstagsangebinde erhielt, freute
er sich zwar darüber und bewunderte sie — Suschen hatte nicht wie Hannchen
ein Muster mit Nelken, sondern eins mit Rosen gewählt —, aber er fand sie zum
Tragen zu schön und legte sie in die Truhe, in der er auch die Patengescheuke der
Kinder verwahrte und seine blaue Militärmütze mit weißem Paspel und schwarzem
Streifen. Sie wären da auch wer weiß wie lange liegen geblieben und vielleicht
gar den Motten zum Opfer gefallen, wenn der Webstuhl der Zeit stillgestanden
hätte, und wenn nicht auch auf dem Roten Vorwerk Tage und Nächte, leichten,
unhörbaren Schritts vorübergleitend, so manches gepflanzt und gereift, so manches
gebleicht und geebnet und damit das herbeigeführt hätten, was man als eine neue,
veränderte Sachlage zu bezeichnen pflegt.
Bei der Kirmes des Jahres hatte es zwar noch nichts Besondres gegeben:
nur der Gefreite war dagewesen, und Suschen hatte nicht einmal erfahren, wer
die eine war, die er schon hatte. Aber das nächste Jahr zu Pfingsten wurden
beide Paare Hosenträger mit freudigen Gefühlen angelegt: ein wohlhabender
Bauersohn aus der nächsten Umgebung führte die ältere Tochter des Roten Vorwerks
heim, der nette Gefreite die jüngere. Suschen gefiel der, der die Hosenträger
mit den Rosen trug, so gut, daß sie sich aufrichtig freuen konnte, als sie erfuhr,
wer ihr Schwager werden sollte. Sie lernte auch die kennen, die Robert heiraten
wollte, wenn er sich beim Militär die Hörner abgelaufen hätte, denn sie war unter
den Hochzeitgästen, und Robert geleitete mit August den netten Gefreiten zwischen
die beiden kugelrunden Myrtenbäumchen.
Und Wilhelm? Der hatte schon vorher Ernst gemacht, und die mit dem weiten
Herzen ließ schon seit einiger Zeit als seine Fran die ihr verdienter- und un¬
verdientermaßen zuteil werdenden „Schwumse" kaltblütig über sich ergehn, in der
Überzeugung, daß sie im Grunde keine Ursache habe, ihrem Manne irgendeinen
andern seines Jahrgangs vorzuziehen.
In der Politik fängt man an, sich nach und nach auf den Winter einzurichten.
Die Minister und Mitglieder des Bundesrath sind zum größten Teil von ihren
Urlaubsreisen zurückgekehrt, bald werden die ersten größern Beratungen nud Plenar¬
sitzungen wieder aufgenommen werden, und die Vorbereitungen für die Arbeiten der
Parlamente werden intensiver betrieben. Wenn der Reichskanzler selbst einstweilen
noch in Norderney weilt, so kann man das sicherlich nur in sehr beschränktem Sinne
als eine Erholung auffassen, denn auch diese Zeit ist angestrengter politischer Arbeit
gewidmet. Gerade in der letzten Zeit hat der Reichskanzler nacheinander alle
möglichen parlamentarischen Führer und andre politische Persönlichkeiten von Einfluß
empfangen und mit ihnen die Lage besprochen. Wenn Fürst Bülow so die engste
Fühlung mit allen Politikern, auf deren Mitarbeit er rechnet, gewinnt, so wird er
damit in der Lage sein, eine sichre Schätzung für die Aussichten seiner Politik zu
erhalten. Es ist über die Maßen lächerlich, fast möchte man sagen, kindlich, wenn
diese Verhandlungen in übelwollenden Besprechungen als ein Anzeichen der Ver¬
legenheit gedeutet werden. Daß ein deutscher Staatsmann keinen leichten und be¬
quemen Weg geht, wenn er eine „Blockpolitik" betreiben will, d. h. ein äußeres
Zusammengehen von sonst divergierenden Parteien herbeizuführen versucht, das wird
Fürst Bülow schon gewußt haben, als er sich zum Bruch mit dem Zentrum entschloß.
Aber daß er die Schwierigkeiten der Blockpolitik nicht unterschätzt hat, beweisen
die Erfahrungen, die während der ersten Tagungsperiode des neuen Reichstags
damit gemacht worden sind. Diese Schwierigkeiten sind doch in Wirklichkeit
überwunden worden. Es könnte sich nur fragen, ob nicht ein gewisser Rück¬
schlag eintreten wird, ob sich nicht der eine Zeit lang zurückgedrängte Parteiegoismus
wieder stärker geltend machen wird. Das ist eine Meinung, die in einzelnen
Organen der Tagespresse und in den Vorzimmern der Parteibureaus gern ge¬
pflegt wird, weil sie um die, die sie vertreten und verbreiten, einen angenehmen
Schimmer von kritischem Weitblick und „unentwegter" Grundsatzfestigkeit webt. Und
da sich diese Meinung zugleich auf wirklich vorhandne Unterströmungen in den
Parteien stützt, so erscheinen ihre Vertreter überdies als tief Eingeweihte. Aber
gerade dieser Eindruck ist falsch. Die geringschätzige Beurteilung der Block¬
politik beruht auf einer durchaus oberflächlichen Kenntnis und Beobachtung. Man
darf nicht vergessen, daß es gerade die zwingende Logik der Tatsachen ist, die für
die Blockpolitik spricht. Wer diese Politik wirklich nur für ein ausgeklügeltes Ver¬
legenheitsexperiment des Fürsten Bülow hält, der sich damit nur für die nächste
Zeit über Wasser halten wolle, der stellt unbewußt dem deutschen Volk ein politisches
Armutszeugnis aus, wie es schlimmer nicht gedacht werden kann. Jahrelang haben
unsre nationalen Kreise darüber gejammert, daß das Zentrum die führende und ent¬
scheidende Partei war, und daß sich die Regierung mit dieser Tatsache abfand. Nun
lieferte der leitende Staatsmann den Beweis, daß er den antinationalen Charakter
des Zentrums kannte, indem er den geeignetsten Augenblick erfaßte, den Reichstag
aufzulösen. Ob das — ganz objektiv, das heißt vom Standpunkt des künftigen
Historikers betrachtet — ein „Fehler" war, kann niemand heute schon beurteilen.
Erst die Zukunft kann zeigen, ob Fürst Bülow das deutsche Volk nach seiner politischen
Reife und seinen Fähigkeiten zu hoch eingeschätzt hat; denn nur in diesem Sinne
kann sich vielleicht die Reichstagsauflösung als ein Fehler erweisen. Aber wenn die
Geschichte vielleicht einmal später dieses Urteil spricht — die außerhalb des Zentrums
und der Sozialdemokratie stehenden heutigen Parteien dürfen es nicht sprechen,
ohne sich selbst zu verurteilen und ihre eignen Grundanschauungen und Bestrebungen
zu verleugnen. Das Mißlingen würde auf sie selbst zurückfallen und ihre eigne
Unfähigkeit sonnenklar dartun. Die Regierung hat einen bestimmten Weg gezeigt
und den Willen betätigt, das Zentrum als ausschlaggebende Partei trotz seiner un¬
erschütterten Stärke auszuschalten. Wenn nun die bürgerlichen Parteien mit Aus¬
schluß des Zentrums den einzig möglichen Weg, dies zu erreichen, nicht beschreiten
können oder wollen, dann lassen sie nicht die Regierung, sondern sich selbst im Stich.
Sie selbst sind es, die dann bedingungslos vor dem Zentrum kapitulieren.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß alle hierbei in Betracht kommenden Führer
der Parteien und alle ihre Mitglieder von Urteil und Erfahrung darüber klar
sind. Und darum hat die Regierung in dieser Frage nicht eine schwache, sondern
im Gegenteil eine ungewöhnlich starke Stellung. Aber freilich gibt es in jeder
Partei intransigente Elemente — Unterströmungen, wie wir vorhin gesagt haben —,
und diese dürfen insofern nicht ganz unterschätzt werden, als sie gewöhnlich die
lautesten Rufer sind und sich leicht Einfluß auf die — der Masse nach immer über¬
wiegenden — Urteilslosen und Oberflächlichen in der Partei verschaffen. Und
diesem Umstände müssen die Führer in ihrer Taktik bis zu einem gewissen Grade
Rechnung tragen. Darum sieht die Sache oft schlimmer aus, als sie in Wahrheit
ist. Das kann man auch an dem Parteitag der freisinnigen Volkspartei erkennen.
Das Ergebnis zeigt, daß die offizielle Vertretung der Partei, sicher in Über¬
einstimmung mit der Mehrzahl ihrer Wähler, vollkommen begriffen hat, was die
gegenwärtige Lage von ihr fordert. Und doch hielten es die Führer für notwendig,
zu betonen, daß die Partei im Geiste Eugen Richters weiter wirken werde. Das
sollte heißen, daß die alten Parteiziele und Grundsätze festgehalten werden
sollten — etwas ganz Selbstverständliches, was aber doch gesagt werden mußte,
weil die ältern Doktrinäre der Partei die Wähler ängstlich gemacht hatten, daß die
Blockpolitik den Liberalismus lahmlegen und an die „Reaktion" fesseln solle. In
Wirklichkeit bezeichnet ja aber der Geist Eugen Richters nicht die freisinnige
Parteianschauung an sich, sondern innerhalb dieser Parteianschauung die Richtung
und Methode, die durch die engherzige Übertreibung ihres verneinenden Stand¬
punktes schließlich die besten und fruchtbarsten Ideen des Liberalismus selbst aus
der Partei hinaustrieb und den Freisinn bei allen praktisch, staatsmännisch denkenden
Politikern um allen Kredit brachte. Man könnte also mit vollem Recht sagen: das
Ergebnis des Parteitages war eine Abkehr vom Geiste Engen Richters und eine
Rückkehr zu einem gesundem Liberalismus. Aber was lohnte es, deshalb mit den
Freisinnigen zu rechten, die mit der Erinnerung an Eugen Richter eine wohlver¬
ständliche Pflicht der Pietät erfüllten? Schließlich hat jede Partei ihre besondre
Konvenienz oder, wenn man will, ihre fromme Legende. Es soll hier nur daran
erinnert sein, daß man die Lage nicht allein nach dem äußern Gebaren der Parteien
beurteilen darf. Das wirkliche Handeln kommt in Betracht, und man kann es den
Parteien überlassen, wie sie ihre Gedanken am besten in den gewohnten Partei¬
jargon kleiden wollen.
Dasselbe gilt auch von den Konservativen. In ihren Reihen fällt manche
unmutige Äußerung über den Block, der ihnen angeblich zumutet, liberale Politik
zu machen. Die einsichtigen Führer wissen trotzdem, daß die Sprengung des Blocks
von konservativer Seite ein schweres Verhängnis für die Zukunft der konservativen
Partei bedeuten würde. Denn nichts könnte der Partei verderblicher werden als
ihr Versagen bet einem nationalen Appell der Regierung und die Zurückführung
der Zentrumsherrschaft angesichts der Stimmung der nationalen Mehrheit des
deutschen Volkes. Diese realen Faktoren des Parteilebens wird man berücksichtigen
müssen, wenn man die Aussichten der Blockpolitik beurteilen will, und deshalb darf
man erwarten, daß die eingehende persönliche Verständigung des Reichskanzlers
mit den Führern der im Block vertretnen Parteien und Richtungen von guter
Wirkung sein wird.
In der vergangnen Woche hat sich die öffentliche Aufmerksamkeit besonders
auf den Parteitag der deutschen Sozialdemokratie gerichtet, der diesmal in Essen
abgehalten wurde. Dieser Parteitag zeigte nicht so bemerkenswerte Erscheinungen
wie mancher frühere. Ein Schauspiel wie 1903 in Dresden wird die Sozial¬
demokratie ihren Gegnern wohl so bald nicht wieder bieten. Dieser Jungbrunnen
hat die Genossen etwas „wasserscheu" gemacht. Aber die bürgerlichen Parteien
haben alle Ursache, sorgfältige Beobachter dieser charakteristischen Lebensäußerungen
der Sozialdemokratie zu bleiben. Es verstand sich von selbst, daß sich der Partei¬
tag eingehend mit den letzten Reichstagswahlen beschäftigte. An kleinen Versuchen,
manche üble Erfahrung und unbequeme Erscheinung des Wahlkampfs zu vertuschen
und zu verkleinern, fehlte es natürlich nicht. Im ganzen jedoch kann man nur
sagen, daß der Berichterstatter und die ihm folgenden Redner sich in ihren wesent¬
lichen Behauptungen an die Tatsachen hielten. Sie wiesen auf den Stimmen¬
zuwachs hin, den ihnen die allgemeinen Wahlen gebracht hatten, und meinten, daß
dieser Tatsache gegenüber die Niederlage, die sie durch den Verlust einer großen
Zahl von Mandaten erlitten hätten, nicht in Betracht komme. Die darin ent-
haltne Warnung sollten die bürgerlichen Parteien nicht in den Wind schlagen. Es
ist richtig, daß die Niederlage der Sozialdemokratie bei den letzten Reichstags¬
wahlen keinen Rückgang der Partei bedeutet. Der Wert des Erfolges bestand
darin, daß nicht die Schwäche der Sozialdemokratie, sondern die Stärke der bürger¬
lichen Parteien aufgedeckt wurde. Darauf haben wir schon gleich nach den Wahlen
hingewiesen. Man hatte sich daran gewöhnt, aus der Zunahme der sozialdemo¬
kratischen Wahlstimmen den Schluß zu ziehen, daß das Bürgertum dieser Bewegung,
solange sie nicht direkt zum Stillstand gebracht worden sei, machtlos gegenüberstehe.
Bürgerliche Wähler entschuldigten ihre Gleichgiltigkeit und Pflichtvergessenheit bei
den Wahlen damit, daß sich an dem Ergebnis ja doch nichts ändern lasse, und
mit ähnlichen Erwägungen hat auch mancher Mitläufer der Sozialdemokratie, der
durch diese Stellungnahme einer verbissenen und uuzufriednen Stimmung Luft
machen wollte, sein politisches Gewissen beschwichtigt. Die letzten Reichstagswahlen
haben nun gezeigt, daß die bürgerlichen Parteien, wenn sie sich aufraffen und die
zahlreichen NichtWähler veranlassen, ihre Pflicht zu tun, sehr wohl in der Lage
sind, die Vertretung der Sozialdemokratie im Reichstage auf die Sitze zu be¬
schränken, die ihnen infolge eines numerischen Übergewichts der Proletariermassen
in bestimmten Wahlkreisen zugefallen sind. Die Lehre für das Bürgertum lautet
also: „Tut immer so eure Pflicht bei den Wahlen, und künftig womöglich noch
mehr, dann seid ihr mächtiger als die Sozialdemokratie!" Aber sie lautet nicht
etwa: „Die Sozialdemokratie ist geschlagen; jetzt könnt ihr weiter schlafen!" Die
Zuversicht der Sozialdemokratie gründet sich darauf, daß die bürgerlichen Parteien
bei den nächsten Wahlen wieder in die alte Schlaffheit zurücksinken, und das sollte
wohl beherzigt werden.
Nicht vorübergehen sollte man auch an den Erörterungen des Parteitages über
„Militarismus". Wenn sich Bebel auch bemühte, den zuweit gehenden Phrasen
und Forderungen eines tollen und überspannten Antimilitarismus entgegenzutreten,
so bleibt doch von gemeinschädlichem und staatsfeindlichen Einflüssen immer noch
genug übrig, um zu zeigen, daß die gelegentlichen, gemäßigt klingenden Äußerungen
einzelner Sozialdemokraten über ihre Bereitwilligkeit, das Vaterland zu verteidigen,
vollkommen wertlos sind. Wir gehören nicht zu den Pessimisten, die wirklich
glauben, die Sozialdemokratie könne die wehrfähige Mannschaft Deutschlands in ab¬
sehbarer Zeit dahin bringen, ihre Pflicht zu verweigern, wenn das Vaterland ruft.
Die zwingende Macht der Tatsachen, die im entscheidenden Augenblick überhaupt
keine Wahl mehr lassen, und das natürliche, gesunde Ehrgefühl des deutschen Mannes
sind denn doch stärker als das hirnverbrannte Geschwätz dieser Fanatiker. Aber
das ist kein Grund, die systematische Untergrabung des vaterländischen Gefühls und
die „Verekelung" der Dienstpflicht, worauf die Agitatoren eingestandnermaßen hin¬
arbeiten, mit Gleichgiltigkeit zu betrachten. Deshalb enthalten diese Erörterungen
des Parteitags eine starke Mahnung an die bürgerlichen Parteien, auf dem Posten
zu bleiben und sich durch die Vorstellung eines Rückgangs dieser gefährlichen Be¬
wegung nicht einschläfern zu lassen. Sonst können die nächsten Wahlen allerdings
eine schlimme Überraschung bringen.
Alle sachlichen Beschlüsse des Essener Parteitages, soweit sie die Stellung
zu bestimmten politischen Fragen betrafen, waren wiederum Dokumente für den
Standpunkt völliger Verneinung und Unfähigkeit, auf dem die Partei verharrt.
Zu einer so wichtigen Frage wie der Kolonialpolitik erklärte Bebel, er wisse selbst
nicht, wie man sich im Zukunftsstaat dazu stellen werde. Auch was über die
Frage der Landagitation gesagt wurde, sah einer Bankrotterklärung verzweifelt
ähnlich. Die Behandlung der Alkoholfrage verriet eine Leisetreterei, ein Schwanken
und Lavieren, das im Vergleich zu den sonstigen wilden Deklamationen dieser Ver¬
treter des äußersten Radikalismus und der Revolution beinahe komisch wirkte.
Aber was sollten die Genossen machen, wenn sie glatt und entschieden ihren besten
Verbündeten, den Alkohol, verleugneten und den um die Partei verdienten Gast¬
wirten das Geschäft verdürben? Und doch dürfen sie sich die moralische Entrüstung
über das durch den Alkohol verursachte Elend als Kampfmittel nicht entgehn
lassen. Als Rettung aus diesem Dilemma erscheint das mühsam herbeigeholte Moment
des Klassenhasses: der reiche Alkoholiker wird von der kapitalistischen Gesellschaft
gegen die zerrüttenden Folgen seiner Leidenschaft geschützt, der arme Arbeiter aber
wird dem Elend überlassen. In der Variation dieses Themas gelangte man dann
glücklich über die eigentliche Kernfrage hinweg.
Trotz diesen wahrhaft kläglichen Ergebnissen bleibt die Parteiorganisation
selbst jedoch immer ein Punkt, in dem die bürgerlichen Parteien leider nur allzuviel
noch lernen können. Auf das sozialdemokratische Nachrichtenbureau, das jetzt ein¬
gerichtet werden soll, wird man ein besondres Augenmerk richten müssen. Die
Zentralisation des Nachrichtendienstes, die eigentliche Zustutzung des ganzen Materials
für die Zwecke der Partei kann von sehr ernster Wirkung sein, wenngleich auch
bisher an tendenziöser und einseitiger Behandlung der Tatsachen das Menschen¬
mögliche geleistet worden ist. Diese Einseitigkeit wird künftig noch verstärkt erscheinen,
und den Mitgliedern der Partei wird es immer schwerer werden, die Wahrheit
zu erfahren. Es ist ein neues Stück Terrorismus, das zu dem schon bestehenden
hinzutritt.
In unsrer letzten Betrachtung erwähnten wir die Nachricht, daß Morenga,
der zähe Gegner der deutschen Herrschaft in Südwestafrika, seine Unterwerfung an¬
geboten habe. Die Verhandlungen führten aber nicht zum Ziele, wahrscheinlich weil
der schlaue Räuber nicht ernstlich an das Zusammenwirken der Deutschen und Eng¬
länder zur Unterdrückung seines Widerstandes glaubte. Er hat sich jedoch darin
getäuscht und seinen Untergang heraufbeschworen. Bei einem Versuch, sich wieder
auf deutschem Gebiete bemerklich zu machen, wurde er verfolgt und hoffte nun wieder
auf englischem Gebiete Sicherheit zu finden. Aber die englische Polizeitrnppe nahm
nun auch ihrerseits die Verfolgung auf, und nach einem letzten Kampfe machten
englische Kugeln seinem Leben ein Ende. Dieses vertrauensvolle Zusammenwirken
der Deutschen und Engländer bezeichnet einen hoffnungsvollen Umschwung in der
Lage der Dinge.
Im Haag hat nach einer Tagung von drei Monaten die zweite internationale
Konferenz vorläufig ihren Abschluß gefunden. Ziemlich still ist man auseinander¬
gegangen, weil das Gefühl vorherrschte, daß doch allzu viele unerfüllte Erwartungen
zurückgeblieben sind. Gerade wir Deutschen aber, die wir der ganzen Veranstaltung
nüchtern und skeptisch gegenübergestanden haben, können die erreichten völkerrecht¬
lichen Abmachungen, die doch recht nützlich und wertvoll sind, um so unbefangner
anerkennen. Der Hauptfehler war wohl, daß zu viele Fragen vorgebracht wurden,
die für eine endgiltige internationale Entscheidung überhaupt noch nicht spruchreif
waren. Daher das bei einer solchen großartig inszenierten Konferenz sehr peinlich
Wirkende Mißverhältnis zwischen der Dauer der Verhandlungen und ihrem Er¬
gebnis. Man hat auch allgemein eingesehen, daß einer neuen Konferenz, die vor¬
läufig für das Jahr 1915 in Aussicht genommen ist, sorgfältigere Vorbereitungen
vorangehn müssen. Im allgemeinen aber hat Deutschland gut abgeschnitten, und
das verdanken wir dem geschickten Verhalten der deutschen Delegation und ihres
ersten Vertreters, des Freiherrn von Marschall.
Das große Unternehmen,
das sich „Handbuch des deutschen Unterrichts an höhern Schulen, herausgegeben
von Dr. Adolf Matthias" benennt, schreitet rüstig weiter; eingehend haben wir die
leitenden Gedanken sowie die ersten Veröffentlichungen über die Behandlung der
Lesestücke und Schriftstücke von P. Goldscheider und über den deutschen Aufsatz von
P. Geyer an dieser Stelle behandelt; seitdem sind die Deutsche Stilistik von R. M.
Meyer und die Deutsche Verslehre von Franz Saran hinzugekommen, Werke, gleich
bedeutsam an bahnweisenden Forschungen und neuen Gedanken wie an fruchtbaren
Anregungen für einen selbständig gerichteten Lehrer, denn sie erfordern eine gründ¬
liche Arbeit und können für den Unterricht selbst nur nutzbar gemacht werden, wenn
die Fülle des Neuen auf einen wohlbereiteten und empfänglichen Boden in der
Seele des Unterrichtenden fällt.
Was der Herausgeber nun selbst in dem gewichtigen Bande Geschichte des
deutschen Unterrichts (446 S., München, Beck, 1907, 9 Mark) bietet, ist auch
für weitere Kreise von nicht geringer Bedeutung. Was allen seinen Schriften und
Aufsätzen einen so hohen Reiz verleiht, das ist die klare, in sich geschlossene, frei¬
mütige Persönlichkeit; auch hier, wo er meint, er lasse nicht seinen Geist, sondern
den Geist der Zeiten reden und trete selbst hinter dem historischen Stoffe zurück,
verleugnet sich diese schöne Eigenart nicht; überall klingt die persönliche Note mit,
d. i. die in einem kernigen Charakter wurzelnde Überzeugung und die Begeisterung
für eine gute Sache, an der mitzuarbeiten des Schweißes der Edeln wie in frühern
Jahrhunderten so auch jetzt nicht minder würdig ist. Der Stil und die Art des
Urteilens haben so gar nichts Papiernes und Aktenmäßiges an sich, daß man aller¬
wege den Reiz einer aus dem Herzen dringenden Rede genießt.
Es ist immer besonders fesselnd, die Entwicklung eines Gedankens oder einer
Stimmung, eines Motivs durch die verschiednen Zeiten hin zu verfolgen, wie ich
es z. B. mit dem Naturgefühl getan Habe, und wie kürzlich Ccimillo von Klenze
in einer sehr hübschen Publikation der Chicagoer Universität den Sinn für die
Herrlichkeit Italiens in den beiden letzten Jahrhunderten bei Franzosen, Engländern
und Deutschen in seinem allmählichen Werden und in seinen Wandlungen darge¬
stellt hat. So ist es von großem Interesse, aus der Geschichte der Pädagogik
gerade die Entwicklung des deutschen Unterrichts herauszugreifen, denn in dieser
spiegelt sich zugleich die Entwicklung des Nationalgefühls in ihren Niederungen und
in ihren Höhepunkten. Wie lange Jahrhunderte mußte das Deutsche nur Magd¬
dienste verrichten in den „Lateinschulen", und das Römische war unumschränkter
Beherrscher. Kaum war dieses Joch abgeworfen, so erstand im Französischen ein
neuer Tyrann, der besonders die höhern Stände bezauberte, und der unselige Krieg
zertrat die Keime, die sich gerade verheißungsvoll hervorwagten. Wie bezeichnend
ist die Äußerung des Rektors der sächsischen Fürstenschule Se. Afra zu Meißen,
Martius, aus dem Jahre 1726: „Zudem wäre billig nachzudenken, ob nicht zur
Ehre der teutschen Nation und zum Nutzen der Republique die teutsche Sprache
ein bischen mehr in Consideration gezogen und excolirt werden möchte"! Erst am
Ende des achtzehnten Jahrhunderts hat das Deutsche als Unterrichtssprache gesiegt,
aber auch da noch dachte man nur vereinzelt daran, deutsche Schriftsteller in öffent¬
lichen Lehrstunden zu lesen. Erzählte mir doch sogar Theodor Storm noch, daß
zu seiner Schülerzeit auf der Husumer Gelehrtenschule eines damals noch lebenden
deutschen Dichters nimmer gedacht worden sei. Das war ein ganz unbekannter
Begriff; und es gibt auch heute noch verstaubte Gelehrtenseelen genug, für die nur
Wert und Bedeutung hat, was durch ehrwürdiges Alter allem Zweifel entrückt und
geheiligt worden ist, mag es noch so vergilbt und verwittert und leblos sein.
Vortrefflich hat Matthias seinen Stoff gegliedert; an die einzelne Periode
wird ein Rückblick angeschlossen, und die Jahrhunderte werden nach den Richt¬
linien der Grammatik, Orthographie und Stilübungen in Oratorie, Beredsamkeit
und Wohlredenheit, Poetik usw. durchmustert. Mit großer Offenheit bekennt er
im Vorwort, welche Lücken sein Werk behalten mußte, und was er seinen Vor¬
arbeitern verdankt, die er getreulich ducht; trotz ihrer Menge war ein großes Stück
eigner Arbeit zu leisten, und jeder Kenner wird das Geleistete mit Freude und
Dankbarkeit begrüßen. Besonders für das neunzehnte Jahrhundert und für die
Gegenwart war es schwierig, die leitenden Ideen und die führenden Geister aus
der großen Zahl von Reformen und Reformern herauszuheben; er sagt darum
auch: „Wir und die Gegenwart treten in gebührender Bescheidenheit zurück." Er
weiß aber auch, daß neben den Wortführern wie Hiecke, Wackernagel, Laas, Hilde¬
brand usw. jene zurückgezognen Naturen, die in der Schulstube Bedeutendes ge¬
leistet haben, ohne an die Öffentlichkeit zu treten, „nicht selten weit mehr auf der
Höhe der Zeiten gestanden haben als andre, welche die publizierende Feder führten
und mit ihren Leistungen literarisch prunkten; sie haben die Entwicklung des Unter¬
richts dadurch, daß ihr Segen auf die Lernenden überging, sicherlich oft mehr
gefördert als andre, die an die große Glocke zu schlagen verstanden". Doch auch
manches Gedruckte, von der Zeit aber Verdrängte mußte natürlich auch dem
fleißigsten Spürsinn entgehen. So liegt für mich die Sohnespflicht nahe, an
meinen Vater, den Aristoteliker Franz Biese (1803 bis 1895) zu erinnern, den
eigentlichen Organisator des Putbusser Pädagogiums, dessen erster Professor er
von 1836 bis 1878 war; schon von Beginn der Anstalt lehrte er philosophische
Propcideutik und gab 1845 ein —- Johannes Schulze gewidmetes — Handbuch für
diese heraus; was er in der Vorrede sagt, hat auch heute, nach sechzig Jahren,
noch seine Bedeutung oder erlangt sie erst jetzt aufs neue, wo mau sich wieder
darauf besinnt, den Unterricht philosophisch zu gestalten. Da heißt es, so bedeut¬
sames Material Mathematik und Naturwissenschaft für die philosophische Pro-
pädeutik darböten, so sei doch „der deutsche Unterricht von der Art, daß sich hier
die Einwirkung auf das Fühlen und Denken des Schülers und somit auf seine
Gesamtbildung vorzüglich geltend machen könne; hierzu kommt, daß der deutsche
Aufsatz am meisten Gelegenheit bietet, zu prüfen, wieweit alles das, was durch die
einzelnen Unterrichtsgegenstände im Schüler zur geistigen Existenz gekommen ist,
frei von ihm reproduziert und dargestellt wird; hier tritt die subjektive Gedanken¬
welt, wie sie im Schüler Gestalt gewonnen hat, am entschiedensten hervor; daher
es nicht bloß als wünschenswert, sondern auch als notwendig erscheint, daß der
propädeutische Unterricht von dem Lehrer der deutschen Sprache erteilt werde. Die
Wechselwirkung des Lebens und der Wissenschaft, welche für die Propädeutik nie
aus den Augen gelassen werden darf, läßt sich hier besonders an den geistigen
Produkten unsrer vaterländischen Literatur nachweisen, und es bleibt eine besondre
Aufgabe für den Abschluß der Gesamtbildung unsrer Zöglinge, daß sie sich in ein
immer mehr bewußtes geistiges Verhältnis zum deutschen Volk hineinleben, indem
sie in der Literatur als dem Ausdruck des nationalen Geistes die wahre ideale
Heimat ihres Gemüts finden." Das sind Gedanken, die Wohl wert wären, fest¬
gehalten zu werden neben denen Robert Hieckes, der, nur durch den schmalen Arm
der Ostsee von meinem Vater getrennt, doch freundschaftlich mit ihm verbunden,
in Greifswald wirkte. In seiner „Philosophischen Propädeutik" nimmt Franz Biese,
in den Anmerkungen, immer Bezug auf die Geschichte der deutschen Dichtung; er
gab auch ein „Handbuch der Geschichte der deutscheu Nationalliteratur" heraus (Erster
Teil 1846, Berlin, Reimer; Zweiter Teil ebenda 1848). Doch das Größte wirkte
er durch seinen Unterricht (Deutsch neben Griechisch); er eilte damit weit seiner
Zeit voraus; wer das Glück hatte, zu seinen Füßen zu sitzen, wird es nimmer
vergessen; von seinem Geiste ist denn auch manches in das „Deutsche Lesebuch"
meines Bruders Reinhold Biese übergegangen, und ich glaube, seines Geistes Hauch
weht auch in meinen Büchern „Pädagogik und Poesie""); jedenfalls danke ich
ihm immer noch im Geiste, wenn mir eine deutsche Stunde in Prima besonders
gut gelungen ist.
Doch, um nach dieser Wohl verzeihlichen Abschweifung auf das treffliche Buch
von Matthias zurückzukommen, will ich nur noch hervorheben, welche Fülle von
Winken, Anregungen, Mahnungen, Warnungen und Belehrungen die Schlu߬
betrachtungen bieten. Das ganze Buch ist von schönster Pietät gegen die Leistungen
der großen Vorgänger und Vorbilder erfüllt und trägt an der Stirn wie am
Schlüsse das Wort:
Am 17. Juni 1807 wurde der
von Napoleon in Potsdam mitgenommene Degen Friedrichs des Großen rin be¬
sondrer Feierlichkeit dem Hotel des Invalides übergeben. Über das Schicksal dieser
Trophäe ist mau lauge im Zweifel gewesen. Der Mlair, eine der am besten redi¬
gierten französischen Zeitungen, hat schon früher einmal diese Frage behandelt; in
der Nummer vom 15. Juli d. I. geht er noch einmal darauf ein und sucht das
Schicksal des Degens endgiltig festzustellen. Noch 1871 glaubten die Deutschen, der
Degen sei nicht beseitigt worden; denn am 15. Februar verlangte Moltke, daß alle den
deutschen Truppen in frühern Kriegen abgenommenen Trophäen, namentlich der Degen,
das Ordensband und die Schärpe Friedrichs des Große», ausgeliefert würden. Diese
Gegenstände waren aber nicht mehr vorhanden; sie waren, wie jetzt feststeht, schon
1814 in der Nacht des 30. März mit allen erbeuteten Fahnen zerstört worden.
Der damalige Gouverneur des Juvalidenhotels war der Marschall Sörnrier, der
durch den Minister Clarke entsprechende Befehle erhalten hatte. Die jetzt erst be¬
kannt gewordne Antwort Sauriers vom 30. März 1814 lautete: „Ich habe alle
Mittel versucht, den Degen Friedrichs und die Fahnen vor der Wegnahme zu
sichern. Ich glaube, ich kann nichts besseres tun als sie nach Versailles schicken,
falls sie heimlich nach Caen geschafft werden sollen; sie werden cibgehn, sobald sie
eingepackt sind, wofern nicht ein andrer Befehl von Eurer Exzellenz eintrifft.
Sollte ich durch die Zeit zu sehr gedrängt werden, so würde ich alles verbrennen."
Aber schon am Abend war die Straße von Paris nach Versailles durch die Ver¬
bildeten besetzt, und SLrurier schrieb sogleich an den Minister: „Wir können die
Trophäen, die wir besitze», uicht retten. Ich weiß kein andres Mittel, als sie zu
verbrennen, und zwar so, daß nicht eine Spur übrig bleibt." Der Befehl zu dieser
Zerstörung wurde dem General Darnant übergeben. Dieser hatte jedoch Bedenken
und schlug vor, man möchte die Hälfte der Fahnen in seiner Wohnung und in den
leeren Grabstätten des Doms verbergen und den Rest möglichst ostentativ ver¬
brennen; aber sein Vorschlag wurde nicht angenommen. Die Invaliden selbst
mußten bei der Verbrennung Hand anlegen, obgleich sie dagegen protestierten.
?1siM2, insu arai, sagte Darnant zu einem, der selbst eine Fahne erbeutet hatte,
rruüs vbsissons! Der Adjutant Vallerand war beauftragt worden, den Degen
und die Jnsignien Friedrichs des Großen zu vernichten. Er zerbrach die Waffe
in drei Stücke und warf sie in die lodernden Flammen.
Schon am nächsten Tage rückten die Verbündeten in Paris ein, und ein Von
Kaiser Alexander geschickter Adjutant kam in das Jnvalidenhotel und verlangte,
die Standarten zu sehen. Darnant antwortete, daß damit nach Kriegsgesetzen Ver¬
fahren worden sei. Einige Tage später, am 6. April, verlangte der Gouverneur
von Sacken eine genaue Auskunft über den Verbleib der Trophäen, und Darnant
gab unter seinem Eide an, daß sie verbrannt worden seien: I/aicls als oaivx <zus
^'avais snvo^ö clsux lois suMlisr 1s Narsolial Lsrurisr cis w,a> xa.re, rsvint
ra'axxortsi' un orclrs üsi'it se imxsra.til', cis tairs oMsr se clstruirs oss odjsts
si xrsoisux xonr 1s. Aloirs as 1a Melon tiAnoalss. kühles clsstruoticm fut usu
a-ussiM, su xrsssQos als tuis Iss invaliäss c^ni xlsuraisnt Zur 1a. xsrts cis oss
xrsoisux inomirnsuts cis Isui- souraAS se als Isurs viotsirss.
So verschwanden mit dem Degen Friedrichs des Großen die Trophäen der
Siege von Denain, Fontenoy, Jemappes, Fleurus, d'Arcole, Abukir, Zürich,
Marengo, Hohenlinden, Austerlitz, Wagram, Tarragona usw. Im Museum von
Versailles hängt ein Gemälde, das der Maler Dufrenne 1855 im Salon ausgestellt
hatte, und auf dem dieses Autodafe dargestellt ist. Vallerand kniet neben dem
Scheiterhaufen und ist im Begriff, den Degen Friedrichs des Großen zu zerbrechen.
Nur der Degengurt blieb von dem Feuer verschont. Der General Darnant
schenkte ihn der Frau des Gartenchefs im Jnvalidenhotel, und diese machte sich
daraus eine Art von Gürtel — das hätte der alte Fritz wohl niemals für mög¬
lich gehalten. Die Asche und die unverbrennbaren Reste der Trophäen sind in die
Seine geworfen worden; dort liegt also noch der Degengriff der Waffe Friedrichs
Unter diesem etwas romantisch anmutenden Gesamttitel
beabsichtigt der rührige Verlag von W. Langewiesche-Brand in Düsseldorf eine
Serie altbewährter Bücher zum Einheitspreise von 1 Mark und 80 Pfennig heraus¬
zugeben, Bücher, die Anspruch darauf erheben, in jedem deutschen Hause als gute
Freunde und alte Bekannte die beste Aufnahme zu finden. Die ersten drei Bände
der Sammlung liegen uns vor: „Alles um Liebe, Goethes Briefe aus der ersten
Hälfte seines Lebens", „Vom tätigen Leben, Goethes Briefe aus der zweiten
Hälfte seines Lebens", und die Jugenderinnerungen eines alten Mannes
von Wilhelm von Kügelgen. Die beiden Bände Goethischer Briefe können und wollen
nicht als eine vollständige Sammlung gelten, sondern als eine neue Fassung von
Goethes Lebensroman, zusammengesetzt aus den wertvollsten, menschlich interessantesten
seiner Briefe, ergänzt durch Briefe andrer an und über ihn, durch knapp gehaltene,
fortlaufende biographische Notizen und sachlich erläuternde Anmerkungen. Nach des
Herausgebers Wunsch sollen die beiden Bände nicht nur „den Wenigen eine will-
kommne Reminiszenz, den Vielen eine beglückende Offenbarung" sein, sondern auch
ein Kraftquell für alle, denen heute in unvergleichlich bescheidnerer Leistung „die
Kniee zusammenbrechen möchten".
Die „Lebenserinnerungen eines alten Mannes" bedürfen keiner Empfehlung
mehr, sie sind mit ihrer kernhaften deutschen Art, ihrer köstlichen Mischung aus
Gemüt und Humor, ihrer Fülle kultur- und kunsthistorischer Einzelheiten längst ein
Lieblingsbuch unsers Volks geworden. Die vorliegende Ausgabe bietet jedoch wesent¬
lich mehr als die bisherigen: sie ist um eine große Anzahl vortrefflicher Reproduktionen
authentischer Bildnisse, Veduten und Kunstwerke bereichert, von denen manche hier
zum erstenmal weitern Kreisen zugänglich gemacht werden. Und was solche Bilder¬
beigaben bei der Biographie eines Künstlers zu bedeuten haben, braucht wohl nicht
erst hervorgehoben zu werden.
Der Text ist bei allen drei Bänden tadellos, Papier und Druck vorzüglich,
und bei der Wahl der Lettern scheint auf schwache Augen besondre Rücksicht ge¬
nommen worden zu sein. Man fragt sich im stillen, wie der Verlag bei einer
solchen Ausstattung auf seine Kosten kommt, denn wenn auch die Autoren hononarfrei
sind, so werden Papierlieferant, Drucker und Buchbinder doch schwerlich aus Purer
Begeisterung für diese literarischen Schätze auf materiellen Gewinn verzichtet
h
Zur Beachtung
Mit dem nächsten Hefte beginnt diele Zeitschrift das 4. Vierteljahr ihres Vei. Jahr¬
ganges. Sie ist durch alle Buchhandlungen und Postanstalten des In- und Auslandes zu be¬
ziehen. Preis für das Werteljahr « Mark. Wir bitten, die Bestellung schleunig zu erneuern.
Unsre Krser machen wir noch besonders darauf aufmerksam, daß die Grenzboten
regelmäßig jeden Donnerstag erscheinen. Wenn Unregelmäßigkeiten in der Kieferung,
besonders beim Huartalwechsel, vorkommen, so bitten wir dringend, uns dies sofort
mitzuteilen, damit wir für Abhilfe sorgen Können.
Keipzig, im Krptrmb-r 1907 Die Verlagshandlung