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]]> i le Hamburg-Amerika-Linie hat mit dem Gonldschen Eisenbahutrust,
der die Verbindungen zwischen Newyork und Kmisas City be¬
herrscht^ und mit der Stilwellschen Bahngesellschaft, die eine Linie
I von Kansas City nach dem mexikanischen Hafen Topolobampo am
Stillen Ozean baut, eine Verkehrsallianz geschlossen, die ihr dem¬
nächst die Kontrolle über einen fortlaufenden Handelsweg rund um die Erde geben
wird, da sie ihrerseits auch eine Linie von Topolobampo nach Ostnsien einrichten
will und schon Linien von Hamburg nach Ostasien und Newyork im Betrieb hat.
Wenn mich die Vollendung der Stilwellschen Eisenbahn noch einige Jahre dauern
wird, so ist es doch unstreitig ein neues Zeichen von dem weitschauenden Scharf¬
sinn des Generaldirektors Vcillin, daß er es verstanden hat, sich nach vielen
vergeblichen Vertragsverhandlungen mit andern pazifischen Eisenbahngesellschaften
jetzt mit einem Eisenbahnunternehmer zu assoziieren, das voraussichtlich nach
seiner Vollendung eines der wichtigsten in Nordamerika sein wird.
Die Stilwellsche Linie, die den offiziellen Namen Kansas City, Mexico and
Orient Railway führt, wird in Verbindung mit der Gould-Linie die kürzeste
nordamerikanische Verbindung zwischen dem Stillen und dem Atlantischen Ozean
sein, und zwar ungefähr fünfhundert englische Meilen kürzer als irgendeine der
jetzigen Pacisicbahncu. Sie erreicht den Golf von Kalifornien an der Stelle, wo
er in den Ozean mündet. Topolobampo ist der einzige Hafen an der pazifischen
Küste, wo die größten Seeschiffe direkt an die Küste kommen und ihre Ladungen
löschen oder laden können ohne zu leichtern. Der Hafen liegt in einer weiten
natürlichen Bucht, die nach dem Ozean zu eine verhältnismäßig schmale Einfahrt
hat und gegen Winde gesichert ist. In bezug ans die günstige geographische Lage
kann auf dem amerikanischen Kontinent nur Rio de Janeiro mit Topolobampo
verglichen werden. Daß es sich nicht eher zu einem Hafenplatz ersten Ranges
entwickeln konnte, lag allein an der sich zwischen ihm und dem Hinterkante nuf-
türmenden Sierra Madre, die bis jetzt nur auf einigen Saumpfaden und auf
diesen auch nur unter großen Mühen und Gefahren passiert werden kann.
Porfiriv Diaz, der seit einem Menschenalter mit der Staatsklugheit eines
Bismarck die Geschicke der Vereinigten Staaten von Mexiko lenkt, hat dem Stil-
wellschcn Unternehmen seine ganze Gunst zugewandt und ihm, zusammen mit
den mexikanischen Staaten Chihucchua und Sinaloa, deren Gebiet direkt durch¬
schnitten wird, eine Subvention von 3500000 Dollar gewährt, außer sehr wert¬
vollen Bergbaugerechtigkeiten und Holznutzungen. Als Don Porfirio vor dreißig
Jahren den Präsidentenstnhl bestieg, hatte das Land drei Jahrhunderte unter
dem grausamen Regiment der blutgierigen spanischen Unterdrücker geseufzt und
darauf sechzig Jahre Revolutionen und Bürgerkriege und endlich die französische
Invasion mit ihre» Folgen durchgemacht. Von einer mexikanischen Nation
als solcher konnte damals keine Rede sein. Zwanzig verschiedne Staaten, durch
sehr wenig gemeinsame Interessen aneinandergeknüpft, von den verschiedensten
Völkerstämmen bewohnt, standen infolge des Mangels fast jeder Verkehrswege
miteinander kaum in Verkehr. Reisen, sogar zwischen benachbarten Städten,
konnten nicht ohne bewaffnete Eskorte ausgeführt werden. Es herrschten Gewalt
lind Willkür, und die politische Macht lag in der Hand gewissenloser Räuber,
die die immer nur kurze Zeit ihrer Regierung benutzten, sich und die Ihrigen
zu bereichern. Die große Masse des Volkes war unwissend und abergläubisch;
es gab keine Schulen außer deu wenigen, die die katholischen Priester errichtet
hatten. Es gab keine moderne Industrie, und Landwirtschaft und Bergbau
wurden in der primitivsten Weise der Urväter ausgeübt.
Aus diesem Chaos hat ein einziger Mann das moderne Mexiko geschaffen
und in dreißig Jahren vier Jahrhunderte nachgeholt. Es kann allen Anhängern
der utopistischen Theorien, wonach die Masse und nicht die großen Männer die
Geschichte machen sollen, nur empfohlen werden, sich nach Mexiko zu begeben,
nachdem sie vorher die Werke von Humboldt, Prescott und Nichthvfen über die
dortigen Zustände vor 1875 gelesen haben. Kein einziger hat es damals für
möglich gehalten, daß das Land in absehbarer Zeit aus seinem politischen Jn-
triguenspiel herauskommen und sich wirtschaftlich entwickeln könnte. Jetzt ist nur
einer Herr im Lande, und niemand sonst darf sich mit Politik beschäftigen. Die
Sicherheit des Lebens und des Eigentums sind größer als in irgendeiner andern
amerikanischen Republik, die Union nicht ausgenommen, und rücksichtslos pflegt
Don Porfirio durchzugreifeu, wenn sich ein Beamter oder ein Richter erdreistet,
das Recht zu beugen. Die Landwirtschaft hat sich durch große Bewässerungs¬
anlagen quantitativ und qualitativ gehoben, viele neue Industrien sind entstanden,
der Bergbnn exportiert jährlich für 130 Millionen Pesos Produkte. Ein Eisen¬
bahnnetz von 12000 englischem Meilen Länge ist geschaffen und zum größten
Teil unter die Kontrolle der Regierung gebracht worden. Von den Seehäfen
sind Veracruz, Tampico und Cncchacualcos am Atlantischen und Salima Cruz
am Pazifischen Ozean für deu modernen Seeschiffverkehr eingerichtet worden.
Zwischen den zuletzt genannten Häfen liegt der Isthmus von Tehuantepec, dessen
Eisenbahnen jetzt endlich nach jahrelanger Mißwirtschaft des englischen Unter¬
nehmers in einen brauchbaren Zustand versetzt worden sind und darum voraus¬
sichtlich bis zu der in immer weitere Fernen gerückten Eröffnung des Panama¬
kanals eine wichtige Rolle im Transithandel spielen werden, vorausgesetzt, daß
es gelingt, die Sandbarre vor Salima Cruz dauernd zu beseitigen und den tief¬
gehenden modernen Dampfern die Landung zu ermöglichen, ohne daß sie zu
leichtern brauchen.
Viel bedeutender ist aber jedenfalls die Stilwellsche Eisenbahn, da sie nicht
nur auf den Transitverkehr angewiesen ist, sondern die stetig steigende Prodnktwn
des Westens der Vereinigten Staaten von Amerika und Mexikos aufnehmen
wird. Die Linie fuhrt durch die amerikanischen Staaten Kansas, Oklahoma
und Texas und durch die mexikanischen Staaten Chihuahua und Sinaloa,
Kansas City, das zweitgrößte Eisenbahnzentrnm der Union, ist der Sammel-
punkt der ungeheuern und schnellwachsendcn Exportproduktion von Weizen, Mais,
Mehl, frischem Fleisch und Fleischkonserven. Oklahoma und Texas werden ihre
Baumwolle direkt nach China und nach Japan senden können, und die steigende
Nachfrage dieser Länder nach amerikanischen Manufakturwaren, insbesondre nach
Maschinerie, wird der neuen Bahnlinie ebenfalls große Frachten sichern.
Chihuahua ist durch seinen Viehreichtum, aber mehr noch durch seinen Bergbau
vou Bedeutung. In der Nähe der Hauptstadt des Staates desselben Namens
liegt die Santa-Enlalia-Silbermine, die eine der reichsten der Welt ist. In
den Bergen sind ungeheure Strecken Urwald, die infolge der mexikanischen
Konzession vou der Eisenbahngesellschaft zu Schwellen, zu Brennmaterial für
Lokomotiven und zu Grubenhölzern ausgenutzt werden können. Der Bergbau
in der Sierra Madre wird infolge der neuen Eisenbahnlinie aller Voraussicht
nach einen ganz staunenswerten Aufschwung nehmen, da gerade dort viele
Minen sind, bei denen schon jetzt das Vorkommen großer Lager von Kupfer,
Silber, Gold, Blei und andern Erzen festgestellt ist, die nur deshalb nicht aus¬
gebeutet werden tonnen, weil die Erze nicht reichhaltig genug sind, als daß sich
ihr tagelauger Transport ans dem Maultierrücken verlohnte. Nun haben aber
die neuen wissenschaftlichen Methoden die Verhüllung auch der am wenigsten
reichhaltigen Erze ermöglicht. Sobald aber die Eisenbahn den Transport der
für die Hochöfen nötigen Kohle und von Koth zu rentabel» Preisen erlauben
wird, werden überall Schmelzwerke entstehen, um die geringhaltigen Erze an
Ort und Stelle zu verhüllen, während die reichhaltigen Erze nach beliebigen
Orten verfrachtet werden können.
Die Entwicklung der pazifischen Welt wird ebenfalls für die Stilwellbahn
von großer Bedeutung sein. Japans und Chinas Handel mit Amerika ist in
starkem Aufschwünge begriffen, während die Philippinen und Hawai unter dem
belebenden amerikanischen Einfluß an kommerzieller Bedeutung gewonnen haben.
In Australien und in Neuseeland hat sich eine neue Nation gebildet, auf einem
Kontinent, der reich an natürlichen Hilfsquellen ist, und anch diese wird durch
die neue Bahn in nähere Verbindung mit deu Vereinigten Staaten gebracht als
bisher. Dasselbe gilt von der pazifischen Küste von Südamerika und von der
langen Westküste Mexikos, die in den letzten Jahrhunderten zugunsten der Ost¬
küste stark vernachlässigt worden ist, während vordem ein eifriger Handelsverkehr
mit China bestand, der erst jetzt wieder begonnen hat.
Die Vollendung der Bahn wird voraussichtlich wegen der ungeheuern
Schwierigkeiten, die die Sierra Madre bietet, noch mehrere Jahre in Anspruch
nehmen. Die Ingenieure haben die gesamte Länge von 1629 englischen Meilen
vermessen; Teilstrecken der Bahn in Kansas, Oklahoma und Chihuahua sind
schon im Betrieb,
Die Persönlichkeit des Präsidenten Stilwcll, der früher die Bahn von
Kansas Cith nach Port Arthur, einem der Haupthafen des Golfes von Mexiko,
erbaute, bürgt dafür, daß die Bahn so schnell vollendet sein wird, als es der
Stand der modernen Technik und die örtlichen Verhältnisse nnr irgend erlauben.
VN den zahllosen Reisenden, die alljährlich über den Brenner nach
dem Süden ziehn, sind sich nnr wenige bewußt, daß sie einer
uralten, schon seit Jahrtausenden begangnen Straße folgen, ja daß
dieser Paß seit wenigstens einem Jahrtausend der wichtigste aller
lpenpässe geworden ist. Denn erstens bildet er eine der kürzesten
Linien zwischen Deutschland und Italien, sodann überschreitet er nur eine
Gebirgskette, die Zcutralkette, zu der von beiden Seiten tief einschneidende
Qucrtüler den Zugang vermitteln, vom Norden, vom Jnntale her die Sill, vom
Süden die Etsch und der Eisack; weiter ist die Einsattlung so niedrig wie bei
keinem einzigen der großen Pässe westlich des Brenners, denn die Paßhöhe
beträgt nur 1367 Meter, liegt noch unterhalb der Baumgrenze und ist der
Lawinengefahr nicht ausgesetzt; endlich führt die südliche Fortsetzung der Brenner-
straße nicht nur in den fruchtbarsten und reichsten Teil Italiens, die Potiefebene,
sondern auch über den Apennin geradeswegs ins Herz der Halbinsel, und ihre
Bedeutung wird dadurch gesteigert, daß östlich von? Brenner ans einer Strecke
von 150 Kilometern kein einziger fahrbarer Übergang existiert.
Die ersten, die über den Brenner nach Süden zogen, müssen die Räder ge¬
wesen sein, die später zu beiden Seiten der Zentralkette bis nach Verona und
Feltre wohnten, und deren Stammesgenossen, die EtrMer Masenna), bis zum
Anfange des vierten vorchristlichen Jahrhunderts die ganze Mitte der Potiefebene
zwischen den Ligurern im Westen, den (illyrischen) Venetern im Osten, südlich vom
Apennin Etrurien bis zum Tiber beherrschten; sie sind also längs jener großen
nordsüdlichen Linie vorgerückt, und einem der rätischen Stämme, den Breonen,
verdankt der Brenner seinen Namen, Die keltische Sturmflut, die seit dem
fünften Jahrhundert von Westen hereinbrach und den Etruskern das Poland
entriß, schob auch die Räder in das Hochgebirge zurück, nahm ihnen Verona
und Trident, In dieser Abgeschiedenheit aber behaupteten sie sich durch alle
Zeiten, und noch jetzt leben die Namen einiger ihrer Stämme in der Bezeichnung
tirolischer Landschaften fort: der Brenner heißt nach den Breonen, der Eisack
(Jsarcus) nach den Jsarkern, der Vintschgau nach den Venosten, das Nontal
(Val ti Non) nach den Anaunern, Ans dieser Abgeschiedenheit wurden die
Räder erst durch die Ausbreitung der römischen Herrschaft herausgerissen, als
diese um 200 v, Chr, das Keltenland am Po endlich bemeisterte und bis an den
Fuß der Alpen vordrang. Damit trat auch die Brennerstraße allmählich in den
Gesichtskreis der Römer, sehr nachdrücklich, als im Jahre 101 v. Chr. die Cimbern
auf ihr südwärts zogen und das römische Heer, das sie bei Trident erwartete,
zum eiligen Abzug zwangen. Aber erst die fortdauernden Raubzüge der Ruder,
die auch die Anlage der römischen Kolonie Cvmum (Como) veranlaßte, führte
im Jahre 15 v, Chr. zur Unterwerfung Rütiens. Die neue Provinz dieses Namens
reichte im Westen am Südufer des Bodensees bis Tasgcitium (Eschenz) bei Stein
am Rhein, umfaßte also uicht nur das Oberrheintal mit den Tälern des Vorder-
und Hinterrheins bis zum Gotthardstock samt dem Oberengadin, sondern auch
den obersten Teil des Reußwls und das ganze Wallis (Vallis Poenina) bis
an den Genfer See; im Norden dehnte sie sich bis zur obern Donau aus, im
Westen bis an den Jnn und den Ziller. Der Süden des Landes mit den nun
unter ladinischen Recht römisch organisierten Stadtgemeinden Verona, Trident
und Feltria (Feltre) war schon um 89 zum cisalpinischen Gallien geschlagen
und von Rätier losgerissen worden, sodaß die Grenze Rütiens seitdem bei
Klausen an der Etsch verlief. Kaiser Augustus zog endlich jenes ganze Gebiet,
nachdem schon Cäsar 4-9 dein cisalpinischen Gallien das römische Bürgerrecht
verliehen hatte, zu Italien.
Augustus war es auch, der die Brennerstraße eröffnete (Via Augusta).
Sie lief, wie natürlich, von Verona im Etschtcile über Trident nach Klausen,
wo die Zollgrenze war, bog bei Bozen (Bauzanum) in das Eisacktal ein, er¬
reichte, dessen Engen zuweilen umgehend, bei Vipitenum (Sterzing) den Fuß
des Brenners, beiVeldidena (Mitten südlich von Innsbruck) das Inntal. Aber
dessen breiter und damals wahrscheinlich versumpfter Sohle folgte sie nicht nach
Osten zu dem bequemsten Ausgange auf die oberbayrische Hochebene, womit sie
sich, wie die heutige Eisenbahn, jeden weitern Gebirgsübergcmg erspart hätte,
sondern sie zog ein Stück westwärts bis Zirl und erstieg dann die steile Wand der
Scharnitz, um von dort über Seefeld, Mittenwald und Partenkirchen (Partanum)
in möglichst gerader Richtung den Lech zu erreichen, dem sie bis Augsburg
(Angusta Vindelicorum) folgte. Noch erinnert der Name dieser Stadt an die
^eit ihrer Gründung, die vermutlich auf Augustus zurückgeht; gegen Ende des
ersten Jahrhunderts war es die glänzendste Kolonie Rätiens (sxlsncliäisÄnm
un«zeig.s piovinvms oolonm), aber römisches Stadtrecht erhielt es erst später nnter
Hadrianus (117 bis 138).
Sie blieb die einzige römische Stadtgemeinde im ganzen weiten Umfange
der Provinz Rätier, denn diese behandelten die Römer immer nur als Durch-
gangsland, sie haben sie niemals kolonisiert, deshalb blieb hier die alte Völker-
schafts(Gan)einteilung ebenso erhalten wie in Gallien, und die Provinziellen
dienten nicht in den Legionen, sondern in den Provinzialtruppen, den auxiliA,
von denen die Räder wenigstens acht Kohorten formierten; eine Legion, die
dritte italische, legte erst Mark Aurel (161 bis 180) in die Provinz, aber an
ihre Nordgrenze nach Regensburg ((Ästra rsAivg.) am Doncmknie; nur einzelne
kleine Abteilungen lagen an wichtigen Punkten der Brennerstraße. Also erhielt
sich das alte rätische Volkstum. Nach der Väter Weise lebten die Ruder als
Bauern und Hirten in kleinen geschlossenen Dörfern und in zahllosen Einzelhöfen,
besonders in den höhern Lagen, in großen, je nach der Gelegenheit aus Holz
oder Stein aufgeführten Häusern, die Wohnräume, Stall und Scheune unter
einem einzigen, breiten, flachen steinbeschwerten Dache umfassen und noch heute
in mannigfachen Ausgestaltungen die Alpen und ihre nördlichen Vorlande be¬
herrschen; aber sie dehnten die Alpenwirtschaft so weit ans, daß noch heute die
meisten Alpenweiden Tirols rätisch-romanische Namen tragen (eines im deutschen
Tirol zu einem Drittel); auch den Wald haben sie hier und da für neue An-
siedlungen gerötet. Die Schilderung des Lebens einer Talschaft, des Nontales,
aus dem Ende des vierten Jahrhunderts ist wie ein Bild aus dem heutigen
Tirol: ringsum zerstreut auf den Talhüugen wohnen die Bauern und Hirten
von der Viehzucht und in günstigern Lagen vom Ackerbau; das Läuten der
Herden, die Hörner und die Jodler der Sennen hallen von Berg zu Berg und
ins Tal hinab. Der rätische Viehschlng, der einen trefflichen, auch in Italien
geschätzten Käse lieferte, war klein, aber kräftig, auch der rätische, dem germanischen
nächstvcrwandte Pflug erregte die Aufmerksamkeit der römischen Forscher. Ebenso
zäh wie ihre alte Wirtschaftsweise bewahrten die Räder ihre alten Götterkulte,
sogar in Tälern, die politisch zu Italien gehörten, wie die Ancmner im Nontale
noch am Ende des vierten Jahrhunderts, als ringsum alles schon christlich war,
ihrem Saatengott, den sie Saturnus nannten, am 29. Mai ihr Fest mit feierlichen
Prozessionen unter Liedern und Musik zum Saturntempel in Clef begingen.
Diese südlichen Räder sind nun auch wohl früh romanisiert worden, denn
im Noutale sind die römischen Inschriften zahlreich, im übrigen Tirol fehlen
sie fast gänzlich. Trotzdem drang das Lateinische, die Sprache der Verwaltung,
des Heeres und des Verkehrs, allmählich auch hier durch. Die in der Armee
dienenden Roter, die immer außerhalb ihrer Heimat garuisouierteu, wurden
Während ihrer fünfundzwanzigjührigen Dienstzeit gewiß völlig rvmamsiert und
erhielten bei ihrer ehrenvollen Entlassung (nonestg. uüssio) das römische Bürger¬
recht mit einer Landanweisung, bis 212 alle Provinziellen freien Standes in die
römische Bürgerschaft aufgenommen wurden. So wurde ganz Rätier sprachlich
allmählich romanisiert. Sind doch die vorgermanischen Orts- und Flurnamen
des ganzen Landes nur zum kleinsten Teil rätisch, in ihrer Masse romanisch, nur
in einer durch das rauhe rätische Organ und Idiom stark umgestalteten, deshalb
oft schwer erkennbaren Form, wie im Zillertale Bretsall (prato bsllo oder pr^o
as palis), Lamarga (I^irmrog,), Pinaid (xineto), Perdill (pratillo), im Duxer
Tale Gstan (o^Selous), Nisan (rivollo), Vallrng (val as roeoch, im Stubai-
tale Praxmar (?rato as os-hö, irr^lor), Gleirsch (Zlg-riss), Pfurtschell (tdroslla).
Im ganzen sind in dem jetzigen Deutschtirol, in Vorarlberg und in Graubünden
über 1500 Ortsnamen romanischen Ursprungs. Wie sich das Lateinische im
Munde der Roter umgestaltet hat, das zeigen noch heute die ladinischen Mund¬
arten im Enneberg, im Grödner Tal und in Graubünden, und romanisch ist
das südliche Tirol längs der Brennerstraße bis zur Einmündung der None in
die Etsch (bei Mezzo lombardo), wenn auch nicht bis zur alten Provinzgrenze
bei Klausen geblieben.
Wie in Gallien so hat jedenfalls die christliche Kirche, die im ganzen
Abendlande die literaturlosen Volksmundarten ablehnte und nur Lateinisch
sprach, auch in Rätier die Romcmisierung vollendet. Auf der Brennerstraße
ist durch den Verkehr auch das Christentum eingedrungen; der erste Bischofssitz
lag an dieser in Gaben über Klausen (um 550 zuerst erwähnt) und hielt sich
zu Aquileja. Inwieweit die Teilung der Provinz in listig, xriing. mit der
Hauptstadt Chur (Curia) und Rastia ssormäg. mit der Hauptstadt Augsburg
unter dem großen Reformator Diocletianus um 300 n. Chr. mit ihrer Ver¬
stärkung der Beamtenschaft und der Zentralisation die Romanisierung gefördert
hat, läßt sich nicht bestimmen; jedenfalls war das ganze heutige Tirol ein
romanisches Land, als die Germanen hereinbrachen.
Auf der Brennerstraße waren schon im dritten Jahrhundert germanische
Hansen südwärts gezogen: Kaiser Claudius der Zweite schlug die Alamannen
268 am Gardasee. Als um 400 die Militärgrenze an der obern Donan zerfiel,
zogen die ostgotischen, vandalischen und alanischen Scharen des Radagais 404
über den Brenner. Der große Ostgotenkönig Theoderich (489 bis 536), der
oft in Verona, am südlichen Ausgange der Brennerstraße, residierte und danach
in der deutschen Heldensage Dietrich vou Bern heißt, hielt das innere Rätier,
das heutige Tirol und Granbünden, kraftvoll fest und teilte es wieder in zwei
Bezirke, die liÄötia Liuriensis oder Rastia prima. (Graubünden, das Engadin,
Vintschgau und Vorarlberg) mit der Hauptstadt Chur (daher später Churrätien)
und die Rastia ssounäa (das mittlere und östliche Tirol). Auch stationierte
er eine Besatzung in ^uZustMis olauZuris, die sich nicht näher bestimmen lassen
(vielleicht die Schnrnitz), und ein aux kommandierte in Rätier wie in der letzten
Kaiserzeit. Die alte Gauverfassung der Räder hat auch er unangetastet gelassen;
die Vreonen werden eben damals wieder erwähnt als tapfere, aber räuberische
Untertanen, die gelegentlich den Reisenden lästig fielen. Theoderichs unglück¬
licher Nachfolger Vitiges mußte freilich wie Noricum so auch Rätier den Franken
abtreten; um 550 standen die fränkischen Vorposten an der Etsch. Daß sich
Neste der Ostgoten uach dem Untergänge ihres Reichs wie in Oberitalien so
auch im südlichen Tirol erhalten haben, ist ebenso wahrscheinlich wie im einzelnen
schwer nachweisbar. Um dieselbe Zeit hatten sich die Bayern, der Hauptsache uach
die aus Böhmen südwärts gewanderter Markomannen, ans der Donauhochebene
bis an die Alpen ausgebreitet, und von der andern Seite erschienen seit 568
die ihnen verwandten suebischen Langobarden erobernd in Oberitalien. Schon
575 saß in Trident ihr Herzog Evin. Nach ihrer rohen und gewalttätiger Art
machten sie jedenfalls auch in diesem italienischen Teile Tirols wie anderwärts
in Italien die römischen Grundherren zu Hörigen (Micmss) der freien Lango¬
barden, der Arimcmni, die römischen Koloman zu unfreien Malern. Da sie selbst
aber nur als ein wenig zahlreicher Herrenstand im Lande saßen, so verloren sie
auch in Rätier wie in Italien binnen wenig Generationen ihre germanische
Sprache und Nationalität und hielten nur ihr Recht noch jahrhundertelang fest.
Anders die Bädern, ein Volk freier Bauern und Krieger unter wenigen großen
Ndclsgeschlechtern und einem Herzogtum, das ihnen wahrscheinlich die Franken
gesetzt haben. Das dünnbevölkerte, größtenteils menschenleere Land im Norden
der Alpen haben sie nicht erobert — denn es war tatsächlich herrenlos —,
sondern nur besetzt und besiedelt, und nicht anders sind sie in Tirol verfahren,
in das sie teils dem Inntal folgend, teils über die Scharuitz und den Fernpaß
herabsteigend in der zweiten Hälfte des sechsten Jahrhunderts einwanderten.
Sie ließen den romanischen Grundherren zwar nicht ihr Recht, das sie vielmehr
durch das bayrische ersetzten, wohl aber ihren Besitz, sodaß mich die Breonen
bis ins achte und neunte Jahrhundert als gesonderter Stamm fortdauerten; die
Kolonen der geflüchteten oder umgekommneu römischen Gutsbesitzer machten sie
zu zinspflichtigen Hörigen (tributarii, tiibut-ilss) meist des Herzogs, und diesem
fiel außerdem zunächst alles verödete, unkultivierte und herrenlose Land, also
jedenfalls sehr große Strecken von Rechts wegen zu. Diese überließ er größten¬
teils seinen Volksgenossen zur Okkupation (axxriLio) als erbliches Eigentum.
So legten die Bayern überall zwischen den alten rätisch-romanischen Orten ihre
Dörfer, Weiler und Höfe an, die sie meist nach dem Haupte der sich ansiedelnden
Sippe benannten. Sie drangen auch auf der Vrennerstraße rasch vor, die von
rätisch-romanischen Siedlungen ziemlich dicht besetzt war (Veldidena-Wilten bei
Innsbruck, Matrejum-Matrei, Vipitenum-Sterzing, Sabioua-sahen, Prichsna-
Brixen), und schoben zwischen diese bayrische Dörfer ein, wie Steinach und Gossen-
saß (Sitz Gozzos, d. i. Gottfried, nicht etwa der Goten); auch Bozen scheint die
Gründung eines Bayern Banko oder Bcmzo zu sein. Jedenfalls haben sie noch
vor dem Ende des sechsten Jahrhunderts den Südabhang des Brenners erreicht,
denn um diese Zeit stießen sie schon im obern Pnstertal auf der Wasserscheide
der Rienz und der Dram mit den kärntischen Slowenen zusammen, und 678
saß ein bayrischer Graf als Grenzhüter in Bozen. Die Masse der Bevölkerung
blieb freilich längs der Brennerstraße und namentlich in ihren Seitentälern noch
lange romanisch; die Grundbesitzer dagegen waren im Bistum Brixen im zehnten
Jahrhundert, soweit sie in Urkunden als Zeugen erscheinen, alle Deutsche. So
erklärt es sich, daß die Ortsnamen längs der Brennerstraße noch weit nördlich
der heutigen Sprachgrenze ganz überwiegend romanisch sind. Einen Halt fand
das romanische Element jahrhundertelang an dein romanischen Bistum Gaben,
das erst 798 von Aquileja getrennt und zu dem neu errichteten bayrischen Erz¬
bistum Salzburg geschlagen wurde. Wie die Bayern ihre Siedlungsweise und
ihr Recht nach Tirol übertrugen, so auch ihre Verwaltungsformen, vor allem
die Einteilung dieses Gebiets in Gaue. Längs des Brenners erstreckte sich der
Noritalgau, der das Silltal von Steinach ab und das Eisacktal mit Bozen um¬
faßte und kurzweg als der bayrische Gau zu deuten ist, denn der alte Name
der Noriker wurde oft auch auf die Bayern angewandt. Das heutige Tirol
bildete also keineswegs eine Verwaltungseinheit, sondern weiter nichts als eine
Gruppe bayrischer und langobardischer Gaue und ebensowenig eine kirchliche
Einheit, denn neben dein Bistum Brixen, das ungefähr die Mitte des Landes
längs der Brennerstraße umfaßte, stand im Süden Trident, im Westen Chur,
im Nordosten Salzburg.
Dieses kirchlich, administrativ und national so vielgespciltne und auch in
physischer Beziehung nichts weniger als einheitliche Gebiet, das wir heute Tirol
nennen, ist in den Grenzen, innerhalb deren das überhaupt geschehn ist, erst
germanisiert worden, als es mit Bayern ein Teil des Deutschen Reichs geworden
war. Denn damit erst gewann die Brennerstraße ihre volle Bedeutung als die
wichtigste Heerstraße nach Italien. Unter den Karolingern hatte neben den Pässen
der Westalpen der Se. Bernhard und neben ihm der eine oder der andre der
churrätischen Pässe die Hauptrolle gespielt; für die Kaiser sächsischen und frän¬
kischen Stammes kam jener gar nicht, eine der churrätischen Straßen nur wenig
in Betracht; so trat der Brenner in den Vordergrund, er wurde zur eigentlichen
Kaiserstraße des Mittelalters, über den von 144 Heereszügen dieser Zeit 66 ge¬
gangen sind. Den Neigen eröffnete hier Otto der Große, der Begründer der
Kaiserpolitik, der zweimal, 951 und 961, beidemal im August, also im Hoch¬
sommer, 967 im Oktober den Brenner überschritt; dagegen wagte sein Enkel
Otto der Dritte im Jahre 997 den Gebirgsmarsch mitten im Winter, im De¬
zember, ebenso Heinrich der Zweite im Dezember 1021, während dieser seinen
ersten Übergang über den Paß im Jahre 1004 zu Anfang April, den zweiten
im Mai 1014 gemacht hatte. Denselben Weg schlug Konrad der Zweite 1026/27
auf dem Hin- und Rückmarsch ein, denn wieder 1037 im Dezember, ebenso
Heinrich der Dritte beidemal, 1046 und 1055, Heinrich der Vierte 1081 und
1090, Heinrich der Fünfte 1111. Lothar 1132/33 und 1136/37 auf dem Hin-
und Rückmärsche; indem er im November 1137 den winterlichen Paß heimwärts-
ziehend eilig überstieg, zog er von Junten aus die Straße über den Fernpaß,
denn er starb am 3. oder 4. Dezember in Breitenwang bei Reutte. Den Hohen-
staufen lagen von Schwaben aus die chnrrätischen Pässe näher, indes hat auch
Friedrich Barbarossa seine Ritterschaft mehrmals über den Brenner geführt, so
1154, 1158 und 1166, ebenso Heinrich der Sechste im Winter 1190/91, im
August 1209 der Welse Otto der Vierte, Friedrich der Zweite 1236, 1251 Konrad
der Vierte, und schließlich hat auch Konradin, der letzte Hohenstaufe, im Herbste
1267 seinen Todesweg nach Neapel über den Brenner angetreten. Der Sammel¬
platz für die deutschen Aufgebote war dabei gewöhnlich Augsburg. Die Marsch¬
geschwindigkeit überschritt selten zwanzig Kilometer täglich.
Je wichtiger der Brenner für die Kaiser wurde, desto mehr mußte ihnen
daran liegen, die Straße in sichern Händen zu wissen. Da die weltlichen Beamten,
die Grafen, dafür ihrer ganzen Gesinnung nach viel zu unzuverlässig waren, so
vertraute schou Konrad der Zweite diese Ausgabe 1027 den Bischöfen von Trident
und Brixen an, die der König wie alle andern bis zum Investiturstreit tatsächlich
ernannte, seit dem Wormser Konkordat von 1122 wenigstens mit den Reichsgütern
und Neichsrechteu belehnte, indem er jenem die Grafschaften Trident, Bozen und
Vintschgml, diesem die Grafschaft im größten Teile des Noritalgcms übertrug.
Dasselbe Ziel verfolgten die Könige, wenn sie die bischöflichen Güter, die als
Immunitäten von der gräflichen Amtsgewalt befreit waren, durch Schenkung von
Reichsgut tunlichst erweiterten. Das bis dahin wenig bedeutende Bistum Gaben
erhielt schou 901 deu Königshof Brixen (Prichsnci), wohin um 990 der Sitz des
Bistums verlegt wurde, während des elften Jahrhunderts eine Reihe von Be¬
sitzungen an der Brennerstraße (Mauls, Stilfes, Sterzing, Matrei, Willen). Auch
die großen Grafeugeschlcchter, die hier seit dein dreizehnten Jahrhundert erwuchsen,
die von Eppan mit ihren Verzweigungen und die von Tirol (bei Meran), suchten
durch Erbauung fester Burgen einen Anteil an der Herrschaft über die Straße
und namentlich über ihre Zölle zu gewinnen, und deutsch warm auch die mächtigen
Herrengeschlechter im welschen Südtirol, die Grafen von Flavon (Pflaum) in,
Nontale, die Herren von Castelbarco an der Veroneser Klause, von Arco, nördlich
vom Gardasee, vou Lodron, südlich vom Jdrosce. Von diesen reichbegüterten
Familien gingen die Klostergründungen des zwölften Jahrhunderts ans, deren
Lage an der Brennerstraße die zunehmende Wichtigkeit dieser Linie beweist. Um
1140 entstand das Prämoustrateuserstift Wilten bei Innsbruck, um dieselbe Zeit
die Augustiner-Chorhcrreustiftc Neustift bei Brixen und Se. Michael, südlich von
Bozen, 1160/65 Gries bei Bozen, eine Niederlassung desselben Ordens. Denn
diese Klöster waren zugleich Hospitäler für die Reisenden, vornehmlich für die
Nvmpilger, was bei der Gründung von Neustift besonders hervorgehoben wird,
und auch unmittelbar für diesen Zweck wurden Hospize gestiftet, so das zum
Heiligen Kreuz in Brixen vor 1157, ein andres in Klausen nach 1200. So
wenig war damals die Laienkultur auch in dieser Beziehung uoch entwickelt,
daß die Kirche auch für solche weltliche Zwecke aufkommen mußte.
Von diesen Grundherrschaften, weltlichen wie geistlichen, ging die Besiedlung
der noch unkultivierten Landstriche aus, die zugleich eine Germanisierung des
ganzen Eisack- und Etschtales war, denn die Grundherren und das Personal
der geistlichen Stiftungen waren Deutsche, die Stiftungen selbst Kolonien ähnlicher
Ansiedlungen in Bayern. So eroberte der deutsche Bauer, den sie herbeiriefen,
im elften und im zwölften Jahrhundert das ganze Land längs der Brenner¬
straße bis weit über die heutige Sprachgrenze hinaus, das romanische Wesen
in die Nebentäler zuriickdrnngend und sogar manche von diesen ergreifend, eine
Tatsache, die für die Sicherung dieser .'.Kcnscrstraße" von größter Bedeutung
war. Zugleich steigerten Römerzuge und Kreuzfahrten den Verkehr, Die Zölle
wurden wertvoll, die wichtigsten Ansiedlungen erhielten Marktrecht, Innsbruck,
das zuerst 1027 genannt wird, 1188, Vozen in einer nicht bestimmbaren Zeit,
Buxen 1179. Sogar die größern Alpenflüsse mußten dein Verkehre dienen, im
Norden der Jnn, der schon von Innsbruck aus mit leichten, von Hall an auch
mit größern Schiffen befahren wurde, die Jsar und der Lech, auf dem die Augs-
burger ihre Waren (wenigstens talabwärts) beförderten, im Süden die Etsch, deren
Schiffs- und Floßverkehr um 1187 dem Bischof von Trient einen einträglichen
Zoll abwarf. Seine Höhe aber erreichte dieser Verkehr, als 1204 Venedig anstatt
Konstantinopels der Mittelpunkt des Welthandels wurde, und Deutschland, das
bisher von seinen wichtigsten Straßen kaum berührt worden war, fast urplötzlich
in seinen Zusammenhang hereingezogen wurde. Keine Straße wurde dafür so
wichtig wie der Brenner, für den größten Teil Deutschlands der kürzeste Weg
nach dem Süden. Hier entstand deshalb schon vor 1223 das deutsche Kaufhans,
der Fondaco dei Tedeschi am Rialto, dicht an der Nialtobrncke, in dem Mittel¬
punkte des venezianischen Verkehrs, wo die deutschen Kaufleute ihre Kondore,
Warenlager und Wohnzimmer hatten, von der venezianischen Signoria in jeder
Weise begünstigt, und Venedig wurde für mehrere Jahrhunderte die.Hochschule
für die jungen süddeutschen Kaufleute, wie Jakob Fugger (seit 1473), den Be¬
gründer der Größe seines Welthauses, eine beneidenswerte Schule, wie sie sonst
niemals existiert hat, denn mit dem Getriebe eines Welthcmdelsplatzes vereinigte
sich hier die glänzendste Blüte der Kunst und der feinsten Bildung. So lebhaft
war dieser Verkehr, daß Nngsbnrg schon im vierzehnten Jahrhundert eine regel¬
mäßige Neitpost (Ordinaripost) einrichtete, die auch Reisende mitnahm und deren
Leute vom Rate bestellt wurden, auch eine Zunft bildeten. Für deu Transport
der Waren bestand zum Beispiel in Mittenwald an der Straße über die Scharnitz
eine privilegierte Zunft von Fuhrleuten, die sogenannte Rott; sonst gingen die
Waren gewöhnlich in großen Wagenzügen oder auf Saumtieren. Seitdem gegen
Ende des dreizehnten Jahrhunderts die Grafen von Tirol den größten Teil
dieses Gebirgslaudes unter ihrer Herrschaft vereinigt hatten, sorgten sie klug und
energisch für die Sicherheit und die Erhaltung oder Verbesserung der Straßen.
So gewährte Herzog Otto 1309 den Ulmer Kaufleuten freien Durchzug und
"hernahm mit seinen Brüdern Ludwig und Heinrich die Versicherung aller durch
Tirol gehenden Waren; Heinrich machte sich besonders durch Verbesserung der
Brennerstraße zwischen Brixen und Bozen verdient. Nun entwickelte sich in den
wichtigsten Verkehrsstätten die bürgerliche Selbstverwaltung, Innsbruck erhielt
1239 Stadtrecht, Bozen 1286, Sterzing (bis dahin ein Dorf) am Ende des drei¬
zehnten Jahrhunderts, Meran 1317; Trient rang schon seit dem zwölften Jahr¬
hundert mit seinem Bischof um eine freie Stadtverfassung und erhielt eine solche
noch vor 1275; doch stammt die älteste Aufzeichnung des Stadtrechts erst aus
dem Jahre 1363 (der deutsche Text ist aber eine Übersetzung, nicht das Original),
Kaum waren die Städte selbständige Gemeinden geworden, so hüteten sie auch
eifersüchtig ihre Stapelrechte, die ihnen das Vorkaufsrecht bei allen durchgehenden
und eine bestimmte Zeit in ihren Mauern lagernden Waren sicherten, und nicht
minder die Einhaltung der durch sie führenden Straßen, So erwirkte Bozen
von Karl dem Vierten das Verbot einer Nebenstraße aus dem Vintschgau, die
mit Umgehung dieser Stadt von Meran her über Eppan und Traum führte.
Auch die Habsburger, seit 1363 Herren Tirols, sorgten eifrig für Straßenver¬
besserung und Verkehrssicherheit. Die Herzöge Friedrich und Ernst versprachen
1410 den schwäbischen Reichsstädten sicheres Geleit durch Tirol, 1425 wurde
durch einen Vertrag mit Bayern die Grundruhr auf dem Jnn (eine Art Strand¬
recht) aufgehoben, unter Herzog Sigismund (geht, 1496) geschah vieles zum
Ausbau der Brennerstraße.
Die Römerzuge waren freilich längst zu Ende. Noch überschritt Ludwig
der Bayer im zeitigen Frühjahr 1327 den Brenner, aber das war der letzte
Römerzug alten Stils, und der letzte deutsche König, der überhaupt den Paß
überschritt, um sich die deutsche Kaiserkrone zu holen, war Maximilian der Erste
1508, aber er kam nur bis Trient. Als Karl der Fünfte im Jahre 1530 von
Italien her über den Brenner nach Augsburg zog, war er schon (in Bologna)
zum Kaiser gekrönt. Statt dessen wuchs der Handelsverkehr und erreichte um
1500 seine glänzendste Höhe. Damals (1505) wurde der Fondaeo dei Tedeschi
in Venedig nach einem Brande in erweiterter und prächtiger Gestalt erneuert,
und zugleich wuchs der Geldverkehr Deutschlands mit Rom, da es am meisten
zu regelmäßigen und außerordentlichen Leistungen der Kirchen wie des Volks
(dnrch Ablässe) an die päpstliche Kammer herangezogen wurde. Jene Abgaben
(Annalen u. tgi,) mußten, auch wenn sie teilweise aus Naturalien bestanden,
des Transports wegen in Geld umgesetzt werden. Diesen übernahmen Kaufleute,
die mit den nordischen Ländern zu tun hatten, anfangs die Florentiner, später
die Fugger von Augsburg, die schon 1471 in Rom auftraten, seit 1495 eine
Bank dort hatten, weil sie ihr tirolisches Silber gern an die päpstliche Münze
absetzten, die sie einige Jahre (etwa von 1509 bis 1515) sogar in Pacht hatten.
Bald trat an die Stelle des umständlichen und gefährlichen Metalltransports der
Wechselverkehr, und ein umfängliches Anleihegeschüft kam hinzu. Auch italienische
Prälaten zogen nicht selten nach dem Norden, so im Ma 1517 der Kardinal
Ludwig von Aragon im Auftrage Leos des Zehnten, der dabei von Verona bis
Augsburg vierzehn Tage brauchte (11, bis 25, Mai).*) Dieser rege Verkehr über
den Brenner führte schon unter Kaiser Friedrich dem Dritten zur Einrichtung
einer staatlichen Post durch Franz von Taxis ans Bergamo, der zuerst 1491
als kaiserlicher Postmeister in Innsbruck auftritt. Unter seinem Nachfolger und
Oheim Gabriel (1500 bis 1529) erschien 1523 die erste Postordnung, die zwischen
Augsburg und Trient zwölf Stationen nennt; 1533 wurde der PostVerkehr auch
auf der Linie Trient -Venedig eingerichtet. Die reitenden Postboten bildeten nach
mittelalterlicher Weise eine Bruderschaft (in Innsbruck). Auf jeder Station standen
Pferde für sie und die Reisenden bereit, denn zu Pferde bewegte sich der ganze
PostVerkehr, der im wesentlichen Briefe beförderte. Zur Orientierung gab es
schon gedruckte Neisekarten und für die Beherbergung schon seit dem dreizehnten
Jahrhundert überall Gasthöfe. Neben den Warenzügen, den Kaufleuten und den
Pilgerscharen aber (unter ihnen auch Luther 1511) zogen zahlreiche junge Deutsche
über den Paß, zuerst, um das römische Recht in Padua oder Bologna zu studieren,
später, bis tief in das sechzehnte Jahrhundert hinein, um zu den Füßen italienischer
Humanisten zu sitzen oder bei italienischen Künstlern zu lernen. Auch Heereszüge
sah der Paß wühreud der italienischen Kriege Karls des Fünften noch häufig
genug, und die italienischen und spanischen Truppen, die ihm 1546 gegen die
Schmalkaldner zu Hilfe zogen, marschierten über den Brenner, über den er selbst
im Mai 1552 vor Moritz von Sachsen nach dem Pnstertale flüchtete.
Erst im Spanischen Erbfolgekriege wurde der Brenner militärisch wieder
wichtig, als 1703 die Franzosen versuchten, von Italien aus die Verbindung mit
ihren bayrischen Verbündeten herzustellen, die das Inntal heraufkamen. Der Ver¬
such scheiterte am Widerstande des tirolischen Aufgebots am Brenner. Als aber
das Herzogtum Mailand, die Lombardei, mit dem Frieden von Utrecht 1711, der
jenen Krieg beendete, österreichisch und Tirol dadurch zu einer mächtigen Gebirgs-
bastion gegen Oberitalien geworden war, da wurde der Brenner das große Aus¬
falltor nach der Potiefebene, wo immer die Geschicke Italiens entschieden worden
sind. Daneben flutete ein reger friedlicher Verkehr, an dem auch die kirchlichen
Beziehungen noch einen großen Anteil hatten. Als I. I. Winckelmann am
6. Oktober 1755 in Augsburg ankam, fand er lange keine Fahrgelegenheit nach
Rom, eine Reise, für die man damals dreißig Dukaten zahlte, denn die Jesuiten,
die zur Neuwahl eines Generals dorthin reisten, hatten alles mit Beschlag
belegt. Die Straße und die Quartiere fand schon Winckelmann vortrefflich. 1772
wurde die Brennerstraße, zuerst von allen Alpenpässen, durchgängig chaussiert
und damit die bevorzugte Straße aller derer, die das neuerwachte Interesse
an antiker und italienischer Kunst nach Italien zog. Wie diesen Weg schon
I. I. Winckelmann gekommen war, so folgte ihm W. Goethe im September 1786;
er brauchte von München bis Trient nur drei Tage (8. bis 10. September), wobei
er allerdings eine Nacht zu Hilfe nahm. In den Napoleonischen Kriegen spielte
die Brennerstraße besonders während des Kampfes um Mantua 1796/97 als
Anmarschstraße für die Österreicher eine hervorragende Rolle, eine noch größere
1309 bei der Erhebung Tirols, bereu Kämpfe sich nicht zum wenigsten an dieser
Linie abspielten; eine ähnliche Bedeutung wie 1796/97 hatte sie wieder 1848/49,
um so mehr, als Österreich seit der endgiltigen Erwerbung Veneziens 1815 alle
ihre südlichen Ausgänge in der Hand hatte. Den letzten großen Heereszug sah
sie im Mai 1859, als das erste österreichische Korps Clam-Gallas, das auf dem
ungeheuern Umwege von Prag über Dresden, Leipzig, Hof und München nach
Innsbruck transportiert worden war — so unvollständig waren.damals noch
die Eisenbahnverbindungen —, den Fußmarsch über den Brenner antrat, um
die in der Lombardei stehende Armee zu verstärken. Es traf noch rechtzeitig in
Bervua ein, um die Schlacht bei Magenta am 4. Juni mitzuschlagen, aber die
Erfcchrnngen dieses Krieges beschleunigten die Erbauung der Brennerbahn, der
ersten großen Alpenbahn nach dem Semmering 1864 bis 1867. Da sie 1866
noch nicht vollendet war, so hat sie auf den Gang dieses letzten Krieges, den
Österreich um Italien führte, leinen Einfluß geübt, aber seitdem ist sie die wichtigste
und belebteste Verbindungslinie zwischen Deutschland und Italien und eine wahre
Welthandelsstraße geworden.
Sinkens ist einer der ehrwürdigen Männer, die mir das Priester-
ideal verkörpert und mich dafür begeistert haben, und er hat das
im akademischen Triennium mehr als irgendein andrer geleistet.
Darum freue ich mich, daß mir eine Biographie noch einmal die edle
I Gestalt lebendig vor Augen vorstellt in dem Buche: Joseph Hubert
Reinkens. Ein Lebensbild von seinem Neffen Joseph Martin Reinkens,
weiland Professor am Marzelleughmnasinm zu Köln. (Mit Porträt. Gotha,
Friedrich Andreas Perthes, 1906. Der Verfasser ist gestorben, ehe er dem
Buche die letzte Feile geben konnte. Reinkens Nachfolger, der altknthvlische
Bischof Dr. Theodor Weber, hat es mit einen: Vorwort herausgegeben und ist
bald darauf, am 12. Januar dieses Jahres, selbst entschlafen.) Auch Grenzboten-
lescr, die den Manu auf einer seiner vielen Agitations- und Amtsreisen zu sehen
und zu hören bekommen haben, werden sich freuen, etwas aus seinem Leben zu
vernehmen. Ich habe ihn als Student nur im Kolleg und in der Kirche kennen
lernen, ohne des Glücks eines persönlichen Umgangs mit ihm teilhaft zu werden,
dann hat sich in zwei kurzen Perioden ein Verkehr entsponnen, der aber fast
ausschließlich schriftlich verlaufen ist und in der zweiten den amtlichen Charakter
getragen hat. Darum war mir alles neu, was Martin Reinkens aus der Jugend¬
geschichte des Bischofs erzählt und über sein häusliches Leben berichtet.
Seine Eltern entstammten einem Bauerugeschlecht der Aachener Gegend,
das den Nachkommen hohe Statur, edle Gesichtsbildung und reiche Geistes- und
Herzensanlagen vererbt hat. Der Vater besaß in Burtscheid ein Haus mit
Garten, worin er Brennerei und Gastwirtschaft betrieb. Von den sechs am
Leben gebliebner Kindern war der 1821 geborne Joseph Hubert das sechste.
Der älteste Bruder, Dr. Franz Wilhelm Reinkens, hat als Pfarrer in Bonn ein
Buch: „DaS Paradies der Kindheit" herausgegeben, worin er schreibt: „Die
Kinder wuchsen ans vor den Angen des weisen und trefflichen Vaters in Arbeit
und Gebet, in harmlosen Freuden und viel jungritterlichen Spielen; sie hatten
alles miteinander gemeinsam, Blumen, Wälder, Vogelherde, Freunde. Der
Vater . . . gebot mit jener Würde, die keinen Widerspruch findet, weil sie keinen
fürchtet. Unvermerkt wandelte sich uns die Folgsamkeit der Ehrfurcht in den
fröhlichen Gehorsam, in die freie Tat der Liebe. Die Mutter war immer heiter,
immer freundlich, aber nie lustig. Das Kreuz war ihr Zepter, viel Leid hatte
sie ehrwürdig gemacht. Mutter und Vater waren ein Herz und eine Seele.
Nie waren zwei Menschen einander so gleich in ihren Anschauungen, Wünschen
und Absichten, und waren doch von Hans aus sehr verschieden." Joseph schreibt
am 24. Dezember 1850 aus Breslau an seineu Bater: „Die lieblichste Er¬
innerung an die Heilige Nacht geht bis an die ersten Jahre meiner .Kindheit
zurück. Ich danke Ihnen besonders, guter Vater! daß Sie mich so früh zur
rechten Krippe in die unvergeßliche Christmesse um vier Uhr geführt haben, ohne
durch die törichte Besorgnis so vieler Eltern, der frühe Kirchgang schade der
Gesundheit der Kinder, sich abhalten zu lassen. Als ich das erstemal diese
Freude haben sollte, war die selige Müller dabei >sie war 1836 gestorbens,
es muß in meinem vierten bis sechsten Jahre gewesen sein. Die Nacht war
sternenhell, der Schnee funkelte, die Kirchenfenster hell erleuchtet, wie ich sie nie
vorher gesehen hatte, die Glocken hatten nie so reinen Klang gehabt, viel schöner
noch hörte ich im Geiste den Engclgesaug, von dem die Mutter so schön erzählte,
als hätte sie mitgesungen. Das vergeß ich nie, und auch nicht die Stimmung,
in der wir da beten konnten." Wilhelm durfte studieren und konnte als Kaplan
in Bonn die Schwester und die zwei jüngsten Brüder zu sich nehmen, aber für
Martin, der später Kaufmann geworden ist, und Joseph Hubert, die beide nicht
weniger begabt waren, langte eS nicht mehr, weil die Familie von allerlei Un¬
glück heimgesucht wurde. Das Besitztum mußte verkauft werde», und die beiden
Knaben, die bei dem Vater geblieben waren uno ihm bei der Bewirtschaftung
gepachteter Gärten, iiainentlich beim Kardenbau, geholfen hatten, faßten einen
heldenhaften Entschluß: der durch all das Unglück gebrochne Vater sollte sich
zur Ruhe setzen, und sie wollten ihn mit ihrer Hunde Arbeit ernähren. Das
haben sie denn auch als Gärtnerburschen und Feinspinner eine Zeit laug getan.
Aber ein Freund der Familie, der Pfarrer Hüllenkremer, konnte es nicht mit
ansehen, daß das Talent Josephs verkümmere. Er sorgte für Unterricht und
Anleitung — eigentlich nur diese war nötig —, und nach der Bewältigung der
Anfangsgründe trat 1840 der Neunzehnjährige in die Quarta des Aachener
Gymnasiums ein, das er nach glänzend bestandnen Abiturientenexamen am
28. August 1844 verließ, um in Bonn Theologie und klassische Philologie zu
studieren; diese mit solchem Erfolg, daß er ein Lieblingsschüler Ritschls wurde.
Diesem, der mittlerweile nach Leipzig übergesiedelt war, schickte Reinkens 1870
sein Buch: „Aristoteles über Kunst, besonders über Tragödie." Darauf schrieb
ihm Ritschl, er wünsche nur, die Welt möchte es erfahren, daß ein solches Werk
mittelbar aus dem Bonner Seminar hervorgegangen sei. „Sehr möglich, fügte
er bei, daß Ihre moralische Tapferkeit in den weltbewegenden Kirchenkämpfen
Ihnen weltliche Unbill als Lohn zuzieht! Aber ein Mann wie Sie findet
überall und jederzeit seinen Platz, und so ist mir auch im schlimmsten Falle
nicht bange um Sie. Jede philosophische Fakultät würde Sie mit offne»
Armen aufnehmen." Wenig Monate später meldete sich Reinkens zur Doktor¬
promotion in Leipzig. „Nischt schrieb, er könne wohl zum Doktor donoris Lg,usa
ernannt werden. Reinkens wollte das nicht annehmen; er habe sich in seinem
ganzen Leben nichts schenken lassen, sondern alles rite» erworben. Seine Be¬
denken wurden jedoch durch Hinweis auf die Universitätsstatuten gehoben, und
am 22. Februar 1871 konnte Ritschl seinem »lieben, tapfern, treuen Freunde«
mitteilen, daß der Wunsch erfüllt sei. Am 8. März teilte der Dekan der philo¬
sophischen Faknltüt dem funfzigjährigen Doktoranden mit, daß die Fakultät ihn
einstimmig in die Reihe der Doktoren der Philosophie aufgenommen habe, und zwar
boiuZW os.u»a, wie es sich bei einem Manne von seinem wissenschaftlichen und
sittlichen Werte gebühre." Im Diplom lautet die Begründung verdeutscht: „Weil
er sich durch unverdrossenen Unterricht der Jugend um die akademischen Studien
wohlverdient gemacht und durch eine Fülle gelehrter Bücher nicht nur die
theologische, sondern auch die philosophische und die philologische Literatur be¬
reichert und mit ganz besonderm Fleiße die Lehre des Aristoteles über Kunst
und Tragödie in lobenswerter Weise beleuchtet hat, kürzlich aber als tapferer
Beschützer und feuriger Vorkämpfer der Wahrheit, der gesunden Vernunft und
der vernunftgemäßen Freiheit in der Kirche hervorgetreten ist."
Zu den Gaben, mit denen die Reinkens, und Joseph vor allen, ausgestattet
waren, gehörten lebhaftes Naturgefühl, poetische Anlage und glücklicher Humor.
Von diesem hat er in Altkatholikenversammlungen oft Gebrauch gemacht, indem
er über Verstimmungen und peinliche Situationen mit einem Scherzworte hin¬
weghalf. Von seinen religiösen Liedern sind fünf in Vrosigs Gesangbuch für
die Breslauer Diözese aufgenommen worden. In Versen abgefaßt und ver¬
öffentlicht wurden: „Clemens von Rom, nebst drei kleineren Legenden" (von
Eichendorff sehr günstig beurteilt) und ein episches Gedicht: „Das Sommerkind
oder der Grund der Völkerwanderung." Ein Epos „Magdalena" ist un¬
vollendet geblieben. Eine Menge lyrischer Gedichte ist im handschriftlichen Nachlaß
gefunden worden, von denen der Neffe ein paar sehr schöne Proben mitteilt.
Bei Lebzeiten des Dichters hat ein Freund die damals vorhandnen, ohne den
Namen zu verraten, an Geibel gesandt. Dieser antwortete am 2. März 1864:
„Ich habe die mir übersandten Gedichte mit Vergnügen gelesen. Sie zeugen
von dem poetischen Sinne des Verfassers und von einer großen, fast frauen¬
haften Zartheit und Innigkeit der Empfindung. Dennoch ist mir in den mit¬
geteilten Stücken keine so neu und bedeutend ausgeprägte Dichtereigentümlichkeit
entgegengetreten, daß ich Ihren Freund in eine Öffentlichkeit hinausdrängen
möchte, die ihm selbst nicht Bedürfnis scheint, zumal in einer Zeit, die, in allen
Tiefen aufgeregt, neben dem Zarten und Anmutigen auch das Gewaltige und
Schwertscharfe fordert und zu fordern berechtigt ist." Zu beweisen, daß er auch
eine scharfe Klinge zur Verfügung habe, dazu hat ihm jn bald darauf der Kampf
gegen Rom die Gelegenheit verschafft; aber in Versen freilich konnte die theo¬
logische Polemik nicht geführt werden. Doch eine witzige Satire auf die zor¬
nigen Heiligen zeitigte sie: „Vademekum für angehende Theologen, von Christian
Franke." Ein Stück Idyll, das seine Naturliebe und seinen poetischen Sinn
befriedigte und das Paradies seiner Kindheit erneuerte, wußte er sich als Bischof
zu schaffen. Er kaufte ein Haus mit einem großen Garten, das ihn freilich in
Geldsorgen verwickelte, weil die Ersparnisse, die er in seiner kurzen Professoreu¬
laufbahn hatte macheu können, ganz unbedeutend waren. Jn diesem Garten
nun brachte er alle Zeit zu, die ihm sein Amt übrig ließ; auch arbeitete er dort.
Was sich irgend im Garten machen ließ, das erledigte er darin. Die Rosen¬
stöcke und die Sträucher beschnitt er selbst, und seine liebsten Freunde, die Vögel,
lockte er mit den in der Knabenzeit eingeübten Pfiffen hinter sich her. Vögel
waren die einzigen Tiere, die er leiden konnte; mit den Katzen der Nachbarschaft,
die seinen Lieblingen nachstellten, führte er Krieg, und an einer soll er zum
Mörder geworden sein. Das Hauswesen führte ihm zuerst die Schwester, dann
eine Nichte. Beide gingen ihm, zu seinem großen Schmerz, im Tode voran.
Wie er sie geliebt hat, bezeugte er durch die Bestimmung, daß ihn und sie ein
gemeinschaftliches Grab aufnehmen sollte, was denn auch geschehn ist. Obwohl
ihm sein poetischer Sinn und seine Meisterschaft in der Gestaltung von Lebens¬
bildern — seine Hauptwerke sind solche — die Romanlektüre nahelegte, mochte
er sich doch diesen Genuß, auch wenn ihm einmal Zeit dafür zur Verfügung
stand, nicht gönnen. Erst in den Abendstunden seiner letzten Lebensjahre hat
er sich „Zwei Städte" von Dickens und Reuters „Stromtid" vorlesen lassen.
Des Abends versammelten sich gewöhnlich einige Freunde bei ihm. In der
mener gehaltvollen Unterhaltung bewahrte er ebenso wie bei der Leitung von
großen Versammlungen, von Synoden und Kongressen jene bewundrungswürdige
Ruhe und Selbstbeherrschung, die ihn zum Präsidenten eines Parlaments aus¬
gezeichnet befähigt haben würden. Wenn in der freundschaftlichen Diskussion
seine Opponenten einmal laut und heftig wurden, verstummte er, und äußerte
man sein Erstannen darüber, so bemerkte er bloß: „Ihr laßt mich ja nicht reden,
oder: Wer heftig wird, hat Unrecht."
Wie ich über die Krisis von 1870 und über den Altkatholizismus denke,
habe ich ausführlich dargelegt; nur einiges Anekdotische und Episodische, das
Reinkens betrifft, soll bei dieser Gelegenheit nachgetragen worden. Wenn die
Vorsehung eine Wendung beschlossen hat, müssen auch die Widerstrebenden, und
gerade diese, ihren Zwecken dienen. Die Vorsehung hatte den vorläufigen Sieg
der jesuitisch-ultramontanen Richtung in der katholischen Kirche beschlossen — ohne
Zweifel, um sie N-bsurärwi zu führen, wie jetzt durch den Abfall Frankreichs
offenbar zu werden beginnt —, und gerade die Jesuitenfeinde unter den deutschen
Theologen haben diesen Sieg vorbereitet. Männer wie Baltzer und Döllinger
haben in Tausenden von angehenden Geistlichen, und durch diese in Millionen
deutschen Katholiken, die Ehrfurcht vor dem Papste und den Gehorsam gegen
ihn so fest begründet, daß sie sich allein sahen, als sie gegen den Papst Front
machten. Die Masse hat sie einfach nicht verstanden. Von den wissenschaftlich
Gebildeten geriet nur ein Teil in Verwirrung und vorübergehend ins Schwanken.
Was Reinkens betrifft, so irrt zunächst der Verfasser der Biographie, wenn er,
auf die Berichte von Verehrern gestützt, glaubt, jener sei, ehe die fanatischen
Denunzianten ihr Verhetzuugswerk begannen, in Breslau allgemein beliebt ge¬
wesen. Nur eine Minderheit der Studenten, zu denen ich gehörte, verehrte ihn.
Seine auffüllige Schönheit und seine bezaubernde Liebenswürdigkeit, Anmut und
heitere Freundlichkeit gaben ihm, wie Geibel auch ganz richtig aus seinen Ge¬
dichten herausgelesen hat, etwas Frauenhaftes, und seine Herzensreinheit ließ
ihn als unschuldiges Kind erscheinen. Damals war er einunddreißig bis vier¬
unddreißig Jahre alt. Die Sorgen, Kämpfe und Bitterkeiten der spätern Zeit
haben diese Eigenschaften hinter dem männlichen Ernst, gelegentlicher Strenge
und der einem hohen Amt ungemessenen würdevollen Haltung zurücktreten lassen;
aber als sie sich noch ungehemmt entfalteten, wurden sie von den gemeinern und
gröbern Naturen, die doch überall die Mehrheit ausmachen, für Koketterie ge¬
halten, und das Schwärmen vornehmer Damen für ihn verbesserte diese Meinung
nicht. Daß es der Zauber seiner Persönlichkeit und nicht die göttliche Gnade
gewesen ist, was so manche Protestantin durch ihn in den Schoß der katholischen
.Kirche geführt hat, davon hatte er sicherlich in seiner Unschuld keine Ahnung.
Auch seine Predigten fanden nicht so allgemeinen Beifall, wie sein Neffe glaubt.
Reinkens hat später als Bischof seine jungen Geistlichen zur fleißigen Vor¬
bereitung auf die Predigt ermahnt und ihnen gesagt, er selbst habe als Dom¬
prediger in Breslau jede Predigt schriftlich ausgearbeitet und memoriert. Das
mag er getan haben, so oft er die Zeit dazu hatte, aber in den drei Jahren,
wo ich ihn gehört habe, hatte er sie oft nicht, und das merkte man. Er
sprach manchmal zögernd, verwickelte sich, rang nach dem Ausdruck, Er war
damals überbürdet. Er mußte den wegen seines Prozesses in Rom weilenden
Dogmcitiker Baltzer vertreten, obgleich Dogmntik gar nicht sein Fach war, und
daneben sein Fachkollegium, Patristik, lesen. Damit der mittellose Privatdozent
und spätere mit 200 Talern besoldete Extraordinarius leben könne, hatte ihm
der Fürstbischof Diepenbrock eine kleine Dompfründe gegeben mit der Verpflich¬
tung, im Dome Beichte zu hören, an allen Festtagen zu predigen und den Dom-
prediger anch an Sonntagen zu vertreten, wenn er verhindert sei. Förster war
nun während Diepenbrocks Krankheit und nach dessen Tode als Bistumsver¬
weser immer verhindert, machte, nachdem er zum Bischof gewählt worden war,
seinen Liebling Reinkens zu seinem Nachfolger auf der Domkanzel und befreite
ihn erst nach einiger Zeit wenigstens von den Festtagspredigten. Reinkens
Beichtstuhl aber war immer so umlagert, daß er oft viele Stunden lang sitzen
mußte, und dazu käme» dann noch der Kouvertitenunterricht und die Vorver¬
handlungen mit Konvertitinnen, die abzukürzen eine Eigenschaft notwendig ge¬
wesen wäre, die Reinkens am fernsten lag: Grobheit. Also mit der Vorbereitung
mag es manchmal gehapert haben. Übrigens füllt es einem noch ungeübten
Prediger auch bei fleißiger Vorbereitung schwer, mit dem zu wirken, was Försters
Predigten ausgezeichnet hatte: jede war ein stilistisches Meisterwerk gewesen
und mit virtuoser Kunst vorgetragen worden, ohne daß der Eindruck durch
Stockungen, Unsicherheit, Versprechen gestört oder abgeschwächt wurde. Für ein
großes Publikum ist dieses Formelle das wesentliche, wie ich selbst später ans
eigner Erfahrung inne geworden bin. Aber anch abgesehen von Mängeln der
Form und des Vortrags konnten die Predigten von Reinkens einem großen ge¬
mischten Publikum nicht zusagen; dazu waren seine Gedanken — wieder im
Gegensatz zu dem das Gewöhnliche nirgends übersteigenden Inhalt der Försterschen
Predigten — zu fein und zu tief, und die vielen Stellen aus den Paulinischeu
Briefen, mit denen er sie durchwebte, machten sie nicht verstündlicher. Sem Nach¬
folger, den ich an Festtagen einigemal gehört habe, hat der Domkirche die ge¬
wöhnliche Fülle wieder zugeführt, obgleich er nichts als hausbackue Trivialitäten
gab. (Die großen Breslauer Kirchen, die katholischen nämlich, sind von meiner
Studentenzeit an bis heute immer überfüllt gewesen, und zwar nicht etwa bloß
von Frauen; die Männer und die jungen Burschen kommen ebenso zahlreich wie
die Frauen und die Mädchen.) Als ich Kaplan in Schöimu war, erschien ein¬
mal ein Fastenhirtenbrief, der, wie man auf den ersten Blick erkannte, nicht
Förster, sondern Reinkens zum Urheber hatte. Die Pfarrer schimpften furchtbar
über den „unverständlichen gelehrten Quatsch", und manche haben ihn gar nicht
verlesen.
Also Reinkens erfreute sich, auch sthou bevor die Denunzianten ihr Werk
begannen, keineswegs allgemeiner Beliebtheit, darum hatte dann diese verächt¬
liche Bande leichtes Spiel. Was von Bonn kam, war bei den Theologen
jesuitischer Richtung der Ketzerei verdächtig, denn die Bonner theologische Fakultät,
und darüber hinaus auch die katholischen Philosophen und Juristen, hatte der
Z831 gestorbne Professor Hermes beherrscht, dessen Lehren nach seinem Tode
verurteilt wurden. H. Schmid gibt in der protestantischen Enzyklopädie von
Herzog und Pult den Kirchenbehörden nicht unrecht. In dem aufrichtigen
Streben, die katholischen Glaubenslehren vernünftig zu begründen, habe ihnen
Hermes ihr Fundament, die kirchliche Autorität, entzogen. Und in der fanatischen
Überzeugung, daß sein Weg der allein richtige sei, habe er den Einfluß, den
die Regierung und der Erzbischof Graf Spiegel ihm einräumten, dazu benutzt,
alle Gegner ans der Fakultät zu verdrängen Md alle Lehrstühle mit seinen An¬
hängern zu besetzen, sodaß, was diesen später widerfuhr, nur als gerechte Ver-
geltung erscheint. Diese wurde nun von dem streng orthodoxen Erzbischof
Geißel schonungslos geübt. Es war natürlich, daß alle jungen Theologen von
regem Geist einer Lehre zuneigten, die es bei der Religion vorzugsweise auf
die Vernünftigkeit abgesehen hatte, und darum erschienen alle jungen Geistlichen,
die sich durch Geist und wissenschaftlichen Eifer auszeichneten, des Hermesianismns
verdächtig. Solche Leute waren die beiden Reinkens. Darum erfüllte Geißel
den Wunsch beider nicht, daß Joseph bei seinem ältern Bruder, der soeben eine
Bonner Pfarrei bekommen hatte, Kaplan würde. Der Erzbischof wollte ihn
in ein entlegnes Dorf schicken. Mit Mühe rang ihm Joseph die Erlaubnis
ab, der Studien wegen ohne Anstellung noch ein Jahr in Bonn bleiben zu
dürfen. Er half dabei die Woche über seinem Bruder in der Seelsorge und
hielt alle Sonntage in dem benachbarten Rheindorf Gottesdienst. Denn weit
entfernt davon, daß ihm die Seelsorge zuwider gewesen wäre, war sie ihm viel¬
mehr Bedürfnis; nur wollte er den Zusammenhang mit der Wissenschaft nicht
verlieren. Am Ende dieses Jahres, im August 1849, holte er sich in München
den theologischen Doktorgrad, und der Rektor sagte ihm beim Doktorschmause:
„Wenn Ihre Leistungen je am Rheine nicht Anerkennung finden sollten, so
kommen Sie zu uns; hier in München werden Sie jedenfalls anerkannt werden."
Den weitern Schikanen Geißels machte die Einladung ein Ende, nach Breslau
zu kommen, zu der sich der Fürstbischof Diepenbrock, die Professoren Baltzer
und Ritter und der Kanonikus Förster vereinigt hatten. Nun war zwar der
Hermesianismns beinahe vergessen, aber den Inquisitoren hatte sich der priester¬
liche Philosoph Anton Günther in Wien als neue erwünschte Jagdbeute dar¬
geboten. Die meisten Hermesicmer gingen zu Günther über, und Reinkens
Lehrer in der Philosophie, Knoodt, sowie seine Breslauer Gönner und Freunde,
der Dogmatiker Baltzer und der Philosoph Elvenich, waren erklärte Gnnthe-
rianer. Man denunzierte ihn, daß er an Beratungen dieser Häretiker teil¬
genommen habe. Weiter konnte man ihm nichts vorwerfen, aber es genügte, ihn als
der Ketzerei verdächtig zu verrufen. In der Tat hat sich Reinkens niemals aus¬
drücklich für Günther, sondern nur gegen seine Verdammung erklärt und sich
durch die Verurteilung seiner güntherischen Freunde vom vertrauten Umgange
mit ihnen nicht abhalten lassen. Die Giinthericmer — ihr letzter ist der jüngst
gestorbne altkatholische Bischof Weber gewesen — waren alle aufrichtig fromme
gläubige Männer von Geist und Charakter, von musterhaften Lebenswandel
und von glühendem Eifer für Christentum und Kirche erfüllt. Aber das half
ihnen nichts. Ein Geistlicher darf Konkubinarius, Säufer, Geizhals, ein roher
und dummer Mensch, nachlässig und faul im Amte sein, wenn er nur die An¬
sprüche der Kirche kräftig geltend macht und das spezifisch Römischkatholischc:
die Papstverehrung, den Madonnenkult, die Ablässe, den Bilderdienst gehörig
betont, so werden die Bigotten, die in der Gemeinde den Ton angeben, gegen
seine Schwächen blind sein, und die Vorgesetzten werden ihn ungeschoren lassen.
Wenn er aber an den kirchlichen Zuständen Kritik übt, Unabhängigkeit des
Urteils und des Charakters verrät, dann ist er verloren. Materiell hat die
Kurie vielleicht nicht bloß gegen Hermes, sondern auch gegen Günther Recht
gehabt. Der Kern der Güntherschen Lehre ist, wie ich bei einer frühern Ge¬
legenheit erwähnt habe, anthropologischer Natur. Nach Thomas von Aquin
ist die vernünftige Seele, der Geist des Menschen torma oorvoris, das heißt sein
Lebensprinzip, das, was seine Teile zusammenhält, zu einem lebendigen Orga¬
nismus vereinigt. Nach Günther dagegen ist der leibliche Mensch ein lebendiges
Wesen für sich, ein fertiges imimsl, etwa wie sich die Haeckelicmer den Pithekan-
thropos denken, den Affenmenschen, der noch keine eigentlich geistigen Funk¬
tionen ausübt, und mit diesem schon beseelten Wesen wird ein von Gott ge¬
schaffner Geist zur Einheit der Person verbunden. Für die heutigen Monisten
hat diese Streitfrage gar keinen Sinn, dualistische Psychologen aber wie Busse
(Z.Band des Jahrgangs 1905 der Grenzboten, S. 710) würden vielleicht für
die orthodoxe Ansicht gegen Günther entscheiden. Also dagegen, das; die rö¬
mischen Theologen andrer Ansicht sind als die Günthericmer, ist nichts einzu¬
wenden. Das Empörende und zugleich Lächerliche liegt darin, daß ein un¬
wissender Italiener wie Pius der Neunte und seine Theologen, die nicht viel
mehr wissen als er und die ihnen vorgelegten deutschen Bücher — Günther
schreibt nicht verständlicher als Kant — gar nicht verstehn, sich einbilden, der
heilige Geist befähige sie durch Inspiration, wissenschaftliche Fragen zu ent¬
scheiden, die wahrscheinlich überhaupt von keinem Sterblichen zuverlässig beant¬
wortet werden können, und die noch dazu für das christliche Leben vollkommen
gleichgiltig sind. Nur insofern nicht ganz gleichgiltig, als zum christlichen Leben
auch die gewissenhafte Anwendung der von Gott verliehenen Kräfte gehört, also
auch des wissenschaftlichen Forschungstriebes für die wenigen, denen er zuteil
wird. Die Entscheidung wissenschaftlicher Fragen durch einen kirchlichen Ge¬
richtshof aber verurteilt die wissenschaftliche Forschung von vornherein zur Un¬
fruchtbarkeit, und wenn trotzdem auch katholische Forscher den anerkennenswerten
Mut behalten, ihre Arbeit fortzusetzen, so geschieht es in der Annahme, die rö¬
mischen Inquisitoren würden aus Furcht vor den Protestanten und den Millionen
Namenskatholiken, die in Wirklichkeit Atheisten sind, von ihrem angemaßten
Richterrecht keinen gar zu unvorsichtigen Gebrauch machen. Nach dein Ver¬
fasser der Reinkensbiographie sollen es die Kardinäle Geißel lind Reisach, also
zwei Deutsche, gewesen sein, die den von Natur gutmütigen, heitern und an¬
fangs liberalisierendeu Pius in deu Orthodoxiefanatismns hineingetrieben haben.
Ein Gesinnungsgenosse von ihnen war der Nuntius Male Prela, der 1852 ein¬
mal an Geißel schrieb: „Man muß die jungen Leute, die sich den: geistlichen
Stande widmen, erziehn in der Einfalt des Glaubens und sie gewöhnen, unter
dem Joch dieses Glaubens die eigne Einsicht gefangen zu geben in ot>8ö-
Piiuiii nasi."
Reinkens, wie gesagt, ist kein fanatischer Güntheriauer, wahrscheinlich über¬
haupt keiner gewesen. Die philosophische Spekulation lag ihm fern. Das
christliche Leben in seinem Kern zu erfassen, seine Äußerungen dnrch den Lauf
der Jahrhunderte zu verfolgen, seine Musterbilder darzustellen und so durch die
Belehrung zugleich zu erbauen, das war die seiner Natur gemäße Aufgabe, und
die Wärme und zugleich die künstlerische Vollendung, mit der er sie löste, hat
mir ihn wert gemacht. Seine wichtigsten Schriften sind darum Biographien.
Mit einer Geschichte der Barmherzigen Schwestern hat er als Student deu An¬
fang gemacht. Dann folgten: Clemens von Alexandrien, Hilarius von Poitiers,
die Einsiedler des heiligen Hieronhmus, Martin von Tours, Diepenbrock, die
Dichterin Luise Hensel, die barmherzige Schwester Amalie von Lnsaulx. Nur
einen der Kirchenväter, mit denen er sich vorzugsweise beschäftigte, Augustinus,
hat er nicht biographisch behandelt; er stellte nnr seine Geschichtsphilosophie dar,
und Bernhard von Clairvaux sowie Cyprian wurden für die lange Reihe von
Schriften verwandt, in denen er seit 1870 gegen Rom polemisierte.
Der erste und giftigste seiner Breslauer Denunzianten, der widerliche Pro¬
fessor Bittner, den ich in meinen Lebenserinnerungen charakterisiert habe, spielte
recht geschickt Reinkens „Ausländertum" als Trumpf aus. Dieses nur in Deutsch¬
lands Vaterländern mögliche Verfahren versetzt ganz besonders in diesem Falle
den Wissenden in humoristische Stimmung. Die verhaßten protestantischen Be¬
amten, die Preußen nach 1815 an den Rhein schickte, haben sehr viel dazu
beigetragen, die lustigen Rheinländer mit katholischem Fanatismus zu erfüllen,
und nun wurden diese eifrigen Katholiken in dem bis dahin als lau und
rationalistisch verschrienen Schlesien der Einschleppung der Ketzerei beschuldigt!
Sehr bald regte sich der Provinzialpatriotismus. Die hervorragenden Per¬
sönlichkeiten und anerkannten wissenschaftlichen Leistungen der aus dem Westen
gekommnen Männer: Baltzer, Movers, Reinkens, erregten den Neid schlesischer
Dozenten, und diese verstanden den schlesischen Partikularismus und Chauvi¬
nismus so geschickt zu kitzeln, daß wenn man 1869 und 1870 autivatikanische
Äußerungen wagte, einem zunächst entgegnet wurde: „Da sieh dir doch die
Leute einmal an, die gegen Rom auftreten, diese hochmütigen Rheinländer, diese
Kerls!" Und Reinkens hatte es ganz und gar mit den Schlesien! verschüttet.
Im Jahre 1861 hatte die Breslauer Universität die Erinnerung an ihre
Gründling feierlich begangen, die durch die Vereinigung der Frankfurter Viadrina
mit dem Überrest des Breslauer Jesuiteninstituts im Jahre 1811 vollzogen
worden war. Reinkens hatte dazu die Festschrift geliefert: „Die Universität zu
Breslau vor der Vereinigung der Frankfurter Viadrina mit der Leopoldiua."
Darin wurden die wissenschaftlichen Leistungen der Jesuiten und des schlesischen
Volkes, dieses „nationalen Mischlings", sehr niedrig eingeschätzt. Das erregte
einen furchtbaren Sturm im schlesischen Klerus und in einem Teil der Laien¬
schaft, und es kostete den Fürstbischof Förster keine kleine Mühe, den unerquick¬
lichen Streit, der sich daraus entspann, wenigstens für die Öffentlichkeit beizu¬
legen. In den Grenzboten urteilte ein Protestant über die Festschrift: „Wir
unsrerseits haben mehrfach nicht umhin gekonnt, dem Theologen zu opponieren,
dem Historiker dagegen sagen wir unsern Dank für das Buch, das sich durch
die eingehende, auf wissenschaftlicher Forschung beuchende Darstellung der Grün¬
dung und Entwicklung der Leopoldina sowie durch die Mitteilung einer Reihe
von Aktenstücken ein großes Verdienst um die schlesische Geschichte erworben
hat." Hatten ihn seine Feinde anfangs fortzuloben gesucht, so verhinderten sie
von da an sein Aufsteigen in der Hierarchie, seine Beförderung zum Propst
von Berlin, zum Bischof von Limburg. Übrigens schnitt sich Reinkens die
hierarchische Karriere selbst dadurch ab, daß er sich, vor die Wahl zwischen die
Annahme eines Kcmonikats und die Fortsetzung seiner akademischen Lehrtätig¬
keit gestellt, für diese entschied, sein Dombenefizium aufgab und in die Stadt
übersiedelte. Ordentlicher Professor mit achthundert Taler» Gehalt war er 1857
geworden.
Die Schlesier witterten in Reinkens den Hochmut des Rheinländers, der
im Bewußtsein seiner Urdentschheit den ostelbischen Mischling nicht als voll-
bttrtigen Deutschen anerkennt. Hat Reinkens etwas dergleichen empfunden, so
hat er diese Empfindung jedenfalls nicht auf den preußischen Staat und das
preußische Königshaus, das ja allerdings aus Schwaben stammt, ausgedehnt.
Beiden war er immer von Herzen zugetan. Sein Nektoratsjahr fiel in die Zeit von
1865 bis 1866, und er benutzte die Antritts- und die Abgangsfeier zu zündenden
patriotische» Reden, die die anwesenden Offiziere begeisterten. Mit Offizieren
verkehrte er damals viel; er nahm mit einigen von ihnen gemeinsam sein Mittag-
mahl ein. In einem Glückwuuschschreiben an Bismarck zu dessen achtzigstem
Geburtstag schrieb er: „Im Jahre 1868 sagte ich einem kriegslustiger Herrn
aus dem französischen Finanzministerium: Wenn Sie durchaus Krieg mit uns
anfangen wollen, dann geben wir Ihnen die natürlichen Grenzen, die Vogesen.
Als dann im Jahre 1870 die Generalstabsoffiziere von Scherff und von Kcilten-
born aus Breslau nach Frankreich aufbrachen, fragten sie mich beim Abschied:
Was sollen wir Ihnen mitbringen? Ich antwortete: Den Deutschen Kaiser und
Elsaß-Lothringen." Waren die Eindrücke, die er von allem spezifisch Preußischen
empfing, die besten, so waren dafür die römischen auf einer italienischen Reise
im Winter 1867 bis 1868 desto schlimmer und zugleich entscheidend; indem sie
den Priester niederdrückten, vollendeten sie die Befreiung des Denkers aus den
Fesseln der Orthodoxie, Da heute jedermann weiß, wie es um das italienische
Christentum bestellt ist und im verflossenen Kirchenstaat bestellt war, brauchen
Einzelheiten nicht angeführt zu werden. Zwei Jesuiten hat er auch besucht;
der General, Beckx, war, wie er schreibt, ein kränklicher Mann, sunst, höflich
und voll Vorsicht. Der Pater Schrader aber rückte offen mit der Auffassung
seiner Sozietns heraus: die Kirche müsse einen dem sinnlichen Menschen fühl¬
baren Arm, das heißt weltliche Macht haben; die Masse sei nicht durch Über¬
zeugung zu leiten; für sie müsse den Geboten durch Polizei Nachdruck gegeben
werden; die Menge wolle genommen sein, man solle sie also nehmen und führen.
Pater Schrader hat nicht ganz Unrecht; das ist einer der Punkte, auf denen
jede Kirche in Widerspruch mit dem Geiste des Christentums geraten muß, und
dieser Widerspruch drängt Geister wie Reinkens nicht bloß aus der römischen
Kirche, sondern, wenn sie sich völlig klar werden, aus jeder Kirche hinaus.
Nachdem er „abgefallen" und gar Bischof der Ketzer geworden war, hat es an
Bekehrungsversuchen uicht gefehlt. Es kam vor, daß bigotte Fanatiker in Bonn
auf der Straße niederknieten, und während er vorüberging, laut für seine Seele
beteten. Priester, die ihn zu solchem Zweck besuchen wollten, ließen sich von
ihrem Bischof die Erlaubnis dazu geben, weil kein Katholik mit einem öffentlich
Exkommunizierten verkehren darf. Mit Beziehung darauf schreibt er an einen
Jugendfreund, den Benediktinerabt Wolter von Beuron, der einen brieflichen
Bekehrungsversuch gemacht hatte: „Das Versälle:, der Juden den Samaritern
gegenüber hat Christus verurteilt und nicht in sein Reich übertragen. Eine
Kirche, die es herstellt, ist in der Praxis nicht sein Reich." Wogegen die Katho¬
liken 2. Johannis 10 anführen können.
Reinkens ist am 4. Januar 1896 in apostolischer Armut gestorben. Alles,
was er von seinem sehr bescheidnen Einkommen erübrigen konnte, hat er auf
altkatholische Zwecke verwandt. Er war so glücklich, das Vertrauen auf den
schließlichen Sieg der von ihm vertretnen Sache bis zum Tode zu bewahren
und die Überzeugung, daß er dein Glauben seiner Kindheit tren geblieben sei.
In die Bahnen der protestantischen Theologie hat er niemals eingelenkt; was
er schlimmes in der römischen Kirche sah, war in seinen Augen nur von ciußeu
eingedrungne Verderbnis, nicht Ausgestaltung des Wesens der Kirche.
D
M>nde Ma des Jahres 1823 trat Eckermann in Hannover die für
!ihn so bedeutsame Wanderung nach Weimar an. Goethe einmal
einige Augenblicke persönlich nahe zu sein, war der Wunsch, der
I ihn beseelte. Als Quartiermacher war ihm, dessen Gedichte schon
I eine günstige Beurteilung durch Goethe gefunden hatten, die Hand¬
schrift seiner „Beiträge zur Poesie" vorausgegangen, und diese taten ihre Schuldig¬
keit: sie öffneten ihrem Verfasser das Haus am Frauenplan. Die ersten Besuche
dort wurden für seine Zukunft entscheidend. Goethes Einladung, den Winter
hindurch in Weimar zu bleiben, wurde freudig angenommen. Bot sich doch die
beglückende Aussicht, daß aus den Augenblicken, die Eckermann dem Meister
nahe zu sein gewünscht hatte, Jahre werden könnten. In der Tat blieb seil?
Leben und Wirken dauernd mit Goethe und Weimar verbunden.
Bei allem Glück, um den Dichter weiten, seine Arbeiten unterstützen, seinen
Gesprächen lauschen, sich seiner Gunst erfreuen zu dürfen — bei allem diesen
Glück brachte Eckermann doch auch ein Opfer. Als er nach Weimar wanderte,
ließ er in Hannover eine geliebte Braut, Johanne Bertram, zurück. Eine ge¬
sicherte Lebensstellung zu gewinnen, um sein Hannchen heimführen zu können,
war sein sehnlichster Wunsch. Aber dessen Erfüllung mußte er von Jahr zu
Jahr hinausschieben, da er sich nicht entschließen konnte, fern von Goethe sein
Glück zu suchen, und da er in Weimar nicht so schnell ein festes Amt fand.
Endlich, 1831, war die Zeit des Wartens vorüber. Aber Eckermann führte
sein Hannchen nur zu kurzem Glück in sein Heim; denn nach kaum zweiundein-
halbjähriger Ehe mußte er seine geliebte Frau dein Allbezwinger Tod hingeben.
Während des laugen Brautstandes waren die Verlobten hauptsächlich auf
brieflichen Verkehr angewiesen, von dem der Bearbeiter des Eckermannschen Nach¬
lasses, Friedrich Tewes. kürzlich reichhaltige Zeugnisse veröffentlicht hat.") Doch
schon ein Jahr nach seinem ersten Eintritt in Weimar, im Mai 1824, verlebte
Eckermann einige Wochen bei der Braut in Hannover. Da er im nächsten
Jahre ans verschiednen Gründen ans eine Reise verzichten mußte, hoffte er um
so mehr auf das folgende, und am 26. Mai 1826 konnte er dem jüngern Bruder
seiner Braut, seinem Freunde Wilhelm Bertram in Hannover, melden, daß er
seine Arbeiten in Weimar beendet habe und „reisefertig und ungeduldig" sei.
Am 5. Juni nahm er Abschied von Goethe, was dieser in seinem Tagebuche
vermerkt. Am andern Morgen fuhr er von Weimar ab.
Sein Gefährte bis Eisenach war der junge Friedrich Preller, der über
Frankfurt nach Mailand reiste. Nach zweijährigem Aufenthalt in den Nieder¬
landen war dieser Mitte Mai^) nach Weimar zurückgekehrt, da es ihm die
Gunst des Großherzogs Karl August und Goethes ermöglichte, nun seine
künstlerischen Studien in Italien, dem Lande seiner Sehnsucht, fortzusetzen. Auch
Preller hatte sich am 4. Juni, also einen Tag vor Eckermann, von Goethe
verabschiedet, der damals seinem jungen Freunde bedeutsame Lehren auf den
Weg mitgegeben hatte, deren Inhalt wir bald kennen lernen werden.
Die erste Nacht blieb Eckermann in Eisenach. Am andern Nachmittag er¬
reichte er Kassel, wo er einen Tag verweilte. Der Gedanke an Goethe und
der Wunsch, ihm geistig nahe zu sein, drückt ihm schon hier die Feder in die
Hand. Der erste der beiden folgenden Briefe ist in Kassel am 8. Juni begonnen
und am andern Morgen vor der Weiterreise vollendet worden, ohne zunächst ab¬
geschickt zu werden. Der Aufenthalt in Kassel wird Eckermann durch seinen Ver¬
kehr mit dem Dekorationsmaler Friedrich Benther (1776 bis 1856) besonders an¬
genehm. Dieser treffliche Künstler hatte in den Jahren 1815 bis 1818 zugleich
mit seiner Gattin Karoline, die Schauspielerin war, und gegen 1823 nochmals vor¬
übergehend am Weimarischen Hoftheater gewirkt und war seit 1825 auf Lebens¬
zeit am Kasseler Hoftheater angestellt worden, zu dessen Blüte er durch seine
Kunst Wesentliches beigetragen hat. Beuther wurde von Goethe wegen seiner
hervorragenden Leistungen und gewissenhaften Studien hoch geschätzt, was sein
Urteil in den „Tag- und Jahresheften" beweist: „Ganz zur rechten Zeit (1815)
gewannen wir an dem Decorateur Benther einen vortrefflichen . . . Künstler, der
durch perspectivische Mittel unsere kleinen Räume ins Gränzenlose zu erweiter»,
durch charakteristische Architektur zu vermannichfaltigen, und durch Geschmack und
Zierlichkeit höchst angenehm zu machen wußte. Jede Art voll Stil unterwarf
er seiner perspectivischen Fertigkeit, studirte auf der Weimarischen Bibliothek
die ägyptische so wie die altdeutsche Bauart, und gab den sie fordernden Stücken
dadurch neues Ansehn und eigenthümlichen Glanz."
Am Morgen des 9. Juni verließ Eckermann Kassel und fuhr über Münden
lind Göttingen nach Hannover, wo er am Mittage des folgenden Tages an¬
langte. Hier traf er jedoch nur Wilhelm Bertram an, während seine Braut
bei ihrem ältern Bruder Christian in Bleckede an der Elbe lveilte, und fuhr der
Verabredung gemäß mit Wilhelm am andern Morgen weiter zunächst nach Celle
und an demselben Abend „einige Meilen tiefer in die Lüneburger Heide hinein".
Hier endet der Bericht des zweiten Briefes, in dem nicht näher angegeben ist,
wann und wo er geschrieben ist, und zugleich verlieren wir Eckermanns Spur,
Wir werden ihn zunächst bei seiner Braut in Bleckede vermuten müssen, wo er
nicht lange verweilt haben kann. Er ist dann in Hamburg gewesen, darauf in
Stade. Daß er von hier aus einen Brief an Goethe abgeschickt hat, bemerkt
dieser in seinem Tagebuche am 28. Juni 1326: „Brief von Eckermann aus
Stade", und wenn er am 29. Juni hinzufügt: „Gestern war ein umständliches
Neisediarium von Eckermann angekommen", so weist schon diese Bezeichnung
ganz zweifellos auf die beiden folgenden Briefe hin, die sehr wohl als eine
einheitliche Sendung zu betrachten sind.
Am 2. Juli richtet Eckermann, auf der Rückreise nach Weimar begriffen,
von Hannover aus einen Brief an seine Braut. Am 14. Juli trifft er wieder
in Weimar ein. „Abends kam Dr. Eckermann," schreibt Goethe an diesem Tage.
„Erzählte von Hamburg, Stade und den dortigen Anschwemmungen, Einrichtungen,
Ansiedelungen." Und Eckermann berichtet bald darauf seinem Hmmchen: „Gegen
Abend in Weimar angekommen, war mein erster Weg zu Goethe. Zelter war
bei ihm, wir hatten große Freude uns wieder zu sehen. Ich blieb den ganzen
Abend bey Goethe und mußte ihm immer erzählen. Meine Briefe hatte er mit
großem Interesse gelesen und er machte mir zärtliche Vorwürfe daß ich mein
Tagebuch nicht fortgesetzt. ... Er sprach diese Tage noch oft von meinen er¬
lebten Späßen, und lobte gegen Zelter daß ich alles mit so freyem Geiste ge¬
sehen." Ottilie von Goethe hatte ebenfalls seine tagebuchartigen Briefe ge¬
lesen. Die Reise bot mich später Gesprächsstoff für Goethe und Eckermann, so
teilt dieser am 24. Juli (nach Goethes Tagebuch) „mancherlei Beobachtungen
mit, die er auf seiner Hamburger Reise gemacht".
Nunmehr mag der Text der beiden Briefe folgen, der, ans zehn Bogen
geschrieben, insgesamt siebenunddreißig Seiten umfaßt.
An Goethe.
0as8s1 d. 8. ^unz- 182K.
Donnerstag.
Mein Herz treibt mich, Eure Excellenz schon heute mitzutheilen was ich bis
jetzt auf meiner heiteren Reise erlebt habe. Die Gegenstände aber drängen sich
übereinander, ich will von vorne anfangen und Alles nur flüchtig berühren.
Dienstag Morgen halb 8. von Weimar abgefahren, begleitete
mich zur Post. Preller stieg mit ein um wie Sie wissen nach Mailand zu
gehen. 12. Personen nahm der Eilwagen auf. 6. in der Mitte, 3. hinten im
Anhange worunter Preller; ich war so glücklich mit dem Conducteur und einer
jungen stillen Dame vorne im Cabriolett zu sitzen. So konnte ich ans dem
Wege nach Lrtnrt frey umher sehen und da das Dämchen stiller Natur und
der Conducteur müde war, so brauchte ich nicht zu reden und konnte mich
meinen Gedanken und Empfindungen überlassen, die größtentheils bey Ihnen
waren. Übrigens verließ ich dieszmal ^Vsimar ohne alle Herzensregung, ohne
Neigung zu bleiben, und ohne Hoffnung irgend wo anzukommen. Ich ließ mich
vom Wagen forttragen als wäre es nichts, und als wollte ich nichts. Ich
empfand die höchste Ruhe. Dabey war ich über mein Gehen und Wieder¬
kommen entschieden und klar, das gab mir die schönste Stimmung.
Hinter mir im Wagen saß ein reicher junger Curläuder, der den Faust
las. Es gehört unter den angesehenen jungen Leuten zum guten Tone das;
sie den Faust mit auf Reisen nehmen; dieses habe ich vielfach gefunden. Das
Buch reizt sie an weil sie es im Ganzen nicht verstehen, es aber doch, im
Einzelnen ihnen mit so entschiedener Klarheit entgegentritt, daß sie getäuscht
werden als verständen sie es. Ich kam auf den Gedanken, daß um auf die
Dauer zu fesseln, man uicht alles aussprechen sondern manches problematisch
lassen müsse, und daß die Natur und die Gottheit selbst den Menschen eben
deswegen fortführend so viel zu schaffen machen weil Beyde so große Probleme
sind. Ich hatte auf dem Wege nach Lrkurt viele Gedanken, in zwey Stunden
fuhren wir hinüber; mir aber war die Zeit so schnell vergangen, daß es mir
vorkam als waren wir nur eine Stunde gefahren.
Halb 10. waren wir in Hrturt. Der Wagen fuhr aber nicht zur Post,
sondern zunächst vor das Wirthshaus um die Passagiere aussteigen zu lassen.
Bon I,sixi?iA bis Drturt, war der preußische Eilwagen gegangen. Hier trat nun
der Frankfurter ein. Es mußte umgepackt werden und den Passagieren war
eine Stunde Zeit gegeben. Alles setzte sich zu Tische, ich setzte mich zu Prellern,
da kam denn das Gespräch alsobald auf Eure Excellenz. Der Gute war sehr
beglückt, daß Sie ihm einen so trefflichen Rath mitgegeben, wodurch er sich
denn auf seinem Kunstwege gefördert und befestiget fühlte. Er theilte mir alles
mit, ihm war kein Wort entgangen. „Sie gehen nnn in die große Welt hinaus
(hatten Sie gesagt). Vieles wird auf Sie eindringen, und Viele werden zu
Ihnen reden, der Eine wird Dieses sagen und der Andere Jenes, und so wird
ein junger Mensch verwirrt und verworren und er weiß zuletzt nicht mehr was
er thun und wem er folgen soll. Deshalb will ich Ihnen Einiges als guten
Rath mitgeben woran Sie Sich halten mögen. Vor Allen empfehle ich Ihnen
zwey Meister: ?oussin und planets liorsin, denen sie folgen und deren Art und
Weise die Natur darzustellen, Sie studiren wollen. Zugleich aber setzen Sie
Ihre landschaftlichen Studien fort. Aber hiebey rathe ich Ihnen dieses. Ihre
bisherigen Studien sind alles nur Einzelnheiten, die Sie zu keiner Komposition
brauchen können. Wenn Sie aber jetzt einen schönen Beinen oder irgend einen
anderen interessanten Landschaftlichen Gegenstand finden, so zeichnen Sie ihn
uicht einzeln heraus, sondern nehmen Sie gleich einige passende Umgebung mit,
so daß Ihre Zeichnung schon an sich ein kleines Bild macht, die sich demnächst
einer größeren Komposition um so leichter anschließt. Denn alle abgerissnen
Einzelnheiten geben noch kein Bild und wenn Sie deren auch zu Tausenden
gesammelt hätten." war über diesen Fingerzeig hoch erfreut, er sagte
daß er selbst auf diesen unschätzbaren Rath nie gekommen seyn würde. Zugleich
Hütten Sie ihm auch empfohlen sich dem Allgemeinen einer großen Landschaft
nie hinzugeben, sondern eine gedehnte Gegend immer durch einen kleinen Rahmen
anzusehen, und auf diese Weise ein Bildchen immer hercinsznsondern. Wir
waren bey diesen Unterhaltungen und Erinnerungen an Eure Excellenz höchst
glücklich, wir vergaßen darüber das Essen, aber wir tranken im Stillen Ihre
Gesundheit. Die übrige Gesellschaft achtete nicht auf uns, sie führte ihre Ge¬
spräche anderer Art.
Der neue Frankfurter Eilwagen fuhr wieder vor, wir stiegen ein, ich setzte
mich wieder vorne ins Cabriolet zu dem neuen Conducteur, Preller setzte sich
wieder hinten zu seinen Gefährten. Ich hatte an der ganzen Einrichtung der
Eilwügen, und den dabey angestellten Leuten die Bemerkung zu machen, daß
man dieses Institut auf alle Weise den Reisenden angenehm zu machen suche.
In früheren Zeiten hat man immer über grobe Postofficiantcn geklagt, davon
ist jetzt keine Spur mehr. Der preußische Conducteur, der von Weimar bis
Lrturt, neben mir saß, war ein sehr sanfter und in seinem Äußern ein an¬
genehmer Mann. Er hatte gedient und trug das eiserne Kreuz. An der rechten
Hand war ihm in der Schlacht von Uontlrmrtrs *) der mittelste Finger ab¬
geschossen. Seine Hand war aber ebenso brauchbar, er vermißte den Finger
nicht. Er war ein Mann in den Vierziger. Es that mir leid mich von ihm
zu trennen. Der neue Conducteur aber war wiederum ein sehr angenehmer
Mann. Jung, von schlankem Wuchs, und sehr feinem Ansehen, von stillen,
gefälligen sanften Betragen. Er schien auch gedient zu haben. Er sprach den
Frankfurter Dialect. An den Postillons hatte ich zu bemerken, daß sie ganz
vortrefflich das Horn bließen. Man sagte mir, daß man diese Stellen mit
solchen Leuten besetze die bey der Cavcillerie als Trompeter gedient hätten.
Um 2. Uhr waren wir in Gotha, zwischen 4. und ö. in Liseimob. Ich
nahm von ?rsI1kr Abschied. Der Frankfurter Wagen fuhr bald weiter. Meine
Post nach OgWsl sollte aber erst am andern Morgen 6. Uhr gehen. Ich blieb
also die Nacht in lAssimvIi. Ich ging vor Abend mit einem Knaben auf die
Wartburg. Ich genoß bloß der schonen Aussicht. Die Rüstkammer und Dr. Kutbön
Zimmer zu sehen hatte ich kein Interesse. Bey meiner Rückkunft im Gasthofe
erfuhr ich, daß der Professor vistrien^) nach mir gefragt. Ich hätte ihn gerne
besucht, allein ich war zu müde, auch war es zu spät geworden. Ich theilte
mein Zimmer mit einem preußischen Lieutenant v. I/asdörx, ^) der am andern
Morgen mit nach Lg88ö1 wollte. Wir fuhren nebst einem jungen Osoonomeu
vor 6. Uhr ab. Dieses war kein eigentlicher Eilwagen, sondern eine zu einer
Postkutsche eingerichtete Briefpost, und aus diesem Grunde fast noch schneller
als der Eilwagen.
Als wir eine Stunde hinter MssnaeK waren, bemerkte der I^isutsng.iU
v. Ilaso<zi'Z' daß er seinen Säbel und Mütze im Wirthshause vergessen. Ich hatte
schon früh am Morgen an seiner leichten Art zu leben bemerkt, daß er nu
einen Bedienten gewohnt wäre, der für ihn denke und sorge. Er war ein schöner
Mann, hoch in den zwanziger. Er trug einen braunen Schnurrbart, den er
schwarz gebeizt hatte. Er war sorglos, kurz und geistreich in seinen Reden.
Er wollte über Lg,88«zi nach Düssslclork zu seinem Vater, ans der nächsten
Station schrieb er einen Brief, daß man ihm Säbel und Mütze nach DüssÄ-
6ort nachschicken möge.
An der Natur hatte ich zu bemerken, daß jetzt die schönste Zeit zum reisen
sey, indem der Rocken in jungen Aehren stehe und der Hafer und Gerste das
übrige Erdreich mit jungem Grün bedecke. Übrigens bemerkte ich, daß durch die
beiden Jahre in Weimar mein früheres Verhältniß zur Natur ein anderes ge¬
worden, und daß sie nicht mehr mit der früheren Herzlichkeit zu mir spreche.
Wir fuhren durch die schönsten Gegenden, allein sobald man sieht daß sich alles
wiederholt, daß wenn der und der Boden wiederkehrt auch die und die Bäume
und Pflanzen immer wieder da sind, so kann das auf die Länge nicht unter¬
halten. Ich bin jetzt mehr ans die Menschen und Kunstbestrcbungen gerichtet
als auf die Natur. Auch habe ich nicht mehr den früheren Hang zur Einsam¬
keit; ich verkehre jetzt gern und bequem mit Menschen. Ich gab meinem Reise¬
gefährten einige Räthsel auf, die er schnell mit einigen Dutzenden der geist¬
reichsten Witze und Wortspiele erwiederte, wovon ich den größten Theil für
Ihren Herrn Sohn'"') in meine Schreibtafel notirt habe. Er sagte mir daß
er lange in Berlin gelebt, und so begriff ich denn wie er dazu gekommen.
Nachmittags um 3. Uhr sahen wir das schöne L^sssl vor uns liegen, bald
nach 4. kamen wir an. Wir erfuhren, daß die Post nach DüssMork am
nächsten Tage und die Post nach Hannover am 3 gehe. Wir gingen in den
Gasthof zum Uronxrinsiöu von ?r6usson und nahmen wieder ein Zimmer ge¬
meinschaftlich. Meinem Gefährten v. I^soerA war Dassel nicht unbekannt, er
war Page am Westphälischen Hofe gewesen, und sein Vater hatte damals die
Jäger-Garde commandirt. Indem wir uns umzogen erzählte er mir viel von
dem poetischen Treiben in Lsrliu und daß die jüngeren Talente wie Uolwi
und desgl. Herrn ?ouqus den Hof machen. Er war viel in diesen Cirkeln ge¬
wesen und sprach gut über poetische Gegenstände. Einen Lsrliner Theater Zettel
schenkte er mir, den ich für Sedüt«*) beilege, weil sein Stück darauf steht.
Frau von 6ost,U6°^) kannte er sehr wohl, er erinnerte sich öfters mit ihr ge¬
tanzt zu haben. Ich sagte ihm nichts von meinen Verhältnissen zu ihnen, weil
sonst die Leute gewöhnlich nach allem fragen. Ich machte mit ihm gegen Abend
einen Spazirgang durch die schöne Stadt, und er machte die Bemerkung daß
alle am Wasser gelegenen Städte, in der Regel schöner gebaut seyen, wegen
leichterer Zufuhr des Materials. Das Theater ist seit 8. Tagen geschlossen.
Doch betrachtete ich es diesen Abend noch von Außen.
Am andern Morgen 10. Uhr ging ich LcmtKsr aufzusuchen. Ich fand ihn
im Theater, oben auf dem Boden, an einer bunten Decoration malend. Er
hatte große Freude mich zu sehen. Ich verlebte mit ihm den ganzen Tag bis
Abends 10. Uhr höchst interessante Stunden. Doch hievon in meinem nächsten
Briefe. Deun jetzt fehlt es an Zeit, mein Coffer ist schon wieder gepackt und
zur Post, in einer Stunde geht der Wagen nach Hannover ab. LsvMsi wird
gleich hier seyn um Abschied zu nehmen. Er giebt mir einen Brief an XlinZs-
marm*^) in LraunsouvkiK den ich vielleicht auf meiner Rückreise besuche. Ich
habe mit LsuMsr so vieles gesprochen, er ist ein trefflicher Mann, und so voller
Verstand. Viele tausend Empfehlungen an Eure Excellenz hat er mir auf¬
getragen. Es thut mir leid daß ich so schlecht geschrieben habe, allein Feder
und Papier und Zeit und Zustände Alles war mir hinderlich. Doch da Sie
Alles kennen entschuldigen Sie gewiß. Ich bitte um die herzlichsten Grüße an
Alle die Ihnen nahe sind. Meinen nächsten Brief will ich um mit eus8öl
Wieder anfangen und so in meinen Mittheilungen fortfahren ohne zu bedenken
ob ich kluges oder dummes schreibe. Denn sonst kommt man nicht dazu. Ich
sage Ihnen heute das herzlichste Lebewohl, Sie sind immer bey nur.
d, 9. ^ray.
»M
Mi cirum wollen Sie denn nur gerade in der Nacht fahren? Da
sieht man doch nichts! — Nun, auch eine Nachtfahrt hat ihre
ganz eignen Reize, wir werden sie kennen lernen, und wer schon
eine Reihe von Tagfahrten bei günstigem wie ungünstigem Wetter,
I bei flottem und bei trägem Wind, zu den verschiednen Jahres¬
zeiten bei Sonnenschein und Regen unternommen hat, den verlangt danach,
auch einmal eine Nacht zwischen Himmel und Erde schwebend zu verbringen.
Einen Vorzug hat die Fahrt bei Nacht unter allen Umständen, das sind
die geringern senkrechten Schwankungen der Fahrtlinie infolge der gleich-
mäßigem Temperatur. Bei Tage, zumal an warmen Tagen, gleicht die Kurve
oft einem wildzerklüfteten Gebirge: bald steigt der Ballon, weil sich das
Gas unter dem Einfluß der wärmenden Sonnenstrahlen ausdehnt, bald sinkt
er, weil sich eine Wolke zwischen ihn und die Sonne schiebt, und die dadurch
abgekühlte Luft das Gas sich wieder zusammenziehn läßt. Dieses Schwanken
aber, das — vorläufig wenigstens — nur durch reichliches Auswerfen von
Ballast einigermaßen ausgeglichen werden kann, verkürzt die Dauer der Fahrt,
Anders, wenn es erst einmal gelingt, durch künstliche Erwärmung und Ab¬
kühlung des Gases oder durch Ergänzung des nach unten entweichenden
Gases aus Behältern mit flüssigem Wasserstoff den Ballon gleichmäßig gefüllt
zu halten. In der Nacht dagegen zeichnet der Barograph eine Linie mit auf¬
fallend geringen Abweichungen nach oben und unten. Die Ausdehnung des
Gases hält sich annähernd gleich, und große Aufmerksamkeit, die uus auch die
geringste Abwärtsbewegung des Ballons bemerken und abfangen läßt, ermög¬
licht es, daß wir länger als bei Tage unterwegs sind. Wenn dann die Sonne
aufgeht und ihren Einfluß geltend zu machen beginnt, dann haben wir schon eine
Strecke zurückgelegt, wie wir sie bei Tage vielleicht überhaupt nicht überflogen
Hütten; ja manche Nachtfahrt ist mit dem so anspruchslosen Wasserstosfballon
überhaupt ohne wesentlichen Ballastverlust unternommen worden, und eine
längere Tagfahrt schloß sich ihr uoch an. So legte der 600 Kubikmeter um¬
fassende Ballon Aßmann des Berliner Vereins für Luftschiffahrt vom 10. bis
11. Februar vorigen Jahres in 18^ Stunden einen Weg von rund 1000 Kilo¬
metern zurück, von Bitterfeld bis Moroczno bei Minsk in Rußland. Andre
Nachtfahrten des vorigen Jahres endeten bei Wittighcmsen in Baden (500 Kilo¬
meter) und bei Teplicz bei Pöstyen in Ungarn (540 Kilometer). Allerdings
war bei diesen drei Fahrten der Korb nur mit zwei Personen belastet.
Kurz vor unsrer Ankunft in Bitterfeld erblicken wir vom Zuge aus auf
einer Wiese nahe dem Werke Elektron II, einer Filiale der Fabrik Griesheim
in Frankfurt am Main, die uns den nötigen Wasserstoff liefert, den gelben
Vereinsballon schon dreiviertel gefüllt. Der Aßmann ist es freilich nicht mehr,
den hat am 21. Dezember 1905 sein Schicksal ereilt. Bei Forst in der Lausitz
war es, da sollte auf einer Waldblöße gelandet werden. Dicht am Rande
aber der zuletzt überflognen Waldstrecke befand sich eine Starkstromleitung, die
von den Korbinsassen, zumal da man mit einer Geschwindigkeit von 60 Kilo¬
metern die Stunde fuhr, vorher nicht hatte bemerkt werden können. Als das
Schleppseil sie berührte, ging der nur wenig Meter noch vom Boden ent¬
fernte und vom Führer sofort aufgerissene Ballon in Flammen auf, die
Reisenden blieben unversehrt. Der alsbald dafür beschaffte Ersatzballon Ernst
(650 Kubikmeter) schien die Neigung zu schlimmen Streichen von seinem Vor¬
gänger geerbt zu haben. Als er zum erstenmal gefüllt wurde, ließ er sich durch
einen heftigen Windstoß aus dem Netze herausdrücken und entwich, glücklicher¬
weise nicht auf Nimmerwiedersehen wie vor fünf Jahren ein in Charlottenburg
anfgestiegner Lenchtgasballon des Vereins, der sich bei Kostin seiner Insassen
entledigte und seinen Flug nach der Ostsee nahm. Nach einigen Tagen kehrte
Ernst, zwar etwas heruntergekommen, aber reuevoll zu den ihm großmütig ver¬
zeihender Seinen wieder zurück.
Diesem Ernst also, dessen Äußeres noch durch einige kräftige Flicken an
seinen Jugendleichtsinn erinnert, vertrauen wir uns jetzt an. Die Führung
übernehme ich, diesesmal freilich noch unter der verantwortlichen Oberleitung
eines der beiden Kompagniechefs unsers Luftschifferbataillons, Hauptmanns
von Kehler, des Vorsitzenden im Fahrtenausschuß. Es ist wohl das letztemal
vor der Reifeprüfung am Schluß des Lebens, daß ich mich einem Examen
unterziehe, übrigens recht heilsam für einen, der Jahr für Jahr so viele andre
dem Unbehagen von Prüfungen aussetzen muß. Heute will jedoch so etwas
wie Examenerregung gar nicht aufkommen, das läßt schon die Liebenswürdigkeit
meines jungen Prüfungskommissars nicht zu. Auch der dritte Mann trifft
pünktlich ein, dessen Begeisterung für kühnen Sport zu seinem Namen Harras
vortrefflich stimmt. Der Ballon ist prall gefüllt. Noch so lange es hell war, habe
ich mich davon überzeugt, daß Ventil- und Reißleine in seinein Innern klar sind,
und durch einen kurzen Zug am Ventil, daß dieses richtig arbeitet. Auslauf'
und Korbleinen sind vorschriftsmäßig am Ring angeknebelt, der Inhalt des
Korbes ist vollständig, namentlich sind die nötigen Apparate und Karten vor¬
handen. Eine Vorsicht erscheint jedoch vor der Abfahrt noch geboten. Um
den Ballon vor einer Berührung mit der Starkstromleitung des Elektron¬
werkes zu sichern, lassen mir ihn noch etwa 200 Meter zur Seite führen.
Hunderte von Menschen umdrängen uns dabei, es ist ja Feierabend, darum
haben sie Zeit, während man sonst bei den Fahrten von Bitterfeld ans wenig
belästigt wird.
Es ist Mittwoch nach Ostern, der 18. April, aber die Luft ist so mild
wie an einem Sommertage, und auch beim Sinken der Sonne kühlt sie sich
nur wenig ab. 7 Uhr 50 Minuten ertönt das Kommando: „Laßt los!" Mit
acht Sack Ballast steigen wir langsam auf, ein Zeichen, daß wir gut abge¬
wogen haben. Die Dunkelheit ist völlig hereingebrochen, der Himmel mit
Wolken bedeckt. Ja, wer vor acht Tagen beim Vollmondschein hätte fahren
können! Aber da hielt mich der Wunsch, einer Versammlung von Berufs-
genossen beizuwohnen, zurück. Wir fahren in geringer Höhe von 100 und
200 Metern. Mannigfache Geräusche dringen an unser Ohr: Menschen¬
stimmen und ländliche Musik aus den Ortschaften, Wagenrasseln auf den
Landstraßen und die fagottnrtigen Töne der Automobile. Frösche quaken in
der Abendstille, und Nachtvögel umkreischeu uns. Eigentümlich ist es, wie
auch in der Nacht immer die Hunde zuerst den Ballon bemerken und durch
ihr lautes Bellen erst die Menschen auf ihn aufmerksam machen.
Elektrische Taschenlampen mit gut gefüllten Akkumulatoren ermöglichen
es, Barometer und Barograph in kurzen Pausen zu kontrollieren und Auf¬
zeichnungen zu machen. Auch mit der Orientierung geht es zunächst ganz
gut. Unsre Karten sind bei dem künstlichen Lichte bequem zu lesen, und da wir
sehr niedrig fahren, ist uns auch eine Verständigung mit den Bewohnern der
Ortschaften möglich. Freilich dauerts mitunter eine Weile, bis sie merken, woher
der Anruf kommt, zuletzt erst denken sie daran, nach oben zu schauen. Heideloh
heißt der Ort, den wir, der Vitterfeld-Zörbiger Straße folgend, jetzt eben 8 Uhr
5 Minuten nahe zur Linken haben. Er liegt genau westlich von dem Platze
unsrer Auffahrt und ist, wie wir mit dem Zirkel auf der Karte feststelle»,
9 Kilometer von Bitterfeld entfernt. Also treibt uns reiner Ostwind mit
einer Geschwindigkeit von 36 Kilometern in der Stunde, viel schneller, als wir
es bei der Stille des Abends erwartet hatten. Die Temperatur ist angenehm.
Da wir leider vergessen haben, ein Thermometer mitzunehmen, müssen wir
uns auf Schätzung verlassen: es mögen etwa 10 Grad Celsius sein. Leichte
Lodenmäntel genügen, uns warm zu halten. Da empfinden wir plötzlich
einen kühlen Luftzug, während sonst der mit der Strömung fahrende Luft-
schiffer ja den Eindruck völliger Windstille hat. Wir sind in einen andern
Luststrom geraten und müssen uns diesem erst anpassen. Das wiederholt sich
häufig bis in die frühen Morgenstunden. Wir haben also unruhige Luft, die
Windrichtung wechselt oft. Die wagerechte Fahrtlinie gestaltet sich diesmal
somit beinahe unregelmäßiger als die der Auf- und Abwärtsbewegung, und
die Orientierung wird uns von nun an sehr erschwert. Einigen Anhalt bieten
dafür die Eisenbahnen, die an den sich in gewissen Zwischenräumen wieder¬
holenden Lichtern und an den wie phosphoreszierende Schlangen sich be¬
wegenden oder leuchtenden Perlenschnüren ähnlichen Zügen erkennbar sind.
Die Zeitangaben des Kursbuches, verglichen mit den während des Fluges für
die beobachteten Eisenbahnzüge verzeichneten, sind deshalb bisweilen ein gutes
Hilfsmittel zur Ortsbestimmung. Natürlich hat mau es auch versucht, sich
von allen Wahrnehmungen auf der Erde, die ja bei einer Fahrt über den
Wolken selbst bei Tage so wie so unmöglich oder doch trügerisch sind, unab¬
hängig zu machen und die im Seewesen gebräuchlichen Methoden anzuwenden.
Besonders war der seinem Berufe durch jähen Tod leider so früh entrissene
Hauptmann von Sigsfeld auch auf diesem Gebiete mit Erfolg tütig. Doch
stellen sich dem Luftschiffer für die Messung von Gestirnshöhen viel größere
Schwierigkeiten in den Weg als dem Seefahrer, schon weil sich der Ballon,
solange er nicht am Schlepptau führt, unaufhörlich um seine Längsachse be¬
wegt. Dazu nimmt die Berechnung eines Ballonortcs ans einer Sonnen-
und Mondhöhe mit Hilfe der im Seewesen üblichen, für Luftschifferzwecke zu
umständlichen Tabellen fast eine halbe Stunde in Anspruch. Befriedigende
Ergebnisse hat Dr. Wegener, Assistent an der Lnftwarte Lindenberg, mit dem.
von Marcnse empfohlnen sogenannten Libellenquadranten von Butenschön in
Hamburg erreicht.
Dunkel, aber deutlich sich absehend taucht rechts von uns ein Berg mit
Aussichtsturm auf, es ist der Petersberg, und südlich zeigt sich in der Ferne
der helle Lichtstreifen einer großen Stadt — Halle. Das Auge hat sich an
die Dunkelheit gewöhnt und vermag viele Einzelheiten unter uns zu unter¬
scheiden. Nach und nach kommen auch immer mehr Sterne zum Vorschein.
Punkt neun Uhr überfliegen wir bei Wettin in 190 Meter Höhe die Saale,
ihre Windungen und die dunkeln Ränder ihres Tales treten bestimmt hervor.
Der nächste Ort, dessen Name uns zugerufen wird, ist Polleben. Ein ganzer
Kranz von Städten umgibt uns, ihre verschiedne Anlage, teils unregelmäßig
und krummlinig, teils sternförmig von einem Mittelpunkt ausgehend, ist an
den beleuchteten Straßenzügen und Plätzen erkennbar. Dabei ist das rötliche
Flammbogen- oder Effektbogenlicht von dem weißen, zum Teil grünlich-weiß
schimmernden Gasglühlicht genau zu unterscheiden. Südwestlich von uns Eis¬
leben, nördlich entgegengesetzt Gerbstedt, vor uns im Westen die dicht beieinander
liegenden, durch eine lange Doppelreihe von Laternen miteinander verbundnen
Orte Mansfeld und Leimbach, nordöstlich davon Hcttstcdt, mehr in unsrer Nähe
eine Anzahl kleiner Ortschaften, in denen die Lichter immer spärlicher werden.
Um so greller strahlt die Glut einiger Hochöfen oder ^chmelzhütten nahe bei
Hettstedt. 9"/t ^h^' tönen schwere Hammerschläge wie Glockenzeichen zu uns
empor, bedeuten sie etwa einen Schichtwechsel? Das Gelände unter uns hebt
sich immer mehr, wir müssen seinem Beispiel folgen und werfen ein wenig
Ballast aus, um uns in der nötigen Entfernung von der Erde zu halten.
Wälder, immer dichter werdend, dehnen sich unter uns aus, tiefe Schluchten
mit schroffen Felsabhängen durchschneiden sie, Wasserfülle und Gebirgsflüsse
lassen ihr Rauschen hören, dazwischen hier und da kleinere Hochflächen mit
Ackersluren bedeckt. Es ist der südliche Teil des Harzes, über den wir fliegen,
aber die genauere Bestimmung wird uns unmöglich. Wohl bedauern wir das,
aber nicht allzusehr. Was tuts, ob wir im einzelnen wissen, wie die Wälder
unter uns heißen, die Talgründe und Walddörfchen? Weit wonniger ist es,
ohne mühsames Suchen auf der Karte die ernste, dunkle Landschaft unter uns
zu betrachten, den köstlichen Tannenduft einzuatmen, dem Brausen der Gebirgs-
wässer zu lauschen, in kühler, aber für uns regungsloser Nachtluft, behaglich
ohne jede Anstrengung für uns, während die Bilder zu unsern Füßen rasch
dahinzugleiten scheinen. Haben wir die anfängliche Richtung beibehalten, so
muß es der Stolberger Forst sein, dessen Wipfel wir jetzt 10^ Uhr beinahe
berühren, und die große Stadt im Südwesten wäre dann Nordhausen. Aber
der Wind hat sich wiederholt gedreht, und auch die Geschwindigkeit ist nicht
mehr die alte, sie hat zugenommen, etwa 50 Kilometer in der Stunde.
Obwohl der Apparat 500 Meter anzeigt, schweben wir doch in einer
Höhe nur von etwa 50 Metern über ein Dorf hinweg. Vielleicht hört man
uns dort. „Holla!" Richtig, unser Gruß wird erwidert. „Holla!" doues
zurück. „Wie heißt das Dorf?" „Orb." Wer weiß, wo Orb liegt? „Wie
heißt die nächste Stadt?" „Alt." Jetzt erst merken wir es, es ist das Echo,
das uns neckt; und nun beginnt ein lustiges Frage- und Antwortspiel. Auch lang¬
gezogne Töne und Jodler klingen melodisch zu uns zurück, bisweilen leise
verhallend noch ein zweitesmal. Wir sind wieder über dem Walde. Da
raschelts unter uns und flieht erschreckt dahin und dorthin, es sind ganze
Rudel von Hirschen und Rehen, sogar für unser Auge wahrnehmbar, die mit
feinem Spürsinn den Ballon bemerkt haben. Sonst hören wir von Tierlauten
nur noch den Ruf des Käuzchens.
Die Gegend wird flacher, eine kleinere Ortschaft, anscheinend im Tale
liegend, wird sichtbar, und lärmendes Froschkonzert dringt an unser Ohr.
Isis vielleicht Walkenried mit den zahlreichen Teichen seiner Umgebung?
Dann wäre die Bahnlinie, der wir eine Weile folgen, die Strecke Nord-
Hausen-Nordheim. Wieder liegen Wälder unter uns und Bergland, aber
jene sind nicht mehr so ausgedehnt, dieses ist niedriger als voher. Es ist
zwölf Uhr, und von allen Seiten begrüßen Nachtwächterhörner den Anbruch
der Geisterstunde.
Was würde ein lyrischer Dichter wie Mörike, dessen Verse uns da eben
in den Sinn kamen, von dem Zauber der Nacht gesungen haben, wenn er
ihn wie wir hätte empfinden dürfen, oder ein Goethe, der sein Lebtag alles,
was ihn erfreute oder quälte oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht
verwandeln mußte, um darüber mit sich selbst abzuschließen! Die Führung
des Ballons möchte der Dichter dann freilich lieber einem andern überlassen,
sonst könnte er leicht recht unsanft aus seinem holden Träumen gerissen
werden, etwa durch Anstoßen des Korbes an einen Kirchturm oder durch Um¬
reißen eines Schornsteins, was ja auch bei Tage schon vorgekommen ist.
Eben um solche unliebsame Berührungen zu vermeiden, haben wir das
Schlepptau noch im Korbe behalten. Jetzt aber hat sogar unser nur 12 Meter
langes Loslaßtau aufgesetzt und schleift am Boden hin, der nach der Angabe
des Barometers 170 Meter über dem Meeresspiegel liegt. Durch etwas
Sandauswerfen heben wir uns schnell auf 400 Meter. Auch die kleinste
Entlastung äußert ja sofort ihre Wirkung auf unsern braven Ernst, während
beim Leuchtgasballon oft recht bedeutende Ballastopfer notwendig sind, wenn
er einmal ins Sinken gekommen ist. Im ganzen haben wir bis jetzt erst drei
Säcke verbraucht.
Eine halbe Stunde später dringt wieder lautes Wasserrauschen zu uns
herauf, und um ein Uhr kommen wir an einer ansehnlichen Stadt vorbei,
einer der größten, die wir ans der ganzen Reise gesehen haben. Ihre Straßen
winden sich leicht, nur mitten hindurch zieht sich eine mehrere Kilometer lange
helle Lichterreihe. Wir irren wohl kaum, wenn wir annehmen, daß es Göttingen
ist. Zweifellos ist der Fluß, den wir vor uns sehen, die Leine. In 660 Metern,
der außergewöhnlich geringen Maximalhöhe unsrer Fahrt, fliegen wir nördlich
von dem erleuchteten Sitze der Wissenschaft an ihm vorüber. Von Müdigkeit
spüren wir nur wenig trotz dem anhaltenden Stehn. Denn wenn auch zwei
kleine, etwas abschüssig gewordne Ecksitzchen in unserm Korbe sind, so fehlt es
doch an Zeit, sie öfter zu benutzen. Dagegen erzwingt sich der Körper für die ihm
versagte Erquickung durch Schlaf als Ersatz eine andre Stärkung. So reichlich
habe ich selten einem Mahle zugesprochen wie in dieser Nacht dem vortrefflichen
„Frühstück", das uns die Gattin meines Prüfungsrates mit feinem Verständnis
für die Bedürfnisse des Luftschiffers vorbereitet hat. 1 Uhr 45 Minuten fliegen
wir über einen fahrenden Zug, das wäre gute Gelegenheit, den Ort festzustellen,
aber der Zug keucht schwer und zeigt nur dürftige Lichter, es ist ein Güterzug auf
der Strecke Holzminden-Kreiensen, denn bald darauf kreuzen wir die Weser.
Noch dreiviertel Stunden, und wir befinden uns über einer dicht bevölkerten
Landschaft, zahlreiche Städte und größere Ortschaften machen ans uns den
Eindruck eines riesigen, auf dunkler Decke unregelmäßig verstreuten Brillant¬
schmuckes. Sogar den Versuch, uns in diesem Gewirr zurechtzufinden, müssen
wir aufgeben. Nachträglich halte ich es für die Gegend zwischen Lemgo und
Rinteln. Unser Ballon lohnt die ihm zugewandte Aufmerksamkeit durch muster¬
hafte Haltung, etwa anderthalbe Stande sind wir ziemlich gleichmäßig in
500 Meter Höhe geblieben. Jetzt sinken wir rasch und mindern die Abwärts¬
bewegung nur so weit, daß wir uicht „durchfallen" — bis auf die Erde. Daß
wir dieser nahe kommen, ist sehr günstig. Dort auf einer Niederung in einem
Wäldchen sehen wir eine Laterne sich bewegen. Gewiß ein Waldarbeiter, der
uns Auskunft geben kann, wo wir sind. Wir rufen ihn an, einer nach dem
andern, so laut wir können. Keine Antwort, obwohl wir so nahe sind, daß
er uns hören muß. Das Licht bewegt sich lebhaft nach wie vor, ja so lebhaft,
daß es nach unsrer Schützung Sprünge von 5 bis 10 Metern macht. Ein
Mensch kann das schwerlich sein. Wir sehen uns weiter um und nehmen
noch an zehn oder zwölf andern Stellen dieselbe Erscheinung wahr, überall
unter denselben örtlichen Bedingungen: auf einer Niederung in kleinem Walde
oder Busch.
Unwillkürlich kommt uns die Erinnerung an ein Naturphänomen, das
der junge Goethe bei seiner Übersiedlung von Frankfurt nach Weimar, wie
er in Dichtung und Wahrheit berichtet, zwischen Hanau und Gelnhausen beob¬
achtete. In einer Tiefe sah er eine Art von wundersam erleuchteten Amphi¬
theater. Es blinkten in einem trichterförmigen Raume unzählige Lichtchen
stufenweise übereinander und leuchteten so lebhaft, daß das Auge davou
geblendet wurde. Dabei saßen sie nicht etwa still, sondern hüpften hin und
wieder, sowohl von oben nach unten als umgekehrt und nach allen Seiten,
andre blieben ruhig und flimmerten fort. Goethe neigte dazu, es für „ein
Pandämonium von Irrlichtern" zu halten. Was wir sehen, sind allerdings
nicht unzählige Lichtchen, auch wird das Auge nicht davon geblendet, aber sie
leuchten doch hell und wechseln fortwährend ihren Ort, jedes innerhalb eines
gewissen Kreises. Eine Täuschung ist vollständig ausgeschlossen, denn wir sehen
die Lichter der eine so deutlich wie der andre, und unsre Phantasie ist nichts
weniger als überreizt. Wir haben es in der Tat mit den Tückbolden, Lüchte-
münnekeus und gleunigen Keerls des Volksaberglaubens zu tun, den Seelen
ungetaufter Kinder, die die Menschen irreführen und in den Sumpf locken.
Schon diese plattdeutschen Bezeichnungen weisen darauf hin, daß man sie in
Norddeutschland besonders viel beobachtet hat. So sah der Astronom Bessel
Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in der Frühe eines Dezembermorgeus
bei großer Dunkelheit und regnerischem Wetter über einem ausgegrabnen
Moorgrunde bei Bremen zahlreiche, aber winzige und lichtschwache, etwas
bläuliche Flümmchen. Die Naturwissenschaft, die lange Zeit überhaupt nichts
von ihnen wissen wollte, ist sich jetzt wohl darüber einig, ein Sumpfgas darin
zu sehen, das mit etwas Phosphvrwasserstoff vermengt ist und sich deshalb an
der Luft leicht entzündet. Einem italienischen Gelehrten Philopanti gelang
es sogar, ein an einem Stock befestigtes Stückchen Werg daran zu entzünden!
Die Möglichkeit eines Hüpfers wird jedoch geleugnet, dieser Eindruck werde
vielmehr dadurch hervorgerufen, daß in demselben Augenblick, wo ein Irrlicht
erlischt, was schon durch den leisesten Luftdruck geschehn? kann, ein andres in
einiger Entfernung wieder aufleuchtet. Wiederholtes Verlöschen bemerken auch
wir, möglich also, daß sich auch die von uns wahrgenommene Bewegung ans
die angegebne Weise erklärt. Winzig waren unsre Irrlichter jedenfalls nicht, sonst
Hütten wir sie aus einer Höhe von 75 bis 100 Metern über dem Erdboden
nicht zu erkennen vermocht, auch bläulich sahen sie nicht aus, eher etwas
gelbrötlich. Ähnliche Täuschungen durch Irrlichter, wie wir sie anfangs er¬
führen, sind nicht selten. So glaubte während der Manöver im August 1901
in der Gegend von Kellinghusen in Holstein ein Vorposten des 85. Infanterie¬
regiments eine feindliche Annäherung zu beobachten. Mannschaften, die infolge
seiner Meldung Nachts zwei Uhr geweckt wurden, stellten dann den Irrtum fest.
Endlich bietet sich uns die lange erwünschte Gelegenheit, einen Ballonort
fest zu bestimmen. 3 Uhr 50 Minuten schneiden wir auf unserm Fluge schräg
halblinks eine Bahnlinie gerade in dem Augenblick, als ein Zug mit hell
erleuchteten Wagen von Osten nach Westen auf ihr entlaugbraust. Jetzt muß
das Kursbuch Auskunft geben können. Wir brauchen nicht lange zu suchen.
Der einzige für uns in Betracht kommende Zug ist der früh 3 Uhr 48 Minuten
von Oeynhausen-Nord abgehende Zug der Linie Hannover-Köln. Wir sind
also, nachdem der Wind uns, wohl unter dem Einflüsse des nach Norden zu
vorgelagerten Harzes, bis in die Gegend von Göttingen im wesentlichen west¬
wärts getrieben hatte, dann nach Nordwesten abgebogen; und die Stelle, wo
wir die Irrlichter sahen, wäre demnach südöstlich von Oeynhausen zu suchen.
Der Mond, dessen letztes Viertel wir wenigstens für die frühen Morgen¬
stunden erwartet hatten, läßt sich überhaupt nicht sehen. Den ganzen Horizont
umsäumt nach allen Seiten eine hohe, starre Wolkenmasse, doch wird der
Himmel darüber nach Westen zu freier und Heller.
Der vor kurzem noch so dichte Schleier, der unserm Auge das Irdische
entzog, wallt zerfließend auf, die Gegenstände auf der Erde werden deutlicher.
Zeichen des erwachenden Morgens haben wir längst wahrgenommen, schon in
der dritten Stunde krähten einzelne Hähne, jetzt grüßen sie uns von allen
Seiten, und die Vogel in der Luft stimmen mit immer lautern Gezwitscher
ein. Halb fünf Uhr ist es hell genug, daß ich zur Not ohne elektrisches Licht
schreiben kann. Ein Kanal durchschneidet schnurgerade den Wald unter uns.
Nach der Karte ist es der große Dient nördlich von Levern.
An Mannigfaltigkeit steht das Gelände jetzt weit zurück gegen das in
der Nacht ahnungsvoll von uns geschaute. Geschlossene Ortschaften fehlen,
wohl aber sehen wir viele Häuschen über weites Feld- und Wiesenland ver¬
streut, flach das Land überall, nur rechts eine bewaldete Erhebung, die Steamer
Berge bei Brockum. Kaum sind wir an diesen vorübergeglitten, da bietet sich
uns ein ganz unerwarteter Anblick: etwa 8 Kilometer nördlich von uns eine
große Wasserfläche, die sich in der Ferne nach Norden zu in die Wolken des
Horizonts verliert, sodaß sie einem ins Land hereinspringenden Meerbusen
gleicht, der Dummer, d. i. Tiefes Meer. Er wird von der Hunde durchflossen,
gehört also zum Wesergebiet und schiebt sich innerhalb der Provinz Hannover
zwischen Oldenburg und Westfalen ein. Köstliche Morgenluft, ein frischer
Erdgeruch strömt uns belebend entgegen.
Allein der ersehnte Genuß, einen Sonnenaufgang vom Ballon aus zu
beobachten, bleibt uns heute versagt. Wenn es auch immer Heller wird, vermag
der Sonnenball die feste Wolkenmauer im Osten doch nicht zu durchbrechen.
Wieder gibt uns jetzt das Kursbuch darüber Aufschluß, daß wir zwischen
den Stationen Drebber und Barnsdorf die Bahn Osnabrück-Bremen kreuzen.
Denn eben 4 Uhr 50 Minuten fährt ein Zug von Süden her unter uns weg.
Wir ziehn das Ventil und senken uns aus 300 Metern Höhe so weit hinab,
daß das inzwischen ausgelegte Schlepptau aufsetzt und nun über einzelne
Bäume und durch Gewässer schleift, ein leises Zittern des Korbes ist die Folge.
Das Land ist stellenweis muldenartig vertieft, denn nach dem Stande des
Barometers müßte eigentlich der Korb schon den Erdboden berühren. Vor uns
liegt eine schier unübersehbare eintönige Flüche von rehbrauner Farbe und von
schwarzbraunen wellenförmigen Streifen durchzogen, ein Teppichmuster von
wunderbarer Schönheit: das Große Moor von Borden, das über hundert
Quadratkilometer bedeckt. Es ist ein unheimlicher Gedanke, hier etwa landen
zu müssen. Zwar der Korb würde nirgends sanfter aufsetzen als hier, aber
dann wären wir ratlos, wie wir ans dieser gefährlichen Einöde wieder heraus-
kommen sollten. Denn viele Meilen weit ist keine Ansiedlung, kein Weg zu
erblicken. Wir würden günstigenfalls viele Stunden brauchen, um uns zu
Menschen durchzuarbeiten, auf deren Hilfe wir ja für die Verpackung und
Beförderung der Ballonhülle und des Korbes mit einem Gesamtgewicht von
etwa 250 Kilo angewiesen sind. Dann konnten Tage vergehn, bis wir mit
unsrer Last die nächste Bahnstation erreichten.
Doch unsre Sorge ist unnötig. Der Wind treibt uns flott über die
riesige Flüche hinweg. Zu unsrer Linken ziehn sich die flachen Ausläufer des
Wieheugebirges hin, fern im Süden von den Höhen des Teutoburger Waldes
überragt. Nunmehr zeigen sich unter uns auch wieder Pfade, die durch Heide
und Wiesen führen, Felder mit üppig grünender Wintersaat, eine baumbesetzte
Landstraße und schmucke Gehöfte, deren Häuser schon an niederländische Bauart
erinnern. Die Grenze kann nicht allzuweit mehr entfernt sein, jenseit von
ihr zu landen, ist deutschen Offizieren untersagt. Dazu drohen weiter westlich
die Sumpflaudschaften des in die Niederlande hinein sich erstreckenden Bourtanger
Moors, das das glücklich überflogne Moor von Borden um mehr als das
Zehnfache an Größe übertrifft (1400 Quadratkilometer). Unser Ballon zeigt
noch immer volle Kugelform, auch an Ballast haben wir keinen Mangel, sodaß
wir gut noch eine Fahrt bei Tage anschließen und uns weit nach Holland
hineinwagen könnten, aber für unsern Hauptmann verbietet dies der Gehorsam
des Soldaten. Auf alle Fülle müssen wir noch bis in die Nähe einer Bahn¬
linie gelangen, und wirklich liegt uach einigen Minuten eine solche vor uns, es
ist die erste wieder, seit wir die Linie Bremen-Köln hinter uns gelassen haben.
Vorher müssen wir noch über zwei Flüßchen hinweg, Parallclläufe der Hase,
die Hohe und die Tiefe Hase. Jetzt sind wir nur uoch wenig Kilometer von
einer kleinen Bahnstntion entfernt. Erneuter Zug am Ventil, der Korb stößt
ganz leicht auf, hebt sich aber sofort wieder, und nun gelingt es uns, ab¬
wechselnd durch Ballastanswcrfen und Ventilziehen knapp über dem Felde hin¬
schwebend bis zu einer weichen ländlichen Straße vorzudringen, sodaß wir größern
Flurschaden vermeiden. Der Ballon wird aufgerissen, und wie berechnet, sinkt
die Hülle, vom Winde lang ausgestreckt, auf dem Wege nieder. Die Uhr zeigt
5 Uhr 50 Minuten. Genan nach zehn Stunden, in denen wir 320 Kilometer
Luftlinie, an Fahrtlinie infolge des wiederholten Richtungwcchsels viel mehr
zurückgelegt haben, sind wir „sehr glatt" gelandet in unmittelbarer Nähe eines
Meierhofes. Noch scheint dort alles zu schlafen, doch währt es nicht lange,
so finden sich hilfbereite Männer und Burschen in genügender Anzahl ein.
Der freundliche Ort mit seinen ebenso freundlichen Bewohnern heißt Riefte,
Kreis Bersenbrück, Regierungsbezirk Osnabrück, Provinz Hannover. Hier also
endete meine Führerfahrt.
is zum letzten Augenblicke hatten sich die Bopparder der Hoffnung
hingegeben, daß der Kurfürst ebensowenig geneigt sei, mit der Schärfe
des Schwertes eine Lösung der Verwicklungen herbeizuführen, wie
sie selbst. Sie wußten, daß Johann der Zweite lieber Baupläne als
Kriegspläne entwarf, daß er lieber in seiner chemischen Küche als
im Lagerzelt weilte und als Verfasser eines dickleibigen Vocndnlarinm
^uris mehr nach dem Ruhme eines gewiegten Pandektisten als nach dem eines
Strategen dürstete.
Aber sei es, daß der Kurfürst doch nicht so friedliebend war, wie man all¬
gemein annahm, sei es, daß er seine Bopparder zu kennen glaubte und der Über¬
zeugung huldigte, sie würden angesichts der drohenden Waffen doch noch zu Kreuze
krieche», genug, er traf die umfangreichsten Anstalten, seine Widersacher mit Krieg
zu überziehn.
Täglich trafen Boten in der Stadt ein, die dem Magistrat über deu Fortgang
der feindlichen Rüstungen Bericht erstatteten. Man vernahm mit Schrecken, daß
im ganzen Erzstift Truppen, Pferde, Wagen und Nachen ausgeschrieben worden
waren, und daß sich an bestimmten Orten schon Hunderte der zum Kriegsdienst, zur
Schanzarbeit und zur Fvurngierung verpflichteten Untertanen versammelt hatten.
Die Stadt war kriegsbereit, und es blieb einem löblichen Rat nnr noch übrig,
in den zu Boppard gehörenden Dörfern das Vieh zu requirieren. Am Morgen
des 21. Juni rückten die Mannschaften, die mit diesem Geschäfte beirant worden
waren, aus, aber schon um die Mittagstunde kehrten die erste« mit dem nieder¬
schmetternder Bescheide zurück, die Ställe seien überall leer gewesen, sintemalen
Se. Kurfürstliche Gnaden den Boppardern die Arbeit habe ersparen wollen. Ja
was noch schlimmer war: der Kurfürst hatte nicht nur rechtzeitig das Vieh a« sich
gebracht, sonder» anch in seiner Burg zu Koblenz die Sendboten der Bopparder
Dörfer empfange», die sich ihm auf Gnade und Ungnade ergeben und dafür die
Versicherung unwandelbarer Gunst und Huld erhalten hatten.
Diese Wandlung der Dinge veranlaßte Johann den Zweiten zu eiuer wesent¬
lichen Abänderung seines Kriegsplans. Er gab seine ursprüngliche Absicht, die
Mosel aufwärts zu ziehn und vom Gebirge her gegen die Stadt zu rücken, auf
und beschloß dafür rheinaufwärts zu fahren und sofort im nächsten Umkreise Boppards
feste Stellungen einzunehmen. Am 22. Juni setzte sich der Zug von Koblenz aus
auf dem rechten Rheinufer in Bewegung. Er bestand in der Hauptsache aus ge-
wordnen Söldnern, denen sich die von der Stadt Koblenz, von Niederlnhnstein,
Leutesdorf, Hönningen und Valleudar gestellten Mannschaften anschlössen. An der
Spitze ritt der Kurfürst selbst, umgeben von seinem Stäbe und dem Hofgesinde.
In einiger Entfernung folgte die von reisigen Knechten bedeckte lange Wagenrcihe
mit dem Proviant, dem Kricgsgerät und dem schweren Geschütz. In Osterspay
blieb man über Nacht und setzte am nächsten Morgen bei guter Stunde den Marsch
fort, verließ aber die Straße am Ufer und zog über den Bergrücken nach Kamp.
Es war kurz vor der Mittagstunde, als der Tnrmwächter von Sankt Severus
die Ankunft des Feindes signalisierte. Der Adel wappnete sich, die Bürger legten
Koller und Sturmhaube an und griffen zu Armbrust und Handrohr, und jeder
bezog den ihm angewiesnen Posten bet den Toren, ans den Türmen oder ans der
Stadtmauer, wo die von der Stadt cmgeworbnen Söldner schon unter Gewehr
standen. Aber anch Greise und Gebrechliche, Frauen und Kinder eilten jetzt auf
die Mauer: jeder wollte das seltne Schauspiel eines anrückenden feindlichen Heeres
genießen.
Und dieses Schauspiel war schon wert, daß man das Mittagessen darüber kalt
werden ließ. Wie eine große Prozession kam die kurfürstliche Heeresmacht die steilen,
gewundnen Wingertspfade herab, die Banner flatterten im Winde, die blanken Helme
und Harnische blitzten und funkelten im Sonnenschein, und wenn man glaubte, der
Zug sei zu Ende, dann erschienen droben auf der Höhe immer wieder neue Trüpplein,
die sich auf dem schmalen Pfade zu einer schier endlosen Reihe auseiuanderzogen.
Die Bopparder standen und saßen auf den Mauerzinnen, lagen auf dem Turmbödcn,
hockten auf deu Hausdächern und wurden gar nicht müde, ihre Beobachtungen aus¬
zutauschen und über die Stärke und die Bewaffnung des Feindes ihre Betrachtungen
anzustellen. Manchmal, wenn sich irgend etwas besonders merkwürdiges zeigte, waren
sie nahe daran, zu vergessen, daß alle diese kriegerischen Vorbereitungen doch ihnen
selbst galten, und sie lauschten und schwer verhaltner Begeisterung den Worten der
kriegserfahrnen Mäuner, die ihnen die Vorgänge da drüben mit großer Sachkenntnis
und vielen Kunstausdrücken erklärten.
Das feindliche Fußvolk war unten auf dem Knmpcr Ufer vollzählig versammelt
und hatte sichs angesichts der Flottille von Kähnen, die zum weitern Transport der
Truppen dort aufgefahren war, bequem gemacht. Aber der Troß, die Berittneu,
das schwere Geschütz und vor allem der Kurfürst selbst waren noch nicht zu sehen,
da sie die fahrbare Straße dnrch den Kamper Wald benutzen mußten und deshalb
einen weiten Umweg machten. So wurde die Geduld der wackern Bopparder ans
eine harte Probe gestellt. Sie murrten und schalten, harrten jedoch trotz dem
sengenden Sonnenbrande unverdrossen aus, bis sich endlich — es mochte gegen
drei Uhr des Nachmittags sein — die ersten Reiter zeigten. Jetzt wollte jeder
den Kurfürsten erkennen, bald war es der mit dein violetten Mantel, der den
Schimmel ritt, bald der Gepanzerte auf dem Rappen, bald der im Leibrock von
grünem Damast auf dem Schecken. Nun kamen wieder andre Reiter zum Vorschein,
prächtiger gerüstet als die vorigen: flugs wurden der Violette, der Grüne und der
Gepanzerte ihrer hohen Würde wieder entkleidet und einem beleibten Greise, dessen
Roß von zwei Dienern geführt wurde, der Kurhut zugesprochen.
Und die das taten, hatten Recht: der alte Herr war wirklich der Kurfürst.
Er ritt mit seinem Gefolge auf dem Ufersaum eine lange Strecke stromabwärts,
hielt sein Pferd an, stemmte die Hände uns den Sattelknopf und ließ den Blick zu
der unbotmäßigen Stadt hinüberschweifen, die ihm alle die Sorge und Unbequem¬
lichkeit bereitet und ihn gezwungen hatte, die Lenden mit dem Schwerte des Kriegers
zu umgürten und das priesterliche Haupt mit dem Helme des Mars zu bedecken.
Was hätte er darum gegeben, wenn sich jetzt, wo er vor der Entscheidung stand,
noch zu guter Letzt die Tore Bvpvards geöffnet hätten, wenn ihm die Bürger reuigen
Herzens entgegengezogen wären! Er würde sie empfangen haben, wie ein Vater
den Verlornen und wiedergefundnen Sohn empfängt, er würde ernste Worte an sie
gerichtet, aber sicherlich auch ihren Wünschen und Forderungen Gehör geliehen und,
soweit es sich mit seiner Würde als Pfandherr, Kurfürst und Erzbischof pertrug,
auf seine Ansprüche verzichtet haben. Denn er war wirklich noch weniger kriegerisch
gesinnt als die Bopparder, er hatte seine Drohung ebensowenig ernst gemeint wie
sie, aber auch er war durch die Entwicklung der Dinge vorwärts getrieben worden,
weiter, viel weiter, als ihm lieb war. Bis zu diesem Augenblick hatte er sich der
Hoffnung hingegeben, seine Bopparder würden sich, erschreckt durch die gegen sie
aufgebotne Waffengewalt, noch eines Besfern besinnen und seine Gnade anrufen, aber
diese Hoffnung schwand angesichts der verschlossenen Tore, der von den Türmen
drohenden Geschütze und der mit Gewappneten besetzten Mauern in nichts dahin.
Jetzt wandte er sich mit besorgter Miene zu den ihm am nächsten stehenden
Begleitern, dem Kanzler Ludolf von Enschringen und dem Kontur des Deutsch¬
ordens zu Trier, Herrn Jörg von Langelen, um und sprach mit ihnen über die
Dinge, die sein Herz bewegten. Da machte ihn der Kanzler darauf aufmerksam,
daß die getreue Besatzung der Burg an den Fenstern stehe und ihrem Herrn und
Erretter durch Tücher- und Hüteschwenken einen Willkommensgruß darbringe. Der
Kurfürst ließ sein schweres Strettroß noch ein paar Schritte vorwärts gehn, daß
ihm die Wellen des Stromes die Hufe bespülten, entblößte sein Haupt und winkte
mit der Rechten leutselig grüßend hinüber.
Die Bopparder, durch den auf dem jenseitigen Ufersaume starrenden Wald von
Spießen noch versöhnlicher gestimmt als sonst, glaubten, daß dieser Gruß ihnen gelte,
und waren zunächst sprachlos vor freudiger Überraschung. Dann aber schwenkte
hie und da einer den Hut oder die Sturmhaube und brach in den Ruf Vivat
^obimnss Meunäus! aus, und mit Blitzesschnelle pflanzte sich der Jubel über die
ganze Stadtmauer fort und weckte auf allen Türmen und Dächern ein viel¬
stimmiges Echo.
Der Kurfürst, der in diesem Augenblick die Gesinnung seiner Bopparder gänzlich
verkannte, hielt diesen ihm unverständlichen spontanen Ausbruch der gleichsam unter
der Asche böser Mißverständnisse fortglimmenden Untertanenliebe für eitel Hohn
und Herausforderung, bedeckte sein Haupt mit dem Helm, riß sein Roß zurück,
kehrte um und gab den Befehl, die Truppen über den Rhein zu setzen. Jetzt erst
war der Krieg für ihn eine beschlossene Sache.
Einer der Reiter sprengte der kleinen Kavalkade voran und gab den Befehl
an die Hauptleute weiter. Als der Kurfürst wieder bei der Überfahrtstelle an¬
langte, waren die ersten der mit Söldnern besetzten Kähne schon vom Ufer ab¬
gestoßen und trieben stromabwärts auf das Se. Martinskloster zu, wo die Truppen
gelandet werden sollten. Inzwischen waren auch die Wagen mit dem Kriegsgerät
und dem Geschütz von der Höhe herabgekommen und wurden mit der ganzen Be¬
spannung auf die Fährnachen geladen. Zu allerletzt stieß die kurfürstliche Lustjacht
ab, die schon einige Tage vorher von Koblenz nach Kamp geschleppt worden war,
und deren mit purpurnen Zelttüchern überspanntes Deck für den Kriegsherrn und
seine ganze Begleitung Raum bot.
Auf der andern Rheinseite angelangt, stiegen die Herren zu Pferde, die Haupt¬
leute und die Rottmänner setzten sich an die Spitze ihrer Fähnlein, und die Armee
rückte am Fuße des Eiseubolzberges entlang geradeswegs auf Marienberg los.
Die Bopparder, die darauf gerechnet hatten, der Feind werde das adliche
Jnngfernstift als ein neutrales Territorium verschonen, bemerkten mit Schrecken,
daß Johann der Zweite gesonnen war, sich mich in diesem Punkte genau an sein
Vorbild, den großen Erzbischof Balduin, zu halten, der allen Protesten des Konvents
zum Trotz das hohe Kloster in sein Hauptquartier verwandelt und von dort ans
den erfolgreichen Sturm auf die Stadt unternommen hatte.
Infolgedessen schlug die Stimmung der Bürger Plötzlich wieder um, und der
städtische Büchsenmeister, der die Kartaune ans der Balzerpforte bediente, trug sich
ernstlich mit dem Gedanken, dem Feinde einen gewichtigen Gruß aus ehernem Munde
zuzusenden. Aber die reifliche Erwägung, daß eine so übereilte Handlung die noch
immer nicht ganz nnfgegebne Hoffnung auf eine friedliche Verständigung gänzlich
vernichten müsse, veranlaßte ihn, das schon in Brand gesetzte Luuteuende abzu¬
schneiden und den Kurfürstlichen anstatt der fünfundzwanzigpfündigen Steinkugel
ein paar zornige Blicke znzuschleudern.
Auf dem Waldeck, dem Turme der Stadtbefestigung, der dem hohen Kloster
gerade gegenüberstand, dachte man anders. Hier führte einer von der Bopparder
Ritterschaft, Herr Sifried von Schwalbach, das Kommando. Er hatte sich als kriegs¬
erfahrner Manu seine Leute — eigne Knechte und städtische Schützen — sorgfältig
ausgewählt und wußte, daß er sich unter allen Umständen ans ihren Gehorsam ver¬
lassen konnte. Jetzt rief er sie zusammen, ließ sie zu den Waffen greifen, feuerte
sie durch eine Ansprache an und machte mit seiner nur aus achtzehn Köpfen be¬
stehenden Mannschaft einen Ausfall. Auf deu Mauern beobachtete man das ebenso
tollkühne wie aussichtslose Unternehmen mit einer aus Furcht und Neugier ge¬
mischten Teilnahme. Man sah, wie das Häuflein im Sturmschritt gegen den Feind
rückte, wie die Schützen ihre Haken auf die Gabeln legten und abbrannten, und
wie die kleine Heldenschar, als ihr eine mehr als fünffache Übermacht entgegen-
rückte, kehrt machte und dnrch das Zwingelpförtchcn wieder in die Stadt raunte.
Aber von den neunzehn Streitern kamen nur siebzehn zurück: zwei von ihnen hatte»
das Wagnis mit dem Leben bezahlen müssen.
Die Kurfürstlichen, die ebenfalls zwei Tote hatten, setzten ihren Weg jetzt un¬
angefochten fort und richteten sich auf Marienberg, die glückliche Lage des Klosters
nach Kräften ausnutzend, so bequem wie möglich ein. Johann der Zweite bezog
mit seinem Hofstaat die von den Konventualinnen verlassenen Gemächer, und an
der Stätte, wo man sonst nnr Orgelklang und Chorgesang, das Schnurren der
Spinnräder und das Klappern der Webstuhle vernommen hatte, hörte man jetzt
den sporenklingenden Schritt schwerer Reitstiefel, das Klirren der Waffen und den
Lärm rauher Männerstimmen. Bis hoch in das von zwei klaren Bergwässern
durchströmte Tälchen hinauf war alles in lebhafter Tätigkeit. Hier wurden Zelte
aufgeschlagen und Lagergnssen abgesteckt, dort Gräben ausgeworfen und Brustwehren
aufgeführt, und hinter den Klostergebäuden, auf den Abhängen des Eisenbolzkopfes,
waren emsige Zimmerleute beschäftigt, die beiden kurfürstlichen Hauptbüchsen „Un¬
gnade" und „Snelgin" samt den dazu gehörenden Kartaunen, Feldschlangen und
Hakenbüchsen zu lagern.
Den ganzen Nachmittag über gab es für die Bopparder genug zu sehen, seit
aber auf beiden Seiten Blut geflossen war, wollte die rechte, ungetrübte Schaulust
nicht mehr aufkommen. Man bemerkte, daß drüben auf dem andern Ufer, auf der
Filsener Lei und neben der Filsener Kirche, wo das Aufgebot von Montabaur
und Limburg lagerte, ebenfalls schweres Geschütz aufgefahren wurde, man glaubte
oben auf der Höhe über den Wingerten des Hamens die Kriegsvölker zu erkennen,
die von der Mosel her anrücken sollten, und man beobachtete, wie gegen sieben Uhr
Abends bei dem Martinskloster die reisigen Knechte und die Reiter anlangten, die
Philipp, Pfalzgraf bei Rhein und Kurfürst, seinem Verbündeten zuführte. Jetzt
entwickelte sich zwischen Se. Martin und Marienberg ein lebhafter Verkehr, Berittene
sprengten hin und her, und der Pfalzgraf beeilte sich, in Gesellschaft seines Feld¬
hauptmanns, des Ritters Hans von Trade, dem lieben Oheim und Mitknrfnrsten
einen Besuch abzustatten.
Als er das hohe Kloster wieder verließ, schlössen sich ihm viele der erzstiftischen
Vasallen wie der Pfalzgraf Jvhnnu, Herzog in Bayern, die Grafen von Sayn,
von Solms, von Westerburg, von Oberstein und von Wuunenberg an und machten,
jeder von einem Diener begleitet, einen Spazierritt zur Besichtigung der Bvpparder
Befestigungen. Von einem Turm der Niederstadt wurde auf die kleine Kavalkade
ein Schuß abgegeben, der sein Ziel zwar verfehlte, die Herren jedoch zur schleunigen
Umkehr veranlaßte.
So kam der Abend heran, und auf das farbige, belebte Bild senkten sich all¬
gemach die Schleier der Dämmerung. Die Städtischen verließen, soweit sie nicht
Amt und Pflicht auf der Mauer und den Türmen festhielten, ihre Beobachtungs-
posten und suchten ihre Hänser uns — müde und hungrig, aber einigermaßen durch
die Überzeugung getröstet, daß in der kommenden Nacht kein feindlicher Angriff auf
die Stadt zu erwarten sei.
Als Regina, die den ganzen Nachmittag an der Seite ihres Vaters ans der
Mauer geweilt hatte, in den Nebenstock zurückkehrte, schickte ihr die Äbtissin eine
der Laienschwestern entgegen und ließ sie bitten, vor dem Schlafengehn noch einmal
zu ihr zu kommen.
Das Mädchen begab sich sofort hinauf und fand die Domina in der größten
Aufregung. Die hohe Frau hatte von den Vorfällen des Tages schon Kunde er¬
halten und war untröstlich darüber, daß sich der Kurfürst erdreistet habe, das adliche
Juugfernstift zu einem Feldlager zu entweihen und die Stätte des Gebets, der
beschaulichen Betrachtung und der stillen Arbeit in eine Mördergrube und ein Brut-
nest verderblicher Anschläge zu verwandeln. Am meisten schmerzte sie der Gedanke,
daß der Klostergarten, an dem ihr ganzes Herz hing, und dessen Pflege sie täglich
etliche Stunden widmete, von der Soldateska verwüstet werden könnte. Sie stellte
sich vor, wie das rohe Volk die Axt an die schönen alten Walnußbäume und an
die jungen Stämmchen des Bongerts legen würde, die in diesem Sommer zum
erstenmal trugen, wie der Huf der Rosse die zarten Kinder ihres Würzgärtleins
zertreten würde, die Weißen Lilien und die roten Rosen, Salbei und Minze, Lieb¬
stöckel und Raute, Bockshoruklee und Rosmarin. Und so gipfelte das Leid der
sonst so weitschauenden, erfahrnen Frau in der Klage um das durch die Greuel
des Krieges verkürzte Leben von Kräutlein und Stauden, die der Frühling Jahr
für Jahr fast ohne menschliches Zutun aus dem Schoße der Erde ans Licht lockte,
und denen auch der nächste Lenz eine fröhliche Auferstehung schenken würde.
In diesem Kummer wollte die Domina, die soviel Lenze mehr gesehen hatte
als das Mädchen, von ihrer jungen Freundin getröstet sein. Aber Regina war
eine schlechte Trösterin. Erstens hätte sie jetzt eigentlich selbst des Trostes bedurft,
denn die Freude darüber, daß die kleine Besatzung der Burg und im besondern
Junker Wygant durch ihre List vor dem Hungertode bewahrt worden war, wurde
ihr durch die Furcht vergällt, die erboste Bürgerschaft könnte den wiederholt ge¬
äußerten Vorsatz ausführen, die Burg zu stürme« und die Kurfürstlichen zur Strafe
für die dem Magistrate dnrch den herausgesteckten Ochsenkopf zugefügte Beschimpfung
bis auf den letzten Mann — will sagen bis auf Nickel Lnnghenne — niederzu¬
machen. Zweitens aber — und das war das wichtigste — hatte sie trotz ihrer
Jugend den Grundsatz, sich nicht mit Klagen über Geschehenes und Bevorstehendes
aufzuhalten, sondern dem Schicksal, das ja blind sein soll, mit eigner Hand den
rechten Weg zu weisen, wenigstens den Weg, der ihr selbst der rechte zu sein schien.
In diesem Grundsatz war sie durch ihren jüngsten Erfolg bestärkt worden, und sie
hielt sich im stillen für berufen, noch weiter in die Händel dieser Welt, die für
sie freilich nur ein Dornengerank waren, das den geliebten Mann immer fester zu
umstricken drohte, mit schlichtender Hand einzugreifen.
Hätte Regina allein dagestanden, so hätte sie ihren Vorsatz, den Geliebten
um jeden Preis zu retten, wohl nie verwirklichen können. Da sie aber über eine
einflußreiche Bundesgenossin verfügte, deren Hoffnungen und Wünsche, was die
Beilegung des Streites zwischen der Stadt und dem Kurfürsten anlangte, mit ihren
eignen zusammenfielen, so hatte sie kein allzu schweres Spiel. Es galt uur, die
Äbtissin sür ihren Plan zu gewinnen oder vielmehr, sie diesen Plan selbst entwerfen
zu lassen, ohne daß die Hochedelgeborne auf den Gedanken kam, sie sei eigentlich
n»r ein Werkzeug in der Hand ihres Schützlings.
Seit undenklichen Zeiten Pflegte die Bopparder Bürgerschaft alljährlich am
dritten Montag nach Pfingsten auf eiuer zum Gebiet des Jnngferustifts gehörenden
Wiese ein Volksfest zu feiern, das unter dem Namen der Orgelborner Kirmes im
weiten Umkreis bekannt war. Dieses Fest, bei dem die ganze Einwohnerschaft mit
Sang und Klang zum Kloster hinaufzog, war ursprünglich nur eine jährlich zu
wiederholende öffentliche Anerkennung der territorialen Unabhängigkeit des Stifts
gewesen, gleichsam ein Besuch, deu die freie Reichsstadt dem benachbarten reichs¬
unmittelbaren Kloster abstattete. Aus diesen, Gebrauch hatte sich im Laufe der Zeit
ein Rechtsverhältnis entwickelt, das den Bürgern die Feier der Orgelborner Kirmes
zur Pflicht machte, wenn sie nicht gewisser Gerechtsamen, die ihnen das Stift ein¬
geräumt hatte, und zu denen der Anspruch auf eine bedeutende Wein- und Brot¬
spende an die Armen der Stadt sowie die Nutzung der Klosterwaldungeu gehörten,
verlustig gehn wollten.
Das Fest hätte am nächsten Montag wieder begangen werden müssen, aber
die Bopparder hatten ihre sonst so angenehm cmpfundne und gern erfüllte Ver¬
pflichtung in dieser bösen Zeit entweder ganz vergessen oder gedachten mit stillem
Kummer der frühern Jahre, wo man draußen auf der Wiese am Born so fröhlich
gewesen war und sich bis in die späte Nacht den Freuden des Tanzes und des
Weines sorglos hingegeben hatte. Daß man das Fest auch in diesem Jahre feiern
müßte — trotz den Spießen und Partisanen, den Kartaunen und Feldschlangen,
die deu Zugang zu der Stätte ungebundner Lust versperrten, darauf konnte in
ganz Bvppnrd uur ein liebendes Mädchen kommen, das entschlossen war, aus allen
Hindernissen der Welt den? Geliebten eine Brücke zur Freiheit, zum Leben und
zum Glück zu bauen.
Um die Blumen und die Würzkräuter solltet Ihr Euch nicht grämen, Domina,
sagte Regina, als die Matrone mit ihrem Klagelied zu Ende war, die kommen
wieder, und was Ihr davon für die Apotheke braucht, das könnt Ihr leichtlich beim
Krämer oder vom Abt zu Se. Matheis erhalten, was aber den Bongert anlangt,
so fürchte ich auch, daß sie die Kirschen und die Frühbirnen gleich über der Wurzel
abpflücken werden. Aber Ihr mögt Euch dessen trösten, denn von dem ganzen
Handel hat kein andrer den Nutzen denn das hohe Kloster.
Das Kloster den Nutzen? fragte die Äbtissin aufhorchend, wie soll ich das
verstehn?
Ihr mögt fortan den Städtischen verwehren, ihre Säue in Euern Wald zu
treiben, werdet auch ein Erkleckliches an Wein und Brot ersparen.
Die Matrone sah das Mädchen verständnislos an. Sie wußte nicht, worauf
Regina hinauswollte.
Die Domina hat die Orgelborner Kirmes vergessen!
Die Kirmes! Richtig, die Kirmes! Daraus wird Heuer freilich nichts werden,
sagte die Äbtissin nachdenklich, wenn der Kurfürst zum Neigen aufspielt, werden die
Bopparder nicht tanzen wollen.
Ihr hättets in der Hand, den Kurfürsten und die Bopparder miteinander
tanzen zu lassen, Domina, sintemalen Ihr doch den Tanzboden stellt. Beim Reigen
sind sich schon manche gut geworden, die vordem nicht viel voneinander haben wissen
wollen. Brauchtet mir zu sagen: das Stift besteht auf seinem Recht. Wenn der
Kurfürst und der Rat ihr vermeintliches Recht mit dem Schwerte verfechten, warum
wollt Ihr das Eure, das doch unbezweifelt ist, fahren lassen?
Die Äbtissin machte sich am Dochte der vor ihr stehenden Lampe zu schaffen
und schaute nachsinnend in das knisternde Flümmchen. Was das Mädchen da ge¬
äußert hatte, ließ sich hören. Es hatte sie schon lange gewurmt, daß sich die
streitenden Parteien nicht mit der Bitte um Vermittlung an sie gewandt hatten,
die doch wegen ihrer Geburt, ihrer Stellung und ihrer bewährten Klugheit wie
kein andrer zu diesem Geschäft befähigt gewesen wäre. Jetzt, wo sich der Kurfürst
ini Kloster festgesetzt und dadurch dieses zum Ziel für das städtische Geschütz gemacht
hatte, mußte sie zeigen, daß sie auch noch da war, mußte sie auf ihrem Recht
bestehn und die gewohnte Anerkennung der stiftischen Souveränität verlangen. Daß
sich die Stadt ihren Wünschen gefügig zeigen würde, war gewiß, denn diese hatte
den Vorteil davon. Die Frage war nur, ob der Kurfürst genügendes Verständnis
für ihre Lage beweisen und der Stadt den zur Erfüllung ihrer Pflicht notwendigen
Waffenstillstand bewilligen würde. Die Domina glaubte diese Frage bejahen zu
dürfen. Denn erstens mußte ihm in einer Zeit, wo Domkapitel, Adel und Städte
eifrig bemüht waren, seine Macht zu beschneiden, daran liegen, sich mit den geist¬
lichen Stiftern gut zu stellen, und zweitens konnte ihm, der, wie die Äbtissin nur
zu gut wußte, wider willen in den Krieg hineingetrieben worden war, nichts er¬
wünschter sein, als daß ihm die Möglichkeit geboten wurde, die Waffen aus der
Hand zu legen und noch zu guter Letzt eine Verständigung mit dem Feinde zu suchen.
Kam diese zustande, so war das Kloster gerettet, und die Äbtissin hatte sich
beide Parteien zur Dankbarkeit verpflichtet und ihr Ansehen als umsichtige und diplo¬
matisch gewandte Regentin aufs neue gerechtfertigt.
Der Gedanke beschäftigte sie so lebhaft, daß sie darüber den gefährdeten Garten,
die jungen Obstbcmme und die Würzkräutleiu vergaß, und da sie nun auch des Trostes
nicht mehr bedürfte, Regina mit dem Hinweis auf die vorgerückte Stunde entließ.
Am andern Morgen erhob sich die Domina nach einer schlaflos verbrachten
Nacht zu zeitiger Stunde und ließ Meister Metzler zu sich entbieten. Sie richtete
die Frage an ihn, wie denn die Stadt in diesem Jahre die Orgelborner Kirmes
zu feiern gedenke, und ob ein löblicher Rat schon Schritte getan hätte, bei Seiner
kurfürstlichen Gnaden für den Tag des Festes einen Waffenstillstand auszuwirken.
Metzler mußte bekennen, daß bisher noch niemand an die Kirmes gedacht habe, und
meinte, man werde diesesmnl wohl mit dem Feste aussetzen müssen, sintemalen der
Kurfürst in der Nacht Sukkurs vom Markgrafen von Baden und vom Landgrafen
von Hessen erhalten habe, auch noch die Völker des Schwäbischen Bundes erwarte
und mit dieser gewaltigen Heeresmacht Wohl eher zu einem Sturmlauf auf die Stadt
als zu Unterhandlungen geneigt sein werde. Aber die Äbtissin zeigte sich diesen
Gründen nicht zugänglich. Mit einer Bestimmtheit, die den Küfermeister beinahe
erschreckte, erklärte sie, wenn einem löblichen Magistrat so wenig an den freund¬
nachbarlichen Beziehungen zum hohen Kloster liege, daß er nicht einmal den Versuch
machen wolle, über Mittel und Wege nachzusinnen, wie die Stadt ihre Verpflichtungen
erfüllen könne, so werde sie genötigt sein, den Rebenstock zu verkaufen und die
stiftische Kellnerei in ihr allzeit getreues Dorf Holzfeld zu verlegen, auch fortan der
Nutzung des Klosterwaldes durch die Bopparder Einhalt zu tun und die Labung
der Armen mit Brot und Wein einem löblichen Rate selbst zu überlassen.
Diese ungnädige» Worte seiner Gebieterin veranlaßten Metzler, schleunigst den
Schultheißen aufzusuchen und ihm von seiner Unterredung mit der Domina Mit¬
teilung zu machen. Herr Paul von Lepe, der mit den Verhältnissen in der Stadt
viel zu wenig vertraut war, als daß er sich in dieser verwickelten Angelegenheit
ein Urteil zugetraut hätte, nahm Metzler mit auf das Rathaus und ließ die Glocke
läuten, deren Klang die Mitglieder des Rates gewöhnlich zusammenrief. Dann
mußte der Meister seinen Bericht vor der Versammlung wiederholen, und bei der
nun folgenden Verhandlung stellte es sich heraus, das; bei weitem die meisten der
Ratsmitglieder die Forderung der Äbtissin gerechtfertigt fanden und ihren Antrag
auf Entsendung einer Deputation an den Kurfürsten mit großem Eifer unterstützten.
Über die Zusammensetzung dieser Deputation einigte man sich bald. Die Wahl fiel
auf Herrn Adam Beyer als den vornehmsten aus dem städtischen Adel, auf Meister
Metzler, der als einer der angesehensten unter den bürgerlichen Ratsherren und
wegen seiner engen Verbindung mit dem hohen Kloster zu einer solchen Mission
doppelt geeignet erschien, und auf den Ratsschreiber Severus Classen, der als rechts¬
kundiger und redegewandter Mann den Sprecher machen sollte.
Als sich die Gesandtschaft in Festtagskleiduug. aber ohne Waffen auf den Weg
machte, saß Kurfürst Johann mit seinem Kanzler, Herrn Ludolf von Enschringen,
und seinem Rentmeister, Theiß von Honefels, im Gemache der Äbtissin und bemühte
sich, Klarheit darüber zu gewinnen, was ihn der Krieg, der noch nicht einmal recht
begonnen hatte, da die Lagerung der Geschütze wegen des abschüssigen Terrains
unvorhergesehene Schwierigkeiten bereitete, bis jetzt an barem Gelde koste. Der Rent¬
meister beugte sich über seine mit Zahlen bedeckten Papiere, rechnete und schrieb und
teilte, sobald er mit einem Posten zu Eude war, seinem Gebieter das Ergebnis mit.
Kurtrierische Söldner den Tag 740 Gulden rheinisch, sagte er, drei Tage
unterwegs taon 2220 Gulden, die Pfalzgräflichen den Tag 520 Gulden, fünf Tage
unterwegs taon 2600 Gulden, die Landgräflichen leisen, die Markgräflichen sechs
Tage unterwegs 1860 Gulden, Jülich 50 Reiter, fünf Tage 280, Sponheim. will
sagen Herzog Hans, 30 Reiter zwei Tage taon. 144, dazu für die Büchsenmacher
732/2, den Zimmerleuten 24, den Schiffern 120 und dem Schanzmeister 12, taon
in summa 9903^2 Gulden rheinisch, wobei der Schwäbische Bund, das Pulver und
die oxtraoräiuaria nicht einmal gerechnet.
Der Kurfürst seufzte und wiederholte:
?aeit in summa 9903^ Gulden.
Er erhob sich und wanderte mit großen Schritten im Gemache auf und nieder.
?aoit oum sxtraoräinariis mehr deun 10000 Gulden, und dabei hat das grobe
Geschütz noch nicht einen Schuß getan! O Enschringer, wir haben uns eine böse
Last aufgeladen. Für gedachte Summa hätten wir leichtlich unsre verpfändeten Herr¬
schaften einlösen können.
Eure kurfürstliche Gnade durfte den Schimpf, so die von Boppard Euch zugefügt,
nicht so hinnehmen, tröstete der Kanzler. Und wenn Ihr erst über die Stadt trium¬
phieret, so mag'sie Euch alles, was die Fehde gekostet, bei Heller und Pfennig zurückzahlen.
Wenn wir die Städtischen nicht bald zwingen, so möchte der Krieg Wohl mehr
kosten, als ganz Boppard wert ist, antwortete Johann der Zweite mit unverhohlnem
Kleinmut.
Die Bopparder haben Eure milden und väterlichen Mahnungen nicht hören
wollen und haben in ihrem Ungehorsam beharret; was bleibt Eurer kurfürstlichen
Gnade nun anders, als zornig mit ihnen zu reden durch den Mund der Haupt¬
büchsen und mit der barschen Stimme der Kartaunen?
Ach Enschringer, wie man in den Wald schreit, so klingt es heraus. Ich fürchte,
die Bopparder werden auf den barschen Anruf nicht minder barsch antworten.
Er war an das Fenster getreten und schaute ernsten Antlitzes auf die Stadt
hinunter. Plötzlich heilten sich seine Mienen auf.
Enschringer und Ihr, Honefelser, tretet einmal hierher, sagte er, und schaut,
was es da unten gibtl Mich dünkt, die Knechte geleiten drei Männer aufs Kloster,
die nicht von den Unsrigen sind.
Werden Gefangne sein oder Überläufer, meinte der Kanzler.
Da lachte der Kurfürst laut auf und schlug dem Rentmeister so derb auf die
Schulter, daß diesem die Knie zusammenknickten.
Ach, Leute, rief er, ihr wollt meine klugen Räte sein und wißt nicht, was das
bedeutet? I^SAati ZZauäobriZöllsss! ve-rinnt pa.ve.in xstsutss!
Der Hauptmann, der auf dem Vorsaale die Wache hatte, trat ein und meldete,
es seien Abgesandte von den Städtischen angelangt, die dem Kurfürsten eine Bot¬
schaft zu bringen hätten und um die Gunst bäten, mit Seiner kurfürstlichen Gnaden
selbst verhandeln zu dürfen.
Herein mit ihnen! flugs! flugs! rief Johann der Zweite, dessen breites Antlitz
die Freude gerötet hatte.
Mit Verlaub, bemerkte der Kanzler, Ihr solltet die Männer zuvor ein weniges
warten lassen.
Warten lassen — wo uns jede Stunde 170 Gulden kostet? donnerte der alte
Herr, flugs herein mit ihnen! Je eher wir sie hören, desto besser!
Die drei Bopparder wurden in das Gemach geführt und näherten sich in ehr¬
erbietiger Haltung dem Kurfürsten, der wieder in seinem Sessel saß und mit gleich¬
mütiger Miene in den Papieren des Rentmeisters blätterte.
Wir kommen im Namen eines löblichen Rates der freien Reichsstadt Boppard —
begann Severus Classen seine Rede.
Eines löblichen Rates? unterbrach ihn Johann. Ist ein Rat löblich zu
nennen, der sich Wider den von Gott über die Stadt gesetzten Herrn auflehnt?
Nicht von Gott gesetzt, Kurfürstliche Gnaden, erwiderte der Ratsschreiber keck,
die Stadt erkennet keinen als ihren Herrn an denn den Kaiser. Allerdings hat König
Heinrich der Lützelburger unsre Stadt dem Erzbischof Balduin und seinen Nach¬
folgern zum Pfande verschrieben, aber nur als Gubernatoren und Vögten an seiner
und seiner Nachfolger Statt. Ist auch ausdrücklich verordnet und bestimmt, daß sie
nur die Abgaben erheben, und daß sie die Stadt nicht mit neuen Lasten beschweren,
vielmehr Recht, Herkommen und xrivilissis. unangetastet lassen sollen. Aber dieses
Handels halber sind wir nicht gekommen, sondern um einer andern Ursache willen. Über¬
morgen, als am dritten Montag nach dem heiligen Pfingstfeste, muß die Stadt die
Orgelborner Kirmes feiern hier draußen auf des Klosters Wiese —
Der Kurfürst schlug so stark mit der Faust auf den Tisch, daß sich der Rent¬
meister veranlaßt fühlte, das Tintenfaß in Sicherheit zu bringen, und sagte lachend:
Kirmes feiern? Kanzler, hab ich recht gehört: Kirmes feiern? Jetzt, wo unsre
väterliche Hand die Zuchtrute über sie ausreckt, wollen sie Kirmes feiern? Wo wir
mit tönendem Erz zu ihnen reden wollen, steht ihnen der Sinn nach Tanzen und
Saufen?
Ist nicht des Tanzens und Saufens wegen, daß die Stadt das Fest zu begehn
wünscht, sondern zum ersten aus schuldigen Respekt gegen das adliche Jungfernstift, und
zum andern, weil die Stadt, so sie die Feier unterließe, der klösterlichen Gerechtsame
verlustig ginge, als da sind: die Nutzung des Waldes, die Labung der Armen —
Halt, ihr Leute! sagte der Kurfürst, das läßt sich hören! Gerechtsame sind
kein Mausdreck —
Und deshalb bitten wir Eure kurfürstliche Gnaden, der Stadt am Montag
von Sonnenaufgang bis zum Niedergang ein arwisMum zu bewilligen, also daß
die Bürgerschaft in guter Ordnung und Ruhe die Kirmes feiern kann.
Der alte Herr überlegte eine Weile und sagte dann: voneMwus. Aber wir
stellen eine Bedingung.
Und die wäre? fragte Meister Severus.
Daß uns die Stadt mit einer Einladung beehrt. Meint Ihr nicht auch, Ensch-
ringer? Es wäre unbillig, zu verlangen, daß wir zusehen und uns das Maul lecken
sollten, indes sich die Städtischen hier ans dem Anger verlustieren.
Wir haben die Weisung, xostulkto conessso Eurer kurfürstlichen Gnaden Dank
zu sagen und zugleich die Bitte auszusprechen, Ihr möchtet samt dem Hofgesinde,
den Verbündeten und den Feldhauptleuten bei dem Feste zugegen sein, antwortete
der Ratsschreiber schlagfertig.
Die beiden andern Mitglieder der Gesandtschaft sahen einander erstaunt an.
Ihnen war von einer solchen Weisung nichts bekannt. Aber diese Eigenmächtigkeit
konnte man dem Sprecher schon verzeihen. Der Kurfürst als Gast der Stadt —
das war mehr, als man in den kühnsten Träumen zu hoffen gewagt hatte!
Und als die drei Männer eine halbe Stunde später wieder in Boppard an¬
langten und dem noch immer versammelten Rat über das Ergebnis ihrer Mission
Bericht erstatteten, da brach die Versammlung in lauten Jubel aus, und dieser
Jubel pflanzte sich fort über den Markt und durch die Gassen, und von den Mauern,
den Toren und den Türmen erscholl zum zweitenmal der vielstimmige Ruf: Viv^t
^ownnos «sounällL! (Fortsetzung folgt)
„Dieser Reichstag hat kein Ziel vor, keinen Willen zur Herrschaft in sich; er
ist zum Disputierkränzchen geworden und drischt in jedem Herbste wieder dasselbe
Stroh. In England, Frankreich, Italien, Spanien, Ungarn, Belgien, Skandinavien,
in Österreich und in den Balkanstaaten sogar regiert das Parlament, in Nußland
heischt es Konventsrechte; in Deutschland redet es den Regierenden ins Handwerk
drein und knickert ihnen unklug die Pfennige ab. Dieser Zustand darf nicht noch
länger andauern." Solche nur zu wahre Schilderung des deutschen Reichstags
lasen wir jüngst in Herrn Harders „Zukunft". Was darin über den Reichstag
gesagt ist, wird jeder politisch einsichtige Deutsche mit Sorge unterschreiben,
vielleicht mit dem Hinzufügen, daß dasselbe Stroh nicht nur in jedem Herbst,
sondern alljährlich sechs Monate lang gedroschen wird. Was die Heranziehung
der Parlamente andrer Länder anlangt, so wird der Verfasser für Deutschland
schwerlich Regierungszustände wünschen, wie sie mit Ausnahme von England in fast
allen den bezeichneten Ländern bestehn, mit deren Volksvertretungen sich das englische
Parlament wohl kaum in einem Atem nennen läßt. Sodann darf nicht übersehen
werden, daß alle diese Staaten. England mit eingeschlossen, einheitliche Staats¬
gebilde sind, Deutschland dagegen ein Bundesstaat, zusammengesetzt aus fünfund¬
zwanzig souveränen Staaten, die „zum Schutze des Bundesgebiets und des innerhalb
desselben giltigen Rechts sowie zur Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes"
einen ewigen Bund geschlossen haben. Auf diesen drei Fundamentsteinen ruht das
Reich, sie sind die Ziele, zugleich aber auch die Voraussetzung und Bedingung
seines Bestehns. Mit dem „giltigen Recht" verträgt sich der Begriff des regierenden
Parlaments nicht; dazu ist der ewige Bund nicht geschlossen worden.
"
Wer die oben zitierten Sätze der „Zukunft gelesen hat, wird unwillkürlich
zu der Schlußfolgerung kommen: „Also weg mit diesem Reichstage, weg mit dem
Wahlrecht, aus dem er hervorgegangen ist!" Weit gefehlt! Die Schlußfolgerung
lautet wörtlich: „Das nächste Ziel politischen Trachtens muß die Sicherung des
xg,rIiain<zntÄr^ Aovörninont, nach britischen Muster sein." Für den gesunden Menschen¬
verstand ist das schwer zusammenzureimen. Erstens wollen wir doch in Dentsch-
land nach deutschem und nicht nach britischen Muster regiert werden. Ein Re-
gierungssystem muß sich historisch entwickeln, muß auf den in der Geschichte seines
Volkes gegebnen historischen Grundlagen ruhen, es läßt sich nicht wie eine Be¬
kleidungsmode oder eine Hutform aus dem Auslande importieren. Auch würde
es keinem Engländer jemals einfallen, nach einer ausländischen Regierungsform
— und wäre sie zehnmal freiheitlicher als die britische — zu verlangen oder der
Verfassung seines Landes eine inferiore Rolle zuzuweisen. Dazu wäre er zu stolz
und hätte zuviel Nationalbewußtsein.
Vor allem aber ist die deutsche Reichsverfassung von ihrem Schöpfer, unter dessen
Flagge ja die „Zukunft" noch gelegentlich segelt, für xariiamsutai^ Kovsrnmknt
nicht gemacht und nicht eingerichtet worden. Bismarck war gewiß nicht gewillt,
ohne Volksvertretung zu regieren. Er hat uns im Gegenteil ein Parlament auf
so demokratischer Grundlage gegeben, daß wir darin hinter keiner republikanischen
Verfassung zurückstehn, ja er hat in der Verfassung sogar einstweilen die große
Lücke zugelassen, daß einem so demokratischen Wahlrecht nicht das Korrektiv eines
Oberhauses zur Seite gesetzt wurde. Aber die obere Begrenzung ihrer Rechte muß
diese Volksvertretung doch immer an den Rechten der Souveränitäten finden, die
den Bund geschlossen haben, zu dessen Zwecken die Volksvertretung mitwirken
soll, denn mitwirken, nicht regieren soll bei uns das Parlament. Nicht gleich¬
berechtigt, sondern regierend steht über dem Parlament der Bundesrat als Aus¬
druck der Gesamtsouveräuität, die den Bund geschaffen und geschlossen hat; steht
der Kaiser, dem die landesherrlichen Befugnisse der Einzelstaaten für weite Ge¬
biete der innern und der äußern Reichspolitik durch Vertrag und Verfassung delegiert
sind. Nicht durch Reichstagsbeschluß, sondern aus den Händen der deutschen Fürsten
trägt der König von Preußen den Kaisertitel als Ausdruck der höchsten Reichs¬
gewalt — innerhalb dieses Rahmens ist für MrliamsutÄ,^ AovsrnMönt kein Raum.
Und das ist ein Glück! Wohin sollten wir kommen, wenn ein Reichstag, dessen
Tiefstand die „Zukunft" so drastisch schildert, auch gar noch zur Ausübung der Re¬
gierungsgewalt berufen wäre, d. h. daß aus der Mitte seiner jeweiligen Majorität
der Reichskanzler erkoren werden müßte? Wen will die „Zukunft" vorschlagen?
Herrn Müller-Meiningen, Herrn Erzberger oder Herrn Bebel? Diese Namen
charakterisieren die Majorität des heutigen Reichstags. Es ist ausgeschlossen, daß
der König von Preußen oder irgend ein andrer der deutschen Fürsten, auch die
Hansarepubliken nicht, geneigt sein könnten, einer Abänderung der Reichsverfassung
zuzustimmen, die dem Kaiser den Zwang auferlegen würde, den Kanzler aus den
Führern der jeweiligen Majorität zu wählen. Die Beispiele, die wir ringsum in
„parlamentarisch" regierten Ländern sehen, sind wahrlich nicht verlockend, für den
Bundesstaat aber schon aus den natürlichsten Gründen nicht nachahmbar.
Der Posten des deutschen Reichskanzlers ist einzig in seiner Art. Es gibt
auf der Welt nicht seinesgleichen, schon aus dem Grunde nicht, weil er nicht nur
der alleinige Träger der politischen Verantwortlichkeit für ein Reich von sechzig
Millionen, sondern zugleich auch der politische Leiter des größten Bundesstaates
ist. Auch aus diesem Grunde kann er nicht der Znfallsmajoritcit entnommen werden.
Weil Preußen der führende Staat ist, der die größte Summe von Interessen und
zugleich die höchste Leistung im Reiche hat, muß der Reichskanzler Preuße sein.
Gewiß ist der Fall denkbar, daß der Kaiser auch einem Bayer, Sachsen oder
Badener in so hohem Grade sein Vertrauen schenkte, daß er ihm mit dem Reichs¬
kanzleramt auch die Stellung des preußischen Ministerpräsidenten übertrüge. Aber
der Betreffende würde wahrscheinlich nur wenig leisten können, weil er in Preußen
nicht wurzelständig ist. Andrerseits hat der Träger der preußischen Krone auch
als Kaiser allen Anlaß, die preußische Staatsmacht fest zusammenzuhalten und
leistungsfähig auszubauen. Denn sie ist es, die auch „den Kaiser" trägt in den Tagen
des Glücks und des Glanzes, mehr noch in Zeiten des Ernstes und des Unglücks,
in denen seine alten preußischen Provinzen die letzten und ausdauerndsten Quellen
seiner Kraft sein werden. Eben deshalb muß auch der Reichskanzler Preuße sein,
damit er die reichen Quellen zu erschließen und in Zeiten der Not wie Moses mit
den: Stab an diese Felsen zu schlagen vermag, damit sie ihm Wasser, Lebenswasser
geben. Solange Deutschland ein monarchischer Staatenbund unter Preußens Führung
ist, können wir das Mi-Il^möniAr^ goverumsut nicht brauchen. Was nachher sein
wird, darüber wollen wir uns den Kopf nicht zerbrechen, sondern lieber dafür
sorgen, daß der jetzt noch starke monarchische Rahmen unsers nationalen Lebens
auch fernerhin unzerbrechlich bleibe. Zentrumsdemokratie und liberales Philister¬
tum in Parlament und Presse werden sich vielleicht vor so „reaktionären" Ge¬
danken bekreuzen. Mögen sie beizeiten zusehen, wohin sie der jetzt innegehaltene
Weg führt, damit sie nicht erst die Not beten lehrt.
In erster Reihe ist um der Gegenwart und der Zukunft willen Vonnöten, daß
der Sozialdemokratie endlich ein „Bis hierher und nicht weiter!" gesetzt werde. Der
von ihr aufgenommnen Propaganda, die jungen Leute noch vor ihrem Heerespflich¬
tigen Alter an die rote Fahne zu fesseln und sie mit Widerwillen und Abneigung
gegen den Heeresdienst zu erfüllen, dürfen die staatlichen Gewalten nicht länger un¬
tätig zusehen. Dieses Treiben ist qualifizierter Hoch- und Landesverrat. Kein
Kriegsminister wäre in der Lage, die Verantwortlichkeit für ein Heerwesen zu tragen,
dem von einer Aushebung zur andern solche Elemente in wachsender Zahl zufließen.
Der Staat übt durch die Volksschule eine notdürftige Aufsicht über die heranwachsende
Jugend bis zum vierzehnten Lebensjahre. Für die folgenden sechs oder sieben Jahre
fehlt sie vollständig — die wichtigsten, weil sich in ihnen der Charakter bildet —,
und erst mit dem Eintritt in das Heer, und dann mit großer Strenge, greift sie
wieder Platz. Da die ganze männliche Jugend dem Staate wehrpflichtig ist, er in
Kriegszeiten sogar bis in das siebzehnte Lebensjahr zurückzugreifen berechtigt ist,
so erwächst ihm daraus auch die Pflicht, die schulentlassne Jugend nicht aus dem
Auge zu lassen und dafür zu sorgen, daß sie dem Vaterlande, dem sie mit Leib
und Leben dienen, dem Könige, dem sie den Eid der Treue leisten und halten soll,
nicht durch hochverräterische Umtriebe entfremdet werde. Die Schule ist verfassuugs-
mcißig „eine Veranstaltung des Staates", das Heer auch, damit ist schon die Not¬
wendigkeit gegeben, zwischen Schule und Heer, zwischen Schulzeit und Dienstzeit eine
Verbindung herzustellen, die, ohne die Vorbereitung für den bürgerlichen Beruf oder
dessen Betätigung zu beeinträchtigen, doch eine Kontinuität der staatlichen Aufsicht
gewährt, wie sie für die Söhne der gebildeten Klassen, die bis zum siebzehnten
oder achtzehnten Jahre das Gymnasium besuchen, zum großen Teile ohnehin be¬
steht. Für die jungen Leute aus den ärmern Schichten, ans deren Erziehung und
Ausbildung so viel weniger Sorgfalt verwandt werden konnte, ist diese Aufsicht
doch um so notwendiger. Es lassen sich da sehr wohl Organisationen schaffen, die
z. B. mit einer turnerischen Vorbildung für das Heer, unter staatlicher Aufsicht, in
Zusammenhang zu bringen wären und den jungen Leuten gesundheitlich sehr gut zu-
statten kommen würden. Die hierfür nötigen Maßnahmen können, schon wegen ihres
engen Zusammenhangs mit dem Fortbildungsschulwesen, nur auf dem Gebiete der
Landesgesetzgebung und der Landesverwaltung, nicht der des Reiches liegen. Die
gemeinsame Durchführung in ganz Deutschland innerhalb einer bestimmten Frist
würde dennoch gesichert werden. Sodann müßte, da ja das Vereins- und Ver-
sammluugsrecht nur für majorenne Personen gilt, den jungen Leuten der Beitritt
zu irgendwelchen Organisationen, die nicht vom Staate als zulässig anerkannt
sind, bei Strafe verboten werden, einer Strafe, die zugleich auch Eltern, Pfleger,
Lehrherren und Vormünder treffen könnte. Außerdem sollte aber die Verbreitung
solcher Gesinnungen unter minorennen jungen Leuten als Vorbereitung zum
Hoch- und Landesverrat unter harte Strafe gestellt werden. Machen wir
endlich einen Anfang damit, die ganze Nation wartet mit Sehnsucht darauf. Hier
liegt noch ein weites und segensreiches Arbeitsfeld brach. Hüten wir uns, daß nicht
Unsegen darauf entsprieße. Es harrt der starken und werktätigen Hand!
Zwei Publikationen aus der Bismarckischen Zeit haben in diesen Tagen einiges
Aufsehen erregt und allerlei Erinnerungen wachgerufen. Die eine — Briefe des
verstorbnen Fürsten Hohenlohe aus dem Jahre 1874 — wies auf ein politisch
sehr bewegtes Jahr, das reich an Friktionen aller Art war. Aus auswärtigem
Gebiete: die ultrcunoutane Haltung der damaligen französischen Regierung, die dem
Karlistenanfstande in Spanien direkt Unterstützung gewährte und dafür wiederholt
ernste Drohungen von Berlin hatte hinnehmen müssen, im Zusammenhange damit die
Anerkennung des Marschalls Serrano als Präsident der spanischen Republik, die Ent¬
sendung deutscher Kriegsschiffe an die spanische Küste, sodann auf dem Gebiete der
innern Politik: die Arnimaffäre, die kirchenpolitische Gesetzgebung, das Militärseptennat
an Stelle des von der Regierung verlangten Äternats. Aus deu Briefen Hohenlohes,
der im Mai der Nachfolger des Grafen Arnim in Paris geworden war, geht hervor,
daß sich der Kaiser Hauptsächlich wegen der Anerkennung Serranos gegen Bismarck
verstimmt zeigte, daneben aber auch von der Besorgnis beherrscht war, daß Bismarck
ihn in einen neuen Krieg hineinführen könne. Man erkennt leicht, daß aus diesen
Verstimmungsgründen des Kaisers andre Einflüsse sprachen, was z. B. aus seiner
Bemerkung zum Fürsten Hohenlohe, man müsse jetzt konservativ werden, deutlich genug
hervorgeht. Es ist bekannt, daß die Arnimaffäre vielfach gegen Bismarck ausgenutzt
worden ist. Graf Arnim hatte in Paris die legitimistische Strömung gegen Thiers
begünstigt, und da diese mit der ultramontanen identisch war, war der Bot¬
schafter dadurch in einen Gegensatz zu der amtlichen deutschen Politik geraten. Sein
späterer Prozeß hat hinlänglich enthüllt, in welchem Umfange er seine Berliner
Hofbeziehungen gegen Bismarck ausgenutzt hatte. In innern Fragen war es das
Militärgesetz gewesen, das Reibungen hervorgerufen hatte. Die Regierung hatte
das Äternat für 401659 Mann gefordert, die bis dahin seit 1871 innegehaltne
Heeresstärke. Der Reichstag wollte auf die dauernde Bindung nicht eingehn, Bismarck
lag krank und konnte nur vom Krankenbett aus die Verhandlungen beeinflussen.
Die nationalliberale Partei machte den Kompromißvorschlag des Septennats, den
Miquel an Bismarcks Krankenlager befürwortete. Bismarck stellte dem Kaiser die
Entscheidung anheim mit der Erklärung, daß, wie diese auch ausfallen möge, er
mit seiner vollen Verantwortlichkeit für sie eintreten werde. Der Kaiser, der sich
immer mit dem Gedanken trug, die Militärfrage dem Streite mit der Volksvertretung
zu entrücken und sie seinem Sohne geordnet zu hinterlassen, ging schweren Herzens
auf das Septemmt ein, wohl in der Zuversicht, daß nach siebenjähriger Dauer das
Aternat um so eher zu erreichen sein werde. Dann kam im Juli das Kissinger
Attentat auf Bismarck, das beim Kaiser die höchste Teilnahme hervorrief. Die
von ihm selbst erwähnten neuen Verstimmungen fallen dann in den Monat August:
die spanische Anerkennungsfrage, Differenzen zwischen Bismarck und Stosch wegen
der Entsendung von Kriegsschiffen nach Spanien und zuletzt die zu Hohenlohe er¬
wähnte drohende Fassung der Thronrede. Hier brechen die Aufzeichnungen ab. Sie
sind, wie folgt, zu ergänzen. Am 25. Oktober sprach sich der Kaiser mißbilligend zu
Hohenlohe aus, zwei Tage später kehrte Bismarck von Varzin nach Berlin zurück und
hatte am folgenden Tage eine längere Besprechung mit dem Kaiser, in der alle Uneben¬
heiten geglättet worden sind. Die Thronrede behielt im wesentlichen die von Bismarck
gewünschte Fassung, er wohnte am nächsten Tage der Reichstagseröffnung bei. Roon
bezeugt in einem Briefe an Moritz von Blanckenburg, daß er Bismarck bei einem
Besuche am 2. November „objektiver, zufriedner und bei aller gewohnten Lebhaftigkeit
unaufgeregter als je, vollkommen auf der Hohe seiner Stellung, in völliger Überein¬
stimmung mit dem Allerhöchsten" gefunden habe. Leider dauerte das wiederher¬
gestellte gute Verhältnis nicht lange an. Bismcircks Gesundheit erwies sich der
durch Friktionen aller Art vermehrten Geschäftslast nicht gewachsen, und am 11. Mai
1875 übersandte er dem Kaiser ein vom 4. Mai datiertes, eingehend mit seinen
Gesundheitsverhältnissen begründetes Entlassungsgesuch, dem am 4. Juni die längere
Beurlaubung folgte, während der Bismarck durch Delbrück und Bülow vertreten
wurde. In diese Urlaubszeit fällt die Mitteilung eines Briefes der Königin Viktorin
durch den Kaiser an Bismarck, ein Brief, in dem Deutschland ebenfalls kriegerische
Absichten zugeschrieben wurden. In Bismcircks Antwort an den Kaiser steht der
bezeichnende, auch die Stelle in der Thronrede vom Oktober 1874 erläuternde Satz:
„Ich würde noch heute, wie 1867 in der Luxemburger Frage, Eurer Majestät niemals
zureden, einen Krieg um deswillen sofort zu führen, weil wahrscheinlich ist, daß der
Gegner ihn bald beginnen werde; mau kann die Wege der göttlichen Vorsehung dazu
niemals sicher genug im voraus erkennen. Aber es ist auch nicht nützlich, dem Gegner
die Sicherheit zu geben, daß man seinen Angriff jedenfalls abwarten werde."
Dieser Satz, den Bismarck in seiner historischen Rede vom 6. Februar 1888 wieder¬
holt hat, gilt auch noch für die heutige europäische Lage, wie er denn überhaupt
dauernd richtig sein wird. In demselben Sinne hat die deutsche Politik im vorigen
Jahre gehandelt, als sie Frankreich auf die Folgen hinwies, die es heraufbeschwören
werde, falls es die marokkanische Angelegenheit als Machtfrage behandeln wollte.
Die zweite hier in Betracht kommende Publikation ist ein vom Professor
Schiemann in der Kreuzzeitung wiedergegebner Brief Bismcircks aus dem Jahre1882,
der sich eingehend über das Verhältnis Deutschlands zu England und über die Un¬
möglichkeit einer Allianz mit England verbreitet. Diese Veröffentlichung ist eigentlich
nicht ganz neu. Der Brief steht bekanntlich in einer von dem jetzigen Unterstaats¬
sekretär Fitz-Maurice im britischen Auswärtigen Amt herausgegebnen Biographie
Lord Grcmvilles (1815 bis 1891), die schon vor einigen Monaten Gegenstand einer
Besprechung durch Hermann Oncken in den Preußischen Jahrbüchern gewesen ist.
Es ist weder der Empfänger des Briefes noch das genaue Datum angegeben. Lord
Grenville soll am 12. September 1882 eine Abschrift des an eine biZbli Me-eel
pörsoniuiKs gerichtete» Briefes empfangen haben. Bismarck war damals in Varzin.
Von dort hat er unter dem 12. September 1882 den Erlaß an den Botschafter
in London gerichtet, von dem in seiner Reichstagsrcde vom 2. März 1885 die
Rede ist. Der Brief ist deshalb wohl als privates Begleitschreiben zu dem Erlaß
anzusehen und trägt auch wohl dasselbe Datum, Lord Granville wird darum die
Abschrift nicht am 12., sondern einige Tage später erhalten haben. Auffällig darin
bleibt der wenig „Verbündete" Ton, in den, der Fürst von Osterreich spricht, und
sodann die Behauptung, daß Rußland und Frankreich große Summen aufwenden,
um „die deutsche Presse" zu Schmiere». Bismarck hat damit — wie aus seiner
Rede vom 2. März 1885 hervorgeht — die Finanzsorgen der französischen Bankiers
wegen der englischen Intervention in Ägypten, mit der Aussicht auf dauernde
Okkupation, im Auge gehabt, da die französischen Finanzmänner mit großen Interessen
in Ägypten engagiert waren. Sie könnten aber in der deutschen Presse wohl nur
durch deutsche Bankhäuser eine Vertretung erreicht haben. Rußland hatte ein
politisches Interesse an einem französisch-englischen Konflikt wegen Ägypten und
hatte wohl Mittel und Wege, dieses Interesse auch in Deutschland zur Geltung
zu bringen. Aufwendungen dazu waren kaum in erheblichem Umfange nötig, da
die öffentliche Meinung in Deutschland auch damals sehr wenig mit England
Die Umwälzungen, die der seit hundert Jahren
rastlos vorwärts stürmende technische Fortschritt auf allen Lebensgebieten zur Folge
hat, hält die Gesetzgeber, die Staatsmänner fortwährend in Atem und macht die
Erforschung des Zusammenhangs der Technik mit den übrigen Kulturzweigen zu
einer ihrer dringendsten Aufgaben. Ulrich Wendt, augenscheinlich ein historisch
und philosophisch gebildeter Techniker, versucht diese Aufgabe zu lösen in der „Studie"!
Die Technik als Kulturmacht (Berlin. Georg Reimer, 1906). Er stellt drei
Behauptungen auf: „1. Durch die Technik wird die menschliche Arbeitskraft fort¬
schreitend vergeistigt; 2. der steigende Geist erkämpft sich im Staate die persönliche
und die politische Freiheit; 3. der befreite Mensch vertieft das seelische Leben und
veredelt die Kultur" und führt den Beweis dafür in einem geschichtsphilosophischen
Überblick über die politische und die Kulturgeschichte. Wir sind weit entfernt davon,
die Richtigkeit der drei Behauptungen bedingungslos zuzugeben und die Beweis¬
führung durchweg stichhaltig zu finden; vieles darin ist zweifellos falsch, vieles nur
halb wahr. Aber Politiker, die mit den notwendigen historischen Kenntnissen und
mit kritischem Scharfsinn ausgerüstet sind, werden das Buch mit Nutzen lesen; wenn
es nicht auf alle Fragen die richtige Antwort gibt, lehrt es wenigstens alle die
Fragen auswerfen, die der technische Fortschritt an den Staatsmann und den Gesetz¬
geber und auch an den praktisch unbeteiligten Denker stellt.
Das
sollte auf jeder N)aschtoilette zu
finden sein. <Ls ist deutlich für
seinen Zweck gekennzeichnet und
macht eine Verwechslung mit
Trinkgläsern unmöglich. Man
vermeidet also, daß die Trink¬
gläser nach Mundwasser riechen.
Das Glas ist in den cvdol-ver-
kanfsstellen zum Preise von 20 j?fg. pro
Stück oder gegen Rückgabe von H ent¬
leerten großen Gdolflaschen zu haben.
vregSensr KIikmise!ik8 I^boratorium
Ungner
! le Redaktion des polnischen Blattes Krytika in Krakau versendet
an eine Anzahl Männer von Ruf einen Fragebogen mit folgendem
^ Inhalt:
1. Ist vom Standpunkte des Völkerrechts aus das Streben
Jdes polnischen Volkes nach Wiedergewinnung einer unabhängigen
Existenz in den Grenzen seines heutigen Sprachgebiets als berechtigt anzu¬
erkennen, oder nicht?
2. Ist im Interesse der europäischen Gesamtkultur die Erhaltung und
selbständige kulturelle Weiterentwicklung der polnischen Nation im Rahmen
eines unabhängigen Staatswesens wünschenswert oder unerwünscht?
3. Welchen Einfluß ans die europäische und Weltpolitik Hütte »,) die Um¬
wandlung Russisch-Polens (innerhalb seiner heutigen ethnographischen Grenzen,
also ohne Litauen und die ruthenischen Lande) in ein autonomes, dem russischen
Reiche föderativ angeschlossenes Gebiet mit eignem Landtag, eigner Landes¬
regierung und eignem Wehrwesen, die Umwandlung des gesamten polnischen
Sprachgebiets in eine unabhängige demokratische Republik, in deren Grenzen
sämtliche Einwohner ohne Unterschied der Konfession und Nationalität politisch
und staatsbürgerlich gleichberechtigt wären?
Es dürfte nicht ratsam sein, auf die beiden letzten Fragen eine Antwort
zu geben, denn notwendigerweise müßte diese kränkend für Nußland sein. Man
redet allenfalls über die Abtrennung dieser oder jener Provinz aus dem Reiche
des Sultans, aber nicht aus dem des Zaren, mit dessen Negierung Deutschland
durchaus auf dem Boden normaler, freundschaftlicher Beziehungen steht. Mit
Rußland mögen die Polen selbst ihre Abrechnung halten. Ruhiger beurteilt
Österreich die Frage, denn wenn es je zur Wiederherstellung eines polnischen
Nationalstaats kommen sollte, so wird das jetzt ganz nationalpolnisch ver¬
waltete Galizien der Kristallisationskern sein. Die österreichisch-ungarische Re¬
gierung kennt die Hoffnungen und die Bestrebungen der Polen sehr gut und
hält sich mit mancherlei wichtigen Gründen ihrer Treue versichert. Sie bilden
parlamentarisch geradezu eine Prütoricmergarde für sie. Gegen den Habs¬
burgischen Kaiserstaat werden die Polen nicht leicht etwas unternehmen. Viel
eher kann man am Himmel der Zukunftsträume ein Polen sehen, das in
Personalunion oder in Sekundogenitur mit dem Donaureich eng verbunden ist.
Wie in einem selbständigen Galizien — von weiter bemessenen Grenzen ganz
zu schweigen — die Polen mit den Ruthenen fertig werden wollen, ist eine
ungelöste Frage. Die Polen machen nur wenig mehr als die Hälfte der dortigen
Bevölkerung aus. Ende 1900 wurden nach der Umgangssprache 54,75 vom
Hundert Polen, 42,20 vom Hundert Ruthenen gezählt. Der Rest von 3,05 vom
Hundert verteilt sich auf Deutsche, Rumänen, Slowaken, Magyaren usw.
Die polnische Mehrheit fällt ungefähr zusammen mit der sich zur römisch¬
katholischen Kirche bekennenden Mehrheit. Diese zählt 3350000 Anhänger,
während 3104000 griechisch-katholisch (uniert), 45000 protestantisch und nicht
weniger als 810000 israelitisch sind. Die konfessionelle Spaltung erschwert
die Lösung des Problems. Oder sollen auch die galizischen Ruthenen von
dem Polenreiche der Zukunft ausgeschlossen sein? Meist vernimmt man doch,
daß das eigentliche Ziel der Polen die Wiederherstellung des Jagellonenreichs
in seiner größten Glanzzeit sei. Es solle von „Meer zu Meer", von der
Weichselmündung bis zur Pruthmündung gehn. Doch ist rückhaltlos anzu¬
erkennen, daß die schon erwähnte Frage viel enger und besonnener gestellt ist.
Sie spricht nur von dem heutigen polnischen Sprachgebiet und schließt die
Litauer und die Ruthenen aus.
Was heißt heutiges Sprachgebiet? Das führt uns auf das, was für
uns Deutsche allein von Bedeutung ist, und weshalb es auch für uns einen ge¬
wissen Zweck hat, auf die Frage einzugehn. Betrachten die Polen Westpreußen
als polnisches Sprachgebiet?
Unter je 1000 Personen ortsanwesender Bevölkerung wurden am 1. De¬
zember 1900, ermittelt nach der Muttersprache, gezählt:
Kann man diese Provinz, kann man auch nur einen einzigen Regierungs¬
bezirk als polnisches Sprachgebiet in Anspruch nehmen? In dem einen machen
die Polen ein Siebentel der Bevölkerung aus und sogar mit den Kassuben
noch nicht ein Drittel. In dem andern kommen sie auch mit den Kassuben
noch nicht auf zwei Fünftel.
In der Provinz Posen ist die entschiedn? Mehrheit der Bevölkerung polnisch,
namentlich im Regierungsbezirk Posen. Von 1000 Bewohnern waren
Um auf die Frage einer politischen Wiederherstellung Polens in den
Grenzen des heutigen Sprachgebiets eine Antwort finden zu können, müßten
die Polen doch zunächst bestimmt erklären, ob sie aus Grund dieser Zahlen
die Provinz Posen beanspruchen.
Von Schlesien sind die beiden Regierungsbezirke Breslau und Liegnitz
so deutsch, daß wohl kein Pole davon träumt, wegen der ehemaligen Piasten-
herrlichteit hier noch ein polnisches Regiment einrichten zu wollen. Breslau
hat 959,85 vom Tausend Deutsche, Liegnitz 964.33. Aber in Oberschlesien
liegen die Sachen anders. Im Regierungsbezirk Oppeln waren im Jahre 1900
von je 1000 Bewohnern
Also Oberschlesien ist überwiegend polnisch. Zwar spricht man dort nicht
hochpolnisch, sondern ein ganz andres Idiom, das wasserpolackische, das ein
stark mit deutschen Wörtern durchsetztes Polnisch ist. Zwar sind dort die
Erinnerungen an den schon im Mittelalter gelösten politischen Zusammenhang
mit dem Königreich Polen vollständig erloschen. Dennoch flammt dort heut¬
zutage der polnische Nationalismus kräftig auf. Verlangen also die Veranstalter
der im Eingang erwähnten Rundfrage die Regierungsbezirke Posen, Bromberg
und Oppeln — rund 42000 Quadratkilometer mit fast 4 Millionen Ein¬
wohnern — auf Grund des Begriffs vom heutigen Sprachgebiete für das
zukünftige Polenreich?
Es ist schwer, ruhigen Blutes eine Antwort auf ein etwaiges Begehren
dieser Art zu geben. Man muß sich einmal ausmalen, was Frankreich und
England wohl sagten, wenn kraft ähnlicher Motivierung Korsika und Irland
abgetrennt werden wollten. Doch werden wir uns bemühn, die Sache so
objektiv zu erörtern, als handelte es sich um Gebiete auf dem Monde.
Westpreußen hat nicht nur eine noch stärkere deutsche Mehrheit als sogar
Posen eine polnische, es ist auch zugleich die Verbindung zwischen dem deutschen
Ostpreußen (rund 800 vom Tausend der Bevölkerung sind deutsch, nur rund
80 polnisch) und dem Hauptkörper des Deutschen Reichs. Daß Deutschland
nicht auf Ostpreußen verzichten kann, ohne sich selbst aufzugeben, wird man
am Ende auch einem polnischen Chauvinisten nicht erst auseinanderzusetzen
brauchen. Und daß sich derselbe Grund deshalb auch für Westpreußen mit
zwingender Gewalt geltend macht, ergibt sich mit unerbittlicher Folgerichtigkeit.
Also mögen die Polen zunächst unumwunden anerkennen: an Westpreußen
denken wir nicht mehr. Und mögen sie dies nicht nur mit den Lippen aus¬
sprechen, sondern auch durch ihr ganzes Verhalten bekräftigen!
Wir kommen dann zu Posen. Allerdings zählt die Provinz mehr polnische
als deutsche Einwohner. Aber wenn Deutschland sie jemals verlieren sollte,
so wäre das doch, als ob ihm ein Loch in die linke Seite gerissen würde.
Die ganze Doppelprovinz Preußen von der brandenburgischen Neumark bis
zur Memelmündung ragte nur noch wie ein langer schmaler Lappen zwischen
russisches und polnisches Gebiet hinein. Strategisch wäre sie von vornherein
verloren. Die Ostgrenze des Reichs, die jetzt an ihrem nächsten Punkt
280 Kilometer von der Reichshauptstadt entfernt liegt, käme damit auf
120 Kilometer heran. Zwischen Thorn und Schlesien bei Wartenberg täte
sich eine breite Gasse von 200 Kilometern Weite auf. Ist es denkbar, daß
ein Reich mit unerschütterten Machtmitteln einen solchen Verlust zuließe, ohne
sein Letztes daran gesetzt zu haben, ein solches Schicksal abzuwenden?
Was Oberschlesiens strategische Bedeutung anlangt, so verweisen wir nur
auf die Kriege Friedrichs des Großen. Unter heutigen Verhältnissen reicht
sie wohl nicht an die Posens und vollends Westpreußens hinan. Doch ist
sie immer noch gewaltig. Man denke nur, daß es einmal gelten könne, einem
russischen Angriff durch einen Offensivstoß zuvorzukommen oder auch nur die
russische Heeresleitung zu zwingen, ihre Machtmittel zu teilen! Wenn diese
über Posen und Oberschlesien zugleich verfügte, was eintreten müßte, sobald
das auf Grund des „Sprachgebiets" wiederhergestellte Polen, wie es in dem
Rundschreiben heißt, „ein autonomes, dem russischen Reiche föderativ an¬
geschlossenes Gebiet" würde, wäre es eine strategische Bedrohung allerschlimmster
Art für den deutschen Osten. Diese Gründe reichen allein aus, jeden Gedanken
an die Möglichkeit des Verlustes völlig undiskutierbar zu machen. Das müßte
man doch eigentlich anch in Krakau einsehen. Was sollte nun aber aus den
Deutschen in den drei Regierungsbezirken werden? Es handelt sich um etwa
anderthalb Millionen, eine Minderheit, über die kein Mutterland, das sich
nicht wegen gänzlichen Mangels an Herz für seine Kinder vor der Mit- und
Nachwelt verächtlich machen will, zur Tagesordnung übergehn kann. Es kann
sich nicht auf die bloße nationale Toleranz eines andern Volkes verlassen,
auch wenn solche einigermaßen wahrscheinlich wäre. Bei den Polen steht sie
zudem gar nicht einmal in Aussicht, denn sie sind nationale und konfessionelle
Fanatiker, davon erzählt die Geschichte aller jemals dein Polentum unter-
worfnen Länder: Westpreußen, Kurland, Litauen, Wolhynien, Podolien und
sogar das heutige Ruthenentum in Galizien. Vielleicht sagt das heutige
Polentum: Ihr wollt in den drei Regierungsbezirken nicht einmal eure Minder¬
heit den Fremden ausliefern, wir sollen unsre Mehrheit preisgeben? In dieser
Beziehung gilt das t8lix xosssssor. Wir sind der stärkere Teil und können
nicht dem Geheiß des schwächern weichen. Wir sind auch das, was die Kultur
anlangt, höher stehende Volk und müssen unsre Kultur dort verteidigen, wo sie
Boden gefaßt hat. Wir haben auch zu unsrer ganzen nationalen Stellung,
zur Sicherung unsers Reichs alles nötig, was in unserm Besitz ist, wir können
nichts davon hergeben, etwa aus schwächlichen Gefühlsanwandlungen. Erst
wenn die Macht unsers Reichs zerschmettert am Boden läge, würde ein Feind
es wagen können, aus unserm blutenden Leibe ein Stück herauszureißen.
Diese scharf verneinende Antwort ist nicht im geringsten von Polenfeind¬
schaft diktiert. Sie ist folgerichtige Logik, die man auf polnischer Seite füg¬
lich selbst nicht bestreiten kann. Die Liebe zur Nationalität, zur Muttersprache,
zur angestammten Kirche ist an sich nicht tadelnswert. Auch kann den Polen
die Hoffnung, wieder zu einem unabhängigen Staatsgebilde zu kommen,
menschlich nicht zum Vorwurf gemacht werden. Auch das Gesetz bestraft keine
Hoffnungen, sondern nur Handlungen. Handlungen, die sich gegen die drei
Staaten richten, die heute den Boden der ehemaligen polnischen Republik
beherrschen, werden allerdings als Hochverrat bestraft. Die Polen als Nation,
von einzelnen Eiferern abgesehen, hüten sich wohl, sogar in der schweren
Krisis, in der sich Rußland augenblicklich befindet, zu verbrecherischen Hand¬
lungen überzugehn. Deutschland ist im Vollbesitz seiner Macht und wird sich
solcher noch ganz anders zu erwehren wissen als Rußland.
Mit dem Gedanken an die Wiederherstellung ihres unabhängigen Reiches
kommen die Polen auf den Boden der praktischen oder vielmehr praktisch sein
sollenden Politik, und da handelt es sich um andre Dinge als um Hoffnungen.
Da müssen sie die entgegenstehenden Umstände berücksichtigen, also den
Willen und die Macht der drei Großmächte. Was Österreich-Ungarn anlangt,
so ließe sich wohl eine Melodie finden, die den Ohren dieses Staates nicht
mißsiele. Es ist kaum denkbar, daß die Polen nicht versuchen sollten,
wenigstens diese eine Macht für ihr Vorhaben zu gewinnen. Kann doch
Galizien schon jetzt geradezu als Exerzierplatz für die Herstellungsidee, als
Vorstufe für den künftigen polnischen Staat gelten. An Österreich-Ungarn,
das Polyglotte Imperium, die katholische, stark dem Klerikalismus ergebne
Macht muß sich der neue Staat anlehnen. Ob dafür nun die Form der
Personalunion, des Eintritts in die Monarchie etwa nach dem Muster Ungarns
oder die der Sekundogenitur oder noch eine andre Form gesucht werden soll,
ist verhältnismäßig eine Nebensache. Der ganze Schwerpunkt liegt in den
Beziehungen zu Rußland. Die Krakauer Fragestellung nimmt in Aussicht
erstens die Unabhängigkeit, zweitens die Umwandlung Russisch-Polens in ein
autonomes, dem russischen Reiche föderativ angeschlossenes Gebiet mit eignem
Landtag, eigner Landesregierung und eignem Wehrwesen. Die zweite Even¬
tualität entrückt die polnischen Teile Österreichs und Preußens der Betrachtung,
doch ist schwer anzunehmen, daß es die Polen dabei bewenden lassen werden.
Ob in den heutigen kritischen Zeiten für Rußland die Möglichkeit erscheint,
daß Polen eine weitgehende Autonomie unter zarischem Zepter erlangt, bleibe
dahingestellt. Wissen kann das niemand, denn die Zukunft der russischen
Dinge ist mit einem dichten Schleier verhüllt. Die volle Unabhängigkeit aber
wäre sicher von Rußland auf gütlichem Wege nur zu erreichen, wenn es voll¬
ständig der Anarchie versiele. Darüber ist natürlich nicht in praktische Er¬
örterung einzutreten. Andernfalls müßten die Polen auf Tod und Leben
kämpfen, wie am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, wie 1830/31 und 1863.
Auch über die Aussichten, auf die sie dabei zu rechnen hätten, kann man
füglich nicht reden. Nur soviel kann man sagen, daß sie sich nicht die kleinste
Hoffnung machen dürfen, wenn in Rußland auf die eine oder die andre Art eine
starke Regierung wiederhergestellt wird. Auch wenn es eine demokratische
sein sollte, würde ihnen keine rosige Morgensonne winken. Denn auch was
heute in nationalen Fragen verhältnismäßig tolerant auftritt, wird sich schwer¬
lich zu Zugeständnissen herbeilassen, wenn Ordnung und Macht zurückgekehrt
sind. Es ist höchst bezeichnend, daß der Slawenkongrreß in Prag 1848 so
gut wie gar nicht aus Rußland beschickt wurde, daß Bakunin mit seinem
polenfrenndlichen Kosmopolitismus in Rußland schlechtweg gar keinen Anklang
fand, und daß die höchst populäre, einflußreiche „Glocke" Alexander Herzens
in Rußland allen Anklang verlor und baldigst unterging, als sie in Bakunins
Hände kam und Partei für die aufständischen Polen ergriff. Es ist kaum
denkbar, daß sich die Polen von Nußland losreißen können, solange dieses
eine Großmacht ist.
Daß die Polen daran denken könnten, mit Gewalt dem Deutschen Reiche
die Landesteile zu entreißen, in denen überwiegend polnisch gesprochen wird,
glauben wir nicht. So lange ein bald schwächer, bald stärker auftretender
revolutionärer Zug durch die polnischen Lande weht, wird er immer ein
Element der Einigkeit unter Deutschland und Nußland sein. „Wenn zwei
denselben Wolf bei den Ohren haben, sagte kürzlich recht drastisch ein eng¬
lisches Blatt, werden sie immer geneigt sein, sich zu vertragen." Man hat
uns gedroht, wenn Polen erst mit Rußland im reinen sei, werde die polnische
Propaganda in Deutschland erst recht losgehn. Das wäre bedauerlich und
könnte allerlei Unannehmlichkeiten schaffen — am meisten für die Polen.
Jeder Erfolg ist ausgeschlossen. Ob sich die Polen den umgekehrten Fall
vorgelegt haben, nämlich wie ihre Chancen steigen würden, wenn sie nicht
auch noch mit Deutschland in schwerer Differenz stünden, wissen wir nicht.
Deren Beilegung könnte natürlich in nichts anderm bestehn als in der rückhalt¬
losen Anerkennung der Tatsache, daß die Ostgrenze Preußens unverrückbar
feststeht. Über ein andres ist gar nicht zu verhandeln. Mündliche Zusagen
bedeuten natürlich nichts, sie binden höchstens den, der sie abgibt. Entscheidend
wäre nur ein vollständig andres Verhalten des gesamten Polentums in Deutsch¬
land, der Verzicht auf die Widerspenstigkeit, die bis jetzt soviel Verdrießlich-
leiten schafft. Wir sind zu sehr Realpolitiker, als daß wir uns darauf irgend¬
welche Hoffnungen machen könnten, und darum wird der Gegensatz zwischen
deutsch und polnisch wohl bleiben. Es ist auch sehr fraglich, ob einer solchen
Wendung im Verhalten der Deutsch-Polen irgendein Einfluß aus unsre Be-
zierungen zu Rußland eingeräumt werden dürfte. Nur vom Standpunkte der
Polen läßt sich theoretisch sagen: wenn sie auf Losreißung Russisch-Polens
rechnen, muß die erste Bedingung sein, den Gegensatz zu Deutschland aufzu¬
heben und mit ihm ins reine zu kommen — cUviäö se iinxera. Ist das
den Polen die Aufopferung der drei oder vier deutschen Regierungsbezirke
nicht wert, so wird ihre Sache um so schlechter stehn. Und wir nehmen es
als sicher an, daß die Polen, die so große Jllusionspolitiker sind, nicht an ein
solches Opfer denken werden.
Daß an sich die Existenz eines Pufferstaats zwischen Deutschland und
Rußland für unser Vaterland verderblich sein würde, läßt sich natürlich nicht
behaupten. Im Gegenteil, es könnte manches angenehme haben. Zumal
wenn die Polen in den mehr als hundert Jahren ihrer Unselbständigkeit ge¬
lernt haben sollten, wie Staaten regiert werden müssen. Die fürchterlichen
Zustände, die den Untergang des alten Reiches bewirkt haben, dürften nicht
wiederkehren, wenn nicht alsbald ein zweiter Zusammenbruch eintreten sollte.
Die fanatische kirchliche Intoleranz ebensowenig. Der polnische Bauer und
Bürger würden sich ihr Recht am Staat nicht vorenthalten lassen. Mit der
ausschließlichen Adelsherrschaft wäre es vorbei. Die Fremden und die Nicht¬
Polen würden ganz andre Nechtsbürgschaften erhalten müssen.
Was man gewöhnlich unter Russisch-Polen versteht, und was auch
staatsrechtlich so behandelt wird, sind zehn Gouvernements von zusammen
127319 Quadratkilometern und nach der Zählung von 1897 9,4 Millionen
Einwohnern. Überwiegend polnisch sind noch drei Kreise des Gouvernements
Grodno, doch sollen diese hier außer acht bleiben. Ebenso Litauen und die
ehemals dem Königreich Polen nur unterworfnen stammfremden Landesteile
(Wolhhnien, Podolien usw.). Auch dieses sogenannte Russisch-Polen ist noch
keineswegs vollständig im Besitz der polnischen Nasse. Reichlich ein Viertel
ist anderssprachig, namentlich ruthenisch, litauisch und deutsch. In dem süd¬
östlichen Gouvernement Ludim, das 1200000 Einwohner zählt, gehören nur
62,5 vom Hundert zur römisch-katholischen Kirche; 21,8 vom Hundert sind
griechisch-orthodox und uniert, 7,4 vom Hundert protestantisch und 13,3 vom
Hundert jüdisch. Die Juden kann man freilich nicht in Gegensatz zum
Polentum stellen, denn sie würden sich mit einer polnischen Herrschaft wohl
noch besser abfinden als mit der russischen. Ein aus Russisch-Polen gebildeter
Staat mit 9^ Millionen Einwohnern würde bei 7 Millionen wirklicher Polen
überwiegend polnisch sei. Denkt man sich dieses mit Galizien vereinigt, wobei
wir Galizien nicht als den annektierten sondern den annektierenden Teil an¬
sehen, so kämen 78500 Quadratkilometer mit 7,3 Millionen Einwohnern
hinzu, doch kann hiervon nur die westliche Landeshälfte als polnisch angesehen
werden. Galizien zählt nur 3,9 Millionen Polen, daneben 3,1 Millionen
Nuthenen. Mit der Anwendung des Begriffes „Sprachgebiet" auf ganz
Galizien wäre es also eine heikle Sache. Die ruthenische Minderheit würde
dem Staat das Leben sauer machen. Die drei preußischen Regierungsbezirke
mit polnischer Mehrheit zählen 43208 Quadratkilometer und 3^ Millionen
Einwohner, unter denen nur 2,4 Millionen Polen wären. Das wäre auch
ohne Westpreußen ein ganz ansehnlicher Staat: 249000 Quadratkilometer,
also fast halb so groß wie Deutschland, mit 20^ Millionen Einwohnern, unter
denen etwa 13,3 Millionen Polen wären. Daß das nichtpolnische Drittel
den Polen ausgeliefert würde, finden diese natürlich vollständig in der Ordnung.
Doch dieser Staat hat ein Gutes für Deutschland: er wird niemals das Reich
der Träume verlassen und auf die Erde herniedersteigen. Plänen dieser Art
wird sich nicht nur Rußland, sondern auch das etwas solidere Deutsche Reich
bis zum letzten Atemzug widersetzen.
le Gefährlichkeit der Preßbcrichte sensationslüsterner Tagesblätter
über die Greueltaten aller Art, die sich in Stadt und Land er¬
eignen und ein gerichtliches Nachspiel haben, ist oft schon betont
und beklagt worden; gar mancher jugendliche Leser wird zur
traurigen Nacheiferung angespornt, wer täglich mit solchen Dingen
gefüttert wird, muß mit der Zeit stumpf gegen das Gemeine und frivol werden.
Ein besonders wichtiger Punkt aus diesem Kapitel aber, der sich nicht nur
auf die rächende Nemesis, die Strafjustiz, sondern auf jede Art von Rechts¬
pflege bezieht, sei hier erörtert: die häufige Entstellung der Tatsachen in den
Preßberichten, die teils unabsichtlich, teils bewußt geschieht, und die Kritik
der Maßnahmen und Urteile der Gerichte, die auf Grund solcher unsichern
Unterlagen in den Tageszeitungen geübt wird.
Den Luxus, juristisch durchgebildete Berichterstatter in die Gerichts¬
verhandlungen zu senden, können sich natürlich nur wenige große Blätter
gestatten. Gemeinhin ist es in der Strafjustiz auch ohne Bedenken, denn die
einfachen Notizen, daß X A Z wegen Diebstahls, Widerstandes, Körper¬
verletzung und dergleichen zu so und so viel Jahren Zuchthaus oder Gefängnis
verurteilt worden ist, kann jeder Durchschnittsreporter machen. Bei andern
Strafsachen, wie Betrug, Konkursvergehn u. a., ist das schon weit schwieriger,
weil die Anwendung dieser fein ausgeklügelten Rechtsnormen auf die meist
recht verwickelten Tatbestände oft viel Scharfsinn und Gesetzeskenntnis er¬
heischt. Mit dem materiellen Strafrecht, für das im Publikum eine oft un¬
begreifliche Begeisterung herrscht, der auch anständige Blätter leider Rechnung
tragen zu müssen glauben, mag es immerhin noch gehn; die prozeßrechtlichen
Vorschriften und Vorgänge, z. B. Haft, Auslieferung, Stellung des Vorsitzenden
zu Verteidiger und Staatsanwalt, Nechtsmittelzug und dergleichen, bleiben den
Reportern aber, wie ihre Berichte zeigen, vielfach durchaus dunkel. Und nun
gar die Berichte über Zivilurteile! Den Verhandlungen in Zivilsachen pflegt
ja nur äußerst selten ein Preßberichterstatter beizuwohnen; die Berichte kommen
regelmüßig nur auf Grund des Urteils in die Zeitung. Da werden Auszüge
gebracht, die, losgerissen aus dem Zusammenhange des Ganzen, nicht wohl
verstanden werden können, durch ungenaue und abgekürzte Wiedergabe einzelner
Sätze wird der Anschein von Widersprüchen erweckt, und kommt schließlich noch
der Druckfehlerteufel hinzu, so ist der Unsinn fertig, und der Leser schimpft
über das „haarsträubende" Urteil, über die „Klassenjustiz", über den „Schlag
ins Gesicht" für das „Volksempfinden".
Nun, was unter der Flagge des „Rechtsbewußtseins des Volkes" segelt,
ist wahrlich oft genug nichts andres als einseitige Parteiauffassung, engherziger
Konfessionalismus, unzureichende geistige und moralische Bildung, keineswegs
aber der Ausdruck eines mit der Verkehrs- und Kulturentwicklung fortgeschrittenen
verfeinerten sittlichen Empfindens und praktischen Willens. Und mit dem so¬
genannten „gesunden Menschenverstande" ist gar nichts zu machen; den hat
jeder Einzelne in seiner besondern Art und Güte!
Unsre heutige Gesetzgebung zieht ja so viel wie irgend möglich in ihren
Bereich; jedes Jahr flattern einige Dutzend aus den Parlamenten und einige
hundert Erlasse und Verordnungen aus den Ministerien heraus, und das Be¬
vormundung^ und Beaufsichtigungsrecht des Staates geht manchem guten
Untertanen wohl schon zu weit. Aber auch die vollkommenste Gesetzgebung
vermag nicht alles zu leisten, sie muß gar vieles der in die tausend Einzel¬
heiten der Fälle eindringenden gewissenhaften Arbeit des Richters überlassen.
Alltäglich zeigt die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit des wirklichen Lebens, daß
der Gesetzgeber nicht alles, was da vor sich geht, voraussehen, im voraus über¬
denken und in bestimmte Regeln zwingen kann. Und wäre seine Erfahrung
noch so reich, sein Wissen noch so groß, sein Blick in die Zukunft noch so stark,
er wäre doch nicht imstande, dem bunten Spiel gerecht zu werden, das der
frei sich betätigende Wille der Menschen, ihr erfindungsreicher Egoismus, ihre
verbrecherische List und das Walten des blinden Zufalls Tag für Tag treiben.
Da muß der Richter aus seinem Wissen und seinem gelüuterteu Rechtsgefühl
heraus in jedem Einzelfalle, wo solche Lücke klafft, rechtschaffend eingreifen.
Das Richteramt bekleiden unabhängige, nur dem Gesetz unterworfne
Richter. Es ist ebensosehr Unkenntnis wie Bosheit und Verleumdung, wenn
von erfolgreichen Eingriffen des Justizministers oder andrer Persönlichkeiten
in die Rechtsprechung gefaselt wird. Unfehlbarkeit in Anspruch zu nehmen,
kommt den deutschen Gerichten nicht in den Sinn. Das menschliche Erkennungs-
vermögen ist begrenzt, auch der Richter bildet sich nicht ein, übernatürliche
Kräfte zur Ermittlung der Wahrheit zu haben. Die ewige Wahrheit des Wortes
„All unser Wissen ist Stückwerk" empfindet man um so lebhafter, je tiefer
man in ein Wissensgebiet forschend eindringt. Die wissenschaftliche und praktische
Beschäftigung schärft ja dem Richter von Jahr zu Jahr mehr den Verstand
und den Blick und erweitert sein Wissen und seine Menschenkenntnis; aber
auch der vorzüglichste Richter bleibt dem Irrtum unterworfen. Er kann un¬
möglich auf allen Gebieten gleich bewandert sein und vermag den Zeugen nicht
auf den Grund ihrer Seele zu sehen; er kann von den Prozeßbeteiligten irre¬
geführt oder geradezu belogen werden und kann also irren in, der Ermittlung
und Feststellung der grundlegenden Tatsachen, in der Anwendung des Gesetzes
ans den für erwiesen erachteten Tatbestand. Eine Kritik richterlicher Ent¬
scheidungen kann und soll deshalb nicht etwa abgeschnitten sein, im Gegenteil:
eine richtig geübte, d. h. eine sachliche und von gewissenhaften Sachkennern
sins ira le swäio geübte Kritik fördert die Rechtspflege, indem sie die Irrtümer
an das Tageslicht zieht und den frischen Strom des praktischen Lebens zur
Geltung bringt; sie läßt die Ehre des Richterstandes und das Vertrauen des
Volkes zu seinen unparteiischen Richtern unberührt.
Die Zeitungskritiken sind in der Mehrzahl der Fälle leider nicht zu diesen
erfreulichen und förderlichen Besprechungen von Gerichtsverhandlungen und Ur¬
teilen zu rechnen. Von den meisten Blättern wird, sei es aus eignem Mißvergnügen
über die Juristen, sei es aus Sensationslust oder zu Zwecken der Befriedigung
des Interesses der Leser, jeder Fall ausgeschlachtet, aus dessen Veranlassung der
Rechtspflege etwas am Zeuge geflickt werden kann, die Witzblätter verallgemeinern
den Fall und veralbern die Richter in Wort und Bild, und das Schlagwort
von der Unsicherheit der Rechtspflege, von dem Mißtrauen des Volkes gegen¬
über dem Richtertum und von der UnVolkstümlichkeit des Rechts wird von
Leuten, die die Unterwühlung der wichtigsten Säulen der staatlichen Ordnung
zu ihrem Lebensziel erkoren haben, überall gepredigt. Das ist keine gesunde,
keine für irgend jemand heilsame Kritik! Und aus welchen Quellen schöpfen
die Leute, die solche Anklagen vorbringen, und je weiter sie den Mund auf¬
tun» desto zahlreichere Anhänger aus den Hunderttausenden um sich sammeln,
die mit den bestehenden Verhältnissen unzufrieden sind, wohl auch die Strenge
der Gerichte am eignen Leibe erfahren haben und ohne jedes Verständnis für
die Aufgaben der Rechtspflege sind? Die bedenklichste Quelle ist die Mitteilung
der Beteiligten selbst. Wer bei Gericht seinen Anspruch glatt durchgesetzt hat,
der sagt, das war ja nur in der Ordnung; zu einem Wort der Anerkennung
fühlt er sich nicht veranlaßt. Aber heftiges Schelten und maßlose Vorwürfe
erheben sich sofort, wenn eine richterliche Entscheidung ihm ganz oder teilweise
unerwünscht kam. Von zwei streitenden Parteien kann doch aber schließlich
nur immer die eine Recht behalten! Die Darstellungen des im Zivilprozesse
Unterlegnen oder im Strafverfahren Verurteilten sind, weil niemals objektiv,
mit der größten Vorsicht aufzunehmen. Es ist ja menschlich erklärlich, daß diese
Personen mehr oder weniger absichtlich färben, um ihr Tun vor den Leuten
zu entschuldigen oder ihre vom Gericht für ungerechtfertigt erklärten Ansprüche
als dennoch begründet hinzustellen. Die oft unter Aufgebot eines starken
Redeschwalls leidenschaftlich vorgetragnen Darstellungen der Betroffnen sind auch
nicht immer gleich richtig zu erfassen; kommen solche Irrtümer in der Auf¬
fassung vor, und wird die Angelegenheit dann womöglich noch lückenhaft weiter
erzählt, so ist es nicht verwunderlich, wenn aus dem Zeitungsbericht mancher
Leser unverständliches Handeln, ungerechtes Entscheiden und himmelschreiende
Härte der Richter herausliest.
Nur wer, wie z. B. Richter und Rechtsanwalt, mitten in der Rechtspflege
und im Rechtsleben steht, vermag voll zu erkennen, eine wie unzuverlässige
Grundlage die üblichen Preßberichte für die Beurteilung der besprochnen Rechts¬
fälle sind. Ein guter Bericht über Gerichtsverhandlungen und namentlich über
richterliche Urteilsbegründungen setzt neben einem hohen Maße von allgemeiner
Bildung auch tiefgründige Rechtskenntnisse voraus; so qualifizierte Bericht¬
erstatter sind aber sehr, sehr selten. Und auch der treueste und vorzüglichste
Bericht muß in wichtigen Punkten, die für die Entscheidung des Gerichts mit¬
bestimmend waren, im Stiche lassen: er kann nicht den Eindruck vermitteln,
der im unmittelbaren Verkehr mit den Prozeßparteien, den Zeugen, dem An¬
geklagten aus Blick und Sprache, überhaupt aus dem ganzen Auftreten dieser
Personen für den Richter gewonnen worden ist, er kann nicht die tausend
kleinen Nebenvorkommnisse, das Milieu der Verhandlung mit allen ihren
psychologisch und juristisch wichtigen Eindrücken, z. V. die Beeinflussungen von
Zeugen, das Verhalten des Angeklagten bei Gegenüberstellung mit den Zeugen,
die Änderungen seiner Verteidigungsweise je nach dem Ergebnis der Beweis¬
aufnahme, seine Erklärungen über vorgelegte Urkunden und dergleichen mehr
richtig und anschaulich wiedergeben. Wie ein Mosaikbild aus zahllosen kleinen
Steinchen gebildet wird, so setzt sich auch in vielen Rechtsfällen, besonders in
Strafsachen, die Überzeugung des Richters vom Recht oder Unrecht aus den
mannigfaltigsten, an sich nicht bedeutungsvollen kleinen Einzelheiten zusammen;
werden diese bei der Wiedergabe der Urteilsbegründung mit Stillschweigen
übergangen und nur die Zeugenaussagen als Beweismaterial genannt, so mag
sich mancher über einen solchen Richterspruch wundern und ihn unbegreiflich
schelten. Darum ist die Bitte und die Warnung wohl am Platze, mit einer
Kritik gerichtlicher Entscheidungen vorsichtig zu sein und den Zeitungsberichten
nicht immer gleich blindlings zu trauen und zu folgen. Es liegt darin eine
schwere Kränkung des deutschen Nichterstandes, dessen Mitglieder — was wohl
ernstlich nicht bezweifelt werden kann — der Beeinflussung unzugänglich und
in der Lage sind, die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse objektiver und
richtiger zu würdigen, als es dem von Leidenschaft getrübten Blicke der Be¬
teiligten und jedem Rechtsunkundigen möglich ist. Eine leichtfertige Kritik ist
aber auch gefährlich, indem sie die Achtung vor dem Gesetz und den Gerichten
zu erschüttern und Beunruhigung in weite Kreise hineinzutragen geeignet ist.
Das Vertrauen des Volkes in die Rechtspflege und in die Unbestechlichkeit und
Tüchtigkeit seiner Richter ist eine der wesentlichsten Bedingungen für die Wohl¬
fahrt des Staates und seiner Glieder. Jeder, der ein Interesse an der Aufrecht¬
erhaltung dieser staatlichen Ordnung hat, sollte sich deshalb hüten, ohne ganz
zuverlässige Grundlagen abfällige Urteile über gerichtliche Entscheidungen zu
fällen und zu verbreiten und die sozialdemokratische Sache dadurch zu fördern.
An der gesamten Presse aber ist es, Vorsicht und Beschränkung in der Auf¬
nahme von Berichten zu üben, nur sachliche Berichte ohne hämische Seitenhiebe
zu bringen, bei kritischen Bemerkungen nicht allein auf den einseitigen Aus¬
lassungen eines Beteiligten zu fußen und nur sachkundige Kritiker zu Wort
kommen zu lassen, wie es der vornehme Teil der Presse ja schon immer, der
Rechtspflege und der Volkswohlfahrt einen großen Dienst erweisend, zu tun
bestrebt gewesen ist.
er die alte Straße in ihrer ganzen Ausdehnung kennen lernen
will, der muß seine Wanderung, eine höchst interessante Wanderung,
schon von der bayrisch-schwäbischen Hochebene antreten. Die alten
geraden Linien, die von Augsburg über das Gebirge nach dem
!Inntal führten, find seit dem Emporkommen Münchens und be¬
sonders seit der Erbauung der Eisenbahn nach Innsbruck verödet, und der ganze
große Verkehr ist auf den Umweg durch das Inntal abgelenkt worden; auf
der Strecke zwischen diesem und dem Bodensee führt noch heute keine Eisenbahn
über das Gebirge; nur mehrere Nebenlinien reichen bis an seinen Fuß oder
ein Stück hinein, nicht wegen der natürlichen Schwierigkeiten, die für die
moderne Technik keine wären, sondern weil München damit umgangen würde
zugunsten Augsburgs. Denn von hier gingen zwei Straßen aus. Dort, wo
der rasche Leck) im breiten, inselreichen Kiesbett aus dem Kalkgebirge heraus¬
tritt, bei Füssen, hütete einst die Burg der Bischöfe von Augsburg (aä tauizes,
an den Engen) den Eingang, nachdem sich hier schon 629 die Benediktiner zu
Se. Magnus (Se. Mang) angesiedelt hatten, und im Tale des Lech bleibt die
Straße bis Reutte (d. h. Rodung, vgl. nulli). Ganz in der Nähe erinnert
ein Denkmal an der Kirche des Dorfes Breitenwang an den Tod Kaiser
Lothars 1137, der hier durchkam, ebenso wie später der schon genannte Domini¬
kaner Faber in derselben und in umgekehrter Richtung von Ulm über Memmingen
und Kempten diese Straße ritt (1480 und 1483/84). Hinter Reutte steigt die
Straße, das Lechtal verlassend, nach dem Engpaß hinauf, den einst die Ehren-
berger Klause mit ihren noch teilweise erhaltnen Mauern, Türmen und Toren
sperrte und den Kurfürst Moritz von Sachsen, von Augsburg her vorgehend, am
19. Mai 1552 erstürmte; sie bezeichnet den Übergang nach dem Tale der
Loisach, die hier ihren Ursprung nimmt. Auf der Paßhöhe, also auf der
Wasserscheide (1128 Meter), liegt das Dorf Lahn, das seinen Namen den
Lawinen (Lahn), die es mehrmals (1456 und 1689) zerstörten, verdankt, denn
der ursprüngliche Name war der bezeichnendere Mittenwald; liegt es doch, von
saftigen grünen Matten umgeben, inmitten dunkler Wälder, die ringsum an
den hohen Bergwänden aufsteigen. Im breiten, waldumsäumten Wiesentale der
jungen Loisach, wo zahlreiche Schellenschmieden ein uraltes Gewerbe vertreten,
führt die Straße hinunter nach dem weiten Kessel von Lermoos (989 Meter).
Ein großartiges Bild, eines der schönsten in den nördlichen Kalkalpen! Im
Westen türmt sich die gewaltige Felsenmauer der Zugspitze bis zu ihrer zackigen
Krone empor, im Süden ragt der kahle, graue Kegel der Sonuenspitze auf, an
der Westseite zieht sich längs der Straße das ansehnliche Dorf Lermoos mit
feinen großen, ihren breiten Giebel der Straße zukehrenden Bauernhäusern, deren
Fenster oft mit Blumen ausgesetzt sind und Haussprüche über der Tür tragen;
die oft reichverzierten, schmiedeeisernen Grabkreuze auf dem Friedhofe um die
barock ausgeputzte Kirche verraten ebenso einen gewissen Wohlstand wie eine
alte Kunstttbung, und dem entspricht das alte behäbige, geräumige Gasthaus zu
den drei Mohren am südlichen Ende des Ortes. Von dort übersieht man die
ganze weite Fläche des Mooses, das ursprünglich ein Sumpf war, aber durch
Kanalisation in fruchtbares Wiesenland verwandelt worden ist und einzelnen
Bauern gehört. Gegenüber dicht am Fuße der Zugspitze in reichem Bauin-
Wuchs versteckt sich Ehrwald. Von Lermoos aus zieht die Straße durch
das stattliche Biberwier langsam bergan in zahlreichen Windungen durch
Prächtigen Hochwald an mehreren tief unten liegenden, im herrlichsten Pfau¬
blau schimmernden Seen vorüber, nach der Paßhöhe des Fern (1210 Meter),
die ein kleines Wirtshaus bezeichnet. Oft ist hier König Ludwig der Zweite
von Bayern, dessen halb sagenhaftes Gedächtnis im Gebirgsvolke noch lebendig
ist, ganz allein erschienen, immer still und in sich gekehrt, aber freundlich und
leutselig. Die alte schmale Straße steigt von hier an hoch oben am westlichen
AbHange herunter, oft von Schutzmauern eingefaßt, die jetzt im Verfall sind,
und weiterhin gesperrt durch das Schloß Fernstein; die neue, erst 184S er¬
öffnete Straße umzieht in weitem Bogen über dem dunkelgrünen Fernsteinsee,
in dessen Mitte eine kleine Insel die Trümmer der Sigmundsburg trägt, die
Ostseite des Bergkessels und erreicht dann in dein einsamen, sich allmählich
verbreiternden Tale den ansehnlichen Marktflecken Nassereit, dessen Name seine
Lage im feuchten Talgrunde inmitten schöngeschwungner Waldberge treffend
bezeichnend. Noch bewegt sich auf dieser ganzen Linie ein ansehnlicher Post¬
Verkehr, dessen alte Bedeutung auch in dem stattlichen alten PostHause zutage
tritt und seit langer Zeit in den Händen der Familie Sterzinger liegt. Gädeke
sich doch hier die Straße nach dem Inntal, östlich nach Telfs, westlich nach Imst.
Dorthin zieht sie an der Westseite des breiten Tales zwischen hochaufsteigenden
Gebirgshängen. Imst selbst (763 Humiste, vom Personennamen Humizo), ein
stattlicher Ort am Bergabhange, gehört zu den ältesten deutschen Siedlungen
Tirols. Auf der alten steilen Straße, die nach dem Jnntale führt, verunglückte
am 9. August 1854 König Friedrich August der Zweite von Sachsen; eine
kleine Kapelle mit blaugrünen Dach bezeichnet die Unglücksstätte. Doch ver¬
schied der König, beim Abspringen ans dem schwankenden Wagen vom Huf¬
schlag des unruhigen Handpferdes tödlich am Hinterkopf getroffen, nicht hier,
sondern in dem Gasthause des Joseph Mayr in Brennbichl etwa eine Viertel¬
stunde davon; dort zweigt jetzt der Weg nach dem Bahnhofe Imst ab, für den
der Bauplatz dem Bette des Inns durch Felssprengungen hat abgewonnen
werden müssen. Von Imst aus setzten die Augsburger ihren Weg oft nicht
nach dem Brenner, sondern über Landeck nach der Reschen Scheidegg und dem
Vintschgau fort, sodaß sie die Brennerstraße erst bei Vozen erreichten; wer nach
dem Brenner wollte, bog gleich bei Nassereit nach Telfs ab.
Älter und wohl auch belebter als der Weg über den Fernpaß war die
etwas kürzere, nicht höher aufsteigende, aber in mancher Beziehung beschwerlichere
Straße über die Scharnitz. Am östlichen Ufer des Ammcrsees vorüber zieht
noch heute die alte verlassene Nömerstraße auf dem Kamm der Uferhöhe an
dem uralten Kloster Andechs, das sich burgähnlich am Abhang erhebt, vor¬
über durch reichbebautes Land nach dem lieblichen Staffelsee und steigt dann
angesichts der hier prachtvoll sich entfaltenden Kette der Kalkalpen der Loisach
entgegen nach dem weiten sonnigen Wiesentale von Partenkirchen und Garmisch
hinauf, auf das vom Südosten die zerrissenen Felsen der Zugspitze, von Süden
die Wände des Wettersteingebirges herniederschauen, heute eine Fremdenkolonie
ersten Ranges, in alten Zeiten der Hauptort der Freisingischen Grafschaft
Werdenfels und eine bequeme Raststelle für Fuhrwerke, Saumtiere und reisige
Geschwader, die hier reichliches Futter fanden. Deshalb vereinigte sich hier
mit der von Murnau heraufkommenden Straße eine zweite, die von der west¬
lichen Straße über Füssen etwa bei Schongau abzweigte, hier den Lech über¬
schritt und über Oberammergau und Kloster Ettal heraufkam. Diese zog Kaiser
Friedrich der Erste auf der Rückkehr aus Italien, auf der er am 20. Sep¬
tember 1155 eine Urkunde ausstellte, der Kardinal Ludwig von Aragon im
Mai 1517 (über Rottenbuch nach Schongau) und Winckelmann im Oktober 1755.
Noch bezeugt der Name Partenkirchen und der der Partnachklamm die Existenz
der römischen Station Partenna, die auch durch einen Meilenstein verbürgt ist;
weiterhin an der östlichen Fortsetzung der Straße, die früher etwas weiter
nördlich und höher auf dem AbHange lief als heute, heißt das Örtchen Klais
(1324 Chios) vom lat. Äausura, Wegenge. Auch sonst war die Gegend römisch
besiedelt. Der zwischen hohen Waldbergen eingebettete tiefe, dunkle Walchensee,
der oft ganz plötzlich aufwallt (so beim Erdbeben von Lissabon am 1. No¬
vember 1755) und namentlich bei bewölktem Himmel etwas unheimliches hat,
verdankt den Römern, den Walchen, seinen Namen wie die kleine Insel Sassau
(8Ä880, saxum, Fels) an der Ostseite. Im Mittelalter wurde das Tal wieder
zur Wildnis, bis sich 1098 Mönche von Benediktbeuern und Schlehdorf an
der Westseite niederließen; im zwölften Jahrhundert legte der Abt Konrad
von Benediktbeuern den Ort Walchensee an, 1290 baute der Abt Otto die
Kirche mit Meierhof und Fischerhaus. An diese Tätigkeit des Klosters erinnert
noch das Örtchen Klösterl auf der Halbinsel südlich von Walchensee, wo noch
ein Mauerring von dem Klösterlein übrig ist. Eine römische Niederlassung ist
ebenso das Dorf Walgau sudlich davon in einer ganz abgeschlossenen breiten
Talebene, das die Bayern verödet vorfanden und Römerfeld (^alnoZoi) nannten,
später ein bayrischer Grundherr okkupierte und 763 Neginbert mitsamt dem
dazu gehörenden Walchensee seiner Klosterstiftung Scharnitz (als xaZum äe-
ssrwm) schenkte, wobei die Flur wohl vom Kloster nach deutscher Weise neu
eingeteilt wurde (300 Tagewerk auf 22 Bauernstellen). Römisch benannt ist
auch Krümm südlich von Walgau (881 Gerün vom romanischen esruug,, Grieß,
Sand). Südlich von Krümm mündet die Straße vom Walchensee her, die den
steilen Kesselberg vom Kochelsee hinauf 1492 unter Herzog Albrecht dem Vierten
von Bayern angelegt wurde, seitdem ein wichtiger Übergang war und noch 1703
wie 1809 eine Rolle spielte, in die von Partenkirchen nach Mittenwald. Diese
Straße kam auch Goethe am 7. September 1786 herauf, in Mittenwald blieb
er im PostHause die Nacht. Dicht gedrängt stehn dort die breiten Giebelhäuser
in engen Gassen, in Eisengittern und Steinarbeit frühern Reichtum verratend,
denn hier war ein Markt und Mittelpunkt für den Warentransport auf dieser
Straße. Seitdem diese verödete, lebt es besonders von der Fabrikation musi¬
kalischer Instrumente, die Michael Klotz (gestorben 1743) eingeführt hat, und
von der Fremdenindustrie, denn an Pracht der Lage im weiten Tal der Jsar
am Fuße der starrenden Wand des Karwendelgebirges und der Wetterstein¬
gruppe kann es sich mit jedem Orte der nördlichen Kalkalpen messen. Eine
gute Stunde südwärts dicht M der Grenze schließen sich die Felswände von
beiden Seiten zu einem Engpaß, der Porta Claudia, der im Dreißigjährigen
Kriege von Claudia, der Witwe des Erzherzogs Leopold des Fünften, gegen
die Schweden befestigt wurde und noch die Reste dieser von den Franzosen 1805
Zerstörten Anlagen zeigt; dahinter liegt das Dorf Scharnitz (963 Meter). Hier
gründeten bei der längst verlassenen römischen Station Scardia, die auch durch
einen Meilenstein bezeugt ist, „in der Einöde" (in soliwäws 8(-aranei6v8<z) 743
die Edeln Reginbert und Jrminfried ein Benediktinerkloster, doch vermochten es
die Mönche in dieser rauhen, einsamen Lage auf die Dauer nicht auszuhalten,
sodaß die Ansiedlung aufgegeben und 772 nach Schlehdorf an den milden Staffel¬
see verlegt wurde. Von Scharnitz aus steigt die Straße ununterbrochen durch
Wald bis zur Paßhöhe bei Seefeld (1180 Meter), die einen prächtigen Blick
auf das durchmessene Gebirge gewährt; von dort aus senkt sie sich plötzlich mit
der überraschenden Aussicht auf das tief unten liegende Inntal und die Berg¬
riesen der Zentralkette auf seiner Südseite und erreicht es zuletzt in zahlreichen
Schleifen bei Zirl (622 Meter), füllt also auf eine Entfernung, die in der Luft¬
linie nicht ganz 8 Kilometer beträgt, um 558 Meter.
Zirl (Cireola) verrät schon in seiner dichtgedrängten Anlage den romanischen
Ursprung. Gerade hier aber, am Abstieg von der Scharnitz bis zu dem eben¬
falls rütisch-romanischen Telfs hin haben die Bayern zahlreiche Niederlassungen
gegründet und nach den Oberhäuptern der sich ansiedelnden Sippen benannt:
Jnzing (von Jnzo), Hatting (Hatto), Pvlling (Potio), Flcmrling (Flurininga
von Flnrino), Pfaffenhofen (Poapinhova von Poapo) gegenüber Telfs, das
sogar dem ganzen Gau den Namen gab, und auch Innsbruck verdankt ihnen
seine Entstehung. Denn die römische Station am Aufgange der Brennerstraße
war Veldidencr auf dem rechten Ufer des Jnn an der Stelle des heutigen
Willen, wo sich mehrere Meilensteine aus dem dritten und vierten Jahrhundert
gefunden haben, die die Entfernung von Augsburg aus zu 90 oder 110 in. x.
(d. h. 135 oder 165 Kilometern) bemessen, also nicht ganz denselben Straßen-
zug im Auge haben können. Eine Jnnbrücke muß von jeher hier bestanden
haben, da die Straße hier das Ufer wechselte; ein Ort auf der linken Seite
des Inns entstand wohl erst um das Jahr 1000, als die Brennerstraße zur
Kaiserstraße geworden war, und zwar dicht beim heutigen Holting unter der
Bergwand. Bei dem Durchmärsche Kaiser Konrads des Zweiten im Juni 1027
wird er zum erstenmal genannt (Jnespruge). Der Grund und Boden auf der
andern Seite, am Aufstieg der Brennerstraße gehörte dem Bistum Vrixen, das
dort die ausgedehnte Hofmark Wilten neben dem im Anschluß an diesen Hof
entstandnen Dorfe Wilten besaß; beide vereinigte der Bischof Reginbert 1140
als Grundlage des Prämonstratenserstifts Wilten. Vielleicht um dieselbe Zeit
erhielt Innsbruck von seinen Grundherren, den bayrischen Andechsern, das
Marktrecht, und da sich der Ort in seiner alten Lage nicht so ausbreiten konnte,
wie es der rasch zunehmende Verkehr verlangte, so erwirkten die Andechser
Berthold der Dritte und der Vierte, Vater und Sohn, 1180 vom Kloster
Wilten die Erlaubnis, den „Markt" (torno) Innsbruck auf das rechte Ufer
zu verlegen, wobei dem Kloster drei Häuser, ein Anteil am Marktzoll und die
Überfuhr zugestanden wurden; der Markt blieb grundherrlich, doch richtete ein
besondrer Marktrichter (Msx torönsis) mit fünf Geschwornen über leichtere
Vergehn und Zivilsachen, womit der Grund zur städtischen Selbstverwaltung
gelegt wurde. Ein wirkliches Stadtrecht aber erhielt Innsbruck erst 1239 mit
Nicderlagsrecht, Zollfreiheit an allen Zollstütten des Landes, ausgenommen
Klausen und Bozen, mit Gemeindeweide und einer freien Gemeindeverfassung
unter der Leitung des „Stadtrichters", sodaß jetzt die Bürgerschaft auch über
Abgaben und Steuern selbst zu beschließen hatte. Bald darauf wurde es durch
eine „Neustadt" auf dem Grunde von Wilten vergrößert, doch verzichtete das
Stift 1281 auf seine Gerichtsbarkeit über diese. So wurde ganz Innsbruck
eine landesfürstliche Stadt. Von den Habsburgern, den Landesherren Tirols
seit 1363, vielfach begünstigt, erwuchs es im fünfzehnten Jahrhundert allmählich
zur Landeshauptstadt, vor allem seitdem Maximilian der Erste es zum Sitze
der Zentralverwaltung dieses seines Lieblingslandes machte. Hier wollte er
auch begraben sein; ein italienischer Baumeister erbaute in seinem Auftrage die
schöne Hofkirche als eine dreischiffige hohe Hallenkirche in italienischer Renaissance,
und eine ganze Reihe deutscher, niederländischer und italienischer Künstler
arbeitete für ihn das großartige Grabmal, das auf deutschem Boden nicht seines¬
gleichen hat, ein lebendiges Zeugnis für den Kunstsinn des Kaisers. Freilich
ist es ein Kenotaph geblieben, denn Maximilian wurde in Wiener-Neustadt
beigesetzt.
Kein Geringerer als Albrecht Dürer hat auf seiner ersten Wanderung nach
Italien 1505 Innsbruck gezeichnet, wie es damals war: ein kleines Städtchen
hinter festen Mauern und Türmen, beschränkt auf ein paar enge, meist von
„Lauben" eingefaßte Gassen mit hohen Häusern, dessen Umfang noch heute der
Ring des Burggrabens, des Marktgrabens und des Marktes erkennen läßt.
Erst allmählich hat es sich in der weiten Talebene landeinwärts ausgebreitet
und jetzt auch Wilten verschlungen, von dem es ausgegangen war. Für die
Pracht der landschaftlichen Lage hat auch Dürer schon einen offnen Blick ge¬
habt; auf seiner Zeichnung fehlt weder der breitströmende rasche Jnn noch die
Waldraster Spitze im Hintergrunde. Sie tritt am schönsten im Frühjahr und
im Herbst hervor, wenn die mächtige, gezackte Gebirgsmauer, die im Norden
wie drohend in die Straßen der Stadt hereinschaut, bis tief herab, bis zum
Rande des reichbebauten Mittelgebirges mit schimmerndem Schnee bedeckt ist
und sich vom tiefblauen Himmel in scharfgeschnittnen Umrissen abhebt.
An dem rotbedachten Viereck des Prämonstratenserstifts Wilten ziehn auf
dem linken Ufer der Sill Brennerstraße und Brennerbahn vorüber nach Süden,
dem schlachtberühmten Berge Isel entgegen, der die Stadt beherrscht und auf
seinem Plateau jetzt die Schießstätte der Kaiserjäger sowie ein Museum dieses
alten, tapfern tirolischen Regiments trügt. Ihn durchbricht die Eisenbahn in
einem langen Tunnel, die Straße erklimmt die Höhe in langen Kehren. Dann
steigt sie hoch hinauf auf dem linken Ufer, während die Eisenbahn auf der
andern Seite bleibt und langsamer durch zahlreiche Tunnel emporklimmt. Tief
unten in schmaler, fichtenbewachsner Felsenschlucht schäumt die grüne Sill;
jenseits hoch oben bezeichnen kleine Häusergruppen und Einzelhöfe den Zug
der Straße; darüber ragt die schneebedeckte Serlesspitze, und oft schauen auch
noch die weißen Kämme der Innsbrucker Kalkalpen von Norden herein. „Von
Innsbruck herauf wird es immer schöner — da hilft kein Beschreiben", sagt
Goethe, indem er zugleich die Vortrefflichkeit der Straße rühmt, und sogar
I, I, Winckelmann, der einundzwanzig Jahre vor ihm, im Oktober 1755 die¬
selbe Straße fuhr und später, als er aus Italien zurückkam, im April 1768
Tirol eine „entsetzliche, schaurige Landschaft" nannte und über die Mühsal des
Reifens klagte, fand damals, daß sich hier „die Mutter Natur in ihrer er¬
staunenden Größe" zeige, und daß „über die höchsten Gebirge ein Weg wie in
der Stube" gehe, daß in den Wirtshäusern „Sauberkeit und Überfluß regiere".
In der Tat waren damals unter Maria Theresia die österreichischen Straßen
den norddeutschen weit voraus, während heute die österreichische Südbahn auf
dieser Weltverkehrsstrecke noch ihre ältesten und schlechtesten Wagen verwendet,
worüber die hier höchst überflüssigen magyarischen Aufschriften neben oder wo¬
möglich über den deutschen nur einen Magyaren zu trösten vermögen. In
Matrei, wo die Eisenbahn auf das linke Ufer hinübergeht, trifft sie mit der
Straße zusammen, in einer offnen sonnigen, von Waldboden umgebnen Tal¬
weitung (992 Meter), in der die römische Station Matrejum lag. Später
wurde der uralte Ort der Mittelpunkt einer weitausgedehnter Pfarre, die auch
noch den obersten Teil des Zillertals umfaßte. Bis zum langgestreckten
Steinach im breiten Wiesentale bleiben Straße und Eisenbahn nebeneinander;
dann nimmt diese in einer mächtigen, nach Osten ausbiegenden Schleife bei
Se. Jodok die nächste Steigung, während die Straße tief unten die kürzere
Linie zieht. Allmählich wird die Luft schärfer, der Frühlingsschnee bedeckt die
Abhänge bis zur Straße herab und dann diese selbst, der kleine Brennersee
verschwindet unter einer Eisdecke, von der westlichen steilen Felswand hängt
der Wasserfall des jungen Eisack als Eismasse herab. Die Paßhöhe (1370 Meter)
ist erreicht, ein breites Waldtal, über dessen Höhen kahle Spitzen und Kämme
aufragen. Dort unter dem Eisackfall steht neben dem romanischen Glockenturm
das alte Brennerposthaus, wo Goethe einkehrte, weiterhin ein großes Hotel,
die Dependance der Post, denn diese Höhe mit ihrer reinen frischen Luft und
den bequemen Verbindungen auf- und abwärts ist längst eine bevorzugte
Sommerfrische geworden. Was könnten diese Felsen erzählen, wenn sie reden
könnten! Hier zogen römische Legionen vorüber und Scharen blauäugiger
Barbaren, die nach dem sonnigen Süden strebten, die eisenklirrenden Reiter-
geschwader der deutschen Kaiser, buntausstaffierte Landsknechtsfähnlein mit ihren
langen Spießen, dazwischen lange Reihen knarrender Frachtwagen und hoch¬
bepackter Saumtiere, fromme Pilger mit Stab und Kürbisflasche, ernste Gelehrte
und leichtgeschürzte Künstler zu Fuß und zu Roß, dann die wohlgeordneten
Kolonnen moderner Heere vom Anfang des achtzehnten Jahrhunderts bis zum
Italienischen Kriege von 1859. Heute ergießt sich im Frühjahr und Herbst,
in endlosen Eilzügen von keuchenden Riesenlokvmotiven gezogen, eine wahre
Völkerwanderung von Tausenden über den Brenner, die drüben Erholung suchen
oder den Genuß der Kunstwerke und der historischen Erinnerungen, in deren
Verbindung kein Land der Welt Italien auch nur im entferntesten zu ver¬
gleichen ist.
Doch der Süden beginnt nicht gleich hinter dem Brenner. Auch auf seinem
Südabhange, um Brennerbad und Gossensaß bleibt alles noch nordisch, und
wenn der Zug auf einer ungeheuern Schleife ins Pflerschtal eindringt, dann
starren im Hintergrunde die Felsen, Gletscher und Schneefelder des Tribulauu.
Rascher eilt die Straße abwärts, und jenseits eines engen Waldtals öffnet sich
der weite Kessel von Sterzing (949 Meter), wo von Westen das Ridnauntal,
von Osten das Pfitschtal mündet, die natürliche Raststelle für alle, die den
Brenner überwunden hatten, wie für die, die sich zum Aufstieg rüsteten.
64 Kilometer von Innsbruck oder nach römischer Berechnung auf der alten
Straße 36 Milien, also 54 Kilometer von Veldidena (Wilten) entfernt, eine
Strecke also, die eine marschierende Truppe oder auch ein Warenzug in zwei
Tagen, vielleicht mit Rast in Matrei (20 Milien oder 30 Kilometer von Innsbruck),
zurücklegen konnte. Darum lag hier die römische Station Vipitenum. Dieser
Name machte im Mittelalter dem deutschen Namen Sterzing Platz, der den Ort
als die Ansiedlung der Sippe eines Starzo (Abkürzung von Starkolf oder
Starkhand) bezeichnet und erst 1218 vorkommt, lebt aber noch im Namen des
Wiptales fort. Schon im zwölften Jahrhundert wurde die ganze Gegend mit
Vipitenum, Stilfes und Mauls samt dem Pfitschtale Besitz des Hochstifts
Brixen, doch blieb Stilfes lange Zeit bedeutender als Sterzing und war Mittel¬
punkt einer Pfarre, die über das Perser Joch bis in das obere Talfertal
hin überreichte. Die Pfarre (zu Se. Marien) von Sterzing dagegen taucht erst
1233 auf, obwohl sie natürlich älter ist. Daran schloß sich ein Hospital, ein
Beweis für den steigenden Verkehr über den Brenner, und neben diesem stiftete
Heinrich von Taufers 1241 ein zweites Spital zum Heiligen Geist, das 1254
an den Deutschen Orden überging und Sitz einer Kommende des Ordens wurde.
Noch war Sterzing damals ein Dorf (villa); aber gegen Ende des dreizehnten
Jahrhunderts muß es eine Stadtverfassung erhalten haben, denn 1304 erwarben
die „Bürger" ein Monopol für die Beherbergung von Fremden auf dieser
Strecke, 1318 ein Stndtsiegel. In der Tat beruhte die ganze Existenz des
Ortes auf dem Verkehr, und die Straße hat auch die Form seiner Anlage be¬
stimmt, denn er besteht der Hauptsache nach aus einer einzigen langen Gasse,
zwischen hohen spitzgiebligen Steinhäusern mit Laubengängen, grünen Fenster¬
lüden und malerischen Erkern und wird von einem hohen Torturen überragt.
Seine Verkehrsbedeutung machte aber Sterzing auch zu einem strategisch wichtigen
Punkte, zumal da das ausgedehnte Sterzinger Moos im Süden, das jetzt durch
Entwässerung in Wiesenland verwandelt und mit Weiden bepflanzt ist, den
Zugang von dieser Seite her erschwerte. Zu seiner Beherrschung dienten im
Mittelalter die beiden starken Burgen, auf der Südseite das tiefliegende Reifen¬
stein, an der Nordseite das höhere, wohlerhaltne Sprechenstein. Hier erfocht
1809 Andreas Hofer, der aus seinem heimischen Passeiertal über den Jausen-
Paß herüberstieg" seinen ersten Erfolg, indem er am 11. April ein bayrisches
Bataillon nach tapfrer Gegenwehr zur Waffenstreckung zwang, von hier aus
erließ er zu Anfang August ein neues Aufgebot; von hier aus versuchte dann
die rheinbündische Division Rouyer den Vormarsch nach Brixen durch den
Engpaß zu erzwingen, der bei Mauls beginnt. Hier, wo die neuausgebautc
malerische Burg Welfenstein den Eingang beherrscht, treten die hohen, steilen,
bewachsenen Wände von beiden Seiten so eng zusammen, daß das Tal des
Eisack von dem breiten Geröllbett des Flusses zum größten Teil ausgefüllt
wird. Kaum bleibt auf dem rechten Ufer Raum für die Bahnlinie, die Straße
zieht auf dem linken Ufer dicht unter der Felswand hin. In diesen gefährlichen
Engpaß drang am 4. August 1809 Nouyers Vorhut, zwei sächsische Bataillone,
ein und kam bis Oberau; als das Gros nachfolgte, rollten die Steinlawinen
der Tiroler von den Felswänden herab in die Marschkolonne, alles zerschmetternd
oder in den Eisack drängend. Das ist die „Sachsenklemme". Ein Gasthof
führt noch heute diesen ominösen Namen, und ein Obelisk daneben erinnert an
die gräßliche Katastrophe. Am nächsten Tage mußten auch die Bataillone bei
Oberau, abgeschnitten, halb verhungert und ohne Munition, wie sie waren, vor
den siegestrunknen Bauern die Waffen strecken. Das unglückliche sächsische
Regiment verlor in diesen beiden Tagen fast die Hälfte seines Bestandes,
946 Mann und 36 Offiziere von 2190 Mann.
Da, wo die Brixener Klause den langen Engpaß abschließt, erheben sich
in mehreren Stockwerken die langgestreckten grauen Granitmauern der Franzens¬
feste an der Bergwand zur Linken. Sie sperren nicht nnr den Zugang der
Brixener Klause, sondern beherrschen auch die Straße und die Bahn nach dem
Pustertale, die hier auf einem langen Viadukt das Tal überschreitet, vollständig,
der wichtigste strategische Punkt Tirols. Hier erst beginnt der Süden. Zwar
ragen von Norden noch Schneegipfel herein, aber das weite Tal, das sich
hier auftut, zeigt mit einem Schlage ein völlig verändertes Landschaftsbild.
Die düstern nordischen Nadelwälder verschwinden, Edelkastanien, Nußbäume,
Obstgärten, Weinberge bedecken die Talebene und die Abhänge der mäßigen
Höhen, die sie begrenzen. Mitten in dieser blühenden Landschaft zeigen sich
die Türme einer ansehnlichen Stadt, alles überragend das hohe Ziegeldach
einer großen zweitürmigen Kirche. Das ist Brixen, der Bischofssitz Deutsch¬
tirols. Auf Grund des Königshofs Prichsna erwachsen, den der letzte deutsche
Karolinger Ludwig das Kind 901 dem Bistum sahen mit allem Zubehör an
Ackern, Weingärten, Weiden, Wald und Alpen schenkte, also schon damals in
einer reich angebauten noch romanischen Landschaft liegend, wurde es bald der
Sitz des Domkapitels, wo schon Kaiser Otto der Große auf seinem letzten
Römerzuge 967 Quartier nahm, bis Bischof Alboin (975 bis 1006) auch das
Bistum dorthin verlegte. Hier entstand die Domkirche zu Se. Cassicmus und
Jngenuinus, deren Kreuzgang wenigstens noch aus dem Mittelalter stammt,
während die Kirche selbst wesentlich dem fünfzehnten Jahrhundert angehört,
daneben die Pfarrkirche zu Se. Michael, und in den ersten Jahrzehnten des
elften Jahrhunderts wurde der Ort durch eine Ringmauer befestigt. Von hier
aus ist die gesamte Kultur dieser Landschaft ausgegangen, und wenn heute die
Abhänge der Plose im Osten und das Lüsental dahinter bis weit hinauf mit
Höfen und Dörfern bedeckt sind, so ist das des Hochstifts Werk. Älter als der
Bischofssitz Brixen ist das südlich davon am östlichen Talrande liegende Athems,
dem Namen nach eine romanische Gründung und der Sitz der ältesten Pfarre
des Bistums, dessen Schutzheilige Hermagoras und Fortunatus noch auf die
alte Verbindung mit Aquileja, also mindestens auf das achte Jahrhundert als
Grüudungszeit hinweisen, und deren Grenzen alle die Nebentäler im Osten,
von Ufers, Vilnös und Gröden, ja sogar den obersten Teil von Enneberg,
das Colfuschg, einschlossen, sodaß dessen romanische Bewohner Sonntags in
Karawanen über die Berge zogen und sogar ihre Toten bis 1429 nur im
Sommer beerdigen konnten. Dagegen ist das große Augustinerchorherren¬
kloster Neustift nördlich von Brixen, das weithin das Tal beherrscht, eine ver¬
hältnismäßig späte Gründung (um 1140). Zu einem deutschen Hochstift ist das
südtirolische Bistum erst in Brixen geworden, als es deutsche Prälaten zu
Leitern und zu Kapitularen erhielt; bis dahin war es eine romanische Insti¬
tution, denn sein Ursprung liegt nicht in Brixen, sondern weiter südlich.
Hinter Athems verengert sich das Tal des Eisack auf eine lange Strecke.
Kurz nach dem Beginn dieser Enge ragt rechts ein mächtiger, fast isolierter
Felsklotz auf, der mit senkrechten Wänden zum Eisack abstürzt und nur der
Straße Raum läßt; auf seinem schräg ansteigenden Plateau, zu dein ein steiler,
steiniger Pfad emporführt, erheben sich ausgedehnte Mauern und Türme, unten
an seinem Fuße drängen sich längs der Straße eng aneinander die breiten
Giebeldächer eines Städtchens um eine spitztürmige Kirche und beherrscht von
der Burg Branzoll. Das ist Süden mit dem Städtchen Klausen, die südliche
Grenz- und Zollstation der Provinz Rätier, das Subsavione der Itinerarien,
60 Mitten (90 Kilometer) von Trident. Dort oben, fast 200 Meter über der
Talsohle (717 Meter zu 525 Meter), stand einst ein Jsisheiligtum; an seine
Stelle trat frühzeitig eine christliche Kirche, und bei ihr auf diesem unersteig-
lichen Felsen nahm der erste Bischof Rätiens seinen Sitz, der heilige Jngenuinus
(um 550), der in dieser stürmischen Zeit der Vermittler wurde zwischen den
bedrängten romanischen Landesbewohnern und den Byzantinern, Franken und
Langobarden. Kein Wunder, daß er dem Volke für heilig galt. Er und seine
Nachfolger hielten sich zum Patriarchat Aquileja; erst 798 wurde das Bistum
sahen (Sabiona) unter Salzburg gestellt und damit ein Teil der bayrischen
Kirche, aber es blieb arm und unbedeutend, bis es seinen Sitz von seinem
sichern, unzugänglichen Felsenneste an die große Heerstraße nach Brixen ver¬
legte. Jetzt trägt der Felsen nur noch ein Benediktinernonnenkloster zum Heiligen
Kreuz (seit 1685), dessen Aufhebung die bayrische Regierung 1803 zwar ver¬
fügte, aber nicht durchführte. Im Jahre 1809 machte die beherrschende Lage
Klausen zum Schauplatz heftiger Gefechte zwischen den Bauern und den Franzosen
(noch am 25. November und 5. Dezember), dann aber besetzten französische und
italienische Truppen Süden und begannen sogar Befestigungsarbeiten.
Die Talwände schieben sich enger zusammen und werden höher. Über der
Station Weidbruck hängt hoch oben die Trostburg, den Eingang zum Grödner
Tale und den Aufstieg zur Hochebene hudert, die im Süden die zackige Felsen¬
mauer des Schlern begrenzt. Da oben bei Layen liegt auch der aussichtsreiche
Vogelweiderhof, die wahrscheinliche Heimat Walthers von der Vogelweide. Die
römische Straße umging die Eisackklamm, wie solche leicht zu sperrende Eng¬
wege regelmäßig vermieden wurden, und kann von Kastelruth (LaLtello rotto),
das auf Römermauern steht und offenbar ein alter Beobachtungsposten war,
vollständig übersehen werden, wie sie von Lengstein aus am untern Rande
des Ritten rechts vom Eisack hinlief und bei Steg wieder ins Tal einbog.
Den Talweg selbst hat erst im spätern Mittelalter 1314 ein unternehmender
Bürger von Bozen, Heinrich Künder, allerdings nnr für Fußgänger und Reiter,
geöffnet, und nach ihm heißt noch jetzt diese Straßenstrecke der „Kuntersweg".
Fahrbar wurde sie jedoch erst durch die Felssprengungen, die Erzherzog
Sigismund (seit 1483) vornehmen ließ. Zwischen rötlichen, fast senkrechten
Porphyrwünden, von denen der Efeu in dichten dunkelgrünen Teppichen herab¬
hängt, führen Straße und Bahn dahin, bis die Straße bei Blumau den Fluß
überschreitet. Das ist die alte Drususbrücke, der Pons Drusi der römischen
Itinerarien. Allmählich öffnet sich das Tal, die Berge treten zurück, und vor
uns liegt der weite Kessel von Bozen.
Zwischen hohen Bergwänden, die alle nördlichen Winde abschließen, den
Südwinden den Zutritt offen lassen, angesichts der prachtvollen Dvlomitwände
des Rosengartens, die bei Abendbeleuchtung rosig erglühn, der Schauplatz der
Sagen vom Zwergkönig Laurin und Dietrich von Bern, dehnt sich eine Frucht¬
ebene von südlicher Üppigkeit, der Garten Tirols, das einzige Stück deutschen
Bodens von wahrhaft südlichem Charakter. Hier reifen alle Gewächse des
Südens, vor allem Obst und feuriger Wein, und in reichster Blütenfülle prangen
hier Äpfel und Pfirsiche neben den Weißen Kerzen der Roßkastanien und den
violetten Blütentrauben der Glycinen zu einer Zeit, wo im Norden des Brenners
noch alles tot und starr ist. Bis hoch hinauf bedecken reiche Kulturen zwischen
hellschimmcrnden Landhäusern und alten Burgen die Berghänge, und mitten
drin breitet sich das behäbige Städtchen aus: hohe Häuser an engen Gassen
mit Laubengängen, Erkern und grünen Läden, der Waltherplatz mit seinen
schattigen Baumreihen neben der Pfarrkirche mit ihrem breiten Ziegeldach und
dein zierlich durchbrochnen, gotischen Glockenturm, behagliche alte Gasthöfe und
große moderne Hotels. Jenseits der breiten Talfer liegen die Villen und die
Hotels des jungen Kurorts Gries in üppigen Gärten um das alte Augustiner¬
chorherrenstift (von 1665), das den ersten Anfang zu der ganzen Ansiedlung
gab. Bozen aber verdankt sein Aufkommen der überaus günstigen Verkehrs¬
lage. Denn hier strömt aus dem Sarntale von Norden her die Talfer in den
Eisack, und dieser vereinigt sich weiter südwärts mit der Etsch, die aus dem
Vintschgau kommt. So treffen hier zwei große Straßenlinien zusammen, die
Straße über den Brenner mit der Linie nach der Reschen Scheideck und dem
obern Jnntale bei Landeck, die schon die Römer als Via Claudia aufbauten.
Deshalb war Bozen schon um 678 Sitz eines bayrischen Greuzgrafen, schon
im achten Jahrhundert eine vielbesuchte Naststelle auf der Reise nach Norden
oder Süden, seit dem zehnten Jahrhundert der Amtssitz des Grafen im
Noritalgau, seit 1027 unter der gräflichen Gewalt des Bistums Trident, die
diese freilich bald mit dem Grafen (von Tirol) teilen mußte. So wurde es
früh auch eine wichtige Markt- und Zollstätte (Kurzum 1208). Um 1274
fanden hier jährlich zwei große Märkte statt, am 25. August und um Mitt¬
fasten. Auch der Deutsche Orden erwarb hier 1202 ein Hospital, das erste auf
deutschem Boden, dessen Kontur später die ganze Battel „an der Etsch und im
Gebirge" leitete, und noch heute besteht hier ein Hospital des Deutschen Ordens,
der sich in Österreich als Krankenpflegerorden erhalten hat, wie im protestantischen
Norddeutschland der Johanniterorden in derselben Beschränkung fortdauert.
Schließlich behaupteten die Grafen von Tirol das Alleinrecht über Bozen und
verliehen ihm 1286 eine Art Stadtrecht, Karl der Vierte aber gab der Stadt
den Straßenzwang, der ihre Umgehung vom Vintschgau her verbot. Noch Goethe
faud 1786 die Bozner Messe bedeutend, besonders durch den Vertrieb von
Seide, Tuch und Leder. Seit der Erbauung der Brennerbahn hat Bozen diesen
alten Verkehr verloren, es ist aber immer noch die bedeutendste Handelsstadt
Tirols und ist dazu ein Freudenort allerersten Ranges geworden.
Diese herrliche Landschaft ist aber auch das historische Herzstück des tirolischen
Staatswesens. Ein Ministeriale des Bistums Brixen, Adalbert, erhielt von
diesem vor 1130 die Grafschaft im obern Eisacktale, die Brixen seit 1027
besaß, vom Bistum Trident die Grafschaft im Vintschgau und die Vogtei über
dieses Bistum selbst. Sein Sohn Adalbert nannte sich seit etwa 1140 nach
dem stolzen Herrensitze über Meran Graf von Tirol, und indem seine Nach¬
kommen allmählich dem Bistum Trident, dessen Vögte sie waren, in dem größten
Teil ihres Gebiets die weltlichen Rechte entwanden und im dreizehnten Jahr¬
hundert nördlich des Brenners auch die Erben der bayrischen Andechser nach deren
Aussterben 1248 wurden, faßten sie gegen das Ende dieses Jahrhunderts das
Bündel bayrischer Gaue und Jmmunitätsherrschasten zu einem selbständigen
Staatswesen zusammen, das schon um 1271 als „Grafschaft Tirol" (LonürÄw.?
^irolöllsis) nach der Stammburg des herrschenden Hauses bezeichnet wurde und
bis ins fünfzehnte Jahrhundert seinen Schwerpunkt im Süden des Brenners
hatte, sein festes Rückgrat in der Brennerstraße fand. Auch die mächtigsten
Adelsgeschlechter waren im Süden des Brenners zuhause. Am Eingange des
Vintschgaus gerade westlich von Bozen saßen seit 1116 auf dem beherrschenden
Höhenrande die Grafen von Eppan, von denen sich die Grafen von Greifen¬
stein nördlich von Bozen und von Wen (in Ultimis), einem südlichen Seiten¬
tale des Vintschgaus, abzweigten. Auch die Grafen von Mareith im Ridnaun-
tale bei Sterzing gehörten diesem Geschlechte an.
Ist die alte politische Bedeutung der Gegend von Bozen längst ver¬
schwunden, so ist es doch ein Bollwerk des Deutschtums gegen Süden geblieben
und ist sich dessen auch bewußt. Das bezeugt schon das schöne Denkmal
Walthers von der Vogelweide, des größten deutschen Lyrikers des Mittelalters
und des einzigen nationalpatriotischen Dichters unsrer alten Kaiserzeit, das
beweist auch die Pflege der historischen Erinnerungen in dem neuen Museum
an der Talfer und seiner ansehnlichen Bibliothek.
„Dieses ist unser, so laßt es uns sagen und so es behaupten."
lie Ereignisse haben neuerdings Rußland und die russischen
Dinge so weit in den Vordergrund gerückt, daß auch Mit¬
teilungen über die Sprache unsrer östlichen Nachbarn auf all¬
gemeineres Interesse rechnen dürfen. Bisher war die Kenntnis
! dieses Idioms auf eine verhältnismäßig kleine Zahl von Offizieren,
Staatsmännern und Fachgelehrten, innerhalb eines engern Anschauungskreises
auf einen Teil der Handelswelt beschränkt, sodaß sich angesichts der plötzlich
hereinbrechenden slawischen Hochflut auch der Gebildete täglich einer Menge
unerwarteter Fragen gegenüber sah. Der Ruf besondrer Schwierigkeit, worin
das Russische steht, konnte zudem nur abschreckend wirken. Und doch ist in allen
Füllen das Verständnis für die lebendigste Offenbarungsform des Menschen¬
geistes das sicherste Mittel, rückwärts auf die Art ihrer Träger zu schließen.
Daß die russische Sprache zu den „arischen" gehört, die auch indogermanische
und indoeuropäische heißen, ist bekannt. Seitdem man aber den Namen der
Arier, bisher den volkstümlichsten von allen, auf die Stämme einer Urgemein-
schaft beschränkt, die sich als Inder im Gangestale, als Iranier auf dem persischen
Hochlande niedergelassen haben, stehn nur noch die beiden andern Bezeichnungen
zur Verfügung, und das bei Franzosen und Engländern übliche „Indoeuro¬
päisch" ist ohne Zweifel die wissenschaftlich besser begründete. Aber gerade wir
Deutschen haben das Recht und einigermaßen die Pflicht, an dem gewohnten
„Indogermanisch" festzuhalten, ist doch die ganze Wissenschaft der Sprach¬
vergleichung an glänzende Namen unsers Volkes, wie Jakob Grimm, Franz
Bopp, August Schleicher und andre, gebunden. Haben diese Männer in einer
ihrer Voraussetzungen geirrt — denn die Zugehörigkeit des Keltischen zu der
großen Sprachenfamilie ist erst nachträglich erwiesen worden —, so stand
ihnen doch nach altem Entdeckerrecht die Namengebung zu. Und sollte in dem
Festhalten an der einmal getroffnen Wahl eine gewisse Willkür oder auch ein
Beweis nationaler Eitelkeit gesehen werden, so wird beides verzeihlicher er¬
scheinen, als wenn der Brite mit seinem viel bewunderten RiZnt or vronA —
wz? eomitr^ sogar die schwersten sittlichen Vergehen deckt.
Also die Russen sind Indogermanen und gehören somit dem Kreise der
Völker an, deren Sprachen am höchsten entwickelt und des feinsten Gedanken¬
ausdrucks fähig sind. Ihren besondern Platz aber innerhalb der Familie finden
sie gemeinsam mit allen übrigen Slawen und den eine Art Anhängsel bildenden
Litauern und Letten dicht neben den Deutschen. Freilich wurden sie vor nicht
langer Zeit auch von ihren allernächsten Sippengenossen blindlings abgelehnt.
Ich sehe noch den edeln und hochgebildeten Herrn von Ch .... ki von seinem
Sitze aufspringen, als ich ihn harmlos daran erinnert hatte, daß Polen und
Nüssen, Polnisch und Russisch blutsverwandt seien. Mit wehenden Rockschößen
um den Tisch rasend, stieß er immer wieder den Ruf tiefster Empörung aus:
Verwandt? — Verwandt!! Auch die von mir hinzugefügte Erklärung beruhigte
ihn nicht; lieber verleugnete er die Elemente der Wissenschaft, als daß er eine
Persönliche Beziehung zu denen anerkannt Hütte, die ihm nichts als die Henker
seines Volkes waren, in einer Zeit zumal, wo die Wunden von 1863 und 1864
noch bluteten. Heute ist das ja nun anders geworden — ob in Wirklichkeit
oder nur angeblich, dem gemeinsamen Deutschenhaß zuliebe, wird die Zukunft
lehren.
Auf dem Begriffe der nationalen Zusammengehörigkeit und Nachbarschaft
aber beruht nach neuerer Lehre die ganze Sprachgeschichte. Früher galt die
Theorie der Verzweigung, die doch nur ein glänzendes Trugbild hervorrief.
Man nahm an, daß sich nach einer längern Periode gemeinsamen Lebens ein
Teil der ursprünglichen Stammesgenossen unter unbekannten Einwirkungen von
den übrigen trennte und seine eignen Wege ging, besonders auch den der
sprachlichen Fortentwicklung; daß sich ferner derselbe Vorgang innerhalb der
jüngern Gruppe einmal oder mehrmals wiederholte. Das alles, wie sich die
Pflanze in Haupt- und Nebenäste teilt, deren jeder sein eignes Dasein führt,
sprossend, blühend, Früchte tragend, welkend. Aber diese Vorstellung, so be¬
stechend sie war, konnte doch vor dem schärfer prüfenden Blicke nicht bestehn.
Die Schößlinge eines Baumes lösen sich nach dem Naturgesetz von dem Haupt¬
stamm über Nacht und vollständig, wenn sie auch einen Teil ihrer Lebenskraft
noch ferner von ihm oder durch seine Vermittlung empfangen. Konnte sich auch
eine bestimmte Menschengruppe aus einer größern Gemeinschaft lösen, etwa auf
Verabredung, von einem Tage zum andern, nach Teilung des gemeinsamen
Besitzes und mit einem mehr oder weniger höflichen Lebewohl? Etwa wie
Jakob von Laban oder wie Cäsar und Brutus in Schillers Räubern: „Geh
du linkwürts, laß mich rechtwärts gehn"? Und wenn ein vereinzelter Vorgang
solcher Art noch denkbar gewesen wäre, wie hätte er sich innerhalb jeder Volks¬
und Sprachgenossenschaft mehr oder weniger oft erneuern sollen? Nein, nur
langsam, im Laufe von Jahrhunderten, vielleicht von Jahrtausenden konnten
sich diese Trennungen vollzieh». Die nicht minder zwingenden Gesetze aber,
die zu ihnen führten, hießen Raumbedürfnis und Hunger. Sie bewirkten die
„Zerdehnung" eines Volkes, das allmähliche Einströmen seines Überschusses
in unbesiedelte oder auch in besiedelte Gebiete, deren ursprüngliche Bewohner
verdrängt wurden. Und je weiter sich diese Abwanderung erstreckte, um so
größer wurde das Stammes- und Sprachgebiet, um so weiter rückten die an der
Peripherie ansässigen Teile auch geistig von dem Kern und noch mehr von den an
der entgegengesetzten Seite Siedelnden ab. Die natürliche Folge der gesamten
Vorgänge aber war, daß zwar jede Gruppe einen wesentlichen Teil des gemein¬
samen Sprachguts bewahrte, einen andern dagegen aufgab oder doch Wurzeln
und Endungen unter den mancherlei oft völlig verschiednen Einwirkungen geo¬
graphischer Verhältnisse, innerer Lebenserfahrungen, fremdsprachiger Nachbar¬
schaft verwandelte, abschliff, weiterbildete, ihren Besitz zugleich durch anders¬
artige, neu an sie herantretende Elemente vermehrend. Je näher dabei die
Bestandteile der ursprünglichen Volksgemeinschaft, die nun selbst zu Stämmen
und Völkern aufwuchsen, einander blieben, um so größer blieb schließlich auch
ihre Übereinstimmung in der Sprache.
Dieser merkwürdige und doch so natürliche Prozeß aber vollzog sich auch
am Russischen. Es genügt hier die jüngern Bildungen des Indogermanischen,
also neben den deutschen und den slawischen Mundarten die Sprachen der
Griechen und der Römer sowie die von dieser abgeleiteten romanischen in Betracht
zu ziehen. Daß wir mit russ. t^, lat., nat., franz. tu, got. tun, engl. trou, neu-
hochd. du, ebenso mit tri, griech. r^elf, got. tlirsis, engl. rnrss, übt. drei auf
demselben, nur staffelförmig aufsteigenden Boden stehn, leuchtet ohne weiteres
ein. Aber auch wenn der Grieche ol^os (früher voiuvs), der Lateiner viuuiu,
der Deutsche Wein, der Russe vino sagt, so bewegen sich alle vier innerhalb
der Grenzen ältester Gemeinschaft. Ebenso mit ^L^> es inswin, Med und niM^);
nox, franz. nuit, nat. notes, engl.niM, Nacht, russ. notsolrj; mit /r/i.«^, llusrs,
fließen (engl. to üog-t), russ. xt^ej, xtav?g.ej; «iis, lat. o?i8, deutsch nur mundartlich
vorhanden, russ. Ä^g, (geschrieben vo?a); «^s> sal, ssl, sg,1t, Salz, russ. sol —
einem Worte, das übrigens anch als uralte Entlehnung eines indogermanischen
Stammes vom andern angesehen wird. Besondres Interesse bietet der russische
Titel KnMj — Fürst, der mit seinem den Zusammenhang noch deutlicher nach¬
weisenden Femininum KuM^liM dem germanischen Kuren^as, König, nachgebildet,
im letzten Grunde aber doch als gemein indogermanischer Herkunft anzusprechen
ist. Denn KuniuM ist nichts andres als der Mann der Kral, d. h. des Ge¬
schlechts, und führt somit auf sssnus und 7«>os zurück. Dafür scheidet in andern
Füllen das eine der beiden Glieder, Deutsch oder Russisch, aus der Kette der ur¬
verwandten Sprachen aus. So gibt es keine germanische Bildung für clavätj
— 6t6o'?ete, während das griechische russisch 2NWa, wenigstens im
englischen qussn erhalten geblieben ist. Hier hat also das eigentliche Deutsch
ebenfalls sein Erbstück verloren gehn lassen, während der früher und weiter vom
Sitze des Hauptvolkes sich entfernende angelsächsische Stamm es noch bewahrt
hat; im ersten Falle hat schon das Grunddeutsche verzichtet, ebenso wie bei iMis,
russ. g.Z»ip, und Hg'mis, russ. g,Znöt«. Umgekehrt bewahrt das Russische allein
keine eigne Bildung von der in allen andern indogermanischen Sprachen vor-
handnen Wurzel alio-, leuchten, die schon im Sanskrit die älteste Gottheit be¬
zeichnet, in den jüngern Sprachen als (^-of, Genitiv) ^to's, lat. (Zeus — älen,
alö, nordisch t!var und als Name des deutschen Hauptgottes An, d. i. un,
wiederkehrt. Seltsam erscheint es dabei, daß die jüngere Form des Deutschen
sowohl wie des Russischen gerade für diese höchste Vorstellung zu völlig ver-
schiednen und ihrem Ursprünge nach bis heute dunkeln Bildungen gegriffen hat:
jene zu „Gott", dieses zu Look.
Aber wenn der Besitz oder der Verlust sprachlicher Elemente so ein Aus¬
einandergehn beider Völker bei gelegentlicher Wiederbegegnung zu zeigen scheint,
so muß man doch in der größern Ähnlichkeit mancher an sich allen indoger¬
manischen Sprachen eignen, deutlicher noch in den auf Deutsch und auf Russisch
beschränkten Wörtern ihre engere, zugleich auf die Kulturverhältnisse sich er¬
streckende Verwandtschaft erkennen. So lautete das lateinische soosr (in älterer
Aussprache so-lehr) im Deutschen Schwieger (Schwäher), im Russischen 8^.joie6r;
griech. sog (5s), lat. sus ist deutsch Schwein, russ. 8>vit^A; nackt, engl. u^Ksä, heißt
Ul^ol, lat. aber rmäus, franz. un; ein Doppelpaar slawolettischer und germanischer
Bildung sind Gans, litauisch Zlmsis, und engl. Kooss, russ. Ausj. Beispiele der von
beiden Sprachstämmen und nur von ihnen festgehaltnen oder während der Periode
gemeinsamer Fortexistenz neugeschaffnem Elemente sind: IMi — Leute, IvK-u-j
(Poln. Icckar?, got. IsKsis, engl. I^oczn) — Arzt, sörsbro, althd. silaxur — Silber,
Mlg.Ka> (russ. und lit.), althd. axalis ^ Apfel; KuM kaufen (Kupst-, der
„Kaufmann", dessen Ableitung vom lateinischen oauxo, der Schenkwirt, die
slawische Bildung nicht erklären würde). In allen früher durch „Zerdehnung"
von der slawisch-germanischen Volksgemeinschaft abgelösten Sprachen fehlen hier
die lautverwandten Ersatzwörter. Einen noch tiefern Einblick in die geschicht¬
liche Entwicklung gewähren Wörter wie 102h, der Roggen. Diese Bodenfrucht
war nachweislich das Hauptgetreide der Slawen wie der Deutschen. Besonders
interessant aber ist die Entstehung und die Bedeutung des Wortes bükva,
der Buchstabe. LuK — die Buche stammt freilich vom lateinischen lÄ^us, ist
also gemein-indogermanischen Ursprungs. Aber nur slawisch und Deutsch haben
von dieser Wurzel eine besondre Bildung desselben kulturgeschichtlichen Sinnes
abgeleitet. Wenn also die germanischen Priester mit Runenzeichen versehene
„Stäbchen" aus Buchenholz am Boden verstreuten und ihrer Lage geheimnis¬
volle Deutung gaben, so ist auch ohne historischen Nachweis anzunehmen, daß
der gleiche religiöse Brauch bei ihren östlichen Nachbarn herrschte. Zu ähnlichem
Schlüsse führt die Vergleichung der beiden Wörter xolk und „Volk". Obwohl
M. Heyne die Ableitung des deutschen Ausdrucks für unsicher erklärt, wird
dieser doch sonst mit lat. volA'us, griech. ö^os zusammengestellt und somit als
gemein indogermanisch anerkannt. Aber nur im slawischen und im Deutschen
Hat er zugleich einen militärischen Charakter angenommen, den das Russische
ausschließlich festhält. ?o1Je bedeutet nur Heer oder Regiment, während das ger¬
manische tulle die auf Waffenmacht begründete staatliche Gemeinschaft bezeichnet,
die der Römer als vivitg.« von xoxulns und volAus scharf unterscheidet. Zu¬
weilen tritt die Übereinstimmung der Lautgebilde deutlicher in dem als „Kirchen¬
slawisch" (giÄVou ä'^ßliss) bekannten Altbulgarischen hervor, das noch heute
in allen für den Gottesdienst bestimmten Büchern angewandt wird. So heißt
im eigentlichen Russischen der Hirsch alsnj, in den Übersetzungen der Heiligen
Schrift dagegen (Msuj, entspricht also genau unserm „Elen". Daneben bildet
wohl auch der bloße Begriff ohne ländliche Übereinstimmung einmal die Brücke.
Rot war die Farbe Donars, des germanischen Wetter- und Segensgottes, rot
die Farbe seines Bartes und unter Menschen die des hochzeitlichen Festgewandes,
woraus sich naturgemäß die Vorstellung der heiligen, der schönen Farbe ent¬
wickelte. Im Russischen aber bedeutet „rot" (Kr-ihn/) geradezu „schön", und
xrsKrHsn^ n.08 heißt nicht bloß eine „sehr rote", sondern zugleich eine „sehr
schöne" Nase.
Natürlich stehn die übrigen slawischen Idiome, also außer dem Polnischen
auch Ruthenisch (Kleinrussisch), Tschechisch, Serbisch, Bulgarisch und Slowenisch
— um nur die Hauptraum zu nennen — dem Russischen noch näher als das
Deutsche, wenn auch die Ähnlichkeit mehr bei der herkömmlichen Niederschrift
der einzelnen Sprachen als in der Bildung der Wörter hervortritt, da die fort¬
schreitende Zerdehnung immer zahlreichere Änderungen der Form und des Klanges
bewirkt hat. So begegnet schon der mündliche Verkehr zwischen Groß- und Klein¬
russen, obwohl diese zum größten Teil innerhalb des Zarenreiches und in steter
Berührung mit dem verwandten Hauptvolke leben, außerordentlichen Schwierig¬
keiten, und als vor mehreren Jahren auf Veranlassung und unter Vorsitz eines
als eingefleischter Deutschenhasser bekannten Moskaner Generals in Prag ein
allgemeiner Slawenkongreß mit ausgesprochen antigermanischer Tendenz zu¬
sammentrat, sahen sich die Teilnehmer bei der Unmöglichkeit direkter Verstän¬
digung genötigt, zu dem Auskunftsmittel des — Deutschen zu greifen. Natürlich
nur, weil die Gebildeten aller slawischen Stämme unsre Sprache mehr oder
weniger beherrschen.
Aber die Verbindung zwischen Deutsch und Russisch beschränkt sich nicht
auf die reichlich vorhandnen Spuren uralter Blutsverwandtschaft. Spätere
Zeiten haben ein neues, wenn nicht stärkeres, doch sichtbareres Band geschaffen
in den Gaben, die als Gastgeschenke vom Nachbar zum Nachbar gewandert
sind. Die Zahl der Lehnwörter, die das Russische dem Deutschen verdankt,
ist ungemein groß; weit geringer natürlich die der entgegengesetzten Art, ob¬
wohl auch sie nicht völlig fehlen. So hat „Grenze", das slawische ZmnitM,
seit dem Mittelalter allmählich den urdeutschen Ausdruck „Mark", aus der ge¬
wöhnlichen Sprache mindestens, verdrängt; auch „Pflug", russ. xluA, ist wohl
ein slawisches Wort. Ja der Name Slawe selbst (nicht „Slave", vgl. russ.
L1a>vMiun) hat uns den Gattungsbegriff „Sklave", besser Sklawe zu schreiben
und deutlicher im englischen 8ig,of zu erkennen, geliefert. Dafür macht sich der
sprachliche Niederschlag der germanischen Kultur auf allen Gebieten des russischen
Lebens bemerkbar. Wörter wie Kartüllelj und laKslÄr^ zeugen für sich selbst
und wirken im kaum noch fremdartigen Gewände nur naiv und erheiternd.
Eine noch wunderlichere Entlehnung ist vasisäaZ, dem man sogar in der Poesie
begegnet, so in Puschkins satirisch-romantischem Epos „Jewgeni Anjägin" bei
der Schilderung eines Petersburger Wintermorgens (I, 35):
Gemeine ist das Schalter- oder Schiebefenster, wie es sich auch bei uns in Kauf¬
läden und Amtsrüumen findet und im Französischen ebenfalls als Is vasistÄS
begegnet. Wie die fremden Sprachen zu der drolligen Bildung gekommen
sind, ist schwer zu sagen: der unmittelbare Übergang aus dem Deutschen
in das Russische aber wird schon durch die genaue Übereinstimmung des Lautes
— „Was is das?" — bewiesen. Auch Knonnja, obwohl mit allen germa¬
nischen Ableitungen zum lateinischen ooausrs gehörig, ist wohl direkt nach
„Küche" (ältere hochdeutsche Form: „die Kuchen") gebildet, wie das kaum
verkennbare Imebmistr, der Küchenmeister, beweist. NunäKöoK ist natürlich un¬
verfälschtes Deutsch.
Überaus zahlreich aber sind die Lehnwörter auf militärischem, seemännischen,
technischem und kaufmännischen Gebiet. So sind bowkrlc, t^sy', nrunätr
(Montierung); warsolirüt, 2nZ (das Gespann); solclAt selbst, lliKsIM-w und
üiAsIMMt-Lud; lZö^Mxsr (der Armeeprofoß, Gewaltiger); tsIMolisr, tsM-
nulrsolM und sogar tsIMsdsh (sie!) einfach hochdeutsche Wörter und Bil¬
dungen; ebenso aävaKÄ, inäklerj, buoKZ'Mor, Karrösxanäönt, ärukarin>
(Druckerei), KariMwr, MsoKtänit (Postamt), lcuxör (Küfer), xMsh (Hohlkehle);
tüMnj (Lotleine), eg^ (Lage des Schiffes, auch Salve der Schiffsgeschütze,
Vgl. „volle Lage"), dnA8vdxrit, ttaZ (Flagge) und die davon abgeleiteten ktAA-
man und leg.A8<M»K, während Kih (Kiel) vielleicht noch dem gemeinsamen indo¬
germanischen Sprachgut angehört.
Schon diese nach dem Zufall ausgewählten Proben zeigen, in welchem
Umfange sich das russische Volk nach dem Aufgeben des alten Barbarentums
deutsche Bildung, deutsches Wissen und deutsche Kunstfertigkeit zu eigen ge¬
macht hat, seitdem Iwan der Schreckliche und Peter der Große unsern Offi¬
zieren, Handwerkern und Gewerbetreibenden die Grenzen ihres Reiches erschlossen
hatten. Weniger ehrenvoll für uns erscheint es, daß der Russe auch in unsrer
Rang- und Titelsucht ein nachahmungswertes Vorbild gesehen hat. Die alte
deutsche Schematisierungswut hat in den Zeiten freundnachbarlicher Entlehnung
drüben wahre Orgien gefeiert. Vierzehn Klassen zählt die Tafel der russischen
„Tschins"*), und wo nicht der deutsche Name selbst eingeführt ist, glänzt er
in der Übersetzung, vom logisch unfaßbarer „Wirklichen Geheimen Rat"
(äißstvltsljn^ talr^ sg^iewik) und dem Wirklichen Staatsrat (äiestwltkhii/
stHtsKi saviswik) an bis hinab zum Titularrat und dem lcallMÜM rsZistrator.
In der militärischen Linie sind „Oberst", „Oberstleutnant" sowie die Be¬
zeichnungen für die untersten Rangstufen national, aber es gibt auch einen
AönkM-I^lteiiäiit, einen Uf-lor und einen 8odtg.v8-Xaxit,all. Am drolligsten
klingen die durchweg deutschen Titel der Hofchargen und — der Bergbeamten,
vom Odör-I^ÄmrQöi'^s?, Oder-Gokiukistör (und 0ohr-?0r8etmMsr!) an über
den OotmarMtM hinunter zum latölMIisr, Xoke8odvnK und NünäsolwiiK;
ferner: LsrMg.üvtirmn, 0dör-6ittönvsrva1Mr, NMlWvIMäsr und sogar Lsr^-
xi-Mrer. Aber nicht genug mit den Namen, auch die sogenannten Geburtsprädikate,
also ungefähr das Seltsamste, dessen sich der Deutsche auf diesem Gebiete rühmen
kann, sind buchstäblich herübergenommen worden: der Staatsrat ist „Euer Hoch¬
geboren" (^Ä8vllo 'U'MIlMg.Iioiöäis), der Fregattenkapitän, der Berghaupt¬
mann, aber auch der einfache Doktor sind ,,Hochwohlgeborne"(^8vie!ivtgti0röäi6),
alle Angehörigen der sechs untersten Rangklassen heißen „Wohlgeboren" <Mg.ki.q-
rüäik). Mit der vierten Klasse (Wirklicher Staatsrat und Generalmajor) beginnt
die „Exzellenz", die aber dem Russen noch nicht genügt, sondern für die beiden
obersten Stufen: Reichskanzler, „Wirklicher" General und Admiral sowie die
Oberhofchargen zur „Hohen Exzellenz" (^^sLlis ^^8ol(Äxrsva8-<znkltite^8too)^^)
gesteigert wird. Aber auch die Grafen und Fürsten russischer Herkunft tragen
schon in der Wiege den Titel Exzellenz (französisch Votrs ^xeollenos), nur in
der Spielart ^shells SiMklMvo (buchstäblich etwa „Erlaucht"), während die
Reichsfürsten mit ^Väseluz LviMostj — Votrs ^Itssss Lörsnissims ange¬
redet werden.
Immerhin darf dieses Kapitel nicht zu tragisch genommen werden. Fran¬
zosen und Engländer pflegen zwar über unsre Schwäche die Nase zu rümpfen,
aber ihre Eitelkeit richtet sich nur auf andre Ziele, während sie in Wirklich¬
keit die unsrige übertrumpft. Und gar der „freie" Amerikaner macht sich durch
Prahlen mit Ordensbündchen und durch das Haschen nach europäischen Adels¬
titeln für seine Töchter unfehlbar lächerlich.
Andrerseits ist beachtenswert, daß auch die mit geschichtlicher Weihe um¬
kleideten und gesellschaftlich bedeutsamen Ehrennamen aus dem Deutschen
stammen oder wenigstens ihren Durchgang durch das Deutschtum genommen
haben. Außer Icujäöj und ImMAnjÄ gehört dazu vor allem der als Titel des
russischen Herrschers bis heute volkstümlich gebliebne Aarj mit seinem Femi¬
ninum Aarlt,?a (nicht ^Ärövvna, s. unten). Im gehobnen Stil und in der feier¬
lichen Amtssprache durch den fremdklingenden Imperator ersetzt — während
Assarj nur den altrömischen Kaiser bezeichnet — ist er doch nichts andres
als der durch die germanischen Nachbarn vermittelte Oassg-r. Denn während
man in Byzanz immer „Kaisar" sagte, gemäß der ältern lateinischen Laut¬
form, der auch das deutsche „Kaiser" seine Entstehung verdankt, ersetzten die
Römer seit dem siebenten Jahrhundert das K der Aussprache durch Z. L^rotj
aber, der in Rußland selbst ungebräuchliche Königstitel, ist aus dem zum
Gattungsnamen verallgemeinerten urdeutschen Karol, das heißt Oarows Ng^riuZ,
entstanden.
Im übrigen darf nicht jedes deutschklingende Wort ohne weiteres als
deutsch angesprochen werden. Als am 21. September 1900 der tapfre russische
General Zerpitzki, der kürzlich an seinen im japanischen Kriege empfangner
Wunden gestorben ist, das zum Sturm auf die Peitangforts ausrückende zweite
Bataillon unsers ersten Ostasiatischen Infanterieregiments mit den Worten be¬
grüßte: „Guten Morgen, draoi Deitschi!" glaubten unsre Krieger ein freund¬
liches, aber halb verunglücktes „brave Deutsche" herauszuhören. Doch nur
ihr Volksname war so gemeint, da von den beiden urrussischen Bezeichnungen
weder das halbverüchtliche Njgrrit?^ noch das dem gehobnen Stil angehörende
AöruuZ.iitÄZ-' zu der Situation gepaßt hätte. Lrav?^ dagegen ist von beiden
Sprachen dem Französischen entlehnt worden und somit ebensogut russisch
als deutsch.
Aber das Recht des Russischen auf indogermanische Herkunft stützt sich
auch darauf, daß die ganze Art der die Sprache Redenden mit ihm auf dem¬
selben Grunde erwachsen ist. Während die in Europa einheimisch gewordnen
uralisch-altaischen, das heißt mongolischen Stämme: Finnen und Madjaren,
das eingeborne Volkstum aufgegeben und sich die arische Geistes- und Gesell-
schaftsbildung als ein fremdes Gewand auf den Leib gepaßt haben, sind die
Russen ihrem Ursprung treu geblieben: ihre Kultur und ihre Sprache sind
bodenständig. Und daran ändert auch die Tatsache nichts, daß ethnographisch
ihre Herkunft ein wenig zweifelhaft erscheinen kann, und daß vielfach, obwohl
mit örtlichen Unterschieden, Züge und Körperbildung an den asiatischen Völker¬
sturm erinnern, der das Land dritthalb Jahrhunderte lang niederzwang. Sie
haben in jedem Fall ein größeres Recht, sich auf ihre Abstammung zu berufen,
als sich etwa die heutigen Griechen Nachkommen der Hellenen nennen.
Dagegen ist nicht zu leugnen, daß die russische Sprache geschichtlich eine
hinter andern Indogermanen weit zurückliegende Stufe der Kultur vertritt.
Das zeigt sich gerade in der Eigenschaft, die beim Erlernen sofort die Auf¬
merksamkeit, und zwar in wenig erwünschter Weise, auf sich zieht: ihrem
ungeheuern Formenreichtum. Denn es ist ein anerkanntes Gesetz, daß Sprach¬
bildung und Geschichte eines Volkes sich ablösen. Sobald eine Stammes¬
gemeinschaft im freundlichen oder feindlichen Verkehr mit den vorgeschrittenem
Nachbarn zu handeln und zu denken beginnt, tritt über der Notwendigkeit
rascherer Verständigung die jugendliche Freude am sprachlichen Schaffen oder
Ausgestalten in zunehmendem Maße zurück. Das Englische, dem das Wort
nur gangbare Münze ist, trügt einen völlig greisenhafter Charakter, während
das Russische, dessen Träger regungslos im Zustande des Barbarentums ver¬
harrten, als sich die westlichen Völker Europas längst von dem vollen Strom
des Kulturlebens tragen ließen, noch deutlich die Pracht und die Fülle seiner
Glieder zeigt. Die Abwandlung der Nomina weist nicht nur die sechs üblichen
Fälle, sondern noch einen siebenten, den Instrumentalis (twarltelM^, eigentlich
den Schöpferischen) auf, und zwar regelmäßig. Das ergibt für jedes Eigen¬
schaftswort mit seinen drei Geschlechtern sechs neue und besondre Bildungen,
für die in andern Sprachen höchstens fragmentarische Ansätze — oder Über¬
reste — vorhanden sind. Dem Engländer genügt die eine Form ssvoä für
alle Numeri, Kasus und Genera; das Deutsche hat immerhin noch sechs,
nämlich: gut, guter, gute, gutes, gutem und guten, das Russische aber 2x7x3,
also 42, wozu noch sechs abgekürzte Formen für die prädikative Stellung
kommen, sodaß die Gesamtzahl 48 beträgt! Von den Hauptwörtern werden
nicht nur die Appellativa, sondern auch die Vor- und Familiennamen dekli¬
niert, und zwar nach Bedürfnis für jedes der drei Geschlechter, also ^IsKsK
RÄiuHnok, Uf,r^ RaraanmvÄ, RamÄN^o x16mjg. (das Haus Romanoff) und
dann weiter durch alle Kasus und Numeri. Ganz eigentümlich hat sich das
Verbum entwickelt. Während die Konjugation an sich höchst einfacher Art ist
und nicht nur auf die Mehrzahl der zusammengesetzten Zeiten, sondern auch
auf den Konjunktiv verzichtet (der durch das Präteritum mit der Partikel 07
ersetzt wird), gibt es zu den meisten Zeitwörtern nicht weniger als sechs mit
Hilfe bestimmter Elemente von ihnen abgeleitete besondre Verba, die sogenannten
vläzs Fg,Ma, Gesichter, das heißt Anschauungsarten des Verbalbegriffs. Da¬
durch gelingt es dem Russen, neben dem Zustand oder der Handlung in ihrer
allgemeinen Bedeutung beides auch als bestimmt, als einmalig oder als mehr-
mals wiederholt, als unvollendet, vollendet, endlich als einmalig vollendet
darzustellen. Und alle diese Schwierigkeiten wachsen noch durch die außer¬
ordentlich verwickelten Laut- und Bildungsgesetze.
Dies nur als Probe. Aber es liegt auf der Hand, daß, wenn die zahl¬
losen in der Theorie vorhandnen Formen auch wirklich gebraucht würden, das
Erlernen des Russischen an die Grenze der menschlichen Fassungskraft streifte.
In der Tat scheute nicht bloß der Ausländer, sondern auch der gebildete Teil
der Nation selbst, der einen weit reichern Begriffs- und Vorstellungskreis zu
decken hatte als der einfache Muschik, bis vor kurzem die Mühe, sich seine Mutter¬
sprache bis zur Fertigkeit anzueignen. Er sprach das Französische, in dessen
Handhabung er erzogen worden war. Doch zeigt ein näherer Einblick, daß
sich viele der an die wilde Naturkraft des Urwaldes erinnernden sprachlichen
Schößlinge ohne Schaden für die Deutlichkeit beseitigen lassen. Auch kann
als Ausgleich für den überquellenden Formenreichtum die Einfachheit der
Syntax gelten, die in bezug auf die Wortstellung zumal durchaus modernes
Gepräge trägt. Ja schon das vollständige Fehlen des Artikels und die fast
regelmäßige Weglassung der Kopula bilden eine wesentliche Erleichterung:
<WsI) ol^rüsotü heißt „das gute Brot", olllsb vlmi'shok aber „das Brot
^ gut". (Schluß folgt)
Z?»U
GM^
I^WUi.>errlich weit haben wir es doch gebracht in unserm Zeitalter der
allgemeinen Bildung, so weit, daß mancher schon deshalb be¬
geistert ausrufen möchte: O Jahrhundert, es ist eine Lust, in
dir zu leben! In immer weitere Kreise dringt die Bildung, jedes
Jahr bringt neue „Bildungssysteme", neuen Bildungsfortschritt,
!neue Bildungsmoden und -Methoden, eine so unfehlbar wie die
andre, jede mit dem zuversichtlichen Anspruch auf allgemeine Giltigkeit, jede
einem tiefgefühlten Bedürfnis entsprechend und Befreiung bringend von altem
Zopf und Vorurteil. Pädagogen von Fach und Laien, deren Blick von keinerlei
Sachkenntnis getrübt ist, wetteifern miteinander darin, die Menschheit mit
neuer Bildung zu erfreuen, mächtig stoßen alle die Reformer und Menschheits-
beglttcker in die Neklametrompete und verheißen einen neuen Völkerfrühling,
geistige und körperliche Kraft und Gesundung, wenn man nur ihr Rezept, die
magische Panacee, anwendete. Kurpfuscher an allen Ecken und Enden! Reklame
zieht, das Kaufhaus zur modernen Bildung macht glänzende Geschäfte. Gewiß,
es hat anch gute, solide Ware — jeder Ramschbasar muß solche haben —, die
billigen Lockartikel, die hübsche Ausstellung, die Bequemlichkeit des Kaufes
winken, man nimmt dies und jenes, unbekümmert darum, ob man es brauchen
kann, und füllt schließlich seinen geistigen Haushalt mit solchen in die Augen
fallenden Dingelchen an. ohne es zu fühlen, daß man nur Tand erstanden
hat, Talmiimitationen wertvoller Gegenstände, und dies noch teurer, als es
erst scheinen mochte. Stolz auf ihren Besitz fühlen sich diese Bildungs¬
fanatiker wohl in ihrem Schwindclheim und schleppen noch neue Luxusartikel
herbei. Das Kostbare, Echte ist immer für verhältnismäßig wenige gewesen,
die Masse muß sich mit prunkender Imitation begnügen, wofern sie es nicht
zu ihrem Heile vorzieht, sich in altväterisch schlichter, gediegner Einfachheit
nach ihren beschränkten Verhältnissen einzurichten. Aber wie viele finden den
Mut, offen zuzugestehn: Echte Kostbarkeiten anzuschaffen erlauben mir meine
Mittel nicht, Schwindelkram mag ich nicht, also richte ich mich eben be-
scheidentlich ein, so gut ichs vermag.
Die schlimmste Kränkung, die man dem modernen Menschen zufügen kann,
ist der Vorwurf der Rückständigkeit; darum Fortschritt sei die Losung, lieber
vorwärts über Trümmer und Leichen, als zurückbleiben!
Aber haben wir bildungsstolzen Bürger des zwanzigsten Jahrhunderts
wirklich Grund, unsre Erfolge mit schmetternden Fanfaren auszurufen? Ich
fürchte, der Siegesjubel würde verstummen, wenn man prüfen wollte, ob das
Erreichte in einem leidlichen Verhältnis zu den aufgewandten Mitteln stehe.
Was wird doch alles der Volksbildung an Nahrung zugeführt: durch Schule,
Presse, Volksbibliotheken, Bildungsvereine, Vorträge, Volkshochschulen und
wer weiß, wodurch sonst noch, soll das schwache Kindlein zum kräftigen
Burschen herangefüttert werden. Aber leider wird es dabei überfüttert und
entwickelt sich zu einem kränklichen, verzognen, eigenwillig anmaßenden, bla¬
sierten Bengel o0um,6nvöiQ6in als sisels.
Der Pädagoge von Fach mag es wohl nicht gern zugeben, wie dürftig
im Grunde doch die Resultate seiner langjährigen, aufreibenden, treuen Arbeit
sind. Es ist ja sein Lebenswerk, auf das er stolz sein möchte, er sonnte sich
so gern in dem Ruhme, daß er bei Königgrätz gesiegt habe. Aber er möge
einmal seine mit einem, wie er sich vielleicht schmeichelt, reichen Schatz von
Wissen abgehenden Schüler ein Vierteljahr nachher prüfen, und er wird mit
Entsetzen erkennen, wie wenig, wie unendlich wenig geblieben ist.
Lies nur einmal die Briefe eines der Schule eben entwachsnen Dienst¬
mädchens, das Gestammel eines Lehrlings, frage die Rekruten nach einem
Bismarck, nach dem denkbar CHckentarsten in Geschichte, Geographie, Natur¬
kunde, und du wirst schaudenruber diese Unwissenheit. Für den Fachmann
wie für den Laien dürfte folgendes Prüfungsergebnis von Interesse sein, das
dem Gewerbeblatt aus Württemberg, herausgegeben von der Königlichen Zentral¬
stelle für Gewerbe und Handel, entnommen ist. Es waren an der Prüfung
beteiligt neunundzwanzig Schüler im Alter von vierzehn und fünfzehn Jahren.
Im Deutschen war folgende Aufgabe gestellt: „Schreibe an deine Mutter einen
Brief, in dem du ihr mitteilst, daß du vorgestern nicht nach Hause kommen
konntest, weil du im Auftrage deines Meisters nach N. mußtest. Du werdest
nächsten Sonntag kommen", worauf dann noch einige genaue Angaben über
den Inhalt des Briefes folgen. Die Beurteilung dieses Aufsatzes, bei dem
den Schülern alles Tatsächliche gegeben wurde, lautet: „Das Resultat war
wenig erfreulich. Bei nachsichtiger Beurteilung und bescheidnen Ansprüchen
konnte das durchschnittliche Zeugnis von etwas mehr als genügend gegeben
werden. Die Handschrift ist bei vielen ganz ungelenk, und die äußere Dar¬
stellung ließ in den meisten Fällen viel zu wünschen übrig."
In einem leichten Diktat, das außer katholisch kein Fremdwort und
keinerlei Schwierigkeit enthielt, betrug die durchschnittliche Fehlerzahl 12,4;
rechnet man die bei den übrigen Aufgaben gemachten Schreibfehler hinzu, so
ergibt sich die Durchschnittszahl 26. Die Rechenaufgaben lauteten: 1. Was
kostet der Stoff zu einem Anzüge für dich, wenn du 2,80 Meter brauchst, und
das Meter 6^ Mark kostet? 2. Die Einwohnerzahl einer Stadt betrug vor
einem Jahre 27300. Sie hat sich im Laufe des letzten Jahres um 2 Prozent
vermehrt. Wie groß ist sie jetzt? 3. Eine sehr leichte Zinsrechnung. 4. ^ kauft
8 Raummeter Holz ä 8,80 Mark und hat für Beifuhr 1,70 Mark für 1 Raum¬
meter zu bezahlen. Wie muß er 1 Raummeter verkaufen, wenn er 1,30 Mark
am Raummeter gewinnen will? — Es hätten 29 X 4 --^ 116 richtige Lösungen
geliefert werden sollen. Richtig waren aber nur 52, d. h. 45 Prozent, 21 Pro¬
zent konnten keine der Aufgaben losen. In Aufgabe 2 wurden 2 Prozent
von 27300 berechnet mit 2 . 27300 und 27300 : 2 oder gar (27000 . 365): 2.
Bei Aufgabe 3 zeigte sich, daß kaum ein Viertel der Schüler imstande sein
wird, den Zins, den sie einst zu bezahlen oder zu erhalten haben, nachzu¬
rechnen.
Es kommen noch einige Fragen allgemeiner Art: 1. Wie heißt der König
von Württemberg? Drei Schüler wußten den Namen ihres Königs nicht. —
2. Welches ist die Hauptstadt von Deutschland? Sechs falsche Antworten.—
3. Wer ist der Stifter der christlichen Religion? Luther wird vierzehnmal
genannt, Brenz(?) einmal, nenn gaben eine richtige, fünf keine Antwort. —
4. Zu welchem Erdteil gehört Japan? Elf Antworten von neunundzwanzig
waren richtig. Je zwei nannten China, Afrika, Amerika, je einer als Erdteil
Indien, Europa, Rußland. — 5. Wer war Bismarck? Zwölf richtige Ant¬
worten. — 6. Wer macht in Württemberg die Gesetze? Eine Antwort ganz
richtig, fünf teilweise. Genannt wurden Reichstag, Landgericht, Hofräte usw. —
7. Seit wann haben wir ein Deutsches Reich? Einer nannte das genaue
Datum, zehn das Jahr 1870, andre 1300, 1806, 1813 u. a.
Aus Altona wird bei ähnlichem Anlaß berichtet, daß 32 Prozent der in
die Lehre eingetretnen jungen Leute als ungenügend vorgebildet anzusehen
waren. In siebzehn Schulen betrug die Zahl der schlecht vorgebildeten Lehr¬
linge mehr als 50 Prozent. Nicht ganz so unbefriedigend sollen allerdings
die Resultate gewesen sein, die an einer größern Zahl von preußischen Fort¬
bildungsschulen bei einer ähnlichen Prüfung erreicht wurden, erfreulich waren
sie aber auch hier nicht trotz den kinderleichten Aufgaben.
Und nun vergleiche man mit diesen von Fachmännern festgestellten Ergeb¬
nissen an gut eingerichteten städtischen Schulen Forderungen, wie sie der im
Auftrage des Ministeriums ausgearbeitete Grundlehrplan der Berliner Ge¬
meindeschulen enthält; ich muß 'es mir freilich versagen, die überwältigende
Masse des Gesamtstoffs zusammenzustellen, und begnüge mich, einzelnes daraus
herauszugreifen. „Der Unterricht im Deutschen soll die Kinder zur vollen
Sicherheit im mündlichen und schriftlichen Gebrauch der Muttersprache hin¬
führen." Die Berliner sind zwar helle, aber daß sie sich diesem Ziele schon
etwas genähert Hütten, hat man noch nicht vernommen. Das Kind, das
außerhalb der Schule fast nur das allerschlechteste Deutsch hört und sprüht,
soll durch die Schule zur „vollen Sicherheit ..." hingeführt werden. Da
klingt die Forderung für die höhern Schulen schon bescheidner: Fertigkeit
im richtigen mündlichen und schriftlichen Gebrauch der Muttersprache. Das
ist für höhere Schulen erreichbar, wenn auch mit vieler Mühe und vielen
Mißerfolgen, jenes aber ist einfach ein — ein schöner Traum, wollen wir
höflicherweise sagen.
Die Forderungen für den Unterricht in Geographie, Geschichte und Natur¬
lehre können fast ohne weiteres auf das Gymnasium bis Prima übertragen
werden. Geradezu imponierend sind die Ansprüche im Rechnen für Klasse I:
„Die Kurs-, Diskont- und Gesellschaftsrechnung. Umfassende und abschließende
Verwertung der weltkundlichen Stoffe. Zwei Stunden Arithmetik und Algebra.
Die Lehre von den absoluten Zahlen; die algebraische Addition, Subtraktion,
Multiplikation und Division; die Proportionen; die Gleichungen ersten Grades
mit einer und mehreren Unbekannten." Sodann Einführung in das Lehr¬
gebäude der Planimetrie: die Lehre vom Kreise, vom Vieleck, vom Flächen¬
raum geradliniger Figuren und von der Proportionalität der Geraden. Das
klingt ja alles recht großartig, hat einen blendenden Anstrich von Wissenschaft¬
lichkeit; gewiß, es wird auch in den Schulen behandelt, und einzelne besonders
begabte Schüler mögen Gewinn davon haben, für die Masse aber ist es sicher¬
lich Vergeudung der kostbaren Zeit, die besser zur Einprügung des bescheidnen
Maßes von Wissen verwandt würde, das in dem Rahmen des Volksschul¬
unterrichts in acht Schuljahren erreichbar ist. Wer mehr erreichen will, als
dem Kinde die „einem vernünftigen Menschen seines Standes notwendigen
Kenntnisse" vermitteln, betrügt in bester Absicht sich und andre.
Es füllt gewiß keinem Einsichtigen ein, den einzelnen Lehrern den Vor¬
wurf nachlässiger Pflichterfüllung aus Resultaten zu machen, wie wir sie oben
geschildert haben; man wird auch wohl mancherlei Übclstünden Rechnung
tragen, als da sind: die Überfüllung der Klassen, die vielfach recht ungünstigen
häuslichen Verhältnisse der Schüler, Überbürdung und ungenügender Gehalt
der Lehrer, Überhäufung mit religiösem Memorierstoff, am Ende gar auch
noch die geistliche Schulaufsicht, die, wie es scheint, immer herhalten muß,
wenn sich Übelstände im Schulwesen zeigen. Aber besser wäre es wohl, statt
die Schuld auf andre abzuwälzen, sich selbst ehrlich zu prüfen und sich zu
fragen, ob nicht auch der Lehrerstand seinen Teil dazu beiträgt. Und der
Vorwurf kann ihm wohl kaum erspart bleiben, daß er sich seine Ziele zu hoch
gesteckt hat und sich einer verhängnisvollen Täuschung über das im Volks¬
schulunterricht Erreichbare hingibt. Dieser Vorwurf wird namentlich dann er¬
hoben werden müssen, wenn der Unterricht über die „Allgemeinen Bestimmungen
vom Jahre 1872" hinausgeht. Was hier verlangt wird, ist etwa das, was
unter ganz günstigen Verhältnissen zur Not erreicht werden kann. Wie sollen
Kinder dieses Alters und dieses Standes all die Wissensmenge bewältigen,
die auf sie einstürmt? Der Vorstellungskreis, den sie von Hause mitbringen,
ist so eng begrenzt, daß für die unzähligen neuen Vorstellungen kaum An¬
knüpfungspunkte vorhanden sind, die Sprache, die sie zuhause hören, so ver¬
schieden von der, in der sie sich nun ausdrücken sollen, daß sie in der neuen
Gedankenwelt kaum heimisch werden können.
Und was wird nun dem armen, schwachen Gehirn zugemutet von der
„vollen Sicherheit im mündlichen und schriftlichen Gebrauch der Mutter¬
sprache" an bis zu den Geheimnissen der Algebra. Und sogar das genügt
dem strebsamen Lehrer nicht. Neue Fächer müssen unbedingt eingeführt
werden: Gesundheitslehre, Stenographie, fremde Sprachen; alles das wird
irgendwo in den Volksschulen schon gelehrt und gelernt, die Kunst soll im
Leben des Kindes eine freundliche Stätte finden, jedes Jahr bringt neue
Stoffe und Methoden. Und das Resultat? Ich glaube fast, die schlichte alte
Volksschule, der schlichte Schulmeister früherer Jahrzehnte hat ohne das ge¬
waltige Aufgebot an methodischem Fortschritt unter viel ungünstigern äußern
Verhältnissen, schlechtem Gehalt, großer Stundenzahl, mangelhaften Schul¬
räumen und Lehrmitteln Ergebnisse erreicht, die den Vergleich mit den Unter¬
richtserfolgen der modernen, wohl ausgestatteten, in allen Feinheiten einer
hochentwickelten Methode schwelgenden Volksschule nicht zu scheuen brauchen.
Zum wenigsten konnte man das, was das Leben des einfachen Mannes fordert,
besser, als sich das bei dem heutigen Vielerlei erreichen läßt. Gewiß, man
kann mit jeder Art des Unterrichts auch glänzende Resultate zur Schau stellen,
man kann Schüler sprechen hören so gelehrt ivie ein Buch, Aufsätze lesen,
deren sich der Herr Lehrer selbst nicht zu schämen brauchte. Aber gerade
Paradeleistnngen gegenüber ist doppelte und dreifache Vorsicht geboten; wo
solche vorgeführt werden, da mag man sich insgeheim sagen: Ich finde nicht
die Spur von eignem Geist, und alles ist Dressur. Wer im Unterricht
glänzende Resultate aufweisen will, von dem ist kaum zu erwarten, daß er an
einfachen, der Leistungsfähigkeit des Schülers angepaßten Aufgaben dessen
geistige Kräfte übt und so Echtes, Gediegnes schafft. Natürlich machen sich
diese Übertreibungen und die Überschätzung eines überreichen Schulwissens da
am meisten bemerkbar, wo ein aufstrebender Stand oder eine aufstrebende
Schulgattung um öffentliche Anerkennung oder um Gleichberechtigung mit den
altangesehenen Schulgattungen kämpft, das sind in unsern Tagen die Volks¬
und die höhere Mädchenschule. Aber auch das konservative Gymnasium hat
sich dem Zuge der Zeit nicht entziehn können.
Mag es immerhin früher eine recht einseitige Bildung vermittelt haben,
man verließ es doch wenigstens mit gediegnen Kenntnissen auf einem eng be¬
grenzten Gebiet. Das moderne Gymnasium dagegen hat sich, um auf der
„Höhe der Zeit" zu bleiben, offenbar in die Bahnen der Universalbildung
drängen lassen. Und der Erfolg? Seufzen und Stöhnen bei Lehrern, Eltern
und Schülern über unbefriedigende Arbeit und dürftige Ergebnisse. Man hätte
sich sagen müssen: 8int ut sunt, aut non sint, oder deutlicher: Die Gymnasien
vermitteln nach wie vor die klassisch-humanistische Bildung, wie sie in frühern
Jahrzehnten genügte, oder aber, wenn die moderne Zeit moderne Bildungs¬
werte gebieterisch fordert, so mögen diese Bildungsstütteu aufhören zu bestehn!
So jedoch läßt der Schüler reichlich ein Dutzend Bildungsfücher über sich er-
gehn, nach Vorschrift treibt er mit demselben Fleiß oder Unfleiß Religion und
Mathematik. Latein und Französisch, Griechisch und Englisch, Geschichte und
Physik, Deutsch und Fußball, und was man ihm gerade zumutet. Was
Wunder, daß bei dieser erdrückenden Fülle das jugendliche Gehirn versagt, und
jährlich in vielen Klassen etliche zwanzig bis dreißig Prozent der Schüler zu
ihrer, ihrer Eltern und Lehrer Freude verdientermaßen sitzen bleiben oder in
ihres Nichts durchbohrendem Gefühle vor der Zeit abgehn, Haß gegen die
Schule, gegen die Wissenschaft überhaupt und gegen ihre armen, wirklich völlig
unschuldigen Lehrer im Herzen tragend, zeitlebens mit dem bei uns untilgbaren
Makel belastet, es nicht einmal bis zum „Einjährigen" gebracht zu haben.
Meist aber muß der arme Kerl wenigstens so lange bleiben, bis er sich unlustig
und verdrossen das ersehnte Zeugnis ersessen hat, das ihm ein verbrieftes An¬
recht auf den Ehrentitel eines Gebildeten gibt. Wie vielen wäre es besser
gewesen, sie Hütten die Volksschule durchlaufen, als daß sie in freudloser
Arbeit auf der höhern Schule ans Bummeln gerieten und vielleicht fürs ganze
Leben zu ernstem Schaffen verdorben sind, sich zu gut dünken für die Arbeit
des Lehrlings, Ansprüche machen, ohne etwas zu leisten. Statt in ihrem
Fortkommen gefordert zu sein, können sie es erleben, daß ihnen bei Meldungen
der ehemalige Volksschüler nur aus dem Grunde vorgezogen wird, weil der
sich nicht zu gut dünkt, von unten nuf zu dienen.
Über die Erfolge der höhern Mädchenschulen erschien vor einigen Jahren
in den Grenzboten ein Artikel, der wegen seiner scharfen Kritik unter denen,
die sich getroffen fühlten, eine begreifliche Aufregung hervorrief. Unrecht
hatte der Verfasser, wie mir scheint, darin, daß er sein abfülliges Urteil auf
die höhere Mädchenschule beschränkte, er hätte es mit demselben Recht über
die Unterrichtserfolge der Volks- und der höhern Knabenschulen füllen können.
Allerdings der Obersekundaner hat seinen Bildungsnachweis verbrieft in seinem
Einjährigfreiwilligeuzeugnis und hätte sich wohl mit dem Hinweis darauf eine
solche Prüfung einfach verbeten. Wenn er aber klug ist, hütet er sich wohl,
sich über das Wissen der „höhern Tochter", so unvollkommen es sein mag,
lustig zu machen; sie könnte ihn sonst vielleicht bös abführen.
Während sich aber an den höhern Knabenschulen die Erkenntnis von der
Notwendigkeit einer Vereinfachung des Unterrichts allmählich durchringt, scheint
die geplante Reform des höhern Mädchenschulwesens darauf hinauszukommen,
daß man der bisherigen Überfülle, mit deren Bewältigung sich Lehrer und
Schülerinnen nur zu oft vergebens abgemüht haben, noch weitern Wissensstoff
hinzufügt. Der bisherige einseitig sprachlich-ästhetische, gemütbildende Unterricht
soll, was ja ganz schön klingt, ergänzt werden durch die mathematisch-natur¬
wissenschaftliche Verstandesschulung. Wir können dasselbe leisten wie die
Männer, die Bildungsmittel des Mannes müssen auch uns offen stehn, so
ruft der Chor bildungsdurstiger Damen. Und nun wird in der Nachahmung
des höhern Knabenschulwcsens darauf los experimentiert, bis der Schaden
kaum mehr heilbar ist. Wenn dann etliche — vielleicht zusammenbrechend —
im Wettkampf das Ziel erreichen, jubelt der Bildungsenthusiasmus, un¬
bekümmert um die Opfer des Kampfes. Vorläufig sind es ja noch nicht allzu-
viele, die unter den gegenwärtigen Verhältnissen die Gymnasiallaufbahn ein¬
schlagen, und diese wenigen sind wohl körperlich und geistig besonders dazu
befähigt. Aber laßt es einmal Mode werden, laßt einmal zahlreiche Ober-
lyzeen mit allen Berechtigungen der höhern Knabenschulen entstehn, und in
Scharen drängen sich auch solche Wesen dazu, deren Kräfte von Anfang an
nicht ausreichen oder in den langen, langen Jahren des Lernens erlahmen,
nachdem sie ein gut Teil Lebensfreude, Gesundheit und Vermögen nutzlos
dahingegeben haben. Daß es im allgemeinen Interesse lüge, die Über-
füllung in den sogenannten höhern Berufsarten noch zu steigern, wird wohl
auch die eifrigste Vorkämpferin des Frauenstudiums kaum behaupten. Aber
was tuts, die Konkurrenz hebt das Geschäft,,, zu den hungernden Probc-
kcmdidaten, Assessoren, Rechtsanwälten und Ärzten gesellen sich dann die
hungernden Probekandidatinnen, Ärztinnen und Rechtscmwültinnen.
Aus übel angebrachten Bildungs- und Gleichheitsfanatismus möchte man
am liebsten die höhern Knabenschulen mit allen ihren Mängeln einfach kopieren.
Wenn doch die Leute, die über die höhern Mädchenschulen so leichten Herzens
den Stab brechen — es sind meist Damen, die die höhern Knabenschulen nur
vom Hörensagen kennen —, die zum Teil maßlos übertriebnen Verdammungs¬
urteile von Männern über ihre frühere Schule hörten! Dem einen ist das
Gymnasium ein alter Zopf, eine Verdummungsanstalt, der Ruin deutschen
Wesens, dem andern die Realschule eine banausische Bildnngswerkstätte, und
was dergleichen Liebenswürdigkeiten mehr sind; im Grunde ist man darin
einig, daß beide unter dem Druck des Berechtigungswesens wenig geeignet
sind, ein freies, körperlich und geistig regsames Geschlecht heranzubilden. Was
aber der kräftigern männlichen Jugend zu viel ist, das soll dem schwächern
Geschlecht — und das ist es nun einmal trotz allen Phantastereien energischer
Damen — zugemutet werden. Das Heil unsrer heranwachsenden weiblichen
Jugend wird in schwierigen Prüfungen gesehen, in der Verleihung von Be¬
rechtigungen, kurz in allem dem, was als ein Krebsschaden der höhern Knaben¬
schulen bekämpft wird. Der Anlehnung an diese ist wahrhaftig genug geschehen;
es ist wirklich nicht nötig, daß alles, was dort als Übelstand empfunden wird,
hier in zweiter, verbesserter und vermehrter Auflage erscheint.
Schließlich ist es auch noch nicht das schlimmste, wenn in dem oder
jenem die Knabenbildung etwas voraus hat. Die Harmonie der Ehe, das
häusliche Glück, die Erziehung der Kinder wird seltner darunter leiden, daß
die Schulbildung der Frau der des Mannes oder gar der der Kinder nicht
ebenbürtig wäre, als darunter, daß die moderne gebildete Frau den recht werk¬
täglichen Pflichten des Haushalts und der Kindererziehung nicht nachkommen
kann oder will. Das Verständnis für die geistigen Interessen des Mannes,
der Kinder, der Zeit überhaupt ist, Gott sei Dank, nicht so abhängig von der
Schulbildung, als es scheinen möchte. Gerade der unverbildeten Frau — ich
sage nicht der ungebildeten — bringt sogar der geistig hochstehende Mann
größeres Vertrauen entgegen, sie mag er lieber zu Rate ziehn, auf ihr Urteil
höhern Wert legen. Takt, gesunder Menschenverstand und klarer Blick, Frische
des Körpers und des Geistes, weibliches Zartgefühl und weibliche Liebens¬
würdigkeit, dafür braucht es kein Abiturium. Das öffentliche Auftreten mancher
Doktorinnen mag uns manchmal bange machen, ob nicht gerade diese doch
auch noch schätzenswerten Eigenschaften bei Abiturium und Studium stark ge¬
fährdet werden. Von der schweren Schädigung der Gesundheit, wie sie zum
Beispiel die wissenschaftliche Ausbildung und der Beruf einer Lehrerin so häufig
bringt, weiß manche ein trauriges Lied zu singen. Mag immerhin dieses
Opfer für einen schönen Beruf gebracht werden, falsch wäre es, um moderner
Schlagwörter willen einer ungesunden Steigerung der Bildungsansprüche das
Wort zu reden und die Volksgesundheit zu schädigen. Die Tatsache, daß das
künftige preußische Lyzeum für die Minderheit eine Art Vorschule für wissen¬
schaftliche Berufe werden soll, darf nicht dazu führen, der weit überwiegenden
Mehrheit derer, denen es nur eine gute allgemeine Bildung vermitteln soll,
wie schwerere Last aufzubürden, als sie tragen kann. Will man denn alles
übersehen, den schwächern Körperbau, all die Störungen des Entwicklungs¬
alters, die regelmäßig und unregelmäßig wiederkehrenden Schwächezustände,
denen das weibliche Geschlecht unterworfen ist, und die eine Schonung des
Geistes mindestens ebensosehr fordern wie die des Körpers?
Unsre höhere Mädchenschulbildung mag in manchem reformbedürftig sein,
aber nicht so sehr wegen des „zu wenig", sondern viel mehr wegen des „zu
viel." Worin soll eigentlich ihre ganz besondre Minderwertigkeit liegeu, über die so
herzbewegend geklagt wird? Sie verdient diesen Vorwurf nicht mehr und nicht
weniger als jede andre Art von Schule. Ihre Ergebnisse entsprechen im allgemeinen
dem, was man bei einer solchen Fülle von Bildungsstoff von sechzehnjähriger
Menschenkindern billigerweise erwarten kann, und das junge Mädchen, das die
ganze Schule durchgemacht hat, kann sich in ihrem Wissen ganz wohl mit dem
Schüler messen, der mit dem „Einjährigen" der Schule und ihrer Bildung
den Rücken kehrt. Wenn nach der Schulzeit eine gewisse Verflachung eintritt,
so ist das doch nicht die Schuld der Schule, sondern der Verhältnisse, die
leider ein zick- und zweckloses Dahinleben begünstigen. Dem abzuhelfen, bedarf
es nicht so sehr weitern Studiums, als der Einsicht der Mütter, daß sie nun
berufen sind, die Töchter in die Lehre zu nehmen.
Wir wollen im Interesse der Wohlfahrt unsers Volkes, seiner körperlichen
und geistigen Gesundung hoffen, daß jede künftige Schulreform als obersten
Grundsatz die Vereinfachung und Vertiefung, nicht die Erweiterung und Ver¬
flachung hat. Denn dazu wird schließlich die zurzeit so beliebte Popularisierung
der Wissenschaft führen, Zeitungen, Leihbibliotheken, Volksbüchereien, Vorträge,
Volkshochschulen, Debattierklubs usw. in IMniwin versorgen uns überreichlich
mit geistigem Futter. Wer kann wissen, wie viel Hunderte von Büchern der
Gebildete gelesen haben muß, wenn er noch Anspruch auf diesen Titel erheben
will, welche bedeutenden Kenntnisse in allen Fächern, welches vielseitige Interesse
er haben oder heucheln muß: heute Vortrag über die Kunst des Cinquecento,
morgen über Nöntgenstrcchlen, drahtlose Telegraphie oder Radium, jeder Tag
bringt neue Heroen, sei es Nietzsche oder Chamberlain, Nuskin oder Emerson,
Ibsen oder Tolstoi oder hundert und aberhundert andre Geistesgrößen aus
Gegenwart und Vergangenheit, die die Mode und profitgierige Verleger empor¬
gehoben haben, und die das Publikum ebenso rasch wieder fallen läßt. Du
bist es deiner gesellschaftlichen Stellung unbedingt schuldig, daß du über alles
mitreden kannst, über das Radium so gut wie über den neuesten Roman.
Pedanten mögen sich mit einem sichern Urteil in ihrem engern Gebiet und
vorsichtiger Zurückhaltung in dem, was ihnen ferner liegt, begnügen, von
einem modernen Bildungsmenschen muß man erwarten, daß er über alles mit
derselben Zuversichtlichkeit und — derselben Oberflächlichkeit mitreden kann.
Wolltest du nur einen kleinen Bruchteil aller der Bücher gründlich gelesen haben,
die „der Gebildete gelesen haben muß", die „in keinem Hause fehlen dürfen",
oder wie sonst die rührige Reklame lautet, du könntest ruhig deinen Beruf an
den Nagel Hunger und hättest noch mehr als genug mit der Bewältigung des
unermeßlichen Lesestoffs zu tun. Aber mache dir keine Sorge; es genügt auch,
wenn du eine Kritik darüber liest oder hörst, vielleicht die Kritik eines Mannes,
der das, was er kritisiert, selbst nicht gelesen hat. Die Überproduktion an
Büchern, streng wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen oder belletristischen,
ist geradezu unheimlich. So groß auch die Nachfrage bei unserm lesehungrigen
Publikum ist, unendlich viel größer ist das Angebot.
Das Schlimmste muß wiederum unsre Jugend über sich ergehn lassen:
Kinderbücher, Bücher für die reife Jugend werden fabrikmüßig produziert, und
eine hohe obrigkeitliche Fürsorge dringt auf Einrichtung von Schulbibliotheken,
damit das alles auch gelesen wird, als ob unsre Schuljugend nicht schon ge¬
nügend geistig in Anspruch genommen würe. Die Klagen über die Über¬
bürdung unsrer Schüler würden wahrscheinlich sofort verstummen, wenn es
gelänge, ihre Lesewut zu dämpfen, statt sie noch von Amts wegen zu fördern.
Es gibt so wenig gute Jugendliteratur, und das wenige Wertvolle wissen die
Kinder mit staunenswertem Instinkt zu vermeiden. Laßt sie, wenn die Schule
zu ihrem Recht gekommen ist, im Haushalt, im Garten oder sogar in der
Werkstatt helfen, treibt sie hinaus in Gottes freie Natur zu Spiel und Lust,
das bekommt ihnen besser als alle Jugendliteratur und erhält sie aufnahme¬
fähig für die Eindrücke des reifern Alters. Nur streifen will ich in diesem
Zusammenhang das leidige Kapitel der Schulbücherfabrikation, vor allem der
völlig überflüssigen und schädlichen Schulaufgaben, die gewöhnlich geschäftlicher
Unternehmungslust entspringen; das dringende Bedürfnis dazu, die besondern
Vorzüge seines Werkes weiß ja jeder Herausgeber gebührend zu betonen.
Wer durch seinen Beruf gezwungen ist, sich in den verschiednen Zweigen
der Literatur auf dem laufenden zu erhalten, möchte manchmal einen Pesta-
lozzi beneiden, der sich geradezu rühmte, in langen Jahren kein Buch gelesen
zu haben; und wer die vielen Schlachtopfer der Bildung sieht, ist manchmal
versucht, Rousseau beizustimmen, der in seinem ersten bedeutendem Werk den
Nachweis zu bringen versuchte, daß die Bildung der Menschheit nicht zum
Segen geworden sei. Die Reaktion gegen allen den Bildungsschwindel wird
vielleicht auch bei uns noch einmal kommen; vorläufig aber sieht es noch nicht
danach aus. Die Überschätzung der Schulbildung scheint fast im Blute bei
uns zu liegen; wo sich Mißstände im öffentlichen Leben auftun, wo sich er¬
strebenswerte Ziele zeigen, wird nach der Schule geschrien, als ob die alles
leisten könnte und müßte. Was soll sie nicht alles, außer dem unmittelbaren
Ziele, dem Erwerb nützlicher Kenntnisse! Sie soll dem religiösen Leben neue
Kraft zuführen, die Sozialdemokratie zurückdrängen, eine neue Blüte der Kunst
anbahnen, außerhalb der Schulstunden die Leibesübungen pflegen, schließlich
überhaupt den Büttel machen und den Eltern die Erziehungssorgen womöglich
ganz abnehmen. Und doch weiß jeder Schulmann nur zu gut, wie beschränkt
im Grunde der Wirkungskreis der Schule, wie bedeutend dagegen der Ein¬
fluß der „verborgnen Miterzieher" ist, des Elternhauses und des ganzen
„Milieus". Man sagt uns Deutschen wohl nach, wir verließen uns zu sehr
auf die Fürsorge einer hohen Obrigkeit, mit noch größerm Rechte könnte man
sagen, wir verließen uns zu sehr auf die Fürsorge der Schule. Laßt doch
auch dem Leben, der besten aller Schulen, sein Recht, und das fragt nicht so
viel nach dem Einjährigen oder dem Abiturium. Die Überfüllung aller ge¬
lehrten Berufsarten entspringt im wesentlichen auch der Überschätzung der ge¬
lehrten Bildung. Gilt es doch in vielen Familien geradezu schon als Schande,
wenn der Sohn nicht studieren kann, in andern darbt die ganze Familie, um
die Studienkosten für den Herrn Sohn aufzubringen. So wird ein Bildungs¬
proletariat herangezüchtet, problematische Naturen, die keiner Lage gewachsen
sind, und denen keine genug tut! Andre Stände dagegen müssen vielfach der
Zufuhr frischen Lebens aus solchen Kreisen entbehren.
Ein Stand nach dem andern drängt nach immer bedeutenderer Vorbildung
vor dem eigentlichen Beruf. Erst erstrebte man das Einjährige als Bedingung
für die Zulassung zum Beruf, dann die Primareife, dann das Abiturium, und
schließlich soll noch das Universitätsstudium den stolzen Ban krönen, nicht so
sehr aus Bildungsdurst — denn im Grunde unsers Herzens fühlen wir manch¬
mal sogar einen Bildungsüberdruß —, nicht aus zwingender Notwendigkeit
oder zum Nutzen für das künftige Amt, sondern vielmehr um das Ansehen
des Standes zu heben oder einen höhern Gehalt zu erreichen. Tierärzte,
Zahnärzte, Apotheker, Ingenieure usw. haben schon erfolgreich diese Ansprüche
auf Steigerung ihrer Vorbildung erhoben; Handelshochschulen verpflanzen
studentische Sitte und Unsitte in die Kreise der Merkurssöhne. Dem Reigen
haben sich aber leider auch die Volksschullehrer angeschlossen. Es war eine
wohlverdiente Anerkennung für den ganzen Stand, daß die staatlichen Lehrer¬
seminare als Lehranstalten anerkannt wurden, die giltige Zeugnisse über die
wissenschaftliche Befähigung für den einjährig-freiwilligen Dienst ausstellen
dürfen. Aber unverständlich ist es, daß die Versammlung deutscher Volksschul¬
lehrer mit überwältigender Majorität — man kennt allerdings den Wert solcher
Majoritätsbeschlüsse — das akademische Studium für jeden Volksschullehrer
verlangte. Wahrhaftig, daun erst wird die Volksschule ihrer hohen Aufgabe
vollkommen gerecht werden. Welcher reiche Segen wird unserm Volke daraus
erwachsen, wenn der einfach schlichte Dorfschulmeister abgelöst wird von dem
jungen Akademiker, welche Fülle von Wissen und geistigem Streben wird von
dem gelehrten Herrn überströmen auf die staunende Dorf- und Stadtjugend!
Allerdings das Ideal wird erst dann verwirklicht sein, wenn sich die Volks¬
schule zur Gelehrtenschule entwickelt hat, und unsre künftigen Handwerker,
Bauern und Arbeiter, wie es sich ja jetzt schon erfreulicherweise anbahnt, in
Französisch und Algebra, Englisch und Naturwissenschaft so gründlichen Unter¬
richt erhalten, daß auch der Volksschule die „Berechtigungen" nicht mehr ver¬
sagt werden dürfen. Dann erst verdienen wir in Wahrheit den Ehrentitel
eines Volkes der Denker und Dichter. Selbstverständlich müssen dann auch
— es sei dies nur nebenbei erwähnt, da es sich ja um rein ideale Forderungen
handelt — die Gehalte denen der Oberlehrer gleichgestellt werden, oder noch
einfacher, der Volksschullehrer ist als solcher schon Oberlehrer oder Professor.
Die Geldfrage kann dabei gar nicht in Frage kommen; die Kosten des
akademischen Studiums werden von den Schulamtskandidaten freudig über¬
nommen. Zwar stammen sie meist aus Kreisen, die nicht mit großem Reich¬
tum gesegnet sind, aber für ein solches Ziel bringt man gern jedes Opfer.
Oder sollte vielleicht der Staat helfend eingreifen müssen, da schon jetzt trotz
der Billigkeit der Laufbahn und den günstigen Anstellungsverhältnissen Mangel
an Lehrern herrscht? Die gewaltig angeschwollnen Schulunterhaltungskosten
werden die Gemeinden mit Begeisterung übernehmen, wenn sie dafür die Ehre
haben, ihre Kinder durch Akademiker in die Geheimnisse alles Wissens ein¬
geführt zu sehen.
Doch Scherz beiseite. Tut man unserm Volke einen Dienst damit, wenn
man ihm Lehrer gibt, die, mit tiefgründiger akademischer Bildung ausgestattet,
den Kindern die elementarsten Kenntnisse — ohne die geht es nun einmal
nicht — beizubringen haben. Die Folge kann nur die sein, daß der Abstand
zwischen dem Erstrebten und dem Erreichten noch viel größer wird.
Was unserm Volksschulunterricht not tut, ist nicht die akademische Bildung
der Volksschullehrer, die Steigerung der Ansprüche an Lehrer und Schüler,
sondern die Vereinfachung unsers gesamten Unterrichtsbetriebs, der Verzicht
auf allseitige Bildung, die Anregung der Schüler zu eigner Arbeit in einem
verhältnismäßig eng begrenzten Gebiet. Auch keine Verbesserung der Methode
vermag die Aufnahmefähigkeit des jugendlichen Gehirns so zu steigern, 'daß
den modernen Bildungsansprüchen Genüge geschähe. Die Methoden wechseln,
wechseln da fast noch häufiger als die Moden. Da zerhackt man eine
Dichtung nach allen formalen Stufen, bis auch der gründlichste Schulmeister
nichts mehr daraus holen kann. Schulrat X hat eine besondre Vorliebe für
die darstellende Mode — Verzeihung, Methode —, und nnn wird in allen
unter ihn gestellten Schulen ein erkünsteltes Frage- und Antwortspiel geübt,
aus dem Kinde dnrch ein wohlberechnetes Frageverfahren herausgeholt, was
gar nicht darin ist, bis schließlich pädagogisches Raffinement den Triumph er¬
lebt, daß des Kindes schwacher Geist des großen Geistes große Gedanken selbst
produziert hat. Noch moderner aber ist es, die „Kunst im Leben des Kindes"
herrschen und die Dichtung nur durch sich selbst wirken zu machen, wobei der
Lehrer gar nichts mehr zu tun hat, als einen vollendeten Vortrag — nur
Vortragstunstler dürfen natürlich deutschen Unterricht erteilen — zu geben
oder nur stumm zuzuhören, wie sich die Schüler über die schwierigsten Pro¬
bleme altklug unterhalten.
Die Kunst im Leben des Kindes ist neuerdings Schlagwort geworden,
und siehe da, sofort hält ein Lehrer Vortrage über Kunstgeschichte, zu denen
er sich den Stoff mühsam zusammengeholt hat. In den Klassenzimmern hängt
man sogenannten künstlerischen Wandschmuck auf, der zu der ganzen notwendiger¬
weise nüchternen Umgebung, zu Pult und Tafeln und all dem Hausgerät einer
Schule nicht recht passen will.
In Geschichte fing man früher mit dem Anfang an und hörte mit dem
Ende auf. Plötzlich heißt es: Fangt mit dem Ende an, hört mit dem Anfang
auf. Früher hatten wir die beschreibende Naturwissenschaft mit Hunderten und
Tausenden von Namen, jetzt ist die Biologie Trumpf, Namen aber sind uns
Dunst. Die neuern Sprachen wurden ehedem in überstrengem grammatischem
Drill eingepaukt, jetzt schwört man noch auf die direkte, die natürliche Methode:
der Schüler soll — M. in wenigen Wochenstunden und in übervollen Klassen —
die fremden Sprachen erlernen, so wie das Kind seine Muttersprache. Doch auch
diese Methode scheint sich überlebt zu haben, und wir harren mit Ungeduld einer
neuen. Einst zeichnete man nach systematischen Vorlagen, jetzt nur noch nach
der Natur, übrigens die erfreulichste unter den zahllosen Reformen. Es steckt
ja selbstverständlich in ihnen allen ein guter Kern, schlimm daran ist nur, daß
sie wunderbare Resultate verheißen, die sie schließlich doch nicht erreichen können.
Der Schüler aber kümmert sich um alle Methoden herzlich wenig, lernt heute
so viel oder so wenig wie vorher, seine Methode ist die des beschränkten
Untertaneuverstcmdes. Ein Sicherheitsventil gegen alle Überspannung „hat ihm
die gütige Mutter Natur verliehen: die Unaufmerksamkeit oder den Übermut.
Er nimmt nicht mehr auf, als er tragen kann, und das ist nicht allzu viel.
Aus der Schule entlassen, wirft er mit staunenswerter Gewandtheit über Bord,
womit er wider Willen belastet worden ist, und nach eigner Wahl sucht er
sich aus, was seinen Neigungen entspricht.
Die Schule kann nur die geistigen Kräfte wecken und üben, eine gute
Grundlage der Bildung legen, erworben aber wird die Bildung erst im Leben.
Deutscher Kastengeist aber mag sich mit der Definition gefallen: Ungebildet ist,
wer das Einjährige nicht hat, gebildet, wer es hat, hochgebildet aber, wer das
Abitnrientenzeugnis hat. Es steckt uns eine fast komische Überschätzung der
Schulbildung und des Berechtigungsscheins im Blute. Mancher hat sich auf
die Höhen des geistigen Lebens erhoben, dem die Bildung nicht von Kindheit
an aufgedrängt worden ist, und viele, ich glaube sogar sehr viele dürfen sich
trotz dem Abiturinm und Studium zum xrotMum vulZus rechnen.
Nicht das reizt den Menschen, was sich ihm mühelos bietet, oder was
ihm, mag es noch so vorzüglich sein, aufgenötigt wird, sondern dus, was
er sich selbst mühsam erkämpft. Je billiger die Ware ist, um so weniger
wird sie geschätzt, je bequemer der Erwerb der Bildung gemacht wird, um so
weniger reizt sie die schlummernden Kräfte. Und sagen wir es frei heraus,
ist es denn wirklich so wünschenswert, daß alle Welt mit einer so gründlichen
Bildung beglückt wird, wird das Glück, die Zufriedenheit, die Sittlichkeit des
Einzelnen und das Wohl des Ganzen gefördert, wenn wir sie in immer breitere
Massen tragen? Da mag man aus seinem Erfahrungskreis heraus ruhig die
Antwort geben: Die sogenannte Bildung hat Hunderte nicht glücklicher und
Tausende nicht besser gemacht. Nicht als ob die Masse in Dummheit erhalten
werden müßte — was' unsre Volks- und Fortbildungsschule bietet, ist, wenn
es richtig verarbeitet wird, eher zu viel als zu wenig für eine einfache ge¬
diegne Bildung, wie sie 99 Prozent unsers Volks brauchen. Ein bedeutendes
Mehr kann nur dazu dienen, den Bildungsdünkel zu erzeugen, der sich erkühnt,
überall mitzureden statt bescheidentlich mit seinem Urteil zurückzuhalten, eine
Anmaßung, die sich erhaben dünkt über die doch recht alltäglichen Anforderungen
des Berufs, eine Unzufriedenheit, die überall über ungenügende Anerkennung
klagt. Wo die erworbne Bildung in keinem Verhältnis steht zu dem aus¬
geübte!: Beruf, da kann sie nur eine Quelle der Unzufriedenheit werden. Der
philosophierende Schuster ist wahrscheinlich ein schlechter Philosoph, sicher aber
ein schlechter Schuster.
Vertiefung, nicht Verbreiterung der Bildung, das ist es, was uns und um
meisten unsern Schulen not tut. Ehe wir uns über die Grenzen der Bildungs¬
fähigkeit nicht klar geworden sind, ehe wir die edle Einfachheit nicht wieder¬
finden, die das Wesen aller wahrhaft hohen Kultur gewesen ist und sein wird,
eher wird unser nationales und geistiges Leben nicht zu voller Kraft und
G
HAG?^M»»S^M>?HlM Sonntag Morgen nach der Frühmesse konnte der Hofmeister des
jungen Markgrafen von Baden, Erhard Teurling, den der Kurfürst
zum obersten Hauptmann über alles Geschütz vor Boppard gesetzt
j hatte, auf dem Kloster melden, daß die Lagerung der schweren Haupt¬
büchsen glücklich vollendet worden sei, und daß man in den Redouten
I den Befehl zur Eröffnung der Feindseligkeiten erwarte. Diese Nach¬
richt kam Johann dem Zweiten durchaus nicht gelegen. Jetzt, wo die Städtischen
deutlich zu erkennen gegeben hatten, daß sie einer freundschaftlichen Annäherung nicht
abgeneigt seien, mit der Beschießung der Stadt zu beginnen — das ging dem alten
Herrn wider das Gefühl.
Am liebsten hätte er den armen Meister Teurling, der sein Bestes getan zu
haben glaubte, höchst ungnädig mit dem Bescheid entlassen, man möge abwarten,
bis es ihm beliebe, Befehle zu erteilen. Aber dazu fand er in Gegenwart seines
Kanzlers doch nicht den rechten Mut. Enschringer erlaubte sich nämlich daran zu
erinnern, man sei doch nicht mit einer so gewaltigen Heeresmacht Wider Boppard
gerückt, um nur die Orgelborner Kirmes zu feiern, man müsse vielmehr der Stadt
zu verstehn geben, daß man endlich Ernst machen wolle. Er habe in Erfahrung
gebracht, die Städtischen litten jetzt schon an Proviantmangel und könnten den ge-
wordnen Söldnern nichts andres als Brot und Wein reichen. Unter diesen Um¬
ständen dürfe man erwarten, daß sie sich, sobald die ersten Schüsse gefallen wären,
zur Übergabe entschließen würden.
Der Kurfürst mußte dem Kanzler, wenn auch schweren Herzens, beipflichten
und gab halb wider seine Überzeugung den erhellten Befehl, bestimmte aber aus¬
drücklich, man solle dafür sorgen, daß der Stadt und ihren Bewohnern kein ernst¬
licher Schade geschehe, und möge das Geschütz so richten, daß nur die Mauern und
die äußern Türme getroffen würden.
Nicht lange darauf verkündete ein dumpfer Donner vom Se. Martinskloster
her, daß eine der beiden pfalzgräflichen Hauptbüchsen das erste Wort gesprochen
hatte. Aber es war in den Wind geredet: die Kugel, die der Rheinpforte zugedacht
gewesen war, fuhr in den Strom.
In der Stadt entstand eine gewaltige Bewegung, und die Begeisterung für
den feindlichen Kriegsherrn schlug wieder in das Gegenteil um. Man beschloß, den
Gruß zu erwidern, richtete jedoch die Kartaune, die ihr Sprüchlein hersagen sollte,
wohlweislich so, daß die Kugel am Se. Martinskloster vorüber ebenfalls in den
Rhein schlug. Jetzt tat auch „Snelgin", die zweite der kurfürstlichen Büchsen, ihren
ehernen Mund auf. Die Wirkung war eine doppelte, denn erstens riß das Geschoß,
das das Stadttor neben der kurfürstliche» Burg treffen sollte, an dieser selbst ein
Ecktürmchen ab, und zweitens lockerte die starke Erschütterung beim Schuß das aus
Mauerwerk frisch aufgeführte Lager der Schwesterbüchse „Ungnade", sodaß diese
aus dem Gleichgewicht geriet, ins Rollen kam und schließlich in mächtigen Sprüngen
den Bergabhang hinunterpolterte.
Die Bopparder wurden durch dieses Mißgeschick der Belagerer einigermaßen
getröstet und beschränkten sich darauf, die Knechte, die das desertierte Geschütz auf
einer in der Eile hergerichteten Schleife wieder den Berg hinaufzuschleppen ver¬
suchten, durch einige wohlgezielte Schüsse zu vertreiben. Gegen das feindliche Haupt¬
quartier selbst unternahmen sie jedoch nichts: man müsse, wie sie behauptete», die
Gebäude des Klosters, das an dem ganzen Handel doch unschuldig sei, solange es
anginge, verschonen.
Inzwischen hatte sich auch die Hauptbüchse auf der Filsener Lei an der Unter¬
haltung beteiligt. Ihr erster Schuß war jedoch zu kurz und traf anstatt der Mauer
die Böschung unter dem Leinpfad, die zweite Kugel ging über die Stadt, wühlte
den Acker auf und verschwand in einem Erbsenfeld, und erst die dritte erreichte ihr
Ziel, streifte die Mauerkrone, tat aber keinen weitern Schaden, als daß sie im Hofe
des Gerbermeisters Engel Thull durch die Wand einer Versetzgrube schlug und die
darin aufgeschichteten Häute samt der Lohe gehörig durcheinanderwarf.
Da die Wirkung der feindlichen Artillerie keineswegs den in der Stadt ge¬
hegten Befürchtungen entsprach, so besserte sich die Stimmung der Belagerten von
Stunde zu Stunde; sie beobachteten schließlich jeden einzelnen Schuß mit einem
aus angenehmem Gruseln und heiterm Spott gemischten Interesse und bedauerten
es beinahe, als um die Mittagstunde das zweite Hauptstück der Pfalzgräflichen bei
einem Schusse barst, den Büchsenmeister und zwei der Knechte schwer verwundete
und dadurch dem Feuer auf dieser Seite einstweilen ein Ende machte.
Aber schon ehe der Abend anbrach, ließ das Interesse an den Vorgängen da
draußen bei den meisten Boppardern so stark nach, daß sie kaum den Eintritt der
völligen Dunkelheit erwarten konnten, die den Büchsenmeistern hüben wie drüben
die Lunte aus der Hand nahm.
Morgen war ja Orgelborner Kirmes! Wenn sich die Souue hinter dem
Kamper Walde erhob, durfte man hinaus aus der engen, mit Menschen voll¬
gepfropften Stadt, hinauf zum Kloster und in der schönen Kirche des Stifts oder
doch auf dem geräumigen Platze davor der Messe beiwohnen, die man solange schon
hatte entbehren müssen. Und dann gab es auf dem grünen Anger, wo der Orgel¬
born kristallklar aus dem Felsen sprudelte, Spiel und Tanz, dann kreisten die Becher
von Hand zu Hand und die Mädchen von Arm zu Arm, und man durfte, wenn
auch nur für ein paar flüchtige Stunden, die Not der Zeit beim Klang der Fiedel
und der Sackpfeife vergessen.
Und der Morgen kam. Der Turmwächter von Se. Severus, der mit seinem
Horn den Sonnenaufgang verkündete, hätte sich heute seinen Frühruf sparen können,
denn die ganze Stadt war längst auf den Beinen und wartete sehnsüchtig auf das
Signal zur allgemeinen Lust, das die Sonne ihren lieben Boppardern geben sollte.
Als die ersten Strahlen über dem Bergrücken aufblitzten, öffneten sich die Tore,
und alles strömte ins Freie: die Männer in ihren Sonntagsschauben und Schecken¬
röcken, das Haupt mit der Kogel bedeckt oder mit einem Laubkränzlein geziert, die
Frauen und die Mädchen in faltigen Röcken und knappen Leibchen mit reichgestickten
Brusttüchern und schweren Silbergehängen, das Haar unter der Flügelhaube versteckt
oder mit Blumen durchflochten. Die Bürger, die draußen auf der Wiese einen
Weinschank auftun wollten, hatten Fässer, Sparrenwerk und Zeltleinwand auf Wagen
geladen, die Bäckergesellen schleppten sich mit Körben, die in der stillen Morgen¬
luft eine lange Duftspur von warmem, frischem Weißbrot zurückließen, und die Fischer
trugen mächtige Kufen, worin die schwarzen Aale, die bunten Barsche und die
grünen Barben zappelten und sprangen, die droben am Börne gesotten und ge¬
braten werden sollten. Es war eine wahre Heeresmacht, die mit Troß und Bagage
gegen das feindliche Hauptquartier anrückte, aber eine Heeresmacht ohne Waffen,
mit den Stadtmusikanten statt der Vorhut, mit Stückfässern statt der Stücke und mit
Kirchenfahnen statt der Kriegsbanner.
Und gleichsam als sollte das Bild eines allgemeinen Ausfalls der Belagerten
noch vervollständigt werden: aus dem Binger Tore zog eine zweite Kolonne gegen
das pfalzgräfliche und landgräfliche Lager bet Se. Martin. Es war die Be¬
wohnerschaft der Kirch- und der Judengasse, die nach altem Brauch das Fest auf
dem Ärgert, einer Wiese zwischen der Stadt und dem Franziskaneriunenstist, beging.
Aber auch diese Kolonne sah nicht gerade kriegerisch aus, wenn man auch die gelben
Spitzhüte des auserwtthlten Volkes aus der Ferne für Sturmhauben halten konnte.
Als der Zug, der sich bergaufwärts bewegte, die Schanzen passiert hatte und
vor dem hohen Kloster anlangte, erschien der Kurfürst, von seinem Hofstaat um¬
geben, am Portal, begrüßte die Menge mit leutseligem Kopfnicken, half der Domina
eigenhändig aus ihrer mit vier schweren Gärten bespannten Karosse und geleitete
sie auf ihren erhöhten Sitz im Chorgestühl der Kirche. Die Stiftsdamen nahmen
ihre Plätze ein, und der Kurfürst ließ sich mit seiner Umgebung auf den Sesseln
nieder, die man vor den Chorschranken aufgestellt hatte. Das Volk aber drängte
nach, füllte das Gotteshaus bis auf den letzten Platz, lagerte sich vor der Kirchtür,
auf dem Friedhof und bis weit in den Bongert hinaus und gab sich hier draußen,
wo es von der heiligen Handlung nichts mehr wahrnehmen konnte, der fröhlichsten
Unterhaltung hin, bis der Klang des Glöckleins den Augenblick der Wandlung ver¬
kündete. Dann fiel alles auf die Kniee, neigte sich in frommer Andacht vor dein
fleischgewordnen Erlöser, verharrte eine kurze Weile in stillem Gebet und kehrte,
sich bekreuzend, mit heitrer Miene aus dem Banne des gnadenvollen Wunders in
die Wirklichkeit zurück.
Die Kirche leerte sich, aber die Menge verlief sich nicht eher, als bis der
Kurfürst, die Äbtissin an der Hand führend, auf dem Platze erschien und sich an¬
schickte, mit seiner Begleiterin, den Klosterfrauen und dem Gefolge zu der Festwiese
hinaufzusteigen. Jetzt kam Bewegung in die Masse: wie eine brandende Woge
strebte alles das schmale Tal empor, jeder suchte dem andern zuvorzukommen, die
jungen Leute kletterten in raschem Anlauf die Böschungen des Hohlwegs hinauf
und rannten rechts und links auf dem moosigen Waldboden weiter, Kinder, die im
Gedränge die Hand der Mutter verloren hatten, weinten und wurden von hilfs¬
bereiten Seelen mit vorwärtsgerissen oder auf den Arm genommen, Mädchen, in
deren Nähe sich unternehmende Liebhaber eingefunden hatten, und die sich nun im
allgemeinen Wirrwarr von starker Hand geschoben und gedrückt fühlten, stießen
Schreie aus, die wie eine Abweisung klingen sollten, aber wie eine Ermutigung
wirkten, behäbige Ratsherren leuchten, und die Frauen jammerten über den dicken
Weißen Staub, der sich wie Mehl auf die Wülste der Röcke und auf die bunten
Seidenblumen der Busentücher legte.
Oben, auf der Wiese am Born, war man inzwischen nicht müßig gewesen.
Zelte waren errichtet worden, und hie und da kräuselte sich über einem lustig
knatternden Feuer der blaue Rauch empor. Die Weinschenken schlugen den Zapf¬
hahn in das Faß oder steckten ein grünes Reis auf ihr Zelt, die Bäcker breiteten
ihre Ware auf langen Tischen aus, und die Fischer waren schon dabei, ihre Barsche
und Barben zu töten und abzuschuppen.
Als der Zug die Wiese erreicht hatte, ordnete sich die Festversammlung in
einem großen Halbkreis um den Born, der Propst trat vor, sprach ein Gebet und
segnete das klare Naß, das in mächtigem Strahl aus dem Felsen quoll und ein
natürliches Becken füllte. Dann löste sich aus der dichtgedrängten Menge ein Paar
nach dem andern, ließ dem Kurfürsten und der Äbtissin den Vortritt und zog,
während die Musikanten eine muntre Weise aufspielten, in langsamem Schleifschritt
am Quell vorüber, wobei sich jeder mit der hohlen Hand einen Trunk schöpfte.
Dann zerstreute sich der bunte Schwarm über den Festplatz, das Alter strebte den
Weinzelten zu, und die Jugend sammelte sich um die Musikanten.
Zunächst war zwischen den Städtischen und den Kurfürstlichen noch eine reinliche
Scheidung zu bemerken. Johann der Zweite und seine fürstliche und adliche Gefolg¬
schaft, unter der man auch den Kurfürsten von der Pfalz, den Landgrafen von
Hessen, den Markgrafen Christoph von Baden und den Herzog von Jülich und
Berg mit ihren Marschnllen und Feldhauptleuten wahrnahm, hielten sich zu den
Damen von Marienberg, mit denen sie zumeist verwandtschaftliche oder freundschaft¬
liche Beziehungen verknüpften. Aber das war nicht nach des Kurfürsten Sinn. Er
schritt quer über die Wiese auf die Bopparder zu, faßte die erste beste der Bürger¬
frauen — es war Meister Mertlochs traite Eheliebste — bei der Hand und führte sie
unter dem Jubel der Zuschauer mitten unter das junge Volk, wo er mit ihr, ohne seiner
fürstlichen und priesterlichen Würde das Geringste zu vergeben, zum Tanze trat.
Sein Beispiel wirkte Wunder. In ganzen Reihen eilten die Fürsten, Grafen
und Ritter hinüber und holten sich, was unter den Frauen und den Töchtern der
Bopparder jung und schön — oder doch leidlich jung und schön — war, und von
der andern Seite kamen die plötzlich vereinsamten Ehemänner, Liebhaber und Väter
und näherten sich mit steifem Kratzfuß den adlichen Nönnlein, die den derben Meistern
und Gesellen gegenüber auch gar nicht spröde taten und mit ihren Tänzern in dem
wogenden Menschenmeer beherzt untertauchten.
Nur die Äbtissin und drei oder vier der ältesten Damen blieben einsam auf
ihrem Platze zurück. Die Domina sann darüber nach, ob sie diese Isolierung ihrer
hohen Würde oder der entschwindenden Jugend zu verdanken habe, da fiel ihr Blick
auf eine schlanke Mädchengestalt, die oben am Bergeshang über dem Born an einem
Vuchenstamme lehnte und dem frohen Treiben auf dem Anger regungslos zuschaute.
Das konnte nnr Regina sein!
Die Matrone behielt die Gestalt im Auge und winkte dem Mädchen, als es
die mütterliche Freundin endlich bemerkt hatte, zu ihr herabzukommen. Da flog
Regina leichtfüßig den Abhang hinunter, schlüpfte durch die sich langsam drehenden
Menschen und stand mit geröteten Wangen vor der Domina.
El el, mein Ginlein steht abseits, wenn andre tanzen? fragte die Äbtissin,
während sie das Noseukräuzlein auf Regimens Scheitel, das sich verschoben hatte,
zurechtrückte. Mein Ginlein ist bekümmert, wenn alle froh sind?
Nicht alle, Domina. Die in der Burg sind nicht froh. Müssen wie die
Käuzlein in ihrem Mauerloche sitzen, indes die andern hier im hellen Sonnenscheine
ihre Lust haben.
Und deshalb willst du nicht tanzen? Aus lauter christlichem Mitleiden nicht
tanzen?
Sie mag nicht tanzen und nicht essen, ließ sich plötzlich der kleine Peter ver¬
nehmen, der unbemerkt zu den beiden Frauen getreten war und mit vollen Backen
an einem Wecken kaute.
Weiß auch, weshalb. Sags aber nicht.
Sag mirs getrost, Peterlein, sagte die Matrone lächelnd, dann lauf ich dir
auch ein gebacken Fischlein.
Wirklich und wahrhaftig? fragte der Knabe, indem er die schon wieder zum
Munde erhobne Hand mit dem Wecken langsam sinken ließ.
Wirklich und wahrhaftig! Aber nun sags auch: was fehlt deiner Schwester?
Puh —! Nichts andres als der Wygant. Peterlein sah bei diesen Worten
ziemlich geringschätzig aus.
Möchtst du nicht auch, daß der Junker herauskam auf den Anger?
Der Knabe schüttelte energisch den Lockenkopf.
Was hätt ich davon? meinte er. Der Wygant tat heut doch nicht mit mir
spielen. Tat doch bloß mit der Gin den Reigen treten.
Würde diess nicht freuen, deine Schwester froh zu sehen?
Peter sah zu Regina empor und studierte ihren Gesichtsausdruck.
Wenn die Gin brav war, könnt ich ihr den Wygant herschaffen.
Das Mädchen mußte lachen.
Was soll ich denn tun? fragte sie.
Sollst mir ein Bannertuch nähen, aber ein kurtrierisches mit dem roten Kreuz.
Wenn du weiter nichts forderst, Peterlein, das Bannertuch will ich dir machen,
sagte Regina, aber nun sag auch: wie denkst du den Junker herbeizuschaffen?
Wirsts schon sehen. Warth> nur ab!
Und ohne sich zu besinnen, wandte er sich um und lief auf den Kurfürsten zu,
der seine Tänzerin auf ihren Platz zurückgeführt hatte und sich nun wieder der Äbtissin
zu widmen gedachte. Der Knirps blieb vor dem Gewaltigen stehn und langte sich
dessen Hand.
Herr Kurfürst, begann er, mit Verlaub, warum laßt Ihr die Eurigen in der
Burg, da doch die Stadt leer ist?
Johann schaute den Knaben erstaunt an, beugte sich zu ihm nieder und nahm
ihn auf den Arm.
Hast Recht, Büblein. Die Burgleute sollten anch mit feiern. Aber wie kommst
du darauf — gerade du, wo doch noch kein andrer dran gedacht hat?
Oho, Herr Kurfürst, erwiderte das Kind furchtlos, das stimmt nicht! Die
Gin da, meine große Schwester, hat längst dran gedacht, schon den ganzen Morgen.
Wenn sie den Modersbacher herausbekommt, den Wygant, dann macht sie mir auch
ein kurtrierisches Banner. Tut mirs zulieb, Herr Kurfürst, und laßt ihm sagen,
er sollt herauskommen und mit der Gin tanzen.
Der alte Herr lachte und näherte sich, den Knaben noch immer auf dem Arme,
den Frauen. Regina glaubte in die Erde versinken zu müssen.
Das Mägdlein ist unsers Küfermeisters Älteste, erklärte die Domina. Der Vater
sitzt zu Boppard im Rat, aber die Kinder sind gut kurtrierisch.
Dann muß man ihnen schon den Willen tun, meinte der Kurfürst, indem er
den kleinen Peter wieder auf die Füße stellte, es ist immer gut, im feindlichen eastrum
Freunde zu haben.
Er rief seinen Kanzler herbei und wechselte mit ihm einige Worte. Enschringer
verneigte sich und ging zu den Städtischen hinüber. Da rief ihm der Gebieter
nach: Redet mit den Vornehmsten vom Rat, mit dem Beyer, dem Kolbe, demRhenser,
dem schwalbacher und mit den Meistern, aber das Männlein, das sie zum Schultheißen
geküret haben, das laßt aus dem Spiel. Mit dem hab ich ein Wörtlein sprechen
wollen, da haben ihm die Knie angefangen zu schlottern, und ich hab ihn halten
müssen, daß er nicht umfiel.
Dann wandte er sich um Regina, die ihre Fassung wiedergewonnen hatte und
ihren kleinen Bruder zu entschuldigen versuchte,
In diesem Augenblick entstand unter der Menge eine freudige Bewegung.
Man brachte vom Kloster her etliche Dutzend Hämmel und Kälber, die alle an
Spießen staken und schon nahezu gar gebraten waren. Die Küchenjungen und die
Knechte schichteten neue Buchenscheite auf die niedergebrannten Feuer, schürten die
Glut und legten die Spieße auf Gabeln, die in gehörigem Abstand zu beiden Seiten
der Feuer in die Erde gesteckt worden waren. Die fetten Braten, deren Duft sich
über die Wiese lagerte, waren ein Geschenk des Kurfürsten an die Bürgerschaft,
ein Beitrag zu dem Feste, den der Gast den Gastgebern spendete.
Sehet, sagte Johann mit behaglichem Schmunzeln, wie die guten Bopparder
auf die Braten sturmlaufen! Die armen Leutlein werden des Fastens überdrüssig
sein. Wer weiß, wie lange sie keinen Bissen Fleisch über die Lippen gebracht haben!
Er sah bei diesen Worten Regina scharf prüfend an.
Das Mädchen verstand blitzschnell, was das zu bedeuten hatte. Und lächelnd er¬
widerte sie: Ist nur, weil sich umsonst bekommen, Kurfürstliche Gnaden. Hunger haben
die Leutlein nicht. Und weil die Hämmel und die Kälber bei uns ein rar Ding sind.
Des Rindviehs aber haben wir zu Boppard mehr, als wir füttern können.
Der alte Herr bemühte sich vergeblich, seine Überraschung zu verbergen, «ut
sagte im gleichgiltigsten Tone, der ihm zur Verfügung stand: So so! Des Rind¬
viehs haben die Bopparder mehr, als sie füttern können.
Und er ließ Regina stehn und bot der Äbtissin den Arm zu einer Promenade
um die Wiese.
Ein paar Augenblicke später stand Metzler an der Seite seiner Tochter.
Was hat er gesagt? forschte er.
Er hat gemeint, wir litten in der Stadt Hunger.
Und was hast du geantwortet?
Er solle sich keine Sorge machen, wir hätten des Rindviehs genug.
Aber Gin, wie hast du das sagen können! Er muß doch wissen, wie es zu
Boppard steht.
Wenn ers gewußt hätte, Vater, glaubt Ihr, daß er dann noch gefragt haben
würde? Aber er wollte von mir Gewißheit haben. Da ist er an die Unrechte
gekommen. Ausfragen läßt sich die Gin nicht. Und wenn ich im Rat säß, ich
wußt, was ich tat. Ich wartete, bis die aus der Burg hier wären, und dann
ging ich und holt den Ochsen, der noch im Burgstall steht, und den bracht ich dem
Kurfürsten zum Patengeschenk. Denn sie reden schon davon, daß er, der doch die
Kirmes zum erstenmal mitmacht, am Born getauft werden soll.
Metzler war von dem Gehörten nicht gerade erbaut. Er murmelte etwas von
törichten Weibergeschwätz und begab sich wieder zu seinen Freunden. Dort wurde
er gleich mit der Frage empfangen, was der Kurfürst mit seiner Tochter zu ver¬
handeln gehabt habe. So mußte er ihnen Wider Willen die Unterredung mitteilen,
von dem närrischen Vorschlage Regimens, dem Kurfürsten zum Beweise des Bopparder
Überflusses den eignen Ochsen zum Geschenk zu machen, sagte er jedoch nichts.
Inzwischen hatten die städtischen der Fleischspende wacker zugesprochen und
auch des Weines nicht geschont. Infolgedessen war der letzte Rest der Scheu, die
sie vor Johann dem Zweiten empfunden hatten, von ihnen gewichen, und sie wurden
sich darüber einig, daß sich der Kurfürst und sein ganzes Gefolge der von alters
her bei dem Feste gebräuchliche» Zeremonie der Taufe unterzieh« müsse. Der alte
Herr, der ein Freund derber Späße war, ließ sich dazu auch bereitfinden, trat,
von zwei der Ratsherren geleitet, die man ihm als Paten bestimmt hatte, an den
Born, hörte die wohlgesetzte scherzhafte Taufrede, die ihm Severus Classen hielt,
mit vergnügter Miene an und wurde nicht im geringsten ungehalten, als ihm
Severus der Täufer einen wohlgefüllten Becher des kalten Quellwassers über sein
fürstlich-priesterliches Haupt goß. Und dann holte er selbst seine Getreuen herbei,
den Kurfürsten von der Pfalz, den Markgrafen von Baden, den Landgrafen von
Hessen, den Herzog von Jülich und alle die andern bis herab zu deu Marschällen
und den Feldhauptleuten und sorgte dafür, daß bei dem Wasserguß keiner zu kurz
kam. Als aber sein Kanzler, der Enschringer, in dem Augenblick, wo Classen den
Becher ausschüttete, zurückwich und unbenetzt das Weite suchen wollte, führte ihn
der alte fröhliche Herr, dessen sonores Lachen auf dem ganzen Festplatze zu hören war,
mit eigner Hand an den Born zurück und bestand darauf, daß man dem argen Heiden
zur Buße eine ganze Kufe Wassers über den dürren Juristenschädel gießen sollte.
Als der Taufakt vorüber war, zog sich der Kurfürst mit den Seinen und
rin den Stiftsdamen zur Kollation in das Kloster zurück und überließ die Wiese
dem jubelnden Volke und der Soldateska, die bisher von den Bergabhängen zu¬
geschaut hatte, nun aber, wo die Hochgebietendeu das Feld räumten, furchtlos in
die Bresche sprang. Jetzt rückte auch die Burgmannschaft an: voran hüpfte Nickel
Laughenne, der einer Querpfeife wundersame Töne entlockte, dann folgten nach
Rang und Würden Herr Emmerich von Nassau, die beiden Junker von Modersbach,
Herr Philipp von Heimersheim, Kaplan Heseler, der Amtsbote Engel Schwabe,
die beiden Knechte, die sieben Schützen und zum Schlüsse die alte Villa, deren
Wangen die vielen Wochen der Gefangenschaft nichts von ihrer Fülle und Farbe ge¬
raubt hatten.
Das Heldenfähulein wurde mit lautem Zuruf empfangen, und in der allge¬
meinen Festfreude dachte niemand an den getaner Schwur, die Burgmannschaft
wegen der dem Rate zugefügten Kränkung bis auf den letzten Mann niederzu¬
machen. Ja man betrachtete die standhafte Schar sogar mit einem gewissen Re¬
spekt und wetteiferte darin, sie mit Wein und Wecken zu bewirten. Vier Augen
ruhten jedoch mit besonderm Interesse auf den Ankömmlingen: die Augen Regimens
und ihres Vaters. Aber während das Mädchen mit weiblicher Bescheidenheit den
Blick auf einen einzigen heftete, beschäftigte sich Metzler mehr mit der Gesamtheit
und suchte die Kopfzahl der Mannschaft zu ermitteln, was bei der Schnelligkeit,
womit auf der Wiese alles durcheinander wogte, keine leichte Arbeit war. Schlie߬
lich jedoch hatte er die siebzehn zusammen, und nun beeilte er sich, den Freunden
mitzuteilen, daß die Burg so leer wie ein ausgeflognes Spatzennest sei, und daß
man gut daran tun würde, den verlassenen Ochsen herauszuholen und ihn dem
Kurfürsten als ein geziemendes Patengescheuk darzubringen.
Die Ratsherren erschraken zuerst über die Kühnheit dieses Gedankens, aber
die Wein- und Festesstimmung besiegte endlich alle Bedenken, und man kam zu der
Überzeugung, daß Meister Metzlers Plan unbezahlbar sei, und daß es kein besseres
Mittel gebe, das Gerücht von der Not der Städtischen zu entkräften. Man beriet noch
eine Weile hin und her, kam zu dem Ergebnis, der Plan müsse unbedingt ausgeführt
werden, und ließ die Würfel entscheiden, wer das Wagnis unternehmen solle.
Die drei vom Schicksal zu dem tollen Abenteuer bestimmten: Herr Petrus
Im Hof, Meister Mertloch und Meister Atman verschwanden einer nach dem
andern in unauffälliger Weise aus der Festversammlung, trafen bei den Schanzen
wieder zusammen, wanderten durch die vereinsamte Stadt und gelangten ohne Mühe
in die Burg, deren Zugbrücke herabgelassen und deren Tor unverschlossen war.
Sie zogen den Ochsen aus seinem finstern Stall und waren schon im Begriff, ihn
aus der Stadt zu führen, als Mertloch einfiel, die Burgleute möchten das Tier
doch wohl wiedererkennen, wenn es plötzlich oben beim Kloster erschiene. Dagegen
ließ fich nichts einwenden, aber Was sollte man da tun?
Atman, der als kunstfertiger Schmied ein erfinderischer Kopf war, schlug
vor, man solle den reinbraunen Ochsen durch Betupfen mit Kalkmilch in einen
Schecken verwandeln. Der Vorschlag fand Beifall, und man führte das Tier in
die Niederstadt, wo die Gerber wohnten, die jederzeit das benötigte Färbemittel
auf Vorrat zu haben Pflegten. In Engel Thulls Hof tauchte man einen Besen
in die Kalkgrube und pinselte dem Ochsen die schönsten Weißen Flecken auf Stirn,
Hals, Schaufeln und Flanken — eine Prozedur, die der davon Betroffne ohne
sonderliche Gemütsbewegung über sich ergehn ließ.
Im Klosterhöfe stand der Bopparder Rat schon ziemlich vollzählig versammelt,
als die drei Männer mit ihrem Raube den Berg hinaufstiegen. Severus Classen
erhielt den Auftrag, sich zu den tafelnden Herrschaften in das Refektorium zu be¬
geben und dem Kurfürsten das ihm von der Stadt gespendete Patengeschenk anzu¬
tragen. Er ging guten Mutes hinauf, als er jedoch mitten in der glänzenden
Gesellschaft stand und des Gewaltigen gerötetes Antlitz vor sich sah, das in diesem
Augenblick das höchste Erstaunen ausdrückte, wurde ihm doch ein wenig bänglich
ums Herz, und alles begann fich in diesem Augenblick um ihn zu drehen. Aber
er fand seine Fassung wieder, brachte seine Meldung mit zierlichen Worten hervor
und schloß, um sich und seinen Auftraggebern ein Hinterpförtlein zu sichern, mit
der Wendung: Seine kurfürstliche Gnaden möchte den Ochsen nicht als ein kost¬
bares Geschenk, sondern nur als das LMvolum einer bessern Gabe betrachten, die
ein löblicher Rat seinem hohen Gaste und gnädigen Herrn in dankbarer Verehrung
wenn auch salvis xrivilsAiis darzubringen sich verpflichtet fühle. Man habe mit
Fleiß gerade diesen Ochsen gewählt, weil er die Gefühle und die Gesinnungen der
Bürgerschaft besser ausdrücke als alles andre, denn bei der Huld, die Seine kur¬
fürstliche Gnaden durch das gnädigst bewilligte armistitinm nicht weniger als durch
die Gegenwart seiner erlauchten Person bei dem Feste der Stadt aufs neue be¬
wiesen, dürfe er ssmxsr 8a1vis xrivilsssiis alles, was binnen der Bopparder Mauer
sei, als sein Eigentum betrachten. Nun hätten aber schon die alten Heiden ihre
Abgötter uicht besser zu ehren gewußt als durch die Opferung eines Ochsen, wie
denn auch die frommen Juden ihrem Gotte ein solches Tier, das sie doch erst
aus seiner Hand empfangen und das recht eigentlich längst sein eigen gewesen,
darzubringen nicht verschmäht hätten. Wenn nun Gott selbst, der doch nach den
Lehren der Kirche um vieles größer, mächtiger und reicher denn alle Großen dieser
Erde, Kaiser, Könige, geistliche und weltliche Kurfürsten sei, nicht Anstand genommen
habe, ein solches Opfer in gnädiger Anerkennung des guten Willens schwacher
Menschenkinder anzunehmen, so dürfe man wohl auch von Seiner kurfürstlichen
Gnaden hoffen und erwarten, daß er das Geschenk nicht zurückweisen, vielmehr ge¬
dachten Ochsen mit einem leutseligen Blicke beehren werde.
Nach dieser schönen Rede, zu deren vollem Verständnis dem auf so seltsame
Weise beschenkten freilich der Schlüssel fehlte, erhob sich Johann und ließ sich von
dem Spreche an ein Fenster führen, von dem aus er den Anblick der Spende
genießen konnte. Und da des Ochsens Wohlgestalt und Körperfülle einen tiefern
Eindruck auf den alten Herrn machten als des Ratsschreibers theologische Argu¬
mente, traten ihm Tränen der Rührung in die Augen, und er gab seinem Dank
in bewegten Worten Ausdruck, wobei er zugleich bat, man möchte das Tier seinen
Leuten in Kamp hinüberbringen, damit auch sie, die der Kirmes hätten fern bleiben
müssen, einer Festfreude teilhaftig würden.
Die Ratsherren unten im Hofe, in deren Häuptern der auf der Wiese ge¬
nossene Wein Wetter wirkte und die heitersten Phantasmen erzeugte, hatten Mühe,
bei diesen Worten ernst zu bleiben. Sobald sich jedoch der Kurfürst wieder zurück¬
gezogen hatte, steckten sie die Köpfe zusammen, raunten einander höchst unehrerbietige
Späße zu und beeilten sich, mit ihrem Ochsen aus dem Bereiche des Klosters zu
kommen, um draußen nach Herzenslust lachen zu können. Und weil der Erfolg
ihren Mut ins ungemessene steigerte und ihrer Neigung, dem alten fröhlichen
Widersacher eine Nase zu drehen, neuen Ansporn gab, faßten sie den Beschluß, dem
Kurfürsten auch noch für seine in Filsen liegende Mannschaft einen Ochsen zu
stiften, der natürlich kein andrer sein konnte als der, den man ihm soeben dar¬
gebracht hatte, und den man jetzt über den Rhein nach Kamp schaffen sollte. Man
geleitete also in eorxors das arme Opfertier in die Stadt, brachte es jedoch nicht
in den Fährnachen, sondern wiederum in Engel Thulls Hof und überstrich es dort
vom Kopf bis zu der Schwanzspitze so gründlich und vollständig mit Kalk, daß
es die Lilien auf dem Felde an strahlender Reinheit übertraf. Da aber erhob
der Metzgermeister Balduin Bochler seine warnende Stimme, meinte, die übergroße
Weiße möchte doch wohl den ganzen Anschlag ans Licht bringen, und bestand darauf,
daß Meister Thull, der diesesmal selbst den Pinsel geführt hatte, den Stellen, die
bei weißem Rindvieh gemeiniglich ein wenig gelb oder bräunlich seien, insonderheit
den untern Beinen, dem Bauch und den Keulen, mit verdünnter Lohbrühe die
natürliche Farbe gebe. Engel Thull ließ sich bekehren, und weil er aus Furcht,
durch den braune» Ton die Wirkung der Grundfarbe allzusehr zu beeinträchtigen,
mit der Lohbrühe äußerst sparsam umging und sie so verdünnt wie möglich auf¬
trug, entstand ein Werk von einer so subtilen Natürlichkeit, daß sich dessen keiner
der großen Kölner Schildermeister hätte zu schämen brauchen.
Und nun wandelte das lebende Gemälde, vom Künstler selbst am Strick ge¬
führt und von der ganzen Natsversammlung geleitet, bergan zum Kloster, und da
es, des ungewohnten Promenierens überdrüssig, im Hofe gerade unter den Fenstern
des Refektoriums ein klägliches Gebrüll ausstieß, so rief es den Kurfürsten an das
Fenster, bevor man Severus Classen zum zweitenmal an den Gebietenden ab<
ordnen konnte.
Der Ratsschreiber war froh, sich den sauern Weg ersparen zu können und die
Ansprache aus sichrer Ferne halten zu dürfen.
Kurfürstliche Gnaden, so sagte er etwa, verzeihet, daß wir Euer Ohr ein
andermal mit einer demütigen Bitte zu belästigen uns erkühnen, aber es scheint
uns unbillig, daß Eure Leute zu Filsen leer ausgehn sollten, wenn die zu Kamp
einen Ochsen erhalten. Erlaubt, daß wir diesen hier, der gewiß nicht um ein Quent-
lein leichter ist denn der Schenke, den Fähnlein von Montabaur und von Limburg
hinüberbringen.
Und ehe der Kurfürst feiner Verwunderung Herr zu werden und seinen
gnädigen Dank abzustatten vermochte, setzte sich die verwegne Schar mit dem ge¬
schminkten Wiederkäuer in Bewegung und zog unter Lachen und Jauchzen wieder
in die Stadt. Besonnene Männer rieten, des Schelmenstückleins jetzt genug sein
zu lassen und das Tier nach einer gründlichen Säuberung wieder in den Burg-
statt zu stellen, sie wurden jedoch von den andern überstimmt, die die Ansicht ver¬
traten, daß aller guten Dinge drei seien, und daß man zum Schluß noch aus dem
Weißen Ochsen einen schwarz und weißen machen müsse. Diesesmal übernahm
Meister Atman, der Schmied, die Arbeit des Verwcmdelns. Er entledigte sich
seiner Festtagsschaube, streifte die Jackenärmel empor und holte aus seiner Schmiede¬
esse ein paar Hände voll Ruß, die völlig ausgereicht hätten, den ganzen Ochsen
schwarz zu färben. Aber der Meister beschränkte sich darauf, Rücken und Keulen
des Tieres mit einigen großen Flecken zu betüpfelt. Und als denn das zum
drittenmal dargebrachte Opfer keuchend und schnaufend im Klosterhöfe stand und
wiederum gnädig angenommen worden war, mußte Johann der Zweite seine guten
Bopparder noch trösten, weil sie aus Zerknirschung darüber schier vergehn wollten,
daß sie des kurtrierischen Kommandos zu Salzig bisher gänzlich vergessen hätten
und Seiner Gnaden darum ein drittesmal mit ihrer Bitte lästig zu fallen ge¬
zwungen gewesen seien.
Dann aber nahm der alte Herr seinen Kanzler beiseite und sagte zu ihm:
Uns dünkt, Enschringer, Ihr seid schlecht berichtet gewesen, als Ihr uns von
der Not der Städtischen des langen und breiten vorgeredet. Ein andermal bedient
Euch besserer Kundschafter und laßt Euch keine Märlein aufbinden. Ihr seht ja
selbst: zu Boppard haben sie mehr Rindvieh, denn sie zu füttern vermögen. Sonst
würden sie sich seiner nicht so leichtlich entledigen.
So ging der Tag und mit ihm der Waffenstillstand zu Ende. Er hatte des
lauten Jubels genug gebracht, aber ganz froh ^— so ganz von Herzen froh —
waren an diesem Abend nur drei Menschen: Regina, Junker Wygant und Nickel
Langhenne.
Bei den beiden ersten braucht der Chronist den Grund nicht erst anzu¬
führen, bei Nickel Langhenne jedoch möchte ein erläuterndes Wörtlein wohl am
Platze sein.
Als er mit der kleinen Besatzung wieder in die Burg zurückgekehrt war, galt
seine erste Sorge dem braunen Schutzbefohlenen. Er fand ihn auf das Stroh
hingestreckt in so festem Schlafe, daß er zuerst glaubte, das gute Tier sei aus diesem
irdischen Jmnmertale abgeschieden. Als er ihn betastete, fühlte er jedoch etwas
wie gesunde Lebenswärme und zugleich eine seltsame Feuchtigkeit, die er sich an¬
fangs nicht recht erklären konnte. Aber einem so Pfiffigen Kopf wie Nickel Lang¬
henne blieb das Rätsel nicht lange ungelöst. Er ging hinauf in das Herrengemach
und erstattete dem Amtmann über seine Wahrnehmung Bericht.
Ich hab es ja immer gesagt, schloß er. so eine unvernünftige Kreatur hat
mehr Herz im Leibe als unsereiner. Der Braune hat sich gegrämt, daß er allein
hat daheim bleiben müssen, und hat sich um uns gesorgt, daß ihm der Angstschweiß
aus allen Poren gekommen ist. Und fressen hat er auch nit mögen, und darum
hat er auch nit genistet, also daß er mir die Mühe erspart hat, frisch Stroh zu
streuen. Und wenn Ihr mich noch einmal einen Ochsen nennet, Herr Amtmann,
dann will ich kein Maul mehr ziehen, sondern den Titul als eine sonderliche Ehre
hinnehmen, denn so ein Ochse ist besser denn ein Mensch, und was ihm fehlet,
das ist nur die Sprache und das Christentum.
(Schluß folgt)
Der nunmehr beendeten Session des preußischen Landtags wird nachgerühmt,
daß die meisten großen Vorlagen in beiden Häusern mit weit überwiegender Mehrheit
angenommen worden seien, sodaß sich damit eine für die Leitung der Politik sehr
wesentliche Annäherung der auf positivem Boden stehenden Parteien vollzogen habe.
Zum Teil ist das jedenfalls richtig. Bei dem Schulgesetz ist das Endergebnis um
so bedeutsamer, als diese Vorlage unter dem Zeichen der Zusage des Reichskanzlers
an die nationalliberale Partei stand, daß er, der Kanzler, kein Gesetz unterschreiben
werde, das gegen die Zustimmung der Partei zustandegekommen sei. Es ist das
wohl die erste, so offen ausgesprochne Unterstützung, die der jetzige Reichskanzler einer
politischen Partei hat zuteil werden lassen. Die Parteipresse scheint sich mit diesem
Gedanken noch nicht vertraut gemacht zu haben, wenigstens fahren einige Organe der
nationalliberalen Partei nach wie vor fort, den Reichskanzler bei jedem Anlaß als den
„schwarzen Mann" anzustreichen. Auch die gelegentliche Anwesenheit des Prinzen
Arenberg in Norderney muß dazu herhalten, obwohl es eigentlich bekannt sein könnte,
daß dieser seit der Universitätszeit in meinem Freundschaftsbeziehungen zum jetzigen
Fürsten Bülow steht und überdies in diesem Frühjahre selbst lange krank gewesen ist. Auch
die Mitteilung, daß der unerfreulichen Abstimmung des Reichstags über das Kolonial¬
amt ein welfischer Trick zugrunde.gelegen habe, ist mit der Loyalität oder Loyalität,
die einzelne Preßorgane kennzeichnet, sofort dahin verdreht worden, daß das nur
eine zur Exkulpierung des Zentrums erfundne „offiziöse Lesart" sei. Bekanntlich liegt
jener Mitteilung eine Äußerung des welfischen Abgeordneten Grafen Bernstorff zu¬
grunde; das hindert aber die Leute in der politischen Kinderstube nicht, daraus einen
„offiziösen" Versuch zur Entlastung des Zentrums zu konstruieren. Die publi¬
zistische Methode, irgendeine Nachricht, die dem eignen beschränkten Gesichtskreise
zu fern liegt, ohne weiteres für offiziös zu erklären, um eine Windmühle zu haben,
gegen die man anreiten kann, ist ein bedauerliches Zeugnis dafür, daß der nach
1871 von unsern politischen Parteiorganen zu durchmessende Weg, der sie auf die
Höhe der Anschauungsweise eines einheitlichen großen Volkes führen sollte, bisher
nur zum kleinsten Teile zurückgelegt ist. Neben allen tiefsinnigen Betrachtungen über
den Besuch der Redakteure in England und die dort gewonnenen Eindrücke lassen
solche Äußerungen die Herkunft aus dem politischen Krähwinkel um so deutlicher
erkennen.
Als weiterer Beweis für die versuchte offiziöse Exkulpierung des Zentrums, die
selbstverständlich vom Prinzen Arenberg in Norderney ausgeheckt worden ist, wird
dann geltend gemacht, daß die Grenzboten ja auch die Schreiben veröffentlicht hätten,
die dem Reichskanzler während oder anläßlich seiner Erkrankung zugegangen seien.
Als ob nicht sämtliche deutsche Zeitungen, von der Kreuzzeitung bis zur Freisinnigen
Zeitung, diese Briefe abgedruckt haben und sie auch ohne weiteres zuerst veröffent¬
licht haben würden, wenn irgendein Zufall sie ihnen zuerst zugänglich gemacht
haben würde! Sogar der Vorwärts hätte sich wahrscheinlich kaum gesträubt, wenn
ihm die betreffenden Blätter zuerst auf den Tisch geflogen wären. Diese sonderbare Art
politischer Tugendwächter nennt sich dann „Presse" und unternimmt es, an jedem
schönen Morgen den Philister von Abonnenten über die politische Anschauung zu
belehren, die er für die nächsten vierundzwanzig Stunden haben soll! Wie sagte
doch Btsmcirck zu Beust, als sie von Böckstein aus den Grafen Harry Arnim auf
dem Wege von Gastein nach Böckstein hinter dem Postwagen die Toilette wechseln
sahen: „Und mit solchen Leuten soll ich Politik machen!"
Bei dieser Erwähnung Bismarcks sei zugleich erlaubt, noch einmal auf den
im vorigen Hefte besprochnen Brief aus dem Jahre 1882 zurückzukommen, den
Professor Schiemann für die Kreuzzeitung aus der Biographie Lord Granvilles
(von Fitzmaurice) übersetzt hat. Dieser Brief dürfte als ein privates Jnstruktions-
schreiben an den Grafen Herbert Bismarck anzusehen sein, der seit November 1881
in London war und teils im Auftrage seines Vaters, teils auf Granvilles Ersuchen
eine größere Anzahl von Unterredungen mit diesem hatte. Bismarck gab damals
auf diesem Wege Grenville den Rat, die Ruhe in Ägypten durch den Sultan her¬
stellen zu lassen, der allein dafür zuständig sei. Den Engländern lag aber natürlich
an einem Grunde zum Einschreiten, und Greenville erwiderte dem Grafen Bismarck,
daß die türkischen Truppen dann vielleicht Ägypten gar nicht wieder verlassen
Würden. Bismarck, der Reichskanzler, schrieb hierzu an den Rand: „Desto besser!"
Es spricht daraus, wie sehr er auf die Wahrung der Machtstellung des Sultans
bedacht war, und daß er die englische Intervention in Ägypten, ohne sie hindern
zu wollen, doch mit sehr geringem Vergnügen sah. Innerlich war er also weit
davon entfernt, den Engländern den Rat, to es-Ks it, den Grenville gern von ihm
gehabt hätte, zu erteilen. Es ist bemerkenswert, wie gern sich die englische Politik
damals durch den breiten Rücken des deutschen Reichskanzlers gedeckt Hütte.
Zwischen zwei Mitgliedern der freikonservativen Partei, dem Freiherrn von
Zedlitz und dem Professor Hans Delbrück, hat sich in einem Berliner Blatte eine
Auseinandersetzung wegen des allgemeinen Stimmrechts entsponnen. Der Abgeordnete
Freiherr von Zedlitz steht auf dem Standpunkte, daß es Unheil anrichte und des¬
halb beseitigt oder eingeschränkt werden müsse, Professor Delbrück erklärt das für
gefährlich und unausführbar. Solange die Sozialdemokratie nicht durch gewaltsame
Eruptionen zu einer Abwehr zwingt, die dann freilich auch vor dem Wahlrecht
nicht Halt machen kann und wird, ist Professor Delbrück im Recht. Aber auch nur
so lange. Bis dahin denkt auch wohl keine Stelle im Staate daran, das jetzige
Wahlrecht, so unliebsame Folgen es auch gezeitigt hat, einzuschränken oder irgend
anzutasten. Eine andre Frage ist die der Abschwächung seiner Wirkungen durch die
Errichtung eines Oberhauses. Der nationalliberalen Stimmgabel zufolge wäre ein
solches neben Bundesrat und Reichstag nicht möglich. Der Bundesrat repräsentiert
doch nur die Souveränität der Einzelstaaten, den sogenannten „dritten Faktor der
Gesetzgebung", die Krone. Der Kaiser repräsentiert als solcher die Exekutivgewalt,
die von einer Versammlung nicht ausgeübt werden kann. Es ist deshalb eine
übertriebne und unrichtige Annahme, wenn behauptet wird, daß sich zwischen
Bundesrat und Reichstag ein Oberhaus nur unter wesentlicher Erschwerung der
Geschäfte einfügen lasse. Das war früher vielleicht richtig, solange sich noch
nicht übersehen ließ, welche Entwicklung die Dinge im Reiche nehmen würden.
Viel würde auch von der Zusammensetzung des Oberhauses abhängen. Die
Reichsverfassung von 1849 sah ein „Staatenhaus" vor, dessen 192 Mitglieder zur
Hälfte von den Landtagen gewählt, zur andern Hälfte von den Regierungen
ernannt werden sollten. Beide Kammern jedes Landtags sollten zu diesem Zweck
M gemeinsamen Sitzungen zusammentrete,!. Die gewählten Mitglieder sollten
oller drei Jahre zur Hälfte erneuert werden. Ein solches Staatenhaus würde
als Hüter des einzelstaatlicheu Interesses, als eine Art Ersatz für den Bundesrat
angesehen werden können, aber es würde doch niemals die Souveränität der deutschen
Fürsten und deren Mitwirkungsrecht zum Ausdruck bringen. Die Mitgliederzahl
war in der Verfassung von 1849 auf 192 festgesetzt worden, von denen freilich
38 Österreich zugedacht waren, 3 für Luxemburg, je 1 für Holstein, Lauenburg,
Liechtenstein, Frankfurt und Hessen-Homburg, ferner für Hohenzollern-Hechingen
und Hohenzollern-Sigmaringen und jedes der drei Anhalt, die Mitgliederzahl
würde sich also um 50 verringern. Nun kann man sich das Oberhaus aber auch
anders zusammengesetzt denken. Zu dem Wahlrecht der Landtage könnte ein Wahl¬
recht der großen Korporationen, des Reichsgerichts, der Städte, der Hochschulen,
der Handelskammern und Landwirtschaftskammern usw., hinzutreten unter gänzlichem
Verzicht auf ein Ernennungsrecht der Regierungen, oder aber man könnte dem
Bundesrat ein Ernennungsrecht für diese Kategorien einräumen, zu denen dann
noch die Spitzen von Heer und Flotte, der Geistlichkeit beider Bekenntnisse u. a. zu
treten hätten. Auch eine Entscheidung der Frage, ob die deutschen souveränen Häuser,
ferner die frühern Reichsunmittelbaren Anspruch auf einen Sitz im Oberhause
hätten, wäre nicht von der Hand zu weisen. Bekanntlich existiert auch kein Eid
auf die Reichsverfassung, der Kaiser leistet ihn nicht, die Mitglieder des Reichs¬
tags ebensowenig. In der Reichsverfassung von 1849 war dieser Eid vor¬
gesehen. Man hätte sich damals den Verzicht auf die Beeidigung, den wir nun
schon seit 1867 haben, nur schwer vorstellen können. Um soviel ist das Vertrauen zu
den Regierungen und dieser zur Volksvertretung doch größer und fester geworden!
Es ist die Oberhausfrage sicherlich keine solche, die heute oder morgen zur
Entscheidung steht, aber sie bietet die einzige Lösung, einerseits das allgemeine
Stimmrecht unangetastet zu lassen, andrerseits den Regierungen sowie dem ge¬
bildeten und erhaltenden Teile der Nation einen Einfluß auf die Reichsentwicklung zu
sichern, der seit 1390 fortgesetzt im Rückgange begriffen ist. Dem Reichsbau würde
damit ein sehr wertvolles Fundamentstück für seine Sicherheit und damit eine wesent¬
liche Bürgschaft für die ungestörte schöpferische Bethätigung seiner gesetzgeberischen Kraft
eingefügt.
Die unerfreulichen Beiträge zur Tagesgeschichte, die unsre Kolonialverwaltung
liefert, sind insofern nicht ohne Nutzen geblieben, als sie die allergründlichste Remedur
gezeitigt haben, ohne die eine gewisse Erbsünde in diesem Ressort vielleicht heimisch
geblieben wäre. Im Auswärtigen Amte sowie in andern mit der Kolonialabteilung
in engerer Fühlung stehenden Reichsämtern hatte man seit Jahren die Überzeugung,
daß dort ein eiserner Besen Vonnöten sei. Stübels Berufung an die Spitze/der
Abteilung wurde seinerzeit auch in diesem Sinne von vielen Kolonialfreunden mit
großen Erwartungen begrüßt, genoß er doch auch namentlich in Marinekreisen durch
die Berührung, in die er als Generalkonsul in Shanghai in den Jahren 1895/97
zu der damaligen Kreuzerdivision getreten war, eines ungeteilten Ansehens. Stubet
war sich der Schwierigkeiten, die seiner auf diesem neuen Posten harrten, voll¬
kommen bewußt; auch eine energischere Natur als die seinige würde dort weder
Lorbeeren noch Rosen, sondern nur Dornen geerntet haben. Der Zuschnitt war
für die großen Aufgaben zu klein, und die Arbeitskräfte waren ihnen nicht gewachsen.
Dazu kam, daß ihn bei seinem Amtsantritt die Gewißheit empfing, an der ma߬
gebendsten Stelle werde auf das neu gewonnene Kiautschou sowie auf das Zukunfts¬
unternehmen der Bagdadbahn, dessen ungemessene Perspektiven sich damals aufladen,
viel mehr Wert gelegt als auf die afrikanischen Kolonien. Also auf die der eigentlichen
Kolonialverwaltung entzognen Unternehmungen an Stelle der afrikanischen Besitzungen,
die doch eine gewaltige, oft vergeblich aufgewandte Arbeitslast, eine große Menge
von Schwierigkeiten aller Art in ihrer Verwaltung sowie in ihrer Vertretung gegen¬
über den obersten Neichsbehörden, dem Bundesrat und — dem Reichstag erheischten.
Sehr ermutigend war das nicht. Zum Teil mag diese Auffassung in den glänzenden
Erfolgen der Marine in Kiautschou begründet gewesen sein. Die Marineverwaltung
gab der neuen Kolonie hervorragende Gouverneure. Es genügt, an den einen:
Jäschke, zu erinnern, der leidend in dem Bewußtsein hinausging, der Sache seine
letzte Lebenskraft zu widmen, und dessen hervorragende Leistungen für immer mit
dem Namen der Kolonie verbunden bleiben werden. Wenngleich die Aufgaben dort
zum Teil andere sind als in den afrikanischen Schutzgebieten, so liegt doch die Frage
nahe, weshalb die Gouverneurstellen in Afrika nie mit Seeoffizieren besetzt worden
sind, unter denen sich doch manche als dazu vorzüglich qualifiziert erweisen. Für
alle afrikanischen Kolonien ist der Zugang vom Meere und die Verbindung vom
Meere zum Innern die Lebensfrage, gerade wie in Kiautschou, mögen immerhin
Klima, Kulturverhältnisse und die Verbindungen mit der Heimat anders sein. Es
ist schon in frühern Jahren an dieser Stelle die Frage berührt worden, ob es
nicht zweckmäßig gewesen wäre, alle Schutzgebiete der Marine zu unterstellen. Der
Kaiser hatte diese Frage bejaht und war dazu durchaus bereit; derselbe Vorschlag
wurde auch durch Eugen Richter gemacht. Aber der Staatssekretär von Tirpitz
verhielt sich gegen das ihm zugedachte reiche Maß von Vertrauen ablehnend, weil
er befürchtete, daß im Reichstage dann entweder die Marine oder die Kolonien
zu kurz kommen würden, oder daß sich die Animosität gegen die Kolonien auch
auf die Marine übertragen könnte. Ob nun diese Auffassung gerechtfertigt war
oder nicht, jedenfalls war es die andre, daß die gleichzeitige Verwaltung und
Entwicklung beider Ressorts die Arbeitskraft auch des tüchtigsten Resiortchefs über¬
steigen müsse, namentlich auch die parlamentarische Inanspruchnahme. Ferner kam
in Betracht, daß Kiautschou von Anfang an nur als Marinestützpunkt erworben
worden war, während die afrikanischen Schutzgebiete, mit Ausnahme von Ostafrika
mit seinen guten Häfen, der Marine nichts zu bieten vermögen. Immerhin hat
der Gedanke, die Kolonialabteilung zu einem selbständigen Amte umzugestalten, ein
Gedanke, dem schon der Reichskanzler Fürst Hohenlohe bejahend gegenüberstand, in
seiner Ausführung durch die Idee einer Verbindung mit der Marine eine Ver¬
zögerung erfahren. Einer Verbindung mit der Marine schien auch die militärische
Seite der Frage das Wort zu reden. Die Truppen in den Kolonien konnten
dann ohne weiteres der Marineinfanterie angegliedert werden, wie das für Kiaut¬
schou der Fall ist, und wie Fabri das schon gegen Ende der achtziger Jahre vor¬
geschlagen hatte. Der Gedanke ist auf den ersten Blick hin bestechend genug, zumal
da ja die Marineinfanterie wiederholt in die Lage gekommen ist, aufständischen Be¬
wegungen gegenüber in allen Teilen Afrikas die erste Hilfe zu bringen.
Die Bestimmung der Marineinfanterie ist jedoch eine andre. Diese Truppe
hat ihre volle Bedeutung seit der Unterstellung des Kieler Hafens und der Nord¬
seeküste unter die Marineverwaltung erhalten. Wäre die gesamte Verteidigung der
deutschen Küsten und Häfen der Landarmee unterstellt geblieben, so konnte die
Marineinfanterie für überseeische Zwecke dauernd verfügbar gemacht werden. Aber
nachdem seinerzeit Stosch in schweren und hartnäckigen Kämpfen gegen Roon und das
Kriegsministerium Kiel und die Nordseeküste für die Verteidigung durch die Marine
gewonnen hatte, mußte für den Jnfanteriebedarf der Forts- und Hafenbesatzuugen
durch entsprechende Ausgestaltung der Marineinfanterie Sorge getragen werden.
Die Marineinfanterie wird darum für überseeische Zwecke nur in Zeiten abkömmlich
sein, in denen, wie zu der Zeit der Chinaexpedition, jede Störung des Friedens in
Europa ausgeschlossen ist. Aus diesem Grunde wird es der Marineinfanterie auch
nicht immer möglich sein, das allezeit bereite Reservoir für die Kolonialtruppen
herzugeben.
Bei der Neuorganisation des Kolonialamts wird das „Oberkommando der
Schutztruppen" wohl jedenfalls zur Auflösung gelangen. Eine solche Instanz gehört
in das Kriegsministerium und nicht in die Kolonialverwaltung. Die gesamten Schuh¬
truppen, die Offiziere und die europäischen Mannschaften, werden von der Armee
gestellt, die auch die ganze Ausrüstung bis zum letzten Riemen zu liefern hat. Es hat
deshalb keinen rechten Sinn, die Schutztruppe militärisch wie eine fremde Armee
zu behandeln. Die aus dem Heere zur Schutztruppe übertretenden Offiziere sollten
zunächst, vielleicht auf zwei bis drei Jahre, Ä, ig, fünf ihrer bisherigen Truppenteile
gestellt werden. Es bleibt ihnen dadurch eine Art militärischer Heimat mit allen
segensreichen Folgen einer solchen. Diese Heimat finden sie bei den afrikanischen
Trnppenteilen aus dem Grunde nicht, weil diese in kleinen Abteilungen über die
Schutzgebiete zerstreut sind, und der Begriff eines einheitlich geschlossenen Offizier¬
korps dabei in der Praxis völlig in Wegfall kommt. Außerdem scheint es auch
aus vielen andern Gründen nicht zulässig, neben dem Landheer und dem Seeheer
noch ein selbständiges „Kolonialheer" mit einer eignen, militärisch und politisch Ver¬
antwortlicher Spitze aufzustellen. Das Kriegsministerium ist und bleibt die Nähr¬
mutter der Kolonialtruppen, es muß auch die bei diesen auftretenden Offiziere
wieder in die Armee aufnehmen, kurzum, es ist kein logischer Grund erkennbar,
weshalb die in China stehenden Truppen dem Kriegsminister unterstellt bleiben
und von diesem verwaltet werden, während für die afrikanischen Truppen eine neue,
künstliche Spitze geschaffen worden ist, die allenfalls genügte, solange es sich um
wenige hundert Mann handelte. Auch diese wären freilich von jeder Korpsintendantur
besser verwaltet worden. Aber jetzt, wo es sich um eine dauernde, bedeutende
Organisation aller Waffen und Spezialitäten handelt, wo die Organisationen auch
in Ostafrika, Kamerun und Togo in zunehmender, selbstverständlicher Entwicklung
begriffen sind, ist es Zeit, sie hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit, Ersatz, Aus¬
rüstung, Verpflegung auf die möglichst beste Weise sicherzustellen. Das kann nur
durch Unterordnung unter das Kriegsministerium geschehn, das durch die Ein¬
fügung einer Abteilung für die Kolonialtruppen zu erweitern wäre. Die Be¬
zeichnung „Schutztruppe" sollte dann den Polizeitruppen verbleiben, für die sie
eigentlich erdacht und bestimmt war. Die Truppen in den Kolonien müssen
integrierende Teile des Heeres sein. Die PostVerwaltung hat von vornherein ihre
Stellung so genommen, und der Reichstag hat es gebilligt. Sie ist auch sehr gut
dabei gefahren, der Dienst ebenso. Wären die Truppen in Südafrika mindestens
seit Beginn des Aufstandes und der Hilfsentsendungen sofort dem Kriegsministermm
unterstellt worden, die Sache würde nicht nur ganz anders geklappt haben, sondern
es wären auch sehr große Ersparnisse gemacht worden. Der Kolonialabteilung fehlte
für diese ins Unermeßliche gesteigerte Leistung jede Erfahrung und jede Organisation,
während dem Kriegsministerium die soeben frisch in China gewonnenen Erfahrungen
zu Gebote standen. Mit einer solchen Organisation würden auch die leidigen Ressort¬
schwierigkeiten und Gegensätze beseitigt werden, die bei den südwestafrikanischen An¬
gelegenheiten leider eine nur zu große Rolle gespielt haben. Die Polizeitruppen
mögen als Gendarmerie der Kolonialverwaltung verbleiben, die Feldtruppen mit ihrem
Kuustverleger und Kunstschriftsteller sind in den letzten
Monaten mannigfach bemüht gewesen, zum dreihundertjährigen Geburtstage des
großen germanischen Künstlers gute neue Reproduktionen, Erläuterungen und Bio¬
graphien anzubieten.
Bei Richard Borg erscheint das Lieferungsprachtwerk (30 Mark) Rembrandt
in Bild und Wort. Die Bilder sind feine Kupferdrucke — also ohne die farbige
Wirkung —; als Herausgeber zeichnen Bode und der junge W. Valentiner, die sich
so in die Arbeit geteilt zu haben scheinen, daß von Bode die Bilderauswahl und
von Valentiner die Hauptarbeit an dem ausführlichen, frisch geschriebnen, auch auf
Kulturgeschichtliches eingehenden Text stammt. Die drei Hefte, die uns die Verlags¬
handlung davon vorgelegt hat, lassen an dem vornehmen Charakter dieser Publi¬
kation keinen Zweifel.
Die Deutsche Verlagsanstalt veröffentlicht als den neuesten, achten Band ihrer
Folge Klassiker der Kunst Rembrandts Radierungen. Der Wert dieses Buches
liegt nicht in der Güte der Reproduktionen, sondern in der Vollständigkeit und
der kritischen Vorsicht der Ausgabe, auf deren Titel einer der besten Kenner
des Gegenstandes, H. W. Singer, als Herausgeber erscheint. singers Einleitung
orientiert geschickt und interessant über Fragen der Echtheit, Kunsttechnisches und
Inhaltliches dieser Rembrcmdtschen Blatter. Die Ausgabe selbst bringt in drei
Abteilungen erst das zweifellos echte, dann „zweifelhafte Blätter und solche, die
in reproduziertem Zustande nicht mehr Rembrandts Weise erkennen lassen", und zu
verwerfende Blätter; es steckt viel feinfühlige Kunstphilologie in dieser Scheidungs¬
arbeit.
Der Verlag von E. A. Seemann bietet drei Publikationen an. Nur Text enthält
das ausgezeichnete Buch Wilhelm Bodes: Rembrandt und seine Zeitgenossen;
es spricht hier Wohl der reifste Kenner der niederländischen Gemälde des siebzehnten
Jahrhunderts und ihrer Schicksale zu uns in klugen und formvollendeten Charak¬
teristiken, bald leichter umreißend, bald intim erzählend, wie namentlich in der inter¬
essanten Studie über Adrian Brouwer. Ein geschmackvoller kleinerer Geschenkband
ist dann das Büchlein Rembrandt, eine Skizze von nur wenig Bogen Text von
Richard Graul und etwa einem Dutzend guter bunter Reproduktionen in der Art
von Seemanns „Alten Meistern". Zuletzt nennen wir das soeben erschienene Heft von
Seemanns vorzüglicher neuer Sammlung: Die Galerien Europas (Rembrandt-
heft), das acht große farbige Wiedergaben von Rembrcmdtbildern enthält — in der
Sorgfalt, mit der hier der Dreifarbendruck ausgeführt ist, das vollkommenste, was
bis jetzt an Gemäldereproduktion geboten worden ist — nebst einem kunstgeschicht¬
lichen Aufsatz mit dem verlockenden Titel: Rembrandt und die Bühne (4 Mark). .
Wenn unsre studierende Jugend hie und da noch
über das Joch, das ihr aufgehalst sei, seufzen zu müssen glaubt, so ist daran nicht
die Schule schuld, sondern unser verwickelter Gesellschaftszustand, der allen ohne
Ausnahme das Leben schwer macht. Die heutigen Pädagogen erleichtern den
Schülern die Arbeit nach Kräften. Gehören doch die eifrige Fürsorge für das
leibliche und Seelenwohl der Kinder und der Heranwachsenden und das dieser
Fürsorge dienende sorgfältige Studium der jugendlichen Seele zu den Blüten der
Humanität, die unsre Zeit vor allen frühern Zeiten auszeichnen. Auch die vielen
Pädagogischen Romane, Novellen und Skizzen sind Erzeugnisse dieses der Jugend
teilnehmend zugewandten Sinnes, und sie haben sicherlich schon in Schule und
Haus gute Früchte getragen. Gottfried Kämpfer von Hermann Anders
Krüger (Hamburg, Alfred Janssen. 1904) darf als eine Musterleistung dieser
Literaturgattung gerühmt werden. Der junge Held ist anziehend und psychologisch
glaubhaft dargestellt — nur würden die Streiche seines elften Lebensjahres besser
of dreizehnte gepaßt haben —, und das sehnlicher wird in keinem andern uns
bekannten Romane so ausführlich und gründlich geschildert wie in diesem. Und
was für ein sehnlicher! Das Buch ist „ein herrnhu tischer Bubenroman", und
unter dem Pseudonym „Girdein" verbirgt oder vielmehr offenbart sich die berühmte
Erziehungsanstalt Niesky. Das ist es, was uns bestimmt, auf das schon vor zwei
Jahren erschienene Buch unsre Leser aufmerksam zu machen. Die meisten von
ihnen werden, wenn sie es zur Hand nehmen, gerade so überrascht wie Rezensent
die ungeahnte Entdeckung machen, daß die Herrnhutergemeinden so ziemlich das
Gegenteil von dem sind, was man sich gewöhnlich unter ihnen vorstellt. Eng¬
herzige Frömmelei kommt ja vor, wie der Verfasser durchblicken läßt, aber nicht
in ihren Schulen. Mag auch das Leben in Niesky hier idealisiert dargestellt sein —
wenn die Darstellung nicht geradezu, was doch undenkbar wäre, eine Lüge ist,
wenn die Grundzüge richtig gezeichnet sind, dann möchte man wünschen, noch ein¬
mal Junge werden und das Pädagogium von Niesky besuchen zu können. Das
brüderliche Verhältnis der Lehrer zu den Schülern, der feine pädagogische Takt
der meisten Lehrer — daß sich mitunter ein Ungeschickter in dieses Elitekollegium
verirrt, wird nicht verschwiegen —, die wohlorganisierte Selbstregierung der Schüler,
deren auf strenge Disziplin gegründete Freiheit, die hervorragende Stellung, die
den Leibesübungen und Spielen im Erziehungsplan eingeräumt ist, lassen schon
alles das verwirklicht erscheinen, was von zahlreichen Reformern für unsre öffent¬
lichen Schulen erst angestrebt wird. Von Engherzigkeit und Ängstlichkeit, von
Frömmelei und Bekehrungssucht keine Spur. Die Leiter der beiden Anstalten (die
untern und die obern Gymnasialklassen machen je eine besondre Anstalt aus) kommen
zwar unserm Gottfried einigemal in Seelennöten, wo er sie wirklich braucht, zu
Hilfe, überlassen ihn aber sonst seinem dunkeln Drange, seinem Gott und seiner
Selbsterziehung in der Überzeugung, daß wenn er den rechten Weg nicht selbst
findet, kein andrer Mensch ihn darauf bringen kann. Auch machen sie keinen Ver¬
such, ihn, der nicht sehr fromm ist und wenig Interesse für religiöse Fragen hat,
für den Dienst der Brüdergemeinde zu gewinnen; sie wollen nur, daß er ein recht¬
schaffner tüchtiger Mann werde. Daß er sich beim Abschied vom Pädagogium — so
weit führt der Verfasser seinen Helden — doch noch entschließt, in Gotteshaag
(Gräberfeld?) Theologie zu studieren, überrascht einigermaßen. Man sagt sich am
Schluß des Buches: hier ist richtige Erziehung, und hier ist echtes Christentum,
womit natürlich nicht gesagt sein soll, daß die herrnhutische die einzige Form des
echten Christentums sei.
Es ist ab und zu notwendig, alten Wein auf neue Fässer
abzuziehn. Die Worte aus der Bibel und die alten, guten geistlichen Strophen, die
in diesem Bande als Kolumnenköpfe eines im übrigen von dem Besitzer zu füllenden
Gedenkkalenders (Lebensfreude. Ein Gedenkbuch von E. Reimer. München,
C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck) zusammengestellt sind, verdienen
meist das schöne moderne Gewand, worin sie hier den Jüngeren angeboten werden.
Wir wünschen dem Buche viele Benutzer, zum Besten ernstlich zusammengefaßten
Lebens.
le letzte Nummer des Lullstw OMoisl as I'Msr Inäöpöiiäimt,
an LonZo hat uns endlich den Text der legislativen und der
administrativen Maßnahmen gebracht, die auf Grund des Berichts
getroffen worden sind, den die vom König Leopold eingesetzte
Untersuchungskommission erstattet hat. Die Veröffentlichung
dieser wichtigen Dokumente ist sehr verschieden aufgenommen worden. Die
englische Presse und insbesondre die Times, die nacheinander am 18. und
am 19. Juni dieser Frage zwei Leitartikel gewidmet hat, hat sich in außer¬
ordentlich abfülliger Weise über das legislative Werk der kongolesischen Ne¬
gierung ausgesprochen. Sie wirft ihr vor, die von der Untersuchungskommission
aufgestellten Probleme höchst unvollkommen zu lösen und Palliativmittel zu
bringen, die nicht imstande seien, die durch den Casementbericht aufgedeckten
Schäden zu beseitigen.
In Belgien, wo aus so mannigfachen Gründen die Kongofrage das
leidenschaftlichste Interesse erregt, ist die öffentliche Meinung geteilt. Die
ersten Zeitungen der Hauptstadt, I'Inä<zxölläg,n<zö LslM, l'Mons LslAS, 1<z
^ouriiÄl as Lruxsllss, denen sich hierin fast einstimmig die Provinzialpresse
anschließt, bringen günstige Kommentare zu den Reformen, während die soge¬
nannten antikongolesischen Organe, der ultraklerikale ?s.triots und der sozia¬
listische ?suxl6 mit Eifer diese günstige Gelegenheit benutzt haben, mit ge¬
lohnter Heftigkeit die Angriffe gegen den Kongostaat und dessen Souverän
zu erneuern. Bei dieser Sachlage kann man schon jetzt vorhersehen, daß das
letzte Ereignis in nichts die Situation verändern wird, und daß die alten
Gegner des afrikanischen Werkes Leopolds des Zweiten unversöhnlich bleiben
werden. Auffallend ist nur die Hast, mit der diese in der ihnen zur Ver¬
fügung stehenden Presse ihr Verdammungsurteil über eine Arbeit ausgesprochen
haben, die so kompliziert ist wie die soeben erst veröffentlichten Berichte und
Dekrete des Kongostaats.
Die politischen Zeitungen des Kontinents haben dagegen eine große
Reserve über diese Frage beobachtet, eine Reserve, die in derselben Weise auch
die deutsche Presse im allgemeinen zeigt. Da der Kongostaat unser Nachbar
in Deutschostafrika ist, ist es für uns sicher angebracht, den Sachverhalt
sine irg. se, swäio zu prüfen und sich ein Urteil erst dann zu bilden, wenn
man sich eine gründliche Kenntnis der frühern kongolesischen Gesetzgebung und
der Kritiken, die sie zu erleiden hatte, angeeignet hat, und hiermit die Modi¬
fikationen vergleicht, die infolge der neuen Maßnahmen eintreten werden.
Diese umfassen einen Bericht der drei Abteilungschefs der kongolesischen
Regierung an den Souverän, ferner eine Reihe von Dekreten und schließlich
einen Brief des Souveräns an die Generalsekretäre.
Der Bericht an den Souverän bringt zunächst eine Aufzählung der in¬
folge der Initiative Leopolds des Zweiten im Kongostaat eingeführten Fort¬
schritte, schlägt darauf die neuen legislativen und administrativen Maßnahmen
vor, für die ausführliche Motive angegeben werden, und schließt mit einem
Protest gegen die Versuche, die unter philanthropischer Flagge darauf zielen,
den Gründer des Kongostaats seines Werkes zu berauben — octo ozuvrs
<mi lui appartisut, «oinins doues oouvrs g-xpartisut, g, son or^atsur. Dieses
Schriftstück ist die erste öffentliche Antwort auf die seit drei Jahren gegen ihn
gerichtete Anklage, und man muß anerkennen, daß es taktisch geschickt abgefaßt
ist, da den Kritikern, die die UnVollkommenheit des Werkes tadeln, zunächst
die Bilanz dessen entgegengehalten wird, was seit einem Vierteljahrhundert
im Kongostaat auf allen Gebieten erreicht worden ist. Die Diskussion ist
damit sofort auf einen sichern Boden gestellt worden. Wie man auch immer
über den Kongostaat denken mag, es ist eine unleugbare Tatsache, daß er sich
schnell entwickelt hat, und es genügt, seine gegenwärtige Lage mit der seiner
benachbarten Kolonien zu vergleichen, wenn man sich von dem Vorsprung
überzeugen will, den er über sie gewonnen hat. Von da bis zu der Schlu߬
folgerung, daß ein „System", das solche Erfolge gezeitigt hat, nicht so schlecht
sein kann, wie manche behaupten, ist nur ein Schritt.
Die Gegner des Kongostaats haben den Zwang zu Trägerdiensten als
eine Einrichtung bezeichnet, durch die die von den Karawanen durchzognen Ge¬
biete entvölkert würden. Diese Frage des Trägerdienstes geht alle Kolonial¬
regierungen in Afrika in demselben Maße an. Der Kongostaat leugnet auch
nicht die Last, die den Eingebornen durch diese Verpflichtung auferlegt wird,
aber er stellt zugleich fest, daß sie immer nur einen temporären und ausnahms-
weisen Charakter haben darf. Die Kongoregierung erklärt, daß ihre An¬
strengungen immer darauf gerichtet gewesen seien, den Trägerdienst zu be¬
seitigen, und sie beweist dieses, indem sie alle die Maßnahmen aufzählt, die
sie zu diesem Zwecke getroffen hat. Hierzu gehören: die Organisation der
Flußtransporte auf der ganzen Strecke des schiffbaren Kvngos, seiner Zuflüsse
und der Flußstrecken, die stromaufwärts von den Stromschnellen liegen, die
Eröffnung von Straßen für Wagen und für Automobile, endlich die Schaffung
von vielen Eisenbahnlinien. Für die Zukunft wird ein Eisenbahnnetz vor¬
geschlagen, das das ganze obere Kongogebiet umfaßt, und dessen Entwurf eine
Weite des Blicks und ein Selbstvertrauen beweist, die jedenfalls anerkannt
werden müssen.
Ein andrer interessanter Abschnitt desselben Berichts behandelt die Justiz¬
organisation. Der ungenügende Zustand der kongolesischen Justiz ist immer
wieder behauptet worden. Auf diesen Vorwurf antwortet die Kongoregieruug
ebenfalls mit Tatsachen: Das Justizpersonal umfaßt jetzt schon vierzehn rechts¬
gelehrte Richter, abgesehen von den Hilfsrichtern und den Subalternbeamten;
außer den Territorialgerichten in den einzelnen Distrikten gibt es fünf Gerichte
erster Instanz, von denen vier in dem obern Kongogebiet ihren Sitz haben.
Wenn die Anzahl der Richter nicht größer ist, so hängt das von einem Umstand
ab, der außerhalb des Willens der Regierung liegt: die Rekrutierung des
Nichterpersonals ist außerordentlich schwierig, obgleich das kongolesische Justiz¬
budget unbegrenzt ist.
Wenn man sich eine Meinung über die Bedeutung der neuen Maßnahmen
bilden will, muß man diese mit dem Bericht der Untersuchungskommission ver¬
gleichen, worin einerseits Reformen vorgeschlagen wurden, die als dringend
bezeichnet und sofort durchgeführt werden sollten, andrerseits Reformen, die
im Verhältnis zu der Steigerung der Budgeteinnahmen eingeführt werden
sollten. So heißt es auf Seite 283 des Untersuchungsberichts über die
dringenden Reformen: Nous g>von8 su vus, uMwinöilt, l'intörxiswtion se
l'gxxlivgtion 1grZs8 se 1idsrg.Is8 as8 lois sur 1s rs^iins tonoisr, l'g.xMeÄtiou
sösstivs als ig. loi limitgirt g. Hug.rg.reth llsurss xgr roois les xro8eg.ti0U8 su
er.log.it, la Zupprössicm ein 8vstsiQS <Zs8 8srckivsI1s8, as8 psrmis as xort ä'g.rins8
xour <zg.pitg.s, 1s rstrait an äroit as 00irtrg,iirts8 gux 8ssist68 «oiiiM6rc.ig.Is8, Is,
rsAlsmslit,gli0N8 ass sxr)säition8 mi1itgirs8 se 1'gkK'Me.IÜ88fahret an pg.ra.use as
ig, tutslls gclministrgtivö.
Eine aufnierksame Prüfung der neuen Dekrete ergibt das Resultat, daß
alle als dringend von der Kommission bezeichneten Reformen jetzt ausgeführt
worden sind.
Ein Dekret interpretiert in sehr liberaler Weise die Bedeutung, die der
Begriff tsrrs8 vo<zuxs68 xgr 1s8 wäiZsns8 nach den geltenden Gesetzen haben
soll, indem darunter alle Ländereien verstanden werden sollen, die die Einge-
bornen entsprechend den Gewohnheiten oder lokalen Usancen in irgendeiner
Weise bewohnen, bebauen oder ausbeuten. Um für die Eingebornen die Folgen
einer etwaigen ungünstigen tatsächlichen Lage zu vermeiden, bestimmt das Dekret
außerdem, daß jeder Ortschaft mindestens die dreifache Fläche der von den dort
Ansässigen bewohnten und bebauten Lündereien zugewiesen werden soll, wie
auch immer die Okkupationsrechte der Eingebornen beschaffe» sein mögen. Ein
früheres Gesetz hatte im Kongostaat die Arbeitssteuer eingeführt und für jeden
steuerpflichtigen Eingebornen eine Leistung von vierzig Arbeitsstunden monatlich
festgesetzt. Die Untersuchungskommission hatte im Prinzip die Arbeitssteuer
als berechtigt anerkannt, da augenblicklich der Eingeborne im Kongostaat weiter
nichts besitzt als seine Hütte, seine Waffen und seine Pflanzungen, aber sie
hatte verlangt, daß ein Wertverhältnis für die Arbeitssteuer festgesetzt werden
sollte. Das neue Dekret hat dieser Ansicht Rechnung getragen und als Basis
der Arbeitssteuer eine Geldsumme angenommen, die je nach den einzelnen
Distrikten zwischen 6 und 24 Franken schwankt, wobei die Eingebornen die
Wahl haben, die Steuer in Produkten von entsprechendem Wert oder in Form
von Arbeit zu entrichten. Außerdem werden die <zg.xiws und die bewaffneten
Posten, die früher mit der Eintreibung der Arbeitsstellen, beauftragt waren,
abgeschafft.
Die Militärexpeditionen und die Polizeioperationeu werden durch die neue
Gesetzgebung genau festgesetzt. Zu beiden darf niemals ein Farbiger verwandt
werden. Die Umstände und die Bedingungen, unter denen sie zulässig sind,
sind ganz geuau aufgezählt, und man hat eine ganze Anzahl von Garantien
geschaffen, um den Mißbrauch der bewaffneten Gewalt unmöglich zu machen.
Schließlich wird durch ein Dekret die Intervention der Verwaltung in die
Rechtspflege auf den Ausnahmefall des öffentlichen Interesses beschränkt und
in Übereinstimmung mit den in Belgien geltenden Bestimmungen geregelt.
Alle von der Untersuchungskommission als dringend bezeichneten Reformen
sind also ausgeführt worden. Man ist aber noch weiter gegangen und hat
Maßnahmen getroffen, deren Ausführung nicht als sofort wünschenswert be¬
zeichnet worden war.
Durch ein Dekret werden die Häuptlingschaften zu dem Range von Staats¬
institutionen erhoben, die unter der Herrschaft eines legitimen Häuptlings ver¬
eint sind und nach den Landesgewohnheiten regiert werden. Die Rechte und
die Pflichten des Häuptlings gegenüber seinen Untertanen und gegenüber dem
Kongostaate werden genau geregelt, und der Häuptling wird dadurch zum
nützlichen Bindeglied zwischen der Verwaltung und der Bevölkerung.
Entsprechend einer andern Anregung der Untersuchungskommission wird
die Dauer des Arbeitsvertrags beschränkt, wenn der engagierte Arbeiter weniger
als vierzehn Jahre alt ist, und die Rekrutierung der für öffentliche Arbeiten
notwendigen Arbeiter gesetzlich festgesetzt.
Weitere Dekrete hat man erlassen, um die Geldzirkulation zu begünstigen,
um die Dauer der Staatsvormundschaft über ausgesetzte Kinder von Eingebornen
zu verkürzen und um Gewerbeschulen zu errichten.
Die Güter des Staates sind als äowains national erklärt, und ihre Ver¬
waltung ist einem Oorxs ä'aäininistratsurs anvertraut worden, der von den
Territorialbeamten unabhängig ist.
Um die Entwicklung der Privatunternehmungen zu begünstigen, bestimmt
ein Dekret, daß jährlich eine Liste der Domanialländereien veröffentlicht werden
soll, die zum Verkauf oder zur Verpachtung kommen, und die den Meist¬
bietenden ein öffentlichen Terminen zugesprochen werden sollen.
Zum Schluß wird ein Dekret veröffentlicht, das seine Entstehung der
persönlichen Initiative des Souveräns verdankt, und worin ein Preis von
200000 Franken ohne Unterschied der Nationalität für den bestimmt wird, der
ein Heilmittel gegen die Schlafkrankheit entdeckt, und ein Kredit von 300 000
Franken festgesetzt wird, der zur Entdeckung von Mitteln zur Behandlung und
zur Prophylaxe dieser Krankheit dienen soll.
Die kurze Aufzählung der Maßnahmen, die die Verwaltung des Kongo¬
staats ergriffen hat, genügt zur Erkenntnis ihrer Bedeutung. Sogar die Times
erkennt an, daß sie einen Schritt vorwärts bedeuten. Für jeden unparteiischen
Beobachter, der weniger anspruchsvoll ist als das Cityorgan und bei seinen
Erwägungen mehr die Schwierigkeiten in Rechnung zieht, die das Problem
einer jeden Kolonisation in Afrika bietet, scheinen die neuen Reformen einen
bedeutenden Fortschritt in sich zu schließen. Man kann in ihnen den festen
Willen des Königs Leopold erkennen, den philanthropischen Bestrebungen unsrer
Zeit und den legitimen Interessen des internationalen Handels Rechnung zu
tragen. Der Kongostaat hat in den neuen Dekreten seine innere, finanzielle und
wirtschaftliche Politik geregelt in einer Weise, die von seinem Pflichtbewußtsein
und von seiner Rücksicht auf die Zukunft zeugt. Er hat damit den Beweis
von politischer Begabung geliefert und mit seinem Gesetzeswerk für manche
andre Kolonialmächte in Afrika fruchtbare Inspirationen geschaffen. Das in
Aussicht genommne Eisenbahnnetz im obern Kongogebiete wird hoffentlich unserm
Reichstage die Veranlassung geben, die längst gewünschte deutschostafrikanische
Zentralbahn zu bewillige», da diese in Verbindung mit den Kongobahnen
sicher eine internationale Bedeutung und eine gesteigerte Rentabilität er¬
langen würde.
Angesichts der zahlreichen Reformen ist es nicht mehr als recht und billig,
dem Kongostaate Zeit zu lassen, und ohne g. xriori die Aufrichtigkeit seiner
Bestrebungen anzuzweifeln die Resultate abzuwarten. Jedenfalls liegt für uns
Deutsche bis auf weiteres keine Veranlassung vor, aus der Rolle des ab¬
wartenden Zuschauers herauszutreten.
err Jaures, die wissenschaftliche Leuchte der vereinigten Sozial¬
demokratie Frankreichs, hat es unternommen, das verschleierte
Bild des Zukunftsstaats zu enthüllen. Wochenlang vorher wurde
das große Ereignis angekündigt, und nicht nur die Neugierigen
! waren darauf gespannt. Die Zusammensetzung der neuen fran¬
zösischen Kammer ermöglicht es der gegenwärtigen Regierung, zur Not eine
Majorität ohne die Sozialdemokratie zu bilden; jedoch ist diese Basis zu schmal
und zu unsicher, als daß nicht Wert darauf gelegt werden sollte, die Sozial¬
demokratie, wenn irgend möglich, für die Blockidee und damit für die Negierungs-
politik wieder einzufangen. Andrerseits ist es die Sozialdemokratie müde, immer
nur dem bürgerlichen Radikalismus zur Stütze zu dienen; sie stellt als Preis
für ein ferneres Zusammengehn das Verlangen, daß mit der Verwirklichung
ihrer eigensten Wünsche endlich ein Anfang gemacht werde. Ob und wie weit
dieses im Bereiche der Möglichkeit liege, mußte die Jauressche Rede offen¬
baren. Alle politischen Parteien in Frankreich hatten also an dem Inhalte dieser
Offenbarung ein starkes Interesse. Aber auch die Aufmerksamkeit des Aus¬
landes wurde in Anspruch genommen. Insbesondre uns in Deutschland mußte
es angesichts der nicht nur in der Theorie, sondern auch schon in der Praxis
zik beobachtenden Annäherungsversuche zwischen bürgerlichem Liberalismus und
Sozialdemokratie reizen, zu sehen, wie sich eine solche Annäherung im weitern
Verfolge gestalten werde. In Wirklichkeit ist nun freilich die „große Rede"
des sozialdemokratischen Führers, was ihren programmatischen Teil anlangt,
ziemlich dürftig ausgefallen. Ganz überwiegend war sie eine schonungslose An¬
klage gegen die Regierung, deren Behandlung der streikenden Bergarbeiter nicht
schärfer hätte verurteilt werden können, wenn der Redner statt des sozialistischen
Radikalen Clemencecm einen Minister des Innern aus der schwärzesten Reaktion
vor sich gehabt hätte. Aber der „positive" Kern der Jcmresschen Ausführungen
ist doch interessant genug, eine nähere Beleuchtung zu rechtfertigen.
Herr Jaures ist, obgleich ihn jetzt mit dem zur gewaltsamen Revolution
neigenden Guesde ein gemeinsames Pardelhaut umschließt, auch heute noch der
Vertreter einer möglichst friedlichen Evolution. Seine Kritik des gegenwärtigen
Systems hat demgemäß auch keineswegs den Zweck gehabt, der Regierung den
Krieg bis aufs Messer zu erklären, sondern er hat ohne Zweifel Kons, na«z zeigen
wollen, wie es möglich sei, die heutige Gesellschaft ohne besonders schmerzhafte
Prozedur in den Zukunftsstaat hinüberzuleiten. Am Anfange dieses neuen Zu¬
standes steht bekanntlich die Überführung der Produktionsmittel aus dem Privat¬
eigentum in das Eigentum der Gesellschaft. Auch Herr Jaures bezeichnet dieses
als die nächste Aufgabe, sagt also niemand etwas neues; die allgemeine Frage
aber ist immer gewesen, was nachher kommen wird, wie sich die Verhältnisse
unter der ausschließlich gesellschaftlichen Produktion entwickeln werden. Phan¬
tasien einzelner sozialistischer Schriftsteller darüber haben wir im Laufe der Jahre
genug gehört. Herr Jaures hat sich gehütet, diese um eine weitere Utopie zu
bereichern. Er hat sich — wohl im Gefühle seiner parlamentarischen Verant¬
wortlichkeit — sehr zurückhaltend geäußert und die Hauptsache in einem Schwall
nebelhafter Phrasen verschwinden lassen. Was er an sozialen Verbesserungen
mit deutlichen Umrissen zeichnet, dürfte für die inbrünstige Sehnsucht der Zu¬
kunftsstaatsgläubigen eher eine Enttäuschung als eine Aufmunterung sein, denn
man ersieht daraus, daß auch in dem neuen Zustande die vollkommne Gleichheit
des Genießens, dieser Gipfel der Träume des sozialdemokratischen Proletariats,
noch lange nicht erreicht sein wird. Aber so entspricht es der Evolutionstheorie,
so entspricht es vor allem der Absicht des Herrn Jaures, plausibel zu machen,
daß sogar eine nach den heutigen Begriffen bürgerlich-radikale Partei, wenn
die Vergesellschaftung der Produktionsmittel einmal vollzogen ist, recht wohl
in der Lage sei, die Ausgestaltung der neuen Gesellschaft in die Hand zu
nehmen. Der Schwerpunkt füllt also zunächst durchaus in die Vergesellschaftung
der Produktionsmittel.
Für die Durchführung dieser Forderung sieht Jaures kein nennenswertes
Hindernis. Die Regierung würde dazu ja nicht einmal ein besondres Gesetz
brauchen. Man expropriiert einfach alle wirtschaftlichen Betriebe aus Gründen
des öffentlichen Wohls (pour van86 ä'nenn6 xuoliauö). In der Tat nichts
einfacher als dies! Also was zaudert die Regierung noch? Die Frage ist
nur, ob sich die Besitzer der Produktionsmittel die Depossedierung ruhig ge¬
fallen lassen werden. Vielleicht denkt Herr Jaures an eine stufenweise Be¬
seitigung des Privateigentums unter Anwendung des cliviäe et iinxera. Zuerst
enteignet man die Inhaber der Fabriken, dann die Großgrundbesitzer, dann
die Kleingewerbtreibenden, dann die Bauern. Aber warum sollten sich die
Besitzer der Produktionsmittel überhaupt sträuben? Herr Jaures will ja keine
Konfiskation des Privateigentums, sondern er will expropriieren nach Maßgabe
der bisherigen Gesetzgebung, d. h. unter voller Entschädigung. Gewiß, es gibt
eine Strömung in der Sozialdemokratie, die von Entschädigung nichts wissen
will; aber Koryphäen ersten Ranges haben sich für ihre Zulässigkeit aus¬
gesprochen, warum sollte man sich ihrer also nicht bedienen, wenn man auf
diese Weise der gewaltigsten Umwälzung des Menschheitsgeschichte einen fried¬
lichen Verlauf sichern könnte? Man hat Herrn Jaures darauf sofort erwidert,
daß ja dann in dem neuen Gesellschaftszustande sofort wieder eine Klasse der
Besitzenden einer solchen der Nichtbesitzenden gegenüberstehn, ja daß der Klassen-
gegensatz schroffer als je zuvor sein würde. Der Vorwärts belehrt uns aber,
in solchen Einwendungen komme nur die ganz besondre Unwissenheit der fran¬
zösischen Bourgeoispolitiker in ökonomischen Dingen zum Ausdruck. „Der
Rentierverstand des französischen Normalbürgers, sagt das sozialdemokratische
Zentralorgan, hat eben keine Ahnung davon, daß aller Profit aus der Aus¬
beutung der Lohnarbeit stammt, und daß das schönste Kapital nichts nützt,
sobald die kapitalistische Mehrwertsproduktion aufhört." Mit andern Worten:
die vom Zukunftsstaate den alten Privateigentümern gewährten Entschädigungen
würden wertlos sein wie die Assignaten der französischen Revolution. Man
kann dem überschlauen Vorwärts für dieses Wort dankbar sein; er bekennt,
daß die Entschädigung bei der allgemeinen Expropriation nichts als eine
lächerliche Komödie sein würde.
Als Herr Jaures schließlich erklärte, ob es überhaupt eine Entschädigung
geben werde, sei heute unmöglich vorherzusagen, erhob sich ein ungeheurer
Lärm. Darauf bemerkte der Redner: „Was für ein lehrreiches Beispiel! So¬
lange mau Minister angreift, herrscht Stille und Aufmerksamkeit, sobald man
aber das Eigentum aufs Tapet bringt, geraten alle Fibern, die ganze Substanz
der Menschen in Erregung." Das ist die beachtenswerteste Stelle der ganzen
Rede. Herr Jaures sollte sich die Lehren dieser von ihm gemachten Erfahrung
zu Herzen nehmen. Solange die Menschen Menschen sind, wird das Eigentum
die empfindlichste Stelle bleiben, an der sie berührt werden können. Der
Versuch einer allgemeinen Expropriation ohne vollwertige Entschädigung — und
eine solche ist nicht denkbar — wäre gleichbedeutend mit der Entfesselung des
furchtbarsten Bürgerkriegs. Mehr brauchen wir von dem Zukunftsstaate nicht
zu wissen. Es ist unnütz, sich Hirngespinste bis ins kleinste auszumalen, die
mit dem innersten Wesen der Menschennatur in ewig unversöhnlichem Wider¬
spruche stehn werden. Eben weil das der Fall ist, ist es auch ausgeschlossen,
daß die Verfechter einer Gesellschaft ohne Privateigentum jemals auf die Dauer
die Oberhand gewinnen würden; in irgendeiner Form, am wahrscheinlichsten
in der einer scharfen Diktatur, würde der alte Zustand wiederhergestellt werden,
vielleicht aber erst, nachdem man durch Ströme von Menschenblut gewatet, und
nachdem unsre heutige Kultur um Jahrzehnte, wenn nicht um Jahrhunderte
zurückgeworfen wäre.
Der Minister Clemenceau hat mit seiner Verteidigung gegen die Jauresschen
Angriffe einen großen rednerischen Triumph davongetragen; aber er hat ihn nur
seiner witzigen Verspottung der Unfähigkeit und der Unfruchtbarkeit der Sozial¬
demokratie gegenüber den unabweisbar dringlichen Aufgaben der Gegenwart
zu danken, nicht etwa einer klaren und entschiednen Zurückweisung ihrer
Zukunftsbestrebungen. Die Expropriationstheorie des Herrn Jaures versprach
er sogar studieren zu wollen. Angesichts der auch von Herrn Clemenceau
nicht verleugneten Spekulation des bürgerlichen Radikalismus und seiner Re¬
gierung auf die gelegentliche Unterstützung der vereinigten Sozialdemokraten,
wenn nicht auf ihre vollständige Rückkehr zum Block, bedarf diese Taktik des
Ministers keiner weitern Erklärung. Der unbefangne Beobachter aber wird
sich dadurch in dem Urteil nicht beirren lassen, daß sogar eine so vorsichtige
Darstellung des Überganges vom Gegenwarts- in den Zukunftsstaat, wie die
des Evolutionisten Jaures, nur die Unmöglichkeit einer wahren und dauer¬
haften Verständigung sogar zwischen den fortgeschrittensten bürgerlichen
Richtungen und der Sozialdemokratie erkennen läßt. Herr Clcmenceau hat
mit dem Bernsteinschen Worte operiert, daß das Endziel nichts, die Bewegung
darauf hin alles sei. Es paßte ihm so, aber er wird sich wohl selbst nicht
darüber täuschen, daß er damit hinter der Entwicklung zurückgeblieben ist. Die
Vorstellung, daß sich die Sozialdemokratie auf der Bernsteinschen Basis mit
der Zeit damit zufrieden geben werde, wenn die Bewegung vor der Er¬
reichung des Endziels stecken bliebe, ist durch die offenkundige Stellung nicht
nur der deutschen, sondern auch der französischen Sozialdemokratie in den
letzten Jahren gründlich abgetan. Die Sozialdemokratie würde sich bei ihrem
allein sichern Anhang, dem revolutionär versetzten Proletariat, unmöglich
machen, wollte sie die Unerfüllbarkeit ihrer Zukunftsstaatshoffnungen, wenn
auch nur stillschweigend, anerkennen. Keiner mehr, als gerade Innres, beweist
in seiner Person, daß die heutige Sozialdemokratie nicht zur bürgerlichen
Gesellschaft hinstrebt, sondern von ihr wegstrebt. Mögen gutgläubige Ideologen
noch so fest vertrauen, für die soziale und die bürgerliche Demokratie eine
gemeinsame Linie finden zu können, an der Frage des Eigentums scheiden
sich die Geister und werden sie sich in alle Zukunft scheiden. Vorübergehend
mag eine Blocktaktik gewisse Erfolge haben; früher oder später, äußerstenfalls
unmittelbar vor der Pforte des Znkunftsstacits, ist die Einigkeit zu Ende und
der Zusammenstoß unvermeidlich.
le im Schwesternberuf in der jüngsten Zeit neu auftauchenden
Fragen haben nicht nur die Berufsgenossen beunruhigt, erregt
oder interessiert, sondern auch die weitesten Kreise.
Die moderne Zeit, die so vieles überlebte, heutzutage nicht
mehr geeignete ausscheiden und neue Werte an die Stelle der
alten setzen muß, erschüttert auch das feste Gebäude der Krankenpflege. Immer
größer sind im Laufe der Jahre die Anforderungen der Hygiene geworden,
besser geschulte Pflegerinnen werden verlangt und ausgebildet, aber die vermehrte
Arbeit verlangt auch eine größere Anzahl von Schwestern. Der Schwesternberuf,
einer der wichtigsten für die Menschheit, leidet durchaus nicht unter der allge¬
meinen Berufskrankheit, der Überfttllung. Während die katholischen Verbände
durch den größern Einfluß der katholischen Kirche auf ihre Glieder, durch ihre
starre Geschlossenheit noch über eine genügende Anzahl von Schwestern ver¬
fügen, leiden die evangelischen Verbände unter einem immer fühlbarer werdenden
Mangel.
Unsre Zeit, die das „Sichcmslebenwollen", die „Jndividualitütspflcge" auf
ihr Panier geschrieben hat, muß notgedrungen den strengen Forderungen an
Gehorsam, Aufgeben des Ichs, Verleugnung des freien Denkens und Wollens
feindlich oder ablehnend gegenüberstehn, Forderungen, die nicht nur die katho¬
lischen sondern auch die evangelischen Schwesternverbände an ihre Glieder stellen.
Was Wunder, daß sich die Lücken immer mehr erweitern! Vor einem Jahr
etwa erschien ein Buch, das in den weitesten Kreisen Interesse und in Berufs¬
kreisen teils warme Zustimmung, teils große Entrüstung hervorrief, ich meine:
Frei zum Dienst. Eine Diakonissengeschichte. Ich kann hier nicht näher darauf
eingehn, empfehle es aber zur Lektüre, denn man empfängt dadurch den Ein¬
druck, daß hier wahre Begebnisse von einer bedeutenden Persönlichkeit ge¬
schildert sind, daß hier der Finger auf die Wunde gelegt ist, an der das ganze
Diakonissenwesen krankt, oder ich will lieber sagen, durch die es viele vor dem
Eintritt zurückschreckt.
Es sind innere und äußere Vorgänge, die die Schwesternfrage gezeitigt haben,
und da alles Gewordne seine Geschichte hat, so glaube ich, daß es zum bessern
Verständnis der gegenwärtigen Fragen gut ist, wenn man sich jene vor Augen
führt. Solange die christliche Kirche besteht, kann man auch ihre Bestrebungen
erkennen, für ihre kranken Glieder durch ausreichende Pflege zu sorgen. Man
findet schon in früher Zeit kirchliche Pflegegenossenschaften und Verbünde.
Der Urgedanke der Krankenpfleger war die Arbeit um „Gotteslohn", d. h./die
Erwerbung der Seligkeit. Diese Ansicht der Pflegenden rief dann auch eine
besondre Beurteilung im Publikum hervor. Denn bis zum heutigen Tage hat
es sich noch nicht mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß, da jede Arbeit ihres
Lohnes wert ist, auch die Krankenpflege einen solchen verlangen darf. Bis auf
den heutigen Tag sieht denn auch noch die Hälfte aller Schwesternverbände die
Pflege als ein kirchliches Amt an, das um „Gotteslohn" getan wird. Die
katholischen Orden verlangen auch in unserm „aufgeklärten" Jahrhundert die
Ablegung der drei Gelübde, das völlige Aufgeben der eignen Persönlichkeit. Sie
schonen ihre Schwestern in keiner Weise, sie verbrauchen sie sehr rasch und skrupel¬
los, denn sie finden noch genügend Rekruten, die die Lücken füllen. In Frankreich,
dem Lande der Nonnen, kann Prevost in seinem Buche Lea eine Nonne mit
Recht sagen lassen: „Wenn ich jetzt heimkomme, werde ich wohl kaum jemand von
den Schwestern mehr kennen. Lauter neue Gesichter. — Und ich gehöre jetzt zu
den Alten. —- Wie alt sind Sie, Schwester? — Dreißig. — Aber dann gehören
Sie doch gewiß noch zu den Jüngern. — Sie wollen sich wohl über mich lustig
machen. Die Jungen sind achtzehn bis zwanzig Jahre alt. — Wir Schwestern
erreichen überhaupt für gewöhnlich kein hohes Alter. Der liebe Gott pflegt uns
zeitig heimzurufen." Und auch im evangelischen Deutschland konnte ich in einem
katholischen Krankenhause folgendes Erlebnis haben: Eine junge, höchstens zwanzig¬
jährige Schwester bringt einer Freundin, die ich wochenlang täglich besuchte,
Nachmittags den Kaffee. Sie lehnt sich einen Augenblick an das Fensterbrett,
und in wenig Sekunden fallen ihr die Augen zu, sie schläft ein. Ebenso rasch
schrickt sie zusammen und reißt angstvoll die Augen auf. Auf unsre Frage er¬
zählt sie uns endlich zögernd, daß sie bei einem Todkranken nun vier Nächte
lang gewacht habe, ohne am Tage auch nur eine Ruhestunde gehabt zu haben.
Auf meinen entsetzten Ausruf: Aber Schwester Palatia, das können Sie doch
nicht aushalten, da müssen Sie ja selbst krank werden! antwortete mir dieses
junge Geschöpf, dem sogar die entstellende Haube nichts von seinem noch fast
kindlichen Reiz nehmen konnte: Im Grab ist Ruh — und ging mit diesen in
eigentümlich tiefen, fast möchte ich sagen mit Grabeston gesprochnen Worten
zur Tür hinaus, als fürchte sie, schon zu viel verraten zu haben.
Daß unsre Zeit doch noch nicht so „aufgeklärt" ist, wie man im allge¬
meinen annimmt, dafür scheint mir die Ansicht der Frau Gräuel-Ktthne in ihrem
Buche: „Die deutsche Frau um die Jahrhundertwende" ein Beispiel zu sein.
Denn diese sonst uicht zu unterschätzende Frau verlangt hier alles Ernstes Dinge,
die die Reformation schon abgetan hat. Sie sagt: „Einsame Frauen brauchen
nicht nur Arbeit, sondern auch Gemeinschaft. . . . Das Kloster aber ist eine
Genossenschaftsform, die der weiblichen Natur entspricht, das geht auch aus der
Unausrottbarkeit der Klöster hervor. Würden sie heute alle zerstört und die Er¬
innerung daran erlöscht, die nächste Generation würde sie neu erfinden---- Die
größte Schwierigkeit freiwilliger Gemeinschaft hat das Kloster überwunden: Ge¬
horsam ohne Zwangsmittel, und Einheit trotz Pflege der individuellen Anlagen.. - -
Im Kloster gibt es keine »Stiefkinder des Glücks«, sondern Frauen, die ihren
Ring am Finger mit einer heimlichen Seligkeit tragen, die viele Ehefrauen nie
kennen lernen. Aus dieser Seligkeit schöpfen sie die Kraft, die die Welt in Er¬
staunen setzt. Sie sind die einzigen wirklich und im eigentlichen Sinne des
Wortes »Emanzipierten«, d. h. der Hand des Mannes entrückten Sie sind
es auch, die jeden Dualismus ausgeschieden und ihr Leben einheitlich gestaltet
haben."
Unsre Diakonissinnen legen nun kein lebenslang bindendes Gelübde ab.
Die Oberin Frau von Wallmenich sagt von ihnen: „Es bleibt dem Gewissen
der Schwester überlassen, über Recht und Unrecht zu entscheiden — sie ist
nicht gehalten, die Leitung bedingungslos als Vertreter des göttlichen Willens
anzuerkennen; sie kann eignes Vermögen besitzen und verwalten. Dem Mutter¬
haus gegenüber nimmt sie die Stellung des Kindes einer großen Familie ein,
das von dieser vollständig, auch in Alter und Krankheit, versorgt wird, aber
auch mit dem Einsatz der ganzen Mast gehorsam deren Zwecken dient." Der
immer fühlbarer werdende Mangel an Diakonissen beweist aber, daß auch an
die Diakonissen Anforderungen an bedingungslosen Gehorsam, oft auch Aufgeben
des eignen Denkens gestellt werden, die sich mit dem Zeitgeist nicht mehr ver¬
tragen, und jeder ist doch nun einmal Kind seiner Zeit. Immerhin finden wir
in etwa siebzig Diakonissenhäusern etwa 10000 Schwestern tätig.
In der Absicht, eine harmonische Vereinigung von Freiheit und Gemein¬
schaft herzustellen, sind die jungem Schwesternschaften entstanden. Die wich¬
tigsten sind:
Die beiden zuletzt genannten Verbände stehn ganz unter weltlicher Leitung,
während bei den übrigen die geistliche Leitung überwiegt. Die königlich säch¬
sische Pflegeanstalt Hubertusburg hat den Ruhm, ihren Schwestern den höchsten
Bargehalt zu geben, nämlich einen von 450 Mark auf 720 Mark steigenden
Jahresgehalt für Pflegerinnen und einen solchen von 1050 Mark bis auf
1650 Mark für Oberpflegerinnen, beides nebst freier Station. Der Frage, wie
sich die Arbeit der Schwester mit deren Erholung und Muße vereinigen läßt,
haben besonders die Hamburgischen Staatskrankenanstalten ihr Augenmerk zu¬
gewandt. Bei ihnen finden wir Trennung von Tag- und Nachtdienst, ein¬
stündige Ruhepause nach dem Mittagessen, einmal wöchentlich einen freien Nach¬
mittag von zwei Uhr bis Mitternacht, jährlich im Durchschnitt einen Monat
Urlaub, der unentgeltlich in einem Ostseebad, wo der Verein ein Erholungs¬
haus besitzt, verlebt werden kann, und bei eintretender Dienstunfähigkeit eine
Pension von durchschnittlich 800 Mark, auch bis zu 1000 Mark.
Aber auch hier dauert die tägliche Dienstzeit der Schwester noch vierzehn
bis fünfzehn Stunden. Auch hier kommt nach der „Schwester" der „Mensch"
nicht mehr zu seinem Rechte. „Diese Einengung des Lebens, verbunden mit
der von Jahr zu Jahr sich bemerkbarer machenden Abspannung, führen zu einer
gewissen Stumpfheit, zu einem gewissen Schablonenhaften, müden Wesen, welches
so oft eine Folge der über die Kräfte gehenden Arbeit ist."
In den letzten Jahren haben sich nun freie Schwesternverbände gegründet,
die von den Reformgedanken für Erhöhung des Gehalts, mehr Freiheit und
Erholung, bessere Ausbildung zum Berufe beseelt sind. Ob hierdurch das Rich¬
tige gefunden ist, muß die Zeit ergeben. Jedenfalls ist es im Interesse der
leidenden Menschheit dringend zu wünschen, daß bald Mittel und Wege gefunden
werden, die Lebensbedingungen der Schwestern so zu gestalten, daß dieser Beruf,
wie Schwester Agnes Kcirll auf dem Internationalen Frauenkongresse in Berlin
sagte, „bald sein altes Ansehen bei den gebildeten Frauen aller Stände im
weitesten Umfange zurückgewinne, daß er ihnen nicht nur für eine Weile an¬
ziehend erscheine, nicht nur Durchgangsstatiou für wenige Jahre bleibe, sondern
ihnen zum gesegneten Lebensberufe werde, zum Heile der leidenden Menschheit."
Dazu ist aber zweierlei nötig, nämlich eine Wandlung der Ansichten über
die Pflegenden bei dem großen Publikum — und ein energisches Eingreifen
des Staats. Dieser müßte die Ausbildungsdauer der Schwestern einheitlich
festsetzen, die Prüfungen abnehmen, die Tracht seiner geprüften Schwestern vor
Nachahmung schützen und ihr Alter durch eine Pension sorgenfrei machen.
es setze meine Reise-Erzählungen fort und bin glücklich, alles an
Eure Excellenz richten zu dürfen, indem ich dadurch eine Veran¬
lassung mehr finde, bey allem was mir begegnet immer zunächst
an Sie zu denken, und Sie auf allen meinen Wegen immer gegen¬
wärtig zu haben (.^el. Donnerstag d. 8. ^ni^. .
Das Theater war seit 8. Tagen geschlossen; ich trug jedoch Verlangen
wenigstens das Innere des Hauses zu sehen. Der gute Lsutder führte mich
hin und der Cassler war gefällig genug Alles aufzuschließen. Zunächst gingen
wir uns im Parterre und in der Fürstlichen Loge umzusehen. Der Cassler er¬
zählte daß das Haus im äußersten Falle 950. Menschen fasse, und daß die
Einnahme an solchen Abenden zwischen 5. und 6. Hundert Thaler sich belaufe,
v- h. bey aufgehobenem Abonnement. Im Abonnement aber sey die Einnahme
höchstens 250. Thaler. Man erzählte ferner, daß der Fürst*) sehr viel auf eine
prächtige Garderobe halte und daß er, um den ganzen Kostenaufwand zu decken,
jährlich gegen 50,000. rthlr. zuschieße. Dann gingen wir auf die Bühne, die
eine sehr große Tiefe hatte. Der Cassler erzählte daß bey der Oper Titus **)
160. Mann zu Fuß und 60. Mann zu Pferde auf der Bühne einen Parade¬
marsch gemacht. Zehn Ankleidezimmer schloß er auf und man hatte mit Freuden
zu bemerken daß für die Bequemlichkeit der Schauspieler sehr viel geschehen,
während man bey dem neuen Hause in Weimar *) hieran fast gar nicht gedacht
hat. Außer den Ankleidezimmern zeigte man mir ein Sprechzimmer, worin man
sich durcheinander in den Zwischen Scenen aufhalte. In diesem Zimmer zählte
ich 8. mit grünem Dammast beschlagene Cancipee, auch stand ein Clavier darin,
denn dieses Zimmer wird zugleich zu kleinen Singproben benutzt. Die Ankleide¬
zimmer sind jedes zu 4. Personen.
Wache gehalten wird im Theater Tag und Nacht. Alle Stunde Nachts
muß ein Wächter im ganzen Theater die Runde machen. Um nun zu wissen
daß er zu jeder Stunde an jeder Stelle nachgesehen, so stehen an allen den
Plätzen die er zu besuchen hat sogenannte Wachtuhren die als Maschinen eine
lebendige Controlle führen. Von der Einrichtung dieser Uhren will ich mündlich
erzählen.
Die Decorationen gehen nicht umgerollt in die Höhe, sondern sie werden
zwey drehmal zusammengeschlagen. Lsntlisr sagte daß dieses Zusammenschlagen
den Decorationen nicht allein gar nichts schade, sondern daß es sie sogar vor
Staub und Qualm bewahre. Die Decorationen aber umgerollt in die Höhe zu
ziehen habe gar keinen Nutzen, sondern viele Nachtheile. Ganze Magazinen von
Decorationen zeigte man mir, die sich durch viele Jahre gehäuft haben. Von
den veralteten benutzt man hin und wieder die Leinewand.
Soviel vom Theater. Auf der Straße begegnete uns die kleine Roland**)
die ich nach der Beschreibung schon von Ferne erkannte. Ich richtete die auf¬
getragenen Grüße aus, sie war sehr freundlich, besonders schien der Dr. Lehnt?
in ihrem liebenswürdigen Andenken zu leben, sie erkundigte sich nach ihm auf
das Angelegentlichste. Sie sagte daß sie in 8. Tagen nach Hamburg reise um
dort Gastrollen zu geben; ich erwiederte daß ich vielleicht so glücklich seyn
könne sie dort zu sehen und zu hören, indem ich auch die Absicht habe/ diese
schöne Stadt zu besuchen. Wir schieden mit dem Wunsche eines baldigen
Wiedersehens.
Lond-nsrs Frau war abwesend in einem Bade, ich begleitete ihn nach seinem
Hause um Mittags mit ihm zu essen. Ich fand seine Zimmer wohl eingerichtet,
die Wände waren mit trefflichen Kupferstichen unter Glas und Rahmen be¬
hängen, so viel ihrer nur Platz finden konnten. Auch der berühmte Kupfer¬
stich von IiouM fehlte nicht. Freylich, sagte er, habe ich in die Sachen mehr
Geld gesteckt als billig, allein es gehört zu meinem Leben. Bey Tisch erzählte
er mir wie gerne er in >Veiing.r gewesen, besonders weil dort alles so bey ein¬
ander sey, und er sich in jedem Fall immer leicht habe Rath holen können. Die
Weimarische Bibliothek vermisse er sehr. Auch fehle es an Umgang mit geist¬
reichen Männern, er fühle sich hier sehr einsam. Über das Theater war er
voller Klagen. Die Idee für das Theater zu wirken habe ich aufgegeben,
sagte er, es ist ein vielköpfiges Wesen das nicht weiß wohin und das man
seinem Schicksale überlassen muß. Ich arbeite jetzt nur bloß, weil ich davon
leben muß, und mache es so wie man es haben will. Ich muß nun leider
auch bunte Decorationen malen, und seitdem Lxor in I,hio2iA gewesen ist, sind
brillante Farben nicht mehr genug, sondern ich muß nun auch das sogenannte
Folio mit anwenden, weil H. 8xc>r in Lsiv^iA gesehen hat daß das noch mehr
Effect macht. Bey der Vorstellung überschreit denn freylich eine solche Deco-
ration alle Figuren, und es ist als wenn man zur Guitarre die Trommel
schlägt; aber ich muß es machen und man muß das Publicum solange damit
füttern, bis es vielleicht nach dem Besseren zurückverlangt. 6ropius *) in I^eiMK
nehme bey diesem Verkehrten Geschmack des Publicums und dem übertriebenen
Beyfall den seine bunten Sachen erhalten, eine ganz verkehrte Richtung und
könne als junger im Tage befangener Mensch ganz zu Grunde gehen. Auch
von list war die Rede, der im Gegentheil zu weit gehe und den Shakspeare
ohne alle Decorationen aufgeführt haben wolle. SoliillKel**) in Lsrlin wurde
von Löntdsr auf das Höchste gelobt, in der Zeichnung übertreffe ihn keiner,
und wenn jemand seine Vorzüge mit dem Cholorit der Italiener vereinigen
könne, so sey das Vollkommenste zu erwarten. Er lobte an SoKiicksl den
immer strengen reinen Styl, dagegen tadelte er an den Italienern, daß sie alles
durcheinander mengen.
Auch von den hiesigen Schauspielern war viel die Rede und wenig zu
loben. Es ist kein Einziger, sagte Leutder, der gehörig reden kann. — Jeder
spricht wie ihm der Schnabel gewachsen ist, es sind lauter Naturalisten, und
niemand will lernen. Auf die Goethsche Schule schimpfen alle, weil sie ihnen
unbequem ist, und weil sie zu etwas Höherem machen will, wozu man nicht
ohne Fleiß und Studium gelangen kann. Dabey sieht man denn daß jede
Maxime, die die Faulheit hinter sich hat, unüberwindlich ist. list hat in dieser
Hinsicht auch mehr gesündiget als er gut machen kann, indem er verschiedentlich
Ihre Schule verdächtig zu machen gesucht hat. Lsutluzr gedachte hiebey des
hohen Genusses, den er in V^hin-u' bey der Aufführung von guten Tragödien
gehabt, und die er bey keinem anderen Theater wieder in solcher Vollkommenheit
gefunden habe.
Nach Tische zeigte LsiMgr mir sein Portefeulle mit vielen neuen Ent¬
würfen zu Decorationen, worunter viele schöne Sachen waren und wovon wir
in °W6imiU' immer noch einige gebrauchen könnten. Für diesen Sommer ist
LsutKöi- nach Li-Ärmsciliveig' verschrieben.
Von der Buhne dieser Stadt erzählte L, daß XlinMirmnn jetzt seine Noth
habe, indem das Theater durch die Unerfahrenheit des jungen Fürsten*) ganz
in Verfall gerathen. Vor dem Antritt seiner Negierung nämlich habe dieser
eine große Reise durch Deutschland gemacht, und sich bey den verschiedenen
Theatern die besten Mitglieder bemerkt, um sie demnächst für sein Theater in
Lr-z.unsoln?siA zu engagiren. Bey seinem Regierungsantritt habe er sodann das
sämmtliche alte Personale aufgelöset und ülinZeumnii auf Reisen geschickt um
jene ausgesuchten Künstler zu engagiren. Allein dieser habe von 10. Gehöften
und Gewünschten kaum Einen bekommen, und so sey denn das LrauiiselivßiMr
Theater jetzt in großer Noth. L. redete mir zu, bey meiner Rückreise über
Lrs,unseIi>vöiA zu gehen und XlinASirmnn zu besuchen.
In <Ü3886l der Kurfürst hat sich ein prächtiges Pallcns bauen lassen, wobey
die Bemerkung zu machen war, daß die Neigungen der Fürsten den reinen Styl
der Baumeister verderben.
Nach Tische begleitete Lsutlisr mich den Weg nach der Wilhelmshöhe.
Wir sprachen viel von Ihrer Farbenlehre und LörMer sagte mir, daß er für
seine Kunst viel Nutzen daraus gezogen. Er bemerkte daß das Buch sehr selteu
seyn müsse, denn er habe es noch in keiner Bibliothek finden können. Vielleicht
unterdrücken es die Gegner. Aber doch ist von keinem Buche mehr die Rede
als von der Farbenlehre. Jedermann spricht davon aber niemand hat es ge¬
lesen. Ich fühle die Nothwendigkeit mich näher von diesem Gegenstande zu
unterrichten, denn man ist genöthiget darüber zu reden. Der preußische Lieutenant
v. l^sdöi'F der nicht wußte daß ich Eurer Excellenz persönlich bekannt sey,
bekannte sich mir als einen Anhänger der ^svtomschen Lehre. Doch wußte er nicht
viel zu sagen, und mußte zugeben, daß wenn selbst die Gegner, Ihrer Lehre
den practischen Nutzen für die Künstler einräumen, sie dadurch sich als die
schwächere Parthey bekennen. Denn was soll eine Lehre die keinen practischen
Nutzen hat. In Gesprächen über Ihre Farbenlehre ging ich also mit Lsntllkr
den Weg nach der Wilhelmshöhe. Die Hitze war sehr groß. Ich bemerkte daß
sich ein Gewitter zusammenziehe. Ich rathe zum Rückwege, LsiMer folgt. Noch
vor der Stadt überrascht uns das Gewitter. Wir treten in ein Gartenhaus
und setzen unsere Gespräche fort. Mit Lsutusrir zu reden gewährt hohe»
Genuß, ich habe aus seinem Munde nie etwas Unbedeutendes und Verkehrtes
gehört. Um 5. sind wir in der Stadt zurück. Ich gehe nach meinem Gast-
Hofe um den ersten Brief an Eure Excellenz zu schreiben. Leutdsr geht nach
Hause, ich verspreche ihn noch am Abend zu besuchen. Mein Reisegeführte
Le. v. I^svsrZ reiset ab nach vüsssläork. Scherze mit ihm über schlechten
Wein. Dreh Münner-Wein, Wende-Wein, Kinder-Wein, Deliquenten-Wein,
welche Späße ich Ihrem Herrn Sohn mündlich erzählen will. Abends bey
Lsutder. Er will mich überreden, bey meiner Rückreise 3. Wochen bey ihm
in Lasset zu verweilen; ich schlage ab, weil ich keine Zeit habe. Am nächsten
Morgen begleitet Zentner mich zur Post. Um 10. Uhr mit der Diligence nach
Hannover. Noch aus dem Wagen winke ich Beninern ein Lebewohl zu.
In der Diligence nach Hannover hatte ich drey Reisegefährten. Aus dem
Postwagen reiset jeder InevAniw. Jeder ist dem Anderen ein Räthsel das er
zu lösen sucht. Mir gegenüber saß ein junger Mensch, als der Oeconomie be¬
flissener nach Lrannsonveix gehend. Er war nur nicht ganz unbekannt denn
er hatte die Reise von Lisenaen nach Lasset mit mir gemacht, auch im selbigen
Gasthofe mit mir logirt. Er mochte 19. Jahr alt seyn, war blond, blauer
Augen, blühenden Gesichts. Er trug einen braunen Oberrock, graue Tuch-Weste
und ein buntes Halstuch. Seine Sprache war langsam und schwerfällig. Was
er sagte war unbedeutend, ich hatte ihn bisher nicht sonderlich beachtet. Auf
dem Wege zwischen Münden und Göttingen aber gewann er an Interesse, indem
er uns seine Geschichte erzählte. Im Jahre 1811. nämlich, bey der Explosion
der Pulverwagen in Wsenaon, hatte sich der erste Wagen vor dem Hause seiner
Eltern entzündet und das Gebende zusammengeworfen. Er sey damals 3. Jahr
alt gewesen und mit einem 5. jährigen Bruder zu Bette gelegen. Die Gewalt
des Pulvers habe sie mit ihrem Bette durch die Wand geworfen, so seyen sie
von der Magd gerettet. Jedoch gehe sein Bruder jetzt noch an zwey Krücken.
Er selbst habe erst in seinem Ideen Jahre sprechen und hören gelernt, woher
denn seine schwere Sprache rührte. Die beyden kleinen Finger seiner Hände
waren umgedreht. — Vater und Mutter und ein älterer Bruder seyen verbrannt.
Von den Eltern habe man im Schütte noch die Hände gefunden. Erinnerung
jenes Schreckens hatte er nicht. Auf dem Lande war er erzogen. Er sprach
von seinem Unglück ohne alle Bewegung, so wie man jedes gleichgültige Factum
erzählt. Wenn ich nicht irre war sein Nahme IZinxronins.
Ihm zur Seite saß ein feiner Mann, mittler Größe, seinem Alter nach in
den Vierziger, runden blühenden Gesichts, kurz geschnittenen Haaren und Backen¬
bart, in feinem schwarzen Frack und Hosen, seiner Haltung nach konnte man
ihn für einen Hannoveraner halten der lange in England gewesen. Er trug
ein Ordensband im Knopfloch. Man hörte daß er lange in England gelebt,
in I^onZon, und dahin zurückgehe. Er war wohl unterrichtet und konnte von
Allem reden. Er hatte auf dem Continent große Reisen gemacht und mit
Pferden gehandelt. Der Schirrmeister titnlirte ihn Herr llentsnant. Er hatte
aber nichts militairisches an sich. Seine Persönlichkeit war nicht bedeutend.
Lir kalter Loott und Nooro nannte er seine nahen Bekannten und Freunde.
Doch traute ich dieser Bekanntschaft nicht recht. Auch I^ora L^ron wollte er
gesehen haben. Er schalt auf L^rons schlechten Character. Ich ließ ihn reden.
Diesem gegenüber, an meiner Seite, saß ein junger Mann von sehr be¬
deutender Persönlichkeit. Seinem Alter nach in den zwanzigen. Groß von
Wuchs, alle seine Bewegungen waren grandios und edel. Sein Gesicht war
bedeutend, ohne genial zu seyn. Seine Züge waren stumpf, entschiedene Biederkeit
war der Ausdruck seines Gesichts. Seine Gesichtsfarbe war gelb. Er trug
einen kleinen schwarzen Schnurrbart wie der König von Preußen. Als er die
Mütze abnahm, sah ich eine sehr edle hohe Stirn. Sein Haar war schwarz
glänzend. Seine Kleidung war grau, bestehend in einem polnischen Oberrock
und Pantalons. Er hatte starke gesunde Zähne. Die Tabackspfeife ließ er nie
kalt werden. Seine Hände waren schlank und fein. Der Hammer an seinem
Stock bezeichnete ihn als einen Bergmann, wenigstens als einen Mineralogen
und das schien er auch zu seyn. Er hatte viele Reisen gemacht und sprach sehr
gut über alle Gegenstünde. Seine Reden verriethen eine gute Familie, gute
Erziehung und sehr vielseitige Ausbildung. Als Mineraloge hatte er gute geo¬
graphische Kenntnisse. Daran schlössen sich die geschichtlichen und politischen.
Ein großes Gedächtniß schien er zu haben. Er nahm seinem Character nach
alles von der moralischen Seite, doch mehr im Großen. Urtheil hatte er weniger.
Er hatte ein treffliches Organ und sprach sehr wohl. Doch merkte man daß
er Gehörtes nachrede. Ich war meistentheils stumm und hörte seinen Gesprächen
mit dem reisenden Aentleillan zu. Von Napoleon, Lord L^ron und Ihnen war
wiederholt die Rede als drey großen Interessen des Tages. Ich that als wüßte
ich von Ihnen wenig. Ich fragte ob Sie in der Mineralogie viel gethan. Er
sagte Sie seyen ein großer Liebhaber von Steinen und hätten bey Ihrer Schweizer¬
reise 5. Frachtwagen mit Mineralien sich nach Msim^r nachfahren lassen. Ich
lachte und that als ob ich es glaubte. Daun sprach er von einigen Ihrer
poetischen Werke mit großer Bewunderung, besonders lieb waren ihm Ihre
.Leinen aus Italien, wie er Ihre Elegien nannte. Von Ihrer Vielseitigkeit
wollte er nicht gutes reden, dagegen rühmte er Klopstock und Schiller. In
Klopstock sagte er finden Sie die religiöse Erhebung ausgesprochen, in
Schiller die moralische Freyheit, allein was in Goethe? Ich sagte: die
Welt! — Er stutzte und sagte nach: die Welt. — Es entstand eine große
Pause. Ich war wieder stumm wie vorher, er setzte sodann seine Gespräche
mit dem feinen Lieutenant und Pferdehändler und Freunde von MMer 8<zott
und Noors fort. Mir schienen sie nicht recht mehr zu trauen.
Als schöne Natur und Landschaft entzückte mich der Anblick von Numa<W,
wo die Werra und Fulda zusammenfließen, und wo man die ersten Weserschiffe
sieht. Die sanftgeformten Berge sind mit den frischesten Buchwäldern bedeckt.
Es giebt keinen wohlthätigem Anblick als diese schöne Gegend bey Nünäsn.
Nach 5. Uhr waren wir in 6öttmMn. Eine halbe Stunde verweilte die Post.
Jemanden zu besuchen fehlte es an Neigung und Zeit. Um 6. Uhr fuhren wir
Wieder zu vöttiuZen hinaus. Die Postillone fuhren den langsamsten Schritt,
entschädigten aber dafür durch ein so treffliches Hornbläser, wie ich es von
solchen Leuten nie gehört habe. Der Postillon des Beywagens blies die zweyte
Stimme und beyde trafen immer sehr gut zusammen. Der Jungfernkranz aus
dem Freyschütz schien ihre Lieblingsmelodie zu seyn. Und so wäre denn 'Weder
populär genug da ihn sogar die Postillone blasen. Alle Leute kamen zu Thüren
und hörten zu. Als wir nachher durch Wedncle und Loveäsn*) fuhren, stimmten
die Postillone ihre Melodieen wieder an.
In der Nähe von Mrätreiin rechts von der Chaussee wo man das weite
Thal hat, sah man in den Weiden an der Leine einige Hundert Pferde grasen.
Der Abend war sehr schön. Vor zwey Jahren fuhr ich diesen Weg in dem-
selbigen Wagen zur selbigen Stunde. Damals erquickte mich die Mondsichel,
und auch sie stand wieder heute grade so wie vor zwey Jahren. Das war mir
ein erwünschtes Zeichen, denn ich hatte in Weimar darauf gehoft, daß es so
seyn möchte.
Nachts 1. Uhr waren wir in NndeeK^), 500. Gebende lagen in Asche, man
sah in der Dämmerung der Nacht die gewöhnlichen Trümmer ragen, halbe
Schornsteine und halbes Gemäuer.
Am nächsten Mittag, Sonnabend den 10. ^uno, sahen wir die Stadt
Hannover im Sonnenscheine vor uns liegen. Ich freute mich über die herrlichen
Kornfelder des Calenberger Landes. Zwey Stunden vor Hannover hat man
alle Berge die den Reisenden von Weimar her begleiten, hinter sich, es beginnt
die große Ebene bis nach HaiuizurZ und die See. In der Fläche vor Nannover
nach 6öttinAen zu ist der Boden schwer und zum Wciizcnbau wohl geeignet. Gleich
hinter Hannover nach Harndur^ zu beginnet der Sand der Ilünelzur^er Herde.
Bald nach 1. Uhr fuhr der Postwagen in die Straßen der Stadt Hannover
herein. fDie dreizehn folgenden Zeilen des Briefes sind durch Streichung ganz
unleserlich gemacht^ Das Ziel meiner Reise war aber dießmal nicht Hannover
sondern LleeKecle, östlich von ImnednrA an der Elbe, 19. Meilen von Hannover,
und es war verabredet, daß ein Bruder meiner Geliebten mich begleiten solle.
^Wiederum sechs Zeilen Streichungen.^ Ich verwendete den Nachmittag zur
Erholung und Vorbereitung zur ferneren Reise. Besuche machte ich bey niemanden.
Nach einem Netourwcigcn nach Lslls sahen wir uns um und fanden ihn sogleich
wie wir ihn nur wünschten.
Am nächsten Morgen, Sonntag d. 11. ^uno, fuhren wir ab. Wir hatten
bald mit dem Sande der I^ünewr^or Heide zu kämpfen, worin die Pferde ein
mühsames Ziehen hatten. Der 6. Meilen lange Weg von Hannover bis LeUe,
ist durchaus sandig, und, obgleich soviel befahren wie nur irgend ein Weg in
der Welt, doch erst theilweise chcmssirt. In diesen noch umgebauten sandigen
Stellen trösten jedoch die zu beyden Seiten des Weges angehäuften zum künf¬
tigen Chausseebau bestimmten Kieselsteine, die in der Heide gesammelt und zu¬
sammengefahren worden. Die bereits gebauten Stellen der Chaussee waren
vortrefflich und gaben zu der Bemerkung Anlaß, daß kein besseres Material
hätte benutzt werden können, als wie es eben die nächste Gegend biethet. Dieß
sind große Kieselsteine die in der Haide zerstreut liegen. Diese, in ihrer ganzen
Größe hingelegt, geben in dem tiefen Sande eine feste Unterlage. Von leichtem
Kies und Great wird ein Überzug gemacht und so fährt man denn auf der
festesten ebensten Chaussee, die fast gar keiner Pflege bedarf. Chausseen von
zerschlagenen Kalksteinen würde man in dieser Gegend gar nicht gebrauchen
können, sie würden in dem Sande nicht Stich halten.
Nachmittags 3. Uhr waren wir in veUs. Wir accordirten hier mit einem
neuen Mieths kutsch er. Nachdem wir gegessen und getrunken hatten machte ich
einen Besuch bey Fräulein von ^Vsrtoll*), wie ich dem Kanzler versprochen.
Es ist diese Dame eine sehr vertraute Freundin von Gräfin (üarolins, und da
in solchem Fall eine Verwandschaft der Gemüther zu erwarten war, so ging
ich mit Freuden hin. Auf das Herzlichste wurde ich empfangen, sie sagte es
hätte einer Empfehlung nicht bedurft, sie kenne mich schon. Auch meine Freunde
in Hannover waren ihr nicht unbekannt. Von V/siinar mußte ich ihr viel er¬
zählen. Sie sagte mir von zwey jungen Freunden die neulich das Glück gehabt
Eure Excellenz zu sehen. Den einen nannte sie Nuri^). Wir sprachen viel
von trefflichen Menschen und Büchern, und ich konnte ihr manches Neue sagen,
und manche ihrer Meinungen berichtigen. Eine Stunde verging sehr schnell.
Als ich in den Gasthof zurückkehrte, wartete der Wagen, wir stiegen ein und
fuhren in der Kühle des Abends noch einige Meilen tiefer in die Lüneburger
Heide hinein, wo wir übernachteten.
Hier schließe ich heute, wiewohl ungern. Um in meiner Reiseerzählung
nicht vorzugreifen, sage ich nicht wo ich bin und wo ich dieses schreibe. Ich
habe diese Blätter schon eine Weile mit mir herumgeschleppt in Hoffnung sie
fortzusetzen. Allein ich lebte zu wohl und zu bedeutend in der Gegenwart, um
des Vergangenen mit Ruhe und Neigung gedenken zu können. Ich wünsche
mir daher bald wieder einige langweilige Stunden, damit ich wieder zum
Schreiben komme. Mehrere Nächte hat mir von Ihnen geträumt und ich habe
Sie in aller Lebendigkeit gesehen. Ich bitte um die herzlichsten Grüße an alle
Ihre lieben Ihrigen, und um die Fortdauer Ihrer Gewogenheit. Ich habe in
den letzten Tagen an mir bemerkt, daß ich durch Ihre Nähe mehr gelernt habe
als ich selbst wußte. Es kommt mir nicht leicht etwas vor das ich nicht zurecht¬
zulegen und zu behandeln wüßte. Leben Sie recht wohl! Ich hoffe bey meiner
Rückkunft die Helena vollendet zu finden. Mit höchster Verehrung und Liebe
Betrachten wir einzelne Gegenstände dieser beiden Briefe näher, zunächst
den Rat, den Goethe dem jungen Preller (S. 28) auf die Reise mitgibt! „Sie
kommen in ein Land," das sind nach Prellers Aufzeichnung, die Roquette
mitteilt, Goethes damalige Abschiedsworte, „wo die Schönheit deutlicher, ver¬
ständlicher ist, als bei uns." Das Bild der eignen italienischen Reise, die er
vor vier Jahrzehnten angetreten hatte, mochte dem Greise vorschweben. Auch
er hatte einst im sonnigen Süden künstlerische Studien gemacht und selbst den
Griffel geführt, bis ihm die Erkenntnis aufging, daß er für den Beruf des
ausübenden Künstlers nicht geschaffen sei. Die Kunst der Poussins und des
Claude Lorrain, die er, wie aus vielen seiner Briefe und Gespräche erkennbar
ist, hoch verehrte und jetzt dem jungen Freunde und werdenden Künstler als
Vorbilder hinstellte, hatte er damals in Italien würdigen lernen. „Die großen
Szenen der Natur, schrieb er am 25. Januar 1788 aus Rom dem Herzog, hatten
mein Gemüt ausgeweidet und alle Falten herausgeglüttet. Von der Würde der
Landschaftsmalerei hatte ich einen Begriff erlangt; ich sah Claude und Poussin
mit andern Augen."
Wie getreulich Preller dem Rate Goethes gefolgt ist, zeigen seine Briefe
aus Rom, wo er in der Tat besonders die Werke der Poussins, aber auch des
Claude Lorrain, neben denen Tizians seinen Studien zugrunde gelegt hat. Er
schreibt z. B. am 8. Februar 1830 aus Rom an Goethe*): „Meine Führer siud
die mir so werthen Poussins, deren ernster Gedanke in ihren Kunstwerken sie
mir fast höher stellt, als alles, was ich in der Landschaftsmalerei kenne. Sie
sind es, die mich täglich die Natur mehr verstehen lehren, und unter ihrer
Leitung werde ich mich bestreben einer höhern weitern Ausbildung entgegen¬
zugehen." Auf eine frühere ähnliche Äußerung Prellers hat Goethe im Dezember
1829 geantwortet*): „Sie verschaffen mir, mein Werthester Herr Preller, ein
wahrhaftes Vergnügen, wenn Sie mir Ihre Verehrung für die beiden Poussins
im Landschaftsfache so treulich ausdrücken."
Auch der andre Rat Goethes, einen landschaftlichen Gegenstand nicht einzeln
herauszuzeichnen, sondern ihn in einer passenden Umgebung darzustellen, damit
ein kleines Ganze entstehe, ist aus Goethes eigner Erfahrung geflossen. Erwähnt
er doch schon zu Anfang des sechsten Buches von „Dichtung und Wahrheit"
von den Zeichenversuchen seiner Knabenzeit, daß er die Gegenstände in der
Natur nur als Ganzes auffassen konnte und nicht die „Fähigkeit eines Zeichners
fürs Einzelne" hatte.
Diese Ratschläge Goethes beim Abschiede hat Preller in ähnlicher Fassung
in seine Tagebücher eingetragen, aus denen sie Roquette mitteilt. Auch im
dritten Bande der „Gespräche" bringt Eckermann unterm 5. Juni 1826 sehr aus¬
führlich Goethes Abschiedsworte an Preller (Biedermann verlegt dieses Gespräch
fälschlich in das Jahr 1825), und dieser hat die Genauigkeit des Eckermcmnschen
Berichts nach vielen Jahren bei dessen Erscheinen ausdrücklich anerkannt und
seine Freude darüber bezeugt.
Eckermann leitet die Unterhaltung Goethes mit Preller mit der Bemerkung
ein, Goethe habe sie ihm am 5. Juni bei seinem eignen Abschiedsbesuche be¬
richtet. Da erscheint es seltsam und überflüssig, daß er wenig Tage später
im Briefe an Goethe diesem den Inhalt jenes Gesprächs mit so breiter Aus¬
führlichkeit wiederholt. Sollte Eckermann nicht vielmehr erst auf der Reise aus
Prellers Munde Goethes Ratschläge an diesen vernommen und sich dann hierüber
als über etwas ihm Neues gegen Goethe brieflich ausgesprochen haben? Von
dem Texte in den „Gesprächen" stimmen viele Wendungen des zweiten und des
sechsten Absatzes so wortgetreu mit der Fassung des Briefes überein, daß man
annehmen möchte, dieser habe bei der Zusammenstellung des dritten Bandes der
„Gespräche" Eckermann im Original vorgelegen. Noch wahrscheinlicher ist die
Vermutung, daß Eckermann den von Preller gehörten Bericht über dessen Ab¬
schiedsbesuch bei Goethe zunächst in sein Neisetagebuch eingetragen und aus
diesem sowohl einen Auszug für seinen Brief an Goethe als auch für den
erwähnten Abschnitt im dritten Bande der „Gespräche" geschöpft hat.
Bei dieser Annahme, deren Nichtigkeit sich nicht beweisen läßt, da die
Tagebücher Eckermanns verbrannt sind, bleibt eine kleine Ungenauigkeit, was die
einleitende Angabe der „Gespräche" anlangt. Doch sie erweckt keine weitern Be¬
denken. Denn Eckermann hat in diesen nachträglich verfaßten dritten Band der
„Gespräche", was er selbst in seiner Vorrede erwähnt, und was aus den kürzlich
von Burkhardt gesondert herausgegebnen Unterhaltungen Goethes mit Soret
noch deutlicher hervorgeht, auch aus dem Tagebuche Sorets vielerlei auf¬
genommen und verarbeitet, ohne unmittelbar und mittelbar gehörte Aussprüche
Goethes immer scharf zu trennen. Warum soll er also nicht auch einen
Prellerschen Bericht in den „Gesprächen" wiedergegeben haben?
Unter dem nicht näher bezeichneten „berühmten Kupferstich von Longhi"
(S. 130) ist zweifellos ein Werk zu verstehn, dessen Kenntnis Eckermann bei
Goethe voraussetzt. Es wird sich darum um den Kupferstich „Die Ver¬
mählung der heiligen Jungfrau mit Se. Joseph" (SxosÄli^lo) handeln, den
der Mailänder Künstler Giuseppe Longhi (1766 bis 1831) nach dem Bilde
Raffaels, das in der Brera zu Mailand hängt, hergestellt hat. Ein Exemplar
dieses Werkes erhielt Goethe am 7. Februar 1821 vom Großherzog. Als
Kupferstich und als Zeugnis Raffaelscher Kunst erregte es sein höchstes Interesse,
was seine Äußerung in den „Tag- und Jahresheften" beweist: „Nun aber
brachte die Kupferstecherkunst nach langem Erwarten uns ein Blatt von der
größten Bedeutung. Hier wird uns in schönster Klarheit und Reinlichkeit ein
Bild Raphaels überliefert, aus den schönsten Jünglingsjahren; hier ist bereits
so viel geleistet als noch zu hoffen. Die lange Zeit, welche der überliefernde
Kupferstecher Longhi hierauf verwendet, muß als glücklich zugebracht angesehen
werden, so daß man ihm den dabei errungenen Gewinn gar wohl gönnen mag."
Aus Goethes Tagebuche vom Jahre 1821 geht hervor, daß er dieses Bild
gründlich studiert und mit Heinrich Meyer und Riemer eingehend besprochen hat.
Auch dem Kanzler von Müller zeigte er es sofort, wie dieser in seinen „Unter¬
haltungen" erwähnt. Meyer übernahm es dann, eine Beurteilung des Stiches
zu schreiben, die in „Über Kunst und Altertum" (1821, Bd. 3, Heft 2, S. 137 ff.)
erschienen und auch in seine „Kleinen Schriften zur Kunst" aufgenommen
worden ist.
Im Frühlinge 1826 trat Raffaels Werk LpoZ^W, das sich jetzt in den
meisten größern Kunstgeschichten abgebildet findet, Goethe wiederum nahe. Karl
August schickte ihm am 21. April 1826 ein farbiges Exemplar mit den Zeilen:
„Laß Dir von Meyer die LxosÄli^' illuminiert zeigen. Ich habe sie so eben
von Mayland bekommen." Des Dichters'Interesse an dieser Abbildung ist durch
sein Antwortschreiben an Karl August und durch sein Tagebuch bezeugt.
Bei einem seiner ersten Besuche erhält Eckermann von Goethe die Hefte
„Über Kunst und Altertum" zum Durcharbeiten. Auch erzählt er („Gespräche"
am 4. Januar 1824), daß Goethe sich sehr oft mit Naffael beschäftigt und
ihn an der Hand seiner Raffaelmappe in die Kunst dieses Meisters einführt.
Wir werden darum auch Eckermanns Bekanntschaft und Longhis Kupferstich des
Lxosgliöio als sicher annehmen dürfen und erhalten zugleich einen Beleg für
jene Stellen unsrer beiden Briefe, an denen er hervorhebt, daß er jetzt mehr
als früher auf die Kunstbestrebungen gerichtet sei, und dankbar anerkennt, wie¬
viel er durch Goethes Nähe gelernt habe.
Das Verhältnis Goethes zu Ludwig Tieck und zur Schauspielkunst wird
an zwei Stellen der Briefe (S. 131) gestreift. Über Tiecks Stellung zu ihm
hat sich Goethe gegen Eckermann („Gespräche" am 30. Mürz 1824) in nicht
unbedingt tobender Weise geäußert: „Ich bin Tieck herzlich gut, und er ist
auch im ganzen sehr gut gegen mich gesinnt; allein es ist in seinem Verhältniß
zu mir doch etwas, wie es nicht sein sollte. Und zwar bin ich daran nicht
schuld, und er ist es auch nicht, sondern es hat seine Ursachen anderer Art."
Goethe führt dann diese schiefe Stellung auf den Einfluß der beiden Schlegel
zurück, die, um ihn selbst herabzudrücken, Tieck geräuschvoll auf den Schild er¬
hoben hätten. Aber es ist doch ein tieferer Gegensatz zwischen beiden Dichtern
wahrzunehmen, und dieser ist bei Tieck wohl darauf zurückzuführen, daß er die
Empfindung hatte, gegen den Größern und Mächtigern nicht nach Gebühr auf¬
kommen zu können. Einzelne Gegensätze zwischen beider Ansichten über das
Theater werden auch in den Briefen Eckermamis berührt. Tieck hielt es für
möglich und strebte danach, eine Bühne zu errichten, die sich architektonisch
den einfachen Verhältnissen der Shakespearischen Bühne nähere, wogegen sich
Goethe in der Praxis als Theaterleiter und auch in seinem Aufsatze „Shake¬
speare und kein Ende" wandte. Gelegentlich fällte andrerseits Tieck absprechende
Urteile über Goethes Auffassung der Schauspielkunst. So tadelt er in dem
1826 erschienenen zweiten Bündchen seiner „Dramaturgischen Blätter" in einem
Aufsatze „Bemerkungen. Einfülle und Grillen über das deutsche Theater" die
allzu langsame Deklamation Pius Alexander Wolffs, der einer der fähigsten
Schüler Goethes und geradezu ein Vertreter seiner Schule war, bestreitet
ebenda, daß sich der dramatische Vortrag unter allgemeine Regeln bringen lasse,
und verwirft überhaupt dramatische Schulen; denn diese könnten wohl Unarten
bannen, aber das Rechte, Größte müßte immer dem Künstler selbst anheim¬
gestellt werden. Auch warnt er davor, die Versmaße allzusehr hören zu lassen.
Wie sehr sich solche und ähnliche Äußerungen Tiecks gegen Goethes An¬
schauungen und Schule richten, kann hier nicht im einzelnen ausgeführt werden;
ein Hinweis auf I. Wahles Werk „Das Weimarische Hoftheater unter Goethes
Leitung" (Schriften der Goethe-Gesellschaft Bd. VI) und auf von Bergers Vor¬
trag „Über Goethes Verhältnis zur Schauspielkunst" (Goethe-Jahrbuch Bd. XXV)
möge genügen.
In seinem Widerspruche gegen die weimarische Deklamationsweise hat Tieck
übrigens fast alle bedeutendem Schauspieler jener Zeit und auch die meisten
deutschen Bühnen auf seiner Seite gehabt. Von den Schauspielern des Kasseler
Hoftheaters bezeugt dies Eckermann in seinem zweiten Briefe ausdrücklich.
Goethe war Tiecks Standpunkt zur Schauspielkunst damals zweifellos
bekannt. Denn das zweite Bändchen der „Dramaturgischen Blätter" war kurz
vorher, am 13. April 1826, in seine Hände gelangt. Auch Eckermann war
mit dem Gegenstande wohl vertraut. Hatte er doch schon 1824 von Goethe
die Aufgabe erhalten, die Aufzeichnungen zweier Schauspieler seiner Schule zu
bearbeiten, aus denen er die „Regeln für Schauspieler" zusammenstellte. Das
unverminderte Interesse Goethes am Theater bezeugen uns Eckermanns aus¬
führliche Berichte über die Kasseler Theaterverhältnisse.
Können die Explosion der Pulverwagen in Eisenach, die am 1. Sep¬
tember 1810 stattgefunden hat (S. 133), und das durch sie verursachte Schicksal
des einen Reisegefährten Eckermanns, den dieser Empronius nennt, an und für
sich weniger interessieren, so ist doch Eckermanns Bericht über diesen Vorfall
insofern von Bedeutung, als wir in der Lage sind, seine Nichtigkeit zu prüfen.
Im Hamburgischen Korrespondenten findet sich am 14. September 1810 eine
Schilderung des Eisenacher Unglücks. Da lesen wir: einige junge Mädchen,
die eine Gesellschaft im Hause des Postkommissärs Emperies verließen, „waren
die letzten Personen, welche ihren Fuß aus diesem unglücklichen Hause setzten.
Kaum sind sie zu Hause, so geschieht die Explosion, und ach! alle Personen,
welche in diesem Hause waren, verbrannten, bis auf die hart beschädigte Mutter
des Emperies, dessen zwey Kinder und die Magd, welche, Gott weiß wie! sich
und die Kinder eins den Trümmern rettete. . .. Beim Aufräumen des noch
immer brennenden Schuttes hat mau auch den Körper von dem Post-Commissair
Emperies gefunden. Der Kopf lag getrennt von dem Körper in einiger Ent¬
fernung, so auch Schenkel und Füße."*)
Die Übereinstimmung der Eckermcmnschen Erzählung mit diesem Bericht
ermöglicht ein Urteil über die Aufmerksamkeit, mit der er den Worten seines
Mitreisenden gefolgt ist, und über die Genauigkeit und die Gewissenhaftigkeit,
mit der er das Gehörte aufgezeichnet hat. Ebenso wie sein schon erwähnter
Bericht über Goethes Abschiedsgespräch mit Preller berechtigt deshalb auch
dieser gegenüber manchem Zweifel, der gegen Eckermanns Glaubwürdigkeit er¬
hoben worden ist, zu einem allgemeinern Schluß auf seine Zuverlässigkeit als
Gewährsmann.
Recht sonderbar mutet auf den ersten Blick die ziemlich weitschweifige
Auseinandersetzung über die Anlage der Chaussee von Hannover nach Celle
an <S. 135). Wie kann ein so durchaus praktischer Gegenstand die Aufmerk¬
samkeit eines Eckermann fesseln! Auch hier sehen wir den unverkennbaren
Einfluß Goethes. Dieser stand solchen Fragen und Aufgaben ans dem tech¬
nischen Gebiete nicht fremd gegenüber. War er doch selbst einst weimarischer
Wegebaudirektor gewesen! Auf seiner Reise in die Schweiz 1779 hat er des¬
halb einen Blick für den Stand des Wegebaus und lobt in seiner Reisebe-
schreibung die wohlgepflegten Straßen auf Schweizer Gebiet, denen er die
mangelhaften jenseits der französischen Grenze tadelnd gegenüberstellt. Und
noch im Jahre 1826 findet dieser Gegenstand in so hohem Grade seine Be¬
achtung, daß ihm der Bericht des Oberbaudirektors Coudray über die gelungne
Ausführung einer Chaussee bei Triptis wichtig genug ist, ihrer im Tagebuche
(25. März) zu gedenken. Wir werden darum in Eckermanns Darlegungen
über den Straßenbau in der Lüneburger Heide die Absicht erkennen, Goethe
eine Betrachtung mitzuteilen, für die er sein Interesse voraussetzen dürfte.
Zugleich aber sehen wir in ihnen wie in den vielen „Bemerkungen" beider
Briefe und in den Schilderungen der Mitreisenden das Bestreben, durch die
Beobachtung von Natur und Menschen seinen Blick zu erweitern und zu schärfen,
die Dinge, auch die nüchternsten, auf sich wirken zu lassen und so sich dem
Menschen Goethe innerlich immer mehr zu nähern.
Endlich noch ein Wort über den Schluß der Briefe, an dem Eckermaun
die Hoffnung ausspricht, bei seiner Rückkunft die Helena vollendet zu sehen
(S. 137). Wie eifrig Goethe im Frühling 1826 gearbeitet und welchen An¬
teil Eckermann an dieser Arbeit genommen hat, verrät uns Goethes Tagebuch,
besonders die Eintragungen vom Mai 1826. Am Tage der Abreise Ecker¬
manns von Weimar hat Goethe in der Tat die Helena „abgeschlossen", und
den ganzen Juni hindurch beschäftigen ihn die Durchsicht und die Reinschrift
seines Werkes. Darum findet Eckermann bei seiner Heimkehr die Helena fertig
und liest sie am 16. Juli „hinaus". Dies meldet er im ersten Briefe seiner
Braut: „Am nächsten Morgen frühstückte ich mit dem alten Goethe, nachdem
ich zuvor seine Helena gelesen hatte, die während meiner Abwesenheit war
vollendet worden. Es ist ein großes kaum begreifliches Werk. Ihrer Theilnahme,
sagte Goethe, kann ich es doch verdanken, daß das Stück nun vollendet ist."
Wie stolz Eckermann auf diesen Anteil ist, beweist er uns in den „Gesprächen"
(7. März 1836), in denen er an eine ähnliche Anerkennung seines Verdienstes
um den Faust die Bemerkung anknüpft: „Ich freute mich dieser Worte, im Ge¬
fühl, daß daran viel Wahres sein möge."
So zeigen uns die beiden mitgeteilten Briefe, indem sie uns auf die ver¬
schiedensten Gebiete des menschlichen Schaffens, besonders auf die der Dichtung,
der Kunst und des praktischen Lebens, führen, Goethe in seiner ganzen Viel¬
seitigkeit und seinen jüngern Verehrer in dem heißen Bemühn, seinem großen
Vorbilde in dieser Vielseitigkeit der Interessen nachzustreben und immer ähn¬
licher zu werden. Wohltuend wirkt der warme, vertrauliche Ton, den Ecker¬
mann in beiden Briefen anschlägt. Hier schreibt nicht ein niedriger gestellter
steif und förmlich an den Herrn Geheimerat, sondern der jüngere zwanglos und
doch respektvoll an den ältern Freund. Das Verhältnis beider Männer er¬
scheint in dem warmen Lichte reiner, schlichter Menschlichkeit.
Die Geringschätzung Eckermanns, die lange Zeit Mode gewesen ist,*) ist
in den letzten Jahren einer gerechtern Würdigung seines Wesens und seiner
Verdienste gewichen. Auch diese beiden Briefe vermögen das Verständnis für
den schlichten Sohn der Lüneburger Heide mit seiner scharfen Beobachtungs¬
gabe und seiner anspruchslosen, liebenswürdigen Erzählerkunst zu heben und
ihn in seiner treuen, selbstlosen Hingebung an Goethe und in seinem Bestreben,
sich an dem Lebensmeister zu bilden, der Gegenwart näher zu bringen. Er
verdient es gewißlich.
Heine spottete in seinem Tannhäuser:
üblich von Bozen nimmt das breite Etschtal einen ganz italienischen
Charakter an: rechts und links hohe, schroffe, kahle, zerrissene gelb¬
graue Felswände, dazwischen in der strichweise sumpfigen Talebene
und an den Abhängen hinauf Obstgärten und Weinpflanzungen,
deren Reben über niedrige Lauben (Pergeln, xsi-Kola) gezogen
werden und so, wenn sie Laub und Trauben tragen, lange Gänge bilden, aber
nirgends zeigt sich eine Spur von Wald. Doch die Bevölkerung ist deutsch,
das romanische Volkstum ist hier überall noch in die Seitentäler zurückgedrängt.
Auch das ist im wesentlichen das Werk der hier begüterten deutschen Stifter.
Dort das zwischen Rebeugärten am Fuße brauner, kahler Wände lang hingestreckte
Traum hat bald nach 1200 der Bischof Friedrich von Trient, ein Herr von
Warga, als Wcinort angelegt, das schräg gegenüber auf der Ostseite liegende Neu-
markt ist das germanisierte Egna, das römische IZnäiäg.6. Erst Salurn (Lawrms)
ist schon national gemischt, obschon vorwiegend deutsch. Dort aber, wo die Noee
aus einem Halbkreis öder Felsberge der Etsch zuströmt, bildet sie die Sprach¬
scheide zwischen Deutsch- und Welsch-Metz, gegenüber der alten Klosterstiftung
Se. Michael (1145), die zwar eine Kolonie des bayrischen Klosters Süden am
Jnn war, aber keinen germanisierenden Einfluß auf die Umgegend ausgeübt zu
haben scheint.
Dieses Etschtal ist ein hart bestrittner Boden. Aber in diesem Kampfe kann
nicht die Gewalt entscheiden, auch nicht die des Gesetzes, und am allerwenigsten
die Berufung auf geschichtliche Ereignisse. Unzweifelhaft war diese Landschaft
einst ebenso romanisch wie ganz Tirol, lange ehe sich noch ein germanischer Stamm
hier ansiedelte, und das ganze Trentino hat bis ins zwölfte Jahrhundert zu
Italien gehört, war auch jahrhundertelang ein eignes geistliches Fürstentum und
hat seiue jetzigen Grenzen im Süden erst unter Maximilian dem Ersten durch
den Frieden mit Venedig im Jahre 1518 erhalten, der die „welschen Konsinien"
(Riva mit Torbole und Nagö am Gardasee, Roveredo mit dem ganzen Etschtale
südwärts bis zur jetzigen Grenze und Ampezzo) zu Tirol brachte; aber ebenso
unzweifelhaft haben die Deutschen diesen Boden erobert und weithin kolonisiert.
Das italienische Geschrei nach der Brennergrenze, wo niemals eine politische oder
nationale Grenze bestanden hat, ist ebenso eine Narrheit wie die Torheit allzu
eifriger Teutonen, den Italienern Tirols nicht die Gleichberechtigung in der
gemeinsamen Landeshauptstadt gönnen zu wollen. Entscheiden kann in diesem
traurigen Kampfe um die oder jene Scholle dieses Landes zwischen zwei eben¬
bürtigen großen Kulturvölkern, den einzigen wirklichen Kulturvölkern Österreichs,
die durchaus aufeinander angewiesen sind, nur die Energie des nationalen Bewußt¬
seins und der Arbeit; im übrigen sollen sie gegeneinander Toleranz üben. Die
Jtalianissimi sollten begreifen, daß Südtirol für Österreich und Deutschland ein
Garten ist, für Italien nichts wäre als eine Alpe, daß also ihre eignen wirtschaft¬
lichen Interessen sie an Österreich binden, und die Deutschen sollten nicht ver¬
gessen, daß die Welschtiroler, die 44,5 Prozent der Gesamtbevölkerung Tirols,
also fast die Hälfte ausmachen (1900: 368000 gegen 461000 Deutsche), obwohl
ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit hinter diesem Prozentsatz bedeutend zurück¬
bleibt, unmöglich als Staatsbürger zweiter Klasse behandelt werden können,
und daß sie dasselbe Recht haben auf die Pflege ihrer nationalen Sprache und
Kultur wie die Deutschen. Weiter wollen auch die verständigen Italiener des
Königreichs nichts.
Soviel steht nun freilich fest: im Etschlande sind die Italiener seit langer
Zeit im Vordringen, weil sie anspruchsloser und wohl auch fleißiger sind als
die einheimischen Deutschen. Kaum ein deutscher Grundbesitzer südlich von Bozen,
der ohne italienische Arbeiter auskäme, und diese siedeln sich dann, wenn sie
genug erspart haben, gern auf deutschem Boden an. Als Goethe 1786 diese
Straße zog, fand er erst in Roveredo, daß „die Sprache sich abscheidet; oben
herein schwankt es noch immer vom Deutschen zum Italienischen". Vollends
Trient war noch am Anfange des sechzehnten Jahrhunderts eine halbdeutsche
Stadt, eine 8<zntina Itslorum se Oöiuiaiioruiii und wurde ebendeshalb zum
Sitze des Konzils 1546 bis 1563 gewählt. Davon ist heute gar keine Rede
mehr; schon in Lavis, zwischen Se. Michael und Trient, sind alle Aufschriften
am Bahnhof italienisch, und Trient selbst, in jeder Beziehung der Mittelpunkt
des „Trentino", hat zwar auch heute noch deutsche Elemente, ist aber eine
wesentlich italienische Stadt und hat auch genau dieselbe politische Entwicklung
gehabt wie irgendeine andre oberitalienische Stadt. Daß die Bischöfe und die
Domherren wie der ganze Adel Welschtirols im Mittelalter deutschen Ursprungs
waren, hat hier dein deutschen Volkstum keinen festen Halt verschafft, denn die
Nationalität eines Landes hängt nicht von den herrschenden Schichten ab, sondern
von der Masse des Volks. Auch die Kunst stand hier ganz unter italienischem
Einfluß; der mächtige Dom von Trient erinnert in seiner romanischen Anlage
und mit den zierlichen Galerien von Rundbogen und Säulchen, die an seinen
Längsseiten hinlaufen, durchaus an lombardische Bauweise.
Kein Wunder, daß hier der italienische Einfluß herrscht, denn drei Straßen
führen von hier aus nach Italien, und alle drei hat der Handelsverkehr ein¬
geschlagen. Die östlichste geht durch die Val Sugana nach Feltre und über
Treviso nach Venedig. Da sie die kürzeste dorthin war und zugleich die ge¬
fährlichen Engen der Veroneser Klause umging, so schlugen die nach und von
Venedig kommenden Frachtzüge und Reisenden diese Linie mit Vorliebe ein, so
zum Beispiel der Dominikaner Felix Faber aus Zürich 1480 auf der Reise nach
dem Heiligen Lande. Darüber schlössen Venedig und Treviso schon 1261 einen
Vertrag, und für diese Straße erbat Venedig 1351 von Ludwig von Branden¬
burg seinen Schutz. Ebenso versprach Rudolf der Vierte, der erste Habsburger, der
Tirol beherrschte, 1363 den Bürgern von Innsbruck freie Fahrt durch seine Lande
auf der Straße nach Treviso (Terveys), wie sie solche von jeher gehabt hätten.
Bestimmend war dafür wohl auch, daß wenigstens die obere Val Sugana noch
im sechzehnten Jahrhundert überwiegend deutsch war. Heute ist das Deutschtum
auf einige Seitentäler (Fersen, Lusern, Se. Sebastian, Folgareit) beschränkt, hält
sich aber deutsche Schulen und hat auch im Haupttal einen festern Halt dadurch
gefunden, daß 1905 die Burg Pergine (Perser) mit ausgedehntem Gelände und
ein guter Teil des Nordufers des nahen Caldonazzosees (Christophlesees) in
deutsche Hände übergegangen ist. Die Straße selbst ist heute in den Hintergrund
getreten, immerhin besteht schon eine Eisenbahn bis zur Grenze bei Tezze, der
freilich noch die Fortsetzung bis zur ersten italienischen Station Feltre fehlt.
Es ist im ganzen die römische Via Claudia von Trient über Ausugo (heute
Borgo) nach Feltria.
Die gerade Straße von Trient nach Italien ist immer im Etschtale über
Roveredo gegangen in dem breiten, sorgfältig angebauten, auf beiden Seiten
von kahlen Felsbergen begrenzten Etschtale, über deren westliche Seite dann der
lange Schneerücken des Monte Batto herüberschaut. Hinter Ala, wo der erste
freistehende Campanile auftaucht, überschreitet fie die italienische Grenze. Noch
ist das Tal breit und weithin mit Kulturen bedeckt. Dann schließen sich die
graurötlichen Felsberge plötzlich von beiden Seiten eng zusammen, sodaß neben
der brausenden Etsch eben nur für Straße und Eisenbahn zwischen senkrecht ab¬
stürzenden Wänden Raum bleibt; Sperrwerke zeigen sich rechts und links hoch
oben; rechts thront unersteiglich eine alte Burg. Das ist die berühmte Veroneser
(Berner) Klause. Hier und schon vorher stieß Kaiser Lothar 1136 auf hart¬
näckigen Widerstand, den er mit Mühe überwand; er belehnte wahrscheinlich
gleich damals einen Deutschen mit der jetzt in Ruinen liegenden Burg Castel-
barco beim Dorfe Chiusole am rechten Etschufer, denn 1142 schon erscheint ein
Engilbero de Chostelwarch in Friesach als Zeuge im Gefolge des Bischofs Alt-
mnnn von Trient, dessen Vasall er war, und die Herren von Castelbarco gehörten
später zu den bedeutendsten Geschlechtern des südtirolischen Adels. Trotzdem
mußte auch für Friedrich Barbarossa, als er im September 1155 vom ersten
Römerzuge über Verona heimkehrte, der Pfalzgraf Otto von Wittelsbach mit
seinen bayrischen Alpensteigern die sperrende Burg der Veroneser hinter Volargne
(ÄausurW Volsrni) erklimmen. Mit welchem Jubel mögen da die deutschen Heere
die Türme von Verona begrüßt haben, die, sobald sie die gefährlichen Engen
hinter sich hatten, vor ihnen in der Ferne inmitten der reichen Fruchtebene
auftauchten!
Ganz natürlich, daß alle die, die nach der Lombardei wollten, diesen Engpaß
vermieden und vorher westwärts abbogen. Auf verschiednen Wegen kamen sie
dorthin. Der eine führt von Trient westwärts über Toblino ins wasserreiche
Sarcatal und durch dieses hinunter nach dem Gardasee, aber er hat enge,
schluchtenartige Täter zu passieren und eine Paßhöhe von 492 Metern zu er¬
steigen. Von ihm zweigt sich eine andre Straße westlich ab, die erst dem Sarca-
tale bis Tione (565 Meter) folgt und dann südwärts nach dem Chiese hinübergeht
(Judikarien), aber sie hat noch größere Schwierigkeiten zu überwinden als jene
und trifft schließlich mit dem vom Gardasee durch das Ledrotal kommenden Wege
zusammen. Viel bequemer ist der Weg, der bei Mori südlich von Roveredo in
einer Seehöhe von nur 174 Metern abzweigt und im Loppiovaß s279 Meter)
einen Höhenunterschied von wenig über 100 Metern zu überwinden hat. Es ist
zugleich der überraschendste und eindruckvollste Übergang vom Etschtale nach
dem Gardasee. In rascher Fahrt führt jetzt die kleine Lokalbahn, meist der Straße
folgend, aufwärts durch Rebengelände, dann auf der Höhe inmitten eines Kessels
kahler Felsberge an dem sonderbar gewundnen Loppiosee vorüber und durch
wüstes, ödes Felsgeröll über den Loppiopaß. Bei der Station Nago öffnet
sich plötzlich auf einen kurzen Moment der Blick tief hinunter nach dem blauen
Spiegel des Gardasees. Hier geht die alte Straße nach Torbole steil hinab;
die Bahn, die hier auf der Straße nach Arco läuft, biegt scharf nach Norden
um, indem sie sich allmählich senkt. Tief unten breitet sich das fruchtbare, mit
Kulturen bedeckte Tal der Sarca, die es wie ein Silberstreifen durchzieht, gegen¬
über starren die Felsmauern des Monte Brione, ringsum ein Kreis mächtiger,
bis hoch hinauf bewachsner Kalkberge; im Norden ragt, die Ebene völlig be¬
herrschend, der kolossale isolierte Felsklotz auf, der nach Norden, Osten und
Westen in senkrechten Wänden abfällt, auf seinem südlichen, unbewaldeten Ab¬
Hange die Reste der stolzen Burg von Arco trügt, zwei mächtige Türme inmitten
hoher, dunkler Zypressen, an seinen Fuß schmiegt sich das freundliche Städtchen
Arco inmitten blühender Gärten von südlicher Vegetation. Die Burg gehörte
lange Zeit der Gemeinde und ihrer Nachbarschaft als Zufluchtsstätte in Kriegs¬
gefahr; erst seit dem Anfange des zwölften Jahrhunderts erscheint sie im Besitz
eines Geschlechts von Tridentiner Vasallen, die sich danach nannten, von den
Bischöfen allmählich mit ausgedehnten Gütern und Rechten in der Umgegend
ausgestattet wurden, 1359 aber den Grafen von Tirol, 1396 endlich den Habs¬
burger» huldigten. Noch im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts erschien das
feste Schloß militärisch so wichtig, daß die Franzosen bei ihrem Vormarsche nach
Tirol 1703 hier hartnäckigen Widerstand fanden und es nach der Einnahme
zerstörten.
Hier überschreiten Straße und Bahn die Sarca und biegen, längs des West¬
randes der Fruchtebene laufend, südwärts nach Riva um. So dicht im Schutze
der westlichen Felswand gebaut, daß es den ganzen Nachmittag im Schatten
liegt, drängte es sich ursprünglich dicht am Ufer zusammen um einen freien Platz,
die Piazza Benacese, der jetzt von hohen Steinhäusern mit Laubengängen um¬
geben ist. Ganz in der Nähe ragt ein starker Mauerturin, der Apponale, als
Rest der alten Befestigung auf, östlich davon erhebt sich die alte Burg der Scaliger
von Verona, deren Anlage übrigens viel älter ist und bis 1124 zurückgeht, ur¬
sprünglich ein Viereck mit starken Ecktürmen hinter einem breiten Wassergraben
und dicht am See, jetzt Kaserne eines Bataillons tirolischer Kaiserjäger. Erst in
neuerer Zeit hat sich die Stadt uach der Landseite hinein ausgebreitet und ist
ein besuchter Freudenort mit großen, palastähnlichen Hotels am See geworden.
Die Bedeutung Rivas geht bis in die römische Zeit zurück, wie eine Reihe von
Inschriften bezeugt, die zugleich beweisen, daß der Ort mit dem Tale der Sarca
und dem ganzen nördlichen Teile des Gardasees zur Stadtgemeinde Brixia
(Brescia) gehörte, und sie beruht auf seiner Lage am Ausgangspunkte zweier
Straßen. Die eine ging und geht durch das Ledrotal nach Judikarien (bei Storo)
und dem Jdrosee (368 Meter) hinüber und führt durch die Val Sabbia nach
Brescia (150 Meter) hinunter, hatte also bedeutende Steigungen und gefährliche
Engen zu überwinden. Trotzdem war sie schon in der römischen Zeit viel be¬
gangen; ist uns doch eine Grabschrift aus dem Sabbiatal erhalten, die den
Wandrer anredet, dem Kot oder Staub oder Durst den Weg erschweren. Auch
im Mittelalter benutzten diesen Übergang sogar Heereszüge; Kaiser Lothar mußte
sich im August 1133 den Durchmarsch erkämpfen, indem er die sperrende Berg¬
feste Lodron nördlich vom Jdrosee erstürmte; damals scheint ein Deutscher die
Burg erhalten zu haben, von dem die spätern Herren von Lodron abstammen.
Noch 1703 schlug Marschall Vendome diese Straße nach Trient ein.
Weitaus wichtiger war für die Verbindung mit dem Süden der Gardasee,
der I^g,(ZU8 Lenavns der Alten. Fand er doch auch eine Fortsetzung bis in den
Po durch den in alter Zeit schiffbaren Mincio, dessen ziemlich konstante Tiefe
und langsames Gefäll ihn für kleinere Fahrzeuge zugänglich machte und eine
Wasserstraße von 84 Kilometer Länge an den Gardasee anschloß. So fuhr der
Kardinal Ludwig von Aragon im Januar 1518 auf seiner Rückreise aus Frank¬
reich von Mantua auf dem jetzt völlig verschilften Mincio nach dem Po und diesen
hinab bis Ferrara, wo die Landreise uach Rom begann. An den Ufern des Sees
hin hat niemals eine durchgehende Straße geführt, so wenig wie am Comersee.
Stürzt doch das Kalkgebirge auf seiner Westseite in senkrechten, brennen, kahlen,
gefurchten Felswänden Hunderte von Metern tief in die blaue Flut hinunter;
hoch oben auf breiten Terrassen unter noch höher aufsteigenden Bergen liegen
die stattlichen Dörfer wie Tignale weltabgeschieden, nur auf Kletterwegen oder
für Lasten mit Schwebebahnen zu erreichen, zwischen ihren Maisfeldern und
Nebengarten. Nur da, wo rasche Sturzbäche einen Schuttkegel am Fuße der
Felsen herausgespült haben, also kleinere oder größere Vorländer entstanden
sind, haben sich hier Orte unmittelbar am See bilden können: Limone, Tremosine,
Campione, wie angeschmiegt an die ungeheure, starre Felsmauer in ihrem Rücken.
Erst von Gargnano an tritt das Gebirge zurück und senkt sich in sanftern Ab¬
hängen, durch tief eindringende, vielgewundne anmutige Täter gegliedert, von den
hohen zackigen Gipfeln der Brescicmer Alpen überragt, zum See hinab. Das
ist die Riviera des Gardasees. In kaum unterbrochner Reihe ziehen sich hier
die Ortschaften am Ufer hin, oder sie schimmern hoch oben aus deu Oliven¬
wäldern hervor: Toscolano auf der breiten Halbinsel, die der aus tiefer, pracht¬
voller, ganz alpiner Felsenschlucht, wo er seit alter Zeit zahlreiche Papiermühlen
(oartiers) treibt, stark hervorströmeude Bach gebildet hat, darüber das große
Dorf Gaino am Fuße des steilen, stolzen Monte Castello auf seiner weitschauenden
Terrasse mit der einsam davor zwischen hohen, alten Zypressen ragenden aus¬
sichtsreichen Kirche, dann Maderno, Fasano, Gardone und an tief eingeschnittner
Bucht das stattliche Sais (Saloäiuiv). Seit etwa zwanzig Jahren ist diese Riviera
fast eine deutsche Kolonie; die meisten Hotels, eine Reihe von schmucken Villen,
ein guter Teil des Grundbesitzes überhaupt ist in deutschen Händen, und das
Deutsche wiegt im Verkehr so vor, daß auch die Einheimischen sich bemühen,
es zu sprechen. In Gardone gibt es eine kleine, reizende evangelische Kirche; hier
erscheint sogar die einzige deutsche Zeitung Italiens, „der Bote vom Gardasee".
und bei der Kirche von Gaino hat sich eine kleine Münchner Malerkolonie fest¬
gesetzt, die ihren Standort durch eine weißblaue Fahne andeutet, denn es gibt
auch im Auslande offenbar ein stolzeres Bewußtsein, Bayer zu sein als Deutscher.
Bekanntlich hat auch Paul Heyse eine Villa in Gardone unterhalb der evan¬
gelischen Kirche am Seegestade.
In der Tat ein irdisches Paradies, so recht das, was der Nordländer,
wenn ihn der Frühling nach einem elenden, trüben Winter über die Alpen zieht,
von der Herrlichkeit des Südens erwartet. silbergraue Olivenwülder umhüllen
die Abhänge bis hoch hinauf, ausgedehnte Zitronengärten, mit gelben^Früchten
reich behängen, terrassenförmig aufsteigend zwischen langen Reihen weißer Pfeiler,
die in der rauhern Jahreszeit mit Brettern bedeckt werden, nehmen die Vor¬
länder der Westseite ein und haben dem Orte Limone den Namen gegeben;
schwermütig ragen die schwarzgrünen Pyramiden hoher Zypressen empor, in
Bäumen und dichten Hecken wächst der Lorbeer, in herrlichen Gärten, die sich
bis weit hinauf oder bis hinunter an den blauen See ziehn, spreizen Palmen
ihre Fächer, dichtbelaubte Mispeln und Feigenbäume strotzen von jungen Früchten,
aus dunkelm, glattem Blütterwerk „glühn die Goldorangen", rosig schimmern
die prachtvollen Kelche blühender Magnolien und die zarten Blüten der Pfirsiche,
in schneeiger Pracht stehn die Kirschen- und Apfelbäume, und neben den starren,
stachligen, fleischigen Blättern mächtiger Agaven, die schon ganze Hecken bilden,
streckt sich an Bächen das feingefiederte Bambusrohr. Von jeder Höhe und vom
Ufer schweift der Blick über die blaue, fast immer bewegte Flut wie über eine
weite Bucht des Mittelmeeres, silberweiße Möwen schweben wie klagend über
den Wellen, und zuweilen zieht ein mächtiger Seeadler seine Kreise, denn meer-
artig erweitert sich der See im Süden, und die Linie des flachen Ufers an der
Südostseite verschwimmt mit dem See und dem Blau des strahlenden Himmels.
Nur zur Rechten begrenzt den Blick das steil abfallende Vorgebirge von Manerba
und näher die langgestreckte niedrige Isola ti Garda mit den dichten Wipfeln
ihres Parks und dem venezianischen Gartenschloß des Principe Ferrari, das
an die Stelle eines Franziskanerklosters getreten ist, wie ein Märchentraum in¬
mitten der klaren Flut. Alle diese Herrlichkeit hat schon Goethe geschaut, als
er auf einer Segelbarke längs dieses Ufers südwärts fuhr, aber den schnellen,
überraschenden Übergang von dem Schnee und dem Eise des Brenners bis zu
den Palmen und den Orangen der Riviera ti Gardone binnen sieben bis acht
Stunden kann erst die eisenbahnsausende Gegenwart genießen.
Wie diese Riviera ein geographisches Ganze bildet, so haben ihre Ort¬
schaften von jeher auch ein zusammenhängendes Gemeinwesen gebildet. In der
römischen Kaiserzeit fanden die inschriftlich vielfach bezeugten Lsrmosnsss, die
der römischen Stadtgemeinde Brixia als Bürger ladinischen Rechts „attribuiert"
gewesen zu sein scheinen, aber neben dem Lateinischen ihr einheimisches Rätisch
festhielten und zuweilen sogar schrieben, ihren politischen Mittelpunkt, ihr Forum,
in Toscolcmo. Im spätern Mittelalter, als der den Italienern immer un¬
sympathische, ihnen aufgedrungne Feudalismus der städtischen Freiheit wich,
vereinigten sich dreiunddreißig Gemeinden von Tremosine bis Rivoltella (bei
Desenzcmo) zur Gemeinschaft der Ripsrig. (d. i. Kivisrch, bis 1377 mit dem Haupt¬
orte Maderno, seitdem unter dem größern Salv, und 1386 bestätigte ihnen Girr
Galeazzo Visconti, der als Herr von Mailand bis hierher gebot, alle ihre alten
Rechte. Als die Venezianer 1426 den Visconti Brescia entrissen, kam auch die
Riviera unter die Herrschaft des geflügelten Löwen von San Marco, der heute
wieder auf hoher Säule am Seegestade in Maderno prangt, und ein Proveditore
nahm seinen Sitz in Salv. Unter der klugen und milden Herrschaft Venedigs,
das nirgends die Gemeindefreiheit antastete, erlebte die Riviera im ganzen friedliche
und glückliche Jahrhunderte. Davon zeugt noch die auf ältern, zum Teil noch
romanischen Grundlagen beruhende künstlerische Entwicklung dieser Gestade; vor
allem ist fast jede Kirche, auch eine kleine Dorfkirche, ein interessantes Kunstwerk
oder wenigstens künstlerisch ausgestattet, wie in Gargncmo, Gaino, Toscolcmo,
Sais, Morgnago über Gardone, und von modernen „Restaurierungen" sind sie
alle verschont geblieben. Die Kirche ist hier eben noch eine lebendige Macht im
Volksleben, und wenn sich an Sonn- und Festtagen, wo der Fremde sogar in
Gardone und Fascmo merkt, daß die Bevölkerung doch italienisch ist, auch im
im übrigen das gewöhnliche italienische Bild bietet: Frauen und Kinder sitzen
in der Kirche, die Männer stehn schwatzend auf der Piazza, zu einer Prozession
kommen sie doch alle im besten Staat mit brennenden Wachskerzen, sie folgen,
Litaneien singend, dem Baldachin, unter dem der Ortspfarrer in vollem Ornate
mit seinen Geistlichen schreitet, und voran zieht zu Ostern etwa ein geflügelter
Engel und ein paar kleine barfüßige Jungen, der eine als Christus mit dem
Heiligenschein und der Weltkugel, der andre als Johannes in wolligem Schaffell
mit blonder Lockenperücke, den Stab in der Hand, alle durchdrungen von dem
Ernste ihrer heiligen Rolle. Dazu läuten die Glocken weithin über den See
von nah und fern, nicht wie bei uns in Morden, sondern in kurzen, eigentüm¬
lichen weichen Melodien.
Hinter der Westseite steht die Ostseite landschaftlich in mancher Beziehung
zurück. Fast geradlinig verläuft die Küste von Torbole, auf der ersten Strecke
so steil wie auf der Westseite, bis San Vigilio, wo sie plötzlich nach Osten um¬
biegt und sich verflacht, begleitet von dem langgestreckten schimmernden Schnee-
riicken des Monte Batto, der durchschnittlich mehr als zweitausend Meter hoch
über dem Seespiegel aufsteigt und den ganzen See beherrscht. In schroffen, von
tiefen Schluchten zerrissenen Abhängen fällt er zum See hinab, doch fast überall
läßt er einen bald schmälern, bald breitern Vvrstrand frei, und weit hinauf ziehn
sich auch hier die lichten Olivenwälder, deren Ertrag neben dem Fischfang die
beste Einnahme für die Anwohner bildet. Die zahlreichen kleinen Orte der Ost¬
seite bis tief nach Süden waren im spätern Mittelalter ebenfalls in einem Bunde
vereinigt, der Gardesana mit dem Hauptorte Torri nördlich von San Vigilio,
erst unter den Scäligern von Verona (seit 1260), dann unter den Visconti von
Mailand (seit 1387), die das Gemeinwesen in seinem alten Bestände bestätigten
wie das der Riviera, endlich seit 1405 unter Venedig.
Weniger besucht als die Westseite und auch heute mit ihr wenig in regel¬
mäßiger Verbindung hat die Ostseite doch, weil sie näher an Verona und an
den Ausfluß des Mincio heranführte, offenbar den größten Teil des lebhaften
Durchgangsverkehrs beherrscht, der sich auf dieser prachtvollen, natürlichen Wasser¬
straße Jahrhunderte hindurch bewegt hat. Ersparte doch die Fahrt auf dem
52 Kilometer langen See den Warenzttgen wie den Marschkolonnen mittelalter¬
licher Heere etwa zwei Tagereisen in schwierigem Gebirgsterrain, spielte also eine
ähnliche Rolle wie der Comersee am Fuße der rätischen Passe. Bedeutend war
namentlich im fünfzehnten und im sechzehnten Jahrhundert der Getreidetransport
von Dcsenzcmo aus über den See. Auch wer besonders schnell reisen wollte,
nahm den Seeweg, wie Emilio Filonardi, Bischof von Veroli, als er im August
1521 päpstliche Wechsel nach Innsbruck an die Fugger brachte. Begünstigt wurde
das alles durch die regelmäßig auf dem See wehenden Winde, den Paescmo, den
Bergwind, der um Mitternacht von Norden aufspringt, und die Ora, die von
Mittag ab von Süden zu wehen beginnt. Mit jenem segelte Goethe am 13. Sep¬
tember früh 3 Uhr von Torbole aus, dieser trieb ihn nach Malcesine zurück,
das er dann um Mitternacht mit dem Paesano verließ. In der Tat kommt
man mit Rudern auch gegen eine müßige Windstürke nicht an, und der See ist
durch diese Winde fast immer bewegt, wenn er nicht gar, was nicht selten ist,
vom Sturme meerartig aufgewühlt wird, „anschwellend in tobenden Meeres¬
wellen" (Üuotibu8 et trsmiw a,ä sur^sus, Lsng.es, marmo), nach Vergil
(6S0IA. II. 160).
Die alte Bedeutung ist heute freilich vorüber, der Verkehr beschränkt sich
heute auf die regelmäßig laufenden Dampfer und auf zahlreiche größere, schoner¬
mäßig getakelte Segelbarken. Aber es macht doch einen unvergeßlichen Eindruck,
wenn einer der schlanken weißen Dampfer den Hafen von Riva verläßt und
wie in einem Fjord zwischen hohen Wänden, die hier nur etwa eine Stunde
voneinander entfernt sind, dicht unter der prachtvollen, in Windungen hoch nach
dem Ledrotale hinaufklimmenden Ponaleftraße hiuaussteuert in den bald tief¬
blauen, bald hellblaugrünen See, der nach Süden wie ein Berg aufsteigt gleich
dem Meere, weil dort die optische Grenze des Wasserspiegels mit der Linie des
Horizonts zusammenfüllt. Wie lebhaft hier der Verkehr im Altertum war, das
zeigen schon die Schifferzünfte (voUsssia manorum), die in Riva wie in Peschiera
(Arctica) bestanden. Daß er sich im Mittelalter wesentlich an der Ostseite be¬
wegte, ergibt sich aus den zahlreichen Burgen und Zollstationen eben dieses
Ufers. Hoch über Torbole. wo die gerade Straße von Mori nach dem See
hinabsteigt, hängt, jetzt in Trümmern, die Burg Penede. Den Zoll in Torbole
besaßen wie in Riva die Bischöfe von Trient, bis ihn 1200 Bischof Konrad
seinem getreuen Vasallen Udalrich (Odorico) von Arco verlieh. Weiter südlich,
hoch auf einer stark vorspringenden Felsnase, erhebt sich mit Zinnenmauern uno
Türmen die Burg Malcesine, wieder ein Bauwerk der Scaliger, dann der SiK
des venezianischen Capo del Lago, jetzt eine Kaserne italienischer Zollwächter
(äoMnisri), denn in geringer Entfernung nach Norden zu läuft die Grenze quer
über den See. In der Tat eine unvergleichliche Warte! Ans dem äußern
Burghof, zu dem ein steiler Weg und zuletzt eine Zugbrücke führt, betritt mau
durch ein Tor den größern innern Hof, dicht unter dem sich hier auf der
höchsten Spitze des Felsens erhebenden gewaltigen Bergfried und zwischen hohen
guelfischen Zinnenmauern. Das ist die Stelle, wo Goethe am 13. September 178S
das bekannte Abenteuer erlebte, als er den Turm zeichnete; eine Gedenktafel
soll künftig daran erinnern. So verfallen, wie er die Burg schildert, ist sie
keineswegs, und eins ist ihr unvergänglich geblieben, die wundervolle Aussicht
über den See, aufwärts bis gegen Riva hin, abwärts bis San Vigilio. Mit
üppigen Wein-, Obst- und Zitronengärten und mit Olivenpflanzungen bedeckt
steigen die Abhänge nach dem Monte Batto hinauf, der mit zerrissenen kahlen
Wänden und Schluchten wie drohend über dem Gestade hängt. Dicht an den
Burgberg geschmiegt und am Ufer zieht sich das Städtchen hin, von einer statt¬
lichen Kirche zwischen alten Zypressen überragt, ein Gewirr von engen Güßchen
und grauen Häusern zuweilen mit wahrhaft höhlenartigen Türen und Fenstern.
Die „unendliche Einsamkeit dieses Erdenviertels", die Goethe hervorhebt, ist
auch heute noch wenig verändert; als unser Dampfer, ein Extraschiff, eine un¬
gewöhnlich zahlreiche Gesellschaft landete, da stand die ganze Bevölkerung, zwar
nicht die Männer, die meist wohl auswärts auf Arbeit waren, wohl aber die
Weiber und Kinder jedes Alters, vor den Haustüren, neugierig wie Neger
Europäern gegenüber, braun, mager, dunkeläugig und schwarzhaarig, und als
sich der Dampfer wieder zur Abfahrt rüstete, da drängte sich ein dichter Schwarm
von Kindern am Ufer und bis ins flache Wasser hinein, lachend, schreiend,
rufend, sich balgend und die Hände ausstreckend nach den Kupfermünzen, die
ihnen vom Schiffe aus zugeworfen wurden, und lächelnd sah ein junger Geistlicher
vom Balkon eines nahen Hauses aus dem Spektakel zu. Es war eine Szene
wie vor Capri. Aber schon hat Malcesine ein Albergo Italia, das auch von
Deutschen bereits entdeckt ist, und ein zweites größeres, das Albergo Malcesine,
ist im Bau. So dürfte auch Malcesine bald aus seiner „unendlichen Einsamkeit"
emportauchen.
Einsam, weltfern sind auch die kleinen Orte südlich davon, alle inmitten
ihrer Olivenwälder, Anhäufungen von halb verwahrlosten Steinhäusern unter
graurötlichen Ziegeldächern, aber meist mit stattlichen Kirchen. Besonders an¬
sehnlich präsentiert sich die große achteckige Kirche des heiligen Karl Borromäus
in Castelletto, das auch ein neues großes Waisenhaus hat. Von der ehemaligen
Bedeutung Torris zeugt nur noch die viertürmige Scaligerburg; doch bringen
die großen Marmorbrüche in der Nachbarschaft einiges Leben in die Einsamkeit,
und eine Uferstraße verbindet diese Orte miteinander. Dagegen liegt in schwer¬
mütiger Verlassenheit am scharfen Vorsprunge San Vigilio, das seinen Namen
dem heiligen Vigilius, dem Apostel dieser Gegend (um 400), verdankt; hohe
Zypressen, weithin sichtbar über den See, bilden den Hintergrund der ihm ge¬
weihten Kirche, daneben hat Graf Agostino Brenzone aus Verona um 1550
eine echte Nenaissancevilla mit offnen Loggien erbauen lassen, und Pinien,
Zypressen und Zitronenhaine umrahmen sie. Drei andre große Villen, Garten¬
paläste veronesischer Nobili, ziehn sich längs des ganzen flachen Gestades am
Fuße mäßiger Anhöhen hin, hinter ihnen lange dichte Reihen von Zypressen;
in der östlichsten, der dunkelroten burgartigen Villa Albertini hatte der König
Karl Albert im hoffnungsreichen Frühjahr 1848 sein Hauptquartier.
Doch dort ragt dicht am Ufer ein riesiger Felsblock auf, steile, gelbe Wände
über schrägen, dichtbewachsnem Abfall, oben ein breites waldbedecktes Plateau,
295 Meter über der Meeresfläche, also 230 Meter über dem See, dahinter, durch
eine Einsenkung getrennt, eine zweite, flacher ansteigende Höhe, aus deren Baum¬
wipfeln die Gebäude eines kleinen Klosters hervorschimmern, unten am Nord¬
fuße an der Bucht ein Städtchen. Das ist Garda, das schon im spätern Alter¬
tum unter diesem Namen vorkommt (beim Geographen von Ravenna im siebenten
Jahrhundert, der aber auf ältern Angaben fußt) und im Mittelalter dem See
seinen Namen gegeben hat. Beweist schon dies die damalige Bedeutung der
Burg, so spiegelt sich diese ebenso in der deutschen Heldensage wider, die so fest
mit Oberitalien und den: südlichen Tirol verwachsen ist. Hier auf Garten saßen
König Ortnit von Lamparten (Lombardei) und Hildebrand, der Waffenmeister
Dietrichs von Bern. Hier hielt König Berengar der Zweite, Markgraf von
Jvrea, 951 Adelheid von Burgund, die junge Witwe Lothars, die vielen als
die rechtmäßige Erbin des Königreichs Italien galt, in harter Haft, bis sie
im August desselben Jahres in abenteuerlicher Flucht nach der Burg Canossa
bei Reggio entkam und sich mit dem deutschen König Otto dem Ersten ver¬
mählte, dem sie gewissermaßen ihr Recht zubrachte. Seit der auch dadurch
vermittelten Vereinigung Italiens mit Deutschland wurde Garda Neichsburg
und Mittelpunkt einer Grafschaft, die wenigstens später den Landstrich zwischen
Torri, Lazise und Rivoli am Etschtale umfaßte. Hier lagerte Kaiser Lothar
im August 1136 nach Überwindung der Veroneser Klause und vor dem Einmarsch
in Verona (in Milo Italie iuxta (Z^ra-zu, Otto ^ris.), vielleicht um über den
See bequemer Lebensmittel heranzuziehn. Hier erschien Friedrich Barbarossa
im Juli 1158, doch behauptete der Veroneser Turisend (altlangobardischen
Namens) die Burg, deren er sich irgendwie bemächtigt hatte, und der Kaiser
konnte nur die fruchtbare Umgegend verheeren. Erst 1162 kam er wieder und
zwang endlich 1163 Garda nach langer Einschließung zur Übergabe. Er verlieh
die starke Burg zunächst dem bayrischen Pfalzgrafen Otto von Wittelsbach, doch
gab sie dieser schon 1167 wieder zurück, und nun erhielt sie (15. Februar) der
Bischof Albert von Trident mitsamt der Grafschaft als Reichslehen, getren der
kaiserlichen Politik, die wichtigsten Paßstraßen nach Italien in die Hände geist¬
licher Herren zu bringen. Friedrichs Nachfolger, Kaiser Heinrich der Sechste,
verkaufte dagegen, mit der Zurüstung des Feldzuges gegen Neapel beschäftigt,
Garda 1193 (15. August) an Verona, dem es seitdem verblieb. Die Venezianer
ließen die Burg verfallen und erlaubten, daß sie die Karmeliter 1665 als
Steinbruch benutzten, um auf der rückwärts liegenden Höhe ein Kloster zu
bauen; doch erst die Franzosen zerstörten sie beim Beginn des Spanischen Erb¬
folgekriegs 1701 vollständig.
In der Tat war Garda nicht nur für mittelalterliche Waffen so gut wie
uneinnehmbar, sondern es beherrschte auch das ganze südliche Becken des Sees
vollständig und zugleich eine wichtige Verbindung nach der Etsch und Verona
hinüber, die jetzt durch eine Lokalbahn vermittelt wird. Noch Goethe ist diese
Straße gezogen, indem er um 14. September, von der Riviera herüberkommend,
in Bardoliuo landete und hier sein Gepäck auf ein Maultier, sich auf ein andres
lud; nach drei Stunden ritt er in Verona ein. Ein langgestreckter niedriger
Höhenrücken, über den die blauen Berge der Veroneser Klause herüberschauen,
scheidet hier den Gardasee vom Etschgebiet, ein überaus fruchtbarer Landstrich,
mit Obstgärten weithin längs des flachen Seegestades bedeckt, im Frühling rosig
schimmernd von den zarten Blüten der Pfirsiche, die von hier in Massen aus¬
geführt werden. Südlich von Bardolino aber erhebt sich abermals an einer
Stelle, wo schon Kaiser Otto der Zweite auf seinem letzten Reichstage in Verona
(Mai und Juni 983) die Erbauung einer Burg angeordnet hatte, eine mächtige
wohlerhaltne Scaligerburg, Lazise, die den zugeschütteten, in einen Park ver¬
wandelten Hafen mit umfaßte, unter Venedig einst „die aufmerksame Hüterin der
Schiffahrt und reich an Waren", denn hier fand jeden Montag ein vielbesuchter
Wochenmarkt statt. Noch steht das venezianische Zollhaus am neuen Hafen.
Selbstverständlich befestigten die Scaliger weiter südlich auch den Punkt, wo in
völlig flacher Gegend der Mincio den See verläßt, Peschiera, die „Fischerstadt",
das alte Arctica. Ein festes Bollwerk gegen Bergamo und Brescia nennt sie
Dante, und der Venezianer Marino Sanuto rühmt sie als uneinnehmbar (1483).
Doch ihre volle historische Bedeutung gewann die Festung erst als das nord¬
westliche Bollwerk des einst berühmten Festnngsvierecks in den Kämpfen um
die Befreiung und Einigung Italiens, und mahnend schauen aus dem flachen
Hügellande im Süden des Gardasees, dem blutgetränkten Schlachtfelde dieser
Kriege, auf stundenweite nach allen Richtungen auch bis zur Mitte des Sees
hin sichtbar, die beiden Türme herüber, näher der kolossale runde Turm bei
San Martino della Vattaglia, ein Nationaldenkmal für die Einheitskriege über¬
haupt, aus größerer Entfernung der mittelalterliche Burgturm von Solferino
(24. Juni 1859), „die Warte Italiens" (spis. et'IWIia). Ein Kastell der Scaliger
beschützt und beherrscht noch heute auch den südöstlichsten Punkt am Gardasee,
Desenzcmo, das im fünfzehnten und im sechzehnten Jahrhundert einer der be¬
deutendsten Märkte Oberitaliens, besonders für Getreide, war und noch jetzt an
jedem Dienstag einen vielbesuchten Wochenmarkt abhält.
Ziemlich in der Mitte zwischen Desenzano und Peschiera streckt sich eine
schmale niedrige Landzunge 4 Kilometer nordwärts in den See hinaus, die in
einer breitern, höhern und felsigen Halbinsel endet. Nach der altrömischen Post-
station (roansio) an der Straße von Verona nach Brixia heißt sie noch heute
Sirmione. Man kommt dorthin entweder zu Lande von Desenzano aus oder
angenehmer von Salv her zu Schiff, das zwischen der Isola ti Garda und
dem Festlande bei den Klippenreihen, die beide verbinden, hindurch an dem
Vorgebirge Mcmerba und dem weinreichen Valtenese mit seinen stattlichen Ort¬
schaften und Burgen vorübersteuert. Das Städtchen, an dessen Westseite es
landet, füllt den Raum bis zur Ostseite aus, ein paar Gäßchen um einen großen,
nach Westen geöffneten Platz mit mehreren ansehnlichen Gasthöfen. Denn
Sirmone ist jetzt ein besonders von Mitte Juni ab vielbesuchtes Schwefelbad,
dessen schon von den Römern benutzte starke Quelle mit 64,8 Grad Celsius
Wärme wunderlicherweise auf der Ostseite 300 Meter vom Ufer entfernt und
17 Meter unter der Oberfläche des Sees entspringt und in Röhren nach dem
stattlichen königlichen Badehotel geleitet wird. Hinter den Häusern und von der
Stadt durch einen breiten Wassergraben getrennt ragt die mächtige Scaligerburg
auf, die auch den versandeten Osthafen in ihren Zinnenmauern einschließt
und jetzt das Municipw (Rathaus) beherbergt. Die prachtvolle Aussicht vom
Mauerkranz und vom 30 Meter hohen Hauptturme macht die Erbauung der
Burg an dieser abgelegnen Stelle begreiflich, denn das Auge übersieht hier das
ganze weite südliche Becken des Sees, und eine Verbindung mit den nahen
Scciligerburgen des Festlandes ließ sich hier durch Signale leicht herstellen.
Daß hier schon in römischer Zeit eine Niederlassung bestand, bezeugen mehrere
Inschriften unter dem Bogen des nordwärts führenden Tores. In langobardischer
Zeit entstand dann hier ein Kloster. Die heutige Kirche ist der heiligen Maria
geweiht und ein sehr eigentümlicher einschiffiger Bau, denn das Dach ruht un¬
mittelbar auf einer Reihe von großen hohen Spitzbogen; daran schließt sich ein
Kreuzgang. Hier hat einmal gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts das Ketzer-
tum der Patarener einen so festen Halt gefunden, daß es eines blutigen Kreuz¬
zuges bedürfte, es auszurotten. Doch heute am Ostersonntage wandelten Frauen
und Mädchen, manche anmutige schlanke Gestalt darunter, alle geputzt und
geschmückt, so gut sie konnten, über das dunkle Haar den kleidsamen Spitzen¬
schleier, unter dem Geläute der Glocken zur Kirche, während die Männer um
den Torbogen standen oder lärmend Morra spielten.
Gleich nordwärts vom Städtchen erhebt sich das Terrain zu einer ausgedehnten
Hochfläche, die ein Olivenwald mit meist sehr alten, seltsam gewundnen und oft
völlig ausgehöhlten Bäumen bedeckt. Ein Wegweiser zeigt nach den „Grotten
des Catull". Rechts zeigt sich oben eine moderne Villa, das Eigentum des
anhaltischen Ministers von Koseritz, etwas weiter ab links vom Wege schimmert
die uralte Langobardenkirche San Pietro, deren spitzer Turm seitwärts nur an
die Kirche angelehnt ist, durch das lichte, graugrüne Laub der Bäume. Bald
erscheinen allerhand Trümmer, endlich ungeheure Gewölbe, Bogen und Mauern,
aus Bruchsteinen mit Ziegelschichten dazwischen wie für die Ewigkeit gefügt, von
üppigem Gesträuch überwuchert, halb verschüttet und nach dem See zu wie Fels¬
wände steil abfallend, offenbar die Substruktionen eines großen spätrömischen
Palastes, der eine Grundflüche bedeckte wie heute das riesige Grand Hotel in
Gardone. Oben liegt hier und da noch das römische Ziegelpaviment bloß, und
die weitverzweigten unterirdischen Gewölbe sind teilweise noch heute so gut er¬
halten, daß sie als Keller dienen. Da das ganze Terrain Staatseigentum ist,
so kann hier glücklicherweise kein moderner Unternehmer durch irgendwelchen
Spekulationsbau den idyllischen Frieden des Ortes stören. Und welch eine Idylle!
Hinter uns der durchsichtige Olivenwald, tief unten der breite, flache Felsstrand,
um dessen glattgespülte Platten die Wellen leise plätschernd schlagen, sonst
ringsum der blaue See, jenseits nach Norden der lange Schneekamm des Monte
Bald», über dem Dunst, der seine Abhänge verhüllt, wie abgelöst vom Boden
schwebend, im Nordosten, verschwimmend im bläulichen Duft, San Vigilio und
die Burg Garda, im Nordwesten über dem leicht hingehauchten Streifen der
Isola ti Garda die prachtvoll gezackte Kette der Brescianer Alpen. Hier und da
blitzt ein Segel in der Sonne auf. aber kein Geräusch unterbricht die tiefe, traum¬
hafte Stille. In der Tat, der alte Kellner, der sich um unser leibliches Wohl
diensteifrig bemühte, hatte Recht, wenn er, selbst durchdrungen von dem Zauber
dieses Erdflecks, sagte, man sei hier „wie außerhalb der Welt" (luori nisi monäo),
und er wußte weiter zu rühmen, wie hier ein kühler Wind immer wehe und
auch im heißen Sommer niemals die Hitze aufkommen lasse.
Hier also hat Ccitullus gehaust, wenn auch seine Villa mit den sogenannten
Grotten des Catull schwerlich etwas zu tun hat, der größte Lyriker der römischen
Literatur (geboren 87 v, Chr.), aber von Geburt und Art kein Römer, sondern
ein romcmisierter Gallier aus Verona, leichtlebig, erregbar und elegant wie ein
Franzose, und er hat den Reiz seines geliebten Sirmione so lebhaft empfunden
wie ein moderner Mensch. Wie jubelt er auf, als er im Jahre 56 v. Chr. aus
dem fernen Kleinasien wieder zurückkehrt auf eignem, schlankem Schnellsegler,
der ihn nach dem Wortlaute seines Gedichts auch noch den Po und den Mincio
herauf bis in den Gardasee getragen hatte, wie preist er seinen „glänzenden See"
und seine „klaren Wellen", und Sirmio nennt er den „Augapfel aller Inseln
und Halbinseln".
Wenn er hinaussah auf die weite Flut, da konnte er nicht ahnen, daß in
diesen See dereinst eine große Bölkerstraßc von Norden nach dem Süden münden
werde, und daß alljährlich die Nachkommen nordischer Barbaren, von denen er
kaum den Namen kannte, die ihm und seinen Zeitgenossen fürchterlichen Alpen
übersteigen würden, nur um das herrliche Bild in sich aufzunehmen, das er als
ein heimisches schaute.
Nissen, Jtalische Landeskunde I, 167; II, 2.208. I. Jung, Die ro¬
manischen Landschaften des römischen Reichs. H. I. Bidermann, Die Romanen in Öster¬
reich, 187S. S, Riezler, Geschichte Bayerns I. A. Jäger, Geschichte der landständischen
Verfassung Tirols I. Egger, Tirol und Vorarlberg. O. Wanka von Rodlow, Die Brenner¬
straße im Altertum und Mittelalter (Prager Studien aus dem Bereiche der Geschichtswissen¬
schaft VII, 1900). Oorx. ius-orivt. tat. V, 2. A. Meitzen, Siedelung und Agrarwesen der
Westgermanen und Ostgermanen I. III. L. Woltmann, Die Germanen und die Renaissance
in Italien. O. Redlich, Ein alter Bischofssitz im Hochgebirge (Zeitschrift des deutschen und
des deutsch-österreichischen Alpenvereins 1890). F. Krones, Land und Leute Westeuropas
am Schlüsse des Mittelalters (Zeitschrift für allgemeine Geschichte 1887). A. Schulte, Die
Fuggsr in Rom, 1904. L- Neumann, Die deutsche Sprachgrenze in den Alpen, 1886.
G. S o litro, Der Gardasee, deutsch von F. I. Bräuor (in der Sammlung I/ItiM -u'ti8lives, 190S.
I. R. Haarhaus, Auf Goethes Spuren in Italien I (in der Sammlung: Kennst du das
Land?), 1896."
! er auf die Orgelborner Kirmes folgende Tag hatte für die Bopparder
nie zu den Annehmlichkeiten des Lebens gehört, aber diesesmal lastete
ein Katzenjammer oder wie man es mit einem mildern Ausdruck nannte:
ein Hauptweh über der Stadt, woraus man ohne Schwierigkeit eine
Aschermittwochstimmung hätte bereiten können, die für das ganze Erzstift
! und für den Bedarf von sieben Jahren ausgereicht haben würde.MjMU
He^WH
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Es war nicht nur der im Übermaß genossene Wein, dem man dieses Haupt-
weh verdankte, sondern auch die Reue darüber, daß man dem Kurfürsten einen
Possen gespielt hatte, für den er, wie auch der Streithandel schließlich enden mochte,
gewiß Rache nehmen würde, vor allem aber war es das drückende Gefühl, dem
alten Herrn, mit dem die Bürger gestern wie mit ihresgleichen verkehrt hatten,
und dessen Huld und Leutseligkeit sie nicht genug rühmen konnten, um wieder als
einem Todfeinde gegenübertreten zu müssen.
Johann der Zweite fand sich an diesem Dienstagmorgen in einer ähnlichen
Stimmung. Er war vom Kriegführen kein Freund, noch weniger vom erfolglosen
Kriegführen. Er hatte seine Bopparder schonen und sich darauf beschränken wollen,
sie durch Aushungerung zur Übergabe der Stadt und zur Gefügigkeit zu zwingen,
und nun war ihm kund geworden, daß sie im Überflusse schwelgten! Bei der
Kollation auf dem hohen Kloster hatte er von der Äbtissin zu erfahren gesucht,
wie es mit den Viehvorräten in der Stadt stünde, aber die Domina, der der
Anlaß willkommen gewesen war, den Kurfürsten ihren Unmut darüber fühlen zu
lassen, daß man sich ihrer nicht als einer Vermittlerin bedient hatte, war allen
Fragen geschickt ausgewichen, und so mußte sich der alte Herr denn mit dem be¬
gnügen, was ihm die Bopparder durch ihre dreifache Opfergabe symbolisch anzu¬
deuten für gut befunden hatten.
Er hätte die Belagerung am liebsten abgebrochen und wäre mit dem Bewußtsein,
daß Milde und Nachsicht einem geistlichen Fürsten zu größerm Ruhm gereichten als
Zorn und Rache, zu seinen Schmelztiegeln und Windofen in die Adeptenküche der
Koblenzer Burg zurückgekehrt, aber er wurde bei dem Kriegsrate, den man kurz nach
Sonnenaufgang abhielt, von seinen Beamten, Feldhauptleuten und Verbündeten über¬
stimmt und mußte schweren Herzens die Einwilligung zu der Wiedereröffnung der
Feindseligkeiten geben. Ja er konnte nicht einmal etwas Stichhaltiges gegen die all¬
gemein mit großem Eifer vertretne Ansicht vorbringen, man dürfe sich nun nicht
mehr auf die Beschießung der Mauern und der Außenwerke beschränken, sondern
müsse die Kugeln mitten in die Stadt werfen und das Geschütz überhaupt so aus¬
giebig gebrauchen, daß der Feind kleinmütig und zu Verhandlungen geneigt werde.
Mit Mühe setzte er dnrch, daß die Severuskirche, das Karmeliterkloster und der
Rebenstock nach Möglichkeit verschont würden, wie er denn den Büchsenmeistern auch
zur Pflicht machen ließ, dafür zu sorgen, daß die Burg keinen Schaden erleide.
Dann aber zog er sich verstimmt in sein Gemach zurück und lauschte kummervoll
auf den dumpfen Krach der Hauptstücke, deu Donner der Kartaunen und den Knall
der Feldschlangen und der Falkonetten, die jetzt im ganzen Umkreis ihre Stimme
ertönen ließen.
Die Bopparder, die halb und halb gehofft hatten, man würde zur Nachfeier
und zur Erholung von den Anstrengungen des Festes das »rmistitium stillschweigend
um einen Tag verlängern, waren nicht wenig erstaunt, als die Kanonade wieder
begann und sie zwang, Bett und Morgensüpplein im Stiche zu lassen und ihre
Posten auf den Mauern wieder zu beziehn. Sie konnten sich nach den Erfahrungen
des Sonntags die Tatsache anfangs gar nicht erklären, daß das feindliche Feuer
nun plötzlich soviel wirksamer war als zuvor. Denn in der Oberstadt fielen gleich
Zwei Kugeln durch das Dach des Hauses zum Rosenkranz und richteten auf dem
Boden und im Oberstock eine furchtbare Verheerung an. Die Kranzwirtin war jedoch
eine resolute Frau und wußte, was sie zu tun hatte. Nachdem sie den Schaden
übersehen und die Löcher in den Dielen mit ein paar Brettern überdeckt hatte, packte
sie die schweren Steinkugelu eine nach der andern in den Schoß ihres Kleiderrocks
und trug sie mit unsäglicher Mühe ans die Bcilzerpforte, damit sie dnrch die dort
aufgestellte Kartaune wieder in das feindliche Lager zurückbefördert würden. Die
wackere Frau harrte auch mutig bei dem Geschütz aus, bis beide Schüsse abgegeben
worden waren, und sie die Genugtuung mit nach Hause nehmen konnte, daß sie
dem Kurfürsten die Antwort auf den unfreundlichen Morgengruß nicht schuldig
geblieben sei.
So ungnädiger Grüße gab es freilich an diesem Tage noch mehrere. Im
Boosenhofe fuhr eine Falkonettkugel durch das Fenster in die Schlafkammer, riß der
entsetzten Magd, die gerade die Betten ausschüttelte, ein Federkissen aus den Händen,
daß die Federn wie Schneeflocken umherstoben, und schlug unter dem Weihbrünnlein
in die Wand. In der Rheingasse ging ein Haus in Flammen auf und brannte
bis auf die Grundmauern nieder, da sich die Nachbarn in der allgemeinen Auf¬
regung darauf beschränkten, ihre eignen Häuser gegen die überspringenden Flammen
zu verteidigen. Der Schreck, der darob in der Stadt entstand, konnte übrigens
kaum größer sein als der des Kurfürsten, dessen geistiges Auge schon als den letzten
Rest des blühenden Boppards einen rauchenden Trümmerhaufen lind ein paar zweifel¬
hafte Privilegien sah. Den größten Erfolg hatte jedoch der Büchsenmeister auf¬
zuweisen, der mit seinen Knechten die nach dem Unfall vom Sonntag glücklich wieder
gelagerte Hauptbüchse „Ungnade" bediente. Es gelang ihm, die mit zwei Kartaunen
besetzte Lilienpforte durch eine Reihe wohlgezielter Schüsse so stark zu beschädigen,
daß sie von den Verteidigern verlassen werden mußte und nach und nach, besonders
seit sich auch die markgräfliche Hauptbüchse an dem Zerstörungswerke beteiligte, in
Trümmer sank.
Mit diesem Ergebnis konnte man zufrieden sein, und Johann der Zweite, der
in jedem Geschützdonner nicht den Kampfruf des Kriegsgottes, sondern die Stimme
des Friedensengels zu hören vermeinte, erwog ernstlich, ob seine unbotmäßigen Bop¬
parder die väterliche Zuchtrute nun wohl genug gefühlt hätten. Aber seine Berater
meinten, man müsse das Eisen schmieden, solange es heiß sei, und dürfe die Städtischen
nicht mehr zu Atem kommen lassen. Deshalb stellte man das Feuer auch mit der
anbrechenden Nacht nicht ein, sondern ließ die groben Stücke trotz der Finsternis
stündlich, gleichsam wie im Traume, ihr Sprüchlein sprechen.
Über diese Störung der Nachtruhe war man in der Stadt sehr ungehalten,
und besonders die Herren von der Adelspartei, die längst einen Sturmangriff er¬
wartet hatten und dem Feinde die unritterliche Schießerei nicht verzeihen konnten,
trugen sich ernstlich mit dem Gedanken, einen Ausfall in hellen Haufen zu machen
und die Kurfürstlichen in ehrlichem Kampfe aus ihren Schanzen zu vertreiben. Als
sie diesen Plan in der am frühen Morgen einberufnen Ratsversammlung vorbrachten,
wurden sie jedoch von den Bürgerlichen, die alles unnütze Blutvergießen vermeiden
wollten, überstimmt. Sie kehrten unwillig auf ihre Posten zurück und suchten ihren
Groll, so gut es gehn wollte, hinunterzuwürgen. Aber Herr Sifried von Schwalbach,
der mit seinem Häuflein beim Anmärsche des Feindes den so unglücklich abgelaufnen
Ausfall gemacht hatte, konnte sich nicht enthalten, die Kurfürstlichen dadurch zu ver¬
höhnen, daß er sich unbekümmert um die Kugeln in voller Rüstung auf der Mauer
und dem Waldeckturme zeigte und die Stellen, wo ein Geschoß eingeschlagen hatte,
mit einem Kehrbesen reinfegte.
Dieser Spott reizte den markgräflichen Büchsenmeister, der sich den Turm zum
Ziele ersehen hatte, nur noch mehr, und der Zufall fügte es, daß eine Falkonett¬
kugel dem tollkühnen Ritter die Brust zerschmetterte und seinem hinter ihm stehenden
Knechte den Kopf wegriß.
Als der Kurfürst hiervon Kunde erhielt, geriet er außer sich vor Zorn und
gab, allen Gegenvorstellungen seiner Freunde zur Trotz, den Befehl, das Feuer
einzustellen. Der Tod eines der einflußreichsten Häupter des städtischen Adels war
ihm höchst fatal und entsprach keineswegs seinen Absichten. Er erklärte mit einer
Bestimmtheit, die man bei ihm sonst nicht gewohnt war, die Unbotmäßigkeit der
Bopparder sei nun hinreichend gesühnt, und er sei nicht vor die Stadt gerückt, um
sie vom Erdboden zu vertilgen und ihre Bewohner auszurotten, sondern nur, um
sie eindringlich zum Gehorsam zu ermahnen und nach der Weise eines verständigen
Vaters milde zu strafen. Und so ordnete er denn sogleich den Junggrafen von
Oberstein und den Kanzleischreiber Peter Meyer von Regensburg als Legaten an
den Rat ab, gab ihnen einen Trompeter mit auf den Weg und trug ihnen auf,
bei den Boppardern anzufragen, ob sie des Handels nun genug hatten und mit
Seiner Gnaden in Unterhandlung treten wollten.
In Boppard, wo man nach den bösen Geschehnissen der letzten vierundzwanzig
Stunden des Kriegführens nicht minder müde war als auf dem hohen Kloster,
hatte man, sobald der schreckliche Tod des Schwalbachers bekannt geworden war,
aufs neue eine Ratsversammlung einberufen und verhandelte gerade darüber, ob
man nicht besser täte, sich dem Kurfürsten auf Gnade und Ungnade zu ergeben,
ehe die Einwohnerschaft noch weiter an Leib, Leben und Gut Schaden nähme. Da
wurden die feindlichen Abgesandten gemeldet.
Die von den bürgerlichen Bänken wären ihnen am liebsten entgegengestürzt
und hätten sie im Triumphe auf die Ratsstube geholt, aber die Herren vom Adel
waren der Meinung, man müsse den Vorteil der Lage ausnutzen, die Legaten so
kühl wie möglich empfangen und sich allen Vorschlägen des Feindes gegenüber zu¬
nächst ablehnend Verhalten. Das geschah denn auch, wenigstens soweit die Formali¬
täten des Empfanges und der Verhandlung in Betracht kamen; aber die beiden
Kurfürstlichen hätten mit Blindheit geschlagen sein müssen, wenn ihnen die Freuden¬
feuer, die unter den zugeknöpften Röcken und Wämsern loderten, unbemerkt geblieben
wären. Und als man die Abgesandten dann halb wider ihren Willen mit auf
des Rates Trinkstube nahm, da konnten sie aus der Anzahl der ihnen zugetrunknen
Becher erkennen, wie dankbar die Bopparder Johann dem Zweiten dafür waren,
daß er ihnen die Gelegenheit bieten wollte, sich in Frieden und Freundschaft mit
ihm zu vergleichen.
Das Ergebnis der Gesandtschaft war die Verabredung einer Zusammenkunft
zweier Ratsmitglieder und zweier vom Kurfürsten zu bestimmender Mittelsmänner
zum Zwecke der Friedenspräliminarien. Die Verhandlungen sollten am kommenden
Samstag im kleinen Refektorium des Juugferustifts geführt und nicht eher beendet
werden, als bis man ein Instrument aufgesetzt und beiderseitig unterzeichnet hätte, auf
Grund dessen der Friedensschluß ohne sonderlichen Nachteil einer der kontrahierenden
Parteien möglich sein würde.
Hüben wie drüben war die Freude über deu Waffenstillstand und die in so
nahe Aussicht gerückte Beilegung des Streithandels gleich groß, und man sah dem
Samstag entgegen, als ob er eine zweite Orgelborner Kirmes gebracht hätte.
Zu der festgesetzten Stunde fanden sich die mit der Vertretung der Stadt
betrauten Männer, Herr Adam Beyer und Meister Metzler, auf dem hohen Kloster
ein, wo sie die kurfürstlichen Unterhändler, den Herzog und Pfalzgrafen Johann
und dessen Marschall, den Ritter Bertram von Nesselrode, schon vorfanden. Jede
Partei hatte ihren Sekretarius mitgebracht, die Städtischen den Ratsschreiber Severus
Classen, die Kurfürstlichen den Kanzleischreiber und kaiserlichen Notarius Peter Meyer
von Regensburg. Aus Furcht, eine glückliche Verständigung könnte aus Mangel an
Entgegenkommen auf einer der beiden Seiten scheitern, befolgte man bei der Ver¬
handlung denselben Grundsatz, der schon für alles Vorangegangne maßgebend gewesen
war: man suchte den Gegner nach Möglichkeit zu schonen und ihm goldne Brücken
zu bauen. Durch diesen edeln Wetteifer wurde die Tätigkeit der Kommission nicht
wenig erschwert, man kam sich mit den Vorschlägen nicht nur entgegen, sondern
rannte damit gleichsam aneinander vorbei, sodaß man, um nur glücklich zusammen¬
kommen zu können, fast bei allen Punkten die dem Gegner anfänglich gemachten
Konzessionen wieder einschränken mußte. Infolgedessen war das Ergebnis dieser selt¬
samen Verhandlung ein Dokument, aus dem kein Mensch hätte ersehen können, wer
von den beiden Kontrahierenden aus dem Streite als Sieger hervorgegangen war,
wenn nicht Herzog Johann, um seinem hohen Auftraggeber wenigstens eine kleine
Genugtuung zu verschaffen, die Klausel hineingebracht hätte, daß der Kurfürst die
Stadt mit seiner Heeresmacht besetzen und die Huldigung der ganzen Bürgerschaft
entgegennehmen müsse, wogegen er sich verpflichte, jede Schädigung der Einwohner
an Leib, Leben, Ehre oder Gut zu verhüten, dem auswärtigen Adel und deu von
den Boppardern cmgeworbnen Söldnern freies Geleit rheinaufwä'res bis Bingen und
rheinabwärts bis Andernach zu gewähren und dem löblichen Rate samt Ehefrauen
und Töchtern in seiner Burg ein Bankett zu geben. Im übrigen sollte Bann und
Interdikt von der Stadt genommen, das alte Verhältnis, wie es vor der Irrung
bestanden habe, wiederhergestellt und aller Zwist gänzlich abgetan, ausgetilgt und
vergessen werden.
So fand die Fehde, die, wenn man von dem halben Dutzend Toter absah,
mehr als ein auf die Sommersonnenwende verlegter Fastnachtsschwank als ein Krieg
gewesen war, einen beide Gegner befriedigenden Abschluß. Johann der Zweite war
glücklich, daß ihm die Stadt die Tore öffnen wollte, und die Bopparder trium¬
phierten darüber, daß der Kurfürst sie nicht habe zwingen können, zur Huldigung
zu ihm in sein Hauptquartier hinauszukommen, sondern sich nun in eigner Person
zu ihnen in die Stadt bemühen müsse. Und um dem Einzug der kurtrierischen Völker
jeden Beigeschmack einer kriegerischen Besetzung zu nehmen, beschlossen sie, die Tore
und die Gassen mit Laub- und Blumengewinden zu schmücken und das bevorstehende
Ereignis sich selbst zum Troste und dem Gegner zu Ehren in ein fröhliches Fest
umzuwandeln.
Daß ihre adlichen Bundesgenossen, die Herren von Löwenstein, von Seyntenbach,
von Breitbach, die beiden Hilgin, Herr Friedrich von Rüdesheim, dessen Stiefsohn
Brömser und der unselige Schultheiß Paul von Lepe samt den gewordnen Söldnern
in aller Frühe des Einzugstages die Stadt ohne Sang und Klang räumen mußten,
schmerzte die Bürgerschaft nicht allzusehr, und als Nickel Langhenne, gerade als das
Schiff die Burg passierte, vom Turme hinab auf einem Zinken das Lied „In Gottes
Namen fahren wir" blies, hatte er allenthalben die Lacher auf seiner Seite.
Zwei Stunden darauf krachten die Kartaunen auf den Mauern zum letztenmal,
nicht Tod und Verderben drohend wie bisher, sondern zur festlichen Begrüßung
des besiegten Gegners oder des siegreichen Unterlegnen, dessen Vasallen und Knechte
in Rotten und Fähnlein durch die Bälzerpforte in die Stadt rückten, allen voran
die erzstiftischen Würdenträger und Feldhauptleute, die ihre Helme und Etsenhauben
mit grünen Reisern geschmückt hatten und aussahen, als ob sie zu einer Hochzeit
zögen. Die Heeresmacht verteilte sich durch alle Gassen und Häuser, um im Namen
des Kurfürsten wenigstens symbolisch von Boppard Besitz zu ergreifen. Überall fand
sie den freundlichsten Empfang: die Hausväter zapften vom Besten, und die Frauen
trugen auf, was Küche und Vorratskammer zu bieten vermochten.
Das war freilich wenig genug, und die Gäste merkten gar bald, wie es mit
den Fleischtöpfen stand, um derentwillen ihr Gebietender die Belagerung so bald
abgebrochen hatte. Weil man jedoch den Städtischen zeigen wollte, daß man ihnen
ihre Kriegslist und den übermütigen Streich mit dem kurtrierischen Ochsen nicht
nachtrage, beeilte man sich, dem Kurfürsten, der noch auf dem hohen Kloster weilte,
den Sachverhalt mitzuteilen und ihm die Not seiner getreuen Bopparder mit beweg¬
lichen Worten zu schildern. Da ließ der alte Herr, froh, den wiedergefundnen
Söhnen einen Beweis seiner väterlichen Milde geben zu können, eine ganze Herde
Rindvieh und Hämmel in die Stadt treiben und auf dem Markte Fleischbänke er-
richten, wo jeder seinen Bedarf für drei Tage umsonst decken konnte. Beinahe
freilich wäre dieses reiche Geschenk für die Stadt verloren gewesen, denn die vom
Kurfürsten gewordnen Söldner, die in den Schanzen vor der Niederstadt lagen,
und denen man, damit sie ihrer Lust zum Plündern nicht frönen konnten, auf Johanns
weise Anordnung den Einlaß verweigert hatte, machten den Versuch, sich des Viehs
zu bemächtigen, und mußten mit Waffengewalt zur Vernunft gebracht werden. Dann
aber zogen sie in großen Rotten drohend und fluchend um die Mauern und ließen
sich erst zum Abzüge bewegen, nachdem man ihnen den Sold für drei Tage aus¬
gezahlt und jedem sein Deputat an Fleisch, Brot und Wein in einem Korbe von
den Zinnen hinuntergelassen hatte.
Am nächsten Morgen hielt dann der Kurfürst feierlichen Einzug. Der Herr
von Helffenstein als der Erbmarschall des Erzstifts ritt mit dem trierischen Banner
der glänzenden Kavalkade voran, dann folgte in erzbischöflichen Ornat Johann der
Zweite, umgeben von Edelknaben, die auf Samtkissen Kurhut, Helm und Schwert
trugen. Zu seiner Rechten ritt der Kurfürst und Pfalzgraf Philipp, zur Linken
der Landgraf von Hessen, und diesen schlössen sich dem Range nach die im Feld¬
lager anwesenden Fürsten, Grafen und Edeln an. In dem Augenblick, wo der Zug
unter dem Tore anlangte, begannen die Glocken zu läuten, die volle achtzehn Wochen
laug geschwiegen hatten.
Vor dem Portal von Se. Severus stiegen die Herrschaften ab und begaben
sich in die Kirche, um die Messe zu hören. Von dort ging es auf den Markt,
wo vor dem Rathaus ein geräumiges Zelt errichtet worden war, dessen Teppich-
behaug das kurfürstliche und das erzstiftische Wappen zeigte. Unter dem Zeltdach
standen Sessel, in deren Mitte ein erhöhter Thronsitz für den Kurfürsten. Als
dieser mit seinen Begleitern Platz genommen hatte, trat der Graf von Solms vor,
empfing aus den Händen des Kanzlers ein Pergament und verlas den Wortlaut
der Huldigung, den die auf dem Markte versammelten Bürger mit erhobnen Schwur¬
fingern nachsprechen mußten. Dann näherte sich jeder einzelne dem Throne, ließ
sich vor demi Erzbischof auf die Knie nieder und gelobte ihm mit Handschlag
ewige Treue.
Die Handlung war ernst und feierlich genug, aber dennoch gab es auch hierbei
wieder einen heitern Auftritt. Als Meister Balduin Bochler, der beleibteste der
Bopparder, seinen Spruch gesprochen hatte, machte er einige ebenso spaßhafte wie
vergebliche Anstrengungen, wieder auf die Füße zu kommen. Da ihm keiner seiner
Freunde und Genossen beisprang, rutschte er in Heller Verzweiflung auf den Knien
hin und her, bis sich der Kurfürst selbst seiner erbarmte und ihm mit eigner Hand
emporhalf. Kaum war der Dicke beiseite getreten, da drängte sich ein blondlockiges
Büblein durch die Menge, schwenkte ein winziges Banner mit dem kurtrierischen
Kreuz, kniete vor Johann dem Zweiten nieder und sprach mit Heller, weithin ver¬
nehmbarer Stimme die Huldiguugsformel.
Die ganze Versammlung brach in ein fröhliches Gelächter aus, um so mehr, als
plötzlich Meister Metzler die Reihen der Bürger durchbrach und den Versuch machte,
das Kind beim Wämslein zu erwischen. Nur der Kurfürst blieb ernst, hielt des
Knäbleins Hand fest in der seinen und hob den Kleinen auf das Knie.
Du hättest dir die Huldigung ersparen können, Büblein, sagte der alte Herr,
dem die Tränen in die Augen traten, daß du gut kurfürstlich bist, das weiß ich
längst. Aber daß du nicht hast zurückstehn wollen und mir gleichwie die Großen
auch für die Zukunft die Treue versprochen hast, das war schön von dir, Peterlein.
War aber auch schön von Euch, Herr Kurfürst, daß Ihr neulich beim Fest
Wort gehalten und der Gin den Junker herausgegeben habt, meinte das Kind zu¬
traulich, und dafür hat mir die Gin das Banner gemacht, und die Gin hat sich
auch gefreut. Bloß nachher, am Abend, da ist sie traurig worden, weil sie den
Wygant wieder hat hergeben müssen.
Über die Zuge Johanns glitt ein Lächeln.
Mit deiner Schwester hab ich noch ein Hühnlein zu rupfen, sagte er. Die
mag sich vorsehn, wenn sie auf den Abend in die Burg kommt.
Ist die Gin nicht brav gewesen, Herr Kurfürst? fragte Peterlein.
Gar nicht brav, Büblein. Aber das Rindvieh soll ihr noch eingetränkt werden.
Hat sie Euch ein Rindvieh genannt?
Genannt gerade nicht, wenigstens nicht mit Worten, antwortete der Kurfürst,
dem die unerwartete Wendung der Unterhaltung unbehaglich wurde. Er ließ das
Kind von seinem Knie hinabgleiten und schob es sanft vorwärts. Aber der kleine
Peter drehte sich noch einmal um, nickte dem Gewaltigen zu und bat:
Machts gelind mit der Gin, Herr Kurfürst, sie ist ja nur ein Weibsbild!
Dann trottete er, sein Banner schwenkend, davon.
Kurz vor Mittag war die Huldigung zu Ende, und die Herren zogen sich in
die Burg zurück, wo den Fürsten und den Grafen, die Zeugen des Vorgangs ge¬
wesen waren, und deren reisige Knechte zum Abmarsch bereit vor den Stadttoren
lagen, eine Abschiedskollation gereicht wurde. Um diese Zeit verließen auch die
Damen des adlichen Jungfernstifts die Stadt und kehrten mit ihrer ganzen fahrenden
Habe in das hohe Kloster zurück. Es drängte die Äbtissin, sich davon zu über¬
zeugen, daß den Gebäuden und namentlich dem Garten kein ernstlicher Schade wider¬
fahren sei. Und zu ihrer Freude fand sie alles noch in bester Ordnung; nur die
Wiesen, wo die Zelte gestanden hatten, und die Schanzen aufgeworfen worden waren,
zeugten von den Ereignissen der letzten Woche. Aber die Brustwehren konnten
niedergerissen, die Gräben ausgefüllt werden, und im nächsten Frühling mußte jede
Spur des gewaltsamen Eingriffs in den klösterlichen Frieden verwischt sein.
Die Frühbirnen und die Kirschen waren freilich verschwunden, und hie und da
hatten rohe Hände auch ein Zweiglein mit abgerissen, aber die Bäume standen noch
unversehrt und schienen gar nicht darüber zu trauern, daß man sie von ihrer Last
befreit hatte. Das Würzgärtlein dagegen schien kein fremder Fuß betreten zu haben,
die Rosen und die Lilien blühten reicher als je, und Salbei und Minze, Liebstöckel
und Raute, Bockshornklee und Rosmarin dufteten, als ob sie auf ihre Weise die
heimgekehrte Pflegerin hätten grüßen wollen. Die Domina verstand auch die Sprache
ihrer Pflanzenkinder, sie bückte sich zu jedem einzelnen Kräutlein hinab, ließ die
würzigen Blättlein durch ihre Finger gleiten und sog den Duft, den sie daran
zurückließen, begierig ein. Dazwischen reutete sie das Unkraut, das ihre Abwesenheit
dazu benutzt hatte, sich breit zu machen, schöpfte aus dem Börne, der den Garten
durchrieselte, Wasser und erquickte die dürstenden Pflanzen mit einem frischen Trunk.
Von den Rosen und den Lilien aber pflückte sie sich einen tüchtigen Strauß und
stellte ihn in ein steinernes Krüglein auf dem Kaminsims ihres Gemaches. Und
dann wandte sie sich ihren Pflichten als Regentin und Hausmutter zu und über¬
wachte die geschäftigen Laienschwestern und Mägde, die mit Eimern, Besen und
Räucherpfannen den letzten Hauch des männlich-kriegerischen Geistes aus den jung¬
fräulichen Räumen zu vertreiben bemüht waren.
Als Meister Metzler den letzten der mit Kisten und Kasten beladnen Wagen
auf das hohe Kloster geleitet hatte und nun in den Rebenstock zurückkehrte, fand er
Frau und Tochter schon festlich gekleidet und geschmückt. Dem Mädchen war freilich
etwas bänglich zumute, denn der kleine Peter, dem seine Huldigung daheim eine
Tracht Prügel eingetragen hatte, war in dem Bestreben, seinen Kummer mit irgend
jemand zu teilen, nicht davor zurückgeschreckt, das Hühnlein, das der Kurfürst mit
Regina zu rupfen versprochen hatte, in ein sehr gewichtiges Huhn zu verwandeln.
Es schien jedoch, als habe Johann der Zweite das Hühnlein vergessen. Er
bewegte sich inmitten seiner Festgäste wie ein Vater unter seinen Kindern und hatte
für jeden ein freundliches Wort. Auch Meister Metzler und die Seinen wurden
mit einer gnädigen Ansprache beehrt, und Regina gab sich der Hoffnung hin, daß
mit dem ganzen Bopparder Handel auch ihre eigne kleine Schuld abgetan und
ausgelöscht worden sei. Und als, gleich nachdem sich der Kurfürst einem andern
Ratsherrn zugewandt hatte, der Junker Wygcmt auftauchte und die alten Freunde
aus dem Rebenstock mit einer Herzlichkeit begrüßte, als sei zwischen Kurtrier und
Boppard nie etwas vorgefallen, da verwandelte sich das Hühnlein in einen Paradies¬
vogel, breitete die bunten Schwingen aus und stieg, unbekümmert um das dicke
Steingewölbe des Saales, geradeswegs zum Himmel empor.
Die beiden jungen Menschen traten in eine Fensternische und richteten den
Blick auf die letzte Glut des Sommerabends, die auf den Ziegeldächern und den
Turmhauben der Stadt einen ganzen Garten von purpurnen Rosen hervorgezaubert
hatte, während sich um die Berge zartblaue und violette Schleier woben. Da be¬
gann das Aveglöcklein von Se. Severi zu läuten — zum erstenmal wieder seit
achtzehn Wochen. Aber während sich alle andern Festgäste zu einer kurzen Andacht
auf die Knie niederließen, blieb das junge Paar stehn und lauschte dem wohl¬
bekannten Klänge wie einer Stimme aus längst entschwundnen glücklichen Tagen.
Beide fühlten sich der Gegenwart entrückt, sie glaubten auf einer einsamen Insel
zu weilen, während die Flut alles Lebende ringsumher verschlungen hatte.
Da legte sich plötzlich eine schwere Hand auf des Mädchens Schulter. Regina
wandte sich um und sah den Kurfürsten an ihrer Seite stehn.
Hütet Euch vor dem Jüngferlein, Junker Wygcmt, sagte der alte Herr, indem
er seinem Schloßhciuptmaun zublinzelte, und glaubt nicht alles, was sie Euch sagt.
Sie versteht sich brav aufs Lügen.
Ich lüge nicht, Kurfürstliche Gnaden...
Oho, Jüngferlein! Wie wars denn mit dem Rindvieh? Hattest du nicht
gesagt, es sei mehr Rindvieh in der Stadt, als man zu füttern vermöchte?
So hab ich gesagt, Kurfürstliche Gnaden, und so ists anch gewesen. War ein
Ochse mehr in Boppard, als wir zu füttern vermochten. Oder denkt Ihr, Eure
Leute hätten die Unsern in die Burg gelassen, damit sie dem Ochsen, so den Stadt-
knechteu zum Trotz auf das Schloß gelangt war, hätten Futter schütten können?
Wenn Jhrs aber anders verstanden habt, Kurfürstliche Gnaden, und wie Eure Leute
die für Rindvieh erachtet, die zu Boppard auf den Ratsbänken und auf den Schöffen¬
stühlen sitzen — bei diesen Worten trat Regina dicht an das Fenster und wies auf
das mit dem Papierbarett geschmückte Tierhaupt, das noch immer aus der Turm¬
luke nach der Stadt hin schaute —, so müßt Ihr wissen, daß solcher Ochsen in
Wahrheit mehr in der Stadt waren, als mau satt machen konnte. Mein Vater
hat freilich keine sonderliche Not gelitten, denn für ihn, als einen stiftischen Diener,
fielen immer etliche Bröcklein von der Frau Äbtissin Tafel, aber ich könnte Euch
mehr denn einen nennen, der froh war, wenn er des Tags einen Salzhering oder
ein Gericht dürrer Erbsen hatte.
Wygcmt, Wygcmt! sagte der Kurfürst, habt Ihr gehört, wie sie sich den Hals
aus der Schlinge redet? Ach, was ist all unsre Klugheit gegen die Arglist der
Weiber! Und zu den übrigen Gästen gewandt, denen der Auftritt in der Fenster¬
nische nicht unbemerkt geblieben war, fuhr er mit erhabner Stimme fort: Liebe und
Getreue, sonderlich edle und weise Herren vom Rat! Wir haben zwar, wie euch allen
wißlich, miteinander einen Vergleich geschlossen, daß die Irrung und Spannung zwischen
uns und euch gänzlich abgetan und ausgelöscht sein möge, aber nun fällt uns schwer
auf die Seele, daß wir eoucMousm unam eÄwcms AiavissiwAm vergessen haben.
Die Bopparder erschraken. Sie glaubten schon, Johann der Zweite habe sie
in die Burg geladen, um sie mit einer Forderung zu überrumpeln, auf die sie nicht
gefaßt waren.
Ihr habt zu Boppard in der Stadt ein Mägdlein, Regina Metzlerin mit
Namen, erklärte der Kurfürst, die hat uns draußen auf dem Anger beim hohen
Kloster mit ihrer listigen Zunge also betört, daß wir um ihrer glatten Worte willen
und aus keiner andern Ursache die Belagerung zeitiger, denn gut und nötig war,
aufgegeben haben. Wir würden nun, wo wir auch immer wären, es sei in unserm
Erzstift oder außer Landes, keine ruhige Stunde mehr haben, wenn wir besagte
Regina Metzlerin in unsrer getreuen Stadt Boppard wüßten, sintemalen wir ge¬
nötigt wären, uns jederzeit ihrer Anschläge wider uns zu versehen. Deshalb ver¬
langen und fordern wir ernstlich, ihr sollet das Mägdlein von euch lassen und aus
der Stadt verweisen, und haben aus väterlicher Nachsicht und Fürsorge unsern
lieben getreuen Junker Wygant von Modersbach, bis jetzo Schloßhauptmann zu
Boppard, nun aber bestellten Amtmann zu Kochein, gebeten, das Jüngferlein zu
seinem ehelichen Weibe zu machen und mit sich von dannen gen Kochen zu führen,
welche Bitte uns gedachter Modersbacher aus sonderlichen Gehorsam nicht hat ab¬
schlagen mögen. Wir hoffen und rechnen darauf, daß der ehrenfeste Meister Metzler,
als des Mägdleins leiblicher Vater, viel weniger Regina Metzlerin selbst, unsern
Wünschen entgegen sein wird, daß beide vielmehr den Anlaß wahrnehmen, uns für
die gnädige und milde Strafe dankbar zu sein, und sich hierfüro so stellen und
halten, daß wir ihnen unsre Gunst und Huld wieder zuwenden können.
Regina, auf deren Wangen das verbleichende Abendrot noch einmal in voller
Pracht aufleuchtete, versuchte die Hand des alten Herrn zu küssen, der Vater
stammelte Worte des Dankes, die übrigen Bopparder aber, die sich plötzlich um
eine gute Zentnerlast erleichtert fühlten, und deren Herzen die Güte des Kurfürsten
nicht minder bewegte als der Anblick der schweren silbernen Schüsseln, die in diesem
Augenblick von den Edelknaben in den Saal getragen und auf den gedeckten Tafeln
verteilt wurden, brachen zum drittenmal in den Ruf aus: Viv^t ^odannss sseunäus!
Das Volk und die Jugend, die dichtgeschart draußen vor der Burg standen
und neugierig-sehnsüchtig zu den Fenstern aufschauten, stimmten in den Ruf ein,
und so pflanzte sich der Jubel durch die ganze Stadt fort — so laut, daß man
droben in Marienberg die drei Worte deutlich verstehn konnte.
Die Äbtissin, die gerade am Fenster gestanden und sich an der so lange ent¬
behrten Aussicht in das allgemach verdämmernde Rheintal und auf das verblassende
Bild der Stadt zu ihren Füßen erfreut hatte, trat still lächelnd in das Gemach
zurück und preßte ihr volles Matronenantlitz in den berauschend duftenden Blumen¬
strauß auf dem Kaminsims. Da fiel ihr Blick auf eine vom letzten Abendschein
beleuchtete Kachel des bunten oberländischen Ofens. Und nun sah sie, was sie noch
nie zuvor gesehen zu haben glaubte: auf der Kachel war der alte Heidengott Mars
abgebildet, wie er in voller Rüstung auf einem gewaltigen Geschützrohre saß. Seine
Arme aber waren mit Rosengewinden auf dem Rücken gefesselt, und neben ihm
stand ein nacktes geflügeltes Gvtterbüblein, das die Blumenkette in der einen Hand
hielt und mit der andern einen Pfeil ans des Gefangnen Herz zuckte. Darum zog
sich ein Spruchband, auf dem die Worte standen:
Omnis. vineit g,nor, nos se escliunus g-wori.
Wie entstehn „politische Verstimmungen" ? Wir haben da ein recht lehrreiches
Beispiel. Eine Potsdamer Korrespondenz hatte unmittelbar nach der Geburt des
Sohnes des Kronprinzen die Nachricht in Umlauf gesetzt, daß eine Amnestie zu
erwarten sei. Seitdem begegnet man sogar in ernsten Zeitungen, die diese Lokal¬
notiz als beglaubigte Nachricht aufgenommen hatten, fortgesetzt Ermahnungen an
die Regierung und an die Krone, mit der Verkündigung einer Amnestie nicht länger
zu säumen; sie wird in einzelnen Blättern als eine Art Rechtsanspruch behandelt.
Nun ist aber die Geburt eines jungen Prinzen in Preußen noch niemals Anlaß
zu einer Amnestie gewesen. Weder im Jahre 1859, als der jetzige Kaiser geboren
wurde, noch 1382, als der jetzige Kronprinz das Licht der Welt erblickte. Es ist
damals auch keiner Zeitung eingefallen, eine solche Forderung zu stellen, ebensowenig
ist damals in den obersten Regierungskreisen daran gedacht worden. Die Feier der
goldnen Hochzeit Kaiser Wilhelms des Ersten hat dagegen eine Amnestie in be¬
schränktem Umfange — es wurden ungefähr achthundert Personen davon betroffen —
gebracht. Ebenso war eine solche im Jahre 1870 bei Ausbruch des Krieges „für
Politische Verbrechen und Vergehen" ergangen. Man sieht daraus, daß nach der
im preußischen Königshause üblichen Auffassung für eine Amnestie eine ganz außer¬
ordentliche Veranlassung gegeben sein muß, zu denen die Geburt eines jungen
Prinzen schwerlich gehört. Hierzu kommt, daß seit Einführung der bedingten Be¬
gnadigung auch für den Justizminister die Empfehlung einer Amnestie erschwert ist,
die zum Teil die nämlichen Kategorien treffen würde, auf die jetzt die bedingte
Begnadigung Anwendung findet. Verurteilungen politischer Natur, die durch eine
Amnestie aufgehoben werden könnten, sind, einschließlich der Majestätsbeleidigungen,
in den letzten Jahren nur in geringer Zahl erfolgt und würden Material für eine
Amnestie kaum bieten, während andrerseits die Tatsache, daß man kein Zeitungs¬
blatt in die Hand nehmen kann, ohne einer Reihe bestialischer Roheiten zu be¬
gegnen, die zum großen Teil leider eine nur gelinde Ahndung gefunden haben,
für das Staatsministerium ebenfalls kein Anlaß sein kann, eine Amnestie zu em¬
pfehlen. Es ist mithin weder eine äußere Veranlassung zu einer solchen gegeben,
noch findet sie sich in einer Häufung von politischen Verurteilungen, noch endlich
ist die Schärfe der ergangnen Erkenntnisse als ein Grund anzusehen, sie durch Be¬
gnadigungen zu mildern. Amnestie ist und bleibt ein Akt der Gnade, den man,
auch wenn er berechtigt und am Platze wäre, was gegenwärtig entschieden zu ver¬
neinen ist, der Krone nicht abfordern kann. In heutigen Zeiten würde sie vielleicht
"och als eine indirekte Aufmunterung zu Roheiten, zu Verbrechen gegen Gesundheit
und Leben dienen, die ohnehin im Durchschnitt viel zu milde bestraft werden.
Hoffentlich sieht die Presse ein, daß es nicht zu ihren Aufgaben gehört, die Zeit
oder die Veranlassung zu bestimmen, zu der und aus der eine Amnestie einzutreten
hat. Sie kann am allerwenigsten Frage eines Popularitätsbedürfnisfes sein.
Es ist eine recht interessante Beobachtung, daß die Wahlrechtsfrage nicht mehr
von der Tagesordnung verschwindet. Auf der einen Seite sind es die Sozialdemokraten,
die mit ihren Resolutionen auf Einführung des Frauenstimmrechts und auf die Herab¬
setzung der Berechtigung auf das einundzwanzigste Lebensjahr, das allgemeine Stimm¬
recht schwerer gefährden als irgendein hartgesottener „Reaktionär", eine Spezies,
Von der man ohnehin behaupten darf, daß sie im Deutschen Reiche überhaupt nicht
mehr vorhanden ist. Die Stellung andrer Parteien und ihrer Publizistik hat da¬
gegen weit mehr den Mißbrauch und die Auswüchse als das Wahlrecht selbst
zum Gegenstande, so unnatürlich dieses immerhin sein mag. Wenn im öffentlichen
Leben der Grundsatz als richtig anerkannt wird, daß jeder nach Vermögen zu be¬
steuern sei, so ist es doch auch selbstverständlich, daß sich die Rechte, die jemand
im Gemeinwesen des Staats auszuüben hat, auf der Höhe seiner Pflichten bewegen
müssen. Es ist nicht nur die finanzielle Leistungsfähigkeit, die dabei in Betracht
kommt, sondern auch die geistige. Niemand wird bestreikn wollen, daß geistige
Leistungsfähigkeit dem Gemeinwesen höhere Dienste zu widmen vermag als geistige
Unfähigkeit, und daß jene darum auch einen Anspruch auf größere Berechtigung
haben sollte.
Alle diese akademischen Erörterungen ändern selbstverständlich nichts an der Tat¬
sache, daß das allgemeine Stimmrecht besteht, und daß unter normalen Verhältnissen an
seine Beseitigung nicht zu denken ist. Auch besteht an keiner maßgebenden Stelle im
Deutschen Reiche eine solche Absicht. Etwas andres ist es mit der Einschränkung
oder der Abstellung von Mißbräuchen, die schon an sich eine Verletzung des Wahlrechts
sind. Hat man sich auf der einen Seite mit Recht gegen jede amtliche Beeinflussung,
welcher Art immer sie auch sei, gesträubt, der ja auch durch Einführung der Wahl¬
zettel und andre Einrichtungen nach Möglichkeit vorgebeugt worden ist, so ist damit
auf der andern Seite das Bedürfnis gewachsen, betrügerischen Einwirkungen und
sonstigen unstatthaften Beeinflussungen der Wahlen, die von Parteien ausgehen,
ebenfalls einen Riegel vorzuschieben. Staatssekretär Graf von Posadowsky hat
noch im letzten Frühjahr im Reichstag ausgesprochen, daß es die feste Absicht der
Regierung sei, die Verfassung ehrlich zu halten. Auch sind ja in dieser Richtung
gesetzgeberische Maßnahmen ergangen, bei denen die Bedenken, ob man dabei des
Guten nicht zu viel getan habe, durch die Erfahrung noch nicht widerlegt worden
sind. Aber je ehrlicher und loyaler die Regierungen das Wahlrecht handhaben,
um so nachdrücklicher erwächst ihnen auch die Pflicht, es vor jedem betrügerischen
Mißbrauch sicherzustellen.
Die Grundlage der Wahlen und ihrer Handhabung sind die Wahllisten. Was
will die amtliche Beeinflussung durch einen zu eifrigen Landrat oder Amtsvorsteher
gegenüber der Tatsache sagen, daß bei der letzten Nachwahl in Hannover Tausende
von Wählern in den Listen gefehlt haben, und daß der Wahlsieg der Sozialdemokratie
durch diesen Umstand entschieden wurde! Der Abgeordnete ve. Arendt hat diesen
Vorgang zum Ausgangspunkt einer Betrachtung genommen, in der er die Sicherung
des Reichswahlrechts durch die Einführung ständiger Wählerlisten empfiehlt. Der
Abgeordnete von Kardorff ist für diesen Gedanken schon seit einem Jahrzehnt ein¬
getreten, und es hat im Laufe dieser Zeit auch wohl Augenblicke gegeben, in denen
das Zentrum dafür zu haben war. Es dürfte an der Zeit sein, den ernstlichen
Versuch zur Ausführung zu machen. Wenn es bei dem großen Mobilmachungs¬
apparat der Armee möglich ist, so ziemlich jeden einzelnen Mann dauernd in der
Kontrolle zu erhalten, und zwar so, daß dem Befehle zur Mobilmachung in jedem
Augenblicke genügt werden kann, so müßte das wenigstens annähernd auch in bezug
auf die Wählerlisten möglich sein, die ja allerdings viel umfangreicher als die Mobil¬
machungslisten sind, dafür aber auch nicht mit der gleichen überstürzenden Ge¬
schwindigkeit in Verwendung treten. Nun nutzen zwar die besten Wählerlisten nichts,
wenn die Gleichgiltigkeit gegen die Wahl in den gebildeten Ständen so groß ist,
daß regelmäßig ein großer Prozentsatz ausbleibt, während die Sozialdemokraten
dafür sorgen, daß bet ihnen kein Mann fehlt. Aber es ließe sich anch in dieser
Beziehung wirksam nachhelfen, indem man die Unterlassung der Einsicht in die
Wählerliste, nach ergcmgner öffentlicher Aufforderung, unter Strafe stellte. Außerdem
müßte dieses Listenwesen wenigstens in den größern Städten und Landgemeinden so
organisiert sein, daß es nicht ein Nebenamt ist, sondern daß ein besondrer Wahl¬
beamter für die Richtigkeit dieser Listen, wenigstens für ihre Übereinstimmung mit
den polizeilichen Zuzugs- und Abzugsmeldungen, verantwortlich ist, auch müßte er
die Befugnis haben, die Identität von Persönlichkeiten, die sich in die Listen ein¬
tragen lassen, festzustellen und damit die Kontrolle bei Abgabe des Stimmzettels
vorzubereiten. Der Abgeordnete Arendt weist darauf hin, daß in den meisten
andern Ländern die Wählerlisten ständig geführt werden, und die Parteien dafür
sorgen, daß jeder ihrer Parteiangehörigen in der Liste steht. Diese Fürsorge wird
von den radikalen Parteien auch bei uns schon jetzt ausgeübt. Von den andern
Parteien, denen der besitzenden Klassen, wird das schwer zu erreichen sein, es sei
denn, daß sie sich zu der Leistung aufschwingen, Vertrauensmänner aufzustellen, die
ihnen diese Kontrollarbeit besorgen. Denn die bloße Übereinstimmung mit der
polizeilichen Meldeliste genügt nicht. Es unterliegt keinem Zweifel, daß eine Menge
von Doppeleintragungen in die Wählerlisten vorkommen, keineswegs immer in be¬
trügerischer Absicht, ebenso wie es feststeht, daß die Sozialdemokratie Tausende von
Anhängern aus einem Wahlkreise, den sie sicher beherrscht, in einen andern wirft,
der zweifelhaft ist. Mit der Anführung dieser Tatsache ist der Abgeordnete Arendt
ebenso im Recht wie im weitern damit, daß bei der Abgabe des Stimmzettels
die Kontrolle viel zu lax ist und Gelegenheit zu vielen Betrügereien bietet. „Für
Kranke, Verreiste, Verhinderte, ja sogar für Verstorbne werden von guten Freunden
Stimmzettel zur Urne getragen. Wer kennt den Arbeiter Friedrich Schultz? Gibt
er die Adresse des Wahlberechtigten richtig an, so gibt er den Wahlzettel in die
Urne." Alle solche Vorkommnisse sind eine Fälschung des Wahlrechts und ent¬
sprechen nicht seinem Geiste. Der Schutz liegt wesentlich in der ständigen Wähler¬
liste, deren Behandlung weit gewissenhafter sein muß, als es jetzt vielfach der Fall
zu sein scheint. Als ein weiteres Mittel schlägt der genannte Abgeordnete noch
vor: „Für die in die ständigen Wählerlisten eingetragnen Wähler müssen ständig
Wahleinladungen bereit liegen, sodaß bei Anordnung einer Wahl nur Ort und Zeit
derselben eingetragen zu werden braucht." Diese Wahleinladungen können nach dem
Vorschlage des Herrn Dr. Arendt Belehrungen des Wählers über die Wahlhand¬
lung enthalten, auch besonders die Bestrafung jedes Mißbrauchs für Unberechtigte
hervorhebe». Man könnte vielleicht noch weitergehn und die Zustellung durch ein¬
geschriebnen Brief anordnen. Das gibt eine vorübergehende Mehrarbeit der Post,
die sich aber in der Regel doch nur aller fünf Jahre wiederholen wird. Da die
Wahlen mit das Wichtigste für das Reich sind, so würde die Zustellung doch tat¬
sächlich eine sehr ernste „Reichsdienstsache" sein.
Es ist bedauerlich, daß die Vorkehrungen zur Sicherung der Ausübung des
Wahlrechts sowie die Diäten eingeführt worden sind, ohne daß zugleich Vor¬
kehrungen gegen den Mißbrauch mit in Kraft gesetzt werden konnten. Wir be¬
dürfen einer Revision des Reichswahlgesetzes. Eine solche Vorlage ist wichtiger als
irgendeine andre, die auf dem Gebiete der innern Politik im nächsten Winter ergehen
könnte, denn es ist notwendig, daß die zu erlassenden Vorschriften schon bei den
Reichstagswahlen von 1903 in Kraft und Geltung sind. Bei ständig geführten
Wählerlisten wäre das Reich aber auch in der Lage, sowohl bei den regelmäßigen
Wie bei außergewöhnlichen Neuwahlen, einschließlich der Ersatzwahlen, die Wahl¬
perioden auf einen geringen Zeitraum zu verkürzen Damit würde nicht nur dem
Mißbrauch eine Schranke gezogen, sondern es wurde die Möglichkeit, sowohl der
übermäßigen Agitation einen Riegel vorzuschieben, als auch die Auflösung und die
Neuwahl des Reichstags herbeizuführen, sehr erleichtert. Mit Recht hebt der mehr¬
fach genannte Verfasser hervor, daß es sich bei dieser Sicherung des Wahlrechts
um eine absolut demokratische Maßregel handele, die eigentlich selbstverständlich sei,
und bei der man nur bedauern könne, daß sie nicht zugleich mit dem Wahl¬
rechte selbst Gesetzeskraft erlangt habe. Das wird freilich die Sozialdemokratie und
den Teil der Liberalen, der ihr noch immer als Schrittmacher und Vorfrucht
dient, nicht abhalten, „Reaktion" zu schreien. Aber das ist doch nachgerade ein
so verbrauchtes Mittel, daß es ernste Politiker nicht mehr einschüchtern kann. Wer
ein großes Volk regieren will, darf nicht das Behagen der Gegenwart, sondern
muß die ernsten Anforderungen der Zukunft im Auge haben und die Verantwort¬
lichkeit, die dem heutigen Geschlecht gegen diese Zukunft erwächst. Denn viele von
den Fehlern, die wir heute machen, werden sich erst in einer spätern Zeit rächen.
Das lehrt uns unsre eigne Geschichte auf allen Blättern.
Die bezeichnenderweise zuerst aus Petersburg gekommne Nachricht, daß der
Besuch des englischen Geschwaders in den russischen Ostseehäfen bis zum nächsten Jahr
verschoben worden sei, ist den Lesern der Grenzboten nicht überraschend gekommen.
Es darf auf Seite 619 des Heftes vom 16. Juni verwiesen werden, wo dieser
Ausgang schon angekündigt worden ist. Die englische Regierung dürfte schon damals
sicher gewußt haben, daß dem Zaren dieser Flottenbesuch, zumal in Kronstäbe, nicht
nur unerwünscht, sondern daß er unter den obwaltenden Verhältnissen unmöglich
sei. Um so weniger ist begreiflich, daß die britische Regierung, wenigstens äußerlich,
noch vier Wochen lang an dem Projekt scheinbar festgehalten hat. Auch von einem
Besuch des Königs Eduard in Petersburg, der im Frühjahr von englischen und
französischen Blättern ziemlich laut angekündigt wurde, ist es auffallend still ge¬
worden, er ist ebensowenig möglich wie der der englischen Flotte. Dagegen scheint
ein Zusammentreffen des Königs mit unserm Kaiser nunmehr verabredet zu sein,
wenn auch nicht im Schloß „Friedrichskron", wie es irrtümlich in den Zeitungen
heißt, sondern in Schloß „Friedrichshof" bei Homburg. Ob die daran geknüpfte
Behauptung richtig ist, man sehe daraus, daß der König an dem Tauffest in Potsdam,
entgegen der Ankündigung der Wiener Neuen Freien Presse, nicht teilnehmen werde,
bleibt abzuwarten. Zunächst ist öffentlich noch gar nicht bekannt, ob und welche
Taufeinladungen überhaupt erlassen worden sind oder werden sollen. Im übrigen
kann nicht genug vor einer Überschätzung aller solcher Vorgänge gewarnt werden,
gleichviel in welcher Richtung sie sich bewegen mögen. Ein Zusammentreffen der
beiden Monarchen und ein Besuch des Königs am Berliner Hofe, den er immer
noch schuldig ist, würde gewiß den Rest von persönlicher Spannung beseitigen, die
in den letzten Jahren entstanden war, würde aber weder die Interessen der beiden
Länder verändern noch die Tatsache beseitigen, mit der wir als einer dauernd fest¬
stehenden rechnen müssen, daß das heutige Verhältnis Englands zu Frankreich bei König
Eduards Lebzeiten erhalten bleiben wird. Das braucht nicht so verstanden zu werden,
daß — Wie der französische General Bonnal jüngst äußerte -— „die französische
Armee das Kriegssignal von England zu erwarten hat", das schon dafür sorgen
werde, daß Frankreich die angegriffne Macht zu sein scheine. Es kann im Gegenteil
auch angenommen werden, daß England einen französischen Angriff auf Deutschland
ebensowenig zulassen wird, wie Nußland ihn zugelassen hat. Rußland hat uns sogar
eine Rückversicherung zu geben vermocht, was eine für Deutschland freundlich gesinnte
englische Politik ebenfalls zu tun imstande wäre. Die früher berechtigt gewesene Auf¬
fassung, daß ein britisches Kabinett durch die Abmachungen seiner Vorgänger nicht
gebunden sei, trifft angesichts des englisch-japanischen Bündnisses und der englisch-
französischen Abmachungen heute nicht mehr zu. Beide sind von dem liberalen Kabinett
als wertvolles Inventar aus der Hinterlassenschaft seiner Vorgänger übernommen
worden, ebenso die englisch-italienischen Abmachungen. Es bleibt die Frage offen, ob
die stark unter dem persönlichen Einfluß ihres Königs stehende britische Politik an
der Erhaltung des europäischen Status ano wirklich das Interesse nimmt, das an¬
geblich der englisch-französischen Annäherung zugrunde liegt. Deutschlands fünf-
unddreißigjährige Friedenspolitik hat Anspruch darauf, als sicherste Hüterin dieses
Status q.no angesehen zu werden. Die Entscheidung für die künftigen Beziehungen
Deutschlands zu Großbritannien ist wesentlich davon abhängig, ob England diese
Haltung Deutschlands endlich anerkennt oder — gleich dem vorigen Kabinett —
fortfährt, Deutschland als eine ländergierige Macht hinzustellen, gegen die der Zu¬
s
(Leipzig, L. Staackmann. Geh. 4 Mark, geb. 5 Mark.)
In seinem Moordorf hat sich Max Geißler als charaktervoller Vertreter nieder¬
deutscher Heimatkunst gezeigt. Mit gesundem Realismus hat er Land und Leute
der Moorgegend zwischen Weser und Hamme gezeichnet. Wie Bilder der Worps-
weder unter seine stimmungsvollen Schilderungen an. Kaum nach einem Jahre
läßt er einen Roman folgen, der in den Bergwäldcrn Oberdeutschlands spielt. Die
Szenerie ist völlig verändert, und doch finden wir hier dieselbe meisterhafte Natur¬
beobachtung, dieselbe sinnige Versenkung in die Eigentümlichkeit der Landschaft und
in das Gemütsleben der Menschen wie im „Moordorf".
Die Hütten im Hochland liegen auf dem Kamme des Böhmerwalds auf
einer einsamen Waldblöße — abseits von allen: Verkehr. Sie bilden eine kleine
Welt für sich, in der einer den andern genau kennt, und die ein scharfer Beobachter
auch wirklich völlig überschauen und durchdringen kann.
Die originellste Gestalt unter den Hüttenleuten ist der „Wenz am Kreuz";
eigentlich heißt er Wenzel König. Seinen Spitznamen hat er von dem Kruzifix,
das vor seinem Hause steht. Er hat einst um die Regerl Kaiser geworben, aber
die hat ihn ausgelacht: „Du bist mir ein sonderlicher, und Wenn wir zwei zusammen
heiraten, schaut mir nichts rechtes heraus." Da ist der Wenz zum „Einsvan"
geworden, er hat sich vom Heger Waldarbeit, gesondert von den andern, anweisen
lassen, wo er mit niemand zu reden braucht; er hat Fichten um sein Haus ge¬
pflanzt, damit ihm keiner in sein „Königreich" Hineinschanen könne. Die Regerl
hat den lustigen Anton aus dem Rabenhaus geheiratet. Aber nachdem ihn nach elf
Jahren ein stürzender Baum zu Tode getroffen hatte, da hat sie dem Wenz deutlich
M verstehn gegeben, daß sie ihn jetzt gern nehme. Aber er hat gemerkt, daß die
Regerl Zuneigung zu ihm nur heuchelt, daß sie nur einen „Versorger" haben
möchte. Nun weist er sie kalt ab.
Er findet bald doch noch eine Frau, die ihn wirklich lieb hat, und die seine
Eigentümlichkeit versteht, die Marei aus dem Dornenhäusel. Sie geht auf des Wenz
kluges Sinnieren ein; mit ihrer frischen, fröhlichen Art bringt sie Ordnung in die
verstaubte Junggesellenwirtschaft und lichten Sonnenschein in sein verdüstertes Gemüt.
Nun kommt beim Wenz auch das gediegne Gold seiner Natur zum Vorschein. Der
"Einspan" wird allmählich zum geistigen Beherrscher dieser kleinen Welt. Sein
Nachbar, der „Wenz am Wege", übrigens auch eine Prachtgestalt, kennzeichnet ihn
einmal treffend" so: „Wenn unsereinem was verquer läuft, so kommt er rein aus
dem Häusel. Der Wenz läßts laufen und schaut sich nit um. Und wenn einmal
ein Leid vor der Tür steht, der Wenz stößt die Tür auf und sagt: Immer herein,
Freud oder Leid, wir werden schon fertig miteinander. Denn das eine bleibt, wie
es fast dreißig Jahre gewesen: ich bin der Herr im Haus." Des Wenz kluge und
dabei gerade Art lernt vor allem der „Berghofer" schätzen, der einzige Bauer im
Weiler, der zugleich das Waldhegeramt verwaltet. Er ist stark verschuldet. Aber
mit dem Gelde, das sich der Wenz in den elf einsamen Jahren gespart hat, rettet
er ihn vom Ruin und veranlaßt ihn, von dem unrentabel» Ackerbau zur gewinn¬
bringenden Weidewirtschaft überzugehn. Doch der verblendete Berghofer macht sich
dann von seinem ehrlichen Helfer wieder los und geht einem Halsabschneider ins
Garn. Der läßt nach Berghofers Tode das Gut versteigern. Da springt Wenz
noch einmal ein und erhält es der Berghoferfamilie; er verhindert so zugleich, daß
sich ein Fremder, noch dazu von unlautrer Gesinnung, da oben festsetzt.
Auch in die andern Hütten führt uns des Dichters kundige Hand. Am meisten
Interesse bieten die Bewohner des verfallnen Grabenbrückenhauses, der Wilderer
und Pascher Wendernandl mit seinen Jungen, dem durchtriebnen Franzi und dem
gutherzigen Seppl. Der Vater wird bei einem Schmuggelgang erschossen und von
Franz heimlich in einem Pascherversteck eingewühlt. Die Jungen bringen sich mit
Stehlen und Wildern durch. Eines Tages überrascht sie der Heger, er schießt zwar
den Seppl nieder, wird aber vom Franz mit der Axt erschlagen. Dieser be¬
teiligt sich heuchlerisch an der Suche nach dem Heger, wird aber vom Wenz durch
eine Art Blutprobe entlarvt und bricht im Wahnsinn zusammen.
Im Roman fehlt die straffe Entwicklung. Der Dichter reiht einzelne, oft lose
zusammenhängende Bilder aneinander, allerdings meisterhaft gezeichnete Bilder, an
denen jeder Strich mit sichrer, kundiger Hand getan ist. Die Erzählung schreitet
nur langsam vorwärts, so langsam und bedächtig, wie die Leute im Hochland gehn
und denken. An einzelnen Stellen — beim Pascherkampf, bei der Ermordung des
Hegers und bei der Enthüllung des Mordes — wird der ruhige Gang unter¬
brochen durch Szenen voll dramatischer Spannung und düstrer Tragik.
"
Der Aufbau ist geschlossener als im „Moordorf. Doch laufen auch hier
neben der Haupthandlung, in deren Mittelpunkt der Wenz am Kreuz steht, einige
Nebenhandlungen her, die das Interesse ablenken. Im übrigen tragen beide Ro¬
mane verwandte Züge: die Vorliebe des Dichters für ein Stück Welt abseits von
der großen Heerstraße ist in beiden unverkennbar, ebenso seine Neigung, volkswirt¬
schaftliche Fragen in seine Romane zu verweben, auch die allzubreite, oft kleinlich
anmutende Behandlung recht nüchterner Geldangelegenheiten.
Ich rühmte schon seine Naturschilderungen. Mit sinnigem Dichterauge beobachtet
er das Leben und Weben der Natur, er lauscht ihr gemütvoll auch die zarten, feinen
Töne ab, die ein gröber organisiertes Ohr unbeachtet läßt; und was er hört und
sieht, weiß er so anschaulich wiederzugeben und in so feingestimmte Worte zu kleiden,
daß der Leser die Stimmen des Bergwaldes hört und von seinem Zauber um¬
fangen wird.
Des Dichters Sprache erinnert in seinem neuesten Werk an Rosegger, wie sie
im „Moordorf" Anklänge an Frenssen zeigte. Er läßt die Leute im Hochland in
einer Mischung von Mundart und Hochdeutsch reden. An sich halte ich das für
richtig. Nur klingt sie bei Geißler hie und da gesucht und ist nicht immer folge¬
richtig durchgeführt.
Trotz den gerügten Mängeln wird das Buch bei den Grenzbotenlesern An¬
klang finden. Es ist bodenständig im besten Sinne, es geht ein frischer und ge¬
sunder Hauch durch das Ganze, es wird durchleuchtet von einem stillen, sonnigen
Humor, der das Herz warm macht.
Auch die Buchausstattung möchte ich rühmen. In den charakteristischen, scharf
gezeichneten Kopf- und Fußbildern der einzelnen Kapitel liegt echte Hochlandstimmung,
sie entsprechen zugleich dem Kapitelinhalt.
Vor kurzemist der zweite Band des
Jahrgangs 1905 des Deutschen Geschichtskalenders erschienen, den der Pro¬
fessor Dr. Karl Wippermann verfaßt und der Verlag von Fr. Wilh. Grunow
herausgibt. Jede Zeitungsredaktion und jeder Politiker von Beruf findet in
den Jahrgängen dieses Geschichtskalenders das bequemste, reichhaltigste und voll¬
ständigste Nachschlagewerk, das es gibt. Aber der Wippermann ist kein bloßes
Nachschlagewerk. Er ist Zeitgeschichte, ja die politische Zeitgeschichte, kann man
sagen. Natürlich nicht in künstlerischer Bearbeitung, aber eben darum materiell
nichr als eine solche. Denn erstens kann eine solche Bearbeitung unmöglich all den
Stoff aufnehmen, den Wippermann darbietet; eine Geschichte des neunzehnten Jahr¬
hunderts, die das zu tun versuchte, würde ein Werk von monströsem Umfange
werden. Und zweitens stellt eine ausgearbeitete Weltgeschichte den Stoff in der
Auswahl, die Personen in der Beleuchtung, die Ereignisse in der Gruppierung
dar, die der Individualität und dem Standpunkte des Verfassers entsprechen, das
heißt mehr oder weniger parteiisch. Wippermann dagegen ist vollkommen unparteiisch.
Er berichtet alles, was geschehen ist, sofern es politische Bedeutung hat, und läßt
die Personen selbst reden. Alle bedeutungsvollen mündlichen und schriftlichen
Äußerungen werden wörtlich, die wichtigsten vollständig mitgeteilt. So hat jeder,
der diese Bände besitzt, die wirkliche, ungeschminkte und ungefälschte Geschichte seiner
Zeit und ist in der Lage, sich sein Urteil über Ereignisse und Personen ganz
selbständig zu bilden. Er findet sämtliche Kaiserreden und Kaisertelegramme und
die Urteile der Presse darüber; die Verhandlungen des Reichstags und der Land¬
tage und den Wortlaut der wichtigsten Parlamentsreden; den Zeitungsstreit zwischen
England und Deutschland, die Vorgänge in der Parteibewegung, die Verhandlungen
der Parteitage und wiederum die Zeitungsstimmen darüber; er findet alle für uns
wichtigen oder wenigstens interessanten politischen Begebenheiten des Auslands, zum
Beispiel im vorliegenden Jahrgange die Geschichte des letzten Aktes des ostasiatischen
Kriegsdramas und die der russischen Revolution samt dem Wortlaut aller Zaren¬
erlasse und aller Kundgebungen der Revolutionäre und der Parteien sowie die
nnstroungarische Doppelparlamentskomödie und die Herzensergüsse des wackern Roose-
velt. Kleinigkeiten wie die Verpflegungsstationen, der verunglückte Besuch des
Herrn Jaures bei uns und die Genickstarre werden nicht Übergängen, und den
wichtigern, auch den die Politik nur mittelbar berührenden geistigen Bewegungen
wird der gebührende Raum gegönnt; so der Angelegenheit des Pfarrers Fischer,
der auf dem Protestantentage die Gemüter der Positiven verletzt hatte, ein Bericht
von zehn, dem Streit über die konfessionellen Studentenverbindungen ein solcher
von dreißig Seiten. Die Ereignisse des Augenblicks kann man nur versteh» und
richtig beurteilen, wenn man ihre Genesis kennt, ihren Zusammenhang mit frühern
Ereignissen, und da auch das stärkste Gedächtnis nicht alles festhält, überdies oft
tischt, so ist jeder, der tätig in die Geschicke seines Vaterlands eingreifen oder
wenigstens den Lauf der Welt mit innerer Teilnahme verfolgen will, auf die Be¬
nutzung von Urkundensammlungen angewiesen; eine praktischere aber, deren Voll¬
ständigkeit zugleich für die Zwecke des gewöhnlichen Politikers und des Tages¬
schriftstellers genügt (nur der Diplomat und der Geschichtschreiber brauchen mehr
und müssen darum in die Archive gehn), wird er nicht finden als den Wippermann.
Schon nach einigen Jahrzehnten werden diese Bände eine unbezahlbare Quelle für
herausgegeben von Professor Dr. Ludwig
Elster, Geh. Oberregierungsrat und Vortragenden Rat im Ministerium der geist¬
lichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten in Berlin. Zweite, völlig umge¬
arbeitete Auflage. (Jena, Gustav Fischer. 1906.) Die Ausgabe erfolgt in Liefe¬
rungen im Preise von 2 Mark 50 Pf. Preis des vollständigen Werkes in zwei
Bänden broschiert 35, elegant gebunden 40 Mark.
Unsrer Empfehlung bedarf das Werk, das sich bewährt hat, nicht; es genügt,
daß wir auf das Erscheinen der neuen Auflage aufmerksam machen. Die vorliegende
erste Lieferung, die bis „Ansiedlung" reicht, enthält folgende neu hinzugefügte
Artikel: Abbe, Abschoß, Agrarpolitik, Agrar- und Industriestaat (in sechs Kapiteln:
1. Die Veränderungen in der Struktur der deutschen Volkswirtschaft; 2. Die Kontro¬
verse; 3. Diagnose; 4. Prognose; 5. Politische Schlußfolgerungen; 6. Bedeutung
der Landbevölkerung für die soziale Verfassung und als psychische Kraftreserve),
Alkoholfrage. Erweitert sind besonders solche Artikel, die, wie „Abrechnungsstellen",
„Aktiengesellschaften", statistische Angaben enthalten, durch Fortführung der Statistik
bis ins letzte Jahr; auch viele neue Literaturangaben sind hinzugekommen. Der
Artikel „Agrarkrisis" ist bedeutend ausführlicher als in der ersten Ausgabe. Der
Artikel „Analphabeten" ist mit einer den Bildungszustand der europäischen Länder
drastisch und amüsant illustrierenden Karte, der Artikel „Ansiedlung" mit Plänen
geschmückt worden. In der zweiten Lieferung ist der Artikel „Arbeit" umgearbeitet
und vervollständigt und ein Artikelchen „Aristoteles" eingefügt worden, das gar zu
kurz ausgefallen ist.
Nach den übereinstimmenden Angaben hervorragender Forscher entspricht
Odol zurzeit den Anforderungen der Hygiene am vollkommensten und wird
daher als das beste von allen gegenwärtig bekannten Mundwässern anerkannt.
Wer Hook Konsequent täglich vorschriftsmäßig anwendet, not die
nach dem heutigen Stande der Wissenschaft denkbar veste Zahn- «ut
Mundpflege aus.
enden wir Kolonialpolitik treiben, machen sich bei uns die Leute,
die gern ein kluges Wort sagen, unangenehm breit. Jeder, der
einmal einen Auswandrertransport abgehn sah, oder der einen
Verwandten in Amerika hat, hält sich heutzutage für berechtigt,
öffentlich über Auswanderung und Kolonisation zu reden und
zu schreiben, wer auch nur einen Tag in einem fremden Hafen war, ist über
die Verhältnisse des betreffenden Landes vorzüglich unterrichtet und läßt sein
Licht leuchten. Einige nehmen sich nicht einmal die Mühe, sich das Land,
über das sie schreiben oder reden wollen, anzusehen, geschweige denn es sorgsam
zu studieren. Es geht ja auch so, und zwar unendlich viel billiger und be¬
quemer; aber dieses Reden und Schreiben über Dinge, von denen man nichts
versteht, hat dem Reiche Millionen gekostet und viele Zehntausende unsrer Volks¬
genossen in Gebiete gelockt, wo sie, wenn sie auch ihr Fortkommen finden
mögen, für das Deutschtum verloren sind.
Welchen ungeheuern Schaden hat allein der unglückliche Bamberger mit
seiner berüchtigten Reichstagsrede vom 27. April 1880, die uns die Samoa-
wseln, die Tonga- und die Salomoninseln kostete und große Opfer an Blut
und Geld brachte, angerichtet! Darüber sind nun sechsundzwanzig Jahre ver¬
gangen, aber trotzdem daß unsre Kenntnis fremder Länder und Völker seitdem
unendlich gewachsen ist, laufen doch noch große und kleine Bamberger genug
unter uns herum, die immer ihr dankbares Publikum finden und sogar in großen
angesehenen Zeitungen noch zu Wort kommen. Ich rede hier selbstverständlich
nicht von den Leuten, die es als Ehrensache ansehen, jeden Fortschritt unsrer
nationalen Entwicklung nach Möglichkeit anzufeinden, sondern von denen, die
sie durch leichtfertiges Schreiben und Reden empfindlich schädigen, wie es
beispielsweise ein hoch angesehenes Berliner Blatt getan hat, als es im vorigen
Winter zwei Artikel über Argentinien von or. Polakowski brachte. Was sich
dieser Herr über Argentinien geleistet hat, ist entschieden „bambergerhaft".
Ich bin schon im vorigen Jahre in den Grenzboten für Argentinien ein¬
getreten und werde heute versuchen darzutun, warum sich unsre Emigranten¬
freunde bestreben sollten, unsre Auswanderung nach Argentinien zu lenken;
zuvor aber ist es nötig, daß wir uns darüber klar werden, was wir von
einem Lande verlangen müssen, das wir unsern Auswandrern empfehlen
wollen. Ich denke, daß es ein gesundes, nicht zu warmes Klima hat, daß es
sichere Erwerbsmöglichkeiten bietet, und daß dort die Erhaltung der Nationalität
leicht ist.
Sehen wir zu, wie weit Argentinien diesen drei Grundforderungen entspricht.
Das Klima der argentinischen Litorcil- und Zentralprovinzen ist eines der
besten in Südamerika. In den Nordterritorien sieht man freilich ebenso wie
in Paraguay viele Menschen ohne Füße, doch hat diese bedauerliche Erscheinung
nichts mit dem Klima zu tun, sie ist vielmehr auf eine Zeckenart zurückzu¬
führen, die nur im Norden vorkommt und sich mit Vorliebe an den Zehen
einfrißt. Im übrigen ist mir in Argentinien angenehm aufgefallen, wie frisch
und gesund die deutschen Kolonistenkinder dort aussehen. In den für Aus¬
wandrer hauptsächlich in Betracht kommenden Provinzen stellen sich die
mittlern Temperaturen in Celsiusgraden wie folgt:
Die Temperaturen von West und Nord Buenos Aires liegen ungefähr
in der Mitte zwischen den für Süd Buenos Aires und Chubut angegebnen,
die der Pampa Central sind nur wenig höher als die von Chubut. Im
Sommer zeigt das Thermometer in der Sonne nicht selten über 30 Grad
Celsius, doch ist es dabei in der Regel windig, sodaß man die Hitze weniger
empfindet. Diese Würmeverhältnisse erlauben es dem Nordeuropäer auch im
Hochsommer, im Freien zu arbeiten, außerdem ist das Land meist eben und
unbewaldet. Das ist ein Vorteil gegenüber dem nahen Brasilien, für das jetzt
so viel Propaganda gemacht wird, da der Kolonist gleich den Pflug ein¬
setzen kann und sein Land nicht erst dem UrWalde abringen muß. Im Winter
sinkt die Temperatur selten unter —3 Grad Celsius. Einmal habe ich in
Olascoaga, südwestlich von Buenos Aires, — 8 Grad Celsius erlebt, doch sagte
man mir damals, so etwas käme in fünfundzwanzig Jahren einmal vor. Sehr
lästig sind allerdings die großen Tcmpcraturschwankungen, die sich bisweilen
innerhalb eines Tages ereignen.
Über die Regenverhältnisse gibt nachstehende Tabelle, die den Durchschnitt
der in den letzten zehn Jahren gefallenen Regenmenge in Millimetern angibt,
Aufschluß:
Unter zu viel Regen leiden also nur die Provinz Corrientes und die
Territorien Chaco und Feuerland, unter Regenmangel die Westprovinzen und
das Territorium Chubut, alles Gebiete, die vorläufig für unsre Auswandrer
nicht in Betracht kommen. Das Klima erlaubt, wie wir im obigen dargetan
haben, dem deutschen Bauern selbst die Hand an den Pflug zu legen, sein
Land selbst zu bearbeiten. Sehen wir nun zu, wie dieses Land ist, und welche
Aussichten es bietet.
Der Boden ist natürlich in einem so großen Gebiet, wie es die von mir
zur Einwanderung empfohlnen Provinzen sind (686599 Geviertkilometer), sehr
verschieden, besteht aber zumeist aus Humus und sogenanntem zahmem Lehm,
ist fruchtbar und leicht zu bearbeiten. Urlaub ist im Litomlgebiet relativ
selten. Für Ackerbau und Viehzucht geeignete Landkomplexe sind noch im
Überfluß vorhanden. Die in den letzten Jahren außerordentlich gestiegnen
und noch immer im Steigen begriffnen Landpreise stellen sich gegenwärtig per
Hektar wie folgt: ^ ^
Im Süden von Santa Fe 120 bis 200 Pesos. Buenos Aires Nord
150 bis 300 Pesos. ebenda Zentrum 150 bis 250 Pesos, ebenda Süden und
Westen 80 bis 200 Pesos. Cordoba 60 bis 150 Pesos und Pampa Central
40 bis 100 Pesos. Ein Peso G ist gleich 1.78 Mark.
Einer der vorzüglichsten Kenner Argentiniens, Herr Richard Stroeder in
Buenos Aires, schreibt mir in bezug auf die Landfrage: „Die Landkonzesswnen.
welche die Regierung zu vergeben hat. sind neuen Einwandrern nicht zu
empfehlen, da die Regierungsländereien in den ganz spärlich bevölkerten, dem
Verkehr noch nicht erschlossenen Nationalterritorien gelegen sind. Der neu
Eingewanderte tut gut daran, sich in schon mehr bevölkerten Zentren anzu¬
siedeln. Die Kolonisation liegt hier so gut wie ausschließlich in den Händen
von privaten Gesellschaften, da die Kolonisationstätigkeit der Negierung durch¬
aus negative Resultate ergeben hat. Die Gesellschaften verkaufen Landlose
in größern Kolonien bei Gewährung von Zahlungserleichterungen, meist gegen
Anzahlung von einem Drittel oder Viertel des Preises und Abtragung des
Restes in drei oder vier Jahresquoten. Die Erfahrung lehrt, daß die Käufer
die Abschlagszahlungen gewöhnlich aus den Erträgen der Ernten leisten können.
Dieselben sind deshalb in drei bis fünf Jahren freie Eigentümer ihres Landes.
Zu bemerken ist, daß unser Unternehmen im Falle eingetretner Mißernten
den Kolonisten die Bezahlung ihrer Quote auf ein weiteres Jahr stündet,
wodurch sich das Risiko der Leute um ein Erhebliches vermindert. Einwandrer,
welche als Zwischendeckpassagiere in Buenos Aires ankommen, werden von
der Regierung von hier aus kostenfrei nach dem von ihnen gewählten Be¬
stimmungsort befördert und genießen auch sonstige Erleichterungen. Kajüts¬
passagiere haben die Reisekosten selbst zu tragen."
Herr Stroeder stellt darauf eine ungemein interessante Untersuchung über
die Rentabilität kleinerer Ackerwirtschaften an, wie sie für unsre Bauern haupt¬
sächlich in Betracht kommen, wobei er von der Voraussetzung ausgeht,
daß der Kolonist selbst die ganze Feldarbeit besorgt, und daß seine Familie
die Hausarbeiten macht, sodaß er keine fremde Hilfe nötig hat. „Der Kolonist
muß sich Haus und Brunnen selber bauen und kann bei nötigem Fleiß und
Umsicht im ersten Jahre 50 und in den darauffolgenden Jahren 75 Hektar
mit Weizen besäen, während er die restlichen 25 Hektar als Viehweide liegen
lassen muß. Kleinere Familien sollen nämlich ein Grundstück von nicht
weniger als 100 Hektar erwerben." Bei einem Ankaufspreise von 60 ß für
den Hektar muß der Kolonist im Anfang eine Anzahlung von 1500 K machen.
Dazu kommt: Einrichtung 550 dz, Inventar 2320 h, Lebensmittel für zwölf
Monate 600 h, Saatweizen für 50 Hektar 240 dz, Ernteunkosten und Ernte¬
löhne 250 dz, in Summa 5560 ez. Der Kolonist hat also ein Kapital von
6000 K oder rund 11000 Mark nötig, wenn er in Argentinien mit einiger
Aussicht auf Erfolg selbständig arbeiten will. Herr Stroeder nimmt sogar
7000 an und rechnet dann mit peinlicher Genauigkeit nach, daß sich dieses
kleine Kapital bei Mittelernten im Verlaufe von drei Jahren auf 11210 K
vermehren muß. Dabei rechnet er den Reinertrag des ersten Jahres mit
1980 ß. Hat der Kolonist nun ein Kapital von 7000 H ins Land gebracht,
so beträgt sein Barvermögen nach der ersten Ernte 3420 ß. Davon gehn
ab: als zweite Quote der Landbezahlung 1500 K, dazu 8 Prozent Zinsen für
4500 dz gleich 360 und für Lebensunterhalt und Erntekosten 1125 K, in
Summa 2985 ez. Es bleiben also nur 435 Z nach, zu denen dann der Rein-
ertrag der zweiten Ernte mit 3120 K tritt, sodaß sich der Vermögensbestand
am Schluß des zweiten Jahres auf 3555 K beziffert. Nach drei Jahren ist
der Vermögensstand folgender:
Wir können hier nicht auf die Details der Stroederschen Zahlen eingehn,
es hätte auch wenig Zweck, da solche Zahlen, wenn sie auch noch so gewissen¬
haft aufgestellt sind, doch diskutierbar bleiben, wir greifen deshalb die inter¬
essantesten heraus. Zehn Pferde kosten in Argentinien 600 Pesos, ein Pflug
100 Pesos, ein Wagen 400 Pesos und eine Kornmähmaschine 550 Pesos
oder 980 Mark. Diese Zahlen sind vielleicht etwas zu hoch gegriffen;
wenigstens kaufte man noch vor zehn Jahren in unmittelbarer Nähe der
Stadt Buenos Aires gute Pferde für 40 bis 60 Pesos (für Stuten zahlte
man nur 25 K), und N. Roedern nimmt auch in seiner Schrift „Berichtigungen
über Argentinien" den Ankaufspreis mit 60 Mark an. Das Ackergerät ist
allerdings in Argentinien rasend teuer, es nutzt sich aber auch viel langsamer
ab, da der Boden fast überall völlig steinfrei und die Feldbearbeitung schon
durch den Wegfall des Düngers viel einfacher ist als in Europa. In seinen
Ernteschützungen ist Herr Stroeder vorsichtig. Er nimmt in seiner Rentabili¬
tätsberechnung zwölf Zentner für den Hektar an, was nach meinen Erfahrungen
für den Norden von Buenos Aires und Santa Fe zu wenig ist, dagegen
scheint es mir nicht gut möglich, daß ein Mann 50 bis 75 Hektar allein be¬
arbeiten kann, wenn diese Bearbeitung auch noch so einfach sein mag. Alles
in allem kann man aber der Stroederschen Aufstellung nicht den Vorwurf
der Schönfärberei machen, mag sich auch die Bilanz schließlich ungünstiger
stellen, als nach der meines Erachtens vorsichtig und gewissenhaft aufgestellten
Stroederschen Rechnung, so ist doch erwiesen, daß ein fleißiger deutscher Bauer
mit etwas Kapital in Argentinien sein gutes Auskommen finden wird, zumal
da überall in der Republik Land auch billig gepachtet werden kann. Der
Pachtpreis beträgt durchschnittlich 4 bis 6 Pesos für den Hektar und das
Jahr und kann meist auch durch einen bestimmten Anteil am Ernteertrage
(10 bis 15 Prozent) gedeckt werden. Um hundert Hektar zu pachten und sich
einzurichten braucht man durchschnittlich 3000 Pesos oder 5500 Mark.
Die Erwerbsmöglichkeiten sind in Argentinien nicht allein gut, sondern
auch sicher. Die Verhältnisse haben sich so weit befestigt, daß heute ein
Gauchohüuptling in Buenos Aires keine Rolle mehr spielen kann, wie denn
die argentinische Geschichte, trotz Don Juan Manuel Rosas Schreckensherr¬
schaft, von Chile und Brasilien abgesehen, die am wenigsten blutige und Abscheu
erregende Südamerikas ist. Natürlich wird es immer selbstherrliche Gouverneure
geben, und ob es bei den Wahlen je ehrlich hergehn wird, mag der Himmel
wissen, aber das Land ist doch schon zu zivilisiert, als daß gelegentliche
Revolutionsversuche nicht sofort unterdrückt werden könnten, und Handel und
Industrie sind weder durch die unvermeidlichen Wahlmachenschaften noch durch
gelegentliche Selbstherrlichkeitsgelüste irgendwelcher Provinzialgouverneure em¬
pfindlich geschädigt worden, dafür spricht wohl am besten der enorme Auf¬
schwung, den das Land in den letzten zehn Jahren genommen hat.
Die Erhaltung der Nationalität wird uns in Argentinien schon dadurch
leicht gemacht, daß wir uns in so großen zusammenhängenden Kolonien an¬
siedeln können wie vielleicht sonst nirgendwo. Auch sind schon zahlreiche große
deutsche Siedlungen in allen Teilen des Landes vorhanden. Die meisten dieser
Kolonien haben eine rein deutsche Bevölkerung, einige von ihnen sind heute
schon blühende Ortschaften, fast alle aber sind Mittelpunkte segensreicher land¬
wirtschaftlicher Tätigkeit geworden.
Argentinien entspricht unsers Erachtens allen Anforderungen, die man
billigerweise an ein Land stellen kann, das den Überschuß unsrer Bevölkerung
aufnehmen will, und hat auch eine große und sichere Zukunft. Von uns wird
es abhängen, wie weit wir an dieser Zukunft teilnehmen wollen.
> mer der meistgenannten Männer in Frankreich ist heute der Uhr¬
macher Pierre Bietry. Er ist in der durch revolutionäre Aus¬
schreitungen bekannten Stadt Brest zum Deputierten gewählt
worden und wird in den Parteilisten als Antisozialist geführt.
! Er selbst unterzeichnet sich als Präsident der ^öävraticm NÄtionills
ass ^auvsL as Kranes. Die Gelben! Man hatte ja schon viel gelesen und
gesprochen von diesen Leuten mit dem nicht gerade sehr gewinnenden Namen,
man wußte, daß es fast bei allen Streiks Raufereien zwischen den Roten und
den Gelben, den Gewerkschaftssozialisten und den Arbeitswilligen, gegeben hat,
und daß das Militär in der Regel zum Schutze dieser Gelben eingreifen mußte.
Was sonst hinter dieser neuen Parteibezeichnung eigentlich stecke, wußte man
aber nicht, und so wurde denn das erste Auftreten Bietrys in der Kammer¬
sitzung vom 15. Juni mit einiger Neugierde erwartet. Er war an dem Tage
ein kranker Mann; um so höher schätzte man seinen Mut und die Ruhe ein,
mit der er sich den vor Wut halb unzurechnungsfähigen und tobenden Ge¬
nossen gegenüberstellte. Er sprach klar und trotz den unaufhörlichen Zwischen-
rufen nüchtern und fest. Was er sagte, schien ganz verständig, doch achtete
man nicht so sehr darauf. Die Sympathien gehörten der Persönlichkeit des
Redners. Seit diesem Tage hat man sich aber auch mit den Gedanken und
den Zielen der neuen Partei bekannt zu machen gesucht. Überall werden
Versammlungen zur Erörterung der neuen Lehre abgehalten, und die Bücher
Biitrys wie Japys, eines andern gelben Theoretikers, erleben immer neue
Auflagen. 450000 Anhänger soll der Verband zählen, und er breitet sich
immer weiter aus. Bei solchen sich plötzlich Bahn brechenden Strömungen
ist es sehr schwer zu sagen, wie weit ihr Erfolg Modesache ist, wie weit sie
eine tiefgreifende neue Geisterbewegung ankündigen. Die gelbe Partei ist noch
viel zu jung und ihre Kraft zu wenig erprobt, als daß man heute schon ihre
weitere Entwicklung voraussehen könnte. Ihre Gegner sagen, sie werde sich
im Sande verlaufen, ihre Freunde hoffen, sie werde den revolutionären
Sozialismus aus Frankreich hinausfegen. Die Anschauungen der Führer selbst
haben im Laufe der wenigen Jahre, wo von einer gelben Bewegung gesprochen
werden kann, so häufig gewechselt, daß man keineswegs mit Sicherheit sagen
kann, daß die heute geltenden Programmartikel das letzte und für alle Zeiten
maßgebende Wort der Herren seien. In jedem Falle verdient die Partei als
die bisher kräftigste Reaktion gegen die revolutionäre Hetze der sozialistischen
Gewerkschaften in den Arbeiterkreisen selbst eine unparteiische Würdigung. Die
Kritik kann nur sehr subjektiv sein gegenüber einer Bewegung, die eben erst
beginnt, und die noch zu zeigen haben wird, was sie vermag. Einstweilen ist
es noch sozusagen Geschmackssache, ob man den Gelben trauen will oder nicht.
Wir wollen deshalb einer Darstellung des Aufstiegs der Partei und ihrer
augenblicklichen Lehre nur einige kurze Bemerkungen über unsre eigne Auf¬
fassung der neuen Erscheinung folgen lassen.
Bis zum Jahre 1884 gab es keine Arbeiterorganisationen im heutigen
Sinne in Frankreich. Das Gesetz vom 14. bis 17. Juni 1791 verbot jede
Vereinigung von Standes- und Berufsgenossen, nachdem die Revolution es
als eine ihrer vornehmsten Aufgaben betrachtet hatte, alle Körperschaften,
Zünfte, Compagnonnages usw. zu beseitigen. Den Klasseninteressen der Arbeiter
hat der mit dem dritten Stande zur Herrschaft kommende doktrinäre Liberalismus
"icht genützt, sondern eher geschadet. Erst das Gewerkvereinsgesetz Waldeck-
Noussecms vom 21. März 1884 entfesselt die Shndikatsbewegung, deren reißende
Fortschritte heute die Staatsmänner Frankreichs so besorgt macht. Wir können
^rückschauend feststellen, daß gerade die Kreise, für die das neue Gesetz bestimmt
war, die Arbeiter selbst, zuerst gar kein Verständnis hatten für die Macht, die im
Syndikatsgedanken lag. Die Parteipolitiker ihrerseits dachten gar nicht daran,
die Organisationen in den Dienst ihrer Interessen zu ziehn, und gerade die
Sozialdemokraten wollten in ihrer revolutionär-politischen Einseitigkeit mit
diesen Verufsgenossenschaften nichts zu tun haben. Die Gelegenheit, in den
Syndikaten einen Damm gegen den Umsturz zu schaffen und die Arbeiter-
Massen den Kommunarden zu entziehn, wurde verpaßt, und das Unternehmertum
verfolgte die Gewerkvereine mit Haß zu einer Zeit, wo sie wirklich noch gut¬
artige Berufsgenossenschaften waren. Das Verbot eignen Besitzes lähmte
natürlich auch die Syndikate. Im ersten Jahre bildeten sich 68 Vereine nach dem
neuen Gesetz, 1890 stieg die Zahl auf mehr als 1000. Sie blieben aber immer
noch unpolitisch; trotzdem erschienen sie den Industriellen und den Vergwerks-
gesellschaften usw. so gefährlich, daß ihre Anhänger überall gehetzt wurden.
Diese Not machte die Gewerkvereine aber gerade rebellisch, und sie lernten die
Waffe des Streiks zu gebrauchen, um ihrer Koalition Anerkennung zu er¬
zwingen. Damit wurde der Aufruhr in eine Bewegung getragen, die bei
größerer Einsicht der herrschenden Klassen in Frankreich eine ganz andre Ent¬
wicklung hätte haben können. Die Sozialdemokraten, die bis dahin in den
Arbeiterkreisen nicht hatten festen Fuß fassen können mit ihrem schwer ver¬
ständlichen marxistischen Evangelium, sie waren leider die ersten, die erkannten,
was für ein gewaltiges Werkzeug zum Guten wie zum Bösen im Syndikalismus
liege. Das Jahr 1892 brachte den Umschwung: die Gewerkvereine wurden
sozialistisch-revolutionär, die kommunistischen Gelehrten und Intellektuellen
wurden Vorkämpfer der Syndikate. Nun war kein Halten mehr. Im Jahre 1903
gab es mehr als 4000 Syndikate mit 700000 Mitgliedern. Um die Kassen
zu füllen, wurden die Arbeitsbörsen gebildet, die eigentlich nur der Stellen¬
vermittlung und als Versammlungsraum der Gewerkschaften dienen sollten.
Der Staat, die Departements, die Gemeinden halfen bei der Einrichtung dieser
ZZoursss an I'rg.vAil. Im Jahre 1905 konnten die Kosten für die Gründung
der Arbeitsbörsen auf 3 Millionen 166000 Franken, die Munizipalunterstützung
auf 197000 Franken, die der Departements auf annähernd 50000 Franken
berechnet werden. Die jährlichen Beiträge belaufen sich auf mehr als eine
Million. Diese großen Summen gibt das steuerzahlende Frankreich für eine
Organisation aus, die aus ihren revolutionären Bestrebungen gar kein Hehl
macht. Die Arbeitsbörsen haben sich untereinander zusammengeschlossen zur
P6äkrg.ti<zu ass Loursss an Irg.og.it, die eine Regierungsunterstützung von
10000 Franken bezieht. Die Leiter dieser Iteration bilden aber zugleich den
Ausschuß für den Generalstreik. In der Pariser Arbeitsbörse, für die der
Munizipalrat im vergangnen Jahre noch 180000 Franken bewilligen wollte,
und für die die Regierung 450000 Franken ausgibt, wird der famose „Sabotage"
gepredigt, die Unbrauchbarmachung der Maschinen bei Streiks, der Boykott,
hier gehn die Anarchisten ein und aus, hier hetzte man zu Gewalttätigkeiten
gegen den König von Spanien, hier erscheint der berüchtigte Nanuel an Lo1äa.t>,
hier werden die hochverräterischen Proklamationen gedruckt, die den Rekruten
Fahnenflucht und Beseitigung ihrer Vorgesetzten anraten, von hier aus wird
die Voix an?6up1ö verbreitet. Was sich diese Arbeitsbörsen und die voutsäö-
ration Z6it«i-g,l6, die jetzt ans der Arbeitsbörse ausgeschlossen ist, leisten können,
haben wir bei den Unruhen am 1. Mai gesehen.
Es ist hier nicht der Ort. weiter auszuführen, aus welchen Gründen die
Regierungsparteien eine so gefährliche Bewegung großgezogen haben. Die
Furcht vor der Reaktion und der Fraktionsegoismus haben hier das große
Wort gesprochen. Erst heute beginnt man auch bei den Radikalen darüber
nachzudenken, ob es gut war, den Teufel mit Beelzebub austreiben zu
wollen, ob es gut war. die Arbeitsbörsen und die Syndikate zu Organi¬
sationen der Barrikadenmänner zu machen, anstatt sie den rein berufsgenossen¬
schaftlichen Aufgaben zu erhalten, die das Gesetz von 1884 im Auge hatte,
ob es gut war, allen Unzufriednen im Staat und vor allem auch den Beamten
die revolutionären Arbeitsbörsen mit ihrer Generalstreikpropaganda als Hilfe
in der Not erscheinen zu lassen. Die heute herrschenden Männer wissen gegen
die Umsturzgefahr anscheinend nur noch ein Mittel: das Heer, gegen das doch
die Demokratie ein so tiefes Mißtrauen zur Schau trügt. Gibt es denn gar
keine andre Möglichkeit mehr, den revolutionären Syndikaten entgegenzutreten?
Gewiß, antworten die Gelben. Wir Arbeiter wollen schon mit den Roten fertig
werden, wenn ihr nur aufhören wollt, die sozialistischen Gewerkschaften mit
Privilegien, mit finanziellen Beihilfen und mit politischer Verhätschelung gro߬
zufüttern. Das Syndikatsgesetz ist für alle da, nicht nur für die Scharen der
Lontsäörg.t>ion. Schlagen wir die Umsturzmünner mit ihren eignen Waffen,
diesen Waffen, die das Gesetz für alle geschmiedet hat, die ihr aber euern
schlimmsten Feinden in Parteiverblendung überliefert habt!
Dieser Gedanke ist gar nicht neu, aber die Gelben sind die ersten, die
damit eine umfassende Bewegung in der Arbeiterschaft einleiten konnten. Im
Jahre 1887 schon bildete sich ein katholisches Syndikat zunächst von Hand¬
lungsgehilfen, das heute noch besteht. In Tourcoing haben wir ebenfalls
eine christliche Gewerkschaft. In Valenciennes, Lille, Roubaix gibt es ähn¬
liche katholische Verbände. Sie haben aber sämtlich keinen nennenswerten
Einfluß in den Massen. Erst die Not der großen Streikjahre 1898 bis 1901
ließ unter den hungernden Arbeitern den Plan reifen, sich der Schreckens¬
herrschaft der Streikdiktatoren und der sozialistischen Gewerkschaften aus eigner
Kraft zu widersetzen, um sich die Verlorne Arbeitsfreiheit wieder zu erkämpfen
und ihren im Elend verkommenden Frauen und Kindern Brot zu schaffen.
Montceau-les-Mines waren die Dessolin, Moncimy, Burtin Führer dieser
Bewegung. Im Cafe de la Marie fanden sich da zaghaft die ersten Arbeiter
^n, die auch wirklich arbeiten wollten. Sie bildeten ein Syndikat, das zuerst
nur als „zweites" Syndikat bekannt wurde gegenüber dem ersten, revolutionären
Streiksyndikat. Die Roten stürmten das Cafe und schlugen alles kurz und
^N- Da alle Fenster zertrümmert waren, verklebten die Leute vom zweiten
Syndikat die Fensteröffnungen mit Papier. Es war zufällig ein Stoß
gelbes Papier, den man zur Hand hatte. Die Streitenden spotteten über
die gelben Fenster und nannten das neue Syndikat selbst das „gelbe". Die
Arbeitswilligen nahmen den Schimpfnamen an. Die neue Bewegung war
getauft.
Die Führung der Gelben ging in die Hand eines gewissen Lanoir über,
der seinerzeit eine große Rolle gespielt hat, auch in den der Negierung nahe¬
stehenden Kreisen, der aber die neuen Syndikate ganz einfach als ein gutes
Geschäft für sich ansah, und der sehr bald in den Verdacht kam, mit der
Polizei und mit dem Unternehmertum unter einer Decke zu stecken. Die Pläne
Lanoirs gingen nicht über die Gründung von Amel-Streikvereinen hinaus, und
auch die andern Gelben hatten nur eine negative Abwehrpolitik gegen die
roten Syndikate im Auge. Ein Verdienst hatte aber Lanoir: er wies zuerst
auf die Notwendigkeit hin, sich eine eigne Arbeitsbörse, eine LourM 6u IravAil
inäöxenäWto, zu schaffen, die denn auch in der Rue des Vertus eingerichtet
wurde. Der Höhepunkt dieser ersten gelben Bewegung war der Kongreß der
Unabhängigen im März 1902. Man stand vor den Wahlen, und viele Poli¬
tiker umschmeichelten die neuen Syndikate, weil sie auf ihre Unterstützung
hofften. Im Dezember 1901 hatte Präsident Loubet schon eine Abordnung
der Lourss ma^xsuZg-mes empfangen und sie seiner Sympathien versichert.
Der Fehler war, daß sich Lanoir zu sehr ins Schlepptau nehmen ließ von
keineswegs uneigennützigen Parlamentariern, und daß er die neuen Syndikate
mit pekuniärer Unterstützung des Staates und der Arbeitgeber ausbauen
wollte. Dadurch wurde die Selbständigkeit gefährdet. Unmittelbar nach dem
Kongreß vom März 1902 kam es zur Trennung.
Die Dissidenten, deren Haupt Bietry wurde, hatten nicht nur gegen die
Roten, sondern auch gegen Lanoir zu kämpfen, der die Arbeitsbörse und ein
Preßorgan zur Verfügung hatte. Trotzdem gründete man unverzagt am
1. April 1902 die Mäkration nationale ass Zaunes as ^rainzo. Auch in den
Kundgebungen dieser Gruppe ist von einer Trennung von den sozialistischen
Theorien an sich noch keine Rede. Man fordert Verbesserung der Lebens¬
bedingungen für die Arbeiter, Anteil am Gewinn, Abmessung der Arbeits¬
zeit nach Vertrag zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Genossenschaften,
Arbeiterpensionen usw. — vor allem ist man aber gegen jeden Streik poli¬
tischen Charakters. Das Organ der Partei verkündete, daß man den „wahren
französischen Sozialismus" begründen wolle. Die?sa6ration konnte sich aber
nicht über Wasser halten. Im August 1902 ging der Ouvrier inäoxönäant
ein, und die ?6äA-at,ion hatte kein Heim mehr. Im Dezember 1902 ging
man aber schon wieder an die Organisation einer neuen Gruppe, die das in
Mißkredit gekommne Wort „Gelbe" fallen ließ und sich ?arti Looialisw
national nannte. In dem Blatt, das man herausgab, tauchen zum erstenmal
antisozialistische Gedanken auf: nicht Enteignung der Besitzenden, sondern
im Gegenteil die Möglichkeit für jeden, sich Eigentum zu erwerben! In der
Rue de la Corderie eröffnete man eine neue Arbeitsbörse, die ?r6iniöro Lourss
livre <Zu?ravail. Die Bewegung breitete sich aus; in Havre, Boulogne-sur-
Seine, Caen usw. wurden Arbeitsbörsen eingerichtet, in sehr vielen Städten
unabhängige Syndikate gebildet. Auch die?arti sooialists national ging schlie߬
lich aber durch Mangel an Geldmitteln zugrunde.
Am 1. Januar 1904 nahm die Zeitung I,s ^uno den Kampf wieder aus.
Der alte Name deckte aber ein stark verändertes Programm. Die Trennung vom
Marxismus war entschieden, und neben dem negativen Schlagwort „gegen
den politischen Streik, gegen die vom Staat aufgehaltner Syndikate" werden
Positive neue Lehren verfochten. Die Teilnahme am Betriebsgewinn und
der Eigentumserwerb durch die Arbeiter wird zum Mittelpunkte der gelben
Theorien, die sich im bewußten Gegensatz zum Sozialismus weiter entwickeln.
Die Lanoirschen Syndikate verschwanden, und die ?eäsration nationale ass
Cannes übernahm den Kampf gegen die revolutionären Gewerkschaften und
vor allem gegen ihre Unterstützung durch den Staat ganz allein. In diesen
letzten zwei Jahren hat sich das gelbe Programm zu der festumrissenen Lehre
entwickelt, wie sie heute von den Bietry, Japy usw. vertreten wird.
O6trmr6 1s 8ooig.ki8mis, ton8 1s8 8ooialisiiiö8, qu'ils 3oiöiit g,er6ö8 on von-
to88i<mel8. Diesen Satz stellt Bictry an die Spitze seines Buchs I^s 8o<ziali8räh
et 1ö8 ^anus8. Die völlige Trennung vom Marxismus, aber auch vom Staats¬
sozialismus und von der christlich-sozialen Bewegung ist da. Der wirtschaft¬
liche Sozialismus ist ein System der Herrschsucht, der Reaktion, der Knecht¬
schaft. Solange es eine Menschheit gibt, hat das Ringen um Eigentum nicht
aufgehört. Die Sklaven empörten sich gegen ihre Herren, die Leibeignen
gegen die Feudalen, um Anteil am Grund und Boden zu erwerben. Das
Ziel aller Kultur ist die Befreiung des Menschen aus der Besitzlosigkeit; nur
der Mensch mit Privateigentum kann sich selbständig entwickeln. Der Unfreie
besitzt weder ein Heim noch sein Arbeitszeug, er ist nicht Herr über seine
Person, seine Hand, seine Arbeit, sein Denken. Er hat kein Eigentum, sondern
gehört sogar einem andern. Während der Sozialismus den Arbeiter zur ewigen
Besitzlosigkeit und darum zur Knechtschaft verdammen will, erstrebt die gelbe
Lehre die größtmögliche Entfaltung der persönlichen Freiheit durch Ausdehnung
des Privateigentums. Dem Arbeiter soll der Weg geöffnet werden, selbst in
d'-e besitzenden Klassen einzutreten. Bei der Gestaltung der heutigen Industrie
ist es unmöglich, dem einzelnen Arbeiter Teile der Fabrik, Teile einer
Maschine usw. zu überweisen, wohl aber kann er in den Besitz von Aktien¬
anteilen und Obligationen kommen. Das Betriebskapital wird auf diese
Weise, in kleinen Bruchstücken, in die Hand des Arbeiters kommen. Die
Moderne Lohnsklaverei wird so langsam in ein System des travail a88ovi6 ver¬
wandelt. Das ist der Kernpunkt des praktischen Programms der Gelben.
Dieses Ziel kann und soll nicht erreicht werden im Kampf mit dem Kapital
auf Leben und Tod, sondern im Gegenteil im Einvernehmen von Unternehmer
und Arbeitnehmer Zu beseitigen ist nur der Kapitalismus, der mit dem Roh¬
material spekuliert und der die verderblichen Krisen im ganzen Wirtschafts-
leben bringt. Der wahre Kapitalismus ist aber unentbehrlich für jedes Unter¬
nehmen und gehört eng mit der schöpferischen und leitenden Intelligenz
sowie mit der arbeitenden Hand zusammen. Das Kapital allein sichert den
Betrieb, es beschafft die zu bearbeitenden Urstoffe, das Kapital hat auch alle
Erschütterungen, alle Verantwortlichkeit zu tragen. Man muß es also nicht
angreifen, sondern schützen. Man muß die Interessen des Unternehmers und
des Arbeiters verbinden. Ist der bisher besitzlose Proletarier am Reingewinn
beteiligt, wird er sich hüten, durch unnötige Streiks die Gewinnaussichten zu
stören und der Konkurrenz in die Hände zu arbeiten. Auch die sinnlose Agi¬
tation für den Achtstundentag ist gegen die Wünsche der Partei Bietrys. In
seiner ersten großen Rede vor den Deputierten hat der neue Abgeordnete
von Brest auseinandergesetzt, daß es widersinnig sei, die verschiednen Industrie¬
zweige und die räumlich weit getrennten Gebiete der Landwirtschaft einem
Zwangsschema unterwerfen zu wollen. Jedenfalls sollen zunächst die Be¬
teiligten und vor allem die Arbeiter um ihre Meinung befragt werden, ehe
man sie einer weltfremden Theorie zuliebe mit einer Verkürzung und Verein¬
heitlichung der Beschäftigungszeit beglückt. Auch müßten die französischen
Arbeiter durch internationale Vertrüge davor gesichert werden, daß ihre aus¬
ländischen Kameraden von einer längern Arbeits- und Verdienstzeit gegenüber
den zum Achtstundentag verurteilten Franzosen Nutzen ziehn könnten. In
diesen und vielen andern Punkten zeigt Bietry die Überlegenheit des prak¬
tischen Arbeitsmanns über die sozialistischen Doktrinäre und die Revolutionäre,
denen der Umsturz des Bestehenden wichtiger ist als die Berufsinteressen der
Klassen, als deren Anwalt sie sich gebärden.
Der Kernpunkt der gelben Lehre bleibt aber die »««Zession an travailisur
g. ig, xroxris'es'. Der Gedanke, daß die Arbeiterfrage nur dadurch gelöst werden
könne, daß jedem Nichtbesitzenden die Möglichkeit gegeben wird, selbst Eigen¬
tümer zu werden, dieser Gedanke ist ja keineswegs so neu, wie die Anhänger
der Partei Japy-Bietry glauben machen möchten. Über die Verbindung von
Knechtschaft und Besitzlosigkeit und über die Notwendigkeit von Eigentum, um frei
zu sein, hat zum Beispiel kein Geringerer als der große bretonische Schwärmer
Lamennais schon Sätze geschrieben, die „gelb" klingen könnten. II v gurg.
toujours moins Ah xguvres, xaros ins xsu g, psu ig. ssrvituäs äisvgriMrg. as
1a soeists. . . . OKaouii g. äroit as Lovssrvsr es ^u'it g, zgns <moi xsrsollns
us xosss'äsrgit xlus rieri. Nais olmorm g äroit ä'ac^uörir xgr son trg.og.it
es Hu'it n'a, xg.s, sgns ousi ig xguvrsts ssrg.it stsrnslls. . . . (ju'sse-os an'un
xguvrs? L'sse oslui <mi n'ii. voivt sinzors as xroprists. Hus soutmits-t-it?
Ah ossssr ä'Ztrs xguvrs — e'sse g. aire ä'g.oquö'rir uns xroxris'es. Darum
bleibt aber den Bietry und Genossen doch das Verdienst, einen Weg gewiesen
zu haben, wie dies Ziel erreicht werden könnte. Wir Arbeiter, sagt Bietry
im 3a,ruf, fordern das Recht auf Eigentum. Wir wollen die Lohnarbeit um¬
gestalten, nicht im Sinne des Kollektivismus, sondern im Sinne des Privat-
besitzes. Die berechtigten Forderungen des Proletariats gründen sich auf die
Genossenschaftsarbeit — tiavg.it assoois — und haben als Ausgangspunkt den
Ankauf eines Bruchteils des Industriekapitals durch den Arbeiter. Wenn in
einer Fabrik von fünftausend Arbeitern auch nur fünfhundert eine Aktie von
100 Franken besitzen, wird sich schon sehr viel ändern: zunächst gibt es
dann fünfhundert neue Eigentümer, d. h. fünfhundert Männer, die von nun
an etwas zu bewahren haben — und dann sicherlich fünfhundert Streikgegner.
Verallgemeinert und entwickelt man diese Erfahrung, macht man dem dema¬
gogischen Sozialismus ein Ende.
Japy, selbst Fabrikbesitzer, führt diese Gedanken näher aus. Jede pro¬
duktive Unternehmung setzt dreierlei voraus: Kapital, Leitung, Handarbeit.
Wenn sich alle drei einig und einer für alle tätig sind, ist es für das Kapital
selbst von Vorteil, einen Teil des Einkommens hinzugeben, um die Arbeiter,
die Werkführer, Ingenieure, Direktoren usw. an dem Unternehmen zu inter¬
essieren. Mit diesem Augenblick wird der Arbeiter ein andrer; seine Dienststunden
sind nicht mehr eine Fron, die er abzukürzen sucht, und er sucht nicht mehr
dem Herrn des Unternehmens zu schaden, wo er kann, durch Wahl feind¬
seliger Abgeordneter, durch Propaganda für betriebsschädliche Gesetze, vor allem
durch Streik. Er wird den sozialdemokratischen Hetzer nach Hause schicken
und sich bei Streitigkeiten mit dem Unternehmer an ein Schiedsgericht wenden,
das zu diesem Zweck mit allen Garantien unparteiischer Rechtsprechung einge¬
richtet wird.
Wie soll aber der Arbeiter dazu kommen, die notwendigen Ersparnisse zu
machen, um eine Aktie zu kaufen? Da wird auf die Sparkassen hingewiesen,
deren Einlagen in Frankreich vier Milliarden betragen, und deren Einzeldepot
1500 Franken gar nicht übersteigen darf. Hier sind also Massen von Arbeitern
schon beteiligt. Läge es nicht mehr in ihrem Interesse, ihr kleines Kapital
mit größerm Vorteil ihrer Industrie anzuvertrauen als dem Staat? Die Unter¬
nehmer werden aber, so wird man einwenden, wenig Neigung haben, ihre
Leute am Gewinn Anteil haben zu lassen. Weil sie die neue Lehre noch nicht
versteh», antworten die Gelben. Als man den Papierindustriellen Laroche-
Joubert, der das gelbe System zuerst in seinem Betrieb eingeführt hat, wegen
seiner „guten Tat" beglückwünschte, erwiderte er: „Vielleicht ist es eine gute
Tat — aber es ist auch ein gutes Geschäft." Zurzeit haben mehr als
hundert Unternehmungen die neuen Grundsätze der Arbeiterassoziation einge¬
führt, und man nimmt an, daß die Zögernden schließlich gezwungen sein werden
zu folgen, wenn sie nicht erdrückt werden wollen. In dem Musterbetriebe
Laroche-Joubert liegen die Dinge so, daß jeder Arbeiter Ersparnisse, die er
von seinem Arbeitslohn oder sonstwie macht, in dem Geschüft anlegen kann.
Er erhält dafür erstens eine bestimmte Verzinsung und zweitens einen Gewinn¬
prozentsatz am Jahresschluß. Wenn die Einlage den Betrag von 1000 Franken
^reicht, ist der Arbeiter Aktionär. Natürlich kann man auch auf Aktien von
100 Franken heruntergehn, wie Japy dies getan hat. Je mehr die Aktien¬
einlagen der Arbeiter wachsen, desto mehr werden die überflüssig gewordnen
fremden Gesellschafter mit ihren Kapitalien abgefunden, und der Unternehmer
zieht weiterhin auch seine eignen Kapitalien zurück. Hier scheint uns, nebenbei
gesagt, die gelbe Theorie die Grenze der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu über¬
schreiten. Jedenfalls müssen da erst ganz andre Erfahrungen abgewartet werden,
ehe man sich ein Bild von diesem Fabrikbesitzer machen kann, der sein Werk
zuguderletzt seinen Arbeitern ganz überlüßt.
Der Nationalverband der Gelben, der, wie schon bemerkt, etwa 400000 An¬
hänger hat, verfolgt den Zweck, Arbeitersyndikate nach Bezirken und Berufs-
zweigen, Unternehmersyndikate und landwirtschaftliche Syndikate zu bilden.
Darauf wird sich dann eine „Partei der nationalen Interessen" aufbauen.
Zwischen Arbeitgebern und Arbeitern soll ein möglichst inniges Verhältnis her¬
gestellt und beim Staat mit aller Macht auf eine Durchführung des gelben
Programms hingearbeitet werden. Natürlich werden die weitestgehenden Ma߬
regeln der Arbeiterfürsorge gefordert, ohne daß man sich damit dem revolutionären
oder Staatssozialismus nähern will. Die Gelben verpflichten sich, in keinen
Streik einzutreten, ohne ihre Forderungen schriftlich niedergelegt und mindestens
zwei Wochen auf Antwort gewartet zu haben. Ebenso versprechen die Arbeitgeber
die Werkstätten nicht zu schließen, ohne die Arbeiter schriftlich und mindestens
zwei Wochen vorher darauf vorbereitet zu haben. Die Gelben enthalten sich
auch bei Streiks aller Gewalttätigkeit, und die Fabrikbesitzer ihrerseits entlassen
keinen Arbeiter, weil er sich am Aufstand beteiligt hat. Schiedsgerichte werden
dazu beitragen, alle Streitigkeiten gütlich beizulegen. Die Bezirksausschüsse
und über ihnen der Nationalausschuß führen die Aufsicht, daß bei unvermeid¬
lichen Streiks die Angehörigen der Arbeitersyndikate Entschädigungen erhalten,
daß aber andrerseits auch die Arbeitgeber vor Übergriffen und böswilligen
Anschlägen geschützt werden.
So sieht in flüchtigen Umrissen die neue Lehre aus, die von der Sozial¬
demokratie mit so wildem Haß verfolgt wird, und in der weite Kreise der
französischen Bourgeoisie die letzte Rettung vor dem Umsturz und vor einer
neuen Kommune sehen. Die Regierung scheint von dem Anwachsen der
neuen Partei sehr wenig erbaut zu sein, und doch finden wir sowohl in
Sarriens Regierungserklärung wie in Clemenceaus großer Rede Wendungen,
die sehr an das Bietrysche Programm anklingen; es sei nur daran erinnert,
daß bei neuen Kohlenbergwerken die Arbeiter am Gewinn beteiligt werden
sollen. Die Folge der Abneigung der radikal-sozialistischen Mehrheit gegen
die Gelben ist, daß sich die Opposition und insbesondre die Nationalisten mit
der neuen Arbeiterpartei auf Du und Du zu stellen suchen. Daß Bietry diesen
Bestrebungen nicht mehr Widerspruch entgegensetzt, halten wir für einen schweren
Fehler. Die Gelben wollen statutenmäßig von keiner Politik und keiner kon¬
fessionellen Bewegung etwas wissen. Sie sind Patrioten und keine Religions-
Hasser; das unterscheidet sie von den Roten. Ebenso wie aber bei ihnen
Protestanten wie Japy, eifrige Katholiken wie General Jeannerod und Frei¬
denker wie Wayß Platz finden, ebenso sollten sie sich hüten, sich einer ein¬
seitigen politischen Richtung zu verschreiben. Man mag den Nationalisten oder
den französischen Konservativen persönlich noch so nahe stehn, aber man kann
nicht leugnen, daß sie eine Partei im Niedergange sind, und daß insbesondre
die Nationalisten eine so unglückliche Hand haben, daß die Gelben schwer
darunter leiden würden, wenn sie sich von ihnen ins Schlepptau nehmen
ließen. Bietry selbst hat in der Zeit der Führung Lanoirs erlebt, wie ver¬
hängnisvoll Parteipolitik dieser Arbeiterbewegung schon einmal geworden ist.
Die um Jaures versagen den Gelben die Berechtigung, im Namen der
Arbeiter zu sprechen. Gerade Bietry, dieser „Renegat", der einst Tausende
von aufrührerischen Proletariern von Belfort auf Paris führen wollte, gerade
er ist das Musterbild des „Arbeiters", während Herr Jaures, der Professor,
einst in den Reihen des sehr korrekten und bürgerlichen französischen Zentrums
saß. Nein, die Gelben sind eine Arbeiterpartei — gerade darin liegt ihr
Vorzug, darin liegt auch ihr Fehler. Sie sind zu schnell in die Höhe geschossen,
und ihr Erfolg hat ihnen den klaren Blick getrübt. Die Verachtung, mit der
Bietry und andre Gelbe von Marx und den sonstigen Größen des wissenschaft¬
lichen Sozialismus sprechen, ist die Verachtung des Handarbeiters gegenüber dem
Kopfarbeiter. Die gelbe Polemik gegen die heutigen „roten" Führer ist äußerst
gehässig und persönlich — was aus den endlosen Verfolgungen zu erklären ist,
denen die Gelben von dieser Seite ausgesetzt waren und noch ausgesetzt sind.
Man mag vom Sozialismus denken, was man will, aber so leicht ist er doch
nicht abzutun, wie die Bietry, Japy, Laroche, Czalowski usw. das meinen.
Sie haben Brest erobert, aber damit doch nicht die Sozialdemokratie wehrlos
gemacht. Die Triumphgesünge, die sie jetzt anstimmen, sind zu laut und ver¬
herrlichen Siege, die doch noch erst errungen sein wollen. Die Herren ver¬
kennen ganz, daß ihre Erfolge bisher im wesentlichen als Reaktion gegen das
ungestüme Vordringen der revolutionär-anarchistischen Oonksdäration und der
Arbeitsbörsen, gegen den wahnsinnigen Religionshaß und die Beschimpfung
des Vaterlandes durch die „Roten", gegen die Gewalttätigkeiten der Streik¬
horden aufzufassen sind. Brest ist dafür gerade das Beispiel; man wählte
Bietry, weil man entsetzt war über die Taten der sozialistischen Gemeinderüte
und ihrer Helfershelfer. In ihrer entschlossenen Gegnerschaft gegen die Streiks,
die den Untergang der ganzen französischen Industrie und des Handels herbei¬
zuführen drohen, in ihrer Vaterlandsliebe, in ihrem Sinn für Ordnung und
Gesetz liegt die Stärke der Gelben. Mögen sie daran festhalten und alles
weitere als Nebensache betrachten, dann werden sie ihrem Verbände am besten
dienen und werden sich um das Gemeinwohl ein großes Verdienst erwerben.
Ihre Staats- und Wirtschaftstheorien vermögen wir dagegen nur mit
einiger Einschränkung zu würdigen. Im Haß gegen die Sozialdemokratie werfen
sie Sozialistisches und Soziales durcheinander. Sie kennen nur den revolutionären
Sozialismus und verurteilen ohne weitere Prüfung auch die sozialen Be¬
strebungen, die den berechtigten Kern aus den kollektivistischen Lehren heraus¬
schälen. Die Abneigung gegen den Staat und die Kommune als Arbeitgeber
ist daneben etwas spezifisch französisches. Wenn aber der Arbeiter hierzulande
mit den Staatsbetrieben schlechte Erfahrungen gemacht hat, so rechtfertigt das
noch nicht die ganz allgemeine Behauptung, daß Staatssozialismus und staat¬
liches oder kommunales Eingreifen in das Wirtschaftsleben unter allen Umständen
zu bekämpfen sei. Wenn die gelben Theoretiker in England und in Deutschland
Studien machen wollten, würden sie vielleicht zu andern Anschauungen kommen.
Dabei ist ihre eigne Lehre von dem Erwerb des Eigentums durch das Proletariat
durchaus nicht frei von utopistischen Bestandteilen. Der Gedanke der Harmonie
der Interessen von Kapital und Arbeit führt sie zu einer recht optimistischen Über¬
schätzung des reinen Kapitalismus. Wir bezweifeln, daß in Unternehmerkreisen
die gelben Theorien wirklich Erfolg haben werden, wenn sie in dem Maße
den Interessen der Arbeiter dienen, wie Bietry und Japy das behaupten. Die
wenigen Erfahrungen, die man bisher gemacht hat, berechtigen noch nicht zu
dem Satz, daß dieses neue Evangelium die Versöhnung von Arbeitgeber und
Arbeiter bringen wird. Die Gefahr liegt sogar zweifellos nahe, daß das
gelbe System sehr zum Schaden der Arbeiter ausgebeutet werden kann. Der
Arbeiter, der sein Kapital in dem Unternehmen anlegt, kann dadurch abhängiger
werden, als er es vorher war, und seine Arbeitskraft kann mehr angespannt
und überspannt werden, als es heute möglich ist, wo er ganz frei dasteht.
Angenommen auch, daß es wirklich allen Arbeitern möglich wäre, Ersparnisse
zu machen, was die Gelben so ohne weiteres voraussetzen, so ist die kleine
Verzinsung, die er bezieht, doch kein nennenswerter Gewinn gegenüber dem
Betriebsrisiko, in das er von nun an auch verflochten ist. Fälle, daß ein
Arbeiter 50000 Franken ersparen kann, wie es bei Laroche vorgekommen ist,
werden jedenfalls zu den allerseltensten Ausnahmen gehören.
Dies sind nur einige kritische Bemerkungen. Auch wenn diese Bedenken
unberechtigt wären — was sich erst nach jahrzehntelanger Erfahrung feststellen
ließe —, so ist es doch übertrieben, anzunehmen, daß mit einer wirtschaftlichen
Emanzipation des Jndustricproletariers nun die ganze „soziale Frage" gelöst
wäre. In dieser Annahme zeigt sich die Einseitigkeit des Fabrikarbeiters, der
nur seine Welt kennt. Diese Einseitigkeit haben die Gelben mit den Roten
gemein, und ebenso findet der Materialismus der Roten ein würdiges Gegen¬
stück im Materialismus der Gelben, die alle Schmerzen und alle Sehnsucht
der Menschheit stillen wollen mit der Befriedigung wirtschaftlicher Bedürfnisse.
Die Propheten der neuen Partei wollen eben zu viel und versprechen mehr,
als eine reine Arbeiterpartei halten kann. Sie sollte die Lösung von Menschheits¬
problemen und Aufgaben der hohen und der höchsten Politik andern überlassen
und sollte das bleiben, was sie bisher gewesen ist: ein Arbeiterverband, der
nichts weiter will als eine Hebung des Proletariats; nicht in Feindschaft,
sondern in Bundesgenossenschaft mit den andern Schichten der Bevölkerung,
der sich Vaterland und Religion nicht rauben lassen will, und der sich der
sozialen Revolution in den Weg stellt. Neben diesen Aufgaben ist die Frage,
ob der Arbeiter seine Ersparnisse in der Sparkasse oder im Geldschrank des
Arbeitgebers anlegt, vergleichsweise von geringerer Bedeutung und kann jeden¬
falls nicht als aller sozialen Weisheit letzter Schluß angesehen werden.
^i>/HMH
^Q^)!in 48. Heft des Jahrgangs 1904 der Grenzboten haben wir
einiges aus der Zeit des Konflikts zwischen Spanien und
Napoleon dem Ersten mitgeteilt nach Abhandlungen von Des¬
devises du Dezert. Der Artikel hat Herrn Desdevises, der
I Professor der Geschichte an der Universität zu Clermont-Ferrand
in der Auvergne ist, zu einigen Sendungen veranlaßt, die uns in den Stand
setzen, näheres über diesen Forscher mitzuteilen und aus einigen seiner Schriften
weitere Belehrungen über die Pyrenüenhalbinsel und ihr Volk zu schöpfen.
Desdevises hat Spanien seit 1881 siebenmal bereist, sich das einemal fünf,
ein andresmal vier Monate dort aufgehalten, die bedeutendsten Archive durch¬
forscht und 57 größere und kleinere Arbeiten über Spanien veröffentlicht; vier
weitere reifen dem Druck entgegen. Im Jahre 1907 gedenkt er den Bitten
katcilonischer Freunde zu willfahren, ausschließlich Katalonien zu bereisen, Land
und Leute gründlich kennen zu lernen und dann ein Werk über den (ÄWIani8me-
m schreiben. Das Verzeichnis seiner Schriften über Spanien, das er uns zu
übersenden die Güte hat, schließt er mit der unsern deutschen Studenten sehr
zu empfehlenden Variante eines ihrer ehrwürdigsten Lieder: Iiadoreinus iZitur,
Mvsnss aum, Luinus. Die bedeutendste seiner Arbeiten ist das dreibändige
Werk: I/MxgSus 3vus I'anoien ü^uns, dessen dritter Band: I^g, Rivlie-Lss se
^ Civilisation (karis, 8ooiöt6 ?ran?M8S ä'Iinxrimsris et as livrairis, imoisuns
^ibrairig I^s^one, Onäin se 1904) uns vorliegt (die ersten beiden Bände
behandeln die spanische Gesellschaft im achtzehnten Jahrhundert und die In¬
stitutionen).
Obwohl Spanien in den letzten beiden Jahrhunderten sozusagen außerhalb
Europa gelegen hat, ist es doch auch damals nicht unberührt von der euro¬
päischen Politik, den wirtschaftlichen und geistigen Bewegungen Europas ge¬
blieben, und so manches von dem Unerfreulichen, was Desdevises zu beschreiben
hat. war damals ein Gebrechen, an dem die ganze zivilisierte Menschheit litt.
Der Volksschulunterricht war überall sehr unvollkommen, und die Prügel¬
methode herrschte ziemlich allgemein in der Schule. Was der französische
Forscher von dem jämmerlichen Zustande der spanischen Universitäten erzählt, an
denen nur scholastischer Wortkram wiedergekäut wurde, berichtet Adam Smith
auch von dem Oxford seiner Zeit. Um Post, Straßen und sonstige Verkehrs¬
mittel stand es überall schlimm, und auch zur Überwindung der Strecke,
die zwischen Berlin und Leipzig liegt, brauchte man etliche Tage. Zünftlerei
und merkantilistische Handelspolitik wurden in allen Staaten betrieben, und
wenn Spanien in seinen Kolonien keine Industrie aufkommen lassen wollte,
so ahmte es nur das Beispiel Englands nach. Der Verfasser gliedert seinen
Stoff in sieben Kapitel: Landwirtschaft, Gewerbe, Handel, Unterricht, Wissen¬
schaft, Literatur und Musik, bildende Künste. Da er in jedem Abschnitte auch
über die Zustände und die Leistungen der Kolonien berichtet, so sieht er sich zu
der Bemerkung veranlaßt, daß die Alte wie die Neue Welt, auch abgesehen von
der Entdeckung der zweiten durch eine spanische Expedition, doch den Spaniern
zu großem Danke verpflichtet seien. Mögen sie, führt er aus, die Indianer
mitunter grausam behandelt haben, so haben sie sie doch nicht ausgerottet, wie
die Engländer getan haben. Sie haben Amerika mit allen europäischen Haus¬
tieren beschenkt, die dort trefflich gediehen; am Ende des achtzehnten Jahr¬
hunderts gab es im Laplatagebiet Gutsbesitzer, die hunderttausend Rinder
hatten; ein Ochs galt einen Piaster. Die Spanier haben alle unsre Getreide¬
arten, den Reis, unsre Obst- und Beerenarten, die Südfrüchte und den Kaffee
in Amerika angepflanzt und dafür dessen köstliche Erzeugnisse in Europa ein¬
gebürgert: edle Nutzhölzer, Cochenille, Kakao, Vanille, Rohrzucker, Koka,
Chinarinde.
In sehr lebhaften Kontakt mit Europa geriet das Land am Anfange des
achtzehnten Jahrhunderts durch den Spanischen Erbfolgekrieg, und da dieser
damit endigte, daß ein Bourbone den spanischen Thron bestieg, so wurde da¬
durch ein dauernder Verkehr und Gedankenaustausch zwischen Madrid und
Paris hergestellt. Die spanischen Bourbonen, meint Desdevises, seien freilich
keine Genies gewesen, aber immer noch ein wenig besser als ihre Vorgänger
aus dem Hause Habsburg. Sie hätten sich ehrlich, wenn auch beim Mangel
sachverständiger Ratgeber meist nicht sehr zweckmäßig, bemüht, das Land
wirtschaftlich und geistig zu heben und die Verachtung der Arbeit, die zu den
schlimmsten Vorurteilen des Spaniers gehöre, zu überwinden. Ihr Streben
habe sich einem Kreise fortschrittlich gesinnter spanischer Patrioten geistlichen
und weltlichen Standes mitgeteilt, und es seien eine Menge gemeinnütziger
Vereine: landwirtschaftliche, gewerbliche, wissenschaftliche, literarische, päda¬
gogische gegründet worden, unter diesen 1806 eine „Gesellschaft der Freunde
Pestalozzis". So sei im einzelnen manches gebessert, aber freilich, da sich das
Volk im ganzen ablehnend verhielt und auch den Reformern der Ernst der Arbeit
und die Ausdauer fehlten, kein durchschlagender Erfolg erreicht worden.
Das wertvollste Kapitel scheint uns das über die Landwirtschaft zu sein,
weil es aktuelle Bedeutung hat. Denn die Natur des Landes hat sich seit dem
achtzehnten Jahrhundert nicht geändert, und auch die Grundbesitzverhältnisse
mögen im wesentlichen dieselben geblieben sein. Spanien gehört keineswegs zu
den von der Natur besonders begünstigten Ländern. Das Klima Kastiliens ist
abscheulich — es wechselt bekanntlich trockne Gluthitze mit schneidender Kälte —,
und nur ein Zehntel des spanischen Bodens ist sehr fruchtbar; 45 Prozent sind
ganz mager und zum Teil gar nicht anbaufähig. Das Land ist entwaldet, die
Flüsse sind wasserarm, auch die größten nur bei günstigem Wasserstande auf
kurze Strecken schiffbar.*) Man halte daneben, wie reich England in dieser
Beziehung ausgestattet ist, und daß es in unmittelbarer Nähe seiner kleinen
schiffbaren Ströme, seiner buchtenreichen Küsten fast unerschöpfliche Kohlen- und
Eisenlager besitzt! Die Waldarmut, die eine Ursache der Trockenheit ist, haben
nun allerdings wie in den andern beiden südlichen Halbinseln unsers Erdteils die
Bewohner verschuldet, und alle Bemühungen der bourbonischen Regierungen um
Wiederaufforstung und um Hemmung der noch fortdauernden Waldverwüstuug
siud an der Schlaffheit der Behörden und an dem passiven Widerstande des
Volkes gescheitert. Die Bauern steifen sich auf ihre alten Fueros, die ihnen
erlauben, sich aus dem Walde so viel Heizmaterial zu holen, als ihnen beliebt,
die Hirten weideten ihr Vieh im Walde, und wenn die Regierung Pflanzungen
anlegte, so betrieb man es als Sport, die jungen Pflanzen von den Herden
abfressen zu lassen. Wo noch Wald vorhanden war, da verursachte sein Schutz,
den die neuen Gesetze den Gemeinden zur Pflicht machten, Inspektionen, Unter¬
suchungen, Prozesse, und die Bauern, die darin eine tyrannische und vexatorische
Einmischung in ihre Privatangelegenheiten sahen, sorgten nach Kräften für die
Beseitigung der Ursache dieser Belästigungen; sie fanden es am bequemsten, wenn
es gar keinen Wald sondern nur Gestrüpp gab. Ein Übelstand, an dem wiederum
Spanien nicht allein litt, war die Einschränkung der bäuerlichen Bewirtschaftung
des Bodens durch den übergroßen Grundbesitz der Kirche und des Adels; freies
Land war wenig zu haben und darum teuer. Doch waren die Grundbesitz¬
verhältnisse zonenweise verschieden. Im Norden, der teils gar nicht, teils nur
vorübergehend unter der maurischen Fremdherrschaft gestanden hatte, waren die
Leute frei geblieben, und bestand die Masse des Volkes aus kleinen Freibauern.
„In der mittlern Zone, die mit hartnäckiger Ausdauer Schritt für Schritt
erobert werden mußte und dabei jahrhundertelang verwüstet wurde, bildete sich
ein mächtiger Feudaladel, der das eroberte Land kolonisierte. Die Hochebene
ist darum das Land der Schlösser, eastilia, und die adlichen Latifundien breiteten
sich in dem Maße aus, wie der Reichtum ihrer Besitzer stieg, und der Adel sich
nach einer Rangordnung abstufte. In Biscaya, wo jedermann Hidalgo ist, gibts
keine Grundherren; in Toledo und in Estremadura besitzen diese drei Viertel
des ganzen Bodens. Die Bauern haben nur Pachtland und sind der Willkür
von Intendanten preisgegeben. Im Süden, der mit zwei großen schlugen
gewonnen worden war öder Eroberung Malagas 1487 und der Granadas 1491^,
schnitt sich der kastilianische Adel große Besitzungen heraus und ließ sie durch
die unterworfnen Mauren bewirtschaften, die er einer harten Knechtschaft unter¬
warf. Die Vertreibung der Mauren beraubte die neuen Herren ihrer Kolonen,
und da sie weder Schwarze noch Indianer einführen durften, so wirtschafteten
sie mit Lohnarbeitern, die der Intendant scharenweise bang, wenn er sie brauchte,
und nach der Ernte wieder heimschickte." Jedes der drei Systeme, meint der
Verfasser, hat bei rationeller Anwendung in andern Ländern gute Resultate
ergeben. „In Spanien aber hatten die meisten der großen Grundherren weder
landwirtschaftliche Kenntnisse noch Geschmack am Betriebe der Landwirtschaft;
sie würden sich überdies etwas zu vergeben geglaubt haben, wenn sie sich mit
so gemeinen Gegenstünden befaßt und in ihrem Grundbesitz etwas andres als
eine Rentenquelle gesehen hätten. Unter solchen Umständen konnte, wie sich
von vornherein erwarten ließ, der Großgrundbesitz mit Lohnarbeitern in Spanien
nichts ersprießliches leisten; die Landwirtschaft konnte nur in solchen Gegenden
einigermaßen gedeihen, wo entweder Freibauern oder Zinsbauern oder Erb-
püchter das Land bebauten." Wie sich diese verschiednen Arten bäuerlicher Wirte
in mancherlei Mischungen und Übergangsformen auf die einzelnen Provinzen
des nördlichen, mittlern und östlichen Spaniens verteilen, wird ausführlich
beschrieben. Am befriedigendsten hat sich die Lage in Valencia und im Basken¬
lande gestaltet. Dort Verhalten die Fruchtbarkeit des Bodens und gutes Klima
bei mäßiger Arbeit zu Wohlstand, hier schuf sich ein energischer Volksstamm
auf magerm Boden und in einem rauhen Klima durch harte Arbeit häusliches
Behagen. Das dürfte bis heute nicht anders geworden sein. Daß die Zustände
Andalusiens heute noch dieselben sind wie vor vierhundert Jahren, beweisen
die periodischen Berichte der Zeitungen über Landarbeiterunruhen.
Desdevises beschreibt ausführlich die verschiednen Kulturarten in den ver-
schiednen Gegenden und gibt eine genaue Statistik der Ernteerträge, der Vieh¬
haltung, der Wollproduktion usw. Ebenso eingehend berichtet er über die
einzelnen Gewerbe und über den Inlands- und den Auslandshandel. Wie es im
allgemeinen um das spanische Gewerbe gestanden hat, noch steht und bei dem
Charakter des spanischen Volkes nicht anders stehn kann, ist bekannt. Spanien
ist zum Beispiel nicht arm an Mineralschätzen, überläßt aber deren Ausbeutung
gewöhnlich Ausländern; verlegt sich einmal ein Spanier darauf, so betreibt er
nicht eine ernsthafte Montanindustrie sondern nur Schatzgräbern. Wird er
nicht mit einem Schlage reich, so läßt er die Sache liegen. Von Ausländern,
die einen erziehenden Einfluß ausüben könnten, nimmt der Spanier nicht leicht
Lehre an; dazu ist er zu stolz und zu verliebt in seine nationale Eigenart.
Die ausländischen Konsuln in den Handelsplätzen, namentlich die französischen
und die englischen, hatten mit Volk und Behörden manchen harten Strauß zu
bestehn; freilich mögen sich namentlich die englischen oft unverschämt genug
benommen haben. Die Handelskriege der Engländer nennt Desdevises mit
Recht Seeraub im größten Stile. „Wenn die spanischen Küstenwächter einmal
den englischen Schmugglern gar zu unbequem werden, behauptet England, die
Spanier störten seinen Handel und erklärt den Krieg; so 1719 und 1739."
Dieser besteht dann darin, daß es eine Anzahl spanische Schiffe kapert. Als
Konkurrenten hatte ja England die Spanier damals so wenig zu fürchten wie
heute. Der Spanier hat zwei Prunkfafsaden, hinter denen er seine Faulheit
und Genußsucht verbirgt. Die eine heißt Arg,?6Zg,ä ssxxmolg,. Sich mit Arbeit
abrackern, rennen, um einen kleinen Geldvorteil zu erHaschen, das ist nicht
einmal anstündig, geschweige denn nobel. Als im Jahre 1783 der König eine
Anzahl Gewerbe, die bis dahin für unehrlich gegolten hatten, darunter die
der Schneider, der Schuhflicker, der Hufschmiede und der Barbiere, für erlaubt
und ehrlich erklärte, da bewies ein Anonymus in einem Pamphlet, daß das
ein Attentat auf die Würde des Adels und besonders der Ritterorden sei. Auch
wußte man dem Widerstande gegen jede Begünstigung der Gewerbe eine volks¬
wirtschaftliche Wendung zu geben. Ein andrer Pamphletist brandmarkte die
Gewerbetreibenden als Übeltäter, die die Landleute in die Stadt lockten und
die Lebensmittel verteuerten; die Negierung habe die Pflicht, das maßlose
Wachstum der Städte zu hindern und den Handelsgeist zu bekämpfen, der das
^llerschlechteste und der Todfeind des Patriotismus sei.
In alledem steckt ja ein berechtigter Kern, sodaß die AraveÄaÄ nicht
bloß Borwand der Faulheit genannt werden darf, ebensowenig wie die andre
schöne Fassade, die spanische Lebensweisheit, die Desdevises gelegentlich seiner
Schilderung des Studienwesens auf das treffendste formuliert. „Impulsiv und
leidenschaftlich, dabei ein Individualist, der sich auf keine Kompromisse einläßt,
erklärt der Spanier sein Belieben für Vernunft, seinen Wunsch für sein Recht
und erkennt außer Gott keinen Herrn an. Warum sollte er sich das Joch
eines mühsamen Studiums aufhalsen lassen, sich zu einer widerwärtigen und
dabei undankbaren Arbeit verurteilen, da doch alle diese eiteln Wissenschaften,
die man ihm anpreist, auf nichts andres zielen als seine Unabhängigkeit
einzuschränken, ihm die Initiative zu rauben und seiner Phantasie die Flügel
zu beschneiden? Für ihn gibt es nur eine Wissenschaft: die des Unerkenn¬
baren, die Theologie. Auf diese wirft er sich mit dem ihm eignen Ungestüm,
sei es, um mit den großen Denkern auf die schwindelerregenden Höhen der
Spekulation hinaufzufliegen, oder sich mit einer Pilgerschar an den Abenteuern
einer langen Wallfahrt zu ergötzen. Für einige Auserwählte ist dieses soge¬
nannte Studium der Weg zum Himmel, für die große Masse ein Spielzeug.
Man lernt Ideen zu Jvngleurkünsten benutzen, mit Beweisgründen Fangball
spielen, und wenn man es zu einer Fertigkeit in diesem Spiel gebracht hat,
so bekommt man den Doktorgrad, durch den Grad eine Anstellung, Besoldung,
den Anspruch auf einen Rang in der Gesellschaft und das Recht, müßig zu
gehn. Welche andre Philosophie könnte es mit dieser aufnehmen?" Damit
ist schon ungefähr gesagt, wie es um das geistige Leben Spaniens im acht¬
zehnten Jahrhundert gestanden hat. Von ernster Wissenschaft war im allge¬
meinen keine Rede, obwohl es den verschiednen Fächern nicht an einzelnen
Liebhabern fehlte, die jedoch Epochemachendes nicht geleistet haben; Achtungs¬
wertes vorzugsweise auf dem Gebiete der geographischen Entdeckungen und der
Kartographie. Daß die Inquisition als Hemmschuh wirkte, versteht sich von
selbst (es gehört zu den Verdiensten der bourbonischen Regierung, daß sie ge-
werbfleißige Protestanten ins Land zog und ihnen Sicherheit vor Verfolgung
verbürgte, unter der einzigen Bedingung, daß sie die öffentlichen Bräuche nicht
verletzten), aber ebenso selbstverständlich ist es, daß sich die Spanier, einzelne
„vorwitzige" Köpfe ausgenommen, durch die Inquisition in der Freiheit, wie sie
sie verstanden, gar nicht beschränkt fühlten. Für die wenigen freilich, die mit Ernst
und Eifer nach Aufklärung strebten, war es ein Unglück, daß die Negierung
und die Inquisition — beide walteten auch in der bourbonischen Zeit meist
im Einverständnis miteinander — der freien Forschung mehr Hindernisse be¬
reiteten, als in den übrigen europäischen Staaten bestanden, „selbst in Preußen",
schreibt Herr Desdevises; jedoch fragt es sich, ob Freiheit viel genützt haben
würde, da die Forscher im Volke keine Resonanz gefunden hätten. Die In¬
quisition entsprach eben der spanischen Volksart und ihrer „Philosophie", und
darum findet sie bis auf den heutigen Tag ihre Verteidiger in Spanien. Ein
solcher, Menendez y Pelayo, nach Desdevises ein hervorragender Gelehrter,
nennt die Inquisition eine der nationalsten und lautersten Einrichtungen. Es
würde, meint dieser Orthodoxe, durchaus nicht zu bedauern gewesen sein, wenn
sie bis heute in voller Kraft geblieben wäre, leider aber sei sie samt allen echt
spanischen Einrichtungen verfallen, als die aus Frankreich stammenden Könige
den Jcmsenismus und den Enzyklopädismus einführten. Allerdings habe die
Inquisition noch, und daran habe sie recht getan, alle protestantischen Bücher
verboten, die zu ihrer Kenntnis gelangten, aber kein ausländisches Werk philo¬
sophischen Inhalts. „Denn Voltaire. La Mettrie, Holbach und die übrigen
Tröpfe des achtzehnten Jahrhunderts sind gar keine Philosophen; ihr Geschwätz
ist nur die Karikatur der Philosophie; ihre armseligen, gemeinen und unge¬
heuerlich gottlosen Lehren sind heute ein Gegenstand des Spottes und der
Verachtung für alle Männer der Wissenschaft, welchem philosophischen Heer¬
lager diese auch angehören mögen." Desdevises widerlegt diese Auffassung.
Die Inquisition habe wirklich geschadet, wirklich den Fortschritt gehemmt, alles
verboten und vernichtet, was nicht katholisch orthodox war. Im Jahre 1750
wurden zu Madrid einige Bücher verbrannt, weil sie „skandalöse Angriffe auf
die so nützliche, so verehrungswürdige, um die Kirche so Hochverdieute Gesell¬
schaft Jesu enthielten", und ein paar Jahre darauf wurden die Bücher ver¬
boten, die diese mittlerweile ausgehöhlte Gesellschaft verteidigten. Die Negierung
suchte die Wissenschaften dadurch zu heben, daß sie den Bücherpreis amtlich
regelte, das Papier billig machte und die königliche Druckerei luxuriös aus¬
stattete; hätte man, statt Luxus zu treiben, lieber Freiheit gewährt, bemerkt
Desdevises. Und so blieb denn Spanien das Land, wo, wie ein Patriot klagt,
niemand liest, weil niemand schreibt, und niemand schreibt, weil niemand liest.
Jedoch werden die Spanier wahrscheinlich auch in Freiheit weder die
Wissenschaft noch die Industrie sonderlich fördern. Ihre nationale Anlage
weist sie auf die Phantasietätigkeit, und in der schönen Literatur und den
bildenden Künsten haben sie auch geglänzt, und zwar gerade in der Zeit, wo
die Inquisition noch mit ungebrochner Kraft waltete und wütete. Das acht¬
zehnte Jahrhundert war eine Zeit der Dekadenz. In der Literatur herrschte
auf der einen Seite der Schwulst, auf der andern der Klassizismus, der nicht
Nachahmung der Alten, sondern Nachahmung der französischen Nachahmer der
Alten war. Desdevises bedauert — und das ist einem Franzosen sehr hoch
anzurechnen —, daß die strebsamen Geister nach den ihrem Volksgenius wider¬
sprechenden französischen Mustern gegriffen haben, anstatt ihre eignen großen
Dichter zu Vorbildern zu erwählen. Ein Spanier, Former, hat den Grund,
weshalb nicht bloß seine Landsleute eine Zeit lang die Franzosen nachgeahmt
haben und das Französische vorübergehend Weltsprache geworden ist, sehr gut
angegeben. Sie stellen, schreibt er. jeden Gegenstand so fesselnd und so viel¬
seitig dar und in einer so angenehmen Form, einer so korrekten, klaren und
durchsichtigen Sprache, daß die andern Völker sogar das. was ehren dre
Franzosen entlehnt haben, erst durch diese kennen lernen, well es vor der
französischen Bearbeitung in keiner genießbaren Form vorhanden war Dre
Zeit, für die das gegolten hat, ist ja glücklicherweise vorüber, für Deutschland
seit Lessing. Doch gab es einige spanische Dichter, die sich an die vater¬
ländischen Traditionen hielten, und deren Begabung über die der zahlreichen
Dichterlinge jener Zeit hinausragte. Der bedeutendste war Ramon de la Cruz,
durch und durch ein Spanier, der die ssallirM-listW verspottete, nicht wollte,
„daß sein Vaterland ein frankospanischer Diphthong werde, sein Volk ein Narr,
der nicht weiß, was er, vom Hut bis zu den Schuhen, morgen tragen wird;
denn wenn der leichtsinnige Franzose das unterste zu oberst kehrt, machen es
die spanischen Französlinge mit, und was kein Alexander fertig gebracht hätte,
die Spanier zu ändern, das gelingt diesen Hanswursten". Obwohl seine volks¬
tümlichen Stücke sehr gefielen, und er auch einige vornehme Gönner fand,
scheint es ihm doch nicht zum besten gegangen zu sein. Er schreibt: „Die
Nacht hindurch arbeiten und bei Tage sich müde reden, von aller Welt ge¬
scholten, von niemand belohnt werden, nicht wissen, wann das Stück aufgeführt
werden wird, das man geschrieben hat, mit seinem Rufe mehr von Beschimpfungen
als vom Beifall abhängen — so sieht das Dichterleben aus." Man hat Ramon
den Goya des Theaters genannt.
Goya, von dem im letzten Jahre bei uns soviel die Rede gewesen ist,
war der einzige große Maler des achtzehnten Jahrhunderts in Spanien. Er
definierte die Malerei als eine Dichtkunst, die aus dem Weltall auswähle,
was für ihre Zwecke geeignet sei, und in einem Phantasiegebilde Charakter¬
züge vereinige, die die Natur an mehrere Individuen verteilt habe. Ein
echter Künstler sei nicht Kopist sondern Schöpfer. Goya kannte das Ausland,
die Welt, aber, schreibt Desdevises, er stellte mit Vorliebe Spanien dar; die
Gesamtheit seiner Werke „ist der Spiegel, in dem sich das ganze Spanien
malt; nicht bloß sein Äußeres, seine Moden, seine Sitten, sondern auch seine
Geschichte, seine Religion, seine Philosophie, seine Wünsche und seine Träume.
Ein unerschrockner Realist, scheut er vor keinem noch so rohen und abstoßenden
Gegenstande zurück, zugleich aber ist er König im Reiche des Phantastischen;
er malt Monstra, die sich wandeln wie Wolkengebilde." Mit religiösen Bildern
hat er angefangen, dann aber, nachdem er den Glauben verloren, seine Kunst
zum Werkzeug seiner pessimistischen, eigentlich nihilistischen Weltverachtung und
seiner patriotischen Satire gemacht. Ms Hofmaler hat Goya das Äußerste an
Kühnheit gewagt. „Sie sind alle da: der König (Karl der Vierte), die Königin,
der Prinz von Asturien und seine Frau Maria Antonia, seine Brüder Carlos
und Francisco, seine Schwestern Carlota Joaquina, Maria Luisa, Maria
Madel, sein Schwager der Prinz von Parma, sein Oheim Don Antonio,
seine Tante Maria Josefa. Alle in Hoftracht, mit Orden und Grand Cordon
behängt. Der Sammet, die Seidenstoffe, die Stickereien, die Edelsteine schillern
und funkeln, aber all dieser Reichtum dient nur dazu, die Häßlichkeit und
die Gemeinheit der Gesichter noch abstoßender zu machen." Das Größte, meint
Desdevises, habe Goya mit der Radiernadel geleistet. Seine satirischen Stiche
hat er mit boshaften Unterschriften versehen. Der „Friedensfürst", Godoy,
führte seinen Stammbaum auf die Könige der Westgoten zurück. Goya zeichnet
einen Esel, der einen Stammbaum betrachtet, und schreibt darunter: „Die
Genealogisten und die Heraldiker haben das arme Tier verrückt gemacht, und
es ist nicht das einzige, dem es so ergeht." Ähnlich werden die Personen der
königlichen Familie, ihre Laster und Arkaden verhöhnt. Wer, schreibt Desdevises,
die Undankbarkeit des gut bezahlten Hofmalers Schelte, der urteile von einem
sehr niedrigen Standpunkt aus. Goya habe sein Vaterland leidenschaftlich
geliebt und darum die elenden herrschenden Gemälden und Stände notwendig
hassen müssen. So habe er auch die Kirche und den Klerus gehaßt, nicht aus
gemeiner Gesinnung, sondern weil ihr Leben im Widerspruch stand mit ihrem
Berufe. Zuletzt hat Goya in einem Kupferstich seinen eignen verwesenden
Leichnam dargestellt, wie er sich aufrichtet, um zu rufen, es gebe nichts jenseits
des Grabes. Desdevises glaubt jedoch zu wissen, böß Goya nicht in solcher
Verzweiflung gestorben sei, sondern in der Hoffnung, daß die Wahrheit und
das Vaterland ihre Auferstehung feiern würden. Unter den spanischen Malern
der Zeit erscheint auch unser Raphael Mengs. Karl der Dritte lernte ihn in
Neapel kennen und schätzen und stellte ihn, als er den spanischen Thron be¬
stieg, als Hofmaler an mit 120000 Realen Gehalt, freier Wohnung und
Equipage; für die Überfahrt nach Spanien stellte er ihm zwei Kriegsschiffe
zur Verfügung. Aus den von Azara herausgegebnen Obras as v. Antonio
RalÄöl NsnAs teilt Desdevises ein Urteil des Malers über Spanien mit,
dessen Hauptstelle wir als eine Kuriosität wiedergeben. „Die Spanier atmen
eine sehr reine und elastische Luft, die die Säfte in lebhafte Bewegung ver¬
setzt und die Nerven erregt. Von Haus aus Barbaren, haben sie erst von
ihren Herren, den Römern, einige Zivilisation empfangen, aber die Goten und
dann die Mauren haben diese Zivilisation bis auf den letzten Rest vernichtet.
Nachdem sie ihr Land wiedererobert hatten, sind sie mutig ans Werk gegangen
und haben viel gearbeitet; aber sie haben es zu nichts gebracht, weil es ihnen
an guten Mustern fehlte, und weil sie die Gesetze des guten Geschmacks nicht
kannten. Sie haben die Gotik und das Maurische nachgeahmt, das Geheimnis
der Schönheit aber nicht erfaßt. In Sevilla sind Malerschulen entstanden,
und Philipp der Vierte hat die Künstler in der Person des Velasquez hoch
geehrt, aber zur wahren Kunst haben sich die spanischen Maler nicht erhoben,
'"eil sie die Alten nicht studierten und nicht einmal die Überlegenheit der von
den Caracci wiedererweckten italienischen Schule erkannt haben."
Wer sich in Deutschland für Spanien interessiert, der darf d:e Bücher
und Schriften des französischen Gelehrten nicht unbeachtet lassen. Dieser
Erweist uns außerdem in einem liebenswürdigen Schreiben an Foulcher
Delbosc als den gründlichsten Kenner Spaniens und an die von diesem ge-
"tete ^ Li^mans. die seit einem Jahre das Organ der Htspame-
lmeriean Society geworden sei. „der bedeutendsten der Vereinigungen. dre
^ die Erforschung Spaniens zur Aufgabe gemacht haben". Zum Schluß
bemerken wir, daß Herr Desdevises auch mit großem Eifer die Universitäts¬
ausdehnung betreibt und mit vier Kollegen in Clermont Kurse volkstümlicher
Vorträge organisiert hat. Er findet Frankreich rückständig in Beziehung auf
die Volksbildung und preist die skandinavischen Staaten, weil in ihnen die
Volksbildung am höchsten stehe (und stehn kann, weil ihre Bewohner größten¬
teils wohlhabende Bauern, nicht Lohnarbeiter sind). Gesinnungsgenossen von
ihm haben in Paris eine ^sMviation ?rg,ne,0-8eÄväing,of gegründet, und er
schätzt sich glücklich, daß er eine Abordnung von schwedischen und dänischen
Professoren und Studenten hat in Clermont begrüßen und mit der Auvergne
bekannt machen können.
le Schwierigkeit des Russischen bleibt unbestreitbar, auch wenn
man sie nicht an dem Maßstabe messen will, den der Verfasser
der ersten baskischen Grammatik an sein Werk legte, indem er
ihm den Untertitel: „Die überwundne Unmöglichkeit" gab.
Dafür hat die Sprache aber auch ihre ausgeprägte geistige Art.
Obwohl zum Ausdruck jeder Seelenstimmung geschickt, trägt sie doch vor allem
den Stempel des Traulichen und naiven, in vollem Einklang mit dem Volks¬
charakter selbst. Wohl mag es heute, wo die durch Revolution und Gegen¬
revolution hervorgerufnen Greuelszenen die Gemüter der Zeitgenossen belasten,
gewagt erscheinen, von russischer Gutherzigkeit zu reden. Aber auch der ehe¬
malige Tomsker Professor des Staatsrechts, M. von Reußner, der in den
härtesten Ausdrücken — und nicht immer mit Unrecht — von der Regierung
und den Tschinowniks im allgemeinen redet, hebt in seinem kürzlich veröffent¬
lichten Buche „Die russischen Kämpfe um Recht und Freiheit" diesen Grundzug
des nationalen Wesens hervor, der sich in wunderlicher Weise mit den bar¬
barischen Gepflogenheiten des Einzelnen oder der Regierungsform vermischt. *)
Der Russe wird im Rausch der Leidenschaft oder auch des Alkohols, vielleicht
in Ausübung seines fast immer nur mechanisch erfaßten Amtes leicht zum Tot¬
schläger — selten zum feigen Mörder —, aber er geht mit heißen Tränen
hinter den Särgen her und teilt sein letztes Stück Brot mit dem Hungrigen.
Und diese weiche, nicht selten weichliche Grundempfindung, die häufig in
Melancholie übergeht, hat sich auch seiner Sprachform und seiner Ausdrucks¬
weise mitgeteilt. Schon beim ersten Verkehr mit ihm tritt uns das entgegen.
Denn er grüßt nicht wie wir oder sein nächster Blutsfreund, der Pole, mit
„Guten Tag", sondern er denkt sofort an unser leibliches Wohl: ^ärakLwüitjg
— seien Sie gesund! — ist sein erstes Wort. Und auch da, wo ein lateinisches
Vivat oder ein französisches Vivs ähnlichem Empfinden einen immerhin kühlern
Ausdruck verleiht, bei der Begrüßung des militärischen Vorgesetzten, heißt es
vonseiten der aufmarschierten Truppe: 2<trg.mjg, ^dölgtjsin — wir wünschen
Gesundheit! Und so bedeutet auch das Zeitwort 2äg.r6^g.tW'a, geradezu „be¬
grüßen", „einen guten Tag wünschen". Trennt sich aber der Russe von seinem
Besucher oder Besuchten gleich uns mit einem äg, 8vviäs.nijg, — auf Wieder¬
sehen! —, so lautet doch sein eigentlicher Abschiedsgruß regelmäßig prgsedtsodai,
xrasolitMüg.l'kjo, wörtlich: Verzeih, verzeihen Sie! (also: was ich etwa Törichtes,
Kränkendes geredet oder getan habe). Besondre Herzlichkeit prägt dem gesell¬
schaftlichen Verkehr auch die Sitte auf, in der direkten Anrede oder von Dritten
nicht den Familiennamen, sondern den Vornamen mit dem vom Vornamen
des Vaters abgeleiteten zweiten Rufnamen zu gebrauchen, also: ^ring.<ti Ir-Mis-
nitsok, Ng.eg.Ija, ?gMovnÄ,, eine Sitte, die beiläufig auch Zeugnis für das alt¬
indogermanische Vaterrecht abzulegen scheint. Nur im engsten Familienkreise
wird neben dem vollen Namen auch der einfache angewandt; regelmäßig der
Dienerschaft gegenüber, die dafür ebenfalls den Vorzug der Koseform genießt.
Eine ähnliche Empfindung prägt sich in den volkstümlichen Benennungen der
höchsten Personen aus: wenn "WöMi^Ä KuMl^'g. und ^VÄllä Knjg^ die feier¬
lichen Bezeichnungen des Ranges sind, so spricht der Nationalrusse viel lieber
von der Aare^ng, (Tochter des Zaren) und von dem AM6vitse.Il (Sohn des
Zaren). Ungemein charakteristisch ist auch die Art, wie er sonst ihm Liebes
und Herzerfreuliches durch Übertragung sinnfälliger Ausdrücke oder durch immer
neue Umbildungen der Wurzel bezeichnet. Daß ihm, wie das Gelb dem Chi¬
nesen, so das Rot als die schönste der Farben erscheint und sich schließlich
geradezu mit dem Begriff der Schönheit deckt, wurde als Zusammenklang mit
germanischer Empfindungsweise schon erwähnt. Aber auch „Rötting", das ist
schöner Mensch, Adonis, „Notsprecher" Schönredner, „röter" ^ malen nebst
vielen andern Ableitungen aus dem nämlichen Grundwort sind russische Aus¬
drücke. Zur Bezeichnung des unverheirateten weiblichen Wesens in seinen ver-
schiednen Abstufungen hat der Deutsche, abgesehen von den anders gebildeten
»Jungfrau" und „Dirne", die Wörter: Mädchen, Mägdlein, Maid und Magd,
allenfalls noch Mädel und Müdelchen, also immerhin eine reiche Anzahl, die
aber der Russe mit seiner neunsprossigen Stufenleiter von es'öng. (besonders
heilige Jungfrau) bis (Dienstmädchen) und chettsodonln (derbes Bauern¬
mädel) noch übertrifft.
Andrerseits ist das Gemütsleben des Russen eng mit seiner religiösen An¬
schauung verbunden, deren Niederschlag sich zunächst bei der Namenswahl zeigt.
Wenn die schönen Begriffe Glaube, Liebe und Hoffnung bei uns höchstens in
den fremdsprachlichen Vornamen Fides, Caritas (Aimee) und Esperance und
sogar bei den romanischen Nationen nur vereinzelt vorkommen, gehören sie als
^jöra, Ijjuook und 5sg,all68<zK.äÄ zum eisernen Bestände des russischen Familien¬
lebens. Auch der Gebrauch andrer hängt mit kirchlichen Einflüssen, insbesondre
mit der legendarischen Überlieferung zusammen. Andreas, der „erstberufne"
Apostel Jesu (I'fru-Äsvitrmz'), soll das Christentum in der sarmatischen Tief¬
ebene gepredigt haben; der Großfürst Wladimir der „Apostelgleiche" (^xostata-
r^nz?) gilt als Erneuerer der von seiner Ältermutter Olga wieder aufge-
nommnen christlichen Lehre und als Bekehrer seines Volkes, und so gehören
die Namen ^rar6i und >Vtg.älwir zu den häufigsten, besonders in vornehmen
Kreisen. Als dritter gesellt sich der volkstümlichere (Nikolaus) hinzu,
dessen von allen Slawen verehrtes Heiligtum im unteritalienischen Bari
steht und namentlich von jedem Russen, der den Boden der apenninischen
Halbinsel betritt, gern besucht wird. Natürlich ist auch die Mehrzahl der
übrigen Vornamen, unter denen Ivän, ?Mer (Peter), "Waslli, «ArjAori, Lhöps-n,
MKtta, (Niketas) die verbreitetsten sein dürften, auf Heilige der ?rg.>og,Äg,vngM
ZsrKok — der orthodoxen Kirche —, die dem gläubigen wie dem ungläubigen
Russen als die allein dieses Namens würdige gilt, zurückzuführen.
Läßt die Sprache in diesem Punkte die Frömmigkeit als charakteristische
Eigenschaft des Volkes erkennen, so legt sie in andrer Hinsicht Zeugnis für
seine Sittlichkeit ab. Denn sie hat nur eine geringe Zahl gemeiner oder be¬
schimpfender Ausdrücke, unter denen die beliebtesten of-soliönnik und clurÄc
— „Spitzbube" und „Dummkopf" — zugleich in harmlos scherzenden Sinne
gebraucht werden. Im Gegensatz zu den auch in unserm deutschen Volksliede
nur zu oft auftretenden Derbheiten und Unscmberkeiten ist denn auch das slawische
durchaus einwandfrei, zart und sinnig. Dieses Zeugnis für die ursprüngliche
Art des russischen Bauern wird auch durch grausige Bilder, wie sie etwa
Tolstoi und Gorki entwerfen, nicht entkräftet. Denn wo das Niedrige und
Gräßliche auftritt, hängt es mit der ungeschlachten Natur des Halbbarbaren
zusammen. Laszivität und Gemeinheit, wie sie die führenden Kreise vielfach
beherrschen, sind fremdes Gewächs, vorzugsweise französischen Ursprungs. Doch
finden auch die als typisch angesehenen Natiouallaster ihren unbefangnen
Widerhall in der Sprache. Der Schnaps wird zärtlich als „Wässerchen"
(vvöÄKg.)*) angeredet, wasoliönnil: ist auch in seiner schlimmen Bedeutung fast
das dritte Wort jedes vertraulichen Gesprächs, und der oft grausame Sitten-
schilderer Puschkin legt einer seiner Personen im „Anjügin" die Ehrennamen
„Vielfraß, Schmumacher und alter Schuft" in einer so harmlos gemeinten
Situation bei, daß man förmlich ein behagliches Lächeln um die Lippen des
Dichters spielen sieht. In welchem Grade Ausdrücke, die in jeder andern
Kultursprache beschimpfend sein würden, im Munde des Russen diesen Charakter
verloren haben, ergab sich mir eines Tags aus der Äußerung eines sehr vor¬
nehmen Herrn, der mit der Tochter eines kleinen Beamten eine Liebesheirat ge¬
schlossen hatte. „Mein Schwiegervater hatte knapp so viel Gehalt, um die
Stickerei auf seinem Uniformkragen bezahlen zu können. Was sollte er machen?
Er mußte stehlen!"
Nirgends aber prägt sich die sprachliche Eigentümlichkeit des Russen in
solchem Maße aus, wie in seiner unbegrenzten Fähigkeit und Neigung, Dimi¬
nutive zu bilden. Das Verkleinerungs- und Kosewort beherrscht die Sprache
geradezu. Daß man denen, die man lieb hat, gern etwas Liebes sagt, ist
selbstverständlich, und so wird zunächst dem Rufnamen in der persönlichen
Anrede die zärtlichste Form verliehen, die aber auch angewandt wird, wenn
man von dem abwesenden Dritten ohne Hinzufügung des väterlichen Vor¬
namens spricht. UivQgÄ Uilnl-Mvitseu heißt im Familienkreise NlMtiÄ,
IrMli ^.rku-clisvitsod: Irg.8<zU6, Aal-UM I'ii.vto on»: UatÄsodg, oder Ug,ti5,8ousnM.
Für „Peterchen" (oder Peterlein) sagt der Russe oder ?Mrüs(ZUa; zu
^IsKsiLnSr und ^1öl8».iiärg. gehört zunächst die beiden gemeinsame Kose¬
form 8ii>8vim, die sich aber für den weiblichen Teil noch zu LasvusiiM ver¬
feinert. Doch finden sich ähnliche Bildungen ja auch in unsrer dnrch ihre
Biegsamkeit berühmten Muttersprache. Ein wesentlicher Unterschied tritt erst
dann hervor, wenn der russische Sprachgeist zu Umformungen greift, die mit
der ursprünglichen Gestalt kaum noch eine Ähnlichkeit haben. So verwandelt
sich viuutri in Ulten und NitM, 'Uig.äiwir in ^VÄocija, WKörM in Imlcsrja,
Ivüll in ^VcinM, 'Wanjüeng. und ^in^üsoukg., während aus dem griechischen
Eudoxici zunächst -sekclolchg., dann ^kävtjg., vüujg, und DrmMoua,, aus X8«vija
(d- i. Xenia) ^Ksinjg. (siehe Schillers Demetrinsfragment) und ^,k8Mvug. wird.
Aber weit bemerkenswerter ist doch die allgemeine Erscheinung. Wie die
Sonne von ihren Planeten, wird jedes Hauptwort von einer mehr oder minder
Zahlreichen Schar von Verkleinerungswörtern begleitet, aber auch Eigenschafts¬
wort und Adverbium bilden Diminutiva. I>jo<zlM heißt leicht, aber IjöKöoM
spielend leicht oder etwas leicht, „leichtchen"; tlollo ruhig, tioKoriM „sachtchcn"
(der Berliner hat wirklich ein „sachteken" erfunden!); oIiÄr68vIü gut, oIig.r68oKknM
^ehe niedlich. Das Hauptmittel aber, um der Sprechweise den Charakter des
^fälligen. Anmutigen, auch schlechthin Höflichen zu geben, ist die Anfügung
euies s an ein einzelnes Wort oder an das letzte Wort eines Satzes. Anstatt
ehrlichen aber plumpen fondo? (was?) fragt der gebildete Russe 8vno-8?
"der in besonderm Falle 8<meo vam uAoäuo-8 (was ist Ihnen gefällig?), wüh-
rend das einfache ussöcluc» hinreichen würde, den Gedanken auszudrücken. Mit
diesem s läßt sich schließlich jedes Wort verkleinern, jede Vorstellung vermied-
^ben, sogar die der Bejahung und Verneinung. Bezeichnend ist die Art,
wie Puschkin die bewußte UnHöflichkeit seines „Sonderlings" Jewgeni Anjägin
Gesang II Strophe 5 durch die verschnupften Standesgenossen charakterisieren
läßt: „Unser Nachbar ist ein Flegel; er küßt den Damen die Hündchen nicht,
sagt nichts als »ja« und »nein«, niemals »jci-chen« und »nein-chen«!" Natürlich
erhalten auch Schimpfwörter die Koseform, „Lümpchen" sogar eine doppelte:
plutlMNkÄ und xlutzgAg.. Und wenn „Gesuudheitchen" uns wunderlich klingt, so
wird die zärtliche Färbung verständlicher, sobald man weiß, daß der Sprechende
damit sagen will: „Ihre kostbare, mir so werte Gesundheit." Dafür mag
NÄZHstsoliKg, als Kosewort für die neuerdings rasch bekannt gewordne kurz¬
gestielte, in einen dicken Lederstreifen oder in mehrere dünne verknotete Riemen
auslaufende Kosakenpeitsche (nA^all^) echt russisch anmuten, ebenso wie die
Verkleinerungsform der beiden andern nach demokratischer Ansicht mit ihr die
heilige Dreiheit der russischen Nationalbegriffe bildenden Namen: ^WoäKa*) und
svvzätsolilca (von svMsong., das Talglicht).
Übrigens muß mau zugestehn, daß dieser Überfluß an Diminutiven der
russischen Umgangssprache leicht etwas Weichliches und Spielendes gibt.
Noch zweierlei ist zu berühren: Klang und Schrift. Mit der Schrift
tritt das Russische wiederum, wenn auch nur zufällig, in unmittelbare Be¬
ziehung zum Deutschen. Von einem Seitenstück zu den altgermanischen oder
vielmehr den aus römischen Großbuchstaben durch Verzerrung entstandnen
„Runen", wie sie noch heute von nordischen Goldgerüten dem Beschauer ent¬
gegenleuchten, ist dabei freilich keine Rede. Denn die ältesten russischen Schriften,
die angebliche Chronik des Mönches Nestor und das Heldengedicht vom Zug
Igors, reichen nicht mehr in die Periode des slawischen Heidentums zurück.
Dafür beginnt um die Mitte des zehnten Jahrhunderts zugleich mit den ersten
Einwirkungen des Christentums der das russische Geistesleben weckende und
beherrschende Einfluß der byzantinischen Kultur. Und dem griechischen Alphabet
sind ebenso wie die sechshundert Jahre ältern Schriftzeichen des großen Goten
Ulfilas auch die russischen Buchstaben nachgebildet. Eine unmittelbare Be¬
rührung der beiden jüngern Formenkreise kann man dabei nicht nachweisen;
um so bemerkenswerter ist die bis zur völligen Gleichheit gehende Überein¬
stimmung einzelner Lautsymbole, wie sie uns besonders in der altslawischen
oder nach dem ersten mährischen Bischof genannten kyrillischen Schrift entgegen¬
tritt, in der bis heute alle Bücher der russischen Kirche, namentlich auch die
Ausgaben des Alten und des Neuen Testaments, gedruckt werden. So ist
das griechische Gamma (/^) zum gotischen ^ und zum slawischen zum
gotischen 6 und slawischen C, ^ zum gotischen slawischen und russischen
75 oder // sind zu n (gotisch), n II (slawisch) und n H (russisch) geworden.
Am auffälligsten ist die Übereinstimmung solcher Zeichen, die wir mit ganz
anderen Laute zu lesen gewohnt sind, wie das gotische 5l, das slawische ki und
das russische L, die nicht etwa den langen griechischen E-Laut, sondern den
lateinischen Konsonanten u vorstellen, oder das kirchenslawische l>, Kleinbuch¬
stabe 9, das im Russischen geradezu als s^und/ — im Druck ? und x —
erscheint, aber immer als r ausgesprochen wird. Andrerseits geht die Ähnlich¬
keit des Russischen und des Griechischen nicht selten bis zur völligen Gleichheit
des Lautes und der Schrift. Das Wort o-co^o (eiroiwr) sieht, griechisch ge¬
schrieben oder gedruckt, bis auf den Spiritus genau so aus und wäre genau
so zu sprechen.
Im übrigen begnügt sich das Russische nicht mit unsern sechsundzwanzig
einfachen Zeichen, sondern gönnt sich den Luxus von sechsunddreißig (neun andre
der kyrillischen Schrift ungerechnet). Wenn auch zwei nur noch dem litur¬
gischen Alphabet angehören, eins nur geschrieben wird, so fehlen dafür j, y
und x als Buchstaben, nicht als Laute. Hu wird zu Kv, x zu Je8, beide also
zu den ihrem Klänge entsprechenden Verbindungen, wie in Kwas (dem russischen
Malzbier) und in ^leksiwär. Umgekehrt werden mehrere Lautkomplexe, denen
in andern Alphabeten ein mehr oder weniger schwerfälliges Buchstabenbild ent¬
spricht, durch einfache Charaktere ausgedrückt, nämlich die verdickten Zischlaute
hob., t8od und 8<zdtsod, im Russischen: ni, i- und in. Dagegen hat das
Jod überhaupt keinen sichtbaren Vertreter, obwohl es vielleicht am häufigsten
unter den russischen Lauten vorkommt, wenn auch oft nur andeutungsweise und
nur dem geübten Ohr vernehmlich. In voller körperlicher Gestalt wird es
vielen mit s anfangenden Wörtern vorangeschickt, so in ^onroxa (Europa —
daher der Zeitungsname ^evroMsKi 'AMWiK, Europäischer Bote), ^lntsrlug.
(seltner Xatsrlim), 56lisav6t>ii und ^eus^se (Elisabeth). In seltsam ver¬
wirrender Weise vertritt wiederum der lateinische Buchstabe L (d) das russische
während für den schwachgehauchten Lippenlaut ein besondres Zeichen L (6)
vorhanden ist; ä wird nach Belieben anch s geschrieben; 7 ist das russische n.
Unmittelbar dem griechischen Alphabet entnommen und nur diesem angehörig
sind es und G (Groß- und Kleinbuchstaben), wobei sich aber das Merkwürdige
zugetragen hat. daß der griechische Zahnlaut in den gleichgehauchten Lippen¬
laut verwandelt wurde, während das ursprüngliche Zeichen blieb. Dadurch ent¬
standen die seltsamsten Tonbilder, zumal dort, wo die mit der neugriechischen
übereinstimmende Aussprache des langen E und der J-Diphthonge hinzutrat.
So wurde aus dem Buchstabennamen Theta selbst KM. aus ^-5^«,- ^Ku^
aus Höaor ist Theodor (während der echtrussische Name LoxäM
lautet). Thekla. ^at Hyazinth. ^nasi Athanasius; die uns so
fremdartig klingende NarlÄ (siehe Schillers Demetrius) ist einfach unsre Martha;
NarlÄanM ist Bartholomäus. Fast noch krausere Bildungen ergeben sich in
den zahlreichen Fällen, wo Gattungsnamen mit ihren Ablenkungen - wie in
andern Kultursprachen auch — unmittelbar dem Griechischen entlehnt sind, wie
uülÄöAijg,, milÄgAltsvIiöM (mythologisch), lMg>, iMsodsM (Ethik, ethisch).
Auch im Kreise der Vokale findet ein auffülliger Wandel statt, insofern der
als 0 geschriebne in allen der betonten vorangehenden, oft auch in den ihr
nachfolgenden Silben wie a oder doch mit entschiedner Hinneigung zu diesem
ausgesprochen wird. Die merkwürdigsten, weil die ganze Sprache beherrschenden
Zeichen aber sind die Halbvokale Jerr und Jerj. Jedes auf einen Konsonanten
ausgehende Wort fügt einen von beiden seinem Ausland hinzu mit der Wirkung,
daß dieser vor Jerr hart, vor Jerj dagegen weich gesprochen wird.
Recht schwierig ist schließlich die Aussprache des Russischen überhaupt. Eine
Häufung der Konsonanten tritt seltner auf als im Polnischen und namentlich
im Tschechischen; um so zahlreicher sind die Fälle, in denen die normale Laut¬
bildung unerwarteten, mehr oder minder willkürlichen Ausnahmen unterliegt.
Einzelne Laute, wie das starkgerollte t oder das Jätj genannte zwischen 16, in
und lo schwankende E, liegen uns Deutschen fern. Die eigentliche Krux aber
bildet das mit ^ bezeichnete Jery, ein dumpfer J-Laut, der in keiner andern
Kultursprache vorkommt und durch keine Regel festgestellt werden kann, wenn
man sich nicht mit der folgenden begnügen will: „Stelle den Mund, als ob
du u sagen wolltest, und sprich dann i (mit Kopfton)." Und zum Unglück
handelt es sich nicht etwa um eine seltne Erscheinung, sondern um eine der
allerhäufigsten. In den gewöhnlichsten Fürwörtern: t^, riz?, vz^ (du, wir, ihr),
in dz?ej (sein), in der alle Konjunktive bestimmenden Partikel d^, in zahlreichen
Nominalcndungen auftretend gleicht das Jen) einer Art chinesischer Mauer, die
dem Fremdling den Eintritt in den blühenden Garten der russischen Sprache
verwehrt. Und wenn die Russen einmal eine sizilianische Vesper veranstalten
wollten, wozu manche nicht übel Lust Hütten, so würden sie mit einem
(du wärest gewesen) ihren Zweck sicherer erreichen als dereinst die
Italiener mit ihrem viesri. Jedenfalls wird der Ausländer, auch wenn er das
Russische sonst beherrscht, noch nach langen Jahren an seinem unfruchtbaren
Kampfe mit diesem widerspenstigen Laut erkannt.
Dem gegenüber erscheint es nur als Sonderbarkeit, daß die russische Sprache
weder ein H, noch einen eigentlichen Diphtong (außer s,i), noch die dunkeln
Laute ü und ö hat. Den letzten verdünnt es einfach, während es ü in Fremd¬
wörtern durch -ja- wiedergibt, die Bestandteile der Doppelvokale aber von¬
einander absetzt, oder wenn der zweite Teil ein u ist, dieses in k (häufig in v)
verwandelt. Goethe heißt Heine, in Nußland viel genannt, weil er dort
als Hauptvertreter unsrer modernen Dichtung und — zusammen mit dem freilich
unendlich größern Lord Byron — des „westlichen" Geisteslebens gilt, heißt
UMinz oder vielmehr (Mus. Denn den fehlenden Hauch ersetzt regelmüßig das 6
im Laut wie in der Schrift, und drollig anzuhören sind Namen wie Lonöxsn-
8'Msr, AHAgä'orll, SoAönzMörn und gar LsOgsnIvZö. Zu beachten ist endlich,
daß die Betonung der Wörter von der uns geläufigen oft wesentlich abweicht.
So heißt es nicht LerWum sondern Verging,, nicht'Mlläimir sondern v^til-cllmir;
ferner Luvvürok, Xutüsiok, katzvmliiir (nicht ?otsinNn!).
Aber alle diese ob auch noch so bemerkenswerten Äußerlichkeiten machen
nicht den ästhetischen Charakter einer Sprache aus. Fragt mau nach diesem,
so kann die Antwort nur lauten, daß die russische wie an Reichtum so an
Wohllaut von keiner andern übertroffen wird. Man hat die polnische mit dem
Zwitschern der Vögel verglichen und damit ihre der weiblichen Natur des
Volkes entsprechende Art treffend bezeichnet. Das Russische ist bei aller Ähnlich¬
keit mit seinen vollem, meist vokalischen Endungen, dem (wie im Gotischen)
vorwiegenden A-Laut, den gelegentlichen, sich immer in Einklang auflösenden
Disharmonien kraftvoll, männlich und doch melodienreich. Dieser Grundcharakter
tritt schon in der einfachen Unterhaltung hervor. Denn der Russe spricht zwar
außerordentlich rasch, aber ebenso bis ins kleinste sauber. Er gleicht darin ganz
dem Franzosen und unterscheidet sich in wohltuender Weise von Engländern
und Jaukees, die bekanntlich ihr ohnehin wenig anmutendes Idiom zu Gehör
bringen, als wären andre Nationen verpflichtet, sich mit den Tonsilben zu be¬
gnügen und das übrige zu erraten.
Am schönsten aber klingt das Russische in der Poesie. Es ist die ge-
borne Dichtersprache, wie sonst nur das Altgriechische und das Deutsche.
Einige Proben seien angeführt, auch für die Tonmalerei, wie die beiden Zeilen
aus Alexander Puschkins ö^s^ (die Teufel), die das Geläut des durch den
Wintersturm dahinjagenden Schlittens nachahmen:
(„Der Wind heult, der Wind weht, das Glöckchen smachtj kling — ling — ling.")
Oder aus dem schon erwähnten „Jewgeni Anjägin" desselben Dichters die Verse,
die Wladimir Lenski am Vorabend seines gewaltsamen Todes niederschreibe:
Ein paar beliebige Stellen aus Lermontoff, dem zweiten großen russischen
Dichter, mögen den Eindruck vervollständige«. Der Anfang des „Wiegenliedes
einer Kosakenfrau" lautet folgendermaßen:
Endlich die wunderbaren Schlußzeilen des „Dämon" im Urtext und in
meiner Übersetzung des Gedichts:
Das Kirchlein nur, wo still im Grunde
Der Felsen ihre Asche ruht,
Blickt, sicher in des Ew'gen Hut,
Herab aus Nebeln noch zur Stunde.
Und an der Pforte stehn die dunkeln
Granitnen Säulen noch als Wacht,
Vom Schnee des Berges überdacht,
Auf deren Brust wie Panzer funkeln
Eisplatten in urew'ger Pracht.
Lnwinentrümmer Hunger träumend
Ringsum, ein düstrer Katarakt,
Den von den Zacken niedcrschttumend
Des Frostes starre Hand gepackt.
Der Wirbel aber zieht im Kreise
Der First, der stäubenden, vorbei,
Bald traurig heulend seine Weise,
Bald mit dämonisch wildem Schrei.
Und rasche Wolken nur, die fern
Im Morgenland die Mär vernommen
Von jenem Wundertempel, kommen
Und stellen fromm sich vor den Herrn.
Doch bei der Gräber Kreuz und Stein
Kehrt längst kein Trauernder mehr ein.
Nie wird des Kasbek düstren Quadern
Der Staub entführt, der ihm gehört,
Und von der Menschheit co'gen Hadern
Sein co'ger Friede nie gestört.
lin'lok rig. Ki-ntoi vör»okiniö
(>(.Iio tusüti Insel jioli üsmlol,
(!ItiAniin!r vdlstisu «vM.ol
"^Viänä no/.Il tut8oil si»ol>t«plin plumis.
I n >var»t jvjä «WM
M stiAüUiö tsvküin^o Amoltzs
I'WMmi »niWdu^mi pg.Kr/t^,
I na M'ulll hivi» tmiv«de> tat
I^llx viokavissotmxs xaijät.
7Vb^V!lIok »vno^jg. glÄwMzs
L ustüpok, ouato WÄÜa>M^
U^ro/.izm s-olivÄAvKsnQZw tckniK
Visjüt, vaolimm'iÄoKisj, vakrüx.
I lau» mjittölj Äiviörom oliüäit,
86^>vÄsa pxlj sa 8lion siöä^oll,
lo pivizusu ckülgujn na^on<in,
1'v sMIÄsst tsvlissc^v^ob.
>?»t^«ota ^viWti k atMIünsis
t»vMänom ÄuÄmiö t toi straniö,
8 vvsstnka üdlÄca
LpiiKoliiit t.ilpoi na p^Iclanünsis;
I riÄÄ soinsö magilsv^c!^ put
Dttvnö niolitü n^I» ni grustit;
NcÄa, ngrumavv Xa/.iivIvÄ
Dat^tZvIiu /.düäno sein'^null,
I visLvKn^ ropot tkjvliuwv-iülcg.
,?!<!>» viosolin^ mir ni v^antik.
So zeigt uns das Gesamtbild der russischen Sprache neben einzelnen selt¬
samen oder befremdenden Zügen eine Schöpfung voll Reichtum, Kraft und
Wohllaut und hinter ihr als Schöpfer ein großes Volk von gemütvoller und
freundlicher Art, das überdies mit dem unsrigen von uralters her durch zahl¬
reiche innere und äußere Beziehungen verbunden ist. Und schon deshalb darf
unter den Mitteln, mit denen der Deutsche seine eigne Kultur bereichert und
entwickelt, künftig die Kenntnis des Russischen nicht fehlen. Auch aus prak¬
tischen Gründen uicht. Denn niemand, der die Geschichte der Nationen über¬
sieht, wird meinen, daß der Niedergang, worin Nußland jetzt begriffen zu sein
scheint, dauern werde; daß die gichtischen Zuckungen, unter denen es sich
windet, seinen Todeskampf bedeuten. Vielmehr wird es auch ferner ein ge¬
wichtiges Wort im Rate der Menschheit zu sagen haben; umspannt doch die
Welt, zu der seine Sprache allein die Pforte öffnet, schon die Hälfte des
Erdkreises. Und somit muß*) das Russische auch in unsern höhern Schulen
als dritte der neuern Fremdsprache» zu Englisch und Französisch treten,
gleichviel, wie sich der große slawische Nachbar persönlich zu uus stellt, ob
feindlich, wie jetzt, oder freundlich, wie wir von der Zukunft hoffen wollen.
Das aber steht auf einem audern Blatt und ist ein andres Kapitel.
wei Themen kommen in der literarischen Debatte der letzten Jahre
nicht zur Ruhe und werden auch jetzt immer wieder behandelt:
die Psychologie des Büchererfolgs und die Verteilung von
Dichterpreisen. Die überraschend hohen Auflagen einer ganzen
Anzahl von Romanen bieten immer neuen Anlaß zur Erörterung
der einen Gedankenreihe, allerlei Wunderlichkeiten zu der der andern. So
wird schon jetzt darüber gestritten, welcher deutsche Dichter den literarischen
Nobelpreis bei der nächsten Verteilung erhalten solle, und die Kandidatur eines
uicht unbegabten aber unbedeutenden Lyrikers von den einen befürwortet, von
den andern bekämpft. So gab es lebhafte Meinungsverschiedenheiten über
den Volksschillerpreis, der als eine Art Trutzpreis dein preußischen Schiller¬
preise gegenübergestellt wurde. Der Ausgang der ersten Verteilung dieses
Ehrensoldes war nicht eben rühmlich, denn unter den drei gekrönten Dramen
war das durch und durch unwahrhaftige Theaterstück „Der Graf von Charvlais"
von dem Wiener Beer-Hofmann. Aber das Ergebnis hatte auch ein gutes:
es lenkte die Aufmerksamkeit manches bisher Fernstehenden auf den Dichter
Karl Hauptmann, der sich mit seinem Bruder Gerhart in den Rest der aus¬
setzten Preissumme teilen durfte.
Zu dem Thema von den großen Erfolgen kann Karl Hauptmann freilich
keinen Beitrag liefern. Denn seine Bücher leben in der Stille fort und haben
sich noch kein großes Publikum erworben. Und wieviel keusche Schönheit steckt
dabei in ihnen allen. „Mathilde. Zeichnungen aus dem Leben einer armen
Frau" (München, Georg D. W. Callwey) heißt eines dieser ganz persönlichen
Werke. Die Vorgänge, die darin erzählt werden, sind so einfach, so, ich möchte
sagen, dnrchschnittsmäßig, wie sie sich im Leben der allermeisten Fabrikmädchen
abspielen. Und doch hat dieser Roman mit all den naturalistischen Erzählungen
nichts zu tun, die in demselben Umkreis spielen. Es kommt Hauptmann nie auf
die exakte Schilderung des Milieus, nie auf spannende Handlung an — er
möchte nur die Seele herausbringen. So weit will er in den Kern dieser
Frauennatur eindringen, daß wir bei ihrem Wege dnrch Druck und Drang,
durch Schmutz und Jammer, dnrch Lust und Liebe immer das eine, richtige
Empfinden für den Takt dieses Herzens behalten. Und es gelingt dem Poeten
durchaus. Die Sieghaftigkeit einer reinen Seele, die mit lnuterm Licht leuchtende
Zartheit eines starken, sich nie ganz verlierenden Menschen wird uns klar und
lieb. „Freude und Leiden, heißt es da einmal, sind aus einem Grunde und
kommen beide aus Tiefen, die uns Kraft geben und unsre Wege mit lebendigem
Sinn bedecken wie der Frühling mit Blumen. Nicht jedem ist geschenkt, in
Gründe zu tauchen. Nicht jeder ist gewürdigt, aus der Tiefe zu schöpfen,
nicht in Freuden, nicht im Leiden." „Aber Mathilde, fährt Hauptmann fort,
war eine." Und dadurch, daß diese feine und eigentümliche Gestalt durch ihres
Dichters reife und tiefe Psychologie ganz die unsre wird, bekommen auch wir
selber etwas ab von dieser Fähigkeit, auf die leisen Töne zu lauschen, die
unter der Oberfläche leben und beben. Wie in Wilhelm Specks „Zwei Seelen"
die stillen Wasser rinnen, Tropfen auf Tropfen, so rieseln sie auch in „Mathilde".
Hauptmanns Stil ist freilich weit pretiöser als der Specks; das liegt vielleicht
daran, daß sich Hauptmann nach meinem Gefühl noch nicht ganz gefunden
hat, noch auf der Suche ist. Aber diese oft seltsam gesteigerte Sprache hat
doch auch ihren nicht geringen Reiz und gleitet oft wie von selbst ins rein
Lyrische hinüber. So erscheint denn der wundervolle Ostergesang, der das
Buch schmückt, wie aus ihm heraus geboren:
Mit solchen tiefinnerlich errungncn Versen führt Hauptmann sein Werk
auf die Höhe, seine Dichtung, die an Beseelung und Wahrheit fast alle ge-
priesnen Entwicklungsromane der letzten Zeit hinter sich läßt und ihren
Schöpfer, wie ich schon sagte, in die Nähe Specks rückt, dessen eines noch nicht
genug anerkannter Meisterschaft er trotz andrer Ausdrucksweise verwandt ist.
Nicht nur eine halbe Generation, sondern eine ganze Welt liegt zwischen
Karl Hauptmann und Karl Emil Franzos, aus dessen Nachlaß Frau Franzos
eine „Geschichte aus dem Osten", „Der Pojaz" (Stuttgart und Berlin, Cotta)
herausgegeben hat. Wo Hauptmann das Wort schwer von den Lippen fällt,
sich die Silben zu oft seltsamer Weise ballen, gleitet Franzos geebneter
Stil rasch dahin, ohne bei aller Ökonomie des Aufrisses immer Breite und
Übermaß in der Ausführung meiden zu können. So liest sich Franzos
schneller und glatter, haftet aber auch nicht solange, wennschon der „Pojaz"
ein gutes und nachdenkliches Buch ist, das sich neben dem ebenfalls recht
breiten „Kampf ums Recht" wohl sehen lassen kann. Nachdenklich ist es schon
wegen der im Werk selbst und in der Vorrede aufgeworfnen Probleme. Franzos
ist ja der erste deutsche Schilderer des jüdischen Lebens in der großen Ebene
zwischen der deutschen Grenze, dem Dujepr und dem Schwarzen Meere ge¬
wesen und ist mit dem „Pojaz" zu diesen Jugendgaben zurückgekehrt. Wie
sehr sich ihm, dem inmitten dieses Lebens gebornen, deutsch erzognen Juden,
eignes Glück und mehr noch eignes Leid mit seinen Dichtungen und ihrem
Stoff verwoben, erzählt das Vorwort schlicht und ergreifend: der Mann, der
selbst immer im Kampfe stand und gerade für sein Judentum als Kulturmacht
stritt, muß hart gelitten haben unter den Anfeindungen orthodoxer jüdischer
Kreise. Um so angenehmer berührt es den Leser, daß der Roman selbst nichts
von Bitterkeit enthält, wo er sich mit gleichem Fanatismus abzufinden hat.
Dafür sorgt neben andern Gaben der Humor, den Franzos spielen läßt, und
der dem düstern Geschick dieses Pojazen, der ein großer Schauspieler werden
will, die versöhnenden Lichter leiht. Mit steigendem Anteil folgt man dem
zähen Bemühen dieses Schnorrersohns, der sich nur in tief geheimer Einsamkeit,
seltsam genug zuletzt in der Bücherei des Klosters, deutsche Bildung aneignen
darf, und der gerade durch diese wahrhaft heldenhafte Anstrengung den Todes¬
keim aufnimmt, der ihm kurz vor dem Ziel das Herz zum Stillstande bringt.
Was Franzos eigentlich sagen will — denn ein Tendcnzroman ist dieses
Werk—, liegt zum Teil freilich in den Nebenhandlungen, die den Weg seines
Helden begleiten; deshalb auch wohl vielfach die Breite. Wenn ein schönes,
reines und gebildetes Mädchen nicht mehr als begehrenswert gilt, weil der
eine ihrer Oheime nach deutscher Art lebt, der andre Christ geworden ist, wenn
der Rabbiner ein Gemeindeglied verflucht, weil es Deutsch lesen kann — so
wissen wir, welche Kämpfe die Vorrede meint. Und so vergißt man über dem
Interesse an dem fremdartigen Stoffe gelegentliche Mängel in der künstlerischen
Entwicklung.
Unter zehn Romanen, die man heute aufschlägt, führt kaum einer, wie
der Franzossche, über die deutschen Grenzen, durchaus im Gegensatz zu frühern
Zeiten. Wie sehr aber manches Talent zu seinem Gedeihen noch innerhalb
des Vaterlandes auf den engern Bezirk der Heimat angewiesen ist, zeigt z. B.
klar der neue Roman von Klara Viebig, „Einer Mutter Sohn" (Berlin, Egon
Fleischcl K Co.). Mit Geschichten aus der Eifel ist diese Rheinlandstochter
erwachsen und hat in der „Wacht am Rhein" bisher ihr bestes geleistet. Sie
bedarf keines schwierigen Umdenkprozesses, keines Suchens und unsichern
Tastens, solange sie die Menschen aus jenem Umkreis schildert, der die Spiele
ihrer Jugend sah. Und noch das „Schlafende Heer" konnte als Wurf Geltung
beanspruchen. Stiegen doch die Konflikte hier aus der Erde selbst hervor,
deren eigentümlichen Schollenduft Klara Viebig schnell spürte, wenn ihr auch
für manchen der auf ihr wandelnden Menschen das Maß fehlte. Jetzt, in
„Einer Mutter Sohn", versucht sie die Geschichte eines Berliner Ehepaars zu
geben, das, leise verbitternd dnrch Mangel an Kindersegen, einen Säugling
aus dem Venn an der deutsch-belgischen Grenze adoptiert. Und da wirkt es
nun ganz eigen, daß es diesem Kinde just geht wie seiner Gestalterin. Es paßt,
je mehr es heranwächst, um so weniger in die Grunewaldvilla seiner ver¬
meintlichen Eltern, und so folgt Wirrung auf Wirrung, bis ein halber Verzicht
kurz vor dem alles lösenden Ende den Knoten mehr in die Länge zieht, als
daß er ihn löste. So wie dieses Landkind vom Venn nicht an seinem Platze
ist in der drückenden Umgebung seiner neuen Familie, so stellt sich — unbewußt —
Frau Viebig an einen falschen Platz, indem sie in diesen Kreis epischer
Schilderung tritt. Eins nur ist ganz gelungen in diesem Buche, dem man
eifernde (allzu eifernde) Hingebung anmerkt: die Szene mit der Mutter des
Adoptivkindes bei seiner Annahme. Da spricht Zug für Zug die Novellistiu
der Eifel, die sich im Verlauf der Handlung mehr und mehr an unbezwungne,
für sie unbezwingbare Menschen und Probleme verliert. So wird der Roman
breit, ohne erschöpfend zu sein, es gibt Seelenschilderungen, aber keine Seelen-
analhsen. Nur zu sehr fehlt der hochbegabten Schriftstellerin bei allzu schneller
Produktion jenes letzte, das schon manches ihrer Werke vermissen ließ: die
unbewußt ins Rechte drängende dichterische Kraft, die sicher durch Wolken gleitet.
Nur zu sehr redet die kluge Frau dem nach innen gewandten Weibe zu und
führt es immer wieder ab von der Quelle seiner Kraft. So hat man am
Ende dieses Buches lauter Teile in der Hand und keine rechte Freude, wenn
auch selbstverständlich mancher Zug, manches Bild zeigen, mit wem man es
zu tun gehabt hat.
Da steht die Nürnbergerin Lu Volbehr mit ihrem Roman „Die neue Zeit"
(Berlin, Otto Janke) auf festern Füßen. Sie zeigt allerdings lange nicht
soviel Begabung wie Klara Viebig. Ihr fehlen vor allem Nuancen. Zu oft
sprechen ihre Menschen „wie ein Buch", und kein persönlicher Ton charakterisiert
den einzelnen. Aber Nürnberg und sein Leben, sein Aussehen und seine
Wandlungen sind Lu Volbehr keine leblosen Dinge. Ihre ganze Heimatliebe
legt sie in diese Bilder aus der schönen, alten Stadt. Das Buch gibt die
Zeit von dem Anschluß der freien Reichsstadt an Bayern bis zur Eröffnung
der Bahnlinie nach Fürth. Und die als treibende Kraft hineingestellte Persön¬
lichkeit des Bürgermeisters Sebastian Rottmann darf Interesse und auch als
dichterische Gestalt Würdigung beanspruchen. Sonst aber ist vieles zu un¬
persönlich, zu wenig vermenschlicht. Das zeigt sich besonders in der unglück¬
lichen Liebesgeschichte von Anne Nottmcmn, der Tochter Sebastians. Beginn
und Ende dieser Liebe bringen so oft abgewandelte Motive, daß Lu Volbchr
viel tiefer hätte schürfen müssen, um uns gerade so häufig Wiederkehrendes in
diesem besondern Falle verständlich und wertvoll zu machen.
Mitten zwischen diesen beiden Frauen hindurch geht eine dritte, Klaus
Nittland. Klara Viebig ringt eifervoll nach Früchten, die ihr nimmer reifen
werden; Lu Volbehr klammert sich mit liebewarmem Herzen so fest an das
Bild der Heimat, daß sie verabsäumt, uns ihre Landsleute um auch wirklich
ganz zu geben; Klaus Nittland kennt genau die Grenzen ihrer Kraft, bleibt
im heimischen Bezirk und stellt ihre Menschen nüchtern und sachlich, durchaus
wahrscheinlich vor uns hin — die Poesie behält sie für eine Gestalt. „Frau
Jrmgards Enttäuschungen" (Dresden, Karl Reißner) heißt ihr neues Buch, und
der Untertitel „Roman aus dem Leben einer schönen Familie" weist schon auf
das Milieu hin: eine althannöversche Bürgerfamilie, die mit Preußen nach
der Annexion schlecht und recht ihren Frieden gemacht hat, und deren einer
Zweig jetzt in Göttingen ansässig ist. Das Fcnnilienhanpt ist dort Professor
des Staatsrechts, Geheimrat, ein Mann von weitem Ruf, freilich schon etwas
überholt. Die vier Kinder aber werden alle anders, als die Eltern sie
wünschen — das eben sind der Mutter Enttäuschungen. Der eine Sohn
wird nicht, wie der Vater will, Dozent, sondern früh Gymnasiallehrer, um
eine heimatlose Studentin heiraten zu können, der andre ein glatter Streber.
Von den Töchtern wird die ältere, der kein Eheglück erblüht, eine nur auf
Erlverb bedachte Pensionsmutter, die andre erobert sich den geliebten Mann,
im starken Drang ihrer Neigung, über alle Hemmnisse seiner ersten Ehe hin¬
weg. Und so bleibt nach dem Tode des Gatten die Mutter Irmgard in
einem äußerlich wohlgeordneten Familienkreise doch ohne innere Befriedigung
zurück. Keiner hat ihre tiefste Sehnsucht erfüllt, die über das äußerlich Er¬
folgreiche, den gesellschaftlichen Glanz hinausging — wonach eigentlich? Sie
weiß es wohl selbst nicht recht. Und diese jugendliche Fähigkeit zur Sehn¬
sucht und Erwartung bei der alternden Frau gibt dieser fein gezeichneten
Figur und dem ganzen Buche einen Hauch Poesie. Zu sehr ins Gesicht
hinein wird sonst alles gesagt — hier aber blüht ein verschwiegnes Leben
aus Eignen. Und diese Frau Irmgard hebt das Buch über das Niveau eines
bloßen, freilich sehr lebendigen Unterhaltungsromans hinaus, in dem besonders
das Göttinger Universitätsleben hübsch, und ohne daß zu stark aufgetragen
würde, gemalt wird. Die einzelnen von außen her in die Gehcimratsfamilie
hinübergreifenden Gestalten — besonders die Verwandtschaft — sind echt und
oft mit gutem Humor dargestellt. So liest man über die zwei starken Bünde
mit dem Gefühl hinweg, wirklich ein Stück Leben gesehen zu haben, dessen nach¬
erzählende Beobachterin nicht sehr warm, aber klug ist und doch auch poetische
Fühler hat.
Solche poetische Fühler, um in diesem Bilde zu bleiben, hat auch Ger¬
hard Heine, dessen erster Roman „Verschneite Seelen" (Dresden, Karl Meißner)
vor kurzem erschienen ist. Aber er tastet noch recht unsicher. Er hat den
Sinn für ein ungewöhnliches Bild, für die Schlagkraft einer starken Situation.
Aber er gibt unverbundne Gestalten. Die Menschen leben bei ihm neben¬
einander, nicht miteinander. Der Einfluß, den er den einen auf den andern
üben läßt, wird nicht recht glaubhaft, weil wir zu wenig von dein innern
Klang jedes Einzelnen vernehmen. Da ist der Hauptträger der Handlung,
der Hauslehrer Georg Leitmann; er ist der, von dem eine Wandlung in dem
freiherrlichen Hause seiner Zöglinge ausgeht. Aber steht er nicht ans viel zu
schwachen Beinen, als daß er so wirken könnte? Hat er wirkende Gedanken,
oder steckt er nicht in fremden Jdeengüngen zu tief drin, daß er — mensch¬
lich und poetisch — ein eignes Leben führen könnte? Und nur Leben kann
doch Leben zünden! Daran aber festes in Gerhard Heines Buch, wenn es
auch manche Verheißung birgt. Es ist hier nirgends kräftig vorbeigehauen,
wie sonst in Erstlingsbüchern. Aber es mangelt an der charakterisierenden
Konzentration. „Es ist seltsam, wie es zwei Menschen verbindet, wenn sie
zu geistigen Werten eine gleiche Stellung einnehmen." Gewiß ein feines
Wort und als Leidwort des Buches, wenn Heine es dafür gelten lassen will,
gut. Aber solche und andre Feinheiten führen über die Empfindung nicht
hinaus, daß hier erst Stoff ist, aber noch keine fertige Form. Es ist auch
bezeichnend, daß das ganze Buch um ein paar Grade zu ruhig erzählt ist.
Da ist Hermann Hesse freilich ein andrer Mann. Er findet den rechten,
fortschreitenden oder zurückhaltender Ton für seiue Handlung, und er beseelt
die Natur, daß wir sie atmen fühlen. Wie im „Peter Ccimenzind" findet sich
das alles auch in dem neuen Buch „Unterm Rad" (Berlin, S. Fischer). Und
dennoch war mir dieser Roman eine große Enttäuschung. Er gibt zwei Stücke
aus dem Leben eines begabten Jungen, der die Kraft nicht hat, das Maul-
bronner Seminar durchzumachen, vielleicht überhaupt in seiner Zartheit nicht
die Kraft zu leben, nud der früh aus diesem Leben abscheidet. Aber über¬
zeugend ist das nicht gegeben. Zu wenig erfahren wir von Hans Giebenrath,
wie er früher war, als daß wir die schnell einander folgenden Katastrophen
versteh» könnten, zu wenig auch, bei aller Detailmalerei, von seiner Umgebung-
Ich fürchte, die Tendenz hat Hesse hier einen recht bösen Streich gespielt, die
Tendenz, die sich richtet gegen die sogenannten Schulmeister. Es ist ja freilich
sehr modern und sehr billig, immer wieder Kinder zu schildern, die von un¬
vernünftigen Lehrern tot oder halbtot gequält werden. Ob es aber gerecht
und wahr ist? Gibt es denn nur Leute mit schlechten Schulerinnerungen?
Gibt es gar keine Gymnasiallehrer mehr (gegen Nvlksschullehrer darf ein
„moderner" Autor nichts sagen), die voll Verständnis für ihre Jungen sind?
Natürlich gibt es sie. Natürlich gibt es aufrechte, liebevolle, treue Münner
unter ihnen. Warum also wird uns dieser Teil des nationalen Lebens fort¬
während verfälscht von nicht verächtlichen Poeten? Weil wirklich auch an unsern
Gymnasien manches faul ist? Oder vielleicht, weil der höhere Lehrer in einer
gärenden Übergangszeit der Schwere seiner Aufgabe nicht immer ganz gerecht
werden konnte, in die Berufne und Unberufne ihm beständig hineinredeten?
Sei das, wie es sei — der Fall Hesse ist typisch. Sobald er auf die Schule
und die Professoren kommt, wird seine Gestaltung unwahr, schemenhaft,
Schablone, und zwar keine Schablone nach schöner Zeichnung. Sonst, im
„Peter Camenzind", zeigte Hesse eine an Gottfried Keller geschulte Sinnfällig¬
keit — jetzt, nur zu oft in „Unterm Rad", tritt an deren Stelle eine ironische
Betrachtungsweise, wie sie etwa den begabten Brüdern Thomas und Heinrich
Mann eigen ist. Es rächt sich, daß Hermann Hesse, dessen von Karl Busse
entdeckte lyrische Begabung ich übrigens über seine epische stelle, mit einem
bestimmten „modernen" Kreise emporgekommen ist. Bezeichnenderweise spielt
das Wort „modern" auch in „Unterm Rad" eine Rolle. Es ist der Geist
Pretiöser und mondäner, dem Deutschen innerlich fremder Weltbetrachtung, der
diesen Schwaben gefangen hat, und der etwa mit Wilhelm Raabes tiefglühender
Ironie nichts zu tun hat. Wilhelm Raabes Weltanschauung sieht alles in
dem Lichte der Sterne, die über uns leuchten, und empfindet deshalb irdische
Konflikte als Durchgänge zur Ewigkeit. Jene dekadente, dabei in ihrer
Dekadenz oft erschütternde und eigentümliche Poesie sieht alles nur im Lichte
des eignen, übersensitiven Ichs, das alle Dinge nach sich abschattiert. Und
diese Art des Schemens schlägt auch durch Hesses neues Werk, wenn er sich
auch — es wirkt in diesem Zusammenhang fast amüsant — an einer Stelle
auf den Schwaben mit der „altmodischen Leier" aufspielt und den „nördlicher
wohnenden Brüdern" eins auswischt. Allerdings hat diese „Moderne" ihr
Heim hauptsächlich in München und in Wien, und in Berlin nur ihre be¬
geisterten Verkünder. Man darf diesen ihre Freude gönnen und kann sich an
Hofmannsthal und Thomas Mann selbst sehr freuen, wenn sie Schönes
bieten; aber, wie Fontane sagt, „Haare apart und Kotelette apart": die große
deutsche Linie aufsteigender Entwicklung von Goethe und Schiller, Kleist und
Hebbel, von Ludwig, Raabe und Storm geht an jener mondänen Verfallkunst
gewißlich vorüber, und es wäre jammerschade, wenn ein Talent wie Hermann
Hess
Lud villis I tiius vieil tuis ^ouvA lion xla^sei . , .
Noi'tliuMlzi'iÄS oowitum titi^
le war groß und schlank wie eine junge Tanne, den Kopf im Nacken
und die Arme auf dem Rücken — dünne Arme, schmale Schultern
und ein Busen wie der eines Kindes. Das Gesicht war klein, das
Haar stark — mächtiges rotbraunes Haar mit einem warmen sonnigen
Farbenton, widerspenstig, kraus und unbändig. Sie war blaß und
zart, bleich und von feiner Haut, mit einigen kleinen Sommersprossen
über der geraden kurzen Nase und ein Paar großen graubraunen Augen, schwarz-
umfrcmst, schön, hochmütig und lachlustig. Ein roter Mund, halb geöffnet, wenn
sie lauschte, das Kinn immer in der Luft . . .
So sah sie aus, Elizabeth Percy, als sie siebzehn Jahre alt und schon die
Witwe von Henry Cavendish, Lord Ogle geworden war.
An der Art und Weise jedoch, wie sie den Fuß auf den Boden setzte, wenn
sie ging, oder den Kopf umwandte, wenn jemand sie von hinten anredete, konnte
man sehen, daß sie sehr wohl wußte, wer sie war: Lady Elizabeth Percy, die
einzige überlebende Tochter des letzten Jarl von Northumberland, in der voor riM
Baronin Percy, Poynings, Fitz Payne Brycm und Latiner, verwitwete Gräfin
von Ogle, die reichste Lady in ganz England und die begehrteste.
Sie ging in der äußern Wachtstube auf Alnwick ans und ab. Das dunkel¬
grüne Sammetüberkleid, das von der Spitze der Schneppentaille über eine kürzere
hellgrüne Vorderbahn fiel, fegte den steinernen Fußboden mit seiner Schleppe;
die beiden Hände hielt sie in einem großen Pelzmuff vor sich hin. Über den
nackten Hals bis ganz hinab auf die faltenreichen Spitzenärmel fiel ein breiter,
gelber Pelzkragen, der unter dem Kinn durch einen großen Smaragdschmuck
zusammengehalten wurde. Vom Scheitel herab über das dicke rotbraune Haar,
das sie in langen Locken über die Ohren und die Wangen trug, floß ein weicher,
grauer Spitzenschleier, in den kleine goldne Punkte eingewebt waren. Es war eis¬
kalt in dem Raume, und von Zeit zu Zeit, mitten in ihrer Wanderung, stampfte
sie mit ihrem stumpfen, hochhackigen Schuh kräftig ans den Fußboden.
Hinten in dem schmalen, spitzigen Fenster, auf dem breiten Fensterbrett, den
Nacken gegen den Fensterpfosten gelehnt, mit dem einen Fuß hin und her baumelnd,
den andern auf den Fußboden gestützt, saß ein junger Mann in gelben Reitstiefeln
mit hohen über das Knie reichenden stülpen, eine breite, scharlachrote Schärpe um
die Taille und mit einem blauen Tuchrock. Obwohl seine Stellung gerade jetzt so
gänzlich nachlässig und gleichgiltig war, konnte man doch sehen, von wie hohem und
kräftigem Wuchs er war. Das Gesicht war fein und dunkel, die Augen schwarz¬
grau und schmal mit zu schweren und dichtbefransten Lidern, der Mund stolz, voll
und unzufrieden. Mit der einen Hand drehte er gedankenvoll den kurzen, in der
Mitte halb ausrasierten Schnurrbart, der — kohlschwarz und spitz — fast wie mit
Tusche gezeichnet schien. Der Hut mit der weißen Straußenfeder lag neben ihm
auf dem Fensterbrett, und das lange, schwarze Haar, das weit in die Stirn hinein
gescheitelt war, fiel in dicken, regelmäßigen Locken tief über seine breiten Schultern.
Du hörst mir gar nicht zu, sagte Elizabeth. Sie blieb ungeduldig vor ihm
stehn und stemmte die eine Hand in die Seite.
Doch, sagte er mürrisch langgezogen. Aber ich habe schon früher hierüber
reden hören, Lady Elizabeth. Seit Lord Ogle starb, höre ich den ganzen Tag
von nichts anderm reden als von Euern Freiern ...
Ich habe nur einen männlichen Verwandten in der Welt, sagte Elizabeth
Percy gekränkt, fast weinend — nur einen, den ich wirklich als Verwandten und
Bruder betrachte, und der kümmert sich nicht um meine Angelegenheiten, meine
wichtigsten Angelegenheiten!
Das sind Lügen! Er schlug plötzlich die Augen auf und richtete den Blick
voll auf sie. Sie erhob den Muff und führte ihn an den Mund. Er konnte
nicht klug daraus werden, ob es geschah, um eine Haarlocke wegzustreichen oder
um ein Lächeln zu verbergen.
Nein, es ist wahr, wiederholte sie mit großer Bestimmtheit. Sie stand da
und sah auf ihn herab — sah sich in allem Ernst wütend an seinem verächtlich
geschlossenen Mund und dem zornigen, hochmütigen Blick, der dem ihren von der
Seite begegnete.
Was hattest du heute Nacht in der Küche zu tun, Henry? fragte sie Plötzlich
heftig. War es — ihre Stimme war voller Hohn, ihre Augen funkelten vor
Zorn —, war es vielleicht die rothaarige Constance, nach der dn suchtest?
Scher dich zum Teufel! sagte er grob, ebenso wütend wie sie. Rothaarig
bist du selber!
Sie wandte sich um. Die grüne Schleppe fegte über seine Stiefelspitzen hin. Sie
warf den Kopf in den Nacken und schwieg — ohne ihn mit einem Blick zu streifen.
Er saß da wie vorhin, mürrisch und schweigsam, und gab sich nicht die Mühe,
sich zu verteidigen. Von dem andern Ende der Wachtstube guckte sie scheu zu ihm
hinüber — er sah sie nicht an.
Harry, kam es zögernd, unsicher, fast reuig aus dem Halbdunkel. Harry ...
Er erhob sich, schlug die Absätze zusammen und verneigte sich übertrieben tief.
Was befehlen Mylady?
Ach, Harry ... Sie flog auf ihn zu, den Muff ließ sie fallen, sodaß er über
den halben Fußboden rollte. Sie warf sich ihm an die Brust und schlang die
Anne um seinen Hals — er stand unbeweglich da, beide Hände in die Seiten
gestemmt, und setzte eine spöttische Miene auf.
Harry — es ist nicht wahr, das mit Constance?
Es wundert mich, was es für Lady Percy ausmachen würde, wenn es doch
so wäre?
Aber es ist nicht wahr? murmelte sie. Sie führte scheu ihre Hand an seine
Lippen — und erbettelte einen Kuß darauf. Er nahm sie und küßte sie heftig ein
paarmal und behielt sie in der seinen. Ihre Augen begegneten sich — in den
ihren dämmerte schon ein Lächeln.
Ja. sagte er langsam, sehr bitter — es ist wahr. Oder vielmehr ... es ist
wahr gewesen, und . . .
Ach laß es . . . schweig doch! Sie steckte die Finger in beide Ohren.
Er stand da und sah sie an. Sie fühlte das und war ihm noch so nahe,
daß sie seinen Atem fühlen konnte.
Harry, begann sie von neuem leise und in einem ganz andern Tone, als sei nichts
vorgefallen. Wenn ich nur wüßte, was ich mit Sir Thomas Thynne machen soll. Alle
sagen ja, daß die Partie höchst vorteilhaft sei, viel besser als alle die andern ...
Sie setzte sich in den Stuhl an das Fenster — würdig und still —, breitete
ihr Kleid nach beiden Seiten aus und sah nicht auf.
Nimm ihn! rief Henry Percy, jetzt zum Äußersten getrieben. Nimm ihn in
des Teufels Namen. Wird er es nicht, so wird es ja doch ein andrer. ?our
moi — er wandte sich um und sah lange zum Fenster hinaus und trommelte auf
die Scheibe.
Harry, komm einmal her . . .
Er rührte sich nicht.
Aber Harry ... du willst nicht?
Lady Elizabeth ... Er wandte sich nach ihr um; in der dämmrigen Beleuchtung
des Winternachmittags begegnete sie seinem finstern und gequälten Blick. Lady
Elizabeth, Madame — laßt es nun für heute genug sein. Diesen ganzen Winter
— was sage ich — Winter und Sommer, solange wir beide hier im Schlosse
gewohnt haben, hat es Euch belustigt, mit mir auf diese Weise zu spielen. Bemühe
Euch nicht mehr — ich kenne meinen Platz.
Sie saß tief in den Stuhl zurückgelehnt, plötzlich errötet, mit tief niederge¬
schlagnen Augen, still und wie in Gedanken.
Ich bin von Sinnen, daß ich hier bleibe — er atmete tief auf, sprach schneller
und schneller, mehr und mehr außer sich geratend mit jedem Wort, das er
sprach —, ich mache mir jeden Tag zur Höllenqual. Dir tut das ja nichts, meinst
du aber etwa, daß ich nicht weiß, was sie von mir sagen — die Wriotheslys und
Cavendish und die Howards, alle deine hochmütigen Verwandten? Hätte ich einen
Schilling für alle die Lügen, die sie schon von mir erzählt haben, als der arme
Ogle noch lebte, so wäre ich heute steinreich und könnte halb Northumberland
kaufen. Aber jetzt, Elizabeth, jetzt, wo wir allein sind . . .
Sie hörte ihm zu, den Ellenbogen auf die Stuhllehne und das Kinn in die
Hand gestützt. Unter den dichten, kurzen Wimpern sah sie ernsthaft zu ihm hinüber,
schwieg und ließ ihn reden.
Du hast mich an dieses Haus gekettet, begann er von neuem, hast mich hier
festgebunden mit deinem Schürzenband und deiner Parteilichkeit und deinen Wohl¬
taten und deiner Hilflosigkeit und deinem ewigen „Harry" — „Harry" ... So
lange der arme Ogle lebte, ging es alles an, er tat keinem Wurm etwas zuleide
und war noch mehr Kind als du. Jetzt will ich aber nicht länger Euer Ge¬
fangner und Sklave sein, Lady Elizabeth. Ich will nicht hier bleiben und einen
neuen Herrn auf Alnwick sehen . . . Alnwick, fügte er leiser hinzu, das mein hätte
sein sollen . . .
... Sir Thomas Thynne — Sir Thomas Thynne! Er spie verächtlich auf
den Boden. Was für ein Mensch ist das eigentlich — Sir Thomas Thynne? Er
wandte sein erregtes Gesicht ihr zu und stieß mit dem Fuß gegen den Muff, der
noch auf dem Fußboden lag. Was ist er weiter als ein goldnes Kalb und ein
Geldsack! Nicht wert, dir die Schuhriemen zu lösen, dir, einer Percy!
Der König wünscht es, sagte Lady Elizabeth ruhig.
Der König? wiederholte Harry höhnisch. Er wird wohl dafür Bezahlung
bekommen, denke ich mir! Ebenso wie Lady Sophia.
Meinst du? fragte Lady Elizabeth unsicher und sinnend, ohne auch nur im
geringsten empört zu sein. Komm einmal her, Harry, ich will dir ein Geheimnis
sagen . . . Aber so komm doch . . .
Er näherte sich langsam, widerwillig.
Näher . . . ach, viel näher, Harry. Sonst kann ichs wirklich nicht sagen . . .
Er stand neben dem Stuhl, die Hand auf der geschnitzten Rücklehne. Sie
erhob sich, und das eine Knie auf dem Sitz, legte sie beide Arme auf seine Schulter
und hielt die Lippen an sein Ohr.
Ich mache mir gar nichts aus ihm, Harry, flüsterte sie — weder aus ihm
noch aus sonst jemand. Sie neigte sich noch näher zu ihm hinüber: Sprich ein
Wort, und ich, ich gebe ihm morgen ein Nein.
Er errötete bis an die Haarwurzeln. Fast ohne es zu wissen, legte er beide
Arme um ihre Taille. Sie lachte leise, schmiegte sich eng an ihn und drückte lieb¬
kosend ihre Wange an seine Lippen. Er zog sie fest an sich, küßte ihren Mund
und ihre geschlossenen Augen. Aber er sagte nichts.
Warum freist du nicht um mich? murmelte sie und konnte doch natürlich kein
Wort von dem meinen, was sie sagte.
Er antwortete ihr auch nicht, lachte nur kurz — halb verächtlich —, indem
er sie in seinen Armen wiegte: von links nach rechts, von rechts nach links. Dann
hob er ihr Kinn in die Höhe und versuchte, ihr in die Augen zu sehen. Sie
wandte den Kopf ab und suchte mit den Lippen nach seiner Hand.
Harry . . .
Ja . . .
Versprich mir, daß du nicht von mir gehst. Niemals!
Weshalb soll ich das versprechen? — Nein, ich will nichts versprechen. Aber
ich habe gar nicht die Absicht zu reisen — es hat keine Gefahr, Elizabeth.
Ja wenn ich das nur sicher wüßte, murmelte sie. Aber die alte Anna sagt,
du hättest sie mehr als einmal nach Holland ausgefragt und nach dem Haag und
dem jungen Prinzen Wilhelm, und zwar auf eine Weise, als ob . . .
Nun, und was weiter? rief er plötzlich scharf. Das Leben, das du mir hier
bietest — meinst du, daß das ein Leben für einen Mann von Ehre sei — für
einen Mann! Willst du mich so gern zum Spott und zur Schande für alle hier
sehen, daß du es mir nicht einmal gönnst, an eine andre Zukunft zu denken?
Harry . . . beschwichtigte sie ihn zärtlich.
Daß ich mir daran genügen lasse! . . . Jedesmal, wenn ich in den Connetabel-
turm komme, wage ich kaum meinen eignen Soldaten in die Augen zu sehen, aus
Angst, daß sie über mich den Mund verziehn könnten.
Diese Hunde! — Sie sollten es nur wagen — murmelte sie und ballte die
Hand auf seiner Schulter.
Und Lady Sophia, deine Cousine . . . Vorgestern begegnete ich ihr mit Sir
Thomas auf der großen Treppe — sie sah mir gerade in die Augen und sagte. . .
Weißt du, was sie sagte?
Lady Elizabeth versuchte ihn zu unterbrechen. Daß du dich darum kümmern
kannst, Harry!
Seht her, Kapitän Percy, sagte sie, dies ist der edelgeborne Herr aus London
^ der und edelgeboren! —, der unsre kleine Lady Elizabeth das lehren soll, wozu
dem armen Ogle keine Zeit mehr gelassen war: IZtrs bonus tswmo, Korne insrs ...
Sie ist verrückt — sagte Lady Elizabeth und brach in lautes Lachen aus. Lonns
kemws, totius more ... Sie machte eine Grimasse. Denk dir, Harry, fuhr sie geschwätzig
und vertraulich fort, gestern fing sie an, mich auszufragen, ob der nächste Baron
Percy Jocelyn heißen solle oder Algernon. ... Ich fertigte sie mit der Antwort
ab, daß ich noch nicht einmal an einen nächsten Baron Percy gedacht hätte . . .
Und ich, meine Elizabeth, sagte er leise, denke jeden Tag an eine solche
Person . . .
Zeit genug — Zeit genug, wenn . . . Nun, das mag einerlei sein! . . . Aber
Harry — sie witterte mit weit geöffneten Nasenlöchern, zog die Luft schnüffelnd
ein und begrub plötzlich das ganze Gesicht in seinem Haar auf der Schulter. Ach,
Harry, ist das französisches Haarwasser, oder was ist das? ... Wie das riecht! —
wie Rosmarin oder Lavendel oder . . .
Er lachte gezwungen, errötete leicht und gestand, daß er „Spaßes halber"
eine Flasche habe aus London kommen lassen . . .
Meinetwegen! triumphierte sie laut. Weil er weiß, wie versessen ich auf solche
Raritäten bin. Ach, Monsieur Harry — ach, ach ... Sie nahm eine lange Locke,
hielt sie über die Angen, quer über ihr Gesicht, küßte sie. Er stand steif und
gerade da, fast als belästige es ihn, bleich, mit niedergeschlagnen Augen und fest
geschlossenen Lippen bei ihrem Schmeicheln und Lachen und ihrer Schadenfreude.
Und er, der sonst so geizig in bezug auf Geld ist! versuchte sie ihn wieder
zu reizen.
Ich habe so wenig, Lady Elizabeth, sagte er hart, ohne aufzusehen.
Nein, das ist dein schottisches Blut, Harry! Leugne es nicht: du drehst den
Schilling um. Sie machte eine Bewegung, als sähe sie auf etwas in ihrer flachen
Hand nieder — schüttelte bedenklich und kurz den Kopf und machte ihr Gesicht
lang und puritanisch. Dann sah sie auf. ......
Bourgeois! sagte sie und steckte die Zunge heraus.
Harry Percy brach in ein Gelächter aus. Er beugte sich herab und berührte
bedeutungsvoll den großen Brillanten, der an ihrem Halsband hing.
Ach der! sagte sie überlegen. Wem hättest du den Wohl geben sollen, wenn
nicht mir?
Mein Vater erhielt ihn von König Karl nach Newbury. Er paßt eigentlich
gar nicht für ein Mädchen. Wäre ich so ein Geizhals, wie du meinst, so hätt ich
ihn auf meinen Hut stecken können.
Sie hob den Schmuck langsam an ihre Lippen und küßte ihn.
Willst du ihn jetzt auf deinem Hut haben, Harry? fragte sie demütig.
Er hatte keine Zeit zu antworten — schüttelte nur lächelnd den Kopf, während
ihre Augen sich noch einmal begegneten. Die Tür ganz hinten in der Wachtstube
hatte sich geöffnet, und ein Knabe in Pagenkleidung trat mit Licht ein. Hinter
ihm drein kam Lady Sophia Wright mit ein Paar von Lady Elizabeths aufwartenden
Damen. Harry Percy zog sich schnell ein paar Schritte nach dem Fenster zurück,
Lady Elizabeth aber rührte sich nicht vom Fleck — wandte nur langsam ihre großen
Augen dem Licht zu.
Hab ich mirs doch gedacht! rief Lady Sophia mit ihrem naseweisen muntern
und gellenden Lachen. Hier haben wir ja endlich unsre kleine Lady Elizabeth und
ihren großen Spielgefährten. Oder, Kapitän Percy — wandte sie sich halb
kokett herausfordernd, halb unverschämt an ihn —, sollen wir lieber sagen „ihre
Puppe"?... (Fortsetzung folgt)
Die Verleihung des Schwarzen Adlerordens an den Kultusminister hat dank
der sommerlichen Stille und der um diese Jahreszeit meist lückenhaften Besetzung
der Zeitungsredaktionen eine reichliche Flut redaktioneller Weisheit über die angeblich
ungenügende politische Informierung des Kaisers zutage gefördert. Der Kaiser wird
darin als ein Fürst geschildert, der sich für alle möglichen Dinge auf allen Ge¬
bieten des öffentlichen Lebens interessiert, sich über vieles auch sehr unterrichtet
zeigt, aber in seiner eigentlichen Berufstätigkeit als Monarch politisch schlecht in¬
formiert ist. Gefolgert wird das sowohl aus der Ordensverleihung als aus dem
begleitenden Handschreiben, das dem Minister ein großes Verdienst um das
Zustandekommen des Schulgesetzes zuerkennt. Über Ordensverleihungen zu diskutieren,
hat ebensowenig Sinn wie die Erörterungen zu der völlig unmotiviert aufge¬
worfnen Amnestiefrage. Hat die Krone das verfassungsmäßige Recht der Ordens¬
verleihung und der Begnadigung, so kann eine Polemik über den Gebrauch, den
sie davon macht, höchstens dann als gerechtfertigt angesehen werden, wenn durch
den Gebrauch oder Nichtgebrauch ein öffentliches Interesse wirklich schwer geschädigt
wird. Es gibt wenig Akte der Krone wie überhaupt Regierungsakte, die nicht
einer recht verschiednen, gegensätzlichen Beurteilung unterliegen. Auch Kaiser
Wilhelm der Erste hat mehrfach den Schwarzen Adlerorden verliehen, ohne daß
Fürst Bismarck damit einverstanden war, die einzelnen Vorgänge haben jedesmal
zu bemerkenswerten Friktionen geführt; die Beurteilung, ob der verewigte Kaiser
dabei richtig oder unrichtig gehandelt hatte, ist je nach dem Standpunkte des
Beurteilers verschieden ausgefallen. — Die Absicht, die Befriedigung über den end¬
lichen Abschluß des Schulgesetzes durch die Verleihung des Schwarzen Adlerordens
«n den Kultusminister zum Ausdruck zu bringen, scheint sehr früh bestanden zu haben,
ledenfalls schon vor der Debatte im Herrenhause. Wenn nun aber diese Aus-
Zeichnung direkt an das Schulgesetz anknüpfte, so war es doch kaum anders möglich,
als die Verdienste des Ministers um das Gesetz in der begleitenden Order zur
Anerkennung zu bringen. Der Gedanke beruht ausschließlich auf der persönlichen
Initiative des Monarchen, nicht auf amtlicher Anregung. War der Kaiser aber einmal
dazu entschlossen, so wäre es für den Ministerpräsidenten eine schwierige Aufgabe
gewesen, die Auszeichnung eines Kollegen zu widerraten. Für diesen hätte ein
solcher Einspruch des Ministerpräsidenten als oonsilium g,bsuuäi gelten müssen, das
A ^ Anerkennung des Monarchen in schwerem Gegensatz gestanden hätte. Es
^se für den Ministerpräsidenten in Preußen von jeher eine heikle Sache gewesen,
Krone auf dieser ihrer eigensten Domäne entgegenzutreten, zumal wenn es sich
um einen Kollegen handelt. Die Geschichte der Bismarckischen Zeit lehrt, daß
?und ein in Ordensverleihungen im allgemeinen sehr zurückhaltender Monarch wie
Kaiser Wilhelm der Erste darüber zu Differenzen mit seinem ersten Berater ge¬
gangen konnte. Daß aber mit solchen Erörterungen, wie sie jüngst in der Presse
Idaeiirttgefimden haben, eher das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung erzielt wird —
darüber sollten sich die Verfasser solcher Artikel doch nachgerade klar sein. Selbst-
"""ständlich verteilt sich das Verdienst des schließlichen Erfolges bei einer politischen
wu wie das Schulgesetz auf eine ganze Reihe von Personen, namentlich ist
dazu die geschickte und hingebungsvolle Mitwirkung einzelner Abgeordneter, uner¬
läßlich gewesen. Ferner hat sich der Reichskanzler bekanntermaßen der Vorlage Pflicht-
mäßig warm angenommen und in den einzelnen Stadien die Hand darüber gehalten,
der Chef der Reichskanzlei, Geheimrat von Loebell, sein vortragender Rat, hat seine
persönlichen Beziehungen als früheres Mitglied des Abgeordnetenhauses in den
Dienst der Sache gestellt und im Auftrage des Reichskanzlers viele persönliche
Verhandlungen geführt, kurzum, es waren gar manche Köpfe und Hände nötig, um
den schließlichen glücklichen Stapellauf des Schiffes zu ermöglichen. Die Be¬
friedigung des Kaisers aber scheint neben dem Austrag der alten Streitfragen
doch namentlich dem Umstände gegolten zu haben, daß die Vorlage durch die Über¬
einstimmung der alten Kartellparteien zustande gekommen ist.
Wir können dieses Thema nicht verlassen, ohne noch einen andern Punkt zu
berühren. Vor einiger Zeit war an dieser Stelle mitgeteilt worden, daß das
Scheitern des Reichskolonialamts in der dritten Lesung auf den von welfischer Seite
gestellten Antrag auf namentliche Abstimmung zurückzuführen sei, und daß der Antrag¬
steller Graf Bernstorff im Reichstage kein Hehl daraus gemacht habe, die Partei
gedenke sich damit für einige in der letzten Zeit in der Provinz Hannover er¬
folgte Nichtbestätigungen von Parteigenossen auf gewisse Ämter zu revanchieren,
sie wähle dazu absichtlich einen Punkt, an dem sie der Regierung recht unbequem
werde. Für diese Tatsache sind hinreichend lebende Zeugen vorhanden, ebenso
dafür, daß dieses Vorgehen dem Zentrum wegen seiner Absprache mit den andern
Parteien keineswegs erwünscht war, daß es jedoch kein Mittel hatte, die Welsen
davon abzubringen und sich schließlich dem Antrage fügte, der immerhin seinen
wiederholt bekundeten Ansichten, wenn auch nicht seinen Absichten entsprach. Aus
der Mitteilung dieses Vorgangs haben dann einzelne Blätter in geschmackvoller
Weise „den Frieden von Norderney" gemacht, den angeblich der Abgeordnete Prinz
Arenberg dort zwischen Reichskanzler und Zentrum hergestellt hätte. Andre Blätter,
wie z. B. die Hamburger Nachrichten, machen es nun dem Kaiser zum Vorwurf,
daß er die Ablehnung des Kolonialamts „zum größten Erstaunen seiner Zuhörer
als Ergebnis einer welfischen Intrigue bezeichnet habe". Wahrscheinlich sind diese
„erstaunten Zuhörer" in Hamburg zu suche». Die Hamburger Nachrichten fügen
hinzu, aus dem Artikel der Grenzboten gehe hervor, daß die Fiktion, die Ab¬
lehnung des Kolonialsekretärs sei durch eine welfische Intrigue veranlaßt worden,
„an der betreffenden Stelle in der Wilhelmstraße tatsächlich und auch wohl dem
Kaiser gegenüber festgehalten worden ist". Bevor sich die Hamburger Nach¬
richten zu der Behauptung versteigen, daß der Kaiser in einer solchen Frage vom
Reichskanzler absichtlich oder unabsichtlich falsch informiert worden sei, und sich
dabei gar noch auf den „Deutschen Boten" und dessen völlig unreife Expektorationen
berufen, hätten sie doch besser getan, sich an die leicht erreichbaren vorhandnen
Zeugen, zumal an den Grafen Bernstorff zu wenden, der aus seiner Befriedigung
über die der Regierung „heimgezahlte Chikane" ja gar kein Hehl gemacht hat und
auch wohl heute noch nicht macht. Die Annahme, daß der Deutsche Kaiser in
einer solchen Frage vom Reichskanzler falsch unterrichtet werde und daraufhin
durch Mitteilung dieser falschen Berichte seine Zuhörer in Erstaunen setze, ist
doch zu ungeheuerlich. Ein großes Blatt, das auf sein Ansehen hält, sollte sich
doch, bevor es solche Dinge druckt, über den wirklichen Sachverhalt unterrichten!
Die Hamburger Zuhörer des Kaisers, die ihr „Erstaunen" auf die Redaktion der
Hamburger Nachrichten getragen haben, scheinen ebenfalls ungenügend unterrichtete
Leute zu sein, oder — sie haben nicht den Mut gehabt, ihre angeblich bessere In¬
formation dem Kaiser gegenüber geltend zu machen, haben dann also den nämlichen
Fehler begangen, den die Hamburger Nachrichten „der Wilhelmstraße", also doch
wohl dem Reichskanzler, vorwerfen. Die Annahme, daß dieser darauf ausgehn
könnte, dem Kaiser überhaupt und zumal in einer Angelegenheit von solcher Be¬
deutung, die der Monarch aus verschiednen Gründen besonders im Auge behalten
hat, ein X für ein U zu machen und dazu eine welfische Intrigue zu erfinden, ist doch
eigentlich zu naiv. Wenn die Hamburger Nachrichten behauptet hätten, der Kaiser
sei von irgendwelchen „unverantwortlichen" Ratgebern, Mitgliedern seiner Um¬
gebung usw., unrichtig informiert worden, so könnte man das hingehn lassen. Der¬
gleichen kann aus Unkenntnis oder Absicht vorkommen. Aber daß der Reichskanzler
wissentlich oder unwissentlich dem Kaiser amtlich unwahre oder unrichtige Berichte
über parlamentarische Vorgänge unterbreitet — eine solche Unterstellung fordert
entweder den Spott oder die schärfste Verurteilung heraus, ganz abgesehen davon,
daß dem Kaiser doch hundert Mittel und Wege zu Gebote stehn, sich über Parla¬
mentarische Vorgänge in untrüglicher Weise zu unterrichten. Solche Dinge werden
ohne jenes Gefühl der ernsten Verantwortlichkeit niedergeschrieben, die der Presse
weit weniger dem Strafrichter als den Zeitgenossen, dem Auslande gegenüber und
vor dem Richterstuhl der Moral obliegt. Die Grenzboten polemisieren ungern gegen
einzelne Blätter, eigentlich grundsätzlich überhaupt nicht. Aber auf die Gefahr hin,
von einigen kleinen Geistern oder Leuten von knabenhafter Weltanschauung wieder
einmal der höchsten Offiziosität geziehen zu werden, haben wir es für unsre Pflicht
gehalten, solchem Unsinn gegenüber Stellung zu nehmen. Für die Leser der Grenz¬
boten wollen wir hinzufügen, daß wir für diese unsre Ausführungen uns ausschließlich
auf die Logik des gesunden Menschenverstandes berufen, und daß keine einzige amt¬
liche Stelle oder Persönlichkeit direkt oder indirekt damit in Zusammenhang steht.
Ein hannoversches Provinzialblcitt hat sich das Verdienst erworben, durch An¬
frage beim Reichsmarineamt festzustellen, daß eine neue Flottenvorlage nicht in
Aussicht stehe. Damit ist wenigstens auf diesem Gebiet eine Beruhigung einge¬
treten, namentlich auch nach der Richtung hin, daß neue Agitationen keinerlei Aus¬
sicht auf Erfolg haben. Der Kaiser hat vor einigen Monaten Gelegenheit ge¬
nommen, dem Admiral von Tirpitz seine volle Übereinstimmung mit dessen stetigem,
ruhigem und sachlichen Vorgehn in einem besondern Erlaß auszusprechen. Die
weitere Entwicklung der Flotte wird sich im Rahmen des Gesetzes vollzieh», das
der Marine die festen unantastbaren Grundlagen gegeben hat, wie die allgemeine
Wehrpflicht dem Heere. Diese hohe Bedeutung des Flottengesetzes für den mari¬
timen Teil der vaterländischen Wehrkraft wird erst später einmal im vollen Um-
sange klar werden. Das Gesetz reiht sich ungeachtet mancher durch die damalige
Situation gebotnen Mängel würdig den besten organisatorischen Taten an, die wir
in unsrer Geschichte seit 1814 zu verzeichnen haben. Es sichert die regelmäßige und
unaufhörliche Verjüngung der Flotte, und die Marine vermag seine Wirksamkeit durch
organisatorische Maßnahmen innerhalb seines heutigen Nahmens im Laufe der
Zeit noch recht bedeutend zu steigern. Eine notwendige Abkürzung der Lebens¬
dauer der großen Schiffe läßt sich dabei ebenso erreichen wie eine Abkürzung der
Baufristen. Die nächsten Maßnahmen werden jedenfalls wohl dem innern Ausbau
der Flotte und der artilleristischen Küstenverteidigung, die in den letzten Jahren etwas
SU kurz gekommen ist, gewidmet sein. Der Staatssekretär ist in seiner Zurück-
Sezogenheit in Se. Blasien unermüdlich an der Arbeit, dort sind ihm auch jüngst
°le für den neuen Etatsentwurf erforderlichen Vorträge gehalten worden.
Die gesteigerte Geschützwirkung aller Flotten hat den zuständigen Behörden u. a.
eine Prüfung der artilleristischen Verteidigung auch der Ostseeküsten, die bekanntlich
der Landarmee obliegt, nahegelegt. Es werden dabei vielleicht hauptsächlich Danzig
und Pillau in Betracht kommen. Die Frage, ob es richtig ist, die artilleristische
Bekämpfung einer feindlichen Flotte durch Truppen der Landarmee zu führen, wird
noch vielfach verneint. Es gehört dazu immerhin eine Kenntnis der Einrichtungen
eines Kriegsschiffes, seiner Bewegungen und Bewegungsfähigkeit, der Artillerie der
feindlichen Schiffe, die von den Offizieren der Landtruppen in genügendem Umfange
kaum erworben werden kann; ebenso ist bei dem Schießen über See die Be¬
urteilung der Einwirkung des Tages- oder Dämmerlichts, des Sonnenscheins, der
Wellenbewegung usw. auf die Schätzung der Entfernungen und der Lage der Ziele
von großem Einfluß, die dazu nötigen Kenntnisse werden ausreichend doch wohl
nur Seeoffizieren zur Verfügung stehn können. Kompliziert wird diese Frage für
die Ostseeküste durch den Umstand, daß die dortigen festen Plätze wegen der Ver¬
teidigung nach der Landseite und der militärischen Beherrschung der weitern Um¬
gebung, des Zusammenhangs mit der mobilen Armee, dem Landsturm, der Deckung
der Eisenbahnen usw. sämtlich Garnisonen und Kommandanturen der Landarmee
haben müssen. Die zweckmäßige Lösung wird im Ernstfalle wohl die Zuteilung
von Seeoffizieren für die Feuerleitung der schweren Küstenartillerie des Laudheeres
(bekanntlich Fußartillerieregiment Ur. 2) sein, für Friedenszeiten aber wäre eine
Besichtigung im Schießen, Entfernungschätzen usw. unter Teilnahme eines Marine-
Artillerieinspekteurs und eine umfangreiche Kommandierung von Offizieren der
Küstenartillerie zur Matrosenartillerie wohl recht nützlich. Die vorjährigen Schie߬
übungen der Küstenartillerie bei Swinemünde sind allerdings vom Kaiser mit Aus¬
zeichnung anerkannt worden.
Die Vorgänge in Rußland sind, so sehr sie uns Deutschen Zurückhaltung auf¬
erlegen, dennoch sowohl wegen der nachbarlichen als auch wegen der internationalen
Verhältnisse für uns von höchstem Interesse. Die Auflösung der Duma, die sich
mehr und mehr zu einer Versammlung teils unverständiger, teils gefährlicher
Schwätzer ausgebildet und den Charakter einer ernsthaft arbeitenden Landesvertretung
längst eingebüßt hatte, hat nicht überraschen können. Dieser Schritt durfte kaum
länger aufgeschoben werden. Der Termin für den Zusammentritt einer neuen
Kammer ist anscheinend etwas weit gegriffen, aber erstens bedürfen die Neuwahlen
angesichts der innern Zustände sehr zeitraubender Vorbereitungen, auch nur an¬
nähernd korrekte Wählerlisten herzustellen, zweitens kann es nur nützlich sein,
wenn sich das Land bis zum Zusammentritt einer neuen Duma etwas beruhigt.
Unsre liberalen Blätter sollten aber doch endlich aufhören, die westeuropäische
Schablone auf Nußland anzuwenden. Ein Verfassungsleben läßt sich dorthin nicht
aus westeuropäischen Magazinen exportieren, es muß aus den russischen Verhältnissen
herauswachsen und in ihnen wurzeln. Es hat deshalb auch keinen Sinn, vom
„Staatsstreich" des Zaren zu reden. Diese Duma war ein Experiment, das mi߬
raten ist, sie stand vor der Gefahr, als Konvent zu enden oder dem Gespött zu
verfallen. Ihre Beseitigung war eine harte und nicht ungefährliche, aber unver¬
meidliche Notwendigkeit, nachdem feststand, daß eine ersprießliche Mitwirkung an der
Gesetzgebung und für die Wohlfahrt Rußlands von ihr nicht mehr zu erwarten war.
Alle politisch einsichtigen Deutschen werden eine Befestigung und Beruhigung der
russischen Verhältnisse aufrichtig wünschen, aber dennoch zufrieden sein, daß von einem
amtlichen deutschen Einfluß auf die fernere Gestaltung der russischen Zustände keine
Rede ist, weder in Form von Ratschlägen noch gar durch die Absicht einer militärischen
Mitwirkung. Es ist das von der Regierung in jüngster Zeit so oft und nach¬
drücklich ausgesprochen worden, daß in dieser Hinsicht keine Täuschung mehr zulässig
sein kann.
Die internationale Lage hat einen neuen Gravitationspunkt in der ägyptischen
Frage erhalten. Wie der Staatssekretär für Indien jüngst im Unterhause ausge¬
sprochen hat, tritt die asiatische Politik für England in den Vordergrund. Bei
der großen Summe der britischen Interessen, die von Malta bis Hongkong und
darüber hinaus reichen, ist die unbeschränkte militärische Beherrschung Ägyptens
von größtem Wert. Eine übertriebne Betonung eines angeblichen muselmännischen
Fanatismus muß den Vorwand hergeben sowohl für eine stärkere Besetzung Ägyptens
als für die drakonische Bestrafung jeder Neigung der Eingebornen, sich dem roten
Rock nicht willenlos zu beugen. England schickt sich an, die Konsequenzen aus
seinem Abkommen mit Frankreich aus dem April 1901 zu ziehen. Darin ist den
Franzosen in allen Handels-, Zoll- und Tariffragen eine gleiche Behandlung wie
den Engländern für die nächsten dreißig Jahre zugesichert, und Deutschland hat
auf Wunsch Englands gegen die gleiche Konzession der von England beabsichtigten
Regelung der ägyptischen Finanzen zugestimmt. Jetzt kommt aber der englische Gou¬
verneur, Lord Cromer, mit Vorschlägen, die die vertragsmäßige Exterritorialität
der Fremden, die Konsulargerichtsbarkeit usw. beseitigen sollen. Würde sich, wie zu
erwarten steht, die englische Regierung diese Vorschläge aneignen, so hätte sie dieser-
halb mit allen Mächten, die die sogenannten Kapitulationen unterzeichnet haben, in
Verhandlung zu treten. Deutschland Wird achtzugeben haben, daß es dabei in Fragen
s
Nach langwierigen Verhandlungen ist die formelle und
materielle Basis für die am 21. Juli in Rio de Janeiro eröffnete ^mira Inter-
national Oontsroneo ok tuo ^msrioan Rsxublies geschaffen worden. Die über¬
mäßig lange Dauer des zweiten Kongresses ist die Veranlassung gewesen, dieses-
mal das Arbeitsprogramm fest zu umgrenzen und zugleich durch eine vorher
zwischen den amerikanischen Republiken vereinbarte Geschäftsordnung den geregelten
Gang der Sitzungen nach Möglichkeit zu sichern. Das Programm umfaßt vierzehn
verschiedne Punkte, die der Reihenfolge nach folgende Materien umfassen: 1. Re¬
organisation des International Lursau ok ins ^.msrioan Ropudlics auf einer dauer¬
haften Grundlage, sowie Erweiterung und Verbesserung des Arbeitsfeldes und des
Wirkungskreises dieses Instituts. 2. Eine Resolution betreffend den Beitritt der
amerikanischen Republiken zum Schiedsgerichtsprinzip zum Zwecke der Beilegung der
Mschen ihnen entstehenden Streitigkeiten. Ausdruck der Hoffnungen der an der
Konferenz teilnehmenden (!) Republiken, daß die nächste Haager Konferenz einen
allgemeinen Schiedsgerichtsvertrag zustande bringen wird, der von jedem Staate
gebilligt und in Wirksamkeit gesetzt (xnt in oxsiation) werden kann. 3. Eine Re-
^ution, die den betreffenden Republiken empfiehlt, den von ihnen auf dem zweiten
Kongreß in Mexiko abgeschlossenen Schiedsgerichtsvertrag auf eine weitere Periode
°°n fünf Jahren zu verlängern. 4. Eine Resolution, die empfiehlt, daß die zweite
Friedenskonferenz im Haag aufgefordert werden soll, zu erwägen, ob und wenn
überhaupt, bis zu welcher Ausdehnung die Anwendung bewaffneter Gewalt bei der
^ntreibung öffentlicher Schulden zulässig ist (Dragodoktrin). 5. Die Kodifikation
^ öffentlichen und privaten internationalen Rechts soll durch ein von der Kor-
^euz zu erwählendes Juristenkomitee erfolgen und später der vierten Konferenz
ö»r Beratung und Beschlußfassung vorgelegt werden. 6. Die Naturalisation soll
'" Zukunft so gehandhabt werden, daß ein natnrcilisierter Bürger einer der vertrag-
Mießenden Länder, der in sein Geburtsland oder Ursprungsland zurückkehrt, ohne
Absicht zu haben, später wieder in das Land, wo er naturalisiert wurde, zu
^du. sewe Naturalisation verlieren soll, und daß eine solche Absicht immer dann
prcisumiert werden soll, wenn sich die naturalisierte Person länger als zwei Jahre
ihrem Ursprungslande aufhält. 7. Die Handelsverbindungen zwischen den
amerikanischen Republiken sollen durch Resolutionen gebessert werden zur Schaffung
schnellerer Verkehrsmittel, zum Abschluß von Handelsverträgen, zum Austausch und
zur Reorganisation der Statistiker. 8. Die Zoll- und Konsulargesetze, die auf Schiffe
und auf Waren Bezug haben, sollen vereinfacht und miteinander in Übereinstimmung
gebracht werden. 9. Patente und Handelsmarken sollen durch einen besondern
Vertrag, der die Verträge von Montevideo und von Mexiko weiter aufbaut, neu
geregelt werden. Die Patentgesetzgebung und das Patentierungsverfahren sollen
gleichmäßig eingerichtet werden. Ein internationales Bureau für die Eintragung
der Handelsmarken soll errichtet werden. 10. Das Sanitätspolizeiwesen und die
Quarantänebestimmung sollen auf Grund der frühern Erwägungen und Abmachungen
auf der Konferenz diskutiert werden. 11. Der Bericht des auf der frühern Kon¬
ferenz eingesetzten permanenten Komitees der?An-^n>öriLar> Railvva^ soll beraten, und
das Interesse aller Republiken an dem Erfolg des Projekts bestätigt werden.
12. Der Schutz gegen Nachdruck soll erneut in Erwägung gezogen werden. 13. Die
Ausübung gelehrter Berufe in den einzelnen amerikanischen Republiken soll durch
neue Maßnahmen geregelt werden. 14. Beschluß über die nächsten Konferenzen.
Wir sehen, daß die Beschlüsse, die das Deutsche Reich und die andern europäischen
Großmächte in Mitleidenschaft ziehn können, voraussichtlich nicht gering sein werden.
Zunächst ist das Bestreben deutlich erkennbar, in der Schiedsgerichtsfrage Europa
vor ein lÄit aeeomxli zu stellen und der nächsten Friedenskonferenz im Haag be¬
stimmte völkerrechtliche Bestimmungen zur Beratung aufzustellen. Die Vertreter der
Vereinigten Staaten werden die Dragodoktrin energisch bekämpfen. Sodann wird
wiederum versucht werden, die jetzt noch so wenig entwickelten Handels- und See¬
schiffahrtsbeziehungen zwischen der großen Republik im Norden und all den kleinen
Schwestern im Süden des amerikanischen Kontinents zu verbessern auf Kosten der
jetzt deren Handel beherrschenden europäischen Handelsvölker. Endlich werden sich
die amerikanischen Republiken untereinander vielleicht über einen Schutz des geistigen
Eigentums ihrer Bürger und über Zulassung von Personen der gelehrten Berufe
in ihnen einigen, während die Europäer dort nach wie vor ungeschützt mit ihren
geistigen Produkten bleiben und ihre gelehrten Berufe dort nur ausüben können,
wenn sie ein neues Examen ablegen. Es wird sich fragen, wie solche Beschlüsse
mit dem Meistbegünstigungsprinzip zu vereinbaren sein werden. Jedenfalls ist
aber ein Zollbund oder auch nur ein Europa ausschließender Handelsvertrag
zwischen allen amerikanischen Republiken auf absehbare Zeit hin ausgeschlossen, und
während vor dem ersten Panamerikanischen Kongreß in der ganzen Aankeepresse
dafür Stimmung zu machen gesucht wurde, begnügt man sich diesesmal mit dem
Vorschlag einer übereinstimmenden Regelung der Zoll- und der Konsularg esetz-
gebung. Interessant ist, daß das Wort xg-n-amsrioan nur einmal, und zwar bet
der ?an-L.mkri<:M Rh,los.?, in dem Programm vorkommt, und daß sonst immer das
so wenig zutreffende Wort juten-national gebraucht wird, das doch nur bei Ab¬
machungen einen Sinn haben könnte, an denen sich auch europäische Mächte be¬
teiligen.
Aus der langschweifigen Geschäftsordnung (RsAuIations) wollen wir nur die
wichtigsten Bestimmungen hervorheben. Eröffnet soll die Konferenz werden durch
den Staatssekretär der auswärtigen Angelegenheiten Brasiliens, eine Stelle, die
augenblicklich der in Berlin unvergessene liebenswürdige und kluge Baron do Rio
Branco bekleidet, der dem Deutschen Reiche trotz der Pantheraffäre und andern
Ungeschicklichkeiten seine Zuneigung bewahrt hat. Es ist darum nicht ausgeschlossen,
daß auf seinen Vorschlag die an sich nicht öffentliche Konferenz von dem Artikel 22
der Geschäftsordnung Gebrauch macht und den fremden Diplomaten, also auch
unsern Vertretern tds oourtssiss ok tbs eontörenLs gewährt. Sonst würde es sehr
schwer halten, wirklich auf dem laufenden zu bleiben, da voraussichtlich viele als
solche beschlossene Geheimsitzungen stattfinden werden, bei denen alle Anwesenden
zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtet sind. Allerdings pflegt man das in den
amerikanischen Ländern, wo alle Delegierten mehr oder minder mit der Presse in
Verbindung stehn, nicht so genau zu nehmen. Baron Rio Branco wird zunächst
nur als Ehrenpräsident fungieren, aber es ist anzunehmen, daß er als Vertreter
der gastgebenden Nation zum ständigen Präsidenten der Konferenz gewählt werden
wird. Der Präsident hat die Befugnisse, wie sie ein jeder Parlamentspräsident
hat, daneben aber dos wichtige Recht to äseiäs all ausstions cet oiäsr raissä äurinx
tbs acts.es8 ok los eonksisnos. Diese Befugnis verdankt er wahrscheinlich dem
Wunsche der amerikanischen Regierungen, solchen unordentlichen Vorkommnissen, wie
sie sich auf der letzten Panamerikanischen Konferenz ereignet haben, vorzubeugen.
Ihm zur Seite stehn Vizepräsidenten und ein Generalsekretär, der mit einem Stäbe
von Sekretären die ganzen laufenden Geschäfte erledigt und die Korrespondenz der
Konferenz führt. Es sollen im ganzen dreißig Plenarsitzungen stattfinden und nur
dann mehr als dreißig, wenn eine Zweidrittelmajorität der Konferenz es wünschen
sollte. In elf verschiednen Komitees sollen die meisten Gegenstände vorberaten
werden, ehe sie an das Plenum gelangen. Ein jeder Delegierter kann in seiner
Sprache sprechen. Die Berichte werden englisch, französisch (wegen der Republik
Haiti), spanisch und portugiesisch veröffentlicht. Der Schluß muß vor dem 1. Sep¬
tember erfolgen.
Der Stil ist der feinste und unmittelbarste Aus¬
druck unsers Lebensgefühls, mit dessen Veränderungen er sich notwendig wandelt.
Darum sehen wir in dem Formgefühl einer bestimmten Zeit ein charakteristisches
Merkmal ihres Geistes, darum glauben wir, die Entwicklung in dem Stile eines
großen Künstlers aus der Entwicklung seines Seelenlebens zu verstehn, und darum
leiten wir schließlich aus den Beziehungen zwischen Stil und Lebensdauer das Recht
her, eine Kunst des Alters zu suchen.
Die letzten Werke der greisen, großen Künstler reden eine andre Sprache
als die Schöpfungen ihrer Jugend. Dem Stil der Frühgestorbnen steht der Stil
der Langelebenden gegenüber. Neben allen individuellen Ausdrucksmannigfaltig¬
keiten bestimmen die gemeinsamen physiologischen und psychologischen Merkmale
des Alters auch gemeinsame Merkmale der Kunstsprache. Die Quellen, aus denen
der Künstler Kraft und Stoff schöpft, trüben sich den Alternden oder versiegen
ganz: die Sinnesmenschen fühlen ihre Sinne sterben. Goethe läßt Faust „im
höchsten Alter" erblinden. Das Auge, dieses Zentralorgan des zum Sehen ge-
bornen, zum Schauen bestellten bildenden Künstlers, wandelt sich im Laufe des
Lebens. Aus getrübten und starren Augen schaut der alte Rembrandt: Arbeit
und Leben haben an ihnen gezehrt. In einem seiner spätesten Bilder zeigt er
Homer den „blinden" Sänger. Mit dem Spachtel streicht er die Farben auf die
Leinwand; es gibt für ihn keine Details, keine Nebensachen mehr, nur noch An¬
deutungen davon. Die Form löst sich, Hand und Auge werden ihrer nicht mehr
Herr, die Farben einzig leuchten, so tief, so warm und stark, wie die neue Farben¬
empfindung des blutärmern gealterten Gehirns sie fordert. Der schwerste Wein
~- in koloristischen Sinne — ist die Milch dieses Greises. Unvergeßbar prägt
sich das Gold und Rot des Familienbildes in Braunschweig dem Beschauer ein.
Vor Boecklins später Grellfarbigkeit steht er schmerzlich berührt, und beim Anblick
der Pieta Tizians in der venezianischen Akademie erwacht in ihm die Frage: Ist
diese wunderbare Farbengebung das ungewollte Resultat vielfacher nachtizmnischer
Ubermalungen _ oder der erste und letzte Ausdruck einer neuen Farbenempfindung
des neunundneunzigjährigen Künstlers? Wir befragen ja immer die Farbe, wenn
es eines zuverlässigen Temperamentsmessers bedarf, denn — wie ein Kenner gesagt
hat — in der Farbe läßt sich nicht lügen.
Den Alternden schwinden Sinnesschärfe und leibliche Gelenkigkeit und damit
auch die künstlerischen Themen der Bewegung und der körperlichen Aktion. Rem-
brandts letzte Bilder geben keine Bewegungen mehr oder kaum noch, nur noch ein
ruhiges Sein der Gestalten. Der greise Künstler ersetzt die Handlung durch die
Tiefe seelischen Ausdrucks, und an die Stelle der Körperhaltung und der Körper¬
bewegung, die nachgefühlt und nachgemacht werden will, tritt ihm eine rein optische,
die man nur sehen und empfinden kann: die Form weicht dem Licht, das Faßbare
dem Unfaßbarem. Rembrandts Muskeln sterben ab — nur das Auge lebt noch.
Schwer beweglich wie die Glieder wird auch die Seele. Goethe kannte diese
psychische Starrheit, „das Widerstehn, den Eigensinn" des Alters. Selbst ein Greis,
stellt er den gealterten Faust dem Greisenpaare Philemon und Baucis gegenüber.
Nur dem alten Faust kann das Kleine als „Hauptverdruß" das Leben vergällen,
wie mephistophelische Ironie es nennt:
Die wenigen Bäume, nicht mein eigen,
Verderben mir den Weltbesitz.
Und nur dem Greisenpaar Philemon und Baucis fehlt der Kolonistenmut und
das Vertrauen zum „schönen Gut im neuen Land" — sie wollen dem alten Boden
wie dem alten Gott vertrauen. Vom Hochbesitze tätiger Sinne und erobernder
Sinnlichkeit weist das Leben unerbittlich die Greise auf das seelische Altenteil der
Zuschauergefühle. Wenn Phantasie dem jungen Künstler ein überreiches Erleben
läutern half, dem alten muß sie Leben ersetzen. So klingt durch die Marienbader
Elegie des fünfundsiebzigjährigen Goethe dieser wehmütige Ton der Resignation.
Statt der zugreifenden Sinnlichkeit junger und starker Jahre, wie sie stolz aus
den Versen des „Tagebuchs" spricht:
ist dem Gealterten nur das verzichtende Schauen geblieben:
Solche Altersgefühle prägen sich formal in der Ökonomie des Stils aus. Un¬
ökonomisches Häufen und Verwenden der Wirkungsmittel infolge physischen und
psychischen Kraftüberschusses pflegt die Lehrjahre des Künstlers zu charakterisieren.
Der Meister beschränkt, als Herr über den Reichtum seiner Ausdrucksmöglichkeiten,
den Kreis wirksamer Elemente auf die wahrhaft ausdrucksvollen. Diese Wahlökonomie
künstlerischer Reifezeiten verwandelt sich in die Zwangsökonomie des Alters. Ver¬
einfachung und Konzentration werden der Ausdruck eines Lebens, das sich dem
Ende zuneigt, dessen Kräfte deshalb sparsam verbraucht werden müssen.
Ist so eine gewissermaßen natürliche und darum notwendige Armut die eine
Ursache der Altersökonomie, so liegt ihre andre in dem spezifischen seelischen Reich¬
tum der greifen Künstler. Den erfahrnen Alten genügt ein Blick, das Wesentliche
zu erkennen und vom Unwesentlichen zu scheiden. Die Jugend läßt sich von der
Entdeckerneugier verleiten, die für sie noch unerforschte Natur mit Haut und Haaren
an sich und in die Kunst hineinzuziehn. Das Auffallende lockt den Unerfahrnen
an, mit Außenseiten- und Oberflächenpsychologie beginnt der junge Künstler. Das
Alter kennt die Qualitäten, ihm hat ein langes Leben die Sicherheit des Wertens
verliehen: es weiß, was wirkt. Im Leben und in der Kunst übt deshalb das
Alter Zurückhaltung, während sich die Jugend ganz hingibt. Sie hat sich ja noch
mit Welt und Menschen auseinanderzusetzen — die Alten ruhn in sich.
So erklärt sich das Interesse der jungen Künstler an dem Einzelmenschen
und an dem Einzelzug, der ins Auge gefaßt werden muß, an dem Persönlichen
und Individuellen, wahrend sich die Alten auf das Allgemeinmenschliche und Typische
beschränken. Rembrandts Entwicklung als Porträtist geht zum Beispiel diesen Weg:
poa Persönlichen zum Menschlichen, von der Portrtttähnlichkeit zur seelischen Be¬
lebtheit. Wohl bedeutet das Vereinfachung und Vertiefung, nicht aber ein Erkalten
der Empfindung in der Abstraktion. So versteh» wir die namenlosen Personen
des „Königs". „Herzogs", „Grafen" usw. in der Natürlichen Tochter. Und deshalb
wandelt sich das Gretchen des ersten Faustteils zur „Una xosnitsutium, sonst
Gretchen genannt" im zweiten Teil. Vom „peinlichen" Erdenrest befreit, muß
auch sie sich dem Reigen unpersönlicher mystischer Gestalten einfügen, die die Phan¬
tasie des Greises schuf.
Entkörpert wie die Wesen der Dichtung wird auch ihre Sprache. Fleisch
und Blut und warme Wirklichkeit des Irdischen weichen — Seele, Geist und die
geheimnisvolle Kühle des Jenseitigen treten an ihre Stelle. Schon in den schweren,
tiefsinnigen Versen der Novelle klingen die mystischen Stimmen des Faustschlusses
an. Das ist der große und breite Vortrag des Alters: form- und inhaltgesättigt.
Der alte Rembrandt komponiert in Bildern wie der Judenbraut und der Rückkehr
des Verlornen Sohns kaum noch so, daß die Mannigfaltigkeit der Einzelzüge
wirkungsvoll geordnet wird: er stellt Gestalt neben Gestalt, wie eine Säule neben
der andern steht, aber eine jede durchtränkt er mit Seele. Jedes Auge, jeden
Mund und jede Hand läßt er reden von einem tust-, leid- und liebevollen Leben.
Und in die verinnerlichte Farbe, auf deren Grund es wie altes Gold leuchtet, legt
er den ganzen „Glanz und Schmerz seiner Seele".
Junge Künstler ersetzen die mangelnde Fähigkeit durch die Wärme und den
Reichtum ihres Gefühls; für das Feuer der Jugend gibt das Alter Haltung und
Form. Dem Stil der Jugend haftet leicht etwas plebejisches an: sie läßt sich gehn,
dagegen sind die Kunstwerke des Alters durch die vornehme Ruhe des Vortrags
charakterisiert. Die Beherrschung der Formen — so gut der des Lebens wie der
der Kunst — ist für den greisen Meister selbstverständlich, sie ist ihm gleichsam in
Reisch und Blut übergegangen. Tizian verkehrte mit Fürsten wie mit seines¬
gleichen, und seines Wertes sich bewußt, duldete er es, daß ein Kaiser ihm den
entfallnen Pinsel aufhob. In würdevoller, imponierender Haltung und Sprechweise
wußte der alte Goethe seine Bedeutung auch äußerlich darzustellen — höher ge¬
adelt durch Genie und Leben als durch den kaiserlichen Adelsbrief.
Tritt einmal die Jugend so fertig, „altklug" und gemessen auf, so spricht sich
darin nicht ihr Lebensgefühl, sondern höchstens ihre gute Erziehung aus; und solche
Annahme der vornehmen Altersformen gibt den Jungen immer etwas Greisenhaftes.
Man betrachte nebeneinander die jungen Stuarts van Dycks und die Söhne von
Rubens. Dort gibt der früherschöpfte Dyck. der Jugendkraft und jugendliches
Empfinden in Italien ließ, zwei Söhne alten adlichen Bluts, die das Ideal
der Vornehmheit in der selbstverständlichen Haltung und Miene reifer Jahre suchen —
hier malt der ewigjunge und warmblütige Rubens seine Söhne, Kinder dem Alter
und dem Herzen nach. ^ . ^» ^ -
^ Etwas beängstigendes hat die formale Frühreife eines argen Kunstlos,
Während die Beherrschung des Technischen für das Alter das Natürliche se. D e
Weisen Künstler können aber nicht nur, was sie wollen, sie freuen sich dessen auch.
S° fügt sich die Lust am Technischen dem Bilde der Alterskunst ein. Die Form
tot als Selbstzweck auf. und die Kunst steht an der Grenze der Künstelei Die
d elgepriesnen und vielgelästerten Faustverse des greisen Goethe erklaren sich formell
als Ausdruck solcher Meisterschaftsgefühle des Alters.
Mit dieser Beherrschung des Technischen kann sich nun aber zugleich eine
Auflösung der Form verbinden. Diese merkwürdige Erscheinung erklärt sich vielleicht
aus dem Gefühl des Alters für das Erhabne und Unfaßbare. Rückwärts schauend
preßt der Greis die Fülle der Lebensweisheit, seinen Sinn des Lebens, in die
engen Grenzen der künstlerischen Form, vorwärts gewandt sucht er die nahen Rätsel
des Jenseitigen und Übersinnlichen durch Auflösung der strengen Formen gleichsam
doch in eine Form zu bannen. Das Unsagbare soll gesagt, das Unbeschreibliche
soll beschrieben werden. Vielleicht wurde der alte Michelangelo deshalb der „Vater
des Barocks", weil die Auflösung der strengen und begrenzten Renaissanceformen
ihm einzig und allein die Möglichkeit bot, für die Weite, Tiefe und Erhabenheit
seiner Stimmungen einen Ausdruck zu finden. Wo aber Poesie und bildende
Künste an den Grenzen ihrer Ausdrucksfähigkeit stehn, beginnt das Reich der Musik.
Wort und Form, Farbe und Stein weichen dem Tone. So löst sich die Dialog¬
form im zweiten Faustteil allmählich in Wechselgesänge zwischen Chor und Chören
und Gestalten auf: das Drama wird zur Oper.
Zur rechten Zeit ist diese neue (32.) Auflage des
allbekannten und bewährten Reisehandbuchs (K. Baedekers Südbayern, Tirol und
Salzburg, Ober- und Niederösterreich, Steiermark, Kärnten und Krain. Leipzig, 1906)
erschienen. Selbstverständlich bringt es eine Reihe von Verbesserungen und Nach¬
trägen im Texte. So ist eine Reihe neuer Unterkunftshütten für die Hochtouren
aufgeführt, die neuen Alpenbahnen sind aufgenommen und eingezeichnet, vor allem
die soeben eröffnete Vintschgaubcchn Meran-Mals, die einen bequemen Zugang
zur Reschenscheideck und damit zum untern Engadin vom Süden her eröffnet, so¬
dann zwei wichtige Teilstücke der neuen Touernbahn, die schon im September vorigen
Jahres dem Verkehr übergebne Linie Schwarzach-Se. Veit bis Bad Gastein und die
demnächst zu eröffnende Strecke von den Karawanken bei Aßling im Savetale durch
den Wocheiner Tunnel nach Görz und Trieft. Nach ihrer Vollendung (voraus¬
sichtlich 1908) wird diese an landschaftlichen Schönheiten überreiche Bahn die kürzeste
Linie von Salzburg nach Trieft (und Venedig) bilden und auch die eines Besuchs
so sehr würdigen südöstlichen Alpenländer Steiermark, Kärnten und Krain, die man
jetzt nur über den Brenner oder über Linz oder Wien erreichen kann, zugänglicher
machen. Von neuen Karten seien besonders die des Küstenlandes um Görz und
Trieft und der nähern Umgebung von Berchtesgaden hervorgehoben. Die Einteilung
ist die alte geblieben, es wird also z. B. die Brennerroute, da Nord- und Süd¬
tirol getrennt behandelt werden, in drei Teile zerrissen, was für die zahlreichen
Reisenden, die wenigstens bis Bozen durchführen, etwas unbequemes hat. Schließlich
geben wir der Erwägung anheim, ob es sich nicht empfehlen würde, die historischen
Mitteilungen etwas ausführlicher zu gestalten. Es ist nicht jedermanns Sache, auch
nicht wissenschaftlich gebildeter Leute, sich eine für ein fruchtbringendes, nicht nur
auf „Naturkneipen" beschränktes Reisen das zum Verständnis Notwendige über die
Geschichte Tirols, Salzburgs, Steiermarks, Kärntens, der Brennerstraße, der
wichtigern Städte, deren Denkmäler sich doch jedem denkenden Reisenden aufdrängen,
aus Handbüchern mühsam zusammenzusuchen. Den Umfang des Buches würden solche
Z
KMs ist noch nicht allzulange her, als Leute, die und kolonialen Eisen¬
bahnprojekten hervortraten, überall verschlossene Türen fanden,
oder wenn sie sich so leicht nicht abweisen ließen, beinahe nicht
für ganz normal gehalten wurden. Den offiziellen Kolonialkreisen
steckte die Ära Caprivi noch in den Gliedern, und niemand wagte
sich an durchgreifende Maßnahmen zur Erschließung unsrer Kolonien heran.
Nur sich nicht mit aussichtslosen Vorlagen blamieren, das war der Grundton
unsrer Kolonialpoltik — nicht mit Unrecht, denn mit dem Reichstage war in
kolonialen Dingen schlechterdings nichts anzufangen. So guckte man denn da
und dort — notabene, wenn es nichts kostete —, meist mit wenig Glück, den
Engländern einiges ab und war im übrigen froh, wenn man alljährlich seinen
üblichen Etat bewilligt bekam, der so zaghaft wie möglich aufgestellt wurde.
Aber das richtige Fluidum fehlte, das Geld, den weiten Gebieten unsrer Kolonien
Leben einzuhauchen. Es fehlte an einem weitgehenden Entgegenkommen des
Mutterlandes, unserm Kolonialbesitz, wenn auch unter Opfern, zu Verkehrs¬
mitteln zu verhelfen, die geeignet waren, den privaten Unternehmungsgeist an¬
zuregen und ihm eine gewisse Gewähr für erfolgreiche Arbeit zu bieten. Die
kolonialen Kreise waren zwar keineswegs untätig, aber sie fielen von einem
Extrem ins andre und konnten den goldnen Mittelweg nicht finden. Heute zu
zaghaft, verlangten sie morgen zuviel.
Erst fortgesetzte Fehlschlüge mußten der öffentlichen Meinung gewaltsam
die Augen darüber öffnen, wieviel in unsern Kolonien auf dem Spiele steht,
und daß es so nicht fortgehn konnte. Auch bei der Volksvertretung begann
man unter dem Eindruck der Nackenschläge in Südwestafrika einzusehen, daß
an den Mißerfolgen in den Kolonien nicht so sehr die Kolonien selbst oder die
handelnden Personen schuld waren als vielmehr das ganze System, diktiert
durch das geringe Entgegenkommen des Mutterlandes.
So begann denn im vorletzten Jahre im Reichstag eine noch nie da-
gewesne Bewilligungsfreudigkeit, die auch sonst allen Kolonialforderungen grund¬
sätzlich ablehnend gegenüberstehende Parteien ergriffen hatte. Eine Kolonie nach
der andern präsentierte ihre vernünftigerweise in bescheidnen Grenzen gehaltnen
Eisenbahnwünsche — Ostafrika, Togo, Kamerun — und bekam sie beinahe
schmerzlos erfüllt. Die Kolonialfreunde frohlockten und sahen im Geiste das
goldne Zeitalter der Kolonialpolitik herausziehn.
Der Rückschlag blieb nicht aus und zeigte deutlich, auf wie schwachen
Füßen die Kolonialfreundlichkeit des Reichstags denn doch noch steht, wenn
sie ein kräftiges Wort eines Negierungsvertreters — im Reichstag ist man an
solche Töne eben noch nicht gewöhnt — umblasen konnte. Der Reichstag ist
zudem sehr kritisch geworden, zu kritisch fast für unsre noch im argen liegenden
kolonialen Verwaltungsverhältnisse.
Die Regierung wird gut tun, viel guten Willen in der Abstellung von
Mißständen, aber ebensoviel Festigkeit in der Vertretung berechtigter Wünsche
der Kolonien zu zeigen. Auch den kolonialen Kreisen des deutschen Volks ist
dringend zu raten, die Politik der Sammlung einzuschlagen, sich über die bei
der Erschließungsarbeit einzuschlagenden Wege nach reiflicher Überlegung zu
einigen, wohlbegründete und durchdachte Pläne und Wünsche dann aber auch
mit Konsequenz zu verfechten und durchzuführen. Die Volksvertretung muß mit
der Zeit die Überzeugung gewinnen, daß die von der Regierung eingebrachten
Kolonialvorlagen auf Grund gewissenhafter und nüchterner Beurteilung der
wirklichen Bedürfnisse der Kolonien zustande gekommen und dreimal gesiebt in
ihre Hände gelangt sind. Dieser Grundsatz gilt namentlich auch für die koloniale
Verkehrspolitik. Von der Entwicklung des Verkehrs durch Eisenbahnen
hängt die Zukunft unsrer afrikanischen Schutzgebiete ab. Andre Verkehrsmittel
kommen, wie die Verhältnisse nun einmal liegen, kaum in Betracht. Größere,
das ganze Jahr hindurch brauchbare Wasserstraßen gibt es in unsern Kolonien
nicht; was hier und da vorhanden ist, genügt zur Not örtlichen Bedürfnissen.
Es gibt zwar auch ältere Karawanenstraßen, doch scheiden diese für unsre heutige
Erschließungstätigkeit aus. Sie waren im Zeitalter der Sklaven, als die Trüger
selbst eine am Endpunkte der Reise gewinnbringende Ware darstellten, rentabel,
heute müssen die Träger verhältnismäßig hoch entlohnt werden, und so bleiben
nur Produkte mit hohem Marktwerte konkurrenzfähig; die gewöhnlichen afri¬
kanischen Massenprodukte sind auf weitere Entfernungen ausgeschlossen. Auch
laufen diese alten Karawanenstraßen häufig den deutschen Interessen direkt zu¬
wider, da sie sich nicht an die politischen Grenzen halten, die dank früherer
gedankenloser Abgrenzungspolitik allzuhüufig mit den wirtschaftlichen Grenzen
nicht zusammenfallen.
Also Eisenbahnen! Hier erhebt sich aber die nüchterne Frage: Was be¬
zwecken wir mit unsern Kolonialbahnen, was können wir demnach dafür aus¬
geben? Jahrelang hatten die Riesenunternehmen der Engländer — die ägyptische
Sudanbahn, die Ugandabahn, die Bahnen der Kapkolonie usw. — unsern
Kolonialkreisen die Sinne verwirrt. Hartnäckig verschloß man sich der Erkenntnis,
daß die dort maßgebenden Verhältnisse mit den unsrigen gar nicht zu vergleichen
sind. , Dort ein Reich, dessen nationale Produktion mit seinem Kolonialbesitz
steht und fällt, für das die vollkommene politische Beherrschung des überseeischen
Besitzes eine Lebensfrage ist, das also in seine koloniale Bilanz politische Werte
einstellen muß. Dort ein Kolonialbesitz mit zweifellos hohem wirtschaftlichem
Werte — man denke an die Gold- und die Diamantenproduktion Transvaals, die
hochentwickelte, zum Teil uralte landwirtschaftliche Produktion der Kapkolonie,
Natals und Ägyptens. Man vergesse nicht, daß die Ugandabahn erst in zweiter
Linie wirtschaftlichen Motiven ihr Dasein verdankt.
Es mag unserm nationalen Selbstgefühl schmerzlich sein, aber wir müssen
uns eingestehn, daß der englische Maßstab bei der Erschließung unsrer
Kolonien nicht angelegt werden darf. Abgesehen von den ideellen Motiven
bei Erwerbung unsers Kolonialbesitzes, dem deutschen Volke das navissMö
nsvgsss 68t, zu illustrieren und unserm Seehandel ein moralisches Rückgrat zu
geben, verfolgen wir in unserm Kolonialbesitz nur rein wirtschaftliche Inter¬
essen. Er soll unsrer überschüssigen Volkskraft, unserm Kapital innerhalb der
deutschen Grenzpfühle ein Arbeitsfeld und eine Existenzmöglichkeit bieten, er
soll einen Teil der heimischen Produktion in sich aufnehmen und uns mit
der Zeit mit seinen Produkten bis zu einem gewissen Grade vom Ausland
unabhängig machen. Aber unsre Kolonien sind kein unentbehrlicher, nicht
einmal ein bedeutender Teil der heimischen Volkswirtschaft, von ihrem Vor¬
handensein hängt die Existenz des Deutschen Reiches nicht ab, wie dies im
Gegensatz dazu bei England im Verhältnis zu seinen Kolonien der Fall ist.
Dies ist der Sinn unsrer Kolonialpolitik, und danach sind die Kolonien im
Rahmen unsrer heimischen Wirtschaft zu behandeln.
Hiernach muß auch die koloniale Eisenbahnpolitik beurteilt werden. Für
jedes Kolonialgebict, sei es nun aus wirtschaftlichen oder aus politischen
Motiven erworben, spielen die Verkehrswege die Hauptrolle. Ohne sie ist eine
Nutzbarmachung der schlummernden Produktionskräfte, sie mögen so reich sein,
Wie sie wollen, unmöglich. Die in einem Lande ruhenden Naturschätze sind
für dieses nur in dem Grade von Wert, als sie rasch und billig dem Markt
zugeführt werden köunen. Je hochwertiger die vorhandnen Produkte aller¬
dings sind, desto höhere Werte lassen sich in den Verkehrsmitteln anlegen.
Der Bau von Eisenbahnen in den Tropen kann nur da in Betracht kommen,
es sich aus politischen Gründen darum handelt, ein schnelles und zuver¬
lässiges Verkehrsmittel zu schaffen, oder wo das zu erschließende Gebiet wirt¬
schaftlich so hochwertig ist, daß sich das verhältnismäßig teure Mittel des
Eisenbahnbaus rechtfertigen läßt. In allen Teilen Afrikas sind in den letzten
fünfzehn Jahren so viele Kolonialbahnen gebaut worden, daß ein reiches
grundlegendes Material für die wirtschaftliche und technische Beurteilung der
einzelnen Projekte gewonnen werden konnte. Es würde zu weit führen, hier
auf die Einzelheiten (Baukosten, Spurweite usw.) näher einzugehn. Es mag
deshalb auf das bekannte Buch von Hans Meyer*) verwiesen werden, worin
das gewonnene Material in übersichtlicher und zuverlässiger Weise ver¬
arbeitet ist.
Ein Punkt muß hier erwähnt werden, der in den deutschen Kolonien eine
große Rolle spielt: die Länge der Kolonialbahnen, deren Rentabilitätsgrenze.
Die Wirklichkeit zeigt, daß bei 75 vom Hundert aller Kolonialbahnen die
Länge weniger als 400 Kilometer betrügt, bei 25 vom Hundert 400 bis
700 Kilometer, nur bei zwei Bahnen mehr als 900 Kilometer. Diese letzten
zwei sind aus vorwiegend politischen Motiven gebaut worden: die Uganda¬
bahn und die ägyptische Sudanbahn. Dies ist nicht etwa Zufall, sondern
in zwingenden wirtschaftlichen Tatsachen begründet. Hans Meyer gibt dazu
in seinem Buche ein lehrreiches Rechenexempel. Wenn man die für Afrika
vorwiegend als Massenansfuhrprodukte in Betracht kommenden Ölfrüchte (Erd¬
nüsse, Palmkerne usw.) als Transportgegenstünde und Hamburg als Einfuhr¬
platz annimmt, so ergibt sich bei 500Wilometern Bahnlänge folgende Rech¬
nung: Einkaufspreis beim eingebornen Händler 150 Mark, dazu Bahnfracht
für 500 Kilometer zu 10 Pfennig für die Tonne (durchschnittlicher Minimal¬
satz der afrikanischen Bahnen), also 50Mark, ferner 30 bis 40 Mark Schiffs¬
fracht, endlich Spesen für Umladung ^' Lagerung, Versicherung usw. Selbst¬
kostenpreis für den Importeur also rund 280 Mark. Der Marktwert beträgt
für die Tonne in Hamburg aber durchschnittlich nur 260 Mark.
Aus dem Vorhandensein solcher billigen Massenprodukte allein läßt sich
eine Kolonialbahn also höchstens für eine Länge von 300 bis 400 Kilometern
rechtfertigen. Die Rentabilitütsgrenze erweitert sich natürlich bei reichlichem
Vorhandensein hochwertiger Produkte wie Kautschuk, Mineralien, Elfenbein
und dergleichen. Immerhin bedarf es aber der peinlichsten und vorsichtigsten
Kalkulation, ehe man über die genannte Grenze hinausgeht. Große Über¬
landbahnen können aber überhaupt nur in Frage kommen, wenn sie auf ihrer
ganzen Länge entwicklungsfähige Gebiete durchziehen und an ihrem Endpunkt
hochwertige Produkte in reichlicher Menge vorfinden — es sei denn, daß man
(wie England) für politische Zwecke baut und in der Lage ist, alljährlich eine
gewisse Summe a könnts xgrcw abzuschreiben.
Für den Bau der Eisenbahnen in unsern deutschen Schutzgebieten waren
und sind nur rein wirtschaftliche Gründe maßgebend, wir müssen uns also an
die schon skizzierten Grundsätze halten. Eine Ausnahme läßt sich in Süd¬
westafrika machen, wo eine Eisenbahn nach Windhuk existiert, die zunächst
rein strategischen Zwecken dienen sollte, und wo wir im Begriff sind, eine
zweite Bahn dieser Art zu bauen (Lüderitzbucht-Keetmanshoop). Für Süd-
Westafrika läßt sich eine solche Ausnahme um so mehr rechtfertigen, weil das
Gebiet immer mehr mit Europäern besiedelt werden soll, denen die notwendige
politische Sicherheit unbedingt gewährleistet werden muß. Auch die wirtschaft¬
liche Rechtfertigung wird wohl nicht ausbleiben, wenn erst die Ausbeutung
der dort vorhandnen reichen Mineralschätze und eine lebhaftere Besiedlungs¬
tätigkeit im Gange sind.
Die sich im Bau oder in Vorbereitung befindenden Bahnlinien in Togo
und in Kamerun werden zweifellos ihren Zweck erfüllen, denn beide erschließen
entwicklungsfähige, von einer intelligenten, betriebsamen Bevölkerung bewohnte
Gebiete. Beide finden auf ihrem Wege Produkte, die einen höhern Marktwert
haben als die gewöhnlichen Ölfrüchte, und ihr Weiterbau ins tiefere Innere,
bei der Kamcrunbahn bis Adamaua, ist empfehlenswert. Bei Kamerun müßte
damit allerdings die handelspolitische Abschließung nach der englischen Benue-
Niger-Wasserstraße Voraussetzung sein.
Ein noch ungelöstes Problem ist die Bahnfrage in Ostafrika. Zwar haben
wir seit Jahren die Usambarabahn und die im vorletzten Jahre bewilligte
Stichbahn von Daressalam nach Morogoro in den Ulugurubergen. Aber damit
sind die Hauptaussichten Deutschostafrikas noch nicht ausgenützt. Sie liegen
im reichen zentralafrikanischen Seengebiet. Dieses durch eine Eisenbahn mit
der Küste zu verbinden, ist die dringlichste und wichtigste Aufgabe unsrer
Kolonialpolitik. Da treten aber die gewaltige Entfernung und die schon er¬
wähnte Nentabilitütsgrenze störend dazwischen. Zwar könnte die sich jetzt
im Bau befindende Bahn bis Kilossa weitergeführt werden, aber hier hat sie
nach menschlicher Berechnung ihre Nentabilitütsgrenze erreicht. Was dahinter
liegt, ist zu einem großen Teil entwicklungsunfähiges Land, in dem eine Bahn
umsonst arbeitet. Aussichtsvoll wäre vielleicht eine „Nordbahn" nach dem
Viktoriasee gewesen, wenn uns nicht die Engländer mit ihrer Ugandabahn, die
ebenfalls am Viktoriasee endet, zuvorgekommen wären. Denn die Gebiete, die
diese Bahn (die verlängerte Usambarabahn) zu durchqueren hätte, sind zum
Teil sehr aussichtsvoll, und die hohe Entwicklungsstufe, auf der die Land¬
schaften am Viktoriasee stehn, würde der Bahn ausreichende Beschäftigung
gewährleisten — wenn die Ugandabahn nicht wäre. Die bekannten frühern
Fehlschlüge der Usambarabahn, die schließlich die Übernahme der Bahn durch
das Reich notwendig machten, besagen hierbei heute nichts, denn sie waren
eigentlich nur durch unsre damalige Unerfahrenheit in technischen wie in wirt¬
schaftlichen Dingen verursacht. Es erscheint aber nicht empfehlenswert, dem
Reichstage, bei dem die Kolonialfreundlichkeit, wie wir jüngst bedauerlicherweise
erfahren mußten, noch auf sehr schwachen Beinen steht, das immerhin unsichere
Experiment einer Konkurrenz mit der Ugandabahn zuzumuten, es wäre dies
entschieden eine verkehrte Politik. . ^ c>-
Das Projekt der Usambarabahn war ursprünglich schon in der Form einer
Eisenbahn nach dem Viktoriasee gedacht, dieses Projekt unterlag aber - leider,
möchten wir heute sagen — gegenüber dem einer großen ..Zentralbahn" von
Daressalam nach Udjidji am Tanganjikasee (also der Verlängerung der
heutigen Daressalam-Morogorobahn über Kilossa, Tabora nach Udjidji). Diese
„Zentralbahn" hätte Deutschostafrika ausgerechnet an der breitesten Stelle durch¬
quert, wäre 1400 Kilometer lang geworden und hätte mindestens 120 Millionen
Mark gekostet. Dabei hätte sie, wie schon erwähnt, auf einem namhaften Teil
ihrer Strecke entwicklungsunfähige Gebiete angetroffen, wäre also notorisch
unrentabel geworden. Heute kann man sagen, daß uns durch das Zentralbahn¬
projekt, das jahrelang von seinen Anhängern mit einer Zähigkeit, die einer
bessern Sache würdig war, festgehalten und der Regierung förmlich aufgezwungen
wurde, Jahre nutzlos verloren gegangen sind. Schließlich sorgte der Reichstag
für Ernüchterung.
Nun wandte sich das Interesse der von den bedeutendsten Gegnern der
Zentralbahn, Schweinfurth, Hans Meyer, Herfurth u. a. warm empfohlenen
„Südbahn" von Kilwa nach dem Nyassasee zu. Mit diesem Projekt ist in
der Tat eine Bahnlinie gefunden worden, die in idealer Weise die für Ost¬
afrika hochwichtige Verbindung zwischen der Küste und dem Seengebiet her¬
stellt und dabei relative Kürze mit der Erschließung und der notwendigen
politischen Sicherung aussichtsvoller Gebiete in ihrem ganzen Verlauf ver¬
bindet. Die Südbahn würde rund 670 Kilometer lang werden und schätzungs¬
weise 60 Millionen Mark kosten (gegen 1400 Kilometer und 120 Millionen
Mark bei der Zentralbahn!). Ursprünglich hatte man beabsichtigt, die Trasse
dicht an der portugiesischen Grenze entlang durch das Rowumatal zu führen,
um so die benachbarten Teile des portugiesischen Gebiets mit in den Verkehr
der Bahn zu ziehn und die etwas südlich davon auf portugiesischem Gebiete
geplante Konkurrenzbahn, die etwa 100 Kilometer länger wäre, von vornherein
auszuschalten. Es erschien aber dann doch zweckmäßiger, die Bahn vorwiegend
dem deutschen Gebiete zugute kommen zu lassen, und so entschied man sich für
die vom vorjährigen Aufstand unliebsam bekannte Linie Kilwa-Liwale-
Songea-Wiedhafen, die inzwischen auf Veranlassung des Kolonialwirtschaft-
lichcn Komitees von Paul Fuchs wirtschaftlich und von der Ostafrikanischen
Eisenbahngesellschaft (der Erbauerin der Daressalam-Morogorobahn) technisch
erkundet worden ist. Wenn man die Vorzüge dieser Bahn richtig verstehn
will, ist es nötig, einen Blick auf die Verkehrsverhältnisse des Seengebiets zu
werfen. Der Handel dieses Gebiets geht in der Hauptsache nach zwei Seiten,
in der nördlichen Hälfte über den Viktoriasee nach der Ugandabahn, in der
südlichen Hälfte vom Nyassasee aus über den Schire-Sambesi-Wasserweg. Bei
der notorischen Billigkeit des Wassertransports scheint es auf den ersten Blick,
als ob die Südbahn gegen den Schire-Sambesi-Wasserweg nicht aufkommen
könnte. Dem kann gegenübergestellt werden, daß dieser Wasserweg wegen
der durch Stromschnellen und dergleichen verursachten Umladungen ein sehr
mangelhaftes und teures Verkehrsmittel ist. Der Frachtsatz von Chirbe an
der Mündung des Sambesi über den Schire nach dem Nordende des Nyassa
beträgt für die Tonne 260 Mark. Auf der Südbahn würde er nach der Be¬
rechnung von Hans Meyer von Kilwa bis Wiedhafen (60 Millionen Bau¬
kosten für etwa 700 Kilometer und einen Frachtsatz von 10 Pfennig für den
Tonnenkilometer zugrunde gelegt) nur etwa 70 Mark betragen. Noch günstiger
stellt sich das Verhältnis im Personenverkehr, besonders wenn man die Reise
von Europa aus in Berechnung zieht. Jetzt braucht man von Southampton
über Kapstadt-Durham-Chirbe-Sambesi-Schire nach Wiedhafen mindestens
50 Tage, nach Bau der Südbahn über Neapel-Kilwa höchstens 25 bis 30 Tage.
Zudem wird die Reise etwa 400 Mark billiger.*) Diese Angaben dürften ge¬
nügen, unzweifelhaft darzutun, daß nach dem Bau der Südbahn der gesamte
wertvolle Verkehr des Nyassa- und des südlichen Tanganjikagebiets vom Schire-
Sambesi auf die Südbahn übergehn und dieser unbedingte Rentabilität sichern
würde. Die einsichtsvollen Kolonialkreise werden gut daran tun, ihre Be¬
mühungen zur baldigen Verwirklichung dieses Projekts zu vereinigen. Eile
tut not, denn wenn uns die portugiesische Bahn zuvorkommt, so wäre zum
mindesten ein jahrelanger schwerer Konkurrenzkampf nötig, bis es der Süd¬
bahn gelingen würde, die etwa 100 Kilometer längere Konkurrenzbahn aus
dem Sattel zu heben. Einen Teil des Nyassaverkehrs würde diese der Süd¬
bahn auch dann noch wegnehmen. Wenn wir aber zuvorkommen, so wird
vermutlich das portugiesische Projekt aufgegeben werden.
Ungeachtet dieses günstigen Prognostikons der „Südbahn" spukt wieder
einmal das Zentralbahnprojekt. Nach dem Bericht über die letzten Verhand¬
lungen des Kolonialwirtschaftlichen Komitees sollen demnächst zwei Expeditionen
zur „Erkundung für den Eisenbahnbau im mittlern Deutschostafrika", also der
',Zentralbahn", und zur Erkundung der „Nordbahn" hinausgehn. Der
Kolonialrat hat bei seiner kürzlichen Sitzung dieses Vorhaben gebilligt, und
die Deutsche Kolonialzeitung hat sich infolgedessen in einer der letzten Nummern
veranlaßt gesehen, auf den Busch zu klopfen. In Verbindung damit wurde
die Idee eines groß angelegten Eisenbahnplanes für die Kolonien entwickelt,
die auch in einem bei der neulichen Hauptversammlung der Deutschen Kolonial¬
gesellschaft eingebrachten Antrage zum Ausdruck kam. Und zwar sollte die
^dee in der Weise durchgeführt werden, daß den Kolonien eine große Anleihe
von mehreren hundert Millionen ermöglicht wird. Damit sollen die Kon¬
cessionen der Eisenbahngesellschaften ausgeschaltet werden und deren Gewinn
den Kolonien selbst zugute kommen.
Diese Idee ist an sich sehr schön, aber nicht durchführbar und außerdem un¬
praktisch. Denn erstens haben unsre Kolonien — von Togo abgesehen — noch
"icht den hierzu nötigen Grad von wirtschaftlicher Selbständigkeit erreicht und
nicht die Einnahmen, daß sie die Zinsen für so hohe Anleihen bezahlen könnten.
Zweitens können sich wohl die kolonialen Kreise auf einen bestimmten Plan
einigen (was sogar sehr wünschenswert wäre), aber für den Reichstag ist der
Plan unverbindlich, und dieser wird sich auch nie in Bausch und Bogen auf
einen solchen mehrere hundert Millionen für die Kolonien allein repräsen¬
tierenden Plan festlegen lassen, das ist dem mit den parlamentarischen Ver¬
hältnissen Vertrauten unzweifelhaft. Die Regierung wird immer das nehmen,
was sie bekommen kann. Drittens ist es unpraktisch, Eisenbahnen in noch
unentwickelten Kolonien durch diese selbst bauen und verwalten zu lassen. Von
feiten einer bureaukratischen Eisenbahnverwaltung wird in der Regel nichts für
die Entwicklung der Kolonie geschehen, während eine kaufmännisch organisierte
Privatgesellschaft durch die ihr erteilte Landkonzession selbst an der Hebung
des Verkehrs interessiert ist, schon weil die kleine Zinsgarantie allein kein
ausreichendes Äquivalent für das übernommne Risiko ist. Voraussetzung ist,
daß die mit Eisenbahnkonzessionen verbundnen Landkonzessionen unter scharf
abgegrenzten Verpflichtungen erteilt werden, die eine Mitarbeit der Eisenbahn¬
gesellschaft an der Erschließungstütigkeit gewährleisten und die Herausbildung
irgendwelcher Monopole verhindern. Von einschneidender Bedeutung ist meines
Erachtens bei der Finanzierung die Bemessung der Anteile. Nichts ist besser
geeignet, die Volkstümlichkeit der kolonialen Bestrebungen zu fördern, als die
Möglichkeit für den kleinen Mann, sich an guten Kolonialunternehmungen,
die bis jetzt noch Dominium der Finanzkreise sind, zu beteiligen und so bis zu
einem gewissen Grade aktiv mitzuarbeiten. Bis zu hundert Mark sind wir ja
schon bei unsern neusten Kolonialbahnen heruntergegangen, wir sollten aber den
englischen Pfundshares noch näher kommen. Wenn wir diesen Modus zunächst
bei den mit Zinsgarantie von feiten des Reichs ausgestatteten Eisenbahnunter¬
nehmungen einführen, so brauchen wir auch keine Besorgnis um die „Spar¬
groschen des Volkes" zu hegen. Die aussichtsvollc „Südbahn" wäre eine
günstige Gelegenheit, damit einen Anfang zu machen. Die Vertrüge über den
Eisenbahnbetrieb müssen selbstverständlich Vorschriften, die die Tarifpolitik
regeln, enthalten. Die Beibehaltung dieses Modus scheint uns für Ostafrika
und Kamerun am empfehlenswertesten.
Obiger Vorschlag ist nach meiner Ansicht schon aus dem Grunde zu
verwerfen, weil er zu wenig dem praktischen Leben gerecht wird und nach
parlamentarischen Begriffen in das Gebiet der uferlosen Koloninlpolitik gehört.
Wir würden damit in absehbarer Zeit beim Reichstag nicht durchdringen und
uns durch seine Verfechtung der Gefahr aussetzen, wieder wie mit der Zentral¬
bahn in nutzlosen Kampfe Jahre zu verlieren. Durch ein mißglücktes Eisen¬
bahnunternehmer — und diese Gefahr liegt bei der Zentralbahn mit ihren
120 Millionen Mark Kosten vor! — würden wir den Kredit unsrer Kolonien
bei der öffentlichen Meinung dauernd untergraben.
Bleiben wir deshalb bei der nun einmal als unzweifelhaft aussichtsvoll
erkannten „Südbahn", bleiben wir bei dem kaum erst gewühlten System:
Eisenbahnkonzessionsgesellschaften.
Mit ewigem Hin- und Herpendeln von einem Projekt zum andern, mit be¬
ständigen Systemwechseln erwecken wir bei der Öffentlichkeit und beim Reichstage
nur den Eindruck, als ob die koloniale Bahnfrage überhaupt noch nicht spruchreif
wäre — zum Schaden unsrer Kolonien. Wenn die kolonialen Kreise nicht wissen,
was sie wollen, so können sie dem Reichstage seine Sprödigkeit nicht verübeln.
Oisons moniti!
!le Aufzeichnungen des Prinzen Kraft zu Hohenlohe - Ingel-
fingen: Aus meinem Leben (Berlin, E. S. Mittler u. Sohn)
gehören auch in ihrem vor kurzem (1906) erschienenen dritten
Teile (Die Kriege 1864 und 1866 — Friedenszeit bis 1870,
mit einem Titelbilde und vier Skizzen im Text) zu den inter¬
essantesten und lebensvollsten Beiträgen zur Geschichte der Neugestaltung Deutsch¬
lands. Lag das Interesse des zweiten Teils (vgl. Grenzboten 1905, II, 569 f.
629 f.) in den persönlichen Verhältnissen Hohenlohes zu zwei Königen und
in dem Bilde, das er von ihnen auf Grund dieser Beziehungen entwirft, so
betrat er 1864, dem Hauptquartier des Feldmarschalls Wrangel in Schleswig
als Berichterstatter für den König beigegeben, zum erstenmal einen Kriegs¬
schauplatz, und obwohl er noch vor dem Düppelsturme (18. April) wieder ab¬
berufen wurde (5. April), hatte er doch genügend Gelegenheit, Beobachtungen
zu machen und Erfahrungen zu sammeln. Scharf tritt dabei das seltsam
wirkende Charakterbild des alten Wrangel hervor, aber auch die höchst
sympathische Gestalt des Kronprinzen, der dem Feldmarschall als Beirat gegeben
wurde und später die Oberleitung der bisher nichts weniger als musterhaften
Operationen tatsächlich übernahm, und schon damals erkannte Hohenlohe die
Nachteile der „Stoßtaktik", die die Österreicher den Franzosen 1859 abgesehen
hatten. Heimgekehrt wurde er im Juni 1364 zum Obersten des Gardefeld¬
artillerieregiments ernannt. Als solcher hatte er, als mit Ende März 1866
die Kriegsbereitschaft, zu Anfang Mai die Mobilisierung angeordnet wurde,
alle die umfänglichen und mannigfaltigen Geschäfte, die dazu gehören, eine
Truppe „mobil", kriegsfertig zu machen, wie Einziehung der Rekruten und
der Reserven, Ankauf der Pferde u. tgi. zu leiten, dabei aber auch die stolze
Genugtuung, am 12. Mai dem König sein ganzes mobiles Regiment, 96 Ge¬
schütze mit etwa 2400 Pferden in Parade und im Exerzitium vorzuführen, und
Zwar mit dem Bewußtsein, daß es darauf ankomme, dem Monarchen, der so¬
eben vor den schwersten Entschlüssen stand, unbedingtes Vertrauen zu seiner
Armee einzuflößen, und das gelang vollständig. Beim Ausmarsch wurde das
Regiment aufgelöst und in einzelnen Abteilungen an die beiden GardedMsionen
und an Kavalleriebrigaden abgegeben, sodaß Hohenlohe nur 5 Batterien mit
30 Geschützen und den Munitionskolonnen Anfang Juni ins Feld führte. Ehe der
Ausmarsch begann, versammelte der König die Generale und die Kommandeure
des Gardekorps in seinem Palais zu einer kurzen, nachdrücklichen Ansprache,
die „durch Mark und Bein ging". Da das Gardekorps zunächst der Ersten
Armee unter dem Prinzen Friedrich Karl, die sich in der Lausitz sammelte,
zugeteilt war, so ging Hohenlohes Marsch nach Kottbus und Guben; erst als
die Garden, weil man einen österreichischen Angriff auf Oberschlesien fürchtete,
der Zweiten Armee (des Kronprinzen) überwiesen wurden, wurde auch diese
Artillerie mit Eisenbahn von Guben bis Brieg befördert und trat von dort
aus über das Schlachtfeld von Mollwitz den Marsch nach der Grenze an, die
sie über Silberberg und Neurode am 26. Juni unter dem Jubel der nunmehr
von aller Furcht befreiten Grenzbewohner Schlesiens erreichte und am 27. Juni
in der Richtung auf Braunau überschritt, weit hinter der Hauptmasse des
Gardekorps, wie es damals das von Hohenlohe von jeher als verkehrt be¬
zeichnete Reglement vorschrieb. An demselben Tage wurde das erste Armee¬
korps (Bonin) nördlich davon bei Trautenau zurückgeworfen und siegte Steinmetz
mit dem fünften weiter südlich bei Nachod. Ohne etwas davon zu wissen,
dirigierte Hohenlohe sechs seiner schwerfälligen Munitionskolonnen, 150 Wagen,
auf Trautenau, wo sie nur durch die Geistesgegenwart ihres Führers der
Gefahr entgingen, geradeswegs in die Österreicher hineinzufahren; er selbst mit
seinen Batterien marschierte zwischen jenen beiden Anmarschstraßen auf Kosteletz,
traf hier mit dem Kronprinzen und seinem Generalstabschef Blumenthal zu¬
sammen und beobachtete aus der Ferne das Gefecht von Soor, das die Garden
den Österreichern lieferten, beide mit verkehrter Front, sodaß Hohenlohe lange
Zeit über die Zugehörigkeit der Truppen auf beiden Seiten im unklaren blieb,
während von Süden her der Kanonendonner von Skalitz grollte, wo Steinmetz
zum zweitenmal siegte.
Am nächsten Tage, 29. Juni, erstürmten die Garden Königinhof und
sicherten damit den Übergang über die Elbe, aber auch diesesmal kam Hohenlohe
infolge der Marschordnung zu seinem grimmigen Ärger nicht zum Schuß und
mußte nun drei lange müßige Tage (30. Juni bis 2. Juli) im Biwak bei
Königinhof im Regen liegen bleiben, da die Österreicher mit sechs Armeekorps
auf dem Hochplateau von Dubenetz eine sehr feste Stellung behaupteten und
der Kronprinz deshalb die Elbe nicht eher überschreiten wollte, als bis die
Erste Armee und die Elbarmee näher heran seien. Ohne Ahnung dessen, was
unmittelbar bevorstand, veranstaltete Hohenlohe am 2. Juli eine Abendmahls¬
feier für seine Truppen, die sich sehr eindrucksvoll gestaltete, und der auch das
katholische Landvolk der Umgegend andächtig beiwohnte. Aber am 2. Juli be¬
zogen die Österreicher ihre neue Stellung auf dem welligen Hügellande hinter
der Bistritz und der Trotina westlich von Königgrätz, und in der Nacht erhielt
der Kronprinz Befehl, sie mit aller Macht von Norden her anzugreifen. Früh
sieben Uhr wurde Hohenlohe alarmiert, Diesesmal setzte er durch, unmittelbar
hinter der ersten Gardedivision (Hiller von Gärtringen) marschieren zu dürfen;
dann, als der Kanonendonner von Westen her immer heftiger wurde, jagte
er querfeldein an ihr vorbei an die Spitze und sah auf der Höhe von
Chotjeborek, neben dem Kronprinzen haltend, die wogende Schlacht vor sich.
Auf die berühmten Linden bei Horschenowjes weisend, sagte ihm der Kronprinz
mit dem Scharfblick des echten Feldherrn: „Meinem Vetter Fritz Karl geht es
schlecht. Ich habe Meldung, er braucht dringend Hilfe. Ich habe nur zwei Wege.
Entweder ich marschiere zu ihm, der Weg ist aber zu weit, und ich komme
zu spät, oder ich marschiere gerade aus und greife Flanke und Rücken des
Feindes an. Sehen Sie diesen großen Baum, der ist der rechte Flügel der
Österreicher, den lassen Sie rechts. Knallen Sie bald tüchtig, damit Fritz Karl
hört, daß ich da bin." Wie nun Hohenlohes Batterien von Stellung zu
Stellung vorgehn — kurz nach zwölf Uhr fiel der erste Schuß —, immer gegen
eine weit überlegne österreichische Artillerie — wie er persönlich den Angriff
der ersten Gardedivision auf die Lindenhöhe im Granatfeuer begleitet, den
ersten Jnfanterieangriff, den er sah, wie er, dem kühnen Vorstoß Hillers
folgend, endlich mühsam mit erschöpften Pferden auf das Plateau von China
hinaufkommt und dort mit 48 Geschützen 128 österreichischen im furchtbarsten
Granatenhagel gegenüber steht, die ganze Reserve Benedeks, zwei Armeekorps
und mehrere Kavalleriedivisionen unter sich, ein hinreißend prächtiger Anblick, das
alles wird mit einer dramatischen Lebendigkeit und einer malerischen Anschaulich¬
keit geschildert, die das volle überzeugende Bild einer modernen Schlacht gewährt
und kaum übertroffen werden kann. So hatte Hohenlohe durch sein kühnes
selbständiges Draufgehn sehr wesentlich zu dem Gewinn der ungeheuern Schlacht
beigetragen. Im spätern Verlauf des Feldzuges, der ja damit entschieden war,
kam er nicht mehr ins Gefecht, fand also auch keine Gelegenheit mehr zu
solchen Schilderungen. Neben solchen dramatischen Momenten wird aber auch
alles das, worauf ein Truppenführer zu achten hat, abgesehen vom Kampfe,
das Exerzieren, die Ordnung des Marsches, die Verpflegung und die Ein¬
quartierung von Menschen und Pferden, deren Gefechts- und Marschfähigkeit
Zu erhalten immer die höchste Aufgabe ist, die scharfe und unbefangne Beob¬
achtung alles dessen, was die Erfahrung bei Marsch und Gefecht lehrt, und
was rasch dazu führt, den „Friedensrost" abzustreifen und unerbittliche Kritik
SU üben, auch an sich selbst, das wird auch dem Laien klar. Zum Schlüsse
des Krieges erlebte Hohenlohe noch in Prag (19. bis 29. August) das furcht¬
bare Wüten der Cholera, von der er selbst befallen wurde. Mit 44 Mann war
sein Stab eingerückt, mit 22, von denen nur 5 ganz gesund waren, verließ
er die unheimliche Stadt, und von den 22 andern starben 17!
Der letzte Teil des Bandes beschäftigt sich mit der Friedenszeit von 1867
bis 1870, die er selbst schon als eine Vorbereitung zum unvermeidlichen Kriege
gegen Frankreich betrachtete. In diesem Gefühl sah er die Zusammenkauft Kaiser
Franz Josephs und Napoleons des Dritten in Salzburg (August 1867) mit
an, und er verkehrte viel mit dem bekannten französischen Militärbevollmächtigen
Baron stosset. Mit der russischen Fürstin Galizin hatte er schon 1865 in
Reichenhall folgendes interessante Gespräch gehabt: Vou8 eormaissW ?Aris
NÄturslIsinsut? — llig-äg-ins! — Osinlnsut? ?ourauoi n'^ avss-vous
MniÄis 6t^? — ?aros<zus ^Ättsnäs 1s inomsut ä'altfr so ?rauss »oso Iss
Stuss, et Hus ^s Hg msttrai xas 1s xieä sur 1s xg,v«z as av^ut ä'z^ svtrsr
ÄVöv 1'^russ viotorisuss. — VoM uns rsxouss v^ritÄblsinsut ?lo.ssisllus. —
n unsernr östlichen Nachbarreiche herrscht noch immer offne Revo¬
lution. Der Zar hat zwar unter dem 30. Oktober 1905 seinem
Volke die moderne europäische Verfassung versprochen, aber es
ist trotzdem nicht nur keine Beruhigung der Gemüter eingetreten,
sondern die Gärung wächst von Woche zu Woche zusehends, und
kein Mensch kann im Augenblick voraussagen, wohin die Verhältnisse noch
treiben werden. Diese revolutionäre Bewegung ist jedoch durchaus nicht einheit¬
lich, es sind vielmehr die verschiedensten, oft gerade entgegengesetzten Be¬
strebungen, die jetzt an der Oberfläche erscheinen: da sind die Sozialdemokraten,
an Zahl zwar gewiß nicht allzu groß, aber um so radikaler in dem Wunsche,
das Zarentum abzuschaffen und die demokratische Republik aufzurichten; da sind
ferner die Liberalen, die mit den Sozialdemokraten wenigstens insofern zusammen-
gehn, als sie eine Bürgschaft für die Dauer der kaiserlichen Versprechungen
haben wollten und deshalb das Verlangen stellten, daß eine souveräne Duma
berufen werde, vor allem zu dem Zweck, eine Konstitution selbst festzusetzen.
Da sind die Juden, die sich von dem furchtbaren auf ihnen lastenden Drucke
gewaltsam befreien wollen, auf die dann wieder von einigen Gouverneuren die
hungrige Menge wie auf ein gehetztes Wild losgelassen wird mit der Absicht,
dem russischen Volke weiszumachen, daß jene die alleinige Schuld an dem
Aufruhr tragen; da sind endlich ganz konservative Leute, die sich aber, um den
Zaren zu retten, wutentbrannt auf die Feinde des Absolutismus stürzen und
dadurch doch auch zur allgemeinen Verwirrung beitragen. In welcher Übeln
Lage sich die Regierung befindet, mag man daraus ermessen, daß sie sogar
nicht mehr auf die Truppen zu Wasser und zu Lande rechnen kann, und daß
der Massenstreik, den man in Jena noch vor einem Jahre mehr vom theoretischen
Standpunkt aus behandelte, in Rußland schon zur Wirklichkeit geworden ist,
ja daß sich hier Kreise dem Streik angeschlossen haben, von denen man das
gewiß niemals erwartet Hütte, nämlich die Schulen, die Banken, die Rechts¬
anwälte und die Apotheken. Aber damit sind die Verlegenheiten der Negierung
noch lange nicht erschöpft. Es kommen die Freiheitsbestrebungen der unter¬
jochten Völker, der Polen, der Litauer, der Finnlünder, der Tataren, der
Armenier hinzu, und neuere Schriftsteller sprechen schon von der Notwendig¬
keit, einen russischen Bundesstaat zu begründen; und was noch viel schlimmer
ist, als alles das zusammengenommen: was soll aus den hundert Millionen
Bauern werdeu, die den Grund und Boden als gemeinschaftliches Eigentum
seiner Bebauer betrachten und sich, da sie fast an beständiger Hungersnot leiden,
nunmehr, wo die Verhältnisse günstig für sie liegen, an den Kron- und den
Adelsgütern vergreifen werden? Verwandelt dagegen die Regierung den bäuer¬
lichen Acker in Sondereigentum, so wird wieder die gesamte wirtschaftliche Grund¬
lage des Reichs untergraben, sodciß uicht abzusehen ist, wie die Sache enden soll.
Alle diese Erscheinungen haben selbstverständlich ihre Ursachen, die teilweise
weit, zuweilen Hunderte von Jahren zurückliegen; sie völlig zu ergründen und
zahlenmäßig nachzuweisen, ist vorderhand und noch lange Zeit unmöglich. Aber
in hohem Maße interessant dürfte es in den heutigen Zeitläufen sein, sich ein
Bild von den französischen Zustünden vor der Revolution von 1789 zu ver¬
gegenwärtigen, nicht als ob diese Zustünde mit den jetzigen russischen irgend¬
welche Ähnlichkeiten aufwiesen, sondern weil an einem lehrreichen Beispiel gezeigt
werden kann, wie ein großes Volk allmählich zum Selbstbewußtsein erwacht,
die eignen geistigen und physischen Kräfte kennen lernt und von ihnen einen
guten oder einen schlechten Gebrauch macht. Das vortreffliche Werk von
Adalbert Wahl,*) der sich schon durch andre Vorarbeiten und Studien auf
demselben Gebiet einen Namen gemacht hat, setzt uns eigentlich zum erstenmal
ni den Stand, die Ereignisse vor 1789, die zur Revolution führten, in be¬
friedigender Weise zu beurteilen. Denn der sonst so bewunderungswürdige
Tocqueville irrt doch mit seiner Behauptung, „daß die Revolution aus dem,
was von ihm geschildert worden sei, von selbst hervorgegangen sei". Taine
ferner, dessen Ausführungen an Einseitigkeiten und Übertreibungen leiden, ist
nichts weniger als ein guter Erzähler; Sybel endlich gibt in seiner Geschichte
der Revolutionszeit als Einleitung zu dieser nur einen summarischen Überblick,
ohne sich auf Einzelheiten einzulassen, und kann deshalb heutzutage nicht mehr
genügen; Wahl nennt ihn im Texte seines Werkes überhaupt nicht. Erschließt
den ersten Band, der bisher allein erschienen ist, mit den: Hinweise, daß Calonne
unt der Berufung einer Notabelnversammlung zu Ende des Jahres 1786 das
Signal des Zusammenbruchs gegeben habe. Verfolgen wir bis dahin die Zu¬
stünde und die Ereignisse der Vorgeschichte der großen Revolution!
Der moderne Absolutismus schrieb sich in Frankreich schon von den Zeiten
Ludwigs des Elster, Franz des Ersten und Heinrichs des Zweiten her, seine
völlige Ausbildung erhielt er aber erst durch den Kardinal Richelieu. Was
bis dahin an Staatseinrichtungen geschaffen worden war, bestand im wesent¬
lichen auch noch unter der Regierung Ludwigs des Fünfzehnten. Neben dem
König, in dem sich alle Machtflllle vereinigte, bildeten der Große Rat und die
Minister, die je nach ihren Persönlichkeiten größern oder geringern Einfluß
hatten, die Zentralregierung in der Hauptstadt. Zum Zwecke der Landes¬
verwaltung war Frankreich schon seit dem sechzehnten Jahrhundert in einund¬
dreißig Generalitäten (Provinzen) geteilt worden. Bezirke von überaus ver-
schiednen Umfang, an deren Spitze seit Richelieu der Intendant mit
außerordentlichen Befugnissen stand. Hatte dieser höchste Provinzialbeamte im
Grunde nur die Befehle des Ministeriums auszuführen und nur vorläufige
Entscheidungen zu treffen, so sah andrerseits die Regierung doch „nur mit
seinen Augen" und genehmigte regelmäßig alle seine Maßnahmen ans dem ge¬
samten Gebiete der Militär- und der Zivilverwaltung. Überdies hatte er die
Kontrolle über die Grundherren (ssiAneurs), Stadtgemeinden und Gerichte.
Aber er war und blieb ein absetzbarer, der Regierung unbedingt unterworfner
Beamter, ein Kommissar, auf den die Inhaber von ordentlichen Ämtern mit
Verachtung hinabsahen.
Bei jeder Verfassung kommt es weniger darauf an, wie sie beschaffen ist,
als vielmehr darauf, in welcher Weise sie gebraucht wird; am meisten gilt dieser
Satz von einem absolut regierten Staatswesen. Es fragt sich deshalb, was
für eine Persönlichkeit Ludwig der Fünfzehnte gewesen ist. Er war jedenfalls
kein herzloser, bösartiger oder habgieriger Herrscher, aber haltlos, schwach und
von seiner Umgebung völlig beeinflußt; ihm fehlte jegliches Selbstvertrauen,
und einem tatkräftigen Widerstande gegenüber zeigte er geradezu Furcht. Seine
Geliebten, die ihn nacheinander beherrschten, die Mailly. die Pompadour, sogar
die verworfne du Barry, hinderten nicht, daß immer noch tüchtige Männer zu
den Staatsgeschäften zugelassen wurden; aber wie unwürdig war es für diese
Räte, einem Hofe zu dienen, der zum Bordell hinabgesunken war, zumal als
der greise Herrscher in immer gierigerer Lüsternheit und ausschweifenderer
Sinnlichkeit verkam. Das war es auch, was dem Könige, der einst von seinem
Volke so sehr geliebt wurde, schließlich den größten Haß eintrug. Und doch:
Ludwig der Fünfzehnte verlor keineswegs das Interesse an den Staats¬
geschäften ; er arbeitete, wenn auch nicht regelmäßig, so doch angestrengt in der
innern und vor allem in der äußern Politik, die er überhaupt nicht aus den
Händen gab. Auch das ist ein weitverbreiteter Irrtum, daß er seine Ratgeber
aus dem hohen Geburtsadel entnommen habe, der in glänzend bezahlten
Stellungen am Hofe lebte, sich in Himmelblau und Rosa kleidete, tändelte,
witzelte und eigentlich nichts nützliches tat, aber dafür auch seine frühere
Freiheit und Unabhängigkeit verloren hatte und darum dem Königtum nicht
mehr schadete. Die eigentlichen Staatsbeamten gingen vielmehr aus bürger¬
lichen Familien hervor, die wie einst in Rom viele Plebejerfamilien einen
Amtsadel ausmachten und sich meist durch Arbeitsamkeit, Ehrlichkeit und
Tüchtigkeit auszeichneten. Aber an Schattenseiten fehlte es auch hier nicht:
diese Amtsaristokraten hatten nur juristische Vorbildung und standen doch an
der Spitze der Flotte, des Kriegswesens und andrer Ressorts, zu denen eben
gründliche Sachkenntnis nötig gewesen wäre; auch klebten sie gar zu sehr an
ihren Ämtern und vermieden es ängstlich, mit den bei Hofe angesehenen Kreisen
in Konflikt zu geraten.
Im allgemeinen wurde im Staate Ludwigs des Fünfzehnten viel regiert
und viel geschrieben, aber ein Unterschied gegen frühere Zeiten macht sich doch
bemerkbar: der König besteht nicht mehr so schroff auf seiner absoluten Gewalt
wie Ludwig der Vierzehnte; er redet schon von den „Rechten der Nation" und
widerspricht nicht mehr, wenn ihm bedeutet wird, daß er der erste Beamte in
Frankreich sei, eine Auffassung, die an die Friedrichs des Großen erinnert.
Man erwägt schon den Gedanken an eine Reform der Verwaltung. Aber
vorderhand schien doch nichts hierzu zu drängen. Die Generalstände waren
seit 1614 nicht mehr berufen, konnten also ihren Willen nicht kundtun. Die
Provinzialstände, die Masse des Volks, die Kirche, der Adel lebten im großen
und ganzen mit der Regierung in Frieden. Dagegen gab es eine Körperschaft,
die unter Ludwig dem Fünfzehnten in zunehmendem Maße auf dem Gebiete
der Gesetzgebung und der Besteuerung dem Könige Opposition machte. Es
war dies das Pariser Parlament, der höchste französische Gerichtshof, insofern
als er in gewissen Fällen die Appellinstanz für die übrigen zwölf ihm sonst
gleichgestellten Parlamente war. Die Mitglieder der Parlamente erwarben ihre
Stellen durch Kauf als volles Eigentum und waren deshalb unabsetzbar. Das
vornehmste Recht dieser Gerichtshöfe bestand seit Ludwig dem Zwölften darin,
daß sie die königlichen Gesetze einzuregistrieren hatten, woraus sehr bald der
Schluß gezogen worden war, daß die Gesetze des Königs nur dann Geltung
haben dürften, wenn die Einregistrierung wirklich stattgefunden habe. Das
Pariser Parlament, dessen Sprengel übrigens bei weitem der größte war, ver¬
weigerte nun die Einregistrierung sehr häufig. Um es hierzu zu zwingen, hielt
der König allerdings einen lit as justios ab, wo jeder Widerspruch verstummen
mußte; aber eine solche „Kissensitzung" war beim Volke höchst unbeliebt, und
da das Parlament auch das Recht hatte, eigne Verfügungen selbständig zu er¬
lassen, so kam es unter Ludwig dem Fünfzehnten immer häufiger vor, daß
Verfügungen des Parlaments gerade das Gegenteil von dem anordneten, was
der König befohlen hatte, und auch wirklich geltend gemacht wurden. Mit
einem Worte: die damaligen Parlamente fühlten sich als die eigentlichen Ver¬
treter der Nation und als Beschützer des niedern Volkes gegenüber der abso¬
luten Monarchie und den beiden ersten Ständen. Das Beispiel des Ungehorsams,
das sie so oft gaben, fand Nachahmung im gesamten Volke. Man achtete nicht
mehr die Gesetze, man entzog sich den Steuerzahlungen, man höhnte die Bücher-
zensur, man vergriff sich an den königlichen Forsten, die man hier und da ohne
weiteres in Ackerland verwandelte. Das war einer der vornehmsten Gründe der
Revolution; wie sich Condorcet ausdrückte: „Man litt unter den Nachteilen der
Monarchie, glaubte aber die des Despotismus zu empfinden." Aus dieser Not¬
lage Hütte nur eine Stärkung der Regierungsgewalt helfen können.
In der zweiten Hälfte der Regierung Ludwigs des Fünfzehnten brach auch
die äußere Machtstellung Frankreichs völlig zusammen. Die Kriege seines Vor¬
gängers hatten ungeheure Kosten verursacht und das Volk materiell zugrunde
gerichtet; denn der Kampf wurde immer mit zwei Gegnern, England und
Österreich, zugleich aufgenommen, und das überstieg die Kräfte des Landes.
Ludwig der Vierzehnte übersah dabei, daß es wichtiger gewesen wäre, die
Kolonien und den Handel durch eine starke Flotte zu schützen, als mit einem
gewaltigen Landheere die Grenzen auf dem Festlande fortwährend zu erweitern.
Die Regierung Ludwigs des Fünfzehnten erkannte diesen Fehler durchaus, und
nur so ist es zu verstehn, daß sie 1756 zu Versailles das Bündnis mit Österreich
einging und es mit England in dem siebenjährigen Kolonialkrieg aufnahm.
Wenn dieser trotzdem 1763 für Frankreich ganz klüglich endete, wenn damals
Nordamerika, Indien und die ganze Flotte verloren gingen, so lag das freilich
an Umständen, die man nicht voraussehen konnte: an dem Aufkommen Preußens,
dessen genialer König die französische Armee bei Roßbach auseinandersprengte,
und an der falschen Wahl des Bundesgenossen; England war eben stärker als
Österreich.
Bekanntlich hat Napoleon der Erste als die erste von drei Ursachen der
französischen Revolution den siebenjährigen Krieg bezeichnet; denn die Schande,
die damit über das Land hereinbrach, ließ gerade die Besten der Nation an ihrer
Regierung verzweifeln. Das Heerwesen wies die schwersten Schäden auf. Die
Armee zählte zwar 1774 trotz ihrer Verminderung immer noch über 170000 Mann
und wäre an sich stark genug gewesen. Aber das Offizierkorps setzte sich größten¬
teils aus ganz unfähigen jungen Leuten der vornehmsten Abkunft zusammen,
die schon im Alter von fünfzehn bis zwanzig Jahren in die wichtigsten Stellen,
vor allem in die der Regimentskommandeure gelangten, oder aus Obersten und
Hauptleuten zum Teil des Bürgerstandes, die ihre Stellen vom Vorgänger
käuflich erworben hatten, obwohl sie ihre Ernennung von den vorgesetzten Be¬
hörden erhielten. Weitere Übel waren die ganz ungenügende Ausbildung der
Offiziere, ihre Neigung, den ohnehin reichlichen Urlaub übermäßig zu verlängern,
nicht zuletzt die Unfähigkeit des obersten Kriegsherrn, also des Königs, in allen
Fragen des Heerwesens. Die Mannschaften gehörten vielmehr dem Vagabunden-
und Verbrechertum an, wurden ungenügend besoldet und überdies mit nicht¬
militärischen Arbeiten (Corvees) beschäftigt; die Truppenteile wechselten oft schon
nach wenig Jahren ihre Garnisonen, in denen es nur selten Kasernen gab, und
desertierten dabei in großer Zahl ans den Märschen durch das Land, die oft
mehrere Wochen in Anspruch nahmen. Aber solche Zustände herrschten in
damaliger Zeit wohl noch in vielen Staaten; schlimmer war die große Disziplin¬
losigkeit, die sich in der französischen Armee bemerkbar machte, und die ihren
Grund in der ungebührlichen Humanität der Vorgesetzten und in ihrer Unfähig¬
keit hatte. Dazu kamen als fernere Mängel die unerhörtesten Unterschleife in
der Armeeverwaltuug und die Unvollkommenheit der Kanonen und der Gewehre,
die unpraktischen (übrigens prächtigen) Uniformen, das ungenügende Spitalwesen.
Für die Flotte geschah so gut wie nichts, und als sie 1763 zugrunde gerichtet
war, machte man auch nur einen schwachen Versuch zu ihrer Wiederherstellung.
Das Finanzwesen war schon in den letzten Jahren Ludwigs des Vierzehnten
völlig zerrüttet; 1710, 1713, 1715 machte der Staat schimpflich bankrott. Nach
Ludwigs des Vierzehnten Tode versuchte man es mit dem Papiergeld, aber es
folgte 1721 ein neuer Zusammenbruch, aus dem sich dann Frankreich in den
nächsten Jahrzehnten durch Sparsamkeit wieder emporschwang. Der sieben¬
jährige Krieg endlich machte die Finanznot unheilbar; 1759 fand ein neuer
Staatsbankrott statt, und noch schlimmer war der von 1770/71. Die Schuld
an diesem trostlosen Zustande trugen weniger die hohen Kosten der Hofhaltung
als der ungeheure Aufwand für den Krieg mit England. Aber die Einnahmen
des Staats hätten viel größer sein können, wenn die Finanzverwaltung nicht
so schwere Fehler gehabt hätte. Es gab kein jährliches Budget, sondern man
verbrauchte die Einkünfte ziemlich regellos, oder man nahm Einnahmen des
folgenden Jahres schon vorweg; auch kostete die Verwaltung selbst übermäßig
viel. Etwa zwei Drittel der Einnahme kamen aus den indirekten, ein Drittel
aus den direkten Steuern ein. Zu diesen gehörten die Taille, die Kopfsteuer
und der Zwanzigste, die sämtlich ganz ungleich und ungerecht aufgebracht
wurden, denn eine Provinz war anders als die andre gestellt, die Städte
waren dem Lande gegenüber bevorzugt, der Klerus und der Adel von der
Taille gänzlich befreit, der Klerus auch von der Kopfsteuer und dem Zwanzigster,
und auch die wohlhabenden Bürger in den Städten wußten sich durch Zahlung
einer mäßigen Pauschalsumme von der direkten Steuer fast völlig frei zu halten.
Dagegen bezahlten die beiden ersten Stände doch in den Fällen die Taille, wo
sie ihre Güter verpachtet hatten, und das war für einen großen Teil üblich.
Deshalb darf man die Steuerprivilegien der beiden ersten Stunde nicht allzu
hoch anschlagen. Jedenfalls war der Ausfall an Steuern, der dadurch entstand,
daß man die Industrie und das mobile Vermögen überaus begünstigte, viel
größer; denn die gewaltigen Vermögen Einzelner und ganzer Korporationen,
Banken, Aktiengesellschaften usw. blieben nahezu steuerfrei. Am schwersten von
der Taille getroffen war jedenfalls der Bauer, der sein Eigentum selbst bebaute,
dann erst der Pächter, der eben wegen der zu zahlenden hohen Takte eine
entsprechend geringere Pacht zahlte. Außerdem erhob man als Zuschlag zur
Taille eine Kopfsteuer, die also auch den Bauern am meisten treffen mußte.
Den Zwanzigster endlich (etwas über 2^ Prozent) erhob man vom Adel und
vom dritten Stande, und zwar durch einen Beamten, im Gegensatz zu der Taille
und der Kopfsteuer, die durch einen haftbaren Einwohner der Gemeinde einge¬
zogen wurden. Man sieht also, daß die Schultern des kleinen Mannes am
härtesten und in einzelnen Fällen sogar unerträglich bedrückt waren.
Eine ähnliche Verwirrung und Ungerechtigkeit herrschte bei der Erhebung
der indirekten Steuern und der Zölle. Ein Teil dieser Steuern, zum Beispiel
auf Salz, Tabak, Kolonialwaren, Ein- und Ausfuhr- sowie Binnenzölle, wurde
durch die Generalpachtgesellschaft (tsrms Asnerklls) aufgebracht, die 1780 etwa
123 Millionen Franken zu zahlen hatte und übrigens von der Regierung streng
kontrolliert wurde. Einen andern Teil der Steuern brachte die große Regie
(rsZis Asusialk) ein, die sich nicht wesentlich von jener Pachtgesellschaft unter¬
schied. Andre Steuerobjekte waren der Regie der Domänen und besondern
Gesellschaften anvertraut. Am verhaßtesten war die Salzsteuer mit 60 Millionen
Ertrag, und an ihr läßt sich als Beispiel am besten zeigen, wie verschieden die
Besteuerung des anoisn rsZims durchgeführt wurde. Ludwigs des Sechzehnten
Minister Calonne nennt sie „so ungleich in ihrer Verteilung, daß man in einer
Provinz zwanzigmal mehr bezahlt als in der andern, so streng in ihrer Er¬
hebung, daß ihr Name schon Schrecken einflößt, eine Steuer, die, da sie einen
Verbrauchsgegenstand ersten Ranges trifft, den Armen beinahe so schwer be¬
lastet wie den Reichen, die den Handel in mehr als einer Hinsicht einschränkt,
die die Landwirtschaft eines gesunden Mittels zur Erhaltung ihres Viehs be¬
raubt, eine Steuer endlich, deren Erhebungskosten ein Fünftel ihres Ertrags
ausmachen, und die so sehr zum Schmuggel verleitet, daß um ihretwillen jedes
Jahr mehr als fünfhundert Familienväter zur Galeere oder zu Gefängnis ver¬
urteilt werden, und mehr als fünftausend Konfiskationen unternommen werden
müssen". Alles in allem ergab das französische Steuerwesen viel zu geringe
Einnahmen im Vergleich zu dem Reichtum des Landes, ferner war es viel zu
umständlich und kostspielig, endlich völlig ungleichmäßig und ungerecht, und zwar
lastete es am stärksten auf der ärmsten Klasse der Bevölkerung, auf den Bauern.
Man spricht gewöhnlich von den drei Ständen des damaligen Frankreichs;
aber in Wirklichkeit bestanden teils zahlreiche Übergänge, teils mannigfache
Gruppierungen innerhalb dieser drei Stunde, sodaß das Bild der Bevölkerung
weit bewegter erscheint. Unter dem Adel kann man zum Beispiel Kriegs- und
Amtsadel, Uradel, jungen und jüngsten Adel unterscheiden, vor allem aber
Hof- und Landadel. Obenan standen die Pairs („die Gleichen," nämlich dem
Könige), die der König mon vorhin anzureden hatte; dann kam die Umgebung
des Königs, die in Versailles lebte und in dem leichtfertigen, luxuriösen, ent¬
nervenden Hofe ihre Einkünfte und Pensionen verzehrte und erst seit etwa 1750
ernstere Bestrebungen zeigte und Freiheitsliebe zu empfinden anfing. An Zahl
weit größer war der Landadel, der aber durch Kriegsdienste, niedrige Korn-
Preise und fortgesetztes Sinken des Geldwertes meistenteils ganz verarmt war
und seit Richelieu absichtlich niedergehalten wurde, sodaß die Revolution ihm
nur noch den letzten Nest gab; trotzdem brachte er damals noch eine ganze
Reihe tüchtiger Männer hervor, die sich auf vielerlei Gebieten hervortaten.
Auch der Klerus umfaßte keine gleichartige Gesellschaftsklasse. Da gab es
zunächst die Mönche in den Klöstern, die noch vielfach schlichte Frömmigkeit
und Pflichterfüllung übten, doch anderwärts auch Spuren sittlichen Verfalls
aufwiesen. Aber die Zahl der Insassen ging doch zusehends zurück, teils weil
die ganze Zeit mehr auf das Irdische als auf das Überirdische gerichtet war,
teils weil die Regierung den Eintritt in die Klöster erschwerte und unzweifel¬
haftes Gelüste nach dem reichen Klostergute an den Tag legte. Dem Sekundär¬
klerus gehörten sodann alle Pfarrer und Vikare auf dem Lande und in den
kleinen Städten an, die sich mit geringen Einkünften begnügen mußten und
deshalb mit ihrer Lage unzufrieden waren, aber ein sittlich vorwurffreies Leben
führten. Dagegen hatten die Pfarrer der großen Städte, die Domherren, Äbte,
Bischöfe geradezu glänzende Einnahmen, bei den Erzbischöfen betrugen sie oft
weit über hunderttausend Franken. Diese guten Stellen wurden unter Ludwig
dem Fünfzehnten fast ausnahmlos den Männern vom hohen Adel übertragen,
und das war ein schwerer Fehler; denn die hohen Herren lebten bei Hofe in
Saus und Braus, nahmen Kvadjutoren in ihren Dienst und vernachlässigten
durchaus ihre Kircheupflichten. Anders wurde es erst gegen Ende der Regierung
Ludwigs des Fünfzehnten und unter Ludwig dem Sechzehnten. Damals traten
gerade unter den ersten Geistlichen hervorragende Männer auf, teils solche, die
auf weltlichem Gebiete in wirtschaftlicher Hinsicht ihre Kirchenprovinz zur Blüte
brachten, teils solche, die es mit ihren priesterlichen Pflichten sehr ernst nahmen.
Sie alle waren freilich wenig glaubensstark, und ihr Protest gegen die herrschende
Philosophie war mehr formell als tief empfunden.
Am ungleichmäßigsten gestaltete sich der dritte Stand; er reichte vom hohen
Beamten bürgerlicher Herkunft und vom Großkaufmann herab bis zum Klein¬
bauern, Fabrikarbeiter und Bettler. Auch die oberste Schicht, die Bourgeoisie,
war in ihrer Zusammensetzung keineswegs gleichartig; zu ihr gehörten nämlich
einerseits die wirklich tüchtigen Staatsdiener, viele Offiziere und die Kirchen¬
diener in den bessern Stellen, in deren Familien fast immer ein Landgut vom
ältesten Sohne bewirtschaftet wurde, andrerseits aber auch heraufgekommne
Kaufleute und Handwerker, Emporkömmlinge, die ihr erworbnes Geld ebenfalls
in einem Gute anlegten, aber es verwalten ließen, mit der Absicht, es den
Beamten in den Städten gleichtun zu können, und die sich womöglich ein Adels¬
patent zu verschaffen suchten. Sie hauptsächlich schürten den Klassenhaß und
hielten, jeder edeln Regung bar, in der Revolution am festesten an den mühsam
erworbnen Vorteilen. Zur Bourgeoisie im weitern Sinne muß "^n auch die
Großkaufleute, Reeber und Industriellen rechnen, eine einflußreiche Klasse die
nebenher in den Stadtverwaltungen eine Rolle spielte und nach dem Beispiele
der Parlamente der Regierung Opposition machte. In einigen Provinzen aber,
namentlich in der Bretagne, zeigten diese reichen Leute einen ganz andern, höchst
verderbten Charakter; sie ließen sich auf den Provinzialständeversammlungen ihre
Stimme von dem abkaufen, der ihnen am meisten bot, auch wenn das Geld von
der Regierung herrührte, und späterhin warfen sie sich vor allem den Jakobinern
in die Arme; „die Legende von den durchweg unfähigen und unsittlichen ersten
Ständen, die in der Revolution von einem tüchtigen, kernigen und sittlichen
Bürgerstand abgelöst wurden, läßt sich, wie man sieht, nicht aufrechterhalten".
Unter der Bourgeoisie standen dann die Handwerker, deren vortreffliche
Arbeiten heute noch Staunen hervorrufen; aber der strenge Zunftzwang hatte
seine tiefen Schattenseiten: nur wenig Gesellen konnten es bis zum Meister
bringen. Der Preis der Waren mußte natürlich höher sein, als wenn es eine
freie Konkurrenz gegeben hätte; die Verwaltung der Zünfte war kostspielig und
führte nicht selten zu Zusammenbrüchen. So sehnte man sich denn auch auf
diesem Gebiete uach Freiheit! Der Rest der Stadtbewohner setzte sich ans
Tagelöhnern, Proletariern und zahlreichen Bettlern zusammen.
Die Stadtverwaltungen, die eine bunte Mannigfaltigkeit der Formen auf¬
wiesen, waren nur scheinbar demokratisch; denn die Bürgerversammlungen (1s
ALu6rg.I ass nMtants) wurden fast nie zusammenberufen und höchstens durch
einen Ausschuß von Vertretern der Korporationen ersetzt. In Wirklichkeit regierte
eine Oligarchie, die im Besitze der vom Staate verkauften Ämter war und über¬
dies von dem Intendanten scharf kontrolliert wurde; sie trat in den größern
Städten in einem Stadträte hervor, worin der Bürgermeister (inairs), die Konsuln
und die Schöffen ziemlich gleiche Rechte aber doch fast nur das Recht der Be¬
rufung hatten. Die Mängel dieser Verfassung sind offenkundig; die Oligarchie
hätte beseitigt, den Städten nicht bloß die Beratung, sondern auch die Beschlu߬
fassung überlassen und die Einrichtung der Städte im ganzen Staate gleich¬
mäßiger gestaltet werden müssen.
Auch in den Dörfern gab es zahlreiche Handwerker aller Art, da auf dem
Lande Gewerbefreiheit herrschte. Unter den eigentlichen Landbau treibenden Be¬
wohnern muß man wieder mehrere Gruppen unterscheiden, besonders kleine und
mittlere Eigentümer, Tagelöhner und MetaHers oder Hälftner, die von jeder
Ernte dem Besitzer des Bodens etwa die Hälfte der Naturalien ablieferten. Wie
viele von allen diesen Gruppen von Bauern noch als Hörige galten, ist schwer
zu sagen, aber es waren wohl nicht mehr als einige Hunderttausende, d. h. etwa
nur der hundertste Teil der landwirtschaftlichen Bevölkerung, der zum Teil per¬
sönlich unfrei und an die Scholle gebunden war. Im übrigen bedeckte fast das
ganze Land ein Netz von Seigneurien, d. h. grundherrlichen Rechten, die überaus
verschieden sein konnten. Diese Einrichtung hatte von dem Senior oder Lehns¬
herrn ihren Namen, und sie umfaßte auch häufig nur lehnsherrliche Rechte,
zuweilen aber auch nur gerichtsherrliche oder leibherrliche, zuweilen auch alle
zusammen oder teilweise miteinander vereinigt. Das Bedeutsamste hierbei war
jedenfalls, daß die Bauern den vollkommensten Rechtsschutz genossen, daß von
einer etwa zunehmenden Macht der Grundherren dem Bauer gegenüber keine
Rede sein konnte; ja die Bauern führten sogar zu ihrem Vorteil vielfach Prozesse
gegen ihre Seigneurs. So waren die Bauern auch in den meisten Fällen „die
vollkommnen Eigentümer ihres Landes, das nur mit dinglichen, unablöslichen
Verpflichtungen belastet war". Im ganzen besaß der Bauer etwa ein Drittel
von Frankreich als Eigentum, das im allgemeinen durchaus nicht übermäßig
mit Abgaben belastet war. Andrerseits litt diese Agrarverfassung an mancherlei
schweren Schäden: die Freiheit des Güterkaufs war durch eine hohe Steuer
beim Verkauf von Zinsgütern und Lehen und durch die Unteilbarkeit vieler Lehen
beschränkt. Die Unablöslichkeit der dinglichen Lasten bedeutete für den Käufer
eine fühlbare Härte; die grundherrlichen Gerichte entbehrten besonders in bezug
auf die Strafrechtspflege der Gleichmäßigkeit. Die Hörigkeit endlich, soweit sie noch
bestand, empörte die allgemeine Empfindung. Auch die Dörfer hatten scheinbar
eine Selbstverwaltung, aber es stand damit wie mit der in kleinern Städten;
tatsächlich regierte der Intendant, und das war natürlich, da die Schulbildung
noch vielfach zu wünschen übrig ließ. Aber in den meisten Gemeinden gab es
doch eine Schule, und gegen drei Viertel aller Bauern konnten lesen und etwa
die Hälfte ihren Namen schreiben. Im allgemeinen mögen sie nicht anders ge¬
wesen sein als heutzutage: mißtrauisch, prozeßsüchtig und habsüchtig, aber auch
fleißig und fröhlich.
Die Frage, wie sich der Besitz auf die drei Stände verteilte, kann wissen¬
schaftlich genau noch nicht beantwortet werden, da noch mehrere Jahrzehnte ver¬
gehen werden, ehe die begonnene statistische Arbeit beendet sein wird. Nur so
viel steht fest, daß der Besitz der privilegierten Stände über das Land meist
sehr zerstückelt und in den einzelnen Provinzen sehr verschieden verteilt war,
und daß Großbetrieb durch Arbeiter zu den größten Seltenheiten gehörte. Der
Adel suchte seine Güter selten oder nie auf und gab sie meist in Pacht, und
auch die Pächter ganzer Güter taten diese wieder in kleinern oder in größern
Pachtungen aus. Erst seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts machte sich
ein Umschwung bemerkbar: englische Dichtungen und besonders Rousseau, die
das Landleben priesen, sowie die Nachahmung der englischen Gutsbesitzer, die
den größten Teil des Jahres auf ihren Gütern zubrachten, führten auch in
Frankreich zur Rückkehr zum Leben in der Natur. Immer häufiger kam es vor,
dnß Kleriker, Adliche, Bourgeois ihre Güter selbst bewirtschafteten, sie vermehrten
und abrnndeten, und die Zahl derer, die sogar im Auslande den Ruf tüchtiger
Ackerbauern genossen, wurde immer größer. Andrerseits schrieb sich das Elend
vieler Bauern daher, daß ihre Wirtschaften einen zu kleinen Umfang hatten, zu
schlecht bearbeitet wurden und zu große Lasten zu tragen hatten; und doch zeigte
sich auch in der Lebensführung der Bauern etwa seit 1750 eine entschiedn?
Besserung. Vollends in hoher Blüte stand seit dieser Zeit die Industrie des Landes,
die den Handels- und Industriestädten einen mächtigen Aufschwung verlieh.
Man hat die geschichtliche Frage aufgeworfen, ob der Ausbruch der fran¬
zösischen Revolution durch „die Zustünde" allein oder durch die Aufklärungs-
literatur mit herbeigeführt worden sei. Diese Frage ist unhistorisch, da Zustände
überhaupt nur dann wirken können, wenn von jemand die Aufmerksamkeit darauf
gelenkt wird; jenes besorgen die großen Geister, dieses kann durch gewöhnliche
Menschen geschehn, und so war es auch hier: die französische Revolution war
längst durch große Schriftsteller vorbereitet, aber gemacht und geleitet wurde
sie fast allein durch untergeordnete Menschen, die die öffentliche Meinung
— kritiklos, aber einmütig und gefürchtet — vertraten. Bemerkenswert ist hierbei,
daß alle Gebildeten des kmvisn rsAiniö in denselben Gedankenkreisen lebten,
für die Tanne den zusammenfassenden Ausdruck Lsxrit olasLiqnö gefunden hat,
wahrend Adalbert Wahl dafür richtiger Individualismus sagt. Denn schon in
der Renaissance, der Geburtszeit des modernen Menschen, findet man, wenigstens
unter den vornehmsten Vertretern Italiens, den ausgesprochnen Hang, sich von
Staat und Kirche loszusagen und sich seine eignen Normen als Lebenszweck zu
setzen. In Frankreich kam dieser Drang, freie und große Ideale für die eigne
Person aufzustellen, erst später zum Vorschein, im achtzehnten Jahrhundert aber
desto mächtiger und allgemeiner, also demokratischer, wenn auch der Bauer zu¬
nächst noch keinen Teil daran hatte. Nach Voltaire ist „der Staat nichts als
ein Phantom und nichts als die Summe der Einzelnen. Die Kirche und der
Staat haben keinen Zweck, keinen Sinn, wenn sie nicht auch Einzelnen dienen.
Was sie bisher zu unternehmen pflegten, waren meist sinnlose Greuel, Ver¬
folgung und Krieg, grausame Bestrafung und Vernichtung von Einzelnen, wozu
kein Recht vorhanden war; der Wohlfahrt des Einzelnen haben sie selten oder
nie gedient. Lor^s? l'irMins. Nieder mit dem Staat!" Der Gedanke an Re¬
formen trat mehr und mehr hinter dem zurück, die Kirche zu zerstören und den
Staat zu unterjochen; als aber 1793 dieser Gedanke verwirklicht wurde, zeigte
es sich, daß der neue Staat weit härter und grausamer verfuhr als der furcht¬
barste Absolutismus.
uf den, musikpädagogischen Kongresse in Berlin im April dieses
Jahres wandte sich der Schulinspektor Fricke aus Hamburg gegen
die Verunstaltung der Volkslieder und führte einige Beispiele als
Beweise an. Die Stelle: Was mag der Traum bedeuten, mein
Liebchen, bist dn tot! ist verballhornt in: Was soll das Laub
bedeuten, das fahle Sommerland? In einem andern Liede heißt es: O Mägdlein,
wie falsch ist dein Gemüte! Diese Stelle ist einfach gestrichen worden. Das Lied:
An der Saale Hellem Strande — darf überhaupt nicht mehr gesungen werden,
weil es darin heißt: Tücher wehen in der Luft! Auch das Lied: O Straßburg —
ist aus ähnlichen fadenscheinigen Gründen verpönt. Fricke ist seit dreißig Jahren
Rezensent für Schulliederbücher und hat im Laufe dieser Zeit, auch in der neusten,
Hunderte von Belegen gesammelt, zumal da er als Mitherausgeber der Lieder¬
bücher von Fricke und Maas unausgesetzt Quellenstudien hat machen müssen.
Meint man denn wirklich, sagt er, mit solchen Streichungen das Erotische aus
dem Volksliede beseitigen zu können? Sogar das Lob des Weines darf neuer¬
dings nicht mehr gesungen werden. Statt: Bekränzt mit Laub den lieben vollen
Becher — heißt es jetzt in den Liederbüchern: Bekränzt mit Laub die Hüte und
die Mützen.
Es ist wohl das erstemal, daß über diese Verunstaltung unsrer schönen
Lieder in einem größern Kreise verhandelt worden ist; bisher gingen nur von
Zeit zu Zeit Mitteilungen durch die Zeitungen, wonach wieder einmal hier oder
da an einem Liede willkürliche Änderungen vorgenommen worden sein sollten,
um einen sittenverderbenden, für die Jugend Anstoß erregenden Gedanken oder
Ausdruck im Liede zu beseitigen. Das größte Aufsehen verursachte die Ver¬
unstaltung des Liedes: In einem kühlen Grunde — als plötzlich nicht mehr
die Liebste, sondern der Onkel verschwunden sein sollte. Es ist weidlich darüber
gelacht, gespöttelt und geschimpft worden: aber daß gegen den Unfug allgemein
eingeschritten worden wäre, ist nicht bekannt geworden.
Das schönste, was wir Deutschen haben, ist unser Lied; es ist eine große
Sache, vielleicht die größte, die wir erfunden und ausgebildet haben. So äußerte
sich kürzlich ein deutscher Schriftsteller in Paris, als er über den großen Erfolg
berichtete, den Alt-Heidelberg dort errungen hatte. Und diesen Erfolg verdankt
das Stück dem deutschen Liede. Andre Völker singen und dichten zwar auch, aber
das deutsche Lied ist der Ausdruck der innern Gemütsbewegung, die Äußerung
innerer Erlebnisse in dichterischer und musikalischer Gestaltung. Uhland sagt über
die Entstehung des deutschen Liedes: Auf allen Straßen und in allen Herbergen,
unter der Dorflinde und im Walde beim fröhlichen Jagen wurde gesungen, was
erlebt oder innerlich erfahren war. Daher die Lebenswahrheit und der gesunde
Realismus, daher die Frische und Ungeschminktheit des Gefühls und das volle
Ausklingen des deutschen Gemüts, das sich in allen diesen Liedern ungesucht
und ungekünstelt geltend macht. Man weiß von kaum einem dieser Lieder, wer
sie gedichtet, wo sie zuerst erklungen:
Die Lieder sind also ein unantastbares Eigentum des deutschen Volkes, und
niemand hat das Recht, eigenmächtig Änderungen vorzunehmen; sie sind ebenso
Denkmäler vergangner Zeiten wie die Kunst- und Baudenkmäler früherer Jahr¬
hunderte und zeugen uicht minder von der Anschauung und dem Geiste unsrer
Vorfahren wie die Überreste aus Stein und Erz; die Lieder lassen im Gegenteil
einen tiefern Einblick in das Volksleben und in die Volksseele jener Zeiten tun,
da sie unmittelbar aus dem Volke selbst entstammen und dessen Wesen klar zum
Ausdruck bringen.
Damit ist nun nicht gesagt, daß fortan jede Textkritik unterbleiben soll: denn
öfter handelt es sich um Wiederherstellung eines ursprünglichen Dichterwortes,
wovon ein Beispiel in der neusten Ausgabe der Echtermeherschen Sammlung
deutscher Gedichte angeführt wird. Danach heißt es in Goethes Mignon nicht:
Dahin, dahin möcht ich mit dir, » mein Geliebter, ziehn — sondern: o mein
Gebieter ziehn. Diese Lesart findet sich in den beiden erhaltnen Handschriften
und wird durch den Sinn und den Zusammenhang in Wilhelm Meisters Lehr¬
jahren gefordert. Dagegen wird niemand etwas einwenden können: man will
einfach dem Dichter gerecht werden. Aber in den Änderungen, von denen hier
die Rede ist, steht etwas ganz andres auf dem Spiele: man will, wie es Fricke
ausdrückt, das Erotische aus den Liedern verbannen, damit nicht jugendliche
Gemüter dadurch verdorben werden. Wie muß es in den Köpfen der Leute aus¬
sehen, die solche Ansichten haben? Wie wenig kennen sie das Volksleben und
das Volksempfinden! Welche Jugendzeit müssen die hinter sich haben? Es denke
doch einmal jeder an seine eignen Schul- und Jugendjahre zurück, ob er jemals
an solchen Liedern Anstoß genommen hat. Man hat entweder mit großer, ehr¬
licher Begeisterung gesungen oder aber sich bei dem Inhalte des Liedes gar
nichts besondres gedacht und nur am Singen selbst seine Freude gehabt, gleichviel
ob es vaterländische Weisen oder Liebes- und Trinklieder gewesen sind. Wie
manchmal ist da in Heller Lust und tiefem Ernste das Schenkendorfsche Freiheits¬
lied gesungen worden beim verbotnen Glase Bier: nachher ging doch jeder nach
Hause und trug das Joch der Schultyrannei weiter, ohne im spätern Leben zum
Umstürzler geworden zu sein. Und genau so ist es mit den Liebes- und den Trink¬
liedern, mögen sie von den höhern Töchtern oder in der Volksschule gesungen
und eingeübt werden oder draußen im Walde auf der Schulpartie erschallen.
Es muß um jeden Preis gesungen und dadurch der Lust am Dasein Ausdruck
gegeben werden; auf den Inhalt der Lieder kommt es dabei weniger an, wenn
nur die Fröhlichkeit zu ihrem Rechte kommt. Einen sittlichen Schaden hat noch
niemand dadurch erlitten, das steht fest. Dergleichen schädigende Wirkungen
müßten sich unbedingt in irgendeiner Form äußern, sodaß man sagen könnte: das
sind die Folgen von dem Gesang erotischer Volkslieder. Wie oft wird das Geibelsche
Maillet gesungen, wo es in der vierten Strophe heißt: Ergreife die Fiedel, du
lustger Spielmann du, von meinem Schatz das Liebet, das sing ich dazu. Und
solcher oder ähnlicher Wendungen vom Schätzchen und Liebchen gibt es viele; wenn
die alle gestrichen werden sollten, blieben kaum noch einige Vaterlandslieder übrig,
und mit dem Gesänge wärs bald vorbei. So schlecht steht es mit unsern Kindern
und den jungen Leuten glücklicherweise denn doch noch nicht, daß man sie vor solchen
harmlosen Liebesliedern schützen müßte, bei denen sie sich nichts denken. Sie
werden aber im Gegenteil erst darauf hingewiesen, wenn man ihnen mit so blöden
Verunstaltungen kommt, die gar nicht in den Sinn des Liedes passen: denn sie
merken sehr bald auf solche angeblich verfänglichen Stellen und bemühen sich
dann erst recht, in den jetzt so massenhaft verbreiteten Liederbüchern ähnliches
zu suchen. Wer schützt sie denn vor den sinnlosen Gassenhauern, wenn sie auf
die Straße kommen und von dem ersten besten Leierkastenmann das neuste auf
diesem Gebiete für billiges Geld kaufen? Mit Recht sagt Fricke: Wenn die Jugend
aus der Schule kommt, singt sie einfach: Der ganze Klafter Sicßholz kost 'nen
Daler — oder: Trinken wir noch en Tröppchen aus dem kleinen Henkeltöppchen!
Und auch diese Lieder mit ihrem kurzen Leben tun so gut wie gar keinen Schaden;
sie gehen zu dem einen Ohre hinein und zu dem andern hinaus. Über die
Bedeutung des Inhalts, wenn sie überhaupt einen haben, zerbricht sich kein Kind
den Kopf; es ist schon zufrieden, wenn es etwas zu singen hat, und fragt nicht
im geringsten nach dem Sinne, das kann man jeden Tag an den Kindern beob¬
achten; sie sehen den Schmutz eben nicht und können sich also auch nicht selbst
beschmutzen. Nicht anders ist es mit den verpöntem und verstümmelten Volks¬
liedern, wenn darin auch noch soviel schwarzbraune Mädchen und herzallerliebste
Schätzchen vorkommen: das Lied wird von vorn bis hinten heruntergesungen,
und damit ist es abgetan; die Sangeslust ist befriedigt.
Gerade in der Gegenwart geht, wenn nicht alles trügt, das deutsche Volks¬
lied einer neuen Blütezeit entgegen. Es gibt fast keinen Ort mehr, der nicht
seinen Jugendverein hat, abgesehen von den Münnergesangvereinen, den Militär-,
Turm- und ähnlichen Vereinen; überall wird gesungen bis hinein in die Gustav-
Adolf- und die evangelischen Bundesversammlungen. Wenn diese beiden letzten
keinen andern Zweck hätten, so wären sie schon deshalb zu schätzen, weil sie das
Volkslied wieder zu Ehren bringen und eigne Liederbücher herausgegeben haben,
in denen das Beste zusammengestellt worden ist, was wir haben. An solchen
Familienabenden wird viel gesungen, und für viele ist es tatsächlich die einzige
Gelegenheit, sich von den Alltagssorgen einmal loszumachen und auf die alten
Volkslieder zurückzugreifen, die den meisten aus der Jugendzeit in der Erinnerung
geblieben sind. Deshalb sollte man über einen so kostbaren Schatz die Hände
breiten und ihn nicht von Eiferern aller Art zerstören und verunstalten lassen;
unser Volkstum hat genug eingebüßt. Es hat lange gedauert, ehe das deutsche
Volk selbst diesen Verfall merkte, und noch länger, ehe dagegen angekämpft wurde.
Doch jetzt ist der Anfang überall gemacht worden, und was von dem alten,
echten deutschen Volkstum zu retten ist, soll, ohne den neuzeitlichen Anforderungen
Abbruch zu tun, erhalten bleiben. Alle diese Bestrebungen lassen sich unter dem
Namen Heimatschutz zusammenfassen, mag es sich im einzelnen um den Schutz
der alten Kunst- und Baudenkmäler, um die Erhaltung der deutschen Burgen,
um den Schutz alter seltner Bäume oder um die Erhaltung alter Städte- und
Landschaftsbilder handeln. Daß auf diesem weiten Gebiete nicht umsonst ge¬
arbeitet wird, ist schon jetzt erfreulicherweise wahrzunehmen. Die Heimat- und
Trachtenfeste, denen in der neusten Zeit auch im Kaiserhause Anerkennung zuteil
geworden ist, werden von Jahr zu Jahr häufiger und gehn aus den Bauern-
und Bürgerkreisen selbst hervor, nicht etwa aus den Anregungen gelehrter Forscher
und Volksfreunde, die allerdings die Führung und Leitung in der Hand haben,
wie bei den Trachtenfesten des niedersächsischen Vereins Niedersachsentag.
Die alte Dorflinde, von der Uhland spricht, wird also geschützt, die Trachten
der darunter tanzenden Dorfschöncn kommen wieder zu Ehren — und das Volks¬
lied? Es muß beschämt zur Seite stehn, weil es nicht anstündig genug ist und
sittenverderbenden Einfluß auf die deutsche Jugend ausübt! Es sind jetzt gerade
hundert Jahre verflossen, seitdem Achin von Arnim und Clemens Brentano ihre
alten deutschen Lieder, des Knaben Wunderhorn, herausgegeben haben. Viele
Jahre hatten sie in Deutschland gesammelt und dabei sogar Goethes Unter¬
stützung genossen, dem als Dank der erste Band zugeeignet wurde. Er meinte
freilich, die Kritik dürste sich vorerst mit dieser Sammlung nicht befassen, und
wünschte später, daß sich die Herausgeber vor dem Singsang der Minnesänger,
vor der bänkelsängerischen Gemeinheit und vor der Plattheit der Meistersünger
sowie vor allem Pfüffischen und Pedantischen höchlichst hüten möchten. Spätere
Dichter, wie Uhland, haben dann gesichtet und sind mehr auf die Quellen zurück¬
gegangen; in neuerer Zeit sind endlich noch vielfach Auswahlsammlungen ver¬
anstaltet worden, und damit sollte man nun zufrieden sein und das schützen,
was sich erhalten hat und lebensfähig ist. Der einzelne Mensch kann allerdings
gegen die Verunstaltungen nicht ankämpfen, und die Macht der Presse hat es
bis jetzt auch nicht vermocht; es bleiben mithin nur die Behörden übrig, in
deren Händen die Überwachung des Unterrichtswesens liegt. Wir brauchen nicht
gleich ein Volksliedschutzgesetz oder auch nur eine Verordnung; aber die vor¬
gesetzten Behörden, die doch jede Schulfibel auf ihre Brauchbarkeit prüfen, müssen
alle Schulliederbücher ohne Gnade zurückweisen, in denen der Versuch gemacht
worden ist, die Lieder willkürlich zu verändern und umzugestalten. Wenn aber
auch da nichts zu erreichen ist, dann ist es die Pflicht des Volkes selbst, also
seiner Vertreter in den Kammern, diese Mißstände öffentlich zur Sprache zu
bringen. Das Mittel hat noch immer gewirkt, wenn es in der rechten Weise
meer den Dampferlinien, die den Verkehr an der kleinasiatischen
Küste unterhalten, war unsre Wahl auf den altbewährten Öster¬
reichischen Lloyd gefallen, dessen Schiffe relativ groß, gut und
sauber sein und schneller als andre Dampfer fahren sollten. Wir
hatten schon tags zuvor unsre Fahrkarten genommen, aber leider
nur fünfzehn Prozent Rabatt von dem gewöhnlichen Fahrpreis mit Rücksicht auf
unsre Vierzahl, die ungünstige Jahreszeit und die Konkurrenz mit den andernW^-i^V
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Linien erhalten können. Fünfundneunzig Reichsmark sind für die Leistungen
der alten Kähne, die der Lloyd hier laufen läßt, und für die sehr geringe
Höflichkeit des Kapitäns, der unsern jedenfalls genügend erprobten, ehrwürdigen
„Unsitte" führte, immerhin ein nicht allzu bescheidner Preis.
Unsre Abfahrt war ein kleines Melodrama. Zunächst die Paßabstempelung.
Da der uns abfertigende Hafenbeamte gerade eins von den vielen Hammel¬
gerichten verspeiste, die durch die organische Verbindung von Hammeltalg mit
viel Zwiebeln und Knoblauch so besonders anregend auf die Nase unbeteiligter
wirken, mußten wir natürlich warten. Im übrigen vollzog sich die ganze heilige
Handlung, als sie endlich vor sich ging, umgekehrt als bei der Einfahrt, aber
natürlich mit demselben negativen Erfolge für die türkischen Staatsfinanzen.
Dann wurden wir mitsamt unsern vierzehn Gepäckstücken in ein Kalk verstaut,
wozu sich wieder eine Anzahl unberufner Subjekte herandrängte, fuhren über
ziemlich bewegtes Wasser zum Stambuler Quai hinüber und kletterten auf den
schwarzgestrichnen Dampfer hinauf, nicht ohne daß wir einen erneuten Kampf
mit beutegierigen Trägern bestehn mußten. Das Treiben am Quai, von dem
der Unsitte noch Ladung übernahm, war nicht uninteressant, Hafenbeamte,
Handlungsvertreter, Hafenarbeiter mit dem Typus des Völkermischmaschs, An¬
gehörige der Deckpassagiere und Zuschauer wühlten durcheinander; auch der
Lärm fehlte nicht. Als wir uns aber in den zur Verfügung gestellten drei
Kabinen notdürftig eingerichtet hatten, kam der Agent mit der Nachricht, daß
wir möglicherweise Batna wegen der dortigen Unruhen nicht anlaufen, aber
erst in Trapezunt genauere Nachricht darüber erhalten würden. Sollten wir
daraufhin umkehren, wie uns anheimgestellt wurde? Wir blieben auf gut Glück
und sind jetzt dessen froh.
Mit zwei Stunden Verspätung machte der Dampfer los und ging mit
einigen längsseit befestigten Kähnen durch die heute bei dem herrschenden Nord¬
wind ziemlich starke Strömung in zweistündiger Fahrt durch den Bosporus.
Wir hatten genügend Zeit, die Ufergeographie zu wiederholen. Den freundlichen
Eindruck, den die Einfahrt gemacht hatte, vermochte die Ausfahrt freilich nicht
wiederherzustellen: Schneewolken bedeckten die Höhen der asiatischen Seite, leichter
Regen störte das Behagen an Deck, und der Boreas, der die Wogen in den
Bosporus hineintrieb, versprach alles, was man zu der Jahreszeit vom Schwarzen
Meer erwarten kann, nämlich Sturm und schlechte Fahrt. Daß der Unsitte
übermäßiges Vertrauen erweckte, kann nicht behauptet werden. Mit seinen drei
Masten und der wenigen Takelage, der einen Schraube und dem an den Bord¬
seiten frei über Deck laufenden, ewig hämmernden Gestänge des Nudermechanismus
stand er schiffbautechnisch nicht auf der Höhe; und der sogenannte Salon im
Hinterschiff mit den seitlich davon angeordneten Kabinen (zu zwei bis vier
Betten) ließ eigentlich alles vermissen, was man heutzutage an Komfort von
einem Dampfer verlangen kann. Daß er nach links hing, konnte beabsichtigte
Gegenwirkung gegen den von links her erwarteten Wind sein, daß er aber bald
anfing, abscheulich zu stampfen, werde ich ihn: nie vergessen. Denn da ich in
eifrigem Studium des Vorschiffs und der Aukerheißvorrichtung die einschneidende
Bewegung in die Wellentäler mit besondrer Gründlichkeit mitgemacht hatte, so
konnten die Folgen nicht ausbleiben. Sie gestalteten sich jedoch nicht zur vor¬
schriftsmäßigen Seekrankheit; ich war boshaft genug, den Reisegefährten damit
die Freude am Mittagsmahl noch mehr zu verderben, als es die Eßkunststücke
eines jungen Türken, des einzigen Mitpassagiers der ersten Klasse, vermocht
hatten. Der arme Mensch! Welche qualvollen Gebete entrangen sich hinterher
zwischen bangem Gestöhn seiner gepeinigten Seele, und was hat er für
Schmeicheleien hören müssen, die er nicht verstand!
Die Genossen der zweiten Klasse waren annähernd ebenso erfreulich; ein
ganz gut aussehender junger türkischer Generalstabsoffizier, der nach seinem Be¬
stimmungsort Ersing-jam reiste, und ein persischer Offizier aus dem Kosaken-
leibregiment des Schäds, das nach russischem Reglement ausgebildet und mit
Russen besetzt wird, machten aber eine rühmliche Ausnahme. Der persische Offizier
reiste in ebenso einfacher wie kleidsamer Uniform und kostete mich, bis später
des Rätsels Lösung kam, viel Kopfzerbrechen, da seine himmelblauen Hosen und
das schwarze Uniformjackett in meine Kenntnis russischer Uniformen nicht hinein¬
passen wollte. Von den Deckpassagieren schälten sich Abends und Morgens
einige aus der Pracht ihrer Decken und Lager am Schornstein, um auf dem
Promenadendeck über dem Salon zu beten. Man ließ sie gewähren. Andre
gaben, obgleich der Koran es nicht will, und sie sich etwas zierten, wenigstens
brauchbare Bildertypen.
Bei zehn Seemeilen Fahrt kam am folgenden Morgen sehr bald Land in
Sicht, und das Meer wurde etwas ruhiger. Noch aber hingen dicke Wolken
um den Bergen tief zum Wasser herunter und versperrten jede Aussicht. Ver-
schiedne kleine Orte tauchten am Ufer auf, und Flußmündungen öffneten die
Kulissen der Uferlandschaft, die teils jäh zum Meer abstürzt, teils wenig Anbau
verratend und wenig Straßen, wenig Leben zeigend hoch aufsteigt und noch
bedeutendere Höhen im Innern verspricht. Norwegens Küste wird zum Ver¬
gleich herangezogen. Düster ist jedoch das Bild, und wenig erfreulich noch die
Fahrt. Um zwei Uhr Nachmittags geht der Unsitte in dem gelb erscheinenden
Wasser der Reede von Jneboli zu Anker, löscht, nimmt neue Ladung und
erleichtert sich um eine ganze Anzahl Deckpassagiere. Viele Kalks mit bunt
bcturbanten und fetzenbekleideten Ruderern drängen an das Schiff. Der Agent
des Lloyds, ein schwarzbärtiger, nur italienisch und ebenso geläufig wie schlecht
französisch sprechender Herr, der vor einiger Zeit von Alexandrette auf zwei bis
drei Jahre hierher versetzt worden ist — der Arme! —, nimmt uns an Land.
Sein Kalk führt um die aus glücklicherer Zeit stammenden Reste der Mole
zum Bureau des Hafenbeamten, der uns gütigst Erlaubnis zum Aufenthalt an
Land erteilt. Jneboli ist ein gottverlassenes Nest, das mit einer Kastellruine
und einer hohen Schutzmauer gegen die starke Brandung von entschwundner
Bedeutung erzählt und heutzutage zwar lebhaften Ausfuhrhandel mit Schaf¬
wolle, Ziegenhörnern und Äpfeln treibt, auch durch die ganz brauchbare Straße
uach Kastamuni mit dem Innern verbunden ist, aber im übrigen, abgesehen von
einem ärmlichen Trottoir, jedwede Kultur vermissen läßt. Alle an beiden Flu߬
ufern verteilten Häuser sind schiefe und winklige Holzbauten mit vergitterten
Fenstern, und nichts, wirklich nichts lockt auf den Basar zum Kaufen. Schmutz
und Armut herrschen vor, was um so auffälliger ist, als die Lage des Ortes
an sich und als Ausgangspunkt eines chaussierten Verkehrswegs Verdienst
bringen müßte. Allerdings die Reede ist nicht günstig, weil sie frei und offen
den Nordstürmen ausgesetzt ist. Genau so liegen die Verhältnisse in den
nächsten Küstenorten, in deren Handel sich die kleinasiatischen Dampferlinien
teilen. Alle wie Jneboli malerisch liegend, sich an den Uferhöhen amphi-
theatralisch aufbauend, von ferne bunt und sauber erscheinend, sind sie Bilder
verfallner Größe. Die standfesten Ruinen alter Schlösser der Genuesenzeit er¬
innern an die Periode, in der die mächtige Republik den Transithandel nach
Zeutralasien beherrschte, den Handel mit Kleinasien ganz in Händen hatte und
durch Hafenbauten Schiffsverkehr zu jeder Zeit ermöglichte. Denn auch darin
sind diese Küstenplätze einander gleich, daß sie bei Nordsturm nicht zugänglich
sind, und bei der Veränderlichkeit des Wetters kein Schiff ohne Dampf vor
ihnen liegen kann. Die Gewalt des Wassers hat die gewaltigen Molen und
Quais überall in Trümmer gelegt, die türkische Mißwirtschaft aber hat weder das
Bedürfnis anerkannt, noch Mittel gefunden, nur das Bestehende zu erhalten.
Wenig Orte erheben sich über den Durchschnittszustand dieser Küstenplätze,
deren gegenseitige Interessen so gering sind, daß nicht einmal eine leidliche
Küstenstraße sie alle verbindet. Nur der Telegraph führt in ununterbrochner
Linie von Osten her bis Jneboli an der Küste entlang und wendet sich dann
landeinwärts. Sinob und Samsun sind regere Städte, die auch etwas günstigere
Bedingungen für die Schiffahrt ausweisen und darum öfter angelaufen werden.
Die Gestaltung der Küste schützt ihre Reeber wenigstens vor Nordwestwinden.
Das Kap Jndje Burnn bei Sinob ist überhaupt eine Wetterscheide, deren
vorteilhaften Einfluß wir höchst angenehm empfunden haben. Denn jenseits
Sinob wurde unsre Fahrt zur schönsten Vergnügungsfahrt auf spiegelglatter,
tiefblauer See. Als am zweiten Morgen die Ankerkette ablief und unsre Ruhe
unterbrach, lagen in der herrlichen Morgensonne die Ufer der Bai von Samsun,
noch von leichtem Nebel umhüllt, vor uns. Der Jeschil Jrmak. der kleinere
Bruder des Kiön Jrmak, hat hier in jahrtausendelanger Arbeit ausgedehnten
günstigen Ankergrund geschaffen, und da zugleich die Nandgebirge zwischen dem
1260 Meter hohen Rehlen Dagh und dem Fluß eine die Durchführung von
bequemen Handelsstraßen nach dem alten Amasia und nach Mersiwan be¬
günstigende Einsattlung zeigen, so sind tatsächlich alle Bedingungen gegeben,
Sursum eine größere Bedeutung für den Handel zu verleihen. Die Einfuhr
(Kolonialwaren. Petroleum, Eisen, Manufakturen) betrug 1895 annähernd acht,
die Ausfuhr (Opium, Mehl. Tabak. Früchte) annähernd zehneinhalb Millionen
Mark. Mit 10000 Einwohnern Hauptort des Sandschaks Dshcmik, ist es Sitz,
mehrerer Konsulate und auch äußerlich ein Platz, der einen gewissen Wohlstand
verrät und einen wohlgeordneten Eindruck macht. Die geraden Straßen sind
besser als die in Konstantinopel, die Häuser regelmäßiger, ordentlicher, fester;
im armenischen Stadtteil lösen tadellose Villen, die Wohnungen wohlhabender
Kaufleute und der zahlreichen Schiffsagenten und Konsularbeamten, einander
ab. Die Häuser klettern zu dem auf einer Anhöhe über der Stadt liegenden
geräumigen Spital empor und sind von Gurten umgeben. Unten an der Basar¬
straße war reges Leben, Verkaufsstand reihte sich an Verkaufsstand bis zu dem
großen Zollabfertigungsgebäude, von dem aus sich je ein Landungssteg für
Personen und Güter weit in das Wasser der Bai erstreckt.
Leider hatten uns recht üble Nachrichten vom Agenten, daß in Batna alles
drunter und drüber gehe, und daß die Behörden keinen Einfluß hätten, die
Schwingen etwas gelähmt und ließen uns einen Besuch des alten Kastells
neben dem Leuchtturm über der Besprechung neuer Pläne vergessen. Als wir
an Bord zurückgekehrt waren, fehlte fahrplanmäßig die Zeit, das Versäumte
nachzuholen. Unsre Pläne aber, uns nötigenfalls quer durch Kleinasien zu
schlagen, wurden bei dem Mangel geeigneter Karten etwas phantastisch. Doch
beschlossen wir, vorerst uns treu zu bleiben und bis Trapezunt zu fahren und
glaubten, die Angelegenheit um so eher „dilatorisch behandeln" zu können, als
wir in Trapezunt einen deutschen und einen russischen Konsul finden sollten.
Und so blieben wir an Deck und konnten während der Stunden, um die der
Kapitän der voraussichtlich glatten Fahrt wegen die Abfahrt hinausschob, mit
Behagen das Landschaftsbild und das Hafentreiben bei angenehmer Temperatur
vom Deck aus bewundern. Jetzt traten auch im Osten schneebedeckte Berge aus
dem leichten Nebelschleier heraus und glitzerten in der Sonne. Die länder¬
kundigen Reisegenossen meinten diesesmal an den Genfer See erinnert zu werden.
Als gar ein Dampfer der Hamburger Levantelinie, der große Skyros, einlief,
und dessen liebenswürdiger Kapitän uns verhieß, er würde auf alle Fälle Batna
anlaufen, sich auch erbot, uns mitzunehmen, blieb nur noch Genußstimmung
übrig und äußerte sich in harmlosen Spiel mit den Möwen, gesundem Appetit
und später in einer Mondscheinpromenade an Deck. Und der Tag schloß friedlich
mit dem unvermeidlichen Skat, dessen Gewinst, in einer Festkasse thesauriert,
zu einem Schlußfest in Moskau bestimmt worden war.
Auch vor Kerassund hielt der Unsitte einige Stunden. Wieder war es
ein taufrischer Morgen, als der Anker fiel, und der übliche Lärm sich über uns
erhob, fremdartig an die Ohren klang. Alle möglichen nicht zu erkennenden
Sprachen werden hier gesprochen, nur nicht Deutsch. Die Schiffsbesatzung be¬
steht aus Dalmatinern, Slowenen und Slowaken, Ungarn vielleicht und Italienern,
und ganz allein der Steward und der eine von den Offizieren konnte sich mit
uns verständigen, da unser gesamtes Italienisch bei der Zungengeläufigkeit dieser
Leute nicht ausreichte. Auf einem von Trapezunt her angekommnen türkischen
Dampfer, der uns beim Einlaufen beinahe anrannte, war das herüberschallende
Geschrei noch lauter; gedrängt voll stand die Bordwand, und der Gedanke, dort
nächtigen zu müssen, erweckte schauderndes Mißbehagen, nachdem wir bei einer
Morgenpromenade an unserm Deck sich eine Anzahl Türken über dem Mcischinen-
inume noch in Matten und Decken hatten räkeln sehen.
Kerassund, auf einer beiderseits wieder eingebuchteten Halbinsel an die steil
aufsteigenden Felshänge geklebt und rechts und links davon sich ausdehnend,
einst von einem starken Schloß auf der isolierten Hohe der Halbinsel beherrscht,
gewährt einen besonders malerischen Anblick und hätte vielleicht einen Aufent¬
halt gelohnt. Nirgends treten sonst die damals mit Schnee bedeckten schroffen
Bergformen so stimmungsvoll an einen größern Ort heran, nirgends ist die
Szenerie so wechselvoll, als bei der Küstenfahrt an dieser Stelle, wo sich einst
die letzten Neste der Zehntausend einschifften, nachdem sie die Schwachen und
Kranken, Weiber und Kinder schon in Trapezunt gebrechlichen Fahrzeugen an¬
vertraut hatten.
Bei wunderbarem Wetter und immer klarer werdender Luft wurde gegen
zehn Uhr Morgens die Fahrt nach Trapezunt fortgesetzt. Wie ein herrliches
Gemälde zog die reich gegliederte Gebirgslandschaft, zogen die hellbestrahlten
Hänge, dahinter schneebedeckte blendend weiße Gipfel von fast 3000 Metern
Höhe vor der tiefblauen, ganz leicht gekräuselten, manchmal spiegelglatten See
vorüber. Kaum gibt es wohl eine schönere Meerfahrt als dieses Hingleiten
auf den Spuren der Argonauten. So gehts an Tireboli, an dem weithin er¬
kennbaren Kap Zephyros vorbei. Stellenweise werden Uferstraßen mit der
Telegraphenleitung sichtbar, folgen einem schmalen Saume zwischen Berg und
Brandung und winden sich in Zickzacks die Berge hinauf, wo sie über steile
Felsstürze hinwegklettern. Tot ist dennoch auch diese Landschaft, ein trauriges
Zeichen des mangelnden Vermögens der Türken, Kultur zu erhalten, geschweige
denn zu verbreiten. Kein Dampfer läßt sich sehen, kein Segel, soweit das Auge
reicht, wenig Nachen, als wir größere Orte passieren. Nur Delphine spielen
auf dem Wasser, in dessen Tiefen wegen des Schwefelgehalts kein größeres
Lebewesen existiert. Erst Trapezunt zeigt mehr Leben und verbreitet solches in
die weitere Umgebung. Hier treten die höhern Kämme, der Kolat Dagh
(3410 Meter), etwas weiter zurück und eröffnen einer reichern Vegetation die
Möglichkeit des Gedeihens. Bei unsrer Winterfahrt konnte man nur ahnen,
w welcher Pracht diese Landschaft im Frühlingsgrün erglänzen muß. Was sie
mit den schönsten Teilen Norwegens vergleichen läßt, ist die Verbindung von
Wasser, Gebirge und Schneefeld. Taut dieses weg, so verschwindet der Ein¬
druck des Düstern und zur Schwermut stimmenden der norwegischen Felsen¬
ufer, und dann ist die Sonne sehr bald kräftig genug, mit hatten warmem
Scheine die Vegetation schnell zu üppiger Blüte und Frucht zu reifen. Darum
ist es kein Wunder, daß dieses Land am Pontus Euxinus griechischen Kolonisten,
den Milesiern, begehrenswert erschien, daß sie es sich mit immer weiter
vorgeschobnen Pflanzstädten unterwarfen und von Sinob aus, wahrscheinlich
schon im siebenten Jahrhundert v, Chr., in dem alten Trcipezus eine Handels¬
empore schufen, in der allmählich der reiche Erz-, Woll-, Obst- und Getreide¬
handel der Schwarzenmeerländer monopolisiert wurde. Wie die Griechen, so
fanden die Byzantiner Gefallen an der Gegend. Sie gehörte vom neunten bis
zum zwölften Jahrhundert zum Thema Chaldia des Byzantinischen Reichs und
wurde, als 1204 die Kreuzfahrer die Komnenen aus Konstantinopel vertrieben
hatten, ein eignes Kaiserreich Trapezunt, zu dessen Gebäude ein Prinz des
Hauses der Komnenen, Alexios, vormals Statthalter, den Grundstein gelegt
hatte. Im Jahre 1462 erlag David Komnenos den Seldschukken, und nun
kamen über Trapezunt die Unglückszeiten türkischer Satrapenwirtschaft. Als
Vorort des Wilajets (Generalgouvernements) desselben Namens wurde es gleich¬
wohl nicht zur Bedeutungslosigkeit andrer Städte hinabgezogen. Im Jahre 1896,
vor den Armeniermetzeleien, hatte es 35000 Einwohner (darunter 19500 Mo¬
hammedaner, 8000 Griechen und 6000 Armenier), und noch heute ist es der
bedeutendste Handelsplatz an der kleinasiatischen Schwarzenmeerküste, der Sitz
einer Anzahl Konsulate. Obgleich neben Großbritannien, Österreich-Ungarn und
der Türkei selber vornehmlich Deutschland an dem Handel beteiligt ist, und
obwohl die deutsche Levantelinie regelmäßigen Frachtdampferverkehr eingerichtet
hat, werden die deutschen Interessen leider immer noch vom österreichisch-
ungarischen Konsul vertreten, der zugleich Agent für den Österreichischen Lloyd
ist, die österreichische Levantepost bedient und bei dieser Ämterhüufung zwar
eine große Menge Entgegenkommen zeigt, aber auch wieder kein Wort Deutsch
versteht.
Wir näherten uns Trapezunt mit ähnlich frohen Gefühlen, wie sie ihrer-
zeit in Xenophon und seinen Kampfgenossen der Anblick des Meeres erweckte,
und spähten sogleich nach einer passenden Höhe, von der sie die Thalatta be¬
grüßt haben mochten. Unsre Interessen waren jedoch vornehmlich durch die
Gestaltung unsrer nächsten Zukunft in Anspruch genommen. Zwei von uns
gingen, sobald dazu Erlaubnis erteilt wurde, an Land, um Nachrichten ein¬
zuholen, während wir beiden andern Muße genug hatten, in der warmen Nach¬
mittagssonne an Deck sitzend Landschaft und Hafenleben zu bewundern. Hier
herrschte doch regeres Treiben als in den andern Plätzen, die wir angelaufen
hatten. Zu unsrer Freude war der Hamburger Slyros schon anwesend und
hatte den blauen Abfahrtswimpel, das Zeichen, daß die Abfahrt noch vor Mitter¬
nacht erfolgen soll, geheißt. Neben uns lag ein Dampfer der französischen
Gesellschaft Uffs^friss maritimss und die Hungaria des Lloyds, die aus
Batna zurückgekehrt war. Zweifellos sah der Skyros am stattlichsten aus;
jedenfalls war zu bemerken, daß sämtliche auf der südlichen Linie verkehrenden
Dampfer keine Schiffe erster Klasse sind. Umschwärmt waren die großen Schiffe
von einer Anzahl Boote, deren Inhaber sich immer wieder mit lockenden An-
erbietungen nahten, uns zu Lande zu fahren. Endlich kehrten unsre Abgesandten
zurück, brachten die Nachricht, daß der Unsitte nicht nach Batna gehn würde,
da die Hungaria nicht habe löschen können. Der Skyros war erbötig, uns
mitzunehmen. Es war aber ein wahres Glück, daß der türkische Hafenbeamte,
gerade als wir von diesem Anerbieten Gebrauch machen wollten, die Sonne
hinter den Bergen verschwinden sah und sich sofort für berechtigt hielt, seiner
angestrengten Tätigkeit für diesen Tag ein Ziel zu setzen. Da ohne seine Zu¬
stimmung der Übergang ans ein andres Schiff ausgeschlossen war, und uns kein
Boot zum Skyros gebracht hätte, so waren wir zunächst an Bord gefangen.
Es war wirklich ein Glück, denn der Skyros erhielt in Risch, dem nächsten Orte,
den er anlief, telegraphisch Segelorder für Odessa. Zunächst waren wir wieder auf
dem Punkte, alle möglichen Fülle bedenken zu müssen, sagten uns aber, daß wir
nun Genaueres erfahren würden und schlimmstenfalls zwei Tage später nach
Konstantinopel zurückkehren könnten. Und dann genossen wir in der schnell
hereinbrechenden Nacht den zauberischen Anblick der hellbeleuchteten an den Ufer¬
höhen aufsteigenden Stadt bei einem Sternenhimmel, der an Pracht seinesgleichen
suchte und nichts an Glanz verlor, als auch der Mond über die Berge kletterte
und sein silbernes Licht auf die spiegelglatte Bucht warf.
Erst nach dem Mittag des folgenden Tages geruhte der wohlgenährte
Hafentyrann seinen Laden zu öffnen — keine Botschaft hatte sein Phlegma er¬
schüttern können. So lange saßen wir vor Trapezunt wie der Storch vor der
ihm auf dem Teller servierten Mahlzeit. Ein vom Agenten empfohlnes Subjekt
komplizierten Herkommens und Diamant geheißen bot seine Dienste als Dra¬
goman an, und mit seiner Hilfe gelangten wir durch Zollschikanen hindurch,
unsrer Bildungsmittel in Gestalt der Reiseführer und dergleichen vorübergehend
beraubt, nach Abgabe unsrer Pässe zu dem Pensionat der Frau Marengo
und — waren höchst angenehm enttäuscht. In einer netten, saubern Villa in
Schweizerstil mit breitem Söller vor unsern Fenstern fanden wir sonnige, hohe,
luftige Zimmer, gute Betten und vorzügliche Küche für einen sehr mäßigen
Pensionspreis und in Frau Marengo eine zwar nach südländischer Art in die
Breite gegangne, aber sehr gutmütige Dame italienischer Herkunft und griechischer
Untertanenschcift, die die nötigen Unterhandlungen mit uns auf Französisch, mit
Herrn Diamant auf Armenisch pflog und dem Diener gar auf Lasisch oder
Kurdisch Anweisungen gab. Auch des sehr gefülligen Sohnes des Hauses ge¬
denke ich dankbar. An ständigen Tischgästen fanden sich der italienische Konsul,
ebenfalls ein liebenswürdiger Mann, und ein jeder andern Sprache unkundiger
italienischer Musiker ein. Da es auch an musikalischer Unterhaltung nicht fehlte,
so war, um mich des üblich gewordnen Ausdrucks zu bedienen, alles da, unsern
Aufenthalt ganz gemütlich, beinahe zu einem Idyll zu machen, zumal da uns
fortwährend ausgezeichnetes Wetter begünstigte. Wir hatten alle Muße, uns
eine türkische Hafenstadt mit ihren Eigentümlichkeiten gründlich anzusehen, den
Trümmern alter Kultur Besuche abzustatten und die Schönheit der wechselnden
Landschaftsbilder von allen möglichen Aussichtspunkten zu genießen. Jedes
Bild hat seinen eignen Reiz, der Anblick der zur eigentlichen Geschäftsstadt ge-
wordnen Oststadt und des Hafens in der Morgensonne vom Söller der Villa
Marengo aus, die Aussicht vom armenischen Nonnenkloster oder von dem
darüberliegenden Berggipfel auf die gesamte Stadt und die westliche Uferland¬
schaft, von der griechischen Kirche auf die Niederstadt und das Meer und die
von der untergehenden Sonne rötlich bestrahlte Abendlandschaft mit den bunt¬
farbigen, flach gedachten Häusern, den hier gar nicht so ernst erscheinenden
Zypressen dazwischen und den Ruinen der Kaiserburg. Als wir dies Bild hoch
oben in den Grotten der Höhlenkapelle über dem griechischen Kirchhof auf uns
wirken ließen, schallte der allabendlich gegen Sonnenuntergang in der Kaserne
vorn am Hafen auf volltönenden Instrumenten gespickte, sehr melodisch klingende
Zapfenstreich nach einigen Märschen ergreifend zu uns herüber und schloß mit
dem üblichen Hoch aus rauhen Kehlen auf des Großherrn Majestät. Fast noch
schwerer war es, sich dem Zauber der Mondnächte zu entziehn, die über den
Hafen heraufzogen, und deren silberner Glanz die aus dem Abenddunkel heraus¬
glühenden Lichter der Häuser ablöste; wahrhaftig eine Stimmung für ein Märchen
aus Tausend und einer Nacht.
LIis >vormsg.tsii mola ok i-ggMä stons . . .
errp Percy, Kapitän Henry Percy — auch der Bastard von Alnwick
genannt—- war ebenso wie Lady Elizabeths Vater, der Jarl Jocelyn,
ein Enkel des berühmten Henry Percy, des neunten Jarl von
Northumberland — tue M^s-ra nark. Als dieser im Herbste anno
vomwi 1632 starb, hinterließ er zwei Söhne: Algernon, den zehnten
I Jarl, der — wie jedermann weiß — im Bürgerkrieg Partei für das
Parlament ergriff, und Sir Henry Percy, der wegen seiner Treue gegen die Sache
Karls des Ersten zum Lord Percy von Alnwick ernannt wurde.
Dieser Lord Percy spielte in den vierziger Jahren eine große Rolle unter
den Kavalieren, war einer der kühnsten Neitergenerale seiner Zeit (nach der
Affäre bei Newbury nannte ihn Prinz Ruprecht, der alte Chroniken gelesen hatte,
scherzweise Harry Heißsporn, und den Namen sollte er lange behalten) und be¬
gleitete bei König Karls Tode den Prinzen von Wales nach Holland. Kurz vor
der Restauration, als er schon ein Mann von mehr als fünfzig Jahren war, hielt
er sich eine Zeit lang auf Alnwick auf und hatte mit einem schottischen Presbyter-
Mädchen, das dort auf dem Schlosse diente, einen Sohn, den er, als die Mutter
im Wochenbette starb, sofort reuig als den seinen anerkannte, und dem er in der
Taufe seinen eignen und seines Vaters Namen: Henry Percy gab.
Gar manche waren der Meinung, der Knabe sei in gesetzmäßiger Ehe ge¬
boren — Janet aus Liddesdale, die so gottesfürchtig und fromm war, konnte sich
nicht auf gewöhnliche Weise haben verführen lassen. Aber das war nicht der Fall.
Wäre es wahr gewesen, so hätte zweifelsohne Lord Percy, als er auf seinem
Sterbebett den Sohn feierlich seinem Bruder, dem Jarl anvertraute, dies bekannt.
Jarl Algernon, der, solange er lebte, für den gerechtesten Herrn in England galt,
hielt immer, trotz den Einwendungen der Gräfin, männlich das dem sterbenden
Bruder gegebne Wort und ließ den Sohn erziehen, wie es einem echten Percy
zukam und gebührte. Sein Sohn, Jarl Jocelyn, hatte dasselbe starke Pflichtgefühl
wie der Vater, und solange er die Macht hatte, änderte sich auch nichts in
Harrys äußerer Stellung. Er wie auch seine Gattin nahmen sich warm des
illegitimen Vetters mit wirklicher Liebe an, und in spor House wuchs der Knabe
zusammen mit ihrem eignen einzigen Töchterchen, Lady Elizabeth, auf, die nur acht
Jahre jünger war. Als sich aber Jarl Jocelyn auf die lange Reise ins Ausland
begab (die seine letzte werden sollte), schickte er — da man in diesen Jahren be¬
ständig einen neuen Ausbruch der Pest in London erwartete — der Sicherheit
halber beide Kinder nach Alnwick. Schon damals war Henry Percy der kleinen
Lady Elizabeth liebster Spielgefährte, und als dann die traurige Nachricht von des
Vaters Tode aus Turin eintraf, schloß sich das kleine Mädchen, das jetzt unter des
Königs und ihrer Familie Vormundschaft alleinige Herrin der Güter ihrer Vor¬
fahren war, noch ausschließlicher an ihren jungen Verwandten an — an den
einzigen jungen Mann, der jetzt den Namen Percy trug.
Außer ihr gab es nach des letzten Jarls Tode niemand, der ein besondres
Interesse für den armen Percy an den Tag gelegt hätte — außer vielleicht Sir
William Temple, der seinerzeit seinem Vater und seinem Großvater nahe gestanden
hatte. Jedenfalls war es Sir William, der, als Jarl Algernons Witwe, Lady
Elizabeth Howard, nach des Sohnes Tode große Lust zeigte, ihre Hand gänzlich
von dem Knaben abzuziehn, hartnäckig dessen Recht vertrat und es durchsetzte, daß er
auch in Zukunft Alnwick als sein Heim betrachtete und als Gentleman erzogen wurde.
In diesem Kampfe mit der alten verwitweten Gräfin wurde Sir William kräftig
unterstützt von Jarl Jocelyns Witwe und von deren Schwägerin, Harrys bedeutend
älterer Base Lady Cassel, Gräfin von Matten und Essex. Sie war eine ver¬
ständige und kluge Frau, konnte sich aber niemals von der fixen Idee befreien, daß
Harry von ehelicher Geburt und nach ihres Bruders Tode der allein berechtigte
Erbe des Jarltums und der Baronien sei. Es ist möglich, daß der Unwille und
der Trotz, den sie gegen ihre Stiefmutter, die alte Gräfin, nährte, mächtig dazu
beitrug, diese Vorstellung am Leben zu erhalten. Tatsache ist jedoch, daß sie
immer auf feiten des Knaben stand, und daß durch ihre Fürsorge passende Kleider
Wie brauchbare Lehrer nach wie vor für diesen Sohn ihres Oheims angeschafft
wurden.
Gleich nachdem man auf Alnwick die Todesnachricht aus Savoyen erhalten
hatte, fing man an, von Lady Elizabeths Umzug zu der Großmutter nach Petworth
ZU reden. Die alte Gräfin, die ihre Schwiegertochter haßte (namentlich nachdem
s'es diese, ziemlich schnell, mit dem Gesandten in Paris, Herrn Montagu, wieder¬
verheiratet hatte), stand nämlich nach dem Testament des letzten Jarls der jungen
Erbin am nächsten, und sie wünschte, wie das ja natürlich war, sie unter ihrer
eignen persönlichen Aufsicht zu erziehen. Lady Elizabeths Mutter hatte nach ihrer
zweiten Verheiratung nichts mehr über die Tochter zu sagen, die sie allmählich
beinahe als Fremde betrachtete.
Eine Übersiedlung von Northumberland nach Sussex war aber nicht so leicht
zu bewerkstelligen — viele Gefahren lauerten auf der „großen Nordstraße", und
Reisende, die gezwungen waren, sich in die Grenzgegenden zu wagen, fühlten sich
ihres Lebens so wenig sicher, daß sie zuvor ihr Testament zu machen pflegten. Im
Winter war es eine Unmöglichkeit, an eine solche Reise für das Kind zu denken,
und die folgenden Sommer waren ungewöhnlich kalt und regnerisch. Lady Elizabeth
bekam Masern und Keuchhusten — man wagte nicht, mit ihr zu reisen, sie blieb
nach wie vor da, wo sie war, und wurde ein großes Mädchen von zehn bis zwölf
Jahren, ehe sie ihr Stammschloß verließ und nach Petworth übersiedelte. Die
alte Gräfin, schon damals durch Gicht gebrochen, war sehr ungeduldig über diese
Verzögerung, aber die übrigen Verwandten trösteten sich leicht: Sie ist dort ja
ebenso sicher wie hier, und die Bulldogge Harry wird die Tore von Alnwick schon
bewachen.
Das tat Harry auch. In seiner Gnade — als Höflichkeit gegen Lady Elizabeth
und gewissermaßen aus Pietät gegen seinen Vater — hatte Karl der Zweite auf
Sir William Temvles Rat dem jungen Percy den Rang eines Kapitäns bei dem
neuerrichteten Dragonerregiment verliehen, das zu jener Zeit in Berwick zu liegen
pflegte, und mit des Königs Erlaubnis übernahm er, trotz seiner Jugend, bald den
Befehl über die Garnison auf Alnwick. Denn Alnwick war nach wie vor ebensosehr
Grenzfestung wie zu der Zeit, wo Harry Heißsporn in tus Lnsv^ Otmss seinen Erb¬
feind Jakob Douglas schlug, und noch jetzt waren Wälle und Bastionen Tag und
Nacht mit gepanzerten Knechten besetzt, die der Percys halbmondförmiges Abzeichen
trugen, und niemand wagte es, jemals durch den viereckigen Turm, den Heißsporns
Sohn erbaut hat, aus oder ein zu gehn, ohne die gebührende Losung zu geben.
Das Schloß selbst war jetzt freilich ganz verfallen, denn während der ganzen langen
Zeit unter Elisabeth und König Jakob, wo die Percys in Ungnade waren, hatte
die Familie nicht die Erlaubnis gehabt, ihre Güter nördlich von der Trent zu be¬
wohnen, aber die weitläufigen Vorwerke mit der berühmten Mauer und den vielen
Türmen waren so uneinnehmbar stark wie nur je zuvor. Es war auch Lady
Elizabeths wegen in hohem Grade notwendig, daß Alnwick so stark befestigt war,
denn die ganze Gegend südlich von der Tweed war noch genau so unsicher und
gesetzlos wie vor hundert Jahren, als der Jarl von Bothwell als Königin Marias
Grenzleutnant den Northumberländern die Hölle heißmachte. Die Viehräuber und
die Landstreicher hielten sich jetzt wie bisher in den Cheviothügeln auf, unternahmen
förmliche Plünderungszüge und machten die Wege über die Grenzen oft ganz un¬
fahrbar. Die Schlösser des Adels und die größern Herrensitze waren alle, den Mitteln
und Verhältnissen entsprechend, befestigt; man schlief mit der Waffe über dem Kopf¬
ende des Bettes und mit geladner Pistolen an der Seite, während Kessel mit
heißem Wasser die ganze Nacht über dem Herdfeuer kochend gehalten wurden, und
die von der Regierung gutgeheißnen Bluthunde frei auf dem Hof umherstreiften.
Jetzt wie ehedem war Alnwick das Hauptquartier; die Bevölkerung in Northumber¬
land betrachtete jetzt wie ehedem die Percys als ihre natürlichen Anführer: konnte
sonst niemand das schottische Gesinde! bezwingen — ein Percy würde ihnen schon
die Stange halten. . . ."
Jetzt aber gab es in Northumberland keinen Percy außer dem „Bastard und
der kleinen souveränen Baronin Elizabeth, die auf ihren schmalen Schultern die
ganze kolossale Bürde und Verantwortung, die Verpflichtungen und das Prestige
trug, die der berühmteste Name Nordenglands im Gefolge hatte. Sie tat, trotz
ihrem zarten Alter, was sie konnte: sie inspizierte täglich in höchsteigner Person
ihre kleine Armee, nahm die Obdachlosen auf, wenn die Grenzräuber den Ärmsten
das Dach über dem Kopfe verbrannt hatten, hielt zwei- bis dreimal so viel Diener¬
schaft, als sie nötig hatte, empfing mit königlicher Gastfreundschaft alle Reisenden
von Rang, die am Schloß vorüberkamen (es waren freilich nur wenige), bestrafte
unerbittlich alle Wilddiebe und jagte schon als ganz kleines Mädchen tapfer ihr
Hochwild im Hulne Park.
Zu jener Zeit war Lady Elizabeth ein despotisches, heftiges, warmherziges
und einsames Kind mit einem leidenschaftlichen Verlangen, sich anzuschließen — halb
verwöhnt, halb bedrückt durch ihre große und prätentiöse Bedienung, die fast den
Charakter eines Hofes hatte. Den höchsten Rang unter ihren vielen Untertanen nahm
Henry Percy ein, ihr beständiger Begleiter und selbstverständlicher Beschützer. Er
war immer an ihrer Seite zu finden: er hielt sie auf ihrem ersten Pony und über¬
hörte ihr die erste Lektion, lehrte sie auch mit der Büchse schießen und eine Pistole
laden. Er war schon alt genug, daß er seine schiefe Stellung in vollem Maße
erkennen konnte. Und seine Gefühle für Lady Elizabeth bestanden seit ihrer frühesten
Kindheit aus einem eigentümlichen Gemisch von beinahe feindseligem Neid auf die
Erbin, angeborner feudaler Ehrfurcht vor dem Oberhaupt des Geschlechts, wie einer
gewissen ritterlich beschützenden Zärtlichkeit für das kleine hilflose Mädchen, das ihm
durch die Bande des Bluts so nahe stand. Und obwohl er sich später — zu einer
Zeit, wo er schon ein erwachsner Mann und sie noch ein Kind war — gewisser¬
maßen von andern Frauen (die „rothaarige Constance" war natürlich nicht nur
eine eifersüchtige Einbildung bei Lady Elizabeth) stärker gefesselt fühlte, so blieb
doch „Beß", in deren zarten Händen unter anderen seine ganze soziale und öko¬
nomische Stellung lag, jederzeit die, um die sich seine meisten Gedanken konzentrierter.
Sie merkte es selbst sehr bald: niemand war so hart gegen sie wie Harry, und
niemand war so gut gegen sie. Niemand verlohnte es sich, in dem Grade zu
reizen wie Harry, niemand war so dankbar für einen Beweis von Edelmut und
Zärtlichkeit wie er. Sie sah immer ein klein wenig auf ihn herab — über den
Makel, der auf seiner Geburt lag, hörte sie ja beständig von andern reden — und
fürchtete dabei doch niemand in der Welt so, wie sie ihn fürchtete. Fühlte sie,
daß sie gegen seinen Willen gehandelt hatte, so war sie untröstlich, bis er ihr ver¬
ziehen hatte. Um ihn zum Lachen zu bringen — er war von Natur ernsthaft,
ein wenig schwerfällig und mürrisch —, überhäufte sie ihn mit Gaben und Lieb¬
kosungen. Er verachtete in der Regel ihre Gaben, verletzte sie oft, indem er sie
ostentativ an andre verschenkte — war oft zornig über ihre Küsse. Wenn er sich
jemals herabließ, sie zu erwidern, war sie im siebenten Himmel und fühlte sich
geschmeichelter und stolzer, als wenn der König von England das Knie vor ihr
gebeugt hätte.
Kaum war Elizabeth nach vollendetem zwölften Jahre glücklich auf Petworth
installiert, als auch schon die Frage ihrer Verheiratung brennend wurde. Ihr erster
Freier war George Fitz Roy, einer von König Karls Söhnen mit der Herzogin
von Cleveland, und Seine Majestät bemühte sich wirklich so sehr, wie es ihm über¬
haupt möglich war, sich anzustrengen, um die Partie zustande zu bringen. Er
gab sogar dem jungen Manne — in der Voraussetzung, daß alles nach seinem
Wunsche gehn würde — die nach Jarl Jocelyns Tode ledige Würde eines Herzogs
von Northumberland. Aber alles scheiterte an dem Widerstande der alten Gräfin.
Sie hatte keinen übertriebnen Respekt vor „halbköniglichem" Blut, und ehr Be¬
streben ging hauptsächlich darauf hinaus, eine Ehe zu arrangieren durch die ste
ihrer Enkelin noch mehr Geld verschaffen konnte, als sie schon besaß. Der Name,
sagte die alte Dame, die keinen Augenblick vergaß, daß sie selber eine Howard war -—
gibt es einen Namen in England, der sich mit Bessies eignem messen kann?
Während der nun folgenden Jahre meldete sich ein Heiratskandidat nach dem
andern — die alte Gräfin war so davon in Anspruch genommen, ihre äußern
Qualifikationen zu untersuchen, daß es ihr auch mit keinem Gedanken einfiel,
darüber nachzudenken, ob sie auch in bezug auf persönliche Eigenschaften zu ihrem
Mündel Päßler. Endlich traf die alte Dame ihre Wahl, und im Alter von vier¬
zehn Jahren wurde Lady Elizabeth unter großer Teilnahme und viel Neid von
feiten zahlreicher vornehmer Familien mit jungen Söhnen verlobt und vermählt.
Der glückliche Bräutigam, der so den großen Preis gewonnen hatte, war Henry
Cavendish, Lord Ogle, einziger Sohn des Herzogs von Newcastle — ein Jüngling
von sechzehn Jahren und eine fast ebenso gute Partie wie die junge Baronesse selber.
Er erregte anfänglich ihre Neugier — sie interessierte sich in der Regel kindlich
lebhaft für Fremde —, und sie empfand immer, solange er lebte, ein aufrichtiges
Mitleid mit ihm. Er war ein kränklicher Jüngling, physisch kraftlos, ungewöhnlich
schwach begabt und Religionsgrübeleien ergeben, ein unentwickelter Knabe, der vor
Ablauf des Jahres starb, ohne jemals versucht oder auch nur gewünscht zu haben,
den schwächsten Beweis von der Zuneigung seiner jungen Frau zu erlangen.
Er erkrankte auf Alnwick, wohin sich das junge Paar, begleitet von der alten
Gräfin, begeben hatte. Lady Elizabeth sprach schon eifrig davon, das Schloß zu
restaurieren, und Lord Ogle hatte gewünscht, es zu sehen. Nach seinem Tode blieb
die junge Witwe vorläufig in Northumberland.
Das Wiedersehen zwischen Elizabeth und Henry Percy war anfangs sehr kühl
gewesen. Lady Elizabeth — niemand von dem nähern Kreise konnte sich recht ent¬
schließen, sie Lady Ogle zu nennen — hatte sich in den drei Jahren, die sie in
Sussex verlebt hatte, sehr entwickelt. Sie war ein völliges Kind gewesen, als sie
fortging, jetzt war sie — oder sah wenigstens so aus, als wäre sie es — ein
junges Mädchen, kleidete sich reich, trug sich, wenn sie es wollte, mit Haltung und
Würde. Harry hingegen war sich gleich geblieben, und es währte nicht lange
— obwohl er seinerseits sich zuerst sehr zurückhaltend zeigte —, bis ihr Benehmen
ihm gegenüber genau dasselbe war, wie es immer gewesen war. Lord Ogle war
schon bei ihrer Ankunft in Alnwick keineswegs gesund gewesen, und die be¬
kümmerte Gräfin beschäftigte sich in der ersten Zeit fast nur mit ihm. Elizabeth mußte
für sich selbst sorgen, und nun wurde es Percys Pflicht, sie zu unterhalten. Sobald
sie des Morgens erwachte, fragte sie nach ihm — der ganze Tag war beständig
ausgefüllt durch Ritte mit „Harry", Beratungen mit „Harry", Jagd mit „Harry",
Lektüre mit „Harry", Spiel und Scherz mit „Harry" und — wenn sie ihm oder
andern zuwiderhandelte — Schelte Von „Harry". Oft erinnerte sie ihn dann mit
schelmischem Übermut, wie bange sie als Kind vor ihm gewesen sei: wie sich alle
im Hause in letzter Instanz an ihn gewandt hatten, wenn sie ihnen zu beschwerlich
wurde. Wußte er wohl noch, wie er sie bei den Schultern gepackt und geschüttelt
hatte — xarols ä'bonnsur, monsisur! —, sie geschüttelt hatte, sodaß ihr die Zähne
im Munde klapperten, als sie den Suppenteller über der alten Anna Sonntags¬
kleid geschüttet hatte? . . . Wußte er das wohl noch? . . . Harry Percy Pflegte
nicht zu antworten — stand dumm und schweigend mit gesenkten Augen und einem
unsichern, unwilligen Lächeln vor ihr, die schelmisch und ihn unbarmherzig neckend
fühlte, wie sie ihm mit jeder Sekunde über den Kopf wuchs. Bis er plötzlich
— bis zum äußersten gebracht — endlich seinen Blick aufschlug und nun die Reihe,
sich außer Fassung zu fühlen, an dem Mädchen war. Aber niemals lange — niemals
lange. — Das war nicht Elizabeth Percys Art.
Dann — während dieser langen, sonnigen Septembertage.' zu Pferd unter
den gelbwerdenden Eichen, einherwandelnd in dem kleinen holländischen Obstgarten,
während der Mittagsrast oben im Wachtturm auf der Mauer faulenzend, des
Abends über ein Fensterbrett gebeugt flüsternd — lernten Lady Elizabeth und
Harry Percy begreifen, daß die vielen Stunden des Tages, in denen sie ungestört
zusammen sein konnten, keineswegs mehr zur Hälfte genügten für alles das, was
sie einander zu sagen hatten. Auch nicht annähernd . . .
Mitte Oktober kam die Nachricht von Lord Ogles Tod — er starb in Frankreich,
wohin seine verzweifelten Eltern ihn im letzten Augenblick geführt hatten —, und
Lady Elizabeth war wieder frei. Der Tod des jungen Mannes machte wenig
Eindruck auf sie, er war ihr immer nur wie ein Schatten erschienen, und sie hatte
sich nie im Ernst ein Leben an seiner Seite vorgestellt. Wenn auch ungeduldig,
so doch mit Würde trug die junge Witwe die ermüdende Last des langen und
verwickelten Trauerzeremoniells, das die Etikette der damaligen Zeit forderte. Sie
empfing monatelang niemand als ihre wohlmeinenden weiblichen Verwandten, ihre
Dienerinnen und — natürlich — ihren Vetter Henry. Ihn sah sie oft. Als der
Frühling kam — an den Abenden —, als sie meinte, in dem schwarzdrapierten
Gemach unter allen diesen Frauenzimmern, die aus Pflichtgefühl bei ihr saßen und
schwitzten, nicht mehr atmen zu können, kam sie auf den Einfall, nach ihm zu
schicken: sie hatte einen so sonderbaren Traum geträumt, hatte ein so merkwürdiges
Gepolter unter ihrem Fenster gehört — sicher war das Räubergesindel von der
Grenze wieder unterwegs . . . Ich muß mit Kapitän Percy reden!
Und als er kam — den Hut in der Hand — und dastand und in der Tür¬
öffnung gesenkten Hauptes wartete, Sonnenuntergang und Farbe» und Licht als
Hintergrund, da bat sie ihn, näher zu treten. Die Gesellschaftsdamen und Kammer¬
frauen, oder wie man sie nennen sollte, schlichen in das Nebenzimmer hinaus,
standen und flüsterte» und lachten an dem offnen Fenster — die Tür stand an¬
gelehnt. Lady Northumberland schlief.
Harry . . . Ich werde krank, wenn ich nicht bald wieder in den Sonnenschein
herauskomme — ich ersticke.
Sie stand mitten im Licht, das durch die Türöffnung fiel — in Schwarz
vom Scheitel bis zur Sohle, lang und schmächtig mit dem breiten weißen Kragen
und der Schürze.
Sieh meine Hände an, Harry — fast nur noch Haut und Knochen . . .
Er untersuchte gewissenhaft die Hände.
Herr Jesus . . . Sie entzog ihm plötzlich die Hände und schlug sie vor das
Gesicht. Gezwungen zu sein, hier Tag für Tag im Dunkeln zu sitzen . . . Und
dndrinnen in dem schwarzen Bett zu liegen! Sie schauderte. Wenn dies einmal
ein Ende hat, dann reise ich nach Petworth oder nach London oder gar nach Paris
— zur Mama —, das sage ich dir! Ja, das tue ich.
Sie erhob den Kopf und blickte ihn trotzig an, um zu sehen, wie er ihre
Drohung auffassen würde. Er antwortete nicht — stand da und schwieg, sah vor
sich nieder und wandte kühl den Kopf unter ihrem Blick ab.
Du machst dir nichts daraus . . . murmelte sie bitter enttäuscht und plötzlich
wie Tränen in den Augen.¬
Die Mädchen sagen, begann sie heftig von neuem, daß du jeden Abend weg
reitest, niemand weiß, wohin. Ist das wahr?
Er lachte höhnisch und zornig — maß sie von Kopf zu Fuß mit dem Blick.
Ich könnte der Dirne mit meinen eignen Händen die Angen auskratzen,
flüsterte Lady Elizabeth ganz bleich.
Das wäre für die „Dirne" — wer es nun auch sein mag, denn ich kenne
sie nicht — eine viel zu große Ehre, sagte er übermütig ironisch. Dann — nach
einer kurzen Pause — scharf tadelnd: Schickt es sich wohl, immer an ... an so
etwas zu denken!
Lady Elizabeth lachte nun — plötzlich unbekümmert, mit einem strahlenden,
errötenden Gesicht, in dessen Wangen sich zwei kleine Grübchen bildeten. Das wisse
sie wirklich nicht, sagte sie, aber die Mädchen sprächen immer von „so etwas", und
die Bücher handelten immer von „so etwas", und Harry vergaß immer, daß sie
jetzt groß und erwachsen war — und frei obendrein — frei, Monsieur Harry!
Daß er den Mut hatte, das zu vergessen . . . Frei wie der Vogel in der Luft.
Solange es währt, sagte Henry Percy finster.
LIis ng,Ä s, pÄSsion lor soviel povsr,
lor inovs^ avÄ lor watoKmMug.
Die alte Gräfin von Northumberland hatte in dem „alten Rattennest", wie
sie, nicht unberechtigt, das mehr als erlaubt verfcillne und mit wenig Bequemlichkeiten
ausgestattete Alnwick nannte, einen Anfall von Gicht bekommen. Das war der
Grund, weshalb die Herrschaften solange dort blieben — es war ja eigentlich die
Absicht gewesen, gleich nach Beendigung der Trauerzeit gen Süden zu reisen.
Es war jetzt zur Lenzzeit bitterkalt, und der Feuerstätten im Hause, die man
benutzen konnte, waren nicht viele. Die Gräfin wohnte in dem großen dreieckigen
Zimmer nach Nordosten; dort lag sie den ganzen Tag in ihrem viereckigen, ver¬
goldeten Bett mit einem goldbefransten, rotseidnen Himmel, der über die hohen
Bettpfosten gespannt war, einen Berg von Kissen im Rücken. Aus Petworth selber
hatte sie ihr eignes großes Oberbett aus Sammet mitgebracht, das zierlich mit
Blumenstickerei und Borten ausgestattet war, aber um die Wärme zu erhalten und die
Gicht aus dem Körper zu vertreiben, mußte sie außerdem immer zwei kleine Hunde
im Bett haben — ein Paar ältere, träge spanische Pudel, die immer am Fußende
lagen und schnarchten. Die hohe Frau war jetzt über sechzig Jahre alt und konnte
— wenn man bedachte, was sie in ihrem Leben durchgemacht hatte — wohl ein
Recht darauf haben, sich in ihren alten Jahren ein wenig gebrechlich zu fühlen.
Sie war unter König Jakob geboren und hatte in ihrer Jugend für eine der
anspruchsvollsten und reizendsten Schönheiten an Karls des Ersten und Königin
Henrietta Marias vornehmem und würdigem Hofe gegolten, wie auch als erklärter
Liebling ihrer Tochter, der Prinzeß Mary, die später Prinzessin von Oranien wurde.
Sie hatte den Bürgerkrieg ausbrechen sehen und hatte es erdulden müssen, daß ihr
Mann die Partei des Usurpators ergriff; sie hatte Karl Stuart auf dem Schafott
sterben und die königliche Familie landflüchtig werden und in Not geraten sehen.
Mit ihren Kindern hatte sie von dem einen der festen Schlösser der Familie Percy
nach dem andern ziehn müssen, hatte gesehen, wie die Paläste ihrer Jugend in
Schutthaufen und Baracken verwandelt, wie die Theater geschlossen, die Galerien
geplündert wurden, hatte das leuchtende England der Stuarts in Schwarz ge¬
kleidet gesehen, gepanzert, kopfhängerisch, fanatisch, bußfertig. Ihr hatte das
Parlament die Obhut der vaterlosen Königskinder anvertraut, und sie hatte die
junge Prinzessin Elisabeth — an der sie fast mehr hing als an ihrem eignen
Sohne — vor Schmerz und Kummer dahinsiechen sehen. Sie hatte ihren Mann
und ihren Sohn sterben sehen und saß nun hier allein mit der einzigen kleinen
Tochter des letzten Jarls — der einzigen Hoffnung des Percyschen Geschlechts! —
sowie dem Bastard ihres Schwagers, dem wilden Schößling, der alles Mark und
alle Kraft des einstmals so üppigen Stammbaums an sich gesogen zu haben schien.
Aber das Leben, das oft so hart gegen sie gewesen war, hatte den Hochmut und
die Lust der stolzen Elizabeth Howard, sich bis zuletzt hier in der Welt geltend
zu machen, nicht gebrochen. Sie war selbst so hochgeboren, daß sie mit Ausnahme
von Elizabeth Percy kaum eine Frau in England für ihresgleichen ansah. Unter
den Dienstboten erzählte man sich noch heute davon, wie sie niemals ihrer Schwieger¬
tochter, die doch ebensogut wie sie die Tochter eines Jarls war, erlaubt hatte, sich
in ihrer Gegenwart ohne Erlaubnis zu setzen. Und doch hatte sie noch mehr
Respekt vor Geld als vor Geburt, und der frühe Tod des jungen Lord Ogle war
ein bittrer Schlag für sie gewesen. Es war auch keine leichte Sache für sie, sich
in ihrem Alter noch einmal mit der Verantwortung zu befassen, einen passenden
Gemahl für die reichste und begehrteste Erbin des Landes zu suchen. Der junge
Charles Seymour, dem so unerwartet das Herzogtum Somerset zufiel, hatte schon
versucht, Unterhandlungen um Lady Elizabeths Hand anzuknüpfen, aber die alte
Gräfin hatte trotz seinem Range und den Familienverbindungen ein unüberwindliches
Vorurteil gegen ihn: sie konnte niemals vergessen, wie sein Vetter, der dritte
Herzog, sich Lady Elizabeths eigner Mutter gegenüber zum Narren gemacht hatte
und — wie man allgemein erzählte — aus Liebe zu ihr gestorben war. Und
nun hatte Lady Sophia Wright — eine entfernte Nichte von Lady Northumber-
land — einen neuen Freier präsentiert, der plötzlich alle Nebenbuhler aus dem
Felde geschlagen hatte. Das war Sir Thomas Thynne, Herr auf Longlet, einer
der reichsten Männer des Landes — wenn nicht gar der reichste — und sehr
empfehlenswert durch seine intime Freundschaft rin des Königs ältestem Sohne, dem
Herzog von Monmouth, der, wie viele zu glauben geneigt waren, die beste Aussicht
hatte, baldigst legitimiert und zum rechtmäßigen Prinzen von Wales erklärt zu werden.
Lady Northumberland wußte natürlich nicht, daß Sir Thomas (von seinen Zech¬
brüdern gemeiniglich „Tom von den Zehntausend" genannt) einer der ausschweifendsten
Herren an dem ausschweifenden Hofe war, und ebensowenig, daß man in Londons
besten Kreisen eifrig diskutierte, wieviel der Freier Lady Sophia für ihr Wohlwollen
und ihre Fürsprache bei der alten Dame bezahlen sollte. Lady Elizabeth, die nicht zu
ahnen schien, daß jemand das Ansinnen an sie stellen könne, wirklich einen ihrer Freier
ihrem Lieblingssünde „Lion" vorzuziehn, ließ alle, die es hören wollten, verstehn, daß
sie für ihre Person Sir Thomas unendlich langweilig und unangenehm fände.
Er ist nicht häßlich, gab sie edelmütig zu, keineswegs! Aber er geht schlecht,
und wenn er zu Pferde sitzt, sieht er aus wie eine Memme.
Er denkt ja auch gar nicht daran, sich für einen Jupiter oder einen Mars auszu¬
geben, sagte Lady Sophia verletzt — sie redete mit Vorliebe die mythologische Sprache,
die in Whitehall modern war. Sei du zufrieden, daß er so reich wie Pluto ist.
Reich bin ich ja selber, sagte Lady Elizabeth einfach. Was soll ich mit noch
mehr Geld?
Und das fragst du noch! rief die alte Gräfin vom Bett her. Der Familienrat
wurde drinnen bei ihr abgehalten, wo die beiden jungen Damen mit Pelzkragen
"»d Müffchen an demselben Stickrahmen vor dem Feuer saßen. Als ob nicht jedes
Hals, das du besitzest, neuer Dächer und Mauern bedürfe! Auf Petworth regnet
es an mehr als einer Stelle durch, Wressil ist hoffnungslos zerstört, Workworth
steht noch fast wie eine Ruine da, und von diesem alten Steinhaufen will ich gar
"icht einmal reden — der stürzt uns allen bald einmal über dem Kopfe zusammen.
Und das Bauen ist teuer, n.ein Schatz, das kann ich dir sagen. Wenn irgend etwas
Geld kostet, so ist es weiß Gott das.
Du stehst dich gut dabei, wenn du ihn nimmst, mein Kind, begann Lady Sophia
wieder mit ihrer mütterlichen Stimme. Und es ist ein Vorteil, daß er nicht von
zu hoher Geburt ist — ich weiß ganz bestimmt, daß er nichts dagegen hat, den
Namen Percy anzunehmen.
Das fehlte auch noch! meinte Lady Elizabeth ironisch. Tom von den Zehn¬
tausend sollte „etwas dagegen" haben, Percy zu heißen!
Man kann ja den Namen mit mehr oder weniger Ehre tragen I entgegnete
Lady Sophia scharf. Sie hatte einen Groll auf Henry Percy, weil er sie kaum zu
sehen schien, wenn sie so gnädig war, ihn anzureden.
Und es war auch wirklich dumm von Harry, denn Lady Sophia Wright war
eine sehr schöne und sehr stattliche Frau, gewohnt, bewundert und gefeiert zu werden.
Sie war jetzt um die dreißig, groß und üppig, mit einem monumentalen weißen
Busen unter dem viereckigen Ausschnitt. Sie hatte starkes, schwarzes Haar, in vielen
kunstfertigen Löckchen unter der französischen Haube aufgetürmt, ein Kopfputz, der
jetzt — nachdem König Ludwigs Maitresse, Mademoiselle de Fontanges, ihn adop¬
tiert hatte — anfing, die altmodische breite Babyfrisur und die moderne halb¬
klassische Götttnnenfrisur zu verdrängen, die von den meisten freilich noch für die
kleidsamste gehalten wurde. Ihre länglichen schwarzen Augen wußten nicht, was
Schüchternheit bedeutete; sie hatte einen blendenden Teint, der im Grunde der
Schminke nicht bedürfte, und ein rundes, sehr bestimmtes Doppelkinn. Sie trug
viele und kostbare Schmucksachen, aber der schwere Seidenstoff ihres Kleides war
arg mitgenommen, und die Hände, die die Nadel führten, waren trotz den Ringen
grob und rot mit großen weißen Frostbeulen.
Lady Elizabeth war so gewöhnt an alle mehr oder weniger feinen Anspielungen
auf Harry Percys „Unglück" — wie man es zu jener Zeit nannte —, daß sie
sich nie darauf einließ, sie auch nur mit einem Worte zu beantworten. Sie erhob
sich, schob den Fußwärmer aus blankem Silber, der mit warmem Wasser gefüllt war,
beiseite und fing an, die Arme kräftig übereinander gegen die Brust zu schlagen.
(Fortsetzung folgt)
Es ist die Beflissenheit aufgefallen, mit der die norddeutsche Allgemeine Zeitung
zu wiederholten malen kurz nacheinander die der deutschen Politik zugeschriebne
Absicht, sich an der Herstellung der Ordnung in Rußland zu beteiligen, nach¬
drücklich in Abrede gestellt hat. Eigentlich wäre das dem gesunden Menschenver¬
stande gegenüber kaum nötig gewesen. Aber es hat sich als notwendig erwiesen
wegen der verschiednen Strömungen, die ein Interesse daran haben, solche Nach¬
richten zu verbreiten. Zu welchem Zweck — sieht man aus der Proklamation der
revolutionären Partei der ehemaligen Duma an das Heer, worin sie die Regierung
wegen der — erlognen — Verständigung mit Deutschland und Österreich des
Landesverrats beschuldigt! Auch nationalpolnische Interessentenkreise verfolgen mit
der Verbreitung solcher Gerüchte Absichten, die ihren Zwecken dienen. Diese
Strömungen sind keineswegs in Rußland allein vorhanden, was mit der Absicht,
Deutschland als den Gendarm Europas hinzustellen, bezweckt wird, bedarf keiner
Erläuterung. Namentlich war aber unsrer Sozialdemokratie daran gelegen, im
Interesse ihrer russischen und polnischen Revolutionsgenossen ein promptes Dementi
zu erlangen, daß diese von Deutschland nichts zu befürchten haben. Die Gewißheit,
daß die russische Regierung allein zusehen muß, wie sie mit dem Chaos in ihren
polnischen Gouvernements fertig wird, hat die dortige Revolutionspartei dann
schnell zu neuen Taten begeistert, Ermordungen von höhern Polizei- und Zoll¬
beamten, Anhalten und Beraubung von Etsenbahuzügen usw. mehr. Sicherlich wird
die russische Regierungsgewalt mit der Anwendung des Standrechts gegen diese
Art Verbrecher nicht säumen. Sie hat den vorjährigen Eisenbahnstreik mit dem
Standrecht gebrochen und wird auch die Ordnung in Polen kaum anders herstellen
können. Jedoch — auch in Rußland henkt man keinen, bevor man ihn hat. Die
Mordtaten, Kassenbercmbnngen und ein im großen Stil betriebner Waffenschmuggel
beweisen einerseits, daß mit liberalen Zugeständnissen der Revolution gegenüber
nichts auszurichten ist — diese alte Lehre der Geschichte bedürfte kaum einer noch¬
maligen Bestätigung. Andrerseits rechtfertigen sie die Auflösung der Duma, deren
ganze Wirksamkeit darin bestanden hatte, die Auflösung und die Zersetzung aller
staatlichen Ordnung, des Staatsbegrtffs in den Gemütern, in der hochgradigsten
Weise zu fördern.
Die russische Revolution läßt sich mit der dentschen von 1848 ja kaum an¬
nähernd vergleichen, aber in der Schließung der Berliner Nationalversammlung im
November 1848 und der Auflösung der Duma liegt eine unverkennbare Parallele.
Der Schritt erfolgte in Berlin durch das entschlossene Auftreten der militärischen
Gewalt, aber mit einer gewissen Jovialität. Fünfzehntausend Bewaffnete, die das
Berliner Schauspielhaus „zum Schutze der Nationalversammlung" umgaben, machten
auf Wrangel, damals Kommandierenden der Truppen zwischen Elbe und Oder, wenig
Eindruck. Mit einem Blumenstrauß in der Hand, der ihm am Hallischen Tor
überreicht worden war, erschien er auf dem Schauplatz. Als der Kommandeur der
Bürgerwehr, Major Rimpler, ihm mit seinem Stäbe entgegenritt und eine Protest¬
rede anhob, unterbrach ihn Wrangel mit den historisch gewordnen Worten: „Rimpler,
blamier dir nich", und der Protest war zu Ende. Ähnlich Manteuffel, als er
im Juni 1866 in Itzehoe einrückte, um den Zusammentritt der holsteinischen
Stände zu verhindern und die grollend der Preußen harrenden Massen dadurch
besänftigte, daß die Musik des 25. Regiments, an dessen Spitze er ritt, die
Melodie: „Schleswig-Holstein, meerumschlungen" anstimmte. In Petersburg
ist eine militärische Auflösung der Duma nicht einmal notwendig gewesen, ein
Kaiserlicher Mas und die Schließung des Gebäudes hatten genügt. Bis jetzt scheint
der neue russische Premierminister Stolypin durchaus auf dem richtigen Wege zu sein,
die Hauptsache bleibt, daß er sich von der Revolutiouspartei, die im Augenblick der
Dumaauflösuug überrascht und unvorbereitet war, nicht noch nachträglich über¬
raschen läßt. In der gegenwärtigen Lage darf sich die russische Regierung nicht
länger treiben lassen noch zusehend abwarten, was der Tag bringt. Sie muß
selbst die treibende Kraft sein, die durch ein entschlossenes Auftreten und zeit¬
gemäßes Handeln der Bevölkerung die Gewißheit wieder zurückgibt, daß die zarische.
Gewalt noch aufrecht dasteht.
Die Straßburger Post veröffentlichte jüngst einen Artikel: „Nikolaus II. — ein
Rätsel". Es war darin von vielem die Rede, nur von einer Hnupteigenschaft
des Zaren, seiner großen Zähigkeit, nicht. Diese Eigenschaft kommt ihm unter den
heutigen Verhältnissen ganz besonders zustatten. Er wird mit derselben Zähigkeit,
die er der Revolution entgegensetzt, auch an der seinem Volke feierlich und wiederholt
gegebnen Zusage festhalten, Rußland auf der Grundlage freiheitlicher Verfassungs-
einrichtuugen zu regieren. Anstatt sich dem Ausbau dieser kaiserlichen Zusage mit
Fleiß und Hingebung zu widmen, hat die Duma eine kostbare Zeit mit unnützem
und aufreizenden Geschwätz vergeudet. Nußland brauchte Taten und nicht Reden,
mit dieser Duma war ein verfassungsmäßiges Regieren überhaupt unmöglich ge¬
worden. Hoffentlich gibt sich die nächste verständiger; für den aufgesammelten
Dampf ist die erste ein mehr als ausreichendes Ventil gewesen.
Was die angebliche Intervention in Rußland im Bunde mit Österreich be¬
trifft, so bedarf es kaum einer großen Politischen Einsicht, zu begreifen, daß Kaiser
Franz Joseph schwerlich Neigung haben dürfte, nach fast sechzig Jahren den Gegen¬
dienst für Vilagos zu leisten, sei es auch nur um dnrzutun, wie sehr sich seit dem
berühmten Telegramm des Feldmnrschalls Paskiewitsch: „Ungarn liegt besiegt zu
den Füßen des Zars" die Dinge dieser Welt verändert haben. Eine Intervention
in die innern Angelegenheiten fremder Länder ist immer ein sehr undankbares
Geschäft. Die preußisch-österreichische Intervention in Frankreich zugunsten Ludwigs
des sechzehnten hat nicht nur den Vorwand zur Ermordung des Königs durch
Konventsbeschluß hergeben müssen, sondern sie ist auch politisch lind militärisch der
unheilvolle Ausgangspunkt der spätern Verwicklungen gewesen. Die russische
Intervention in Ungarn hat einen hente noch nicht besänftigten Haß der Uugnru
gegen Rußland zur Folge gehabt, und die Neigung des Kaisers Nikolaus des
Ersten, im Frühjahr 1848 in Preußen einzurücken, eine Absicht, die wesent¬
lich an dem entschlossenen Widerspruch des kommandierender Generals in Ost¬
preußen, des spätern Feldmarschalls Grafen Dohna, scheiterte, eines zwar sehr
konservativ denkenden, aber von dem stolzen Preußengefühl der Befreiungskriege
beseelte» Mannes, hat nicht wenig dazu beigetragen, die öffentliche Meinung
in Preußen und in Deutschland bei dem fünf Jahre später ausgebrochneu Krimkrieg
in das Lager der Gegner Rußlands zu treiben. Unsre Politik tut somit sehr wohl
darau, alle Jnterventionsgedanken weit abzuweisen. Sollte der Brand über die
Grenze greifen, so werden ausreichende Löschanflcilten bereit sein. Drüben aber
muß und wird Rußland allein löschen. Der Dynastie'in Rußland könnte vielleicht
kaum ein größerer Abbruch geschehn, als wenn sie den Sieg über die Revolution
fremden Bajonetten verdanken müßte. Nikolaus der Erste sagte 1837 in Berlin:
-inse^a. xrössut tontss nos rsvolutious ötAisut rövolutious ein, ssi-an, wais ig, nisi'iusi's
gvait cleA nu ca-rgetsrö xopul^irs. Es war die Revolution von 1825 damit ge¬
meint. Seitdem find achtzig Jahre verflossen, und es läßt sich nicht leugnen, daß
die jetzige Revolution un eÄraotLrö trss xopulairs angenommen hat. Um so mehr
fester Wille und Vertrauen in die eigne Kraft sind notwendig, sie zu bändigen.
Wir können als Nachbarn nur die baldigste Herstellung normaler Verhältnisse für
das schwer geprüfte Rußland wünschen, können ihm aber nicht dadurch zu Hilfe
komme», daß wir die ungebändigten slawischen oder sozialrevolutionären Strömungen
auf den Helfer ablenken. Der Ruf des englischen Premiers auf der internationalen
parlamentarischen Konferenz: „Die Duma ist tot, es lebe die Duma!" beweist, daß
die Zahl der Leute, die sich über Fehlgriffe der deutschen Politik gegen Rußland
innig freuen würden, bedeutend größer ist, als man hie und da annimmt. Im
vorigen Jahre hieß es im Auslande, das Deutsche Reich spekuliere auf die deutschen
Provinzen Österreichs, in diesem Jcihre trägt man sich mit der unsinnigen Idee eines
deutschen Einmarsches in Rußland. Immer dasselbe und immer dieselben! Welche
Empfindungen jene amtliche englische Kundgebung bei dem Zaren ausgelöst hat,
mag unerörtert bleiben. Es war wohl die Quittung für die zarische Absage des
englischen Flottenbesnchs. Tatsächlich eine Intervention, und zwar zugunsten der
Revolution!
Die Germania hat sich in jüngster Zeit zwei seltsame Stückchen geleistet. In
dem einen erklärte sie sich bereit, „im Rahmen des Heeres und der bestehenden
Präsenzstärke" zwei Kavallerieregimenter für Afrika zu bewillige». Die Germania
wird den Beutel schon etwas weiter auftun müssen. Erstens können wir Kavallerie¬
regimenter in Afrika gar nicht gebrauchen. Was wir haben müssen, ist berittne
Infanterie, für die das Pferd nicht eine für Attacke ausgebildete Waffe, wie
bei der Kavallerie, sondern nur Transportmittel ist. Reiterkämpfe sind dort
nicht auszufechten. Nicht eine Kavallerie, die schießen kann, sondern eine gute
Infanterie, die reiten kann, darum handelt es sich. Das sind aber ganz andre
Ausbildungsbedingungen wie bei der Kavallerie, deren Pferdematerial dafür auch
viel zu kostbar und für die dortigen Strapazen viel zu wenig abgehärtet wäre.
Außerdem sind die neuen Kavallerieregimenter, die bis zum Jahre 1910 aufge¬
stellt werden sollen, nicht zum Vergnügen gefordert und bewilligt, sondern weil
sie in der Kriegsgliedcrung des Heeres fehlen und mehrere Divisionen völlig ohne
Kavallerie, andre Armeekorps zu schwach darin sind. Bei der Reorganisation von
1860 waren für jedes Armeekorps von zwei Divisionen sechs Kavallerieregimenter
als Norm aufgestellt, bei deu Neuformationen 1866, 1871 und in den letzten
Jahrzehnten ist Kavallerie leider gar nicht aufgestellt worden. Die dadurch ent-
standnen großen Lücken mußten endlich einmal wenigstens teilweise ausgefüllt
werden; mau hat sich hierbei auch jetzt noch auf das mindest zulässige Maß be¬
schränkt.
Die Germania will nun diese kolonialen Kavallerieregimenter zwar „im
Rahmen des Heeres und des Etats" bewilligen, aber sie sollen sich ausschließlich
aus Freiwilligen rekrutieren. Dafür wäre ganz und gar kein Grund vorhanden.
Der Kaiser ist verfassungsmäßig vollständig berechtigt, geschlossene Truppenteile nach
Afrika zu kommandieren, wobei natürlich schon im Interesse der Truppen selbst eine
ärztliche Untersuchung der Einzelnen auf Tropenfähigkeit voranfgehn würde. Das
durfte der König von Preußen nach der preußischen Verfassung, die Rechte des
Kaisers sind dem gegenüber nicht gemindert. Es ist hier schon einmal darauf hinge¬
wiesen worden, daß, als nach dem Zusammenstoß des verewigten Prinzen Adalbert
von Preußen mit den Niffpiraten am Kap Tres Forcas im Jahre 1856 zwei
Jägerbataillone, die Gardejäger und das achte Jägerbataillon, die beide damals
die besten Schützen hatten, dorthin entsandt werden sollten, es gerade liberale
Blätter waren, die die Absicht einer solchen Tat mit Beifall begrüßten. Keinem
Menschen ist es damals eingefallen, die Frage aufzuwerfen, ob preußische Truppen
in Afrika Dienst zu tun verpflichtet wären. Das ist nicht nur dnrch den Fahnen¬
eid geboten, sondern auch durch den sehr einfachen Unistand, daß das deutsche Heer
zur Verteidigung der deutscheu Interessen und der dem Deutschen Reiche gehörenden
Gebiete da ist. Hätte zum Beispiel der Krieg 1870 eine Landung in Algier ge¬
fordert und ermöglicht, so würde man schwerlich auf deu Gedanken gekommen sein,
daß das verfassungsmäßig nicht zulässig sein könnte. Die Entsendung der Truppen
gegen die Riffpirateu unterblieb aus andern Gründen der Politik, in der Sache
selbst hatte Bismarck, wie er später erzählt hat. dem Könige zugeredet. Es ist das
für die Auffassung des spätern Schöpfers der Reichsverfassung sehr bemerkenswert.
„Verfassungsmäßig" ist es ganz außer jedem Zweifel, daß der Kaiser zur Verteidigung
der Ehre, der Würde und der Interessen Deutschlands Truppen überallhin zu ent¬
senden berechtigt ist, wo er sie für notwendig HM. Es gibt keine Silbe in der
ganzen Reichsverfassung, die diese Bestimmung einschränkt; Kaiser Wilhelm der Erste
würde sie auch niemals angenommen haben, der jetzige Kaiser ebensowenig. Ist
bisher aus Rücksicht auf den allgemeinen Mobilmachungsplan anders Verfahren worden,
so bedeutet das keine Berührung der verfassungsmäßigen Rechte des Kaisers.
Das zweite Stücklein der Germania ist die abermalige Aufwärmung der
Gerüchte von einer neuen Flottenvorlage. Das Bemerkenswerteste hierbei ist
nicht etwa der Unsinn, daß „gewisse einflußreiche Kreise, die auch auf der Nord¬
landreise ihre Vertreter haben, mit aller Macht arbeiten, für eine neue Flotten¬
vorlage die Zustimmung zu erlangen", sondern daß die Germania diese angebliche
neue Flottenvorlage schon jetzt im voraus mit der Ausdehnung der Reichserbschafts¬
steuer auf Kinder und Ehegatten bewilligt. Im Ernstfalle würde sie es wohl ohne
diese Ausdehnung der Erbschaftssteuer tun müssen, in die Preußen schwerlich jemals
willigen dürfte. Das Zentrum wird sich auch wohl hüten, den Bogen so zu über¬
spannen. Außerdem werden aber Flottenvorlagen nicht auf der Nordlandreise aus¬
geheckt, darüber mag die Germania ganz beruhigt sein. Dazu gehören doch noch
eine Reihe andrer Leute als diese „einflußreichen Kreise". In altdeutsche,: Blättern
ist ja sogar neuerdings behauptet worden, daß der Reichskanzler die vom Staats¬
sekretär der Marine beabsichtigte Erweiterung der letzten Vorlage verhindert habe.
Das ist vollständig unwahr. Der Reichskanzler hat seineu Standpunkt wiederholt
dahin festgelegt, daß er sich verpflichtet halte, für alle die Forderungen mit voller
Entschiedenheit einzutreten, die von den für die militärische Sicherheit des Reiches
Verantwortlicher Stellen als unbedingt nötig erachtet werden. Das hat er ja auch
bei den beiden ersten Flottengesetzen bewiesen, die wesentlich durch seine Mitwirkung
zustande gekommen sind. Wie könnte auch der Verantwortliche Träger der Reichspolitik
gegen die Erweiterung der Mittel sein, die seiner Politik den Rückhalt geben! In
dieser Hinsicht werden auch die englischen Bemühungen, den maritimen Rüstungsstand
Englands gleichsam international sanktionieren zu lassen, den andern Staaten aber durch
Haager Beschlüsse zu untersagen, ihre Rüstung dem englischen großen Übergewicht
anzupassen — bei Deutschland wenig Eindruck machen, um so weniger, als sich der
französische Verbündete Englands positiv ablehnend verhält. Der Figaro spottet
darüber, und die demokratische Berliner Volkszeitung sagt sehr treffend: Mumpitz!
Die einzig richtige Antwort. Die Diplomatie wird natürlich höflicher sein, sich aber
doch gegenwärtig halten, daß die reichen Küchenzettel der Bewirtung der inter¬
parlamentarischen Konferenz in London zu den Spesen gehören, die sich England im
Interesse eines guten Geschäfts mit Noblesse aufzuerlegen versteht. Man kommt
unwillkürlich auf die Vermutung, daß die Einladung an die deutsche Presse und
die interparlamentarische Konferenz Glieder derselben Kette sind, die England durch
Einfluß auf die öffentliche Stimmung — uns um den Hals zu legen gedenkt. Der
englische Premier hat ja kein Hehl daraus gemacht, daß er den deutschen Reichstag
dabei ganz besonders ins Auge gefaßt habe, den man gegen die Flottenpolitik des
Kaisers aufbieten möchte. Göschens jüngste Rede im Oberhause verrät den gleichen
Gedanken. Deutschland wird gegen den Abrüstungsschwindel, dem eine Verstärkung
der englischen Rüstung zur See und zu Lande parallel läuft, während der fran¬
zösische Marineminister erklärt, daß sich Frankreich „nicht auf Stunden" auf eine
Verminderung seiner Rüstungen einlassen könne, sehr auf der Hut sein. Der Figaro
sagt in bezug auf Frankreich von den Ideen des englischen Premierministers: Miss
us xourront kairs nu og.1 Hus eus? nous se 5, nous. Genau dasselbe wollen wir
uns für Deutschland gegenwärtig halten. Hinter der englischen Abrüstung steckt nur
die ungestörte Erhaltung der SuperioriM einer Seerüstung, auf die kein englischer
Minister je verzichten darf oder wird, aber die Liberalen möchten es um der Wahl¬
t
Die Verteilung des Wassers
des Rio Grande, der die Grenze der Vereinigten Staaten und Mexikos bildet,
war seit siebzehn Jahren der Gegenstand langwieriger Unterhandlungen zwischen
den beiden Republiken. Den mexikanischen Farmern war nach und nach durch die
Bewässerungsanlagen in Colorado alles Wasser entzogen werden, und Hunderte
aerss fruchtbaren Landes sind verlassen worden, die einst von herrlichen Wein-
Pflanzungen und Obstgärten bedeckt gewesen waren. Am 21. Mai dieses Jahres
ist endlich in Washington zwischen dem Staatssekretär Rook für die Vereinigten
Staaten und Botschafter Casasus für die mexikanische Regierung ein Vertrag ge¬
schlossen worden, der, wenn er von den beiderseitigen Parlamenten ratifiziert sein wird,
eine Quelle der Reibungen zwischen beiden Ländern ans der Welt schaffen wird.
Die erfolgreiche Beendigung dieser Reklamation ist zum nicht geringen Teile
den unermüdlichen Anstrengungen und weisen Ratschlägen des Herrn Max Weber
zu verdanken, der deutscher Wahlkonsul in Ciudad Juarez ist, der Schwesterstadt
El Pasos. Konsul Weber begann schon vor mehreren Jahren für einen inter¬
nationalen Damm in der Nähe El Pasos zu arbeiten, zum Zwecke des Aufspeicherns
und gerechten Verteilens des Wassers des Rio Grande. Als endlich ein Kompromiß
zustande kam, der Bau eines Dammes bei Engle beschlossen und Mexiko ein Vertrag
vorgeschlagen wurde, war Mexiko erst wenig geneigt, darauf einzugehn, und nur
dem diplomatischen Geschick Konsul Webers ist es schließlich geglückt, die kollidierenden
Interessen miteinander zu versöhnen. Der größte Erfolg Webers liegt in der Tat¬
sache, daß die mexikanische Reklamation gegen die Vereinigten Staaten für Wasser¬
entschädigung von der amerikanischen Regierung insofern indirekt anerkannt worden
ist, als die mexikanischen Landbesitzer das Wasser zur Bewässerung von 24000 aeres
frei erhalten, während die amerikanischen Landwirte dafür bezahlen müssen. Der
Vertrag hat in deutscher Übersetzung folgenden Wortlaut:
Artikel I. Beginnend mit dem Tage der Vollendung des vorgeschlagnen
Sammelreservoirs in der Nähe von Engle, N. M., und des dazu gehörenden Ver¬
teilungssystems soll an Mexiko jährlich von den Vereinigten Staaten 60000 aors lese
Wasser geliefert werden, und zwar aus dem Flußbett des Rio Grande am Beginn
des jetzt unter dem Namen Äesauig, ivkärs bekannten mexikanischen Hauptkanals an
oder nahe bei der Stelle, wo der Strom anfängt, die internationale Grenze zu
bilden, in der Nähe von El Paso, Texas.
Artikel II. Die Lieferung und das richtige Quantum Wasser werden von der
amerikanischen Regierung garantiert, und das Wasser soll zu den Zeiten geliefert
werden, die die mexikanische Regierung oder die Vertreter der mexikanischen Land-
Wirte bestimmen.
Artikel III. Die Lieferung soll kostenlos an Mexiko erfolgen, und die Ver¬
einigten Staaten tragen die gesamten Kosten für die Sammlung des mexikanischen
Anteils von dem Flußwasser sowie von der Weiterführung des mexikanischen Anteils
bis zur internationalen Grenze unter Messung und Ablieferung in den mexikanischen
Kanal; aber Mexiko hat das Recht, eine Meßstation am Beginn des Kanals zu
unterhalten.
Artikel IV. Irgendein Leitdamm oder Wehr, der dazu bestimmt ist, Wasser
in den mexikanischen Kanal zu führen, soll an einer Stelle errichtet werden und
nach Plänen, die die Vereinigten Staaten genehmigt haben.
Artikel V. Nicht mehr als ein Leitdamm oder Wehr darf gebaut werden auf
mexikanischer Seite nach dem Austausch der Ratifikationsurkunden über diesen
Vertrag und darf belassen werden zehn Jahre nach dem Tage dieses Austausches
auf der Strecke des Rio Grande zwischen dem Beginn des Texas-Bewässerungs¬
kanals und der Stelle, wo der Strom internationale Grenze wird, und Fort
Quitman, Texas.
Artikel VI. Alle Verpflichtungen der Vereinigten Staaten bestehn nur in der
Lieferung der oben erwähnten 66006 aers thet Wasser.
Artikel VII. In Anbetracht dieser Lieferung verzichtet Mexiko auf alle Wasser¬
rechte irgendwelcher Art auf Wasser aus dem Rio Grande für die genannte Strecke
und wird auch keinerlei Ansprüche anerkennen, die jetzt oder später von mexikanischen
Bürgern erhoben werden könnten wegen Ableitung von Wasser aus dem Rio Grande
zu Bewässeruugszwecken durch amerikanische Bürger.
Artikel VIII. Die Vereinigten Staaten gestehn durch Abschluß dieses Abkommens
weder ausdrücklich noch imMeitei- irgendwelche Rechtsbasis für irgendwelche An-
,^nahe zu, die Mexiko hätte erheben können wegen angeblicher Verluste mexikanischer
Bürger infolge der Ableitung von Wasser aus dem Rio Grande innerhalb der
Vereinigten Staaten. Auch soll dadurch kein Präzedenzfcill geschaffen werden, viel¬
mehr stimmen die vertragschließenden Mächte darin überein, daß die Aktion der
Vereinigten Staaten nur eine Folge internationaler Höflichkeit ist, und daß sich der
Vertrag auch nur auf die genannte Strecke bezieht.
Die Verteilung der 66 606 for«z lest Wasser auf die einzelnen Monate soll
wie folgt geschehen:
Die 66000 aors tsvt Wasser jährlich werden zur Bewässerung von 24000 aoro
(1 aore — 0,4 da) Land dienen. Die Lieferung des Wassers aus dem projektierten
Englereservotr soll 966666 h kosten, deren Bewilligung die amerikanische Regierung
vom Kongreß verlangen wird.
Der Vertrag selbst ist dem Senatskomitee für Auswärtige Angelegenheiten
von der amerikanischen Regierung übermittelt worden, aber die Beratung im Plenum
des Senats wird trotz dem ausdrücklich geäußerten Wunsche des Staatssekretärs
Rook voraussichtlich uoch nicht sobald erfolgen, da der Senator Teller von Colorado
dagegen opponiert, an Mexiko irgendwelches Wasser zu liefern. Es ist aber an¬
zunehmen, daß der Vertrag vom Senat angenommen werden wird, da schon im
Jahre 1900 das Senatskomitee für die Auswärtige» Angelegenheiten einen günstigen
Bericht über die Gesetzesvorlage des Senators Cnlbersson erstattet hatte, wonach
für einen internationalen Damm von den Vereinigten Staaten die Summe von
2317113,36 aufgewandt werden sollte, während nach dem jetzigen Vertrage, um
für Mexiko dasselbe Resultat zu erzielen, nur 960000 K gefordert werden. Aus¬
schlaggebend dürften wohl für die Regierung der Vereinigten Staaten politische Er¬
wägungen sein, die die Ratifizierung des Vertrages sichern.
Der ordentliche Professor der Staats¬
wissenschaften an der Universität Gießen or. jur. et MI. Ma grus Biermer gibt
(bei Emil Roth in Gießen) eine Sammlung nationalökonomischer Aufsätze
und Vorträge in zwangloser Reihenfolge heraus, die sehr zu empfehlen ist. Die
uns vorliegenden acht Hefte sind sowohl einzeln als durchgehend paginiert; sie
machen zusammen den ersten Band aus, sind aber einzeln zu haben. Das erste
behandelt das Problem der ländlichen Grundentschuldung und die Organisation
des Realkredits. Die schutzzöllnerische Preispolitik gerate an allen Ecken und
Enden in Widerspruch mit der auf Hebung der lohnarbeitenden Klassen zielenden
Sozialpolitik. Darum solle man der Landwirtschaft weniger mit künstlicher Er¬
höhung der Preise ihrer Erzeugnisse als mit Erleichterung ihrer Lasten zu Hilfe
kommen. Vor allem müsse der teure, unsichere und schwierig zu beschaffende Privat-
hypothekenkredit durch den Anstaltskredit verdrängt werden, und zwar seien den
Privaten Hypothekenbanken Staatsanstalten vorzuziehn, bei denen jede Kündigungs¬
gefahr ausgeschlossen ist, und die durch den Amortisationszwang sowohl erziehend
Wirken wie auch die Entschuldung anbahnen. Das deutsche Hypothekenbankwesen
hält Biermer trotz den bekannten bedauerlichen Vorgängen für gesund, findet jedoch,
daß viele dieser Institute zu sehr im Dienste des großstädtischen Häuserbaues stehn
und mit der Grundstückspekulation zusammenhängen. Ein statistischer Nachweis des
Prozentsatzes, worin diese Banken am landwirtschaftlichen Kredit beteiligt sind, wäre
sehr erwünscht. Biermer gibt keinen; vielleicht ist ein solcher gar nicht möglich.
Von der neugegründeten hessischen Landeshypothekenbank, die er sehr lobt, teilt er
mit, daß von ihren 890 Anleihern des ersten Jahres 451 Landwirte, die übrigen
zu einem guten Teil Kleinbürger waren. Er tadelt, daß die Sparkassen dem land¬
wirtschaftlichen Kreditbedürfnis zu wenig dienen, und widmet den größten Teil des
Heftes einer ausführlichen Kritik ihrer Praxis. Das zweite Heft enthält drei Ab¬
handlungen. Die erste: Der Kampf um den Taler, hat dem Referenten große
Freude gemacht. Biermer tritt nämlich — was ja leider nichts mehr nützt —
ganz entschieden für die Ausprägung von Talern statt der unbequemen Fünfmark-
stücke ein; als Scheidemünze natürlich; der Zwangskurs für Taler, der unsre
Währung zu einer hinkenden machte, mußte freilich fallen. Was die Unvereinbar¬
keit des Talers mit dem Dezimalsystem betrifft, so sei sie nur theoretischer Natur,
da sich alle Zahlungen der Markwährung ganz gut mit Talern leisten lassen (manche,
Wie von 30, 60, 150, 300 usw. Mark, ohne daß man Zwei- und Einmarkstücke
Zu Hilfe zu nehmen braucht), und sogar der Staatssekretär habe ganz richtig gesagt:
»Wir prägen unsre Münzen nicht sür Mathematiker, sondern für das deutsche
Volk." Zu bedauern sei nur, daß die Bimetallisten die Gelegenheit wahrgenommen
haben, sich noch einmal zu regen, was die Bewegung sür den Taler diskreditieren
">uffe. Dieser Vortrag hat dem Verfasser viele Bitten solcher eingebracht, die nach
einer klaren Beschreibung des mystischen Dinges verlangen, das man den Bimetallismus
nennt. In der Abhandlung: Der Bimetallismus und die Agrarkrise sagt
er darüber genau dasselbe, was wir zu der Zeit gesagt haben, wo sogar die
Relchstagsmehrheit noch an das Gespenst glaubte; nur daß er seine Ausführungen
mit einem reichen statistischen Material erhärtet, das über die Solidität unsrer
Goldwährung vollständig beruhigt. Das Endergebnis lautet: Der Bimetallismus
ist tot; die Seifenblase ist geplatzt. Der einzige praktische Erfolg der Bimetallisten
besteht darin, daß sie vor fünfundzwanzig Jahren die Sistierung der Silberverkäufe
durchgesetzt und dadurch das Reich um ein paar hundert Millionen geschädigt haben.
Mit der Not der Landwirtschaft hat die Währungsfrage nur insofern zu schaffen,
als verschuldete Landwirte mit den vorgeschlagnen Währungsexperimenten einen be¬
trügerischen Schnitt hätten machen können. In der Abhandlung Arbeitskammern
zeigt der Verfasser, daß solche aus Unternehmern und Arbeitern zusammengesetzte
Körperschaften der Schauplatz unfruchtbarer Zänkereien sein würden und darum
nichts leisten könnten. Arbeiterkammern, die nur aus Arbeitern zusammengesetzt
wären, würden allerdings den folgerichtigen Ausbau des heute eingeführten „Systems"
bedeuten, wonach der Regierung zu ihrer Information Klassenvertretungen der
Landwirte, Kaufleute, Handwerker usw. zur Seite stehn sollen. Aber für die
Arbeiter eine solche Organisation zu schaffen habe die Regierung nicht nötig, weil
sich die Arbeiter schon selbst sowohl politisch wie gewerkschaftlich organisiert hätten,
und zwar sei kein andrer Stand so vollkommen organisiert wie die Lohnarbeiter.
Diesen Organisationen, wie sie nun einmal sind, auch noch Selbstverwaltungs¬
befugnisse einräumen und Unterstützungen von Staats und Gemeinde wegen ge¬
währen, würde ein gefährliches Experiment sein. Die Abhandlung des dritten
Heftes: Neue Steuerreformen in Staat und Gemeinde, soll weniger die
Reformen und die Reformversuche der letzten Zeit kritisieren — am wenigsten sich
gegen „den großen Reformeifer" richten, „der unsre heutigen Finanzministerien er¬
griffen hat" — als den Lesern zu einigem Verständnis der überaus schwierigen
Materie verhelfen. Biermer widerspricht u. a. der landläufigen Ansicht, daß niedrige
Kommunalsteuern Rentner und Pensionäre anzögen. Die Sache verhalte sich um¬
gekehrt; weil Städte wie Wiesbaden, die große Annehmlichkeiten bieten, reiche Leute
anziehn, können sie sich mit einem niedrigen Steuersatze begnügen. Im vierten
Heft, das die letzte deutsche Wirtschaftskrisis und ihre Ursachen behandelt,
wird die Ansicht von Sombart widerlegt, der sie auf die vermehrte Goldproduktion
zurückführt, indem er glaubt, daß jede Vermehrung der Umlaufsmittel eine Hauffe
erzeuge. Deutschland hat nach Biermer im Jahre 1900 allein unter allen euro¬
päischen Ländern eine Hauffe und darum eine Krise gehabt — denn jede Hau"'
muß schließlich einmal von einer Baisse abgelöst werden —, weil es das einzige
europäische Land ist, dessen Export wächst. Dieses Wachstum und das des innern
Bedarfs ermuntert die Produktion in dem Grade, daß sie dem Bedarf voraneilt.
Die Entwicklung zum Industriestaat gehe bei uns viel zu rasch. Mit Predigten
könne man die Bewegung nicht aufhalten. „Am ehesten nützt noch die Ernüchterung,
die einer Krisis folgt. Wenn sie nur etwas länger anhielte!" Die längste Ab¬
handlung, die Heft 5 bis 8 umfaßt, ist die Mittelstandsbewegung und das
Warenhausproblem betitelt. Diese empfehlen wir ganz besonders den Parla¬
mentariern, den Stadträten und den Regieruugsräten und wollen in der Voraus¬
setzung, daß sie sie lesen werden, nichts daraus verraten, als daß sie weit entfernt
davon ist, den Gesetzgebern in Staat und Gemeinde zu schmeicheln.
Der Vizeadmiral a. D. P. G. Hoffmann hat zur Feier des hundertsten
Geburtstages von Richard Cobden am 3. Juni 1904 eine sehr interessante und
belehrende Geschichte der Abschaffung der Getreidezölle in England heraus¬
gegeben (bei Franz Siemenroth in Berlin). Die Schrift plädiert nicht für den
radikalen Freihandel, sondern nur gegen Agrarzölle ungefähr im Sinne von
Friedrich List. Im Vorwort heißt es, die Errungenschaft des Jahres 1846 sei
nicht der Sieg eines theoretischen Grundsatzes der Nationalökonomie, sondern einzig
und allein die Abschaffung der Getreidezölle gewesen. „Nicht die wirtschaftliche
Theorie vom Freihandel und nicht die internationalen Bestrebungen des Cobden-
klubs sind in England unantastbare Dogmen geworden, Wohl aber ist ein unver¬
äußerliches Unterpfand des sozialen Friedens geblieben: billige Nahrung." Daran,
wird später nachgewiesen, wagten auch Chamberlain und seine Imperialisten nicht
zu rütteln. In Beziehung auf die Folgerungen, die der Verfasser für Deutschland
daraus zieht, empfehlen wir den Lesern kritische Vorsicht. — Ein andrer Autor,
Dr. Richard Schüller, urteilt: „Durch die extreme Freihandelspolitik Gro߬
britanniens wird die englische Landwirtschaft geschädigt, ein Teil der englischen
Industrien auf dem heimischen Markte zurückgedrängt und der britische Export sehr
stark eingeschränkt. Dazu kommt noch, daß die andern Staaten die Preise der
englischen Waren, die sie beziehn, Herabdrücken, sodaß Großbritannien einen jährlich
viele Millionen betragenden Teil der Solleinnahmen der andern Staaten bezahlt.
Durch eine gemäßigte Schutzzollpolitik könnte England nicht allein diese Schädigungen
vermeiden, sondern auch den andern Staaten Zugeständnisse abringen, wie Chamberlai?
hervorgehoben hat: »Wenn wir Waffen zur Wiedervergeltung in der Hand hätten
könnten wir die Welt dem Freihandel näher bringen, als sie jemals feit Cobdens
Zeit gewesen ist.« Schüller findet, daß die Theorie der Handelspolitik in der
neuern Zeit arg vernachlässigt worden ist, und er will diesem Mangel abhelfen durch
das Buch: Schutzzoll und Freihandel; die Voraussetzungen und Grenzen ihrer
Berechtigung. (Wien, bei F. Tempsky, und Leipzig, bei G. Freytag, 1905.) Er
untersucht sehr gründlich die Verschiedenheit der Produktionskosten, die Voraus¬
setzungen der Exportfähigkeit, die Wirkungen der Einfuhr auf Produktion und
Konsum, die Regelung der Einfuhr und die zollpolitischen Verhältnisse unsrer Zeit
einschließlich der Kartelle. Von den Regeln, die sich ihm aus seinen Untersuchungen
ergeben, führen wir eine an: „Je geringer die Spannung zwischen den höchsten
und den niedrigsten Kosten der inländischen Produktion, und je geringer bei Waren,
die ohne Zollschutz im Inlande überhaupt nicht erzeugt werden können, die Über¬
legenheit des Auslands ist, desto größer ist der Vorteil des Zolls, die Steigerung
der Produktion, im Verhältnis zum Nachteil, zur Belastung der Konsumenten." —
Von andern Sachen, die uns zugegangen sind, nennen wir ein neues Bändchen
der Sammlung Göschen: Finanzwissenschaft von Dr. R, van der Borght,
Das Haus Parish in Hamburg (2. Band des Werkes: Große Vermögen,
ihre Entstehung und ihre Bedeutung) von Dr. Richard Ehrenberg, Professor
der Staatswissenschaften an der Universität Rostock (Jena. Gustav Fischer, 1905)
und die neue Monatschrift: K-/ lische Blätter für die gesamten Sozial¬
wissenschaften, die seit Anfang dieses Jahres von Dr. Hermann Beck in
Verbindung mit Dr. Hans Dorn und Dr. Othmar Spann im Verlage von
O. V. Böhmert in Dresden herausgegeben wird.
Schon im Jahre 1902 schrieb ich in den Grenz¬
boten (H, S. 565) einen kurzen Aufsatz für den Wiederaufbau des Heidelberger
Schlosses. Jetzt tobt der Kampf wieder, und wunderbarerweise hat am 9. Juli
dieses Jahres die zweite badische Kammer nach fünfstündiger Verhandlung den von
der Regierung verlangten Betrag von 100 000 Mark zum Wiederaufbau des Ott-
Heinrichbaues mit allen gegen sechs Stimmen abgelehnt. Alle Reden des Ministers
waren umsonst. Es ist doch allgemein von Fachmännern anerkannt, daß man
gänzlich außerstande sei. eine Ruine so zu reparieren, daß jede Gefahr eines Ein¬
sturzes ausgeschlossen bleibt. Wer einmal vom Heidelberger Schloß herunter den
Promenadenweg an der Ruine vorbeigegangen ist, dem muß es klar geworden sem,
daß die außerordentlich hohe Mauer, an der man da vorbeigeht, eme ständige Ge¬
fahr des Einsturzes bietet. Der Bamberger Denkmalstag im letzten Jahre sowie
Von Fachmännern wie Wallot und andern abgegebne Urteile behaupten, es stehe fest
die Fassade des Ott-Heinrichbaues sei so schlecht und krank, daß täglich und stündlich
ein Zusammenbruch befürchtet werden müsse. Trotz dieser fachmännischer Urteile,
trotz der schon vor Jahren von Oberbaurat Schäfer in Karlsruhe vertretnen gleichen
Ansicht hat die Kammer jetzt, nach Ablehnung der Regierungsforderung, einen An¬
trag angenommen, dahingehend, man solle an alle deutschen Architekten ein Preis¬
ausschreiben erlassen, um etwaige Mittel zur Erhaltung des Baues in seiner gegen¬
wärtigen Gestalt zu gewinnen. Der Minister hat mit Recht dem Landtage die
Verantwortung für alle Unglücksfälle auferlegt, die durch einen Zusammensturz der
Ruine entstehn können. Nach Zeitungsnachrichten sollen die Heidelberger Studenten
gedroht haben, die Universität für immer zu verlassen, wenn die Ruine aufgebaut
würde. Die guten Heidelberger haben dem gewiß schönen jetzigen Landschaftsbild
aber selbst ganz besonders dadurch geschadet, daß sie den Bau von Gasthöfen und
Villen in fast unmittelbarer Nähe des Schlosses zuließen. Diese Bauten stören den
Blick auf das Schloß und auf das ganze Landschaftsbild, und nur ein passender
Aufbau des Schlosses könnte da Abhilfe schaffen und den Schloßbau wieder unter
den umliegenden Gebäuden mehr hervortreten lassen. Darüber, daß man durch
das Unterlassen des Aufbaues das Zeichen der Schmach verewigt, mit der uns
Ludwig der Vierzehnte durch die von ihm ausdrücklich befohlene Zerstörung des
Heidelberger Schlosses bedeckt hat, habe ich mich schon in dem oben erwähnten Auf¬
satz ausgesprochen und deshalb den Wiederaufbau des Schlosses als eine patriotische
Pflicht ganz Deutschlands bezeichnet. Bauen wir das Schloß nicht wieder auf, so
müßten wir eigentlich dem „Sonnenkönig" Ludwig dem Vierzehnten als Dank für
„Deutschlands schönste und größte Ruine", wie das Heidelberger Schloß vou den
Schwärmern für die Ruine genannt wird, ein Denkmal in Heidelberg setzen und
auf diesem Denkmal, das das mehr als lebensgroße Standbild des französischen
Herrschers darzustellen hätte, auch ein Reliefbild des Pfalzverwüsters Melac an¬
b
in 9. Juli dieses Jahres ist nach langen Verhandlungen und
Kämpfen in Stuttgart eine Reform des neunten Kapitels der
württembergischen Verfassung vom Jahre 1819 zustande ge¬
kommen, wodurch die ganze Zusammensetzung der Landstände in
der einschneidendsten Weise verändert wird. Der Zusammenhang
und der Hergang sind in der Kürze diese.
Das alte Württemberg der Grafen und Herzöge hat 1482 unter Mit¬
wirkung der Prälaten, der Ritter und der Landschaft durch den Münsinger
Vertrag eine einheitliche Verfassung erhalten, die 1513 unter der Regierung
des Herzogs Ulrich durch den Tübinger Vertrag weiter ausgebaut wurde. Die
Rechte des Landes wurden gegenüber herzoglicher Willkür mit starken Bürg¬
schaften umgeben und namentlich der Verschwendung der Landesgelder durch
fürstliche Prasserei ein wirksamer Riegel vorgeschoben; auch die Erhebung von
Krieg wurde an das Gutheißen der Stände gebunden. Der Landtag selbst
kam oft jahrzehntelang nicht zusammen; an seiner Stelle nahm ein engerer,
sich selbst erneuernder, ständischer Ausschuß von sechs Personen die Rechte der
..Landschaft" wahr, und das mit solcher Kraft, daß der englische Staatsmann
Fox geurteilt hat, Württemberg sei außer England das einzige Land, das eine
wirkliche Verfassung habe. Dem Landtage gehörten an die Prälaten der
vierzehn Mannsklöster (die auch nach Eintritt der Reformation 1534 als theo¬
logische Seminarien erhalten blieben) und die Abgeordneten der Städte und
der Ämter, die von den lebenslänglichen Gemeinderüten oder den Amtsver¬
sammlungen gewählt und folglich meist Bürgermeister (schwäbisch: Schult¬
heißen) waren. Die Selbständigkeit der „Landschaft" gegenüber den Herzögen
ging so weit, daß sie sich auch in der auswärtigen Politik betätigte, und gegen
das Ende des achtzehnten Jahrhunderts die „Landschaft" sogar ihren eignen
diplomatischen Vertreter in Paris, neben dem des Herzogs, unterhielt. Kein
Wunder, daß die Herzöge mit diesem Zustand unzufrieden waren und nach
einer Gelegenheit trachteten, sich von dieser Mitregierung zu befreien. Die
Gelegenheit kam im Jahre 1805. Der Friede von Preßburg verlieh dem
Herzog Friedrich, dem Verbündeten des französischen Kaisers, die Königswürde
und die Souveränität. Infolge davon hielt er sich für berechtigt und zur
leichtern Erfüllung seiner Vertragspflicht gegen Frankreich sogar für verbunden,
auch die Fesseln gegenüber seinem Lande abzustreifen, nicht bloß gegenüber dem
Kaiser, und hob am 30. Dezember die 324 Jahre alte Verfassung auf. Die
Mitglieder des ständischen Ausschusses wurden gMisnäunr verbum, rsgis
ins alte Schloß zu Stuttgart beschieden, ihnen das Archiv und der Schlüssel
zur Landestruhe abgefordert und sie bedeutet, daß jede weitere Versammlung
ihrerseits als ein aufrührerischer Schritt angesehen und behandelt werden würde.
Von da an war Württemberg ein absoluter Staat, und man kann nicht
bestreiten, daß die große Erweiterung des Staatsgebiets, wie sie 1803, 1805
und 1306 stattgefunden hat, von selbst die altwürttembergische Verfassung
unterhöhlte, da sie auf die neuen Gebiete nicht ohne weiteres übertragbar war
und ihre Aufrechterhaltung somit die Einheit des Staats unmöglich gemacht
hätte. Auch das kann nicht geleugnet werden, daß die absolute Monarchie von
1806 bis 1814 eine Reihe nützlicher und fortschrittlicher Maßnahmen ins Leben
gerufen hat, die die Landstände wohl schwerlich angenommen haben würden,
wenn man sie hätte befragen müssen. Nachdem aber 1813 das napoleonische
Wesen in Deutschland endgiltig gestürzt war, mußte auch König Friedrich der Erste
wieder einlenken und im März 1815 die Landstände Altwürttembergs wieder
berufen, um so mehr als die deutsche Bundesakte (veröffentlicht am 8. Juni 1815)
in ihrem dreizehnten Artikel vorschrieb: „In allen Bundesstaaten wird eine
landständische Verfassung statthaben." Die Hauptzüge der nun folgenden
Kämpfe sind so bekannt, daß wir sie hier übergehn können; es genügt, daran
zu erinnern, daß die Altwürttemberger jahrelang an der Forderung festhielten,
daß zur Sühne des Rechtsbruchs von 1806 einfach die alte Landesverfassung
hergestellt werden müsse; daß aber sowohl König Friedrich als sein Sohn
König Wilhelm der Erste (1316 bis 1864) diesen Standpunkt aus verschiednen
Gründen ablehnten und eine neue Verfassung für notwendig ansahen. Im
Jahre 1319 einigten sich die streitenden Parteien in einem Augenblick, wo bei
mangelnder Verständigung Metternich jede Verfassung, die alte wie die neue,
verhindert haben würde; und die Verfassung vom 25. September 1819 trat in
Kraft, die mit einigen Veränderungen von da an bis 1906, also 87 Jahre
bestehn sollte. Sie setzte fest, daß der König die gesetzgebende Gewalt mit
zwei Kammern teilen und der zweiten Kammer die Verwilligung von Ausgaben
und Einnahmen mit der einzigen Maßgabe zustehn sollte, daß die erste Kammer
den Staatshaushalt als Ganzes annehmen oder verwerfen könne, nicht aber
einzelne Posten des Haushalts. Die Zusammensetzung der beiden Kammern
wurde folgendermaßen geordnet. Die „Kammer der Standesherren" wurde
gebildet aus den königlichen Prinzen, den 1806 „mediatisiertcn", d.h. aus
Reichsunmittelbaren zu württembergischen Untertanen gewordnen Inhabern von
Reichs- oder Kreistagsstimmen, denen als Ersatz für ihre frühere Reichs-
unmittelbarkeit das erbliche Gesetzgebungsrecht eingeräumt wurde, und einer
Anzahl von Mitgliedern, die der König auf Lebenszeit ernennen durste; deren
Zahl sollte aber ein Drittel der erblichen Mitglieder nicht überschreiten, sodaß
also die württembergische Verfassung der Krone das Recht des unbeschränkten
Pairsschubs nicht (wie in England oder Preußen) zuerkannte. Die zweite
Kammer bestand aus 23 Bevorrechteten (13 Abgeordneten des ritterschaftlichen
Grundbesitzes, 6 evangelischen Generalsuperintendenten oder Prälaten, dem
katholischen Bischof von Rottenburg, einem Vertreter des Domkapitels, dem
ältesten katholischen Dekan und dem Kanzler ^ Kurator) der Universität
Tübingen) und aus 70 gewählten Abgeordneten, von denen 63 auf die Ober¬
ämter und 7 auf die „guten Städte" Ellwangen, Heilbronn, Ludwigsburg,
Reutlingen, Stuttgart, Tübingen und Ulm entfielen. Das Wahlrecht war so
bestimmt, daß in jedem Wahlbezirk auf sieben erwachsne Bürger ein Wahlmann
kommen sollte und die „Höchstbesteuerten" an sich selbst Wahlmünner waren;
die übrigen Steuerträger aber wühlten Wahlmänner. Die Höchstbesteuerten
stellten zwei Drittel des Wahlkörpers, die andern Steuerträger ein Drittel.
Es bestand also ein gar nicht ungeschickt ausgedachtes Zweiklassenwahlsystem
und eine Verbindung von direkter und indirekter Wahl, die jedem Staats¬
bürger das Wahlrecht sicherte, aber den Vermögenden den größten Teil des
Einflusses vorbehielt.
Diese Verfassung bestand ohne wesentliche Anfechtung bis 1848. Damals
wurde die Lebcnslänglichkeit der Gemeinderäte abgeschafft, und es wurde auch
die Forderung der „reinen Volkskammer" erhoben, die unter Ausscheidung der
Privilegierten nur aus Gewählten des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten
Wahlrechts, wie es die Reichsverfassung von 1849 enthielt, bestehn sollte.
Auch die Beseitigung der ersten Kammer wurde verlangt, und in der Tat be¬
stand seit dem 1. Dezember 1849 eine verfassunggebende „Landesversammlung",
die nur aus Volksabgeordneten, die eine einzige Kammer bildeten, zusammen¬
gesetzt war. Aber König Wilhelm der Erste konnte sich mit dieser Versammlung
über eine Verfassung nicht verstündigen und nahm 1850 den Anlaß wahr, daß
diese Landesversammlung ihm die zum Kriege gegen Preußen geforderten
300000 Gulden abschlug, zu erklären, daß er mit einer Versammlung, die
ihn an Erfüllung seiner Bundespflichten hindere, nicht Hausen könne, hob am
6- November 1850 die Versammlung auf und stellte den Zustand von 1819 wieder
her. Die Rechtsgiltigkeit dieses Vorgehens wurde zwar von der Opposition
heftig angefochten, von den Gerichten aber anerkannt.
Nun folgte die Zeit der Reaktion, die Württemberg 1860 auch den
Versuch eines Konkordats mit Rom bescherte, der aber an der Energie des
Protestantischen Gefühls der großen Mehrheit des württembergischen Volkes
scheiterte. 1861 wurde der Eintritt in die Stündekammer von der Zugehörigkeit
zu einem christlichen Bekenntnis unabhängig gemacht. Mit der Thronbesteigung
des Königs Karl (1864 bis 1891) ließ die Reaktion nach, und der Einfluß
der im norddeutschen Bunde 1867 eingetretnen Veränderungen, insbesondre die
Einführung des allgemeinen Wahlrechts durch Bismarck, bewirkte in Württem¬
berg 1868 den ersten wirklich bedeutenden Einbruch in die Verfassung von
1819 (denn die Zulassung der Juden hatte mehr grundsätzliche als praktische
Bedeutung): das' unter den demokratischen Einfluß geratne Ministerium
Varnbüler willigte 1868 in die Einführung des allgemeinen gleichen Wahl¬
rechts auch in Württemberg; es wollte sich damit den Verbündeten zur Linken
gefällig erweisen und zugleich zeigen, daß sich Württemberg an Freisinn von
Preußen nicht überbieten lasse. Mit dem Wahlrecht verband sich aber im Unter¬
schiede vom norddeutschen Bunde auch die Zahlung von Tagegeldern, die seit
dem Bestehen eines Landtags in Württemberg üblich waren. Damals wie heute
betrugen sie einen Dukaten (9 Mark 43 Pfennige).
Mit dieser Neuerung war eigentlich das Schicksal der Verfassung von 1819
besiegelt. Es ließ sich nicht erwarten, daß die Abgeordneten des allgemeinen
Wahlrechts aus die Dauer mit Bevorrechteten in der Kammer zusammensitzen
würden, und daß sie sich eine so hochfeudale erste Kammer, wie die von 1819
war, immer gefallen lassen würden. Beides widersprach völlig den Voraus¬
setzungen, aus denen sie selbst hervorgingen. So wurden seit dieser Zeit die
Bestrebungen nach einer Verfassungsreform laut, wobei sich die damals (1870
bis 1895) maßgebende „deutsche", d. h. nationalliberale Partei für das Ein¬
kammersystem mit der Maßgabe aussprach, daß diese eine Kammer zu einem
Teil aus Mitgliedern der Kammer der Standesherren, zum andern aus Ab¬
geordneten des allgemeinen Wahlrechts bestehn sollte. Die Behauptung, womit
die Demokraten lange Zeit hausieren gingen, auch die deutsche Partei sei wie
sie selbst für das Einkammersystem auf der ausschließlichen Grundlage des
allgemeinen Wahlrechts gewesen, ist völlig wahrheitswidrig; auf so etwas wären
weder die Regierung noch die Standesherren jemals eingegangen, und eine
solche Forderung stellen hätte geheißen leeres Stroh dreschen. Was die
Zusammensetzung der zweiten Kammer angeht, so war alles einig, daß eine
Reform das Ausscheiden der Bevorrechteten zur Grundvoraussetzung habe; die
Regierung schlug schon am 18. Dezember 1867 diese Maßregel vor. Aber die
Frage war, ob die Bevorrechteten ohne Ersatz ausscheiden sollten oder nicht. Die
Volkspartei trat für das erste ein; die deutsche Partei war, um doch einen Schritt
vorwärts zu kommen, bereit, in einen Ersatz zu willigen, und das Ministerium
Mittnacht erklärte wiederholt die Schaffung eines „konservativen Ersatzes" für
die unabänderliche Bedingung jeder Reform. So dachte man daran, Vertreter
der Berufszweige (Landwirtschaft, Handel, Gewerbe) oder der Höchstbesteuerten
in die zweite Kammer zu bringen; aber die Berufszweige entbehrten zum Teil
(so das Handwerk) noch der Organisation, der die Wahl von Abgeordneten
hätte übertragen werden können, und die Höchstbesteuerten waren in den
Städten vielfach Juden, auf dem Lande Bierbrauer und Wirte, wie Mittnacht
1888 in der Kammer nicht ohne Ironie sagte; den Einfluß dieser Leute zu
verstärken durch Ausfolgung eines Anteils an der Gesetzgebung schien in der
Tat nicht geboten. So Vertiefen alle Versuche, eine Reform zustande zu
bringen, sowohl 1888 als 1894 erfolglos, da niemals für irgendeinen Vorschlag
auch nur in der zweiten Kammer (die erste kam gar nicht dazu, Stellung zu
den Entwürfen zu nehmen) die notwendige einfache Mehrheit oder gar die
schließlich notwendige Zweidrittelmehrheit erlangt wurde.
So lagen die Dinge, als 1895 bei den Kammerwahlen die deutsche Partei
dank eigner Fehler und dank einer über alle Begriffe verlognen demokratischen
Hetze die beherrschende Stellung verlor, und die Volkspartei mit 31 Abgeordneten
an die erste Stelle rückte. Damals strich der Freiherr von Mittnacht mit einer
Fixigkeit, die sogar bei diesem vielgewandten Staatsmann überraschte, vor der
neuen Mehrheit ebenso die Segel, wie er es im Herbst 1870 vor der sieghaften
deutschen Partei getan hatte, und erklärte, „angesichts der jetzigen Situation"
auf den bisher geforderten konservativen Ersatz aus einem beschränkten Wahl¬
recht verzichten zu wollen und in die „reine Volkskammer" zu willigen. Es
wurde damals behauptet, daß diese berühmte und berüchtigte Erklärung vom
5. März 1895 den eignen Kollegen Mittnachts überraschend gekommen sei;
zurückgetreten von seinem Amte ist aber keiner, was wenigstens den Schluß
zuläßt, daß sie doch vorher verständigt worden waren. Als zahlenmäßiger Ersatz
für die Bevorrechteten wurden nun Abgeordnete in Aussicht genommen, die durch
allgemeine Verhältnis- (Proportional-) Wahlen in den vier Kreisen des Landes
gewonnen werden sollten. Ein „konservativer" Ersatz wären sie natürlich
nicht gewesen, eher das Gegenteil, sofern dabei die bestorganisierte Partei, die
Sozialdemokratie, immer im Vorteil sein wird. Wohl aber wären sie, da bei
solchen Wahlen in größern Verhältnissen die Kirchturmspolitiker weniger zur
Geltung kommen als bei Bezirkswahlen, intellektuell eine Bereicherung der
Kammer gewesen. Im Jahre 1898 war die Sache so weit, daß eine Mehrheit
in der zweiten Kammer erhofft wurde; im letzten Augenblick jedoch warf das
Zentrum (im April 1898) das Verlangen herein, daß erstens die gesetzlich be¬
stehende konfessionelle Volksschule verfassungsgemäß festgelegt und zweitens die
Zulassung von Orden gesetzlich umschrieben, also der Willkür der Negierung
entzogen werde. Für die Mönche waren die Demokraten aus Angst vor ihren
evangelischen Wählern, die Nationalliberalen aus Grundsatz nicht zu haben;
die Festlegung der konfessionellen Volksschule hätte weniger Anstoß gefunden.
Den Rittern und den Prälaten war im Punkte der vermehrten Berechtigung der
ersten Kammer in Budgetsachen nicht genug geschehen, deshalb waren sie
Gegner der Reform in ihrer damaligen Gestalt, und so fiel die Reform am
21. Dezember 1898 mit 48 Ja gegen 38 Nein aus Mangel an der Zweidrittel¬
mehrheit durch. Es war „der dunkelste Tag des Jahres", wie der demo¬
kratische Abgeordnete Konrad Haußmann nicht unzutreffend ausrief.
Der Zweifel, ob bei den auseinanderstrebenden Wünschen und Ansichten
überhaupt etwas zustande kommen könne, wuchs in den nächsten Jahren immer
mehr an; da brachte das Jahr 1904 plötzlich einen Umschwung. Die katho¬
lische Mehrheit der Standesherren lehnte (s. Grenzboten 1904, Ur. 29) die Volks¬
schulnovelle des Kultusministers Dr. von Weizsäcker, die die fachmännische
Bezirksaufsicht in den größern Schulbezirken einführen wollte, am 8. Juni 1904
ab und setzte sich dadurch mit der Regierung und der Mehrheit der zweiten
Kammer in einen schneidenden Gegensatz. Es war bewiesen, daß die erste
Kammer in ihrer jetzigen Zusammensetzung eine Hochburg des Ultramontanismus
wenigstens im Punkt der Schulfrage war, und der Gedanke der Notwendigkeit
einer Reform, aber jetzt mit schärfster Zuspitzung auf die Umgestaltung nicht
sowohl der zweiten als vielmehr der ersten Kammer, schlug so gewaltig durch,
daß sich auch die fast ganz der evangelischen Kirche angehörenden Ritter und die
Prälaten dieser Notwendigkeit nicht länger verschlossen. Am 16. Juni 1904
forderte die ganze zweite Kammer mit Ausnahme des Zentrums das Ministerium
Breitling zu einer Vorlage zur Verfassungsreform auf, und das Ministerium
gab eine zustimmende Antwort. Diese Parteigruppierung ist maßgebend für
die weitere Entwicklung geblieben und hat die Frage 1906 zum Abschluß ge¬
bracht; an der Phalanx des evangelischen Württembergs ist das Zentrum, das
um der konfessionellen Volksschule und der kirchlichen Schulaufsicht willen der
ersten Kammer ihre katholische Mehrheit unbedingt erhalten wollte, schließlich
zerschellt, und die Standesherren haben am Ende nachgegeben, weil sie erstens
einen zweiten Konflikt, der noch schärfer als der von 1904 geworden wäre,
nicht riskierten, und weil sie sich zweitens sagen mußten, daß die erste Kammer
ohne Zuwachs von Arbeitskräften am Ende leistungsunfähig zu werden drohte;
die Standesherren, deren Zahl sich seit 1819 überdies um drei Familien
vermindert hat, sind meist nicht in der Lage, Berichte über Gesetzesvorlagen
auszuarbeiten, und die sechs vom Könige gewühlten Mitglieder, meist hohe
Staatsbeamte mit großer Amtslast, können den an sie gestellten parlamen¬
tarischen Anforderungen kaum genügen. Die Standesherren stellten als Vor¬
aussetzung ihrer Annahme der Reform eine Reihe von Bedingungen, unter
denen wir das Recht der Krone, für etwa künftig aussterbende standesherrliche
Familien andre erbliche Gesetzgeber zu ernennen, und eine Vermehrung ihrer
Budgetrechte nennen. Dafür waren sie bereit, in eine Vergrößerung der
ersten Kammer zu willigen, die deren Standesherrlichen und katholischen Charakter
sehr abschwächen, ja fast zerstören mußte, die Vertretung abwesender Standes¬
herren bei der Abstimmung durch Anwesende aufzugeben (was man im Lande
scherzhaft die Geisterstimmen nannte) und der Errichtung der reinen Volks¬
kammer, allerdings zunächst ohne Ersatz für die Bevorrechteten, zuzustimmen.
Schließlich vereinigte man sich dahin, daß statt aussterbender standesherrlicher
Familien die Krone zwar nicht erbliche, aber lebenslängliche Mitglieder der
ersten Kammer sollte ernennen dürfen, und daß die erste Kammer bei der Ab-
Schaffung, Erhöhung und Verringerung aller Steuern, deren Satz gesetzlich
bestimmt ist, ein Veto haben soll; damit ist etwaigen aus Popularitütshascherei
hervorgehenden finanzpolitischen Experimenten etwaiger radikaler Mehrheiten
der zweiten Kammer ein Riegel vorgeschoben. Solche Steuern mit festem
Satz sind u. a. das Umgeld auf Wein und die Einkommensteuer.
In der zweiten Kammer verlangten die Konservativen, Bauernbündler
und die Ritter sowie das Zentrum statt der ausscheidenden Bevorrechteten
einen Ersatz durch berufsständische Vertreter; aber über das Wie konnten sich
diese Parteien selbst nicht einigen, und die andern Parteien brachten allerlei
gewichtige Einwände dagegen vor. Schließlich siegte der Vorschlag, den Ersatz
durch siebzehn im ganzen Lande als einem Wahlkreis zu wählende Proporz¬
abgeordnete zu beschaffen, mit sehr starker Mehrheit; der an sich gar nicht
unebene Vorschlag der Regierung, es bei der „kleinen Kammer" von 75 Ab¬
geordneten bewenden zu lassen, wurde als Zumutung zu einer Art von Selbst-
Verstümmlung der bisher 93 Köpfe zählenden zweiten Kammer empfunden und
fast von allen Seiten unwillig abgelehnt. Schließlich ging der Proporz in
der Tat durch, aber aus Verlangen der ersten Kammer, die das Gespenst
eines schwäbischen Boulanger an dem Zukunftshorizont aufsteigen sah, in der
Form, daß das Land für den Proporz in zwei Wahlkreise zerlegt werden soll,
einen nördlichen (Neckar- und Jagstkreis) mit neun und einen südlichen (Schwarz¬
wald- und Donaukreis) mit acht Abgeordneten. So sollte die Möglichkeit
einer das ganze „Lündle" mit sich fortreißenden plebiszitären Bewegung abge¬
schnitten werden. Auf diesen Grundlagen kam am 9. Juli 1906 in der Tat
die Reform zustande, in der zweiten Kammer mit 66 gegen 21 Stimmen, in
der Kammer der Standesherren sogar einstimmig; auch die vier katholischen
königlichen Prinzen Philipp und seine drei Söhne Albrecht, Robert und Ulrich
stimmten mit Ja. Das Nein wurde, abgesehen von einigen Rittern (v. Breitschwert
und v. Gaisberg-Schöckingen), nur vom Zentrum gesprochen, das mit steigender
Verbissenheit der Reform bald demokratische, bald konservative Erwägungen
entgegenhielt, in neuer Betätigung seiner immer skrupelloser jesuitischen Taktik,
das sich aber von allen seinen sonstigen Heergesellen, von Konservativen wie
von Demokraten und Sozialdemokraten, diesesmal gänzlich verlassen sah und am
Ende gar den großen Schmerz erleben mußte, daß sogar die katholischen
Magnaten des Oberhauses auf sein Locken wie sein Drohen nicht mehr hörten.
Die Klage des Zentrums, daß die Reform gegen den katholischen Volksteil
und dessen Religion gemünzt sei, wurde durch das Verhalten des hohen
katholischen Adels völlig wirkungslos, ja lächerlich gemacht.
Nach dem neuen Recht, das am 1. Dezember 1906 in Kraft treten wird,
besteht nun die erste Kammer, wie sie künftig heißen wird, aus den voll¬
jährigen königlichen Prinzen (zurzeit vier an der Zahl; alle katholisch), den
siebzehn Standesherren (davon elf katholisch), den zwei erblich berechtigten
gräflichen Familien Rechberg und Neipperg (beide katholisch), sechs vom König
ernannten Mitgliedern, acht Rittern, zwei evangelischen Generalsuperintendenten,
den Präsidenten des evangelischen Konsistoriums und der evangelischen Landes¬
synode, einem Vertreter des bischöflichen Ordinariats, einem von seinen Amts¬
genossen gewählten katholischen Dekan, einem Abgeordneten der Universität
Tübingen und einem der technischen Hochschule in Stuttgart, zwei Vertretern
der Landwirtschaftskammern, zwei der Handelskammern und der damit ver-
bundnen Industrie, einem Vertreter der Handwerkerkammern. Das ergibt
zusammen 50 Mitglieder statt bisher 29. Die zweite Kammer wird sich
zusammensetzen aus 69 Abgeordneten der Bezirkswahlen, nämlich aus Ver¬
tretern der 63 Oberamtsbezirke und der 6 „guten" Städte Ellwangen, Heil¬
bronn, Ludwigsburg, Neutlingen, Tübingen und Ulm, und aus 23 Abge¬
ordneten der Proporzwahlen, nämlich 6 Vertretern der „guten" Stadt Stuttgart
und 17 Abgesandten der zwei Landeswahlkreise. Die Gesamtzahl der Mit¬
glieder zur zweiten Kammer wird 92 sein, wie bisher auch, da der katholische
Bischof tatsächlich seinen Sitz in der zweiten Kammer fast gar nie einge¬
nommen hat.
Was nun aus dieser Neugestaltung der Landstünde für Württemberg
hervorgehn wird, das vorherzusagen möchten wir uns nicht unterfangen. Eins
ist gewiß: wenn allmählich eine unaufhaltsame Strömung auf diese Reform hin¬
drängte, die sogar Widerstrebende ergriff, so ist es nicht das Gefühl von der
Schädlichkeit der Zusammensetzung der zweiten Kammer, das hier entscheidend
gewirkt hat. Vielmehr haben Freund und Feind mehr als einmal es den
Rittern und Prälaten zugestanden, daß die zweite Kammer an ihnen sehr wert¬
volle Mitglieder gehabt hat, daß sie ohne Ausnahme gebildete, ja zum Teil
hochgebildete Männer waren, die mit freieren Blick als viele Gewählte des
Volkes die staatlichen Aufgaben und Bedürfnisse erfaßten; daß sie keinen
wahren und gesunden Fortschritt je verhindert, wohl aber jeden solchen ge¬
fördert; und daß sie Tagesgötzen gegenüber oft eine Unabhängigkeit des Geistes
betätigt haben, die dem öffentlichen Interesse nur frommte, und zu der sich die
Gewählten des Volkes nur schwer erheben konnten. Wenn trotzdem der Ruf
nach der Entfernung dieser Männer aus der zweiten Kammer immer stärker
erscholl, so kam das von dem Erstarken des demokratischen Geistes im neun¬
zehnten Jahrhundert her, dem die Anwesenheit bevorrechteter Gesetzgeber im
Landtag grundsätzlich zuwider war; sollten etliche 80 ritterschaftliche Familien
die Stimmen von 13 Oberämtern, 6 kraft ihres Amts berufne General¬
superintendenten und 3 katholische Kirchenmünner die von 9 aufwiegen? All¬
mählich aber wurde die Reformbedürftigkeit auch der ersten Kammer, in der
17 katholische Mitglieder 12 evangelischen gegenüberstanden, wo außer den
sechs durch den König ernannten nur Prinzen und Magnaten saßen, in einem
Lande tief empfunden, dessen Volk fast zu 71 Prozent evangelisch ist, und in
dem der kleine und mittlere Besitz den Großbesitz bei weitem überwiegt. So
bildete sich eine immer mehr wachsende Einheit der Überzeugung aller Parteien
über die Notwendigkeit aus, beide Kammern, namentlich aber die erste, zu
reformieren, und das Ergebnis liegt nunmehr vor unsern Augen. Gewiß
besteht jetzt die Gefahr, daß die zweite Kammer einen beträchtlichen sozialdemo¬
kratischen Einschlag erhält; der Neckarkreis und in zweiter Linie der Schwarz¬
waldkreis sind sehr stark industriell entwickelt, und der Grundbesitz ist vielfach
so zwerghaft, ein Hektar und weniger, daß diese Teile Württembergs vielleicht
noch ebensolche Hochburgen der Sozialdemokratie werden, wie das „rote König¬
reich" Sachsen es ist. Die nächst gewinnende Partei wird das ebenso wie
die Sozialdemokratie stramm organisierte Zentrum sein, und für den Verlust
der katholischen Mehrheit der ersten Kammer wird es zweifellos dadurch
größtenteils entschädigt werden, daß es in der um nur etwa vier katholische,
dagegen um achtzehn evangelische Stimmen (Ritter, Prälaten, Tübinger
Kanzler) geschwächten zweiten Kammer einen viel stärkern Einfluß erlangen
wird. Die Demokraten und die Liberalen werden Mühe haben, sich gegenüber
den beiden genannten Parteien zu behaupten, und nur die Bündler, an deren
Rockschöße sich die paar Konservativen hängen, werden auch starke Gewinne
machen. Bei diesen Aussichten für die zweite Kammer halten wir es für eine
ungemein wichtige Errungenschaft, daß die Reform zu einer wesentlichen
Stärkung der ersten Kammer geführt hat, die jetzt nach Zahl, Einsicht und
Besitz ein so ansehnliches Element des öffentlichen Lebens ist, daß sie mit
der zweiten Kammer in einen ganz andern Wettbewerb treten kann, als die
auf zu einseitiger und schmaler Grundlage aufgebaute frühere Kammer der
Standesherren es vermochte. Die Beratungen und die Beschlüsse der ersten
Kammer werden künftig ganz anders ins Gewicht fallen; sie wird ein wahrer
Senat des Königreichs sein, und heute schon kann man von sehr liberaler
Seite hören, daß es nun gelte, sich um die erste Kammer zu scharen und ihre
Stellung zu stärken, um den radikalen Einflüssen das unbedingt nötige Gegen¬
gewicht zu bieten.
le französische Literatur der Aufklärung hat der Historiker natürlich
nur insoweit zu betrachten, als sie eben auf die öffentliche Meinung
Einfluß gewann. Da stehn schon unter der Negierung Ludwigs
des Vierzehnten obenan Fenelon, der, wenn auch maßvoll, so
doch unter großem Beifall vieler Gebildeten eine gesetzmäßig be¬
schränkte Monarchie forderte, und Bayle, der in seinem viotionnaM (1696),
dem Vorbilde der Enzyklopädien des achtzehnten Jahrhunderts, mit unge¬
heurer Gelehrsamkeit alles zersetzte und verhöhnte, was die Kirche als ver-
ehrungswert ansah, und was Könige und Staatsmänner geleistet hatten. Der
königliche Richter Boisguillebert schilderte wieder (1707) das entsetzliche Elend
der großen Masse und trat für Reformen ein, besonders für Abschaffung aller
bisherigen Steuern, an deren Stelle er eine auf dem Grundbesitz beruhende
Hauptsteuer eingeführt wissen wollte. In derselben Richtung, aber noch stärker
wirkte der berühmte Festungsbaumeister Vauban durch seine Schrift vixins KoMs
(1707), in der er einen ähnlichen Vorschlag wie Boisguillebert machte, eben die
Einführung eines Steuerzehnten statt aller andern Steuern. Aber beide Schrift¬
steller urteilten doch nur oberflächlich und ohne Kenntnis; denn so leicht, wie sie
es sich dachten, war es doch nicht, den Staat zu reformieren. Einen überaus
gewaltigen Einfluß übte daun Voltaire aus, obwohl er ein Geist zweiten Ranges,
kein Dichter, kein Historiker gewesen ist, ja auch kein schöpferischer Denker, sondern
nur ein Vermittler fremden Denkens, namentlich der Gedanken der englischen
Philosophen Locke und Hume und der Naturforscher, besonders Newtons. Durch
seinen großartigen Stil, seine Vielseitigkeit und seinen Witz war er wie geschaffen,
den breitesten Massen der Gebildeten im höchsten Maße zu imponieren, aber
neue Bahnen zu weisen, war ihm nicht gegeben. Seine Aufgabe bestand nur
darin, das Bestehende in Staat und Kirche herunterzureißen und Phrasen zu
schmieden, die alsbald von Mund zu Mund gingen: „der Engländer ist ein
freier Mann", „das Volk, der zahlreichste, der nützlichste und sogar der tugend¬
hafteste Teil der Menschheit", „das Volk, das so gütig ist, zu dulden, daß einige
Geistliche 50000 Livres Einkommen haben", „nicht der Minister, sondern der
Kaufmann, der sein Land reicher macht, trägt zum Glück der Menschheit bei".
Was er im Anfange besonders in den I/öttrss Lnr Iss ^.vAlküs (1734) lehrte,
führte er in fernern zahllosen Schriften weiter aus, und in seinem Fahrwasser
bewegten sich auch die Enzyklopädisten, von denen einige allerdings noch radi¬
kalere Ansichten hegten. Eine andre Richtung, die weniger wirksam war, aber
auch den königlichen Absolutismus bekämpfte, bezeichneten Graf Boulainvilliers
und Marquis von Mirabeciu, die eine Reform durch Zurückgreifen auf die Ver¬
hältnisse des Mittelalters anstrebten und geradezu vortreffliche, leider wenig
beachtete Lehren erteilten. Dagegen verschlang die Menge, wie schon vorher an¬
gedeutet worden ist, die Kundgebungen des Parlaments gegen die Kirche und
den Staat, deren Befugnisse von ihm in den richtigen Schranken gehalten werden
sollten; und aus dem Parlament ging auch der geistreichste politische Denker des
achtzehnten Jahrhunderts, Montesquieu, hervor. In seinen „Persischen Briefen"
(1722) tritt er uns noch als der reine Zerstörer entgegen, aber seine Kritik ist
vornehmer und edler als die Voltaires; Persien, Rußland und andre Länder,
über die Berichte erstattet werden, sind ihm nicht besser als Frankreich, ein Stand
nicht besser als der andre, die Gesellschaft steht ihm nicht moralisch höher als
der Staat, aber schonungslos wird doch der französische Nationalcharakter an¬
gegriffen; der Zustand der Kirche, ihre Trinitätslehre, die Transsubstantiation,
die Priester, die Mönche werden mit Spott und Hohn übergössen und ebenso
der Richterstand, die Käuflichkeit der Stellen, die Faulheit der Richter. Alles
ist durchweht von der Sehnsucht nach Freiheit! Viel ernster und wissenschaft¬
licher war seine Schrift vom „Geiste der Gesetze" (1748); in ihr zeichnete er
zum erstenmal an der Hand der englischen Verfassung, die er allerdings stark
idealisierte, den modernen konstitutionellen Staat mit seiner Dreiteilung der Ge¬
walten, der gesetzgebenden, der ausübenden und der richterlichen, in so meister¬
hafter Weise, daß er die öffentliche Meinung auf das gewaltigste mit fortriß,
und nicht bloß diese, sondern auch die Parlamente, die, durch die tiefen Gedanken
Montesquieus angeregt, immer häufiger von den Rechten der Bürger und des
Staates sprachen, also lange vor 1789. Es ist hier unmöglich, auf die Bedeu¬
tung des eingefleischtesten Revolutionärs der damaligen Literatur, Jean Jacques
Rousseaus, näher einzugehn, obwohl gerade von ihm die mächtigsten Antriebe
für die öffentliche Meinung ausgingen. „Er lehrte sie, daß das Gefühl mehr
sei als der Verstand, daß der Niedrige besser und wichtiger sei als der Vor¬
nehme; er predigte die Freiheit eindringlicher als seine Vorgänger, freilich auch
noch unklarer als sie, er predigte vor allem die Gleichheit; er machte in ge¬
waltigem Maßstabe Stimmung für die Republik; er fand die Handhabe unter
Wahrung des Rechtsgedankens, das positive Recht der Herrschenden zu zer¬
brechen; er erklärte, daß das Volk der Herr sei." Da seine Lehren bis in die
tiefsten Schichten der Bevölkerung drangen, so bestimmten sie auch am stärksten
den Gang der Revolution; und weiterhin haben die Sozialdemokraten, ja auch
die Anarchisten die letzten Folgerungen aus seinem „Gesellschaftsverträge" ge¬
zogen. Von andern Schriftstellern abgesehen, sei schließlich noch der Physio-
kraten gedacht, die wenigstens teilweise auf die öffentliche Meinung Frankreichs
eingewirkt haben, denn als Anhänger einer absoluten Monarchie, mit deren Hilfe
sie allein ihr „System" durchzusetzen hofften, fanden sie keinen Beifall bei der
Menge. Aber ihre Lehre, wonach der Grund und Boden, nicht das Geld den
Nationalreichtum ausmache, daß also nur jener das einzig richtige Steuerobjekt
abgebe, wobei natürlich der Bauer stark zu entlasten sei, während andrerseits
unbedingte Handelsfreiheit herrschen müsse (laisssö kg,irs, laiZss? aller), diese
Lehre nahm die Gemüter vieler gefangen, so sehr sie auch an Übertreibungen
und Fehlern leiden mochte. Den Physiokraten gehörten die angesehensten Männer
an. vor allem Turgot und Dupont de Nemours. Und doch wäre es verkehrt,
wollte man glauben, die Franzosen hätten damals einen Führer gehabt, dem
sie folgten: im Gegenteil, ein solcher fehlte ihnen durchaus; sie nahmen aus den
Schriften ihrer großen Denker eben nur das an, was ihnen leicht faßlich war
und dies wieder bestand doch nur in Worten und Phrasen, die ihnen angenehm
um Ohre klangen, von denen sie sich aber eine klare Vorstellung nicht machen
konnten. Dazu kam noch eins: seit 1750 oder 1760 war auf allen. Gebieten
des Lebens tatsächlich ein höchst erfreulicher Fortschritt gemacht worden, aber
der Tadel gegen alles Bestehende, die leidenschaftliche Kritik an allen Ma߬
nahmen der Regierung verschärfte sich trotzdem zusehends.
In der Tat hatten die philosophischen Ideen der Zeit auch auf die Re¬
gierenden den größten Eindruck gemacht: Frau von Pompadour bekannte sich
zur Partei der Philosophen, Ludwig der Fünfzehnte bezeichnete seinen Leibarzt
Quesnay, den Begründer der Physiokratie, als „seinen eignen Philosophen",
und das Ministerium Choiseul (seit 1761) entwickelte eine „geradezu fieberhafte
Neformtätigkeit", und zwar besonders auf militärischem Gebiete. Hier wurden
die Kompagnien von unsaubern Leuten gereinigt, die bisher käuflichen Haupt¬
mannsstellen abgeschafft und durch den König besetzt, die Regimenter zu größer»
aus allen Waffengattungen bestehenden Verbänden, Divisionen, zusammengezogen,
endlich die Waffen selbst sehr verbessert und vermehrt. Dagegen gelang es
Choiseul nicht, die Disziplinlosigkeit der Truppen und die Unzulänglichkeit der
Offizierausbildung auch in der Kriegsschule sowie die Mängel in der Marine
zu beseitigen; dazu war der alte Staat zu schwach und zu gutmütig. In der
innern Verwaltung hatte schon der Regent, Herzog von Orleans, einschneidende
Reformen vorgenommen, aber zum Teil wieder fallen lassen, da sie sich als
unpraktisch erwiesen. Unter der Regierung des Kardinals Fleury trat dann
eine Ruhepause ein, die erst um 1750 unter dem Einfluß der neuen Philo¬
sophie ihr Eude erreichte. Zunächst förderte man seit dieser Zeit die Land¬
wirtschaft durch Gründung von Ackerbaugesellschaften, durch Urbarmachung von
Odlündereien, von denen bis 1776 eine Million Morgen in guten Getreide¬
boden verwandelt wurden, durch Erleichterung des Gutsverkaufs und des Ge¬
treidehandels; aber die vernünftigen Erlasse über den freien Getreidehandel
riefen doch wieder die Opposition der Parlamente, deren Mitglieder vielfach
Gutsbesitzer waren, hervor, und so ließ man sie fallen, ebenso wie die geplante
Beseitigung der innern Zollschranken nicht zustande kam. Dagegen wirkten die
zahlreichen Gesetze zugunsten der Industrie und der Fabriktätigkeit überaus
segensreich, worauf schon früher hingewiesen worden ist. Eine andre Reform,
die der Stadtverwaltung, bestand nur sechs Jahre; sie war so radikal, daß sie
der revolutionären Gesetzgebung sehr nahe kam. Danach ging die Verwaltung
von den kömglichen Beamten auf den Stadtrat und auf die Notcibelnver-
sammlung von vierzehn Mitgliedern über, die den verschiedensten Ständen bis
zum Handwerker hinab angehörten; überall kam der Selbstverwaltungsgedanke
zum Ausdruck, und die Städteordnung galt für das ganze Reich. Aber die
Bürger verbanden sich nicht immer „zum gemeinen Nutzen". Die gewählten
Beamten zeigten sich parteiisch, die Wahlen führten zu Skandalen und Prozessen,
kurz: das Bürgertum machte von der erlangten Freiheit den schlechtesten Ge¬
brauch, und die neuen Gesetze wurden (1771) wieder abgeschafft. In demselben
Jahre begann die Reform des Justizwesens, die ebenfalls einen entschiednen
Fortschritt bedeutete, und an der Ludwig der Fünfzehnte trotz dem Widerspruch
der öffentlichen Meinung bis zum Tode festgehalten hat. In dem großen Be¬
zirke des Pariser Parlaments wurden nämlich zur Erleichterung des Gerichtsver¬
fahrens sechs neue Gerichtshöfe (Oovssils Luxöriöurs) eingerichtet, die Käuflichkeit
der Ämter wurde abgeschafft, die Rechtspflege beschleunigt und besonders auf
dem Lande verbessert und verbilligt. Das Pariser Parlament sah aber in
alledem einen Eingriff in seine Freiheiten, und die Masse des Volkes stimmte
ihm bei. Der schwache Nachfolger nahm deshalb in seiner Gutmütigkeit auch
diese Reform zurück, was ihn freilich Krone und Leben kosten sollte. An einer
Steuerreform endlich arbeitete die Regierung Ludwigs des Fünfzehnten ebenfalls
ernstlich; es wurde auch einiges Wenige erreicht, besonders in bezug auf die
Taille, aber in der Hauptsache blieb es bei der Nachgiebigkeit und Schwäche
des Staates doch beim alten, so bei den Privilegien der beiden ersten Stände
und der Begünstigung des beweglichen Kapitals, des Handels und des Gewerbes.
Also auf allen Gebieten des staatlichen Lebens dieselbe Erscheinung: ehrliche
Versuche der Regierung, dem Volke zu helfen im Sinne der neuen Ideen, aber
Widerstreben der öffentlichen Meinung, der Parlamente und der Masse des
Volkes selbst, und vor allem die nachgiebige Schwäche der Regierung. Der
Ruf nach Freiheit war bei der damaligen Stimmung des Volkes lauter als
der nach Reformen, und Freiheit bedeutete hier nichts andres als Macht.
Ein Machtkampf tobte schon lange zwischen Krone und Parlament; zu einem
solchen Kampfe zeigten sich unter Ludwig dem Sechzehnten auch die privi¬
legierten Stände bereit, und nach Macht, nach Volkssouveränitüt dürstete die
Menge der Gebildeten. So stand man schon 1774, im Todesjahre Ludwigs
des Fünfzehnten, einer Revolution recht nahe.
Als Ludwig der Sechzehnte 1774 seinem Großvater in der Regierung
folgte, zählte er erst neunzehn Jahre. Zwischen beiden bestand insofern eine
Ähnlichkeit, als sie infolge einer gewissen Schüchternheit nicht zu repräsentieren
verstanden und von der göttlichen Mission ihres Berufes nicht durchdrungen
waren. Mehr noch erinnerte der neue König an seinen schon (1765) früh ver¬
storbnen Vater, den Dauphin. Wie dieser, neigte er äußerlich schon in jungen
Jahren zu starker Beleibtheit und Schwerfälligkeit; wie diesen erfüllten auch
ihn strenge Religiosität, Sittenreinheit und Widerwillen gegen die Lebensweise
Ludwigs des Fünfzehnten. Die Sittenreinheit wurde ihm von der Natur
allerdings dadurch erleichtert, daß er sich erst einer Operation hätte unterziehn
müssen, wenn er sündigen wollte. So war es ihm möglich, auch noch längere
Zeit in der Ehe dahin zu leben, ohne etwas andres als nur dem Namen nach
der Gatte seines Weibes zu sein. Überhaupt empfand er keine Leidenschaft,
keine Demütigung, keine Zurücksetzung, kaum eine Antipathie gegen andre Leute,
als etwa die, die keinen Glauben hatten oder besondre Tatkraft und Lebendig¬
keit zeigten. Gutmütigkeit und Gleichgiltigkeit waren ihm besonders eigen; in
der schrecklichsten Stunde, am 10. August 1792, als er ins Gefängnis abge¬
führt wurde, verlangte er, dort angekommen, zunächst eine Mahlzeit, die er
Ma Entsetzen seiner Gemahlin mit Appetit verzehrte. Sein Wille war schwach
und nachgiebig, sein Verstand normal aber ohne Größe. Richtig erkannte er,
daß England'der Hauptfeind Frankreichs sei, und daß er, wenn er auch eine
Habsburgerin zur Gemahlin nahm, Österreich gegenüber freie Hand behalten
müsse, ferner, daß Heer und Flotte seines Staates unbedingt einer gründlichen
Reform unterzogen werden müßten. In der innern Politik bestand er etwa
auf den Grundsätzen Montesquieus, auf einem Absolutismus, der durch die
Fundamentalgesetze beschränkt sei. Aber er war kein Menschenkenner und ver¬
kannte zum Beispiel die Opposition der Parlamente, die er für kleinliche Ränke
ansah, vollständig. Dabei war er zuweilen launenhaft, aber auch derb-witzig,
immer einfach, weniger der Rcgierungsarbeit als der Jagd und ihren Schmausereien
und der Schlosserei ergeben, in der er etwas Tüchtiges gelernt hatte. Jeden¬
falls war seine ganze Lebensart „eine der wesentlichsten Vorbedingungen für
die Revolution und ihren Verlauf"; denn sein Hauptfehler bestand darin, daß
er sein eignes Recht und Interesse nicht genügend wahren konnte.
Seine Gemahlin Marie Antoinette, die Tochter Maria Theresias von
Osterreich, trug eine nur wenig geringere Schuld an dem Ausbruche der Um¬
wälzung; aber das lag zum großen Teil daran, daß sich Hof- und Bürger¬
klatsch mit ihren privatesten Angelegenheiten, die immer zu ihren Ungunsten
ausgelegt wurden, auss eifrigste beschäftigten. Ihre jahrelange Kinderlosigkeit,
die doch nach vorheriger Andeutung dem Verhalten des Königs zuzuschreiben
war, trieb sie zu einer gewissen Leichtfertigkeit, die dem Ansehen der Monarchie
so sehr schädlich war. Sie stürzte sich in Vergnügungen, gab sich einem wilden
Hasardspiel hin und schloß Freundschaft mit Frauen, die sie mit kostspieligen
Liebenswürdigkeiten überschüttete, wobei sie wieder den schmutzigsten Gerüchten
ausgesetzt war. Es kamen andre Verdächtigungen hinzu: man hielt sie für die
Seele des Vertrags von Versailles, für eine Habsburgische Spionin, für die
einflußreichste Ratgeberin der Regierung in der auswärtigen Politik; in Wahr¬
heit war sie nichts von alledem, aber die Abneigung, ja der Haß gegen sie
wurde nunmehr von ihr vergolten: sie begann ihrerseits „das verfluchte Volk"
der Franzosen zu hassen. In Wien hatte sie ein trautes Familienleben kennen
gelernt, hier ging alles mit Pomp und in der Öffentlichkeit vor sich; bei den
Mahlzeiten war sie von Zuschauern umgeben, nicht einmal ihre Kinder sollte
sie in Ruhe gebären können, sondern in Gegenwart zusammengelaufnen Pu¬
blikums, dessen Gedränge beinahe ihr Leben gefährdete. Wenn sie sich gegen
diese Unfreiheit wehrte, wenn sie ans das Land ging, um im kleinen Kreise in
Zurückgezogenheit zu leben, wenn sie nächtliche Spaziergänge im Mondschein
unternahm oder auch einmal zum Maskenball in die Oper fuhr, so wurde ihr
das alles übel gedeutet und durch unzählige Schmutzschriften ins ungeheuer¬
liche vergrößert und unter die Massen verbreitet. In Wirklichkeit war sie eine
schöne, gütige und verständige Fürstin, aber ohne jeden Sinn für das Sachliche
und ohne rechte Kenntnisse, später eine vortreffliche, pflichttreue Mutter, schlie߬
lich eine vergrämte, zuweilen rachsüchtige Frau, die dann doch in den furcht¬
barsten Zeiten ihres Lebens einen Heldenmut sondergleichen zeigte.
Die auswärtige Politik Ludwigs des Sechzehnten begann unter der Leitung
des Ministers Vergennes mit vielem Glück. Der Bund mit Österreich wurde
zwar aufrecht erhalten, aber die alte Rivalität wirkte fort, und Österreich durfte
sich jedenfalls Frankreich gegenüber nichts herausnehmen. Andrerseits kam
man in die Lage, England einmal gründlich zu schaden; man schloß 1778 mit
den amerikanischen Insurgenten ein öffentliches Bündnis, unterstützte sie durch
ein Hilfskorps, verschaffte ihnen 1733 zu Versailles die Unabhängigkeit von
England und gewann sogar in Indien, Afrika und Amerika einige Vorteile.
Die Schmach von 1763 schien völlig gelöscht, aber dem monarchischen Gedanken
kam es in der französischen Nation doch nicht zugute; die allgemeine Stimmung
erklärte sich gegen die Tyrannen überhaupt und schwärmte für die Republik,
und überdies: Frankreichs finanzielle Kräfte waren durch den Krieg erschöpft,
während England den Verlust der amerikanischen Kolonien gar nicht zu be¬
merken schien. Das erhöhte noch die Mißstimmung und ließ eine wahre Freude
an dem tatsächlichen Erfolge gegen England nicht aufkommen.
Diese Erfolge verdankte man natürlich vor allem den vorhandnen Macht¬
mitteln an Heer und Flotte. Für diese interessierte sich das Königspaar von
Anfang an; sie wurde sehr vergrößert, leistete ganz vortreffliches im Unab¬
hängigkeitskriege und betrug an dessen Ende 325 Kriegsschiffe aller Gattungen.
Hätte Napoleon der Erste fortgefahren, in der Weise Ludwigs des Sechzehnten
für die Flotte zu sorgen, so wäre England 1815 sicherlich nicht als Sieger
aus dem Wettkampfe mit Frankreich hervorgegangen. Die Reformen der Land¬
macht gingen von dem Minister Grafen Se. Germain (1765 bis 1777) aus;
sie sind vielfach angegriffen worden, haben aber doch manches gute durchgesetzt:
eine neue Armeeeinteilung, die Verbesserung der Waffen, namentlich der Artillerie,
die Besserstellung der Soldaten in Sold, Kleidung, Verpflegung und Kranken¬
pflege, die Gründung von zehn neuen Militärschulen, in denen eine bessere all¬
gemeine Bildung gegeben wurde, endlich die allmähliche Abschaffung der Käuflich¬
keit der Offiziersstellen. Freilich eine Hauptsache, die Verbesserung der Disziplin,
setzte er bei der allgemeinen Humanitätsduselei nicht durch. Auch nach 1777
ist in der Armee noch tüchtig gearbeitet worden.
Die innere Verwaltung stand zunächst (1774 bis 1776) unter Turgot, dem
großen Denker, der für die Enzyklopädie mehrere Artikel in radikalen Charakter
verfaßte, seine praktische Ausbildung im Parlament und als Intendant von Limoges
genoß und sich in beiden Stellungen einen überaus geachteten, wenn auch ge¬
furchtsten Namen machte. Er hatte ein Herz für das Volk, trat aber doch
entschieden für den Absolutismus der Monarchie ein. Den Haß des Pariser
Parlaments zog er sich als Minister 1774 dadurch zu, daß er zu einer im
reaktionären Sinne vorgenommnen Reform seine Zustimmung gab. Die Reform
war übrigens schwächlich genug und verhinderte keineswegs die bisherige Mit¬
regierung der hohen Behörde. Neben den weitern Reformen unternahm Turgot
den Kampf gegen das jährliche Defizit, das aber, wie es scheint, 1776 immer
noch 24 Millionen betrug, also durchaus nicht ganz beseitigt wurde. Aber es ist
geradezu erstaunlich, was Turgot in der kurzen Zeit seines Amtes von zwanzig
Monaten auf dem Gebiete des Handels, des Gewerbes, der Wissenschaften
geleistet hat, eine unzählige Menge von Einzelheiten, die sämtlich dem Volke
zugute kamen und zum großen Teil seinen Sturz überdauerten. Aus der Fülle
der Reformen sei nur die Befreiung des Getreidehandels erwähnt, die Ludwig
der Fünfzehnte nicht hatte durchsetzen können, wenn diese Maßregel auch noch
sehr hinter der Ludwigs des Vierzehnten zurückblieb. Trotzdem entstand völlig
unmotiviert im April 1775 der sogenannte Mehlkrieg, ein leidenschaftlicher
Volksausbruch gegen eine Teuerung, die noch heute als unaufgeklärt gelten
muß. Es kam zu den gröbsten Ausschreitungen, zur Beschlagnahme von Getreide¬
speichern, zur Stürmung von Bäckerladen in großen Teilen des Landes. Das
Pariser Parlament erinnerte den König daran, für billigere Brotpreise zu sorgen,
und erließ die Bekanntmachung, daß es die Rädelsführer des Aufstandes vor
sein Forum ziehn werde, wobei diese jedoch straflos ausgegangen wären. Da
zeigte sich nun die ganze Tatkraft Turgots im besten Lichte. Er ließ die Be¬
kanntmachung des Parlaments durch Musketiere überkleben und durch eine
Ordonnanz ersetzen, die einfach verbot, Brot unter dem Marktpreise zu ver¬
langen. Ein Ut as Msties ordnete überdies an, daß die wegen des Aufstandes
Verhafteten durch die höchsten Polizeiorgane abgeurteilt werden sollten? zwei
Rädelsführer wurden an den Galgen gebracht, und damit endete schon Mitte
Mai der ganze Aufruhr, aber das Parlament haßte den Minister nur um so
mehr. Dieser ging dann noch mit dem großartigen Plan um, die Verwaltung
im Sinne der Selbstverwaltung zu reformieren und dabei das „physiokratische
System" zugrunde zu legen. Eine Denkschrift hierüber war schon von seinem
Freunde und Mitarbeiter Dupont de Mmours abgefaßt: sie hielt an dem
Absolutismus des Königs fest, gipfelte aber in der Beseitigung des alten
Beamtenstaats, an dessen Stelle eben die Gemeinden, Kreise, Provinzen mit
ihren eignen Verwaltungsorganen treten sollten, sodaß als oberste Instanz nur
die Zentralbehörde übrig geblieben wäre, und verlangte die Abschaffung der
Steuerprivilegien, sodaß fortan jeder Eigentümer, welches Standes er auch sei,
die Taille zu zahlen gehabt hätte. Aber diese Reform, von der man gesagt
hat, sie wäre imstande gewesen, die Revolution zu verhüten, wurde vorderhand
nicht ausgeführt. Denn Turgot, der wegen seines maßlosen Stolzes und Hoch¬
muts nur wenig Freunde hatte und auch mit feinen Ministerkollegen in Konflikt
geriet, vergaß sich auch dem Könige gegenüber in einem Briefe, aus dem nur
folgende, alles Maß des Anstands übersteigende Stelle erwähnt sei: „Vergessen
Sie nie, Sire, daß es die Schwäche war, die das Haupt Karls des Ersten auf
den Block gebracht hat; es war die Schwäche, die Karl den Neunten (in der
Bartholomäusnacht) grausam machte... sie hatte alle Unglücksfülle der letzten
Regierung verschuldet. Man glaubt, Sie seien schwach, Sire, und es gab Ge¬
legenheiten, wo ich selbst fürchtete, Ihr Charakter habe diesen Fehler." Der
Brief datiert vom 30. April 1776; am 12. Mai wurde Turgot unter dem Ein¬
fluß der Königin entlassen. „Es war ein Ereignis von unübersehbarer Trag¬
weite! Denn mit Turgot verschwand der einzige Mann aus der Umgebung
des Königs, der ihn zur Unterwerfung der Parlamente und zur Nichtachtung
des wechselnden Geschreis der öffentlichen Meinung hätte veranlassen können."
Schon der folgende Finanzminister Clugny, der nach fünf Monaten starb, lenkte
kräftig wieder in die alten Bahnen ein, wonach die Parlamente und die öffent¬
liche Meinung für die Regierung allein maßgebend sein sollten.
Von seinem Nachfolger Jacques Necker erklärte aber die eigne Tochter,
Frau von Stael, geradezu: er „betrachtete die öffentliche Meinung als die
Magnetnadel, nach der er seine Maßnahmen einzurichten habe". Er ist es
deshalb gewesen, der nächst dem Könige den Zusammenbruch herbeigeführt hat.
In Genf als Sohn eines protestantischen Professors von deutscher Abkunft
geboren, ging er als armer Kaufmannslehrling nach Paris, erwarb hier in
kurzer Zeit, es ist ungewiß, ob immer auf redliche Weise, ein ungeheures Ver¬
mögen und wurde 1768 Gesandter seiner Vaterstadt in Paris. Er war von
einem brennenden Ehrgeiz beseelt, aber von einem solchen, der nur auf seine
eigne Person Rücksicht nimmt: raffinierte Schlauheit und Geschmeidigkeit, äußer¬
liche Sittsamkeit, dabei Unselbständigkeit des Denkens und Unentschlossenheit des
Handelns kennzeichnen ihn hauptsächlich. Um von sich reden zu machen, ging
er unter die Schriftsteller, und seine Veröffentlichungen errangen den höchsten
Beifall der Menge, der er sich ja immer und immer zu fügen wußte. Im
Juni 1777 wurde er Generaldirektor der Finanzen. Als solcher hat er es
meisterhaft verstanden, die Lage der Finanzen während seines Ministeriums zu
verschleiern; aber es ist ganz unzweifelhaft, daß das Defizit unter ihm zuge¬
nommen hat, und das kann nicht wundernehmen, da er es fertig brachte, den
kostspieligen amerikanischen Krieg ohne Erhöhung der Steuern nur durch An¬
leihen, noch dazu finanziell ungeschickt aufgenommne Anleihen, zu führen; die
wirkliche Finanzlage des Staates hat er eben in dem 1731 veröffentlichten,
durch und durch verlognen Lomxts rcmäu vollkommen verschleiert. Dagegen
sind seine Reformen vielfach unterschätzt worden, wenn er auch, um die Oppo¬
sition der Parlamente zu vermeiden, äußerst vorsichtig und ohne die Genialität
Turgots ans Werk ging. Er richtete zunächst versuchsweise in den Generalitäten
Berri und Heute-Guyenne neue Provinzialversammlungen ein mit dem Rechte,
die Taille, den Zwanzigster, die Kopfsteuer und die Fron, und zwar gerechter
als bisher zu verteilen und auf andern Gebieten wie Wegebau, Wohlfahrts¬
pflege, Armenpolizei dem Könige wenigstens beratend zur Seite zu stehn- Es
zeigte sich bald, daß diese Provinzialversammlungen immer mehr Freiheiten für
sich beanspruchten, aber es wurde doch auch manches gute durch sie angeregt
und namentlich unter manchem Opfer der privilegierten Vertreter durchgesetzt.
Immerhin gab es der Reibungen in den Versammlungen selbst und mit den
Intendanten, die sich in ihren Befugnissen beeinträchtigt sahen, genug, und so
wagte es der vorsichtige Necker nicht, die Einrichtung auf die andern Provinzen
des Reichs auszudehnen. Andre Reformen des Ministers wirkten ebenfalls
recht segensreich, so die Festlegung der Taille und des Zwanzigster auf eine
längere Reihe von Jahren, ferner die Vereinfachung der Erhebung der indirekten
Steuern, die fast alle den drei großen Gesellschaften (Mine- ZMörals, re^is
Asuörals und rögis ass äoivainss) übergeben wurden, sodann die Erleichterungen
im Fabrikbetriebe, endlich die fast völlige Beseitigung der Reste von persönlicher
Unfreiheit der Bauern. Schließlich tat Necker noch einen wichtigen Schritt auf
dem Gebiete der Verfassung, indem er unter Hinweis auf die englische Ver¬
fassung das Staatsbudget veröffentlichte; es geschah dies in dem schon erwähnten
Loinxts rsnäu in der Absicht, den Kredit des Staats durch offne Darlegung
der „günstigen" französischen Finanzen vor dem Auslande zu heben. In Wahr¬
heit suchte er aber seine eigne Tätigkeit dadurch ins hellste Licht zu setzen, und
das Ganze war, wie wir schon wissen, nichts als eine großartige Täuschung und
Fälschung. Weitere Reformen wurden von Necker noch in Aussicht gestellt,
und seine Beliebtheit war allgemein, auch bei den Parlamenten, die ja auch
nach Popularität haschten und dem Könige später auch erfolgreiche Vorstellungen,
zum Beispiel über den Gebrauch der Isttrss as oaonst und der Zivilrechts-
fühigkeit der Protestanten, machten. Um so größer war die allgemeine Be¬
stürzung und Trauer, als Necker am 20. Mai 1781 plötzlich gestürzt wurde;
die Königin trug nicht die geringste Schuld daran, wie man immer geglaubt
hat, sondern der Gründe gab es viele, vor allem die Unfähigkeit des Ministers
selbst, das Defizit zu beseitigen und die etwa 1600 Millionen Franken Kriegs¬
kosten aufzubringen, ferner seine Taktlosigkeit, sodann die Eifersucht des ersten
Ministers, des alten Maurepas, und endlich wohl auch die Eifersucht der
Parlamente auf die Erfolge Neckers bei der großen Masse.
Unter den beiden folgenden Finanzministern Joly de Fleury und Ormesson
wurden die Reformen nur langsam gefördert, die Budgetverhältnisfe aber dnrch
neue, schon recht ungünstige Anleihen und durch Erhöhung der direkten und
der indirekten Steuern recht und schlecht weiterhin über Wasser gehalten.
Am 3. November 1783 übernahm Calonne die Geschäfte. Er zeichnete
sich durch hervorragende Begabung, aber auch durch einen innerlichen und zur
Schau getragnen Leichtsinn aus. Er hatte einem Parlament angehört, genoß
aber infolge eines Prozesses bei den Gerichtshöfen kein großes Ansehen. Die
Höhe des jährlichen Defizits bei Übernahme seines Amtes betrug 80 Millionen
Franken, und da er im ganzen 653 Millionen aufnahm, so wuchs das Defizit
unter ihm mächtig an, zumal da er die Begriffe Sparsamkeit und Ärmlichkeit
nicht kannte. Am meisten ist ihm vorzuwerfen, daß er die Schulden der Brüder
des Königs und andrer vornehmer Herren leichten Herzens bezahlte. Übrigens
wurde der größte Teil der Summen durchaus praktisch verwandt, zum Beispiel
auf die Anlegung von Verkehrswegen, von Quais in den großen Städten, zu
hygienischen Verbesserungen, zu regelmäßigen Paketfahrten zwischen Frankreich
und seinen Kolonien. Ebensowenig ruhten die Reformen auf landwirtschaft¬
lichen und auf gewerblichen Gebiete. Alles das vollzog sich ohne große Auf¬
regung der Gemüter. Die eigentliche revolutionäre Stimmung in Frankreich
fing erst an, als Calonne an seine grundstürzende Reform herantrat und sich
zu diesem Zweck 1787 an die Notabelnversammlung wandte. Damit begann
die eigentliche Revolution.
Aber vorbereitet war diese offenkundige Revolutionsstimmung doch durch
den Halsbandprozeß, den Napoleon der Erste geradezu als einen der drei
Gründe der französischen Umwälzung bezeichnet hat. Es unterliegt keinem
Zweifel mehr, daß die Königin völlig schuldlos dastand, aber ebenso sicher ist
es, daß ihr Ansehen und damit das Ansehen der Monarchie aufs schwerste ge¬
schädigt wurde. Die Hauptrolle im Prozeß spielte die Frau Jeanne de la Motte;
sie entstammte einem Bastard Heinrichs des Zweiten, verlebte die ersten Jahre
ihres Daseins in äußerstem Elend, erhielt dann durch eine vornehme Dame eine
gute Erziehung und heiratete einen Offizier, verfiel aber in völlige Ehrlosigkeit
und Unsittlichkeit. Um zu Reichtum zu gelangen, wandte sie sich an den bei
Hofe in Ungnade lebenden Bischof Rohan - Guemene von Straßburg, den sie
öfter mit Erfolg angebettelt hatte, und wußte ihm allmählich den Glauben
beizubringen, die Königin wünsche hinter dem Rücken Ludwigs des Sechzehnten
ein kostbares Diamantenhalsband zu kaufen. In Wahrheit hatte Marie
Antoinette das Geschenk ihres Gemahls schon 1774 mit den Worten ab¬
gelehnt: „Ein Kriegsschiff tut uns mehr not als ein Schmuckstück." Die
Lamotte, die Ende 1784 von dem Halsband hörte, ließ aber Billetts der
Königin an Rohan fälschen, und nachdem auch der berühmteste Betrüger der
Zeit, Graf Cagliostro, günstige Vorzeichen geweissagt hatte, dem Kardinal eine
nächtliche Szene vortäuschen, die sich im Garten von Versailles am Boskett
der Venus abspielte; eine Dirne namens Nicole stellte dabei die Königin vor.
Rohan brachte nun das Halsband an sich und übergab es in Gegenwart der
Lamotte dem vermeintlichen Abgesandten der Königin, in Wirklichkeit dem Ge¬
liebten der Verbrecherin, die es durch diesen und ihren Gatten im Auslande
in einzelnen Stücken verkaufen ließ. Da aber Rohan den Juwelieren keine
Zahlung leistete, kam die ganze Angelegenheit aus Tageslicht. Die Königin
erhielt am 12. Juli 1785 ein Billett von ihnen, das sie nicht verstand, das
jedoch auf die richtige Spur führte; Rohan und die Betrüger wurden verhaftet
und vor dem Pariser Parlament nach langem Prozeß abgeurteilt: danach
empfingen die Schuldigen ihre gerechte Strafe, Rohan aber, der nur ein Opfer
der Lamotte geworden war, wurde im Mai 1786 freigesprochen. Der König
geriet über dieses Urteil in den äußersten Zorn und verbannte den Kardinal
in eine entlegne Abtei. Die schmählichsten Verleumdungen und die gemeinsten
Ausstreuungen über das Leben bei Hofe und besonders über das der Königin,
die sich hieran knüpften, riefen die erste deutlich sichtbare Gärung hervor.
Fassen wir das Ergebnis der gesamten Untersuchungen zusammen, so
müssen wir sagen: der Umsturz in Frankreich erfolgte, nicht weil der Abso¬
lutismus ausgeartet, sondern weil er zu schwach geworden, weil er in sich
selbst zerfallen war, und zweitens: der alte Staat zeigte nicht Fäulnis und
Kraftlosigkeit, sondern eine Fülle von neuen Kräften und Gedanken, die aber
nicht bis zum Ende in Ruhe weiter entwickelt werden konnten; denn die
wirtschaftlich gerade erstarkten Schichten der Bevölkerung suchten noch die letzten
Reste von Ungleichheit zu beseitigen und die Regierung an sich zu bringen.
Das ist der Sinn der Revolution: „ein Kampf um die Macht, der um seiner
selbst willen unternommen wird".
W^W^D^! ührend die Glutstrahlen der Gerichtsferiensonne auf freie und un-
I freie Juristen herniederbrennen, und während jene von ihnen auf
Bergeshöhen wie auf den feuchten Pfaden der Salzflut, diese bei
der redlichen Beschäftigung mit gesetzlich gebotnen, zugelassenen
l und nicht zugelassenen Feriensachen ereilt werden, feiere ich diese
sommerliche Mußezeit am plätschernden Wasser unter sonnig schimmerndem Grün
inmitten einer leuchtenden Blütenpracht, die farbige Falter umgaukeln.
In diesem Idyll spielt mir der Zufall einen ehrwürdigen starken Schweins-
lederquartband in die Hände. „Gedruckt zu Innspruck durch Jakob Christoph
Wagner und verlegt Anno 1710 vom Buchhändler Johann Conrad Wohler in
Ulm", stellt sich das Werk beim behaglichen Durchblättern als ein etwa vor
zweihundert Jahren bearbeitetes Handbuch des formellen und des materiellen
Strafrechts dar, ein Buch aus Urväterzeit, dessen Eigentümlichkeit in unsrer mit
juristischen Kommentaren überfluteten Zeit gar seltsam anmutet. Wir haben
den „OoMniöutAiillL in Kayser Carl des Fünfsten und des Heil. Rom. Reichs
Peinliche Hals-Gerichts-Ordnung des Ober-Östreichischen Regiments-Rats der
Rom. Kaiserlichen Majestät Herrn Joh. Chr. ?roh.1i<zu alö ^röllliollsvurZ" vor
uns. In der Weise seiner Zeit erläutert der Verfasser auf dem schwarz und
rot gedruckten Titelblatte sein Werk weiter als „kurtze doch gründliche Unter¬
weisung, wie Ein dem Richterlichen Amt obliegender Nachforschung^- oder
Inquisitions-Prozeß nach Gelegenheit und Herkommen der Kayserlichen, Chur-
Fürstlichen wie auch andern, sonderlich der Ober- und Unter-Östreichischen
Fürstenthum und Landen, auch nach Jrrsale der tyrolischen Statuten, Nieder-
Östreichischen Landes-Ordnung, dann gemeinen geschriebenen Rechten von An¬
fang biß zum Ende mit Rechtlicher Ordnung zu krotovoll zu bringen und zu
vollführen sehe". Er hebt ferner hervor, daß er „beygesetzt habe die Erklärung
des Bann- und Andes- auch Anklags-Prozesses »zustimmt der Ubelthaten Natur
und Wesenheit, dero Abstraffung, mildernde und beschwärende Umstände, Jnnzücht
und Fragstück« mit vollkommenem Register der Titel und ihres Inhaltes".
Das Ganze des Strafrechts soll, wie er bemerkt, „Allen und Jeden, mit
Erörterung der Criminal-Sachen beladenen Obrigkeiten zu Erleuchterung dero
Mühe und rechtmäßiger förderlicher Verfahrung, denen armen Gefangenen aber
zu Schutz und Schirmung gantz nützlich und gedeulich" sein.
Wie ist der Verfasser dazu gekommen, dieses von großem Fleiße zeugende
Buch zu schreiben, worin 343 Seiten dem Strafprozeß und 402 Seiten dem
materiellen Strafrecht gewidmet sind?
Auch darüber erhalten wir zuverlässige Auskunft durch die an den geneigten
Leser gerichtete Vorrede. „Eine wunderwürdige Wesenheit besitzt die Tugend
des Gehorsambs, irdene daß dem Gehorsam Laistenden nicht gezimmet, auf die
Wag-Schaalen seines vorwitzigen Verstands zu legen die Beweg-Ursachen deß
Oberen und Besuchenden, noch minder auszuegglen oder zu fragen sich gebühre,
worumben mir, warum nicht diesem?" Des weitern hören wir vom Verfasser,
daß es dem „hoch- und wohlgeborenen Herrn, Herrn Adrian von Deyring zu
Pitzenhofen und Mittel-Wayrburg, Freyherr» zu Heylsperg, Tyrolischen Land-
Mann der Rom. Kahserl. Majestät Rath und Ober-Östreichischen Regiments-
Vice-Cantzlern u. s. w." beliebt habe, seiner „Wenigkeit anzubefelchen", die von
ihm „zu Behufs eines Privat-Bedientens verteutschten ^ormulas des Italiänischen
Kriminalisten ^mdrosini SörloZ-ÄllieiiÄs in offenen Truck zu befördern".
Der Verfasser ist zwar „anfangs ob diesem gnädigen Befehle erstaunt"
gewesen, allein „der Gehorsamb Ware blind," er „untersuchte nit die Undichtig¬
keit, sondern gäbe mit Freuden das gehorscnnbe Ja-Wort von sich". Er hat sich
„auf das Äußerste bemüht, einen Weg zu bahnen", „wie doch eine ungestudirte,
oder in dem unermeßlichen Meer der Rechtlichen Wissenschaft nur in etwas
genetzte Gerichts-Obrigkeit ohne sondere Beschwerde den mit vielfältigen Sorgen,
Bemühe- und Angelegenheiten überhäufften und seiner Art nach sehr haigglen
(heikeln), auch dessentwegen verhaßten, ja unerkannten Inquisitions-Prozeß zur
Vermehrung der Ehre Gottes, Abstrafung des Übels, Rott- und Beschirmung
des Unschuldigen, Vermeidung der Nullitäten, Abkürzung der Ätzungskosten u. s. w.
löblich vollenden" könne. Es liegt dem Verfasser fern, sich mit fremden Federn
Zu schmücken. „Das unermühte Immen-Völckel pflegt auch das süsse aus
frembden Blumen mit unschuldigem Raube in ordentliche Behaltnussen zu ent¬
sagen, dero nutzbare Bemühung jedoch Lobens würdig." Also habe auch er
»den wahren Saft zusammen gezogen, der verhoffentlich die Obrigkeitliche Arbeit
versüssen" werde, bei strittigen Meinungen „die sicherste mit einem Sternlein
versehen, die Doctores sparsam kandirt, damit den Teutschen Praktikanten kein
Eggl oder Abscheuhen vor vielen lateinischen Wörtern angeworfen werde". „Ein
hocherlehreneter Jurist und Praktikus" solle „in Durchlesung dieser Unter¬
weisung ihre kostbare Zeit nicht verspätten:", da sie für ihn nicht geschrieben
sei. er möge das denen überlassen, „die sich hieran erlustigen und erfreuen
könnten". Der Ungelehrte solle sich aber nicht einbilden, hierdurch „eine voll¬
kommene Wissenschaft in Criminal - Sachen zu erlangen". Dazu gehöre eine
"langjährige Trillung".
Wenn wir nun, wie der Verfasser seine geneigten Leser bittet, „mit heiterm
Angesicht" den Traktat, der vom Verfahren und den Strafen handelt, wie den
„änderten" von den „Ubelthaten" durchblättern, so kann es sich bei dieser
Plauderei nicht darum handeln, den ganzen Stoff in systematischer Vollständig¬
keit auszugsweise wiederzugeben. Nur das eine und das andre, was dem
heutigen Juristen kulturhistorisch bemerkenswert erscheint und ohne Verletzung des
Empfindens zahlreicher Leser an dieser Stelle wiedergegeben werden kann, mag
hier hervorgehoben werden.
Schon in der alten Zeit henkten die Nürnberger keinen, sie hatten ihn
denn, und schon damals war es, wie Fröhlich erklärt, „die erste Sorg der
Delinquenten nach verübter Missetat, wie selbe dem Gericht entgehen", und
„ihr bester Rat" bestand in der Flucht. Mit Rücksicht hierauf kannte man
neben dem auf die regelmäßige Verhandlung und die Aburteilung eines An¬
wesenden gerichteten Jnquisitionsprozeß den „Bann- und Achtsprozeß" gegen
den sich ein Jahr lang nach begangner Tat in unbekannter Abwesenheit auf¬
haltenden. Durch dieses Verhalten wurde in Verbindung mit den den Be¬
schuldigten betastenden Umständen eine rechtliche Vermutung seiner Schuld be¬
gründet. Das Urteil lautet auf Erklärung in Acht und Bann mit dem Zu¬
sätze, daß auf Betreten des Verurteilten geschehen solle, was Rechtens sei. Als
Wirkung dieses Urteils wird u. a, angegeben, daß dem Verurteilten, auch wenn
er in einem nachfolgenden Jnquisitionsprozesse freigesprochen werden sollte, die
Kosten des Bann- und Achtsprozesses zur Last bleiben. Dagegen wird aus¬
drücklich abgelehnt, daß der Verurteilte vogelfrei, sein Weib zur Witib, die
Kinder zu Waisen gemacht werden, die Tötung des Geächteten straffrei sei,
wenn dies auch in den Füllen zweifelhaft werde, wo nicht in Landes-, sondern
in des heiligen römischen Reichs Acht erklärt worden sei. Wohl zu unter¬
scheiden sei auch der Fall, daß durch ein auf freie und offne Verfolgung an
Leib und Hab lautendes Edikt gewisse Personen vogelfrei gemacht würden, wie
„jüngstlich die Zügeiner als offene Land-Dieb präskribiret" worden seien. Wohl
aber ist jeder verpflichtet, den Geächteten so schleunig wie möglich an das
Gericht auszuliefern, sein schon zur Zeit der Flucht, des Beginns des Ver¬
fahrens beschlagnahmtes Vermögen wird öffentlich liquidiert, und in dem sich
etwa späterhin anschließenden Jnquisitionsprozesse kann die Tatsache der Acht-
und Bannerklürung nach Urteil und Recht die zur Verhängung der Tortur
unzulänglichen Indizien ergänzen helfen.
Übrigens wird, wie heute im Privatklageverfahren, neben dem von Amts
wegen betriebnen Jnquisitionsprozeß noch, und zwar auch dem Gegenstande
nach weit allgemeiner als heute, die Popularklage im Akkusationsprozeß zu¬
gelassen und von Fröhlich der Vollständigkeit wegen mit behandelt. Es er¬
scheint aber schon als ein vielen „Beschwärnussen" uuterworfnes, mehr und
mehr hinter das Offizialverfahren zurücktretendes Verfahren. „Der ist kein ge¬
scheiter Advokatus, der seinem Klienten einen Anklags-Prozeß anzustellen ein-
ratet. Dieser Prozeß ist sehr hart zu verlangten Ende zu bringen, weil in
ihm ganz klare heitere Beweisthumb" unter Ausschließung eines vom Richter
aufzuerlegenden Eides gefordert werden, „redliche wäieig. durch Ertragung der
Tortur hinfällig gemacht werden können", und der Ankläger, auch wenn er die
Verurteilung des Angeklagten erreicht, meist vom Angeklagten die Kosten nicht
erstattet bekommt. Unterliegt aber der Ankläger, so läuft er außer der Tragung
der „völligen Unkosten" noch Gefahr, in eine „peynliche Straff verfällt zu
werden". Unter denen, deren Anklagebefugnis beschränkt ist, sind die Personen,
die die Tonsur haben, insofern ihr Antrag nicht auf „Bluts-Strafe" gerichtet
werden darf, gewisse andre Personen können nur in „aigenerSach" oder wegen
„abscheulichster Missethaten" anklagen, dahin gehört der „Kapital-Feind" des
Anzuklagenden, der Leibeigne gegen den Herrn, der Lehrjunge gegen den Lehr¬
herrn, der Sohn gegen den Vater und dergleichen mehr. Ungläubige Ketzer
und Exkommunizierte können überhaupt nicht als Ankläger auftreten. Der
Popularklcige unterliegen nicht Abgesandte, hohe obrigkeitliche Personen, Statt¬
halter und dergleichen wegen der Missetaten, die sie vor Erlangung oder nach
Aufgabe ihrer hohen Amtswürde verübt haben, wogegen sie wegen der in Amt
und Würden verübten Frevel von jedem Anklagefähigen belangt werden können.
Wird der Angeklagte freigesprochen, so steht ihm die g,otia> injnriarum im Zivil¬
prozeß gegen den Ankläger binnen eines annus ullus offen. Die Obrigkeit
kann daneben aus diesem Verlauf des Anklageprozesses noch Veranlassung zur
Bestrafung des Anklägers im Offizicilverfahren nehmen und dabei unter Um¬
ständen zur Verhängung der Todesstrafe gelangen.
Dieses Verfahren, der Jnquisitionsprozeß, ist schon zu der angegebnen Zeit
das vorzugsweise praktische in Strafsachen, es ist „aus dem öxtiraoräinMiura.
zum 01-äiiig.iiuw reMöäwm" geworden, „ja, es wurde einer für aider und
thorächt gehalten, der aus Antrib zornmütiger Nach - Begierd gleich einen An-
klags-Prozeß anstellete und sich so vilfältigen Sorgen und Ungelegenheiten frey-
willig auffopfferte". Das Verfahren muß wegen aller strafrechtlich verfolgbaren
Handlungen eingeleitet werden; der hierin säumige Richter hat „neben der zeit¬
lichen Straff dem Richter aller Richter scharpffe Rechenschafft abzulegen". Die
richterliche Inquisition muß „nach Ordnung Rechtens und nit zu süreylend, me
mit Überhupffung der LllvstMtial-RöcimsitM geschehen, angemerkt in Sachen,
allwo nit von dem Schatten des Esels, wie die vriirMaliswn zu sagen pflegen,
sondern dem Menschlichen Leben, Ehr, Gut und Blut gehandelt wird, aller ver¬
nünftiger Auffzug, mehrers zu loben als zu tadeln ist". Zuständig ist ja nach
der Art der Missetaten ausschließlich die geistliche oder die weltliche Gerichts¬
barkeit verschiedner Ordnung, bei gewissen Delikten schließt die eine die andre
Zuständigkeit nicht aus. Das „Laster der Gotteslästrey ist zwar in diesem
Sinne mixti tori". Eine „LWMörm (auch die Polygamie), die nach Ketzerey
heimelt und ohne ketzerischen Gemüth nit hat können vorgebracht werden, gehört
aber dem Geistlichen loro" allein zu, eine Gotteslästerung, „so kein Christ,
sondern ein Jud begehet", ist allein dem weltlichen Gericht vorbehalten. Der
geistliche Richter hat aber nicht Macht, auf „wahre Leib- und Lebens - Straff"
zu erkennen, und überläßt gewohnheitsmüßig, die Abstrafung des weltlichen
Delinquenten der weltlichen Obrigkeit.
„Ohne vorlauffende Rechtliche und genugsam erhebliche Ursachen kau kein
Inquisition angefangen werden." Von solchen genügsamen „Bewögungen" wird
an erster Stelle aufgeführt, „daß man wisse, ob ein Ubelthat in der Wahr¬
heit beschehen sehe, so man das Oorxu8 vslioti zu nennen pflegt". Bei De¬
likten, die ein sichtbares oorxus hinterlassen, ist „vorderist Vonnöthen, daß man
das Visum und üsxsrwm ordentlich einnehme" und zu Protokoll bringe. Bei
den Delikten, die keine sichtbaren Merkzeichen hinterlassen, „müssen als d v.
einer vorgeloffenen Ubelthat Muthmaßungen, Inzuchten und redliche Anzeigungen"
genügen, „Krafft deren ein verständiger ehrlicher Mann einen vernünftigen
Schluß machen kann, es müsse in Sachen nit recht hergehen". Das „dem ge¬
meinen Pöbel so wunderlich fallende Baar-Recht" ist von den Rechtsgelehrten
für eine „verborgene und dem menschlichen Verstände zu schwär fallende Be¬
Weisung gehalten worden". Gemeine ist die Beobachtung, daß der Getötete
in Gegenwart des vermeintlichen Täters zu bluten anfängt. Es soll deshalb
auf diese Tatsache allein hin „Niemand torouisrt und verurtlet" werden. Der
Verfasser verhehlt hierbei nicht, daß ein Körper auch in Gegenwart des guten
Freundes „auß haimblicher Zuneigungs - Art und L^inxÄtnig." zu bluten an¬
fangen könne. Er erzählt, das selbst bei der Besichtigung eines erschlagnen
Freundes im Jahre 1678 erlebt zu haben. Als bei seiner Annäherung „das
schönste frischeste Geblüet aus der Nasen geflossen", habe gleich ein altes Weib
„zum nahstehenden Volat vermeldet: Hollah, der Täter muß unter uns seyn".
Es sei also trotz vieler wunderbarer Erfahrungen besser, sich dieses v. nicht
zu bedienen. Ferner genügen zur Einleitung des Verfahrens: „Gemeines Ge¬
schrey beschehener Ubelthat", „Besagung eines Mitgefangenen (einer gefangnen
Hexe wird aber nicht geglaubt, wenn sie andre Personen für Zauberer und
Hexen angibt), außergerichtliches Geständnis oder Berühmung, plötzliche Flucht
nach der Tat und andres mehr". Denunziationen privater Dritter sollen ohne
Beeidigung in der Regel als unzulänglich gelten.
Unzulässig ist die Strafverfolgung, solange der Verdächtige die Freiheit
ber Gotteshäuser genießt, die sich übrigens auch auf die „aus der Keychen
(Gefängnis) ausgebrochenen", ja auch auf die „würklich verurteilten Ualsnö-
Personen" erstreckt, auf Türken, Juden, Heiden jedoch nur, wenn sie ernstlich
erklärt haben, den christlichen Glauben anzunehmen. Und wer wider die Kirchen
sündigt, ist nicht würdig, von der Kirchen angenommen zu werden. „Die Geist¬
liche Freyheit aber ist eine Herrliche Krafft." Einem sich in der Kirche auf¬
haltenden Delinquenten ist erlaubt, „der Natur außer dem Gotteshauß zu
Pflegen, jedoch daß er alsobald danach sich wiederumb in die Kirchen verfüge".
Der mit Gewalt, sogar auf geistliche Anordnung aus der Kirche herausgezogne
Verfolgte muß wieder an die Kirche zurückgegeben werden. Diese Freiheit er¬
streckt sich räumlich, je nach dem Range der Kirche, auch noch auf ein größeres
oder geringeres spatium um die Kirche herum. Der mittellose Delinquent ist
auf Kosten der Kirche gegen Erstattungsversprechen zu verpflegen und kann zur
Deckung der Kosten auch zur Hausarbeit angehalten werden. Die Berührung
der Ehrensäulen der römischen Kaiser und der Landesfürsten soll zwar nach
kaiserlichen Rechten dem verfolgten Delinquenten denselben Schutz gewähren.
„Aber es ist nit vit darauff zu verlassen, theils weilen dise Freyheit durch
Weltliche Gewalt gegeben, leichtlich durch Weltliche Gewalt wider genommen
werden mag, theils, weilen es ein unpracticierliche und ungewöhnliche Frey¬
heit ist."
Bei der Behandlung der Gerichtspersonen bemerkt der Verfasser: „Selig
der Richter, der mit einem verständigen und vertrauten Gerichtsschreiber ver¬
sehen ist, als an wessen Person nach dem Richter am mehristen gelegen."
„sovil aber die Gerichts-Diener betrifft" — „seynd zu solcher Bedienung gute
gewissenhafste, mutsame, leutseelige und auch rechtliche, fromme Persohnen" zu
verpflichten. Sie tragen von Stunde der Gefangensetzung die Verantwortung
und Gefahr des Gerichts wegen der Person des Gefangenen. Keychenwärter,
die einem gefangenen „Weibsbild, ob es gleich ein beschryene gemaine Vellt
wäre, auch mit dero Willen flaischlichen beyhalten," haben die Strafe des
Schwertes verdient, denn es „gezihmet sich nit, das Orth der Gerechtigkeit zu
bemalten".
Die Beysassen, die das Urteil zu fällen haben, ohne daß dem Richter eine
Änderungsbefugnis zusteht, sollen, wenn sie „ein mwrössiertes oder auß Leiden¬
schafft hervor gebrochenes Urtheil schopffen und ihre aydliche Pflicht übertretten
wurden, neben zu erwarten habender Göttlichen Nach nach Beschaffenheit der
Umbständen mit Geldt, Keychen, ja Laib- und Lebens-Straff belegt werden"
können.
Die Gefangnen sollen „in leydentlichen Gefänknusfen" verpflegt werden,
ja, wenn sie erkranken, „der Keychen erlassen, jedoch mittelst Oautiov., oder
sonsten verwahret werden. Dann die ungesunde, unterirdische, finstere Gefänk¬
nusfen, welche mehr zum Schröcken, rormkntier- und AbPeinigung, ja noth¬
wendiger Abkürtzung deß Lebens, wegen ungesunder Lufft und Demmigkeit als
zu bloßer Verwahrung geraichen, sollen niemalens gebraucht werden, es wäre
dann ein völwauMt mittelst Urtels zu wohlverdienter Straff darhin verfällt
worden."
Das vonstiwwm (verantwortliche Vernehmung des Beschuldigten) wird
unter Beteiligung von Beysassen von Richter und Gerichtsschreiber zu Protokoll
gebracht. Zwar soll auf Erlangung eines Geständnisses hingearbeitet werden,
aber nicht ein solches „durch vor Augenlegung der Tortur" erpreßt werden,
geschweige denn protokolliert werden, daß der OonMwt em so erlangtes Ge¬
ständnis „in Güte" abgelegt habe. Der in Welschland allgemeine 8tM8. dem
Delinquenten das -luramenwm vöiitatis äiosnclaö abzunehmen, wird wegen der
Meineidbesorgnis für bedenklich erachtet. Deshalb wird im Lande Tirol dieser
Eid nicht, soviel die eigne Person des Beschuldigten anlangt, sondern nur
Mvaä a1lo8 abgenommen.
„Verharrt der Inquisit in seiner Halsstarrigkeit", so erläßt das Gericht
den „Beybescheyd", daß „weilen von dem Inquisiten kein rechte Antwort über
vielfältiges Anvermahnen zu erhalten gewesen, da doch aus dem Prozeß er¬
scheinet, daß ihme ein mehreres wissend seyn müsse: Selbiger zu obigem Ende
an das Orth der peynlichcn Frag geführt, alldorten entklaytet, gebunden und
auf die Folter oder peynliche Frag (so und so lange) gelegt werden solle".
Wie lange ein Inquisit „in der Höhe der Tortur" belassen werden solle, ist
nach Umständen der Person und der Sache, der Jnzichten usw. abzumessen.
Als ein möäiuiu snbsiäiaiww, ist die Tortur erst vorzunehmen, wenn keine
Hoffnung mehr vorhanden ist, daß der Inquisit auf die wiederholte kunstvolle
Formierung der Fragstücke eine „eigentliche Antwort" in Güte gebe.
Auch Zeugen sind unter Umständen zur Aussage durch Tortur anzuhalten.
Desgleichen Nachbarn, „weil die Mutmaßung ist, daß ein Nachbar wissen müsse,
wer die in der Nachbarschafft beschehene Übelthat begangen, und keine ander¬
weitige Entschuldigungen oder Ursachen fürzubringen wären, daß der Nachbar
die That nit wissen könne". Desgleichen Hausgenossen, Hausherren, Ehegatten,
„irdene gemuthmasset wird, daß der Thäter ihnen wissend sein müßte".
„Sonderlich da ein Leichnam in eines Hauß erfunden und dieses dannoch der
Obrigkeit nit geschwind angezeigt wird, dann dieses Stillschweigen ist vor sich
selbsten zu der Zeugen Tortur genug." Die Aussage „untüchtiger Zeugen",
d. h. Übelbeleumundeter, Ehrloser, verdient ohne vorgängige Tortur keinen
vollen Glauben, sie soll „in Abgang anderer Beweisthümber mit der Tortur
gerainiget werden". Die Zeugentortur soll nicht bloß zum Schein vorgenommen
werden, sondern so ernstlich, daß man die volle Überzeugung von der Wahrheit
der daraufhin abgegebnen Aussage gewinnen kann. „Denn was soll ein so
klaine Zeit, eines Vater unser lang, für eine Wahrheit abdrucken?"
Nach Abschluß der Ermittlungen, jedoch vor Ausführung der Tortur des
leugnenden Angeschuldigten soll ihm Gelegenheit gewährt werden, durch einen
Verteidiger die zur Tortur ausreichenden Belastungen zu erschüttern. Auch soll
in schweren Fällen und bei zweifelhafter Sachlage vor der Tortur ein gelehrtes
Rechtsgutachten auf Grund der gesamten Akten eingeholt werden.
Die Unentbehrlichkeit der Tortur wird damit begründet, daß ohne sie die
Welt mit „unzählbaren Bösewicht und Delinquenten angefüllt werden würde".
Zum Tode darf niemand verurteilt werden, „er sehe dann entweders durch zwey
unverleimbte Zeugen überwiesen oder selbs die Sach bekanntlich". Als Grade
werden angeführt: die bloße Bedrohung außerhalb des Marterortes, die Führung
des Gefangnen an den Marterort, die Entkleidung und die Bindung des Delin¬
quenten, die „Erhöhung des Delinquenten, sodaß man ihn eine Weile hängen
lasse", die „Hag,88g,riou", d. h. das Schütteln des Strickes, an dem der Delinquent
hängt, wodurch sein Leib „bewögt und mit Schmertzen äußerst angefüllt" wird,
dazu als letzter Grad die Anhängung eines Gewichts an die Fuße des Delin¬
quenten, „wodurch der Leib nach ?roxortion der Größe und Schwäre des
Gewichts mercklich außgespannt, die Nersen angezogen und abgeblagt" werden.
Keinem Delinquenten soll eine so „scharpffe" Tortur zuerkannt werden, „wordurch
dessen Leib und Glieder gekrümbt, erlahmt und zur Arbeit untüchtig gemacht
werden, dann dieses haißt mehrers geschunden, als Rechtlicher Ordnung nach
torquirt". „Dannachero soll man sich jederzeit der gewöhnlichen Torturen be¬
dienen, als da seynd im Land Tyrol der Daumenstock, die kluege Schnuer,
wordurch die Händ nützt gleichsam aufs das Bain zusammen gebunden werden,
welcher Schmertzen nach Aussag der Gerichtsdiener einer unter den größten seyn
solle, also daß wer diesen erleiden mag, leichtlich die Erhöhung auch erdulden
könne. Drittens die Tortur mit dem San, da der Delinquent mit dem hinter¬
rücks gebundenen Händen, jeweilen auch zuhandt den Füssen, in die Höhe ge¬
zogen wird, und im Nothfall das San erschüttlet, oder Gewicht angehängt
werden. Das Tormentum mit dem Feuer, Durchsuchung der Nägel und was
noch mehr tyrannisch, hat dieser Landen keinen Platz, weilen dardurch der
menschliche Leib mehr verletzt als gepeiniget wird. Ingleichen das Tormentum
ViAilias, da dem Inquisiten kein schlaff zugelassen wird, nützt er bekennt, oder
wenigist auff zween oder drey Tag: wordurch ebenfalls dem menschlichen Leib
ein Todesgefährliche Peyn zugefügt wird. Die Marter der Ruthen soll sonderlich
bei dem Hexen-Geschmaiß glücklich gebraucht werden."
Der Herren- item Ritter- und Adel-Stand, vootorss und Licentiaten sollen
grundsätzlich mit der Tortur verschont bleiben, weil diese ein „ehrloses Weesen"
ist. Damit die zuerkannte Zeitdauer der Tortur eingehalten wird, soll man sich
bei ihrer Vornahme einer Sanduhr bedienen, die aber so aufgestellt werden muß,
daß der Delinquent sie nicht sehen kann.
Große Schwierigkeiten erwachsen der Ausführung der Tortur, durch die
doch nur die Wahrheit herausgebracht, aber keine Leibes-„Lähmigkeit" bewirkt
werden soll, dadurch, daß sich viele Delinquenten während der Marter zu ver¬
stellen verstehn, als ob sie ohnmächtig wären und dem Tode nahe seien, damit
die Folter vorzeitig beendet werde. Um dieser Täuschung zu begegnen, soll
man nötigenfalls Ärzte zuziehn. Oft sind Hexenkünste und teuflischer Zauber
W Spiel.
„Da ist dem Tausendkünstler nit zu vit, daß er durch gewisse, auch natür¬
liche Mittel, den Leib unempfindlich machen, die Salter unvermerklich nachlassen,
ichtvas verborgenes entzwischen stellen, und die Red verhalten möge." Ja er
kann „den vonstiwteii dergestalten entfärben auffbaumen und verstellen, daß
man vermaint, der vonLtitut sterbe Angesichts hiervon". Merkt der Richter,
.daß die Sach nit recht hergehe, indem der eonstiwt, die Marter gleichsam
verlachet, oder zu schlaffen anfanget, oder übernatürlich sich auffbcmmet, etwelche
Wörter haimblich brumblet", soll man sich nachfolgender Mittel bedienen: „Vor-
nemblich solle man durch Geistliche Personen die Hexen und dergleichen Lenes
ernähren lassen, daß sie einsmals die Teufflische Pact von sich legen und ihr
Seel Seeligkeit befördern sollen, wann aber keine Geistliche Zusprechung erklecken
will, pflegt man die verdächtige Persohnen als die Hexen durch andere Weibs-
Persohnen, die Männer aber durch die Gerichtsdiener, aller und jeder Klaydungen
gantz Mutternackend auszuziehen, sodann mit neuer Begwändung (Gewandung)
an das Ort der Tortur zu führen, nur damit alle Teufflische, den Klayderen
und Unterhempt anhängende Ltiarg-Ltörsn und eingedruckte Spruch mit denen
alten Klaydern hintan genommen werden, wann aber dieses auch nicht erklecklich,
solle man alle Haar an ganzem Leib, auch in den haimblichen Orten gefunden"
entfernen, „nach deren Hinwecknehmung der lüonstiwt cilsobald zu bekennen an¬
gefangen". Andre raten, „daß man die etwa cmgewendte Salm und Ilnotion
mit warmen Wasser an den Leib deß Inquisiten abwaschen lasse. Ja, man
sollte wohl acht geben, daß man dem Lonstiwtkn von Brod, Kiechl und der¬
gleichen am Tage der Tortur zu Essen nit zukommen lasse, dann auff dergleichen
Speisen seynd manichsmal verschiedene Sachen eigewickleter gefunden worden."
„Bei denen Katholischen wird die Krafft deß Weihwassers, darin ein und andere
Tropffen von geweihten Wachskerzen gelassen worden, Item Geistliche Mittel
hochgelobt und nützlich gebraucht, es mögen hiergegen die Akatholischen schreiben,
was sie wollen." „Irdene aber ist selbigen billich beizufallen, daß man zu
Aufflesung dergleichen Stillschweigen keine Teufflische Gegenmittel und Aber¬
glauben brauchen solle, oder man solle auch denen Henckers-Knechten nit zu¬
lassen, daß sie zu diesem Ende etliche Suppen dem Lonstiwto außzutrinken
zurichten mögen. Item seind etliche, die gewisse Wort wehrender Tortur herunter-
brumlen, dise soll man irr machen, stets anfragen, und nit zulassen, daß sie die
Wort völlig herab murmblen mögen."
Das Geständnis, das zur Erleichterung des Gewissens dem Beichtvater
gegenüber abgelegt und von diesem nicht geheim gehalten worden ist, soll dem
Inquisiten unschädlich sein, weil es Gott und nicht den Menschen gemacht
worden sei.
An Strafen werden unterschieden: Lebens-, Leibes- und „willkürliche
öxäraoiäwMi-Straffen", unter den Lebensstrafen die des Schwertes (zu er¬
kennen: „daß N. N. mit dem Schwert vom Leben zum Tode gestraft werden
soll"), die des Henckens, die des Radbrechens oder Räderns „so in schwuren
Lastern zur Vermehrung der Schmertzen dienet, da rendues der Delinquent
mit vielen oder wenig Stössen von oben oder unten hinauf mit einem Rade
zerquätscht und förder öffentlich darauf gelegt wird" (zu erkennen, daß der
Delinquent „mit dem Rade durch Zerstossung seiner Glieder von unten
hinauff — oder von oben herab — vom Leben zum Tode gerichtet und förders
öffentlich darauf gelegt werden soll"). Das Radbrechen von unten hinauf ist
das schwerste, das von oben herab das untere. Als vierte Todesstrafe wird
die Erkrankung aufgeführt, die in der Weise vollstreckt werden soll, daß der
Verurteilte „sambt einem Hunde, Schlangen und einer Katzen (statt eines Affen)
in einen Sack gesteckt, in's Wasser geworfen und ertränkt wird. Auf die Strafe
des Feuers ist zu erkennen mit den Worten, daß N. N. mit Braut gerichtet
und zu Pulver verbrämte werden" soll. Ist ein fließendes Wasser in der Nähe,
so wird hinzugesetzt: „und die Aschen in den N. Fluß gestreuet werden". Dies
geschieht, „damit sogar die Aschen eines so ruchlosen Menschen auff Erden nit
mehr gelitten werde: Item, damit ein und andere Teufflische Hexenbannerey
unterbleiben". „Da bei Verbrennung eines Delinquenten ein Verzweifflung zu
besorgen, Pflegt man ihm ein Säckel Pulver auff das Herz zu binden. Oder
da ein mildernder Umbstand vorhanden, kan der Delinquent anvor enthaubtet
und nachgehends verbrent werden." Auch die Strafe des Henckens kann mit
der des Feuers in der Ausführung der Vollstreckung verbunden werden. Die
sechste und schwerste Art der Todesstrafe ist die Vierteilung, „da der arme
Sünder wegen Schwäre des Verbrechens lebendig in vier Thalk geschnitten und
außgehauen wird" (zu erkennen: „der N. solle auff die Richtstatt geführet,
alldorten durch seinen gantzen Leib in vier Thalk geschnitten und gehauen und
also zum Todt gestrafft, folgends jedes Thalk in einem absonderlichen Galgen
an den vier sandt Strassen zur Abschäuh auffgehenckt und der Kopfs auffge-
steckt werden"); „da die That gar zu erschrecklich, sonderlich bei Auffschneidung
schwangerer Weiber Mords mag das Urtel geschärpfft werden: der N. soll
auf die Richtstatt geführt, ihme alldorten anfangs wegen der begangenen un-
barmhertzigen That sein lebendiges Hertz herauß genommen, umb das Maul
geschlagen, sodann der Leib in vier Thalk geschnitten und die vier Viertel in
vier Strassen, absonderlich aber das Haube, Hertz und rechte Hand zusammen
männiglich zum Abschäuhen auffgehencket und aufgesteckt werden". Als Straf-
schärfungen werden weiter noch folgende angewandt. Der arme Sünder wird
auf „ein Schlaipffen gelegt und durch unvernünftige Thiere" zur Richtstätte
geschleift. Dem durch das Schwert gerichteten Körper wird die Beerdigung
versagt, er wird auf ein Rad „zum abscheulichen Exempel außgestecket". (Bei
Weibern werden nur Kopf und Hände ausgesteckt, der übrige Körper aber unter
dem Galgen vergraben.) Das Reißen mit glühenden Zangen wird erkannt,
wenn das Verbrennen oder Rädern „den abschäulichen Umbständen der Übel¬
that noch nit genug xroxortiouisrt" zu sein scheint, ebenso das Riemenschneider
und das Zangenreißen. Die Zangenrisse geschehen gewöhnlich an der Brust,
das Riemenschneider auf dem Rücken, beides geht der Tötung voran.
eit Jahrtausenden schon fühlte sich der Mensch als Herr der Erde.
Mit erfinderischen Geiste, getrieben von einem unwiderstehlichen
Drang nach Erkenntnis, überwand er alle Schwierigkeiten, die die
Natur seinem rastlosen Vorwärtsstreben in den Weg legte. Das
Meer vermittelte Handel und Verkehr zwischen den Völkern, kühn
trotzte man seinen Gefahren, nachdem sich „mit dreifach erzgepanzerter Brust"
— wie Horaz voll Bewunderung sagt — der erste Seefahrer auf das tosende
Element hinausgewagt hatte. Ein Geheimnis nach dem andern erschloß sich
auch dem in die Erde eindringenden Menschen, doch — über sie hinaus ver¬
mochte er sich nicht zu erheben, mit unsichtbarer Gewalt hielt sie ihn an sich
gefesselt. Und wie unvergleichlich schön mußte gerade dieses sein! Wie ver¬
lockend, sich in dem unermeßlichen Luftreich zu tummeln, das sich ständig so
nah und doch so unerreichbar den Blicken zeigte!
Schon die älteste Geschichte,*) ja die graue Vorzeit der Sage berichtet uns
von dieser ungestillten Sehnsucht der Menschenkinder. Wer Hütte nicht von
Dädalus, von Ikarus gehört, und wer vermöchte nicht auch in dem flügel¬
beschwingten Götterboten Merkur einen Hinweis auf dieses uralte Phantom zu
sehen? Und unsre deutsche Sage erzählt, daß der Schmied Wieland mit selbst¬
gefertigten Flügeln davonflog, um der Rache König Ellerichs zu entgehn.
Die älteste, einigermaßen geschichtliche Überlieferung eines Flugversuchs geht
bis in die Zeit Kaiser Neros zurück. Ein Mann aus Samaria soll sich damals
fliegend von einem hohen Turme Roms hinabgelassen haben, unter allgemeinem
Staunen der herbeigeströmten sensationsbedürftigen Großstädter. Plötzlich stürzte
er aus der Höhe hinab. Petrus hatte dies durch seine Gebete verursacht, weil
er das Tun des Mannes für gottlos hielt. Doch Kaiser Nero dachte darüber
anders, er kerkerte den Apostel ein, „weil er den Staat eines nützlichen Mannes
beraubt hatte". Ob diese Erzählung auf Wahrheit beruht, bleibe dahingestellt;
hat jedoch dieser Flugversuch stattgefunden, so war der dabei Verunglückte sicherlich
einer der ersten in der Reihe der unzähligen Opfer, die die Lüfte seitdem ge¬
fordert haben.
Wie man die Kunst des Schwimmens der Natur abgesehen hatte, so nahm
man sich auch den Vogel zum Vorbild, als man sich in sein Reich begeben
wollte. Wie bald aber versagten die Armkräfte, die die künstlich konstruierten
Flügel in Bewegung setzen mußten! Zerschmetterte Gliedmaßen waren im
günstigsten Falle das Resultat.
Doch der Mensch ruhte nicht. Jahrhundertelang mehrten sich die Ver¬
suche und — die Unglücksfälle. Das Mittelalter erst, das mit seinem finstern
Aberglauben so vieles als gotteslästerlich und als Teufelswerk hinstellte, legte
auch den Flugkünstlern das Handwerk. Die Zeit Lionardo da Vincis bringt
dann einen neuen Aufschwung. Es dürfte wenig bekannt sein, daß sich dieses
gewaltige Genie auch mit flugtechnischen Fragen beschäftigte. Ein von ihm ver¬
faßtes Werk über „Mechanik und Vogelflug" gab dem Erfindungs- und Unter¬
nehmungsgeist Mancher neue Anregung.
Aber alle Versuche zelligem dasselbe Resultat: des Menschen Kräfte waren
im Verhältnis zu seiner Körperschwere viel zu gering, als daß er sich durch
sie nach Vogelart auch nur einige Zeit in der Luft schwebend erhalten konnte,
geschweige denn, daß an eine Flugbewegung zu denken war.
Nun sollten Magnetismus und Elektrizität helfen. Doch diese Idee war
ebenso phantastisch, wie der Gedanke unausführbar war, zum Hochtrieb Kugeln
aus Kupferblech zu benutzen, nachdem man sie mit der Luftpumpe entleert hatte.
Wenn dies nun auch eine völlig falsche Vorstellung von der Wirkung des Luft¬
drucks verrät, so ist es doch deshalb interessant, weil dadurch zum erstenmal an¬
gedeutet wird, daß ein Körper emporsteigen müsse, wenn er leichter als die Luft
ist, und damit hatte man im Prinzip den Luftballon erfunden. Zu seiner Kon¬
struktion führten jedoch erst Entdeckungen, die mit dem so lange gesuchten
Problem, sich in die Lüfte erheben zu können, scheinbar in gar keinem Zusammen¬
hang standen.
Zwei Franzosen namens Montgolfier, die sich schon viel mit allerlei Er¬
findungen beschäftigt hatten, verfielen gegen das Ende des achtzehnten Jahr¬
hunderts auf den Gedanken, künstliche Wolken herzustellen. Sie hatten damit
Zwar wenig Glück, doch bemerkten sie, daß der in leichte Umhüllungen geleitete
Wasserdampf eine hochtreibende Kraft hatte, und bei Anwendung von Rauch
war es ebenso. Diese Entdeckung verfolgten sie weiter, und da man gerade in
dieser Zeit anfing, sich mit den Eigenschaften der bis dahin noch wenig bekannten
Gase zu beschäftigen, so lag der Gedanke nahe, anstatt des Wasserdampfes
Wasserstoffgas zu verwenden. Dieses mußte eine große hochtreibende Kraft
haben, da es vierzehnmal leichter war als die Luft. Doch waren die ange¬
wandten Papierhüllen nicht geeignet, das Gas festzuhalten, es entwich sehr rasch,
und da seine Herstellung damals noch wenig bekannt und recht kostspielig war,
so füllten die Montgolsiers ihre Ballons, die sie immer mehr vergrößerten,
wieder mit Wasserdampf.
Am 4. Juni 1783 stieg eine aus Leinwand und Papier gefertigte „Mont-
golfiere" von dreizehn Metern Durchmesser bei Annonay, der Heimatstadt der Er¬
finder, zu bedeutender Höhe empor und machte in zehn Minuten eine Luftreise
von sechs Kilometern. Dieses noch nicht dagewesene Ereignis erregte solches Auf¬
sehen, daß sich sogar die Pariser Akademie damit beschäftigte. Ehe jedoch die
von ihr eingesetzte Kommission ihre Prüfung beendet hatte, bildete sich schon
ein Komitee von Privatleuten, eine bedeutende Geldsumme wurde zusammen¬
gebracht, und man beauftragte den berühmten Physiker Charles mit dem Bau
eines Ballons.
Bis auf die Füllung ging alles ganz glatt, doch darüber machten die
Montgolsiers keine Angaben. Infolgedessen blieb nichts andres übrig, als unter
großen Schwierigkeiten und Kosten eine bis dahin unerhörte Menge von Wasser¬
stoffgas herzustellen. Nach fünftägiger Mühe verlief aber dafür auch der Auf¬
stieg der „Charliere" glänzend.
Der Unterschied zwischen „Montgolfieren" (Füllung mit erwärmter Luft
oder Wafserdampffüllung) und „Charlieren" (Wasserstoffgasfüllung) blieb für
die Folge bestehn. Beide hatten sich als brauchbar erwiesen, und nun wollte
man ihre Auftriebskraft benutzen, den Menschen in die Lüfte emporzutragen.
Doch wer sollte sein Leben einem so unsichern, wenig erprobten Gefährt anver¬
trauen? Auch den Tollkühnsten fehlte dazu noch der Mut. So mußten denn
zunächst ein Schaf, ein Huhn und eine Ente als Versuchsobjekte dienen. Als
die ersten Lebewesen entführte sie der Ballon unter dem Jubel der Zuschauer und
landete sie auch glücklich. Nun wollten Marquis d'Urlande und Pilätre de
Rösler einen Aufstieg unternehmen, doch da erklärte König Ludwig der Sech¬
zehnte dieses wegen der großen Lebensgefahr für die beiden Herren nicht er¬
lauben zu können. Es bedürfte der Fürsprache der einflußreichsten Persönlich¬
keiten, bis endlich der König seine Zustimmung gab.
Am 21. Oktober 1783 war natürlich halb Paris auf den Beinen, um die
erste Luftfahrt von Menschen mit anzusehen. Der Aufstieg und noch mehr die
glückliche Landung der kühnen Luftschiffer versetzte alle in einen Taumel des Ent¬
zückens, nur einer sah die Sache mit nüchternen, klaren Augen an: das war der
berühmte Benjamin Franklin. Als man seine Ansicht über dieses weltbedeutende
Ereignis hören wollte, sagte er nur: „Der Ballon ist ein neugebornes Kind."
Diese Antwort mag manchem nicht gefallen haben, der voller Begeisterung
sich selbst schon als Aeronauten sah; denn daß die neue Erfindung binnen
kurzem zur Vollkommenheit gebracht werden würde, daran zweifelten wohl die
wenigsten. Sicherlich aber ahnte es niemand, daß dieses „neugeborne Kind"
mehr als hundert Jahre auf seiner ersten Entwicklungsstufe so ziemlich stehn
bleiben würde. Denn während der nächsten Jahrzehnte wurden Ballonaufstiege
und -fahrten mehr und mehr in das Programm der Volksbelustigungen auf-
genommen, ohne daß man damit einen wissenschaftlichen Zweck, eine Weiterentwick¬
lung der Luftschiffahrt verfolgte. Wohl sah man schon bald nach jenem epoche¬
machenden ersten Aufstieg ein, daß der Ballon nur dann von wirklich großem
Nutzen sein werde, falls man ihn nach Belieben zu lenken vermöchte. Wenn
man es nun auch im Freifahren, dank der am Ballon angebrachten Verbesserungen
und der erlangten Routine, bis zu großer Vollkommenheit brachte, so kamen
doch alle Versuche, die man hinsichtlich der Lenkbarkeit anstellte, nicht über die
bescheidensten Anfänge hinaus. Kein Wunder, daß die so oft irregeführte öffent¬
liche Meinung zuletzt jeder neuen Erfindung auf diesem Gebiete mit Mißtrauen
begegnete, ja sich sogar offenbaren Fortschritten gegenüber ziemlich indifferent
verhielt und leider auch noch verhält. Und doch ist die Luftschiffahrt jetzt in
ein Stadium getreten, wo man das Problem der Lenkbarkeit als gelöst be¬
trachten kann.
Alle solchen Versuche und Erfindungen lassen sich in zwei Klassen einteilen:
1. Flugmaschinen, 2. lenkbare Luftschiffe.
Bei den Flugmaschinen — der vor einigen Jahren tödlich verunglückte
A. Lilienthal ist einer der Begründer der modernen Flugtechnik gewesen —
haben wir es mit Flügel-, Schrauben-, Drachen- und Gleitfliegern zu tun.
In den Flügclfliegern sehen wir die uralte Jkarusidee wieder auftauchen, nur
daß der ganze Apparat jetzt unendlich kompliziert ist, und daß die Bewegung
der riesigen Flügel durch Motore erfolgt.
Zunächst ist es bis jetzt noch nicht geglückt, sich mit einer dieser Maschinen
— und es gibt deren unzählige Arten — direkt vom flachen Boden aus zu
erheben. Es bedarf immer des Abflugs von einer Anhöhe oder doch wenigstens
einer Ablaufbahn.
Auch die für diese Versuche vorbildlichen Vögel benutzen zum Abflug gern
erhöhte Punkte. Können sie das nicht, so schnellen sie sich mit Hilfe ihrer
kräftig ausgebildeten Sprunggelenke in die Luft und setzen dann erst die Flügel
in Bewegung.
Auch wenn ein Emporschnellen nach Vogelart ermöglicht wäre, taucht gleich
eine neue, weit größere Schwierigkeit auf. Die Bewegungen der Lust und vor
allem die plötzlichen Windstöße suchen ständig einen schwebenden Körper aus
dem Gleichgewicht zu bringen. Der Vogel lernt das „Ausbalancieren" auch
erst empirisch. Doch bei ihm sind die Flügel völlig mit dem übrigen Körper
verbunden, er bewegt sie, wie wir unsre Arme und Beine bewegen, gewissermaßen
instinktiv, er bringt sie mit Gedankenschnelle in jede gewünschte oder nötige Lage.
Hierzu sind unsre schwachen Armkräfte jedoch nicht imstande, die Flügelbewegung
geschieht mittelbar durch den Motor, deshalb werden auch völlig richtige
Hilfen in vielen Fällen zu spät kommen und ein Umkippen und Hinunterstürzen
der ganzen Maschine nicht verhindern können.
Wesentlich günstiger würden die Aussichten sein, wenn es gelänge, den
Flugapparaten eine große Eigenbewegung zu geben, denn einen sich rasch be-
Wegenden Körper trägt die Luft fast schon von selbst, Windstöße haben nicht
so viel Gewalt über ihn, und seine Lenkbarkeit wird eine ganz andre. Wenn
man nun auf das Gewicht der Motore keine Rücksicht zu nehmen brauchte, so
Ware dies bei dem enormen Aufschwung, den gerade diese Industrie genommen
hat, leicht zu erreichen, aber das ist die dritte Schwierigkeit: Motore zu kon¬
struieren, die bei geringem Gewicht dennoch große Leistungsfähigkeit haben.
Trotzdem sich diese in wenig Jahren verzehnfacht hat, ist man darin augen¬
blicklich aber noch weit zurück. Und diese Probleme gilt es beim Bau aller
Flugmaschinen zu lösen.
Bei den Schraubenfliegern vermögen zwar zwei sich entgegengesetzt drehende
Flügelpaare einen Auftrieb zu bewirken, sie sind jedoch nicht imstande, bei großem
Dimensionen einen Menschen und einen Motor emporzuheben.
Bei den Drachenfliegern werden eine oder mehrere drachenförmige, schräg¬
gestellte Flächen durch Schrauben vorwärts bewegt. Einige dieser Maschinen
haben riesige Dimensionen angenommen, wie zum Beispiel die von dem eng¬
lischen Ingenieur Maxim, dem Konstrukteur der Schnellfeuergeschütze, erbaute,
die mehr als 3600 Kilogramm wog. Doch leistete sie ebensowenig wie die von
Langley, Kreß und andern konstruierten Drachenflieger. (Vgl.: Die Luftschiff¬
fahrt von Hauptmann Groß.)
Die meisten Aussichten scheinen noch die Gleitflieger zu haben, wenn man
auch die letzten Nachrichten über Flüge von 17 bis 19 Kilometer Länge, wie sie
zwei Engländer, die bekannten Gebrüder Wright, ausgeführt haben wollen, mi߬
trauisch aufnehmen muß, da sie zu wenig verbürgt sind.
„Wenn man Form und Bau der Unterfläche eines Körpers danach ein¬
richtet, so fällt dieser nicht senkrecht zu Boden, sondern die Luft, welche hierbei
gewissermaßen als Bremskraft wirkt, läßt ihn schräg hinuntergleiten. Um den
Gleitwinkel zu verkleinern, ist ein künstlicher Vortrieb in Gestalt eines Propellers
notwendig, welcher durch einen Motor getrieben wird. Je größer der Vortrieb,
desto mehr nähert sich der schräge Gleitflug der Wagerechten; Auf- und Ab¬
wärtsbewegung muß durch geeignete Steuervorrichtungen oder Propeller erzielt
werden. Doch auch dieser Apparat kann vorläufig nur von erhöhten Punkten
aus in Bewegung gesetzt werden." (Illustrierte Aeronautische Mitteilungen, Jahr¬
gang 1904, Heft 3 und 11, Jahrgang 1905, Heft 3.)
Fragt man sich nun, wie weit ist die Flugmaschine gediehen, und welche
Aussichten bietet sie für die Zukunft, so muß zugegeben werden, daß das Wesen
der Sache richtig erkannt worden ist. Aus den vorher angegebnen Gründen
jedoch, und weil es auf diesem Gebiet noch so sehr an Erfahrung fehlt, ist vor¬
läufig an einen positiven Erfolg kaum zu denken, noch weniger aber an eine
praktische Verwertung der Flugmaschinen. Denn ist es schon so schwierig, eine
solche Maschine bei ruhigem Wetter emporzuheben und fortzubewegen, um wie¬
viel schwieriger muß es sein, sie bei widrigem Winde zu lenken. Trotzdem wird
ein enragierter Anhänger der Flugmaschinen nur diese und nichts andres gelten
lassen, ja er wird in den von Ballons getragnen lenkbarem Luftschiffer, die jetzt
das weitaus größere Interesse in Anspruch nehmen, vielfach ein gefährliches
Hindernis für die Verwirklichung des Flugprojekts sehen.
Schon bald nach der Erfindung des Luftballons tauchte die Idee auf, ihn
auch lenkbar zu macheu. Man erkannte anch, daß dieses nur dann möglich
wäre, wenn er eine Eigenbewegung hätte. Doch die Segel, die man zu diesem
Zweck anbrachte, nützten nichts, da sie samt dem Ballon von dem umgebenden
Luftstrom einfach fortgetragen wurden. Ebensowenig glückte der Versuch, die
Eigenbewegung durch Ruder oder Flügel zu bewirken, denn diesen setzte die
Luft viel zu wenig Widerstand entgegen. Da kam — es sind jetzt schon hundert
Jahre her — ein genialer Franzose, der Leutnant Meusniers, auf den Gedanken,
durch rotierende Luftschrauben die Ruder zu ersetzen- Um den Luftwiderstand
besser zu überwinden, schlug er für den Ballon eine eiförmige Gestalt vor, und
da auch er schon damals die schädlichen Folgen des Gasverlusts (siehe Drachen¬
ballon) erkannte, so wollte er im Gasraum eine Art Luftblase (das heutige
Ballonet) anbringen, die, je nach Bedarf gefüllt, dem Ballon seine pralle Form
erhalten sollte. Wir sehen da eigentlich schon das Luftschiff in seiner modernen
Gestalt. Nur weil es der damaligen Technik nicht möglich war, den zum Be¬
trieb der Schrauben nötigen Motor herzustellen, unterblieb die Ausführung des
genialen Gedankens. Und wegen der zu wenig entwickelten Motorindustrie
führten auch die anfänglich guten Erfolge des Luftschiffs Renard-Krebs in den
achtziger Jahren nur zu geringen Resultaten. Bei ruhiger Lust befriedigte die
Steuerung vollkommen, bei Wind jedoch genügte die geringe Eigenbewegung
von sechs Metern in der Sekunde nicht: der Ballon wurde von dem Luftstrom
einfach mit fortgeführt.
Im Vergleich zu den Flugmaschinen sind die Aussichten für den lenkbarem
Ballon von vornherein weit günstiger. Es fällt bei ihm zunächst schon die erste
Schwierigkeit völlig fort: das Emporheben in die Luft. Der Auftrieb, die
„Hubkraft" wird ja vom Gase bewirkt. Bei entsprechender Größe des Ballons
ist diese so bedeutend, daß man auch nicht so ängstlich auf das Gewicht des
Motors zu achten braucht. Es können also bei weitem leistungsfähigere Ma¬
schinen zum Vortrieb benutzt werden. Eine vergrößerte Eigenbewegung kommt
aber auch der Stabilität zugute, die ohnedies schon zu der der Flugmaschinen
in viel günstigeren Verhältnis steht. Und endlich kommt man dadurch der Lösung
der Steuerungsfrage wesentlich näher. Mit der Vergrößerung des Ballons, die
zum Emporheben der Mitfahrenden, des schweren Motors, des Ballasts usw.
unbedingt nötig ist, wächst aber nun auch der Luftwiderstand. Und andrerseits
sind die jetzt angewandten, sonst sehr leistungsfähigen Explosionsmotore eine
nicht zu unterschätzende Gefahr, denn sie können zur Entzündung des ihnen ver¬
hältnismäßig nahen Ballons führen.
Um den Luftwiderstand zu überwinden, hat man für den Ballon die ver¬
schiedenartigsten Formen in Anwendung gebracht. Santos Dumonts Luftschiff,
mit dem er den Eiffelturm umfuhr, hatte zigarrenförmige Gestalt, Alexander
Severos „Pax" war spindelförmig, und seine Luftschrauben lagen in der Längs¬
richtung des Schiffes, Brodsky bediente sich der Zylinderform, ebenso sind die
vom Grafen von Zeppelin konstruierten Luftschiffe zylinderförmig und mit ogi-
valer Spitze versehen. Während die drei zuerst genannten Flugtechniker das
sogenannte Prallsystem anwandten, das heißt die pralle Form des Ballons wird
durch ein Ballonet erhalten, sehen wir in Zeppelin einen Anhänger des starren*)
Systems. Bei dem ersten Versuch im Jahre 1890 bestand sein Luftschiff aus
siebzehn voneinander getrennten Ballons, die ein Aluminiumgerüst verband, das
wiederum mit Ballonstoff überzogen war. Zwei unterhalb angebrachte Gondeln
waren mit sechzehnpferdigen Daimlermotoren ausgerüstet, die je zwei vierflüg-
lige Luftschrauben trieben. Diese waren, im Durchmesser 1,25 Meter groß,
unterhalb der Längsachse zu beiden Seiten der Gondeln. Horizontal- und
Vertikalsteuer, am vordem und am hintern Ende angebracht, besorgten die
Steuerung, während ein sich zwischen den Gondeln befindendes Laufgewicht die
Stabilität erhielt. Dieses Luftschiff hatte 128 Meter in der Länge. 11,6 Meter
im Durchmesser und einen Rauminhalt von 12377 Kubikmetern. Trotz seiner
Größe vermochte es außer allem übrigen nur 350 Kilogramm Ballast zu tragen.
Mehrere Fahrten sind zur Erprobung dieses stündig verbesserten Systems
im Laufe der Jahre ausgeführt worden, selbstverständlich auch unter Ausnutzung
der Errungenschaften der Motorindustrie, doch alle hatten bekanntlich wenig
Erfolg. Teils mißglückter sie, weil Schrauben oder Steuer plötzlich ihre Tätig¬
keit einstellten, oder es entleerte sich auch eine der Gaskammern, sodciß durch
die eingedrungne schwerere Luft das vordere Ende des Ballons in den Bodensee
gedrückt wurde, über dem alle Flugversuche stattgefunden haben. Bei der letzten
Fahrt am 17. Januar 1906 wurde die zu frühzeitige Landung ebenfalls durch
Versagen der Motore (zwei Daimler - Mercedesmotore von je 84 Pferde¬
kräften) und der Steuer herbeigeführt. Dieses wiederum soll seinen Grund in
dem Stampfen des Luftschiffs gehabt haben, hervorgerufen durch die große
Eigenbewegung. Denn infolge dieses Stampfens traten starke Reibungen und
Klemmungen im Radgetriebe ein, die Motore liefen sich heiß und versagten
schließlich. Man sieht daraus, daß auch hier mit der Stabilität als mit einem
wesentlichen Faktor zu rechnen ist. Jedenfalls erfolgte aber die Zerstörung des
Luftschiffs erst durch den Sturm in der Nacht vom 17. zum 18. Januar. Graf
Zeppelin schreibt den Mißerfolg hauptsächlich dem Mangel an Übung seinerseits
zu und sieht die Störungen im Motor- und Steuerbetriebe nur als unwesentlich
an. (Illustrierte Aeronautische Mitteilungen, Jahrgang 1906, Heft 2.)
Jedenfalls aber hat dieser unermüdliche Luftschiffer, dem wohl ein baldiger
Erfolg zu wünschen wäre, die Palme des Sieges den Gebrüdern Lebaudy über¬
lassen müssen. Mit Hilfe ihres vortrefflichen Ingenieurs Julliot haben diese
ein Luftschiff konstruiert, das schon bei seiner ersten Fahrt im Jahre 1902 alle
andern bei weitem übertraf. Seitdem ist es gelungen, diesen „Lenkbaren" durch
ständige Verbesserungen bedeutend zu vervollkommnen. Und was noch mehr
sagen will, er ist auch praktisch so brauchbar, daß sich die französische Regierung
entschlossen hat, mehrere Ballons dieses Typs herzustellen, nachdem eine Rund¬
fahrt über einen Teil der Festungswerke von Toul Ende des vorigen Jahres
glänzend ausgefallen war. Der sich an Bord befindende damalige Kriegs¬
minister Berteaux überzeugte sich davon, daß dieser Ballon, sich in beliebiger
Höhe bewegend, Kurven beschreibend, mit dem Winde eine Geschwindigkeit von
50 Kilometern, gegen den Wind eine solche von 24 Kilometern in der
Stunde erreichte. Die Fahrt konnte auch so verlangsamt werden, daß man
eine mit Sand gefüllte Granate in eine Batterie warf, und endlich ging auch
die Landung glatt vonstatten. Man hat dieses durch Privatnachrichten er¬
fahren, denn selbstverständlich lassen die Franzosen über Konstruktion und Er¬
folge dieses Ballons wenig oder nichts verlauten. Im allgemeinen wird er
aber wohl seinem Vorgänger vom vergangnen Jahre gleichen, dessen Konstruktion
folgende ist:
Der Typ ist eine Vereinigung des prallen und des starren Systems. Der
namentlich vorn scharf zugespitzte Ballon nähert sich in der Form am meisten
dem Torpedo, er ist 2600 Kubikmeter groß und enthält ein Ballonet von
500 Kubikmetern (größte Ausdehnung), die Länge betrügt 58 Meter, der größte
Querschnitt fast 10 Meter. Der Ballon ist unterhalb mit dem starren Gerippe
einer elliptischen Gleitfläche fest verbunden, die zur bessern Überwindung des
Luftwiderstandes mit Ballonstoff überzogen ist. Etwa 4 Meter darunter ist die
vorn und hinten spitz zulaufende Gondel, die mit der Gleitfläche ebenfalls fest
verbunden ist. Ein vierzigpferdiger Motor treibt zwei 2 Meter lange Schrauben,
die sich, seitlich an der Gondel angebracht, nach Art der Schiffsschrauben be¬
wegen und bis zu 1200 Umdrehungen in der Minute machen können. Zum
Betrieb des Motors werden 220 Liter Petrolessenz mitgeführt, außerdem der
Zur Regelung der Fahrthöhe und zum Landen nötige Ballast. Zur Erhaltung
der Stabilität und für die Steuerung sind feste und bewegliche, horizontale
und vertikale Flächen vorhanden.
Zunächst sorgt die vorhin erwähnte elliptische Gleitfläche für die Aufrecht¬
erhaltung der Stabilität, die durch den an? hintern Ende angebrachten „Tauben¬
schwanz" noch erhöht wird. (Dem Fehlen dieses Taubenschwanzes am Zeppe-
Unschen Luftschiff wird zum Teil auch das Mißlingen der letzten Fahrt zu¬
geschrieben.) Unter der Gleitflüche ist eine schmale, ebenfalls feste vertikale
Flüche, an die sich eine ebensolche, unter dem hintern Teil des Ballons ange¬
brachte anschließt. An dieser wiederum sind zwei bewegliche dreieckige Horizontal-
Mchen angebracht. An diese schließt sich ein 12 Quadratmeter großes vier¬
eckiges Vertikalsteuer an, das von der Gondel aus ebenso wie die beiden
dreieckigen Horizontalflächen bewegt werden kann. Endlich wäre noch eine
kleine feste Vertikalfläche zu erwähnen, der sogenannte „Pfeil", der zwischen
den beiden Enden des Tanbenschwanzes angebracht ist.
Die Gondel ist vorn durch ein trapezförmiges Gerüst mit dem Ballon
verbunden. An diesem Trapez kann ein Segel aufgezogen werden, das dank
seiner schrägen Stellung den in der Fahrt begriffnen Ballon hebt. Sonst kann
das Höher- oder Tiefergehn wie bei einem gewöhnlichen Ballon durch Ballast¬
auswurf oder durch Gasauslassen bewirkt werden.
Am vordem Ende der Gondel ist ein photographischer Apparat angebracht,
der Nachts durch eine elektrische Lampe ersetzt wird. (Illustrierte Aeronautische
Mitteilungen, Jahrgang 1904, Heft 1 und 11.)
Das ist in großen Zügen die Konstruktion des bis jetzt erfolgreichsten
Luftschiffs Lebaudy-Juillot, mit dem zweifellos eine neue Am der Luftschiffahrt
angebrochen ist.*)
as Feuer in dem großen Kamin war im Begriff auszugehn, durch
den es immer zog, und es war so kalt im Zimmer, daß man seinen
eignen Atem sehen konnte.
Bessie, mein Kind, sagte Lady Northumberland vom Bette her.
Trinke ein wenig warmes Bier mit Honig darin oder ein wenig
! Würzwein und biete auch Cousine Sophia davon an.
Die arme Lady Sophia war beinahe blau um die Nase. Sie erhob sich eben¬
falls und sah durch das graugrüne Fenster mit den runden Scheiben: Jetzt schneit es
noch obendrein. Gott weiß, wann wir jemals von hier wegkommen werden!
Lies mir ein wenig vor, meine Süße, sagte die Gräfin ermunternd. Sie
lag ja in ihrem guten Bett und konnte schon die gute Laune bewahren! Unter der
Bibel liegt ein weltliches Buch, das dich schon unterhalten wird.
Lady Sophia zog gleichgiltig das schwere Buch hervor. William Shakespeare,
buchstabierte sie aus dem Titelblatt heraus. Sie sah fragend auf.
Ja, es ist ein altes Buch, sagte Lady Northumberland halb entschuldigend.
Er, der es schrieb, war einer von des seligen Königs Jakob Schauspielern, und ich
glaube kaum, daß er noch zu meiner Zeit gelebt hat. Aber mein Schwiegervater,
Jarl Henry, kannte ihn sehr gut, obwohl er ja keine Standesperson war — sie
wohnten Tür an Tür in Blackfriars —, und er soll ihn hoch geschätzt haben, wie
ich höre; das tat sein Schwager, Mylord Essex, übrigens auch.
Lady Elizabeth stand, die Hände auf dem Rücken, da und guckte über die
Schulter ihrer Cousine, während diese uninteressiert in dem großen Folianten weiter¬
blätterte.
Ach, sagte sie lebhaft, das ist das Buch, das auf Harrys Fensterbrett zwischen
seinen Pfeifen zu liegen Pflegt. Er kann es beinahe auswendig und hat mir gar
manchesmal von Mylady Portia aus Venedig vorgelesen, die eine reiche Erbin war
so wie ich, und von unserm eignen Henry Heißsporn. Ich habe immer geglaubt, es
sei Harrys Buch.
Er mag es ruhig behalten, wenn er Lust hat, sagte die Gräfin nonchalant
edelmütig. Dein Großvater wie auch ich ergötzten uns an Lektüre — zu unsrer
Zeit pflegte man das auch mehr zu tun als jetzt —, und außer allen den Büchern
meines Schwiegervaters in spor House hatten wir eine ganze Menge weltlicher
Bücher hier auf Alnwick liegen, als der Krieg ausbrach. Aber Cromwells und Fairfax
Leute verbrannten ja alle Schriften, deren sie habhaft wurden, die nicht Gottes
Wort waren, und obwohl mein seliger Herr — Gott verzeihe ihm! — auf ihrer
Seite stand, so ließ er doch, als es soweit kam, die Bücher in den Keller hinab¬
tragen. Harry sagt, daß einige davon gründlich verschimmelt waren, als er sie
fand, und ich kann ja sehen, daß an diesem hier die Ratten genagt haben.
Lady Sophia schloß müde das schwere Buch. Cousine Eliza — so pflegte sie
ihre hohe Verwandte zu nennen — sollte sich einige von den neuen Büchern ver¬
schaffen, die heutzutage geschrieben werden. Ich kenne einige, die Alt wie Jung
zum Lachen bringen können.
Lady Elizabeth war nicht gelehrt, nicht im geringsten, aber ihre Großmutter,
die in ihrer Jugend die feine, klassische Erziehung erhalten hatte, die man noch
unter den ersten Stuarts von einer hochgeboruen Dame forderte, hatte mit Hilfe
einer tüchtigen französischen Gouvernante und durch eine verständige Wahl der
Damen ihrer Aufwartung dafür gesorgt, daß ihre Enkelin nicht ganz unwissend war.
Sie las Französisch wie ihre Muttersprache, Italienisch so einigermaßen und hatte
auch einigen Begriff von der Geschichte Englands und der Geographie Europas.
Lady Sophias Erziehung dahingegen war ganz so, wie es die Mode in Whitehall
jetzt von einer Frau forderte: das heißt, sie hatte gar keine. Konnte eine Frau
mehr schreiben als einen mangelhaft buchstabierten Liebesbrief, so wurde sie von
König Karl und seinen Kavalieren als unausstehlicher Blaustrumpf bezeichnet, und
hatte sie ein Interesse, etwas andres zu lesen als Madeleine de Sande'rys oder
Aphra Behuf Romane, so stempelte man sie zum „gelehrten Pedanten". Eine Frau
soll zum Hofe der Venus, nicht zu dem der Pallas gehören, hatte Majestät selber
einmal dekretiert.
Ein Page trug den warmen Würzwein auf einem silbernen Brett herein — er
duftete süß und dampfte aus der Kanne. Lady Elizabeth ging ihm entgegen — sie
fragte auf den Wunsch der Großmutter nach Sir Thomas.
Sir Thomas habe sich mit seinem Sekretär eingeschlossen. Es hieße ja freilich,
daß er Briefe schreibe, aber der Page glaubte, daß er schlafe, denn er habe gestern
viel Kanonensekt getrunken zusammen mit Sr. Hochehrwürden dem Hauskaplan.
Und Kapitän Percy, wo war der?
Kapitän Percy sei ausgeritten, er wisse nicht, wohin.
Lady Elizabeth fragte ihre Großmutter, ob sie wünsche, daß „die Damen"
hereinkommen sollten. Sie hielten des Staates halber jede ihre „Gentlewomen" —
fast eine Art Hofdamen.
Lady Northumberland antwortete trocken, daß sie am liebsten von ihnen ver¬
schont bliebe. Aber die alte Anna dürfe hereinkommen und die Kissen im Bett auf-
schütteln und einen Tropfen Wein abbekommen. Gegen untergeordnete Personen
„ohne Prätentionen" war Lady Northumberland immer freundlich.
Die alte Anna war das Faktotum des Hauses, und wenn man es genau besah,
seine eigentliche Herrin. Sie war von französischer Abstammung — aus La Rochelle —
und war lange eine vertraute Dienerin der Prinzessin von Oranien gewesen, der
Schwester des Königs und der Mutter des jetzigen Prinzen Wilhelm, der sich kürzlich
— zu der alten Anna unverhohlner Freude — ebenfalls mit einer Prinzessin Mary
Stuart verheiratet hatte. Nach der Restauration war Anna auch mit ihrer Herrin
nach England gekommen und nach deren Tode — sie starb sehr bald an den Pocken —
bei der alten Gräfin von Northumberland gestrandet und hatte wahrend der letzten
zwanzig Jahre den Posten einer Haushälterin auf Alnwick bekleidet. Sie war treu
wie Gold, klug, feinfühlend und gut und prächtig, hatte noch immer eine schöne
Singstimme und konnte die lustigsten Geschichten in ihrem köstlichen französisch¬
englischen Dialekt erzählen. Da sie ja ihre ganze Erziehung am Hofe im Haag
empfangen hatte, war sie bedeutend verfeinerter als Engländerinnen aus demselben
Stande, und Lady Elizabeth und Henry Percy war sie viele Jahre lang eine wahre
Mutter gewesen. Fast in ihrer ganzen einsamen Kindheit war deswegen auch ihre
Vorstellung von einem Heim immer mit der alten Anna sonniger Stube verknüpft
gewesen; dort lagen die Bratäpfel in der heißen Asche des Kamins, vor dem der
Rocken stand, in der Fensternische hing die Guitarre, und an der Wand hingen die
Kupferstiche vom Prinzen und von der Prinzessin von Oranien. Durch ihre lebhafte
Art und Weise des Erzählens gab sie ihnen schon früh eine Vorstellung von fremden
Ländern, von Hollands Reichtum, von König Ludwigs stolzem Frankreich, le. v«za,u
dessen sie sich aus ihrer Kindheit erinnerte. Auf dem Schemel zu ihren Füßen
nähte die kleine Lady Elizabeth ihr erstes Namentuch (es lag jetzt in ein kleines
seidnes Tuch gewickelt in Annas Truhe), oder sie erhielt zur Belohnung für ihren
Fleiß Erlaubnis, einen Haufen alter Modejournale aus der Zeit des vorigen Königs
Ol-us-of mulisbris ^NAlioMus zu besehen. Anna selber thronte immer in dem roten
Lehnstuhl, während sie, das Strickzeug auf dem Schoß und das Buch in der aus¬
gestreckten Hand vor sich hinhaltend, dem zwölfjährigen langbeinigen Harry, der
mit gefalteten Händen und aus die Schulter herabfallenden Haar vor ihr stand, seine
Aufgabe in den Fabeln des Äsop überhörte. Sie verfertigte ihr Spielzeug, wickelte
Spinnengewebe um die Wunde, wenn sie sich in den Finger geschnitten hatten, rieb
ihre Nasen mit Hammeltalg ein und gab ihnen warnies Bier mit Kardamomen,
wenn sie sich erkältet hatten. Harry — oder Monsieur Henri, wie Anna nie unterließ,
ihn zu nennen — war vor allem ihr Liebling, sie hatte ihn fast ebenso lieb wie
den kleinen Prinzen Wilhelm, ehe sie Holland verließ, und es schnitt ihr ins Herz,
wenn sie daran dachte, daß er auf Grund seiner Geburt ausgeschlossen war, den
reichen Preis zu erringen, nach dem die adliche Jugend von halb England strebte:
Lady Elizabeths Hand und die großen Percyschen Baronien — er, der doch eigentlich
zunächst ein Anrecht auf das alles hatte! Wenn man in ihrer Gegenwart den
ältesten der unehelichen Söhne des Königs, den Herzog von Monmouth, nannte,
der mit Lady Anna Scott, Erbin des edeln Hauses Buccleugh, vermählt war, so
sagte sie mehr als einmal zu ihrem Vertrauten, dem Haushofmeister, daß es beim
lebendigen Gott Sünde und Schande sei, daß ein königlicher Bastard auf die Weise
einen Vorzug vor allen edelgebornen Herren im Reiche haben solle, während der
Sohn eines Lords nur als ganz gewöhnlicher bürgerlicher und gemeiner Soldat
betrachtet würde, wenn er das Unglück habe, einen Querbalken in dem Wappen zu
führen, das er geerbt habe.
Der Haushofmeister sagte, Mistreß Anna habe ja so unbedingt Recht, namentlich
da Master Harry, wenn es darauf ankomme, von mindestens ebenso edelm Blut
sei wie Monmouth, Ein Percy sei doch wohl so gut wie ein Stuart. Von Anfang
an seien die Stuarts ja nichts weiter gewesen als hosenlose schottische Räuber, und
die alte Königin Beß habe, weiß Gott, Recht gehabt, wenn sie sie sich immer drei
Schritt vom Leibe gehalten habe. Pfui über dieses schottische Gesindell Der alte Grenz¬
bewohner spie weit vor sich hin. Glaubt mir, Mistreß Anna, es kommt nichts gutes
für England von der Seite! Er deutete bezeichnend mit dem Mittelfinger über
den Rücken nach Norden und machte allerlei leicht durchschaubare Andeutungen auf
die Liederlichkeit und das Ärgernis erregende Leben des jungen Königs. Mistreß
Anna war toleranter: ein hoher Herr sei nun einmal ein hoher Herr und müsse so
leben dürfen wie ein solcher — dazu sei nichts zu sagen. Das hätten ihre Prinzen
vom Hause Oranien, weiß Gott, auch getan und seien deswegen nicht schlechter ge¬
wesen. Monsieur Henry würde sich auch schon einmal trösten — das täten ja alle
Männer früher oder später —, aber der Tag, an dem Lady Elizabeth sich wirklich
vermählte (die Verbindung mit dem jungen Lord Ogle zählte sie nie mit), würde
doch sicher der schwerste Tag in dem Leben ihres jungen Herrn werden, darauf
wolle sie Gift nehmen.
An jenem Märznachmittag, als Lady Northumberland so umsichtigerweise die
alte Dienerin hatte heruuterrufeu lassen, damit sie einen Becher warmen Weines mit
den „höchsten Standespersonen" tränke, sollte sie jedoch bald genug erfahren, daß
dieser „schwerste" Tag in des armen Harry Leben allem Anscheine nach bald an¬
brechen würde.
Denn in demselben Augenblick, als sie mit einer tiefen Verbeugung zur Tür
hereintrat und sich den drei Damen am Bett näherte — Lady Sophia saß mit
dem Kopfe unter dem Betthimmel, während Lady Elizabeth über das Fußende
gebeugt stand und mit den beiden trägen Pudeln spielte —, hörte sie ihre gnädige
Herrin sagen:
Antworte jetzt, Bessie — so laß doch jetzt das Tier in Frieden. Kind, es muß
sich ja erbrechen, wenn du ihm den Finger so tief in den Hals hineinsteckst! —
Antworte jetzt und mache ein Ende mit den ewigen Ausflüchten.
Weshalb gerade jetzt? fragte Lady Elizabeth unwillig, plötzlich ein wenig
nervös — sie fühlte, daß man das Netz um sie zusammenzog. Jetzt hatte sie bald
drei Wochen hindurch von nichts weiter als von dem Herrn auf Longleat reden
hören, und sie begriff wohl, daß es nicht anging, die Sache noch ferner in die Länge
zu ziehn. Die alte Gräfin war auch ungeduldig geworden — sie war nicht gewöhnt
zu warten, und jetzt hatte sie es sich in den Kopf gesetzt, daß dies hier ein Ende
haben solle.
Als von dem seligen Ogle die Rede war, verlangte niemand ein Ja oder ein
Nein von dir, sagte sie strenge. Jetzt mußt du aber wissen, was du willst. Niemand
denkt daran, dich zu zwingen, Beß, nicht einmal Seine Majestät, fügte sie mit
Salbung hinzu (sie hatte keine Spur von Respekt vor Karl Stuart), obwohl Cousine
Sophia ja die Güte gehabt hat, uns zu versichern, daß er die Partie sehr gern
sehen würde. Sie blinzelte zu Lady Sophia hinüber, die sogleich eifrig begann:
Ich kann darauf schwören, daß sowohl Se. Majestät wie auch Se. Gnaden von
Monmouth, der Sir Thomas bester Freund ist —
Lady Elizabeth stand noch da, die Hand auf den Bettpfosten gestützt, sie
biß sich in die Lippen und sah unverwandt nieder. Ist es notwendig, daß ich
mich so bald wieder verheirate? unterbrach sie ohne weiteres den Redefluß der
Cousine.
Worauf die Großmutter seufzend antwortete: Kann das jemand verwundern, daß
ich dich gern im Hafen sehen möchte, ehe ich sterbe?
Lady Elizabeth antwortete nicht sogleich — sie wandte den Kopf ein wenig
ab und begegnete eine Sekunde dem ängstlichen und gespannten Blick der alten Anna.
Ohne daß Anna es selber wußte, hatte sie die Hände über dem altmodisch ab¬
stehenden Fischbeinrock gefaltet und hielt beinahe den Atem an, während sie die
Antwort abwartete.
Lady Elizabeth errötete einen Augenblick tief, als sie dem Blick der alten Anna
begegnete, und hatte im nächsten Augenblick Lust zu lachen— oder zu weinen —
sie wußte nicht so recht, was —, aber die unnatürlich feierliche, erwartungsvolle
Stille im Zimmer machte sie zugleich rücksichtslos und beklommen.
Lady Northumberland seufzte; Lady Sophia sah aus wie eine Märtyrerin der
Erwartung und seufzte ebenfalls.
Es klang, als schlucke Elizabeth erst etwas hinunter, als sie endlich langsam
und deutlich, ohne ein eigentliches Zeichen von Gemütsbewegung antwortete: Nun
ja, wie Großmutter wünscht. Sir Thomas ebenso gern wie einen von den andern.
Lohse korwuss Minion s,n nsr xrits.
Um die Mittagszeit an einem nebligen Tage Ende März zog eine große Schar
Reiter und Wagen aus den Toren des Alnwicker Schlosses heraus. Es waren die
beiden verwitweten Gräfinnen, die zusammen mit Lady Sophia Wright und Sir
Thomas Thynne unter dem Schutze von Kapitän Percy und seinen Soldaten mit
einem Gefolge von fast fünfzig Dienern und Kammermädchen die schon erwähnte
Reise gen Süden antraten.
Dem kleinen Trupp bewaffneter Reiter voran ritt Kapitän Percy neben seiner
Verwandten, Lady Elizabeth, der einzigen der Damen, die die Reise zu Pferde
machte. Sie ritt ein feingliedriges arabisches Pferd, das Seine Majestät selbst vor
einiger Zeit aus Tanger hatte einführen lassen; ihr Kleid war grün mit einem
weißen Schulterknoten, von dem Schnüre auf die rechte Schulter hinabfielen — so
wie es sonst die Herren trugen —, und auf dem Kopfe hatte sie einen Hut mit
hohem Kopfstück, den lange, weiße Federn schmückten. Über die Schultern hing ein
kurzer Kragen aus dem gelben Marderfell, das ihr Lieblingspelzwerk war, und an
den Händen trug sie lange gestickte Musketierhandschuhe mit Fransen. Inmitten
aller der Reiter in ihren groben Wämsern und mächtigen Stiefeln und neben dem
brünetten Henry Percy auf seiner hohen flandrischen Stute erschien sie noch mädchen¬
hafter und schmächtiger als sonst.
Nach ihnen kam die große Familienkutsche aus Petworth, mit sechs Pferden
bespannt und mit Postillonen und Lakaien bemannt. Darin saßen Lady Northumber¬
land, Lady Sophia und Sir Thomas Thynne sowie eine „Gentlewoman". Die
übrigen aufwartenden Damen, der Hofmeister und das Service folgten in einer
andern Karosse. An diese schlössen sich noch eine Schar Reiter an, von denen
mehrere Sir Thomas Livree trugen, und schließlich ein Dutzend Packpferde sowie
Sir Thomas leere Reisekutsche. Er wollte die Damen nur bis Aork begleiten und
dann einen Abstecher nach seinem Besitz Essingwood an der Wharfe machen, bevor
er in London wieder mit seiner Braut zusammenträfe.
Es hatte in der Nacht gefroren, und die Erde war noch hart, auf der Holz¬
brücke über die Ale lag eine dünne Schicht weißen Reiss. Kapitän Percy wandte
sich um und rief: Laßt Lady Elizabeth zuerst hinüberreiten, ehe die schweren Wagen
über die Brücke gehn.
Die Planken dröhnten unter den vielen Pferdehufen, die Sonne brach plötzlich
durch den Nebel, das Wasser blitzte zwischen den Brückenpfählen, und über den
dunkeln, blätterlosen Bäumen des Waldrandes lag ein frühlingsmäßiger, rotbrauner
Farbenton ausgegossen. Lady Elizabeth wandte den Kopf ab und warf noch einen
letzten Blick auf die gezackten Wälle und die breiten Türme des Schlosses. Die
steinernen Krieger auf dem Wachtturm hoben sich schwarz von dem jetzt blauenden
Himmel ab.
Adieu, mein Alnwick! sagte sie und winkte munter mit der Hand.
Ihr Pferd strauchelte, als es die Vorderhufe auf das gegenüberliegende Ufer
setzte, und würde gefallen sein, wenn Kapitän Percy es nicht mit einem kräftigen
Griff wieder auf die Beine gebracht hätte. Er sah mürrisch aus und fluchte un¬
geduldig: Die verteufelte fremdländische Mähre!
Aber Clelia! sagte Lady Elizabeth vorwurfsvoll zu dem Pferde. Sie bog sich
vornüber und streichelte es. Dann wandte sie sich lächelnd an Henry Percy: Was
soll ich nur machen, Harry, wenn ich dich nicht mehr zur Seite habe?
Dich auf einen andern verlassen, sollte ich meinen, erwiderte er kurz.
Seit er durch Anna gehört hatte, daß Lady Elizabeth jetzt mit einem bestimmten
Ja auf Sir Thomas Freierei geantwortet, hatte er sie gemieden. Und tödlich verletzt,
wahnsinnig eifersüchtig, aber viel zu klug, viel zu klar über seine Stellung, als daß er
seinem Zorne Lauf gelassen hätte, hatte er sich sofort zurückgezogen und war formell
und zurückhaltend geworden. Sie hingegen hatte während dieser vierzehn Tage ihr
Benehmen ihm gegenüber nicht im geringsten verändert und schien gar nicht verstehn
zu wollen, daß das Verhältnis zwischen ihnen in Zukunft anders werden könne oder
müsse, während er — unglücklich, empört, gepeinigt durch seine mit jedem Tage
wachsende Neigung für die Pflegeschwester — niemals, wieviel er auch darüber nach¬
sann, klug daraus werden konnte, ob die vertraute Zärtlichkeit, mit der sie ihn nach
wie vor rücksichtslos überschüttete, nur eine kindisch egoistische Gewohnheit war oder
ein unverkennbares Zeichen, daß sie, auch als erwachsene Frau, ihn allen andern
Männern vorzog. Da Lady Elizabeth gewöhnt war, sich souverän in ihrem Hause
zu fühlen, jeden Beweis von Huld, den sie gab, mit fast serviler Dankbarkeit auf¬
genommen zu sehen, so fiel es ihr niemals ein, sich auch nur den geringsten Zwang
aufzuerlegen. Henry Percy mit seiner Empfindlichkeit und Grandezza, mit seinem
Puritanischen Gewissen und der Abneigung, seine innersten Gefühle zu entblößen,
War verzweifelt über ihren Mangel an Schamhaftigkeit, und es verletzte seinen Stolz
als Mann tief, unaufhörlich wie ein Page oder ein Hund geliebkost zu werden.
Und doch — wenn sie sich ausnahmsweise einmal etwas weniger zart, weniger auf¬
richtig in ihrer Zärtlichkeit zeigte, klagte er sie in seinem Innern sofort der Kälte und
Unbeständigkeit an' und erlitt alle Qualen eines verschmähten Liebhabers — bis sie
ihm wieder, handgreiflich und unzweideutig. Beweise dafür gab, wie sehr sie ihn
liebte. Dann war er immer im ersten Augenblick leidenschaftlich dankbar, im nächsten
gedemütigt, im dritten zornig und oft bitter verzweifelt.
Der Gedanke an die unvermeidliche Reise nach London war ihm lange zu¬
wider gewesen, denn als echter Landbewohner graute ihm ihretwegen mehr vor
London als vor der Hölle selber. Sie, die so impulsiv war, so warm, so neu¬
gierig, so vergnügungssüchtig, so bestechlich für Schmeicheleien und so unschuldig
treuherzig — was würde wohl aus ihr werden an Karls des Zweiten in Grund
und Boden verderbtem Hof, von dessen Mangel an guten Sitten und Moral er
°se so haarsträubende Geschichten gehört hatte? Würde sie nicht sofort eine Beute
des ersten besten routinierten Verführers werden, der ihr in den Weg kam? War
es nicht ein unverantwortlicher Seelenmord, sie allein und unbewacht nach diesem
Sodom zu schleppen? Ja, allein — denn Lady Northumberland war zu strenge, zu
weltlich, indolent und alt, als daß sie sich ihrer Enkelin richtig angenommen hätte, und
was Lady Sophia anbetraf, so war sie als Beraterin für ein junges Mädchen schlimmer
als gar keine. Kam Elizabeth erst nach London, so war sie — das wußte er — für
ihn auf immer verloren, ja überhaupt verloren. Denn es war ja eine ganz offen¬
kundige Tatsache, daß in des Königs nächstem Kreise keine Frau geduldet wurde,
die sich nicht geschmeichelt fühlte, dem Beispiel der Maitressen Seiner Majestät zu
folgen. Der Begriff Schande existierte nicht mehr in Whitehall, wo die Herzogin
von Cleveland, die schamlose Barbara Palmer und ihre Kumpanin aus Portsmouth,
die, wie die ganze Welt wußte, gekauft und verkauft war, größere Ehren genoß
als Prinzessinnen von Geblüt. Würde es nicht tausendmal besser für sie sein, wenn
er, der sie liebte, und den sie liebte — wenn er — solange es noch Zeit war .. .?
Lady Elizabeths Gatte konnte er nicht werden, das wußte Harry sehr wohl
— die letzte Erbin des Jarls von Northumberland verheiratete sich nicht mit einem
armen Bastard —, aber ihr Geliebter konnte er werden, sobald er nur wollte. Das
war vielleicht mehr, als sie selber wußte — aber er wußte es. Und die Tausende von
malen, wenn sie — wie sie es mit einem Ausdruck aus ihrer Kinderzeit nannte —
„mit ihm spielte", hatte er, beschämt über seinen eignen Mangel an Ritterlichkeit
und Beherrschung, sich diese Möglichkeit ausgemalt. Wenn er nur ein einziges mal
seinen Gefühlen Luft machen konnte. ... Er kannte sie. Ach, meine kleine Eliza¬
beth, meine kleine übermütige und sorglose Lady Elizabeth, die da glaubt, daß
Harry Percy nicht viel besser als ein Knecht ist, und daß die Erde lange nicht
gut genug für sie ist, um darauf zu treten, sondern die am liebsten in den Wolken
promenieren möchte, wenn sie es könnte — wenn es schließlich darauf ankommt,
ist sie doch aus demselben Stoff geschaffen wie ich und die Erde. Nur feiner —
viel feiner. . .
Aber Harry Percy kannte sie nun doch lange nicht so gut, wie er es sich ein¬
bildete, und sie war weder so schuldig noch so unschuldig, wie er glaubte. Während
er so über den innersten Wert ihrer Gefühle grübelte und ihr Benehmen auf alle
möglichen subtilen Beweggründe zurückführte, war sie in Wirklichkeit nicht viel mehr
als ein wildes, ausgelassenes Kätzchen, das blindlings der Natur eines solchen
Kätzchens folgte: es schmiegte sich an seinen Herrn. Denn ihr Herr, das fühlte sie
dunkel, war er — er und kein andrer. Und sie liebte ihn wohl auch; aber nicht
so sehr, daß sie gelernt hatte, schamhaft zu sein, und auch nicht so wenig, daß sie
Lust hatte zu krausem. Sie war sich nicht klar über sich selbst und wünschte es
auch nicht zu sein; natürlich konnte sie sich nicht mit Harry verheiraten, davon
konnte keine Rede sein, und natürlich mußte sie sich mit einem andern verheiraten,
aber . . . aber . . .
Wenn Lady Elizabeth in ihren kleinen geheimen Betrachtungen so weit ge¬
kommen war, pflegte sie es regelmäßig zu vermeiden, sie weiter zu verfolgen. Es
geschah in der Regel des Abends nach irgendeiner Szene mit Harry, daß „es ihr
einfiel, daran zu denken". Wenn sie ein wenig gedacht hatte, pflegte sie zu lächeln,
die Arme über dem Kopf in die Höhe zu strecken, zu gähnen (nicht recht natürlich)
und zu versuchen, einzuschlafen. Nach einer Weile wandte sie sich dann wieder um
und bohrte den Kopf noch tiefer in das Kissen. Ihre Kammerjungfern behaupteten,
sie schlafe mit einem Grübchen in der Wange, in der einen Wange, die sie sehen
konnten. Sicher ist es, daß sie in der Regel mit einem Lächeln erwachte, und sie
erwachte niemals klüger, als sie eingeschlafen war. Die alte Anna sprach ihr er¬
mahnend zu, wenn sie des Morgens in die Stube der Alten schlich, um einen
Schluck Kaffee zu bekommen, welchen modernen und jetzt so hochgepriesnen Trank
Lady Northumberland — die noch auf alte Weise ihr Morgenbrot in Fruchtsaft
tauchte — für giftig und verderblich hielt, Lady Elizabeth liebte Kaffee, fie trank
ihn aus der Untertasse, wie auch Anna es tat, und mit braunem Zucker dazu.
Wenn sie so rechten Genuß davon haben wollte, kroch sie auf eine Truhe, die Füße
auf einem Stuhl, und saß da und guckte auf das breite Fenster hinab, wo die
holländischen Blumenzwiebeln üppig und blühend standen.
Meines Herzens Herzchen (eceur av wen eceur, das war Annas Kosename
für ihre kleine Herrin) denkt nicht daran, daß Monsieur Henry ein Percy ist wie
sie selber und viel warmblütiger als sie, weil er ein Mann ist. Ich sage ihr, es
wird ein Tag kommen, wo er sich nicht mehr darein finden wird, sondern sich auf¬
richtet wie ein durstiger Löwe.
Lady Elizabeth saß da, die Ellenbogen auf ihre in die Höhe gezognen Knie
und das Kinn gegen beide Hände gestützt.
Wenn er das nur wollte, sagte sie.
Ja ja, sagte die alte Anna und schüttelte den Kopf. Sie war selber erstaunt
über ihr Gleichnis mit dem Löwen, zu dem das Schild über dem Tor gegenüber
sie inspiriert hatte.
Was sagst du zu ihm, fragte Lady Elizabeth ganz natürlich, wenn ihr von
mir redet?
Wir sprechen nie von Euch, mein Herzchen. Das sollte ich nur versuchen.
Er zieht die Augenbrauen in die Höhe und sieht aus, als wolle er mich auffressen,
wenn ich nur Euern Namen nenne.
Aber worüber sprecht Ihr denn? sagte sie mißtrauisch. Er kommt doch so
oft hier herein.
Über nichts, Mylady. Er sitzt hier und schweigt. Dort im Stuhl, die langen
Beine auf dem Fußboden ausgestreckt. Er kommt nur hierher, um in Frieden zu
sein, und er weiß, daß meine Augen nicht böse sind.
Zuweilen brachte die Alte Lady Elizabeth zum Weinen und veranlaßte sie, sich
zu verteidigen:
Es ist Harrys eigne Schuld, sagte sie. Ich bemühe mich immer, gut gegen
ihn zu sein und ihn zu trösten.
Die alte Anna rümpfte die Nase.
Man soll nicht an Wunden rühren, sagte sie. Man mag Salz oder Zucker
hineintun, es tut immer gleich weh.
Nicht gleich, murmelte Lady Elizabeth, beständig mit niedergeschlagnen Augen.
Wäre es nicht viel schlimmer für Harry, wenn er nicht wüßte, daß ich ihn lieber
habe als die andern? . . . Sie saß eine Weile schweigend da, dann sagte sie leise:
Sage ihm das von mir. Mich will er nicht mehr anhören.
Darin tut er recht, Mylady, sagte das alte Mädchen würdig. Und den Gruß
bestelle ich ihm nicht. Wäre ich wie Ihr, so spräche ich nicht mit ihm.
Ich glaube nicht, daß er fröhlicher sein würde, wenn du ich wärest, sagte
Lady Elizabeth herzlich und strich zärtlich mit der Hand über die alte runzlige
Wange.
Besser wäre es auf alle Fälle, murmelte die Alte bitter.
Nein, sagte Lady Elizabeth bestimmt mit mutiger Überzeugung — glücklich
über ihre eignen feinen Wangen und klaren Augen und alles, was an ihr war. Nein,
«ein und abermals nein!
Und an dieser Ansicht hielt sie fest. Weder Harry noch sie konnten etwas
°°s"r, daß es so war, wie es nun einmal war — wie es gewesen, als sie geboren
wurden und seit Erschaffung der Welt. Aber sie — sie urteilte nach sich selber —.
sie wollte nicht, daß weil sie sich mit Sir Thomas Thynne verheiratete, Harry
anders sein sollte, als er war, und aufhören, sie lieb zu haben. Disteln wachsen
immer genug auf unserm Wege, wie im Andachtsbuch steht, räsonierte sie, weshalb
soll man Angst davor haben, Rosen zu berühren, weil sie Dornen haben, und es
keine Rosen ohne Dornen gibt? Nein, man muß sie so nehmen, wie sie sind. . . .
Das war die Hauptsumme von dem, was die Welt Elizabeth Percy gelehrt
hatte, das war ihre Philosophie, und an die hielt sie sich — bis auf weiteres.
Deswegen ritt sie nun so unbekümmert und so neckisch an Harrys Seite über
die Brücke, hinaus in die weite, weite Welt, und deshalb konnte sie dem festen
Schloß, das ihre Kindheitserinnerungen und ihre ersten Jugendtrcimne barg, so
vÄVsIiersment, Lebewohl zuwinken. Elizabeth Percy fürchtete sich nicht vor der
weiten, weiten Welt, Harry konnte ihretwegen sein, was er wollte — auch war
sie nicht bange, sich darin zu verlieren. Wenn sie wieder nach Hause kam, so
würde sie, davon war sie fest überzeugt, die Schürze voll von Disteln, Rosen und
Dornen haben. Sie freute sich ans die Ernte — das tat er aber nicht.
Ich hätte ein Mann sein sollen, Harry, sagte sie auf dem Wege zu ihm, denn
an diesem Tage war sie in der Stimmung, daß sie alles sagte, was ihr einfiel.
Ein Ritter mit Schwert und Sporen, ömpima-eus smrubkrms — sie stemmte barsch
die Hand in die Seite und zwinkerte mit den Augen, die der Morgensonne ent¬
gegenstrahlten. Und du armer Harry, der du so bange bist und Herzklopfen be¬
kommst, wenn wir die Zinnen von Alnwick und die Tulpen in Mistreß Annas
Zimmer nicht mehr sehen — du hättest meine Braut sein sollen, die mit Spindel
und Nadel auf mich wartete. . .
Eine weniger treue hättet Ihr haben können, Lady Elizabeth, sagte Harry,
aber sie sah, daß die Lippe unter dem dünnen, schwarzen Bart, auf den die Mode
jetzt den Schnurrbart eines Mannes reduziert hatte, anfing, sich zu einem Lächeln
zu kräuseln.
Und eine weniger es,rcmebo, sagte sie listig mit einem langen und schelmischen
Blick unter den Brauen, sodaß der arme Harry völlig den Kopf verlor.
Ich glaube nicht, daß Ihr Euch über meine eräsur beklagen würdet, sagte
er warm, falls . . .
„Falls" . . . „falls", immer „falls"! Komm, laß uns dort über die Hecke setzen!
Mit jeder Hecke springen wir über ein „falls" . . .
Sie gab dem Pferde die Zügel, stürmte über Felder und Zäune dahin. Der
Nebel war nun völlig einer strahlenden Sonne gewichen, und der Lenzwind fegte
den Himmel rein wie einen Spiegel. Nur im Schatten lag noch Reif am Boden.
Harry folgte ihr — alle die andern waren schon weit hinter ihnen zurückgeblieben.
Plötzlich hielt sie an — atemlos, rot im Gesicht, das Haar um die Wangen
hinabfallend, den grünen Hut tief über dem einen Ohr.
Dies ist Leben! ... Sie schnappte nach Luft und preßte die Hand aufs Herz.
Du großer Gott — England ist viel zu klein für mich, Harry. Wenn wir in
diesem Tempo weiter reiten, sind wir bald in Dover — und dann ... Sie machte
eine Bewegung, als versuche sie, das Pferd zurückzuhalten.
„Und dann" . . . kaltes Wasser! sagte er lakonisch. Aber auch seine Augen
strahlten, und einen Augenblick hatte er — wie er dort allein mit ihr auf der
Landstraße ritt — ein Gefühl, als sei es ihnen wirklich gelungen, gemeinsam über
alle die „falls" hinwegzusetzen.
Ich freue mich auf diese Reise, sagte Lady Elizabeth ruhiger mit einem glück¬
lichen Seufzer. Harry half ihr, den Hut zu befestigen, und war so davon in
Anspruch genommen, daß er wirklich anfänglich nicht recht hörte, was sie sagte.
Allmählich aber wurde es ihm klar, was sie gesagt hatte, und sein Antlitz ver¬
finsterte sich:
Ja, auf die Reise ... Er sagte nichts weiter, aber sie wußte, was er meinte.
Daß du auch nie lernen kannst, Harry — sie sah ihm in die Augen, und
ihre Stimme war so weich, ihr Blick so warm —, dich an der Sonne zu wärmen,
wenn sie scheint. Und das ist doch so einfach!
(Fortsetzung folgt)
So entschieden die deutschen amtlichen Kreise die tendenziösen Ausstreuungen
über eine von der deutschen Seite beabsichtigte Einmischung in die innern Schwierig¬
keiten Rußlands zurückgewiesen haben, ebenso sicher ist die Tatsache, daß, wo immer
in dem Gedankenaustausch der beiden Kaiser deutsche Ratschläge verlangt wurden,
sie im Sinne einer freiheitlichen, verfassungsmäßigen Lösung erteilt worden sind.
Alle gegenteiligen Behauptungen stehn im direkten Widerspruch zur Wahrheit.
Gewiß hat Deutschland aus den verschiedensten Gründen ein Interesse daran, die
schwere Krisis, die Rußland durchschreitet, abgekürzt zu sehen. Die bedenkliche Er¬
schütterung der staatlichen Autorität im Nachbarlande, der chaotische Zustand, worin
Untreue, Raub, Mord. Plünderung. Vergewaltigung aller Art ungestraft immer
weiter um sich greifen, die dadurch hervorgerufne Störung oder Erschwerung aller
wirtschaftlichen Beziehungen — können für Deutschland nicht gleichgiltig sein. Dazu
gesellen sich dann noch die Folgeerscheinungen auf internationalem Gebiet, die zu
einem vollständigen Zusammenbruche Rußlands führen. Zur Zeit des Burenkrieges hatte
Kaiser Nikolaus das Versprechen gegeben und gehalten, die schwierige Lage Englands
nicht ausnutzen zu wollen. England dagegen versteht es. aus der Notlage Rußlands
reichen Nutzen zu ziehen. Die Anglisierung Ägyptens, der Konflikt mit der Türkei
wegen der Sinaihalbinsel, die Stellungnahme zu dem von der Türkei verlangten
dreiprozentigen Zollausschlag und die englische Einmischung in die innern Angelegen¬
heiten Persiens unter völligem Schweigen Rußlands — sind deutliche Symptome
dieser Lage. Namentlich in Persien scheint die englische Politik eine Situation vor¬
zubereiten, aus der die Absicht, Persien zu ägyptisieren, nur allzu erkennbar hervor¬
leuchtet. Die britische Politik hat aus dem russisch-japanischen Kriege und aus der
russischen Revolution einen doppelten Nutzen zu ziehen verstanden: England hat sich
sur führenden Macht in Europa gemacht, mit weit gesteckten Zielen, denen es und
umfassender Energie rücksichtslos zustrebt. Es hat sich mit Japan verbündet Frank¬
reich und Italien in sein Schlepptau genommen, sein Premier hat kein Bedenken
^tragen, durch den in einer amtlichen Rede getaner Ausruf: Die Duma ist tot,
es lebe die Duma! - die russische Revolution der Sympathie Englands zu versichern
der russischen Regierung gegenüber zum mindesten den moralischen Busen
Großbritanniens zuzusagen. Mag das immerhin eme Art Revanche für dre russische
Absage des englischen Flottenbesuchs gewesen sein, eine Absage, die unter den
obwaltenden Umständen jedenfalls selbstverständlicher und natürlicher war als die
beharrliche Ankündigung des Besuchs, so liegt darin immerhin eine nicht unbedenk¬
liche Stellung gegenüber der bis dahin so eifrig umworbnen russischen Regierung.
Vielleicht glaubt der englische Premier ihrer ohnehin sicher zu sein.
Man muß dabei die ganze innere Lage Rußlands in Betracht ziehen. Die
Auflösung der Duma ist in dem Augenblicke erfolgt, als sie ihre Unfruchtbarkeit
vor der Öffentlichkeit zur Genüge gezeigt hatte, und die Gefahr akut geworden war,
daß die radikalen Elemente die Duma mit fortreißen würden, um ihre Konstituierung
als Konvent herbeizuführen. Im Gegensatz zu den Revolutionen in andern Ländern
war es der russischen noch nicht gelungen, die Herrschaft in der Hauptstadt in die
Hand zu bekommen, sie bewegte sich gewissermaßen auf der Peripherie, ohne sich
den Mittelpunkt des Reiches unterwerfen zu können. Nach der Absicht der russischen
Nevvlutiouspcirtei sollte die Duma nicht ein Mittel sein, durch das mit einer ver¬
ständigen Gesetzgebung eine neue gesetzliche Ordnung in Rußland hergestellt würde,
sondern sie sollte das Zentrum der Revolution, ihr Haupt werden. Sobald nach
dieser Richtung hin kein Zweifel mehr bestehen konnte, erfolgte die Auflösung im
richtigen Augenblick und in der richtigen Form, unter Vermeidung aller sensationellen
Vorgänge. Es darf heute wohl als sicher gelten, daß die Duma von den Revo¬
lutionären dazu bestimmt war, an die Spitze der revolutionären Erhebungen zu
treten, die für verschiedne Punkte geplant und vorbereitet waren, und dann soweit
als möglich die Revolution in Petersburg selbst zu entfesseln. Die Auflösung durch¬
kreuzte diese noch in der Vollendung begriffnen Pläne. Die Meutereien in Sveaborg,
Kronstäbe usw. sind nicht etwa eine Folge der Dumaauflösung. Der Waffenschmuggel
nach Finnland ist seit langer Zeit betrieben worden, Sveaborg war ein teils ver¬
späteter, teils verfrühter Ausbruch, man gedachte die Regierung durch eine sorg¬
fältig angelegte Meuterei der Truppen zugleich an den verschiedensten Punkten zu
überraschen, eine revolutionäre Erhebung in Petersburg sollte das Werk „krönen"
und die Duma das Haupt der siegreichen Revolution sein.
Was von diesen Plänen noch Aussicht auf Verwirklichung hat — muß abge¬
wartet werden. Bisher ist die Regierung noch immer Siegerin geblieben. Sie
hat vielleicht guten Grund zu der Annahme, daß die Elemente der Bevölkerung,
die der „Revolution" und der damit verbundnen wirtschaftlichen Störung längst
herzlich müde sind, stetig wachsen und bald hinreichend stark genug sein werden,
den revolutionären Erhebungen den Boden zu entziehn. Die Gewißheit, daß eine
entschlossene und tatkräftige Gewalt ungebrochen an der Spitze des Staates steht,
vermöchte viel dazu beizutragen. Selbstverständlich können nicht mitten im Taumel
der Revolution Zugeständnisse gemacht werden, die nur gegen die Festigung der
Ordnung ausgenutzt werden würden. Erst Ruhe, und dann Konzessionen! Mit
diesem Standpunkt, den er einnimmt, ist der Premierminister Stolypin völlig im
Recht, das Gegenteil würde eine Mißachtung aller Lehren der Geschichte sein. Die
Revolution kann nicht mehr versöhnt, die Gefahr nicht mehr durch Zugeständnisse
beschworen werden, jetzt heißt es durchhalten, aber der Bevölkerung zugleich die
Gewißheit geben, daß der schließliche Sieg die Durchführung der verheißnen Re¬
formen, ja auch ihre Erweiterung verbürgt. Wir können in Deutschland eine solche
Zukunft für Rußland nur aufrichtig wünschen, gleichviel ob ein verfassungsmäßig
regiertes Rußland slawischer und deutschfeindlicher als das heutige absolutistische sein
wird. Für Rußlands internationale Politik werden auch in Zukunft seine inter¬
nationalen Interessen maßgebend bleiben, die Deutschlands doch in mehr als
einer Beziehung bedürfen.
Von um so größerer Wichtigkeit wird für uns das Gebiet der Polenpolitik.
Ein verfassungsmäßig regiertes Rußland wird im Schoße seiner Vertretung eine
starke polnische „Intelligenz" haben, die sehr bald auf den „polnischen Landtag" in
Warschau als Zukunftsbild eines polnischen „Reichstages" hinarbeiten wird. Es
ist keineswegs ausgeschlossen, daß die russischen Polen, wenn auch zunächst nicht einen
autonomen Landtag, so doch einen entwicklungsfähigen Provinzicillandtag erreichen^
je nachdem der nationalrussische Gedanke künftig bei der Regierung und der Volks¬
vertretung Rußlands stärker oder schwächer sein wird. An Persönlichkeiten, die zu
weitgehenden Konzessionen an die Polen bereit waren, hat es in der obersten Sphäre
Rußlands nie gefehlt, die Polen selbst haben durch törichte Überspannung ihrer
Ziele das Erreichbare verscherzt. Immerhin werden wir uns damit vertraut zu
machen haben, daß in einer der vielen Phasen, die die Wiedergeburt Rußlands
voraussichtlich noch zu durchlaufen hat, die national-polnische Frage stärker in den
Vordergrund treten wird. Bei dem außerordentlich expansiven Charakter, den die
polnische Bewegung bei uns angenommen hat, und der nicht nur im Wachstum der
Zahl der polnischen Bevölkerung, sondern auch im Wachstum ihres Wohlstandes
und in ihrer örtlichen Verbreitung zum Ausdruck gelangt, wäre unvermeidlich damit
zu rechnen, daß eine starke national-polnische Bewegung in Russisch-Polen, nicht eine
sozialrevolutionäre, bei unsern Polen ein lebhaftes Echo wecken würde. Der Effekt
wird davon abhängen, wie in Galizien die Drähte gezogen werden, für die national¬
polnische Bewegung sind die Lemberger Jesuiten und ihre reichen Mittel ja wesentlich
entscheidend. Leider haben wir unsre polnische Bevölkerung durch den unaufhör¬
lichen Zuzug aus Russisch-Polen und Galizien verstärkt, dessen die Landwirtschaft
in Posen, Westpreußen und Oberschlesien nicht entraten zu können glaubt. All¬
mählich ist daraus die starke Abwanderung nach Westen entstanden, weil die west¬
liche Industrie die polnischen Arbeiter lange Jahre hindurch als einen Jungbrunnen
gegenüber der Sozialdemokratie begrüßte. Heute ist das schon wesentlich anders
geworden. Die Abwanderung nach dem Westen hat nicht etwa eine Verminderung
des polnischen Zuwachses in Posen, Westpreußen und Schlesien zur Folge gehabt.
Im Gegenteil, er geht unaufhaltsam weiter, hat auch in den mittlern Provinzen
Preußens mit starken Gruppen festen Fuß gefaßt und steht im Begriff, nachdem er
mit Erfolg begonnen hat, Oberschlesien durch den Stimmzettel zu erobern, sich über
ganz Schlesien zu ergießen. Die Ersatzwahl in Kattowitz-Zabrze mit den für den
Nationalpolen Napieralski abgegebnen 26000 Stimmen, diese Eroberung eines alten
Zentrumswahlkreises durch die polnische Agitation und die im „Katolik" von einem
Geistlichen ergangne Ankündigung, daß „das nationale Empfinden" des oberschlesischen
Volkes endlich zum siegreichen Durchbruch komme und die Waffen weder vor der
Geistlichkeit noch vor dem Bischof strecken werde, zeigen deutlich, daß die polnische
Agitation zu einer Gefahr angewachsen ist, gegen die die bisherigen Mittelchen
nichts mehr helfen. In Oberschlesien hat es vor dreißig oder vierzig Jahren Polen
nur in einer kaum nennenswerten Anzahl gegeben. Gewiß sind unter normalen Ver¬
hältnissen die 3V-- Millionen polnischer Preußen keine Gefahr für den Staat, aber
sowohl bei ernsten innern Gäruugen wie bei internationalen Verwicklungen würden
sie in ihren Reihen eine nicht unbedenkliche Masse schwieriger, wenn nicht feindlicher
Elemente bergen.
Die Enthüllungen über die tief bedauerlichen Mißstände in der Kolonialverwaltung
haben dazu geführt, daß die Erkenntnis der Notwendigkeit, der völlig unsachgemäßen
Organisation der obersten Kolonialbehörde ein Ende zu machen und ihr eine ihrem
Geschäftskreise wie ihrer Verantwortlichkeit entsprechende Form zu geben, nachgerade
ziemlich allgemein geworden ist. Sogar der Vorwärts muß sich aus seinem eignen
Lager darüber belehren lassen, daß die Organisation der Kolonialverwaltung keine
politische, sondern eine administrative Frage sei, und daß, nachdem wir die Kolonien
einmal haben, sie auch so gut und zweckmäßig als möglich verwaltet werden müssen.
Sodann ist man sich auch wohl allseitig darüber klar, daß eine Militärverwaltung
nicht ein Zweig einer Zivilbehörde sein kann. Das ging wohl allenfalls, so lange
in Südwestafrika fünfhundert Reiter standen und zum Offizierkorps nicht wie in
den letzten Jahren durchweg erstklassige Persönlichkeiten gefordert wurden. Der
von. vornherein zu lose und deshalb falsche Begriff der „Schutztruppe", der eine
Mischung von Polizei und Militär war, anstatt ein festgcgliedertes und festgefußtes
Regiment zu bedeuten, trägt an manchen bedauerlichen Vorgängen der frühern Jahre
ebenso einen Teil der Schuld wie an der ganzen schiefen Entwicklung, die diese Verhält¬
nisse später genommen haben. Truppen gehören — auch bei Errichtung eines
Kolonialamts — unter das Kriegsministerium und sind in ihrer Bestimmung,
Zusammensetzung usw. von vornherein von der Polizei zu scheiden. Der „Schutz¬
truppe" fehlte drüben „das Offizierkorps", das seinen Mitgliedern den festen Halt
zu geben vermochte. Prüft man die ganze Entwicklung rückwärts bis zu ihrem Aus¬
gangspunkt, so kommt man unwillkürlich zu dem Schluß, daß die Organisation der
Kolonialverwaltung schon in ihrem ersten Zuschnitt verdorben war. Sie fing mit einem
vortragenden Rat an. Der war der Geheime Legationsrat Kayser, der damals
im Auswärtigen Amt die Rolle des politischen Mädchens für alles hatte, wie er
es selbst bezeichnete, als er sich klagend über diese neue Funktion äußerte. Später
wurde unter Caprivi der Kolonialdirektor daraus, der aber auch bei direktem Vor¬
trag nach wie vor dem Auswärtigen Amt dienstlich unterstellt blieb. Als Fürst
Hohenlohe Reichskanzler wurde, bezeichnete er bereits eine selbständige oberste
Kolonialbehörde als notwendig, es blieb aber dabei. Überbürdet und überärgert
zog sich Ministerialdirektor Kayser schließlich in den ersehnten Ruhehafen des Reichs¬
gerichts zurück; wie schwer er zu ersetzen war, ist bekannt. Kayser hat in seiner
kolonialamtlichen Tätigkeit mit großem Fleiß, vieler Hingebung und noch größerer
Resignation gearbeitet, aber die geeignete Persönlichkeit ist er ungeachtet unleugbarer
Verdienste wohl nicht gewesen. Er selbst hat daraus kein Hehl gemacht. Jetzt ist
darüber, wie über seinem Grabe, das manche bittere Erfahrung einschließt, längst
Gras gewachsen.
Das Auftreten des Prinzen Georg von Bayern in der bayrischen Reichsrats¬
kammer hatte der Nationalzeitung Veranlassung zu einer Äußerung darüber gegeben,
daß die preußischen Prinzen nicht als Mitglieder des Herrenhauses an dem parla¬
mentarischen Leben ihres Landes teilnahmen. Die Kreuzzeitung hat darauf erwidert,
daß bei der Bildung der Ersten Kammer König Friedrich Wilhelm der Vierte die
Berufung der Prinzen seines Hauses vorbehalten habe, daß sie aber nicht erfolgt
sei, um Unstimmigkeiten zu vermeiden, die das Auftreten der Prinzen in der Ersten
Kammer hätte zur Folge haben können. Die Nationalzeitung findet diese Bemerkung
sonderbar, es ist aber doch zur Genüge bekannt, daß des Königs ältester Bruder,
der Prinz von Preußen, der nachmalige erste deutsche Kaiser, zu der Regierung seines
Bruders seit 1850 oft in recht scharfer Opposition stand und in der Kammer dieser
Ansicht sicherlich einen offnen und weithin hallenden Ausdruck gegeben haben würde.
Die Memoiren des Generals von Gerlach sowie die Veröffentlichungen aus dem
Nachlasse des Ministerpräsidenten von Manteuffel haben darüber hinlänglich Licht
verbreitet. König Wilhelm der Erste hat in dieser Frage keinen andern Stand-
Punkt eingenommen als sein Bruder. Auch unter seiner Regierung ist keine Be¬
rufung von Prinzen in das Herrenhaus erfolgt, vielleicht ist er es auch gewesen, der
Friedrich Wilhelm den Vierten bestimmt hat, von der vorbehaltnen Berufung ab-
zusehen. Seine Motive hat er als Prinz von Preußen in einem Schreiben aus
Koblenz, 24. Februar 1853, an den Ministerpräsidenten von Manteuffel nieder¬
gelegt. Er sagt darin: „. . . Ich habe den König gebeten, mich dabei (der
Konstituierung der Ersten Kammer) hören zu wollen, weil die Sache wegen der
Prinzipien und Persönlichkeiten so enorm wichtig für die ganze Zukunft Preußens
ist. Ich hoffe. Sie werden nichts gegen diesen Wunsch haben. Ich glaube u.a.,
daß es sehr wünschenswert wäre, wenn die Prinzen des Königlichen
Hauses nicht Mitglieder wären, weil ihre Position zum König und
Gouvernement oft eine sehr schiefe werden kann; und dann der Eid!
Wir Prinzen schwören keinen Militäreid, können also auch keinen Konstitutionseid
schwören!" Als Regent hat der Prinz dann diesen von der Verfassung vorge-
schriebnen Konstitutionseid dennoch geleistet, in manchen Hofkreisen hatte die Er¬
wartung bestanden, daß die Regentschaft an der Eidfrage scheitern werde. Wenn
der Prinz als König trotzdem eine Berufung nicht vorgenommen hat, so mag der
wichtigste Grund der gewesen sein, daß er seinen Nachfolger und die sonst für die
Thronfolge in Betracht kommenden Agnaten nicht durch einen Eid auf die Ver¬
fassung im voraus binden und festlegen wollte; auch mag es ihm nicht zulässig
erschienen sein, Prinzen des Königlichen Hauses zu Mitgliedern einer Kammer zu
machen, deren Majorität von der Krone je nach Anraten des Ministeriums beliebig
geändert werden kann, aus politischen Notwendigkeiten vielleicht geändert werden
muß. Die Behandlung, die dann der Ministerpräsident Fürst von Hohenzollern
gelegentlich der Grundsteuerdebatten im Herrenhause erfuhr, mag mit dazu bei¬
getragen haben, die Ansicht des Königs dauernd festzulegen. Auch König Friedrich der
Dritte und der jetzt regierende König von Preußen sind von dem Standpunkt ihrer
Vorgänger in dieser Frage nicht abgewichen. Die Prinzen Friedrich Karl und
Albrecht von Preußen sind bekanntlich Mitglieder des Reichstags gewesen, der
Kronprinz hatte eine ihm angetragne Kandidatur abgelehnt. Aber diese Mitglied¬
schaft war möglich, weil die Reichsverfassung weder vom Kaiser noch vom Reichs¬
tage beschworen wird.
Der Gegensatz zwischen dem Regenten und dem Minister war unbeschadet der
Anerkennung für treue Dienste in schwerer Zeit so groß, daß als Manteuffel nach
Eintritt der Regentschaft den Abschied erbat, er in seinem Gesuche dem Prinzregenten
den Wunsch aussprach, von jedem Gnadenbeweise absehen zu wollen. Der Regent hatte
ihm in einem die offizielle Mitteilung der Entlassung des Ministeriums begleitenden
Privatschreiben vom 3. November 1858 die Erhebung in den Grafenstand, erbliche
Berufung in das Herrenhaus und die Nangstellung einer obersten Hofcharge an¬
gekündigt. Manteuffel lehnte alle diese Gnadenerweise ab, und als ihm darauf die
Brillanten zum Schwarzen Adlerorden verliehen wurden, unterließ er nicht, in
seinem Dankschreiben vom 6. November auszusprechen, daß er einen Augenblick
geschwankt habe, ob er sie annehmen solle, aber zu der Überzeugung gelangt sei,
daß er sie nicht ablehnen dürfe, ohne gegen die schuldige Ehrerbietung zu ver¬
stoßen. Der sehr bemerkenswerte Schriftwechsel ist im dritten Bande der im Jahre
1W1 von Poschinger veröffentlichten Denkwürdigkeiten des verewigten Ministers
^gedruckt, der oben zitierte Brief des Prinzen findet sich im zweiten Bande
S
Unter
diesem Titel hat Professor Dr. Ernst Berner, Königlicher Hausarchivar (gestorben
13. Oktober 1905), eine Auswahl der Äußerungen und der schriftlichen Aufzeichnungen
des Monarchen zusammengestellt (Berlin, E. S. Mittler u. Sohn, 1906, zwei Bände),
einmal solche, die die Eigenschaften des Kaisers zum Ausdruck bringen, und dann solche,
die seine militärischen und politischen Anschauungen und seine Tätigkeit in diesen
Beziehungen in ihrer Entwicklung zeigen. Eigentlich amtliche Stücke sind aus¬
geschlossen, weil bei ihnen der persönliche Anteil des Monarchen selten zu erkennen
ist. Der erste Band umfaßt die Zeit bis zur Thronbesteigung (2. Januar 1861)
in drei Abschnitten: Prinz Wilhelm von Preußen, 1797 bis 1840; der Prinz von
Preußen, 1340 bis 1857; die Regentschaft. 1857 bis 1861; der zweite umfaßt
die Regierung des Königs und Kaisers: Wilhelm, König von Preußen, 1861 bis
1871; der Deutsche Kaiser. 1871 bis 1888. In jedem sind die Stücke einfach
chronologisch geordnet, und jedem hat der Herausgeber orientierende Einleitungen
beigegeben, die zuweilen auch eine kritische Polemik enthalten, wie die II, 145 ff.,
die Bismarcks Auffassung von der Haltung des Königs in Ems, Juli 1870, zu
widerlegen sucht. Im übrigen sind außerdem die Empfänger der Briefe und die
Quellen zusammengestellt. So führt uns die Sammlung eine ganze lange Periode
der deutschen und preußischen Geschichte, eine Zeit von achtzig Jahren (1809 bis
1888) in authentischen Äußerungen eines Mannes vor Augen, der sie nicht nur
scharf beobachtet und miterlebt, sondern dreißig Jahre lang an der höchsten leitenden
Stelle Deutschlands mit gemacht hat. Und dieser Mann zeigt das Merkmal echter
Größe: er gewinnt um so mehr, je näher man ihn kennen lernt; es ist immer der¬
selbe ehrliche, schlichte, bescheidne, feste, gütige Charakter, derselbe nüchterne, klare
Verstand, der aus diesen Äußerungen redet. Solche Reihen von Briefen und münd¬
lichen Erklärungen, wie sie die Krisis von 1866 begleiten, und noch mehr die
von 1870/71, sind historische Denkmale ersten Ranges, ein nationaler Schatz. Wie
ringt er 1866 mit sich selbst, bis er sich klar darüber wird, daß die Gegner sein
geliebtes Preußen demütigen und zerstören wollen (womit er vollkommen recht hatte),
und bis er sich schweren Herzens zum Krieg entschließt, wie schlicht und demütig
empfindet er über die Taten seines herrlichen Heeres, fast beklommen, ohne jede
Überhebung nimmt er seine eignen Siege hin, und die Freude über alle diese Er¬
folge wird immer wieder gedämpft durch die Trauer über die Gefallnen und durch
das Bewußtsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen, die sich immer
schwerer auf seine Schultern legt. Ein besseres Mittel, seinen ersten Kaiser immer
besser kennen, und was dasselbe ist, verehren zu lernen, als diese Sammlung, konnte
dem deutschen Volke gar nicht geboten werden.
Im Anschluß daran bemerken wir noch, daß von der trefflichen Biographie
Heinrich Abekens, der in manchen entscheidenden Momenten dieser bewegten
Jahre seinem königlichen Herrn besonders nahe stand, eine dritte, vermehrte Auflage
erschienen ist (Berlin, 1904, E. S. Mittler). Die Vermehrung bezieht sich besonders
auf die spanische Thronkandidatur und die Vorgänge in Ems im Juli 1870; sie
besteht in Notizen aus dem Tagebuch Abekens und einigen zwischen ihm und Bis-
marck gewechselten charakteristischen Briefen. Neu beigegeben ist ein Faksimile des
Extrablatts der Kölnischen Zeitung vom 12. Juli 1870 mit der Nachricht von
dem Verzicht des Prinzen Leopold auf die spanische Thronkandidatur und einer
handschriftlichen Bemerkung Abekens, desselben Blattes, das am 13. Juli Morgens
König Wilhelm aus Abekens Hand erhielt und Benedetti mitteilte, worauf dann
di
an hat wohl behauptet, die französische Republik habe mit dem
am 1, Juli in Kraft getretner Gesetze über die Trennung der
Kirchen und des Staats eigentlich nur das von den Vereinigten
Staate» von Amerika gegebne Beispiel nachgeahmt. Das trifft
jedoch nicht zu; denn in den Vereinigten Staaten hat es eine
kirchenpolitische Gesetzgebung überhaupt noch nicht gegeben. Gesetzgebung in
Sachen der Religion ist dem Bunde durch die Verfassung der Union ausdrücklich
verboten, den einzelnen Bundesstaaten steht sie ebenfalls nicht zu, da Freiheit
der Religion und des Gewissens als zu den dem Volke und den einzelnen
Menschen vorbehaltnen Rechten gehörend betrachtet werden. Von einer
Trennung der Kirchen und des Staats, wie sie jetzt in Frankreich als Abschluß
einer laugen Entwicklung und als Ergebnis einer allmählichen Umwandlung
der Volksanschauung gesetzlich vollzogen worden ist, kann man im Hinblick auf
die Vereinigten Staaten nicht reden. Dort hat eine Verbindung zwischen
Staat und Kirche überhaupt nie bestanden, und ein staatliches Kultusbudget
hat man dort nie gekannt; es ist sogar denkbar, daß sich mit dem fort¬
schreitenden Einflüsse einzelner Kirchen in der Union die entgegengesetzte Ent¬
wicklung wie in Frankreich vollziehn könnte.
Aus der ursprünglich sehr innigen Verbindung mit der römischen Kirche
ist Frankreich, das Rom sogar seine „älteste Tochter" nannte, allmählich zur
Trennung des Staats von den Kirchen gelangt und hat dafür dle entsprechende
gesetzgeberische Form gesucht. Damit hat es in der Tat etwas unternommen
was bisher noch nie versucht worden ist. Mit vollem Rechte kann deshalb Pan
Sabatier in seiner Schrift „Über die Trennung der Kernder und des Staats"
behaupten: „Es handelt sich um einen neuen Versuch, aus dessen Verlaufe die
andern Nationen zahlreiche Lehren werden ziehen können."*) Die Ma߬
nahmen, die die erste französische Republik ergriffen hatte, um den Staat
zu verweltlichen, oder wie es die Söhne der Revolution nannten, die Religion
zu „republikanisieren", widerlegen diese Behauptung keineswegs, denn die
scheinbar gelöste Verbindung des Staats mit der Kirche blieb dadurch tatsächlich
aufrecht erhalten, daß die Priester zu Beamten des Staats gemacht wurden,
und die beabsichtigte Aufhebung der Kirche durch den vom Konvent im
November 1793 eingeführten „Kultus der Vernunft" war in Wirklichkeit nur
ein unvernünftiger Versuch, der nach wenig Wochen mit der Erklärung der
Freiheit aller Kulte wieder aufgegeben werden mußte. Die Kirchenpolitik
Napoleons des Ersten führte dann durch den Abschluß des Konkordats vom
15. Juli 1801 mit Papst Pius dem Siebenten dahin, daß der Einfluß der
römisch-katholischen Kirche auf den Staat stetig zunahm und der Klerikalismus
seine politischen Herrschaftsansprüche immer unverhüllter durchzusetzen suchte.
Mit welchem Erfolge, lehrt die Geschichte des zweiten Kaiserreichs.
Über den ausschlaggebenden Einfluß der vatikanischen Politik auf den
Ausbruch des Krieges von 1870 hat sich Fürst Bismarck am 5. Dezember 1874
vor dem deutschen Reichstage geäußert, indem er erklärte: „Daß der Krieg im
Einverständnis mit der römischen Politik gegen uns begonnen worden ist, daß
das Konzil deshalb abgekürzt worden ist, daß die Durchführung der Konzils¬
beschlüsse, vielleicht auch ihre Vervollständigung, in ganz anderen Sinne aus¬
gefallen wäre, wenn die Franzosen gesiegt hätten, daß man damals in Rom
wie auch anderswo auf den Sieg der Franzosen als auf eine ganz sichere
Sache rechnete, daß am französischen Kaiserhofe gerade die katholischen Einflüsse,
die dort berechtigter- oder unberechtigterweise — ich will nicht sagen »katholischen«,
sondern die römisch-politischen, jesuitischen Einflüsse, die dort berechtigter- oder
unberechtigterweise tätig waren, den eigentlichen Ausschlag für den kriegerischen
Entschluß gaben, ein Entschluß, der dem Kaiser Napoleon sehr schwer wurde
und ihn fast bewältigte, sodaß eine halbe Stunde der Frieden dort fest be¬
schlossen war und dieser Beschluß umgeworfen wurde durch Einflüsse, deren
Zusammenhang mit den jesuitischen Prinzipien nachgewiesen ist: über das alles
bin ich in der Lage, Zeugnis ablegen zu können, denn Sie können mir wohl
glauben, daß ich diese Sache nachgerade nicht bloß aus aufgefundnen Papieren,
sondern auch aus Mitteilungen, die ich aus den betreffenden Kreisen habe,
sehr genau weiß." Was Fürst Bismarck hier dargelegt hat, wird durch andre
Zeugnisse bestätigt. Erwähnt sei nur. daß dem bekannten Münchner Professor
Dr. Johannes Friedrich, der während des vatikanischen Konzils als Theologe
des Kardinals Hohenlohe in Rom weilte, dort schon Anfang Mai 1870, wie
er in seinem 1871 veröffentlichten „Tagebuche" berichtet, „von einer Seite,
die es wissen kann oder wenigstens wissen soll", gesagt wurde, „daß es im
Jahre 1871 einen Krieg zwischen Preußen und Frankreich geben wird. Man
munkelt von einem Einverständnis der Kurie und der Jesuiten mit den Tuilerien.
Auch andre Pläne, ja eine förmliche Restaurationspolitik sollen sich daran
knüpfen."
Welche Anstrengungen die Kurie und ihre Organe in Frankreich nach dem
Sturze des zweiten Kaiserreichs gemacht haben, um auch die dritte Republik
ihrem beherrschenden Einflüsse zu unterwerfen, dafür sind die Beweise gegeben
in der Unterstützung, die von den Klerikalen allen Gegnern der demokratischen
Regierungsform gewährt wurde. Legitimisten, Orleanisten. Bonapartisten, diese
geschwornen Feinde der republikanischen Demokratie sahen immer die Römlinge
an ihrer Seite und erfreuten sich allerwege des mehr oder weniger offen be¬
kundeten vatikanischen Wohlwollens. Es ist durchaus richtig, wenn Sabotier
sagt, seit 1870 habe die römisch-katholische Kirche die zum Sturme gegen die
Republik vorgeschickten Truppen geliefert. „Die Katholiken, schreibt er, sind
nicht nur konservativ, sondern die wütendsten Reaktionäre gewesen, bereit,
jeder Fahne zu folgen, sei es der eines Boulanger oder der eines Drumont,
wenn man ihnen nur versprach, das Land so schnell als möglich von einem
verabscheuten Regiment zu befreien." Das habe sich auch nicht geändert,
nachdem Papst Leo der Dreizehnte 1892 die Katholiken zum Anschlusse an
die Republik, dem „Ralliement", aufgefordert hatte; der Gegensatz zwischen
Katholizismus und Demokratie sei vielmehr infolge der päpstlichen Kundgebung
nur noch stärker hervorgetreten. Die Ralliierten bildeten sich mit einer an
Torheit grenzenden Naivität ein, sie brauchten nur das Wort ..Republik" an¬
zunehmen, die Trikolore zu bisher und die „Marseillaise" anzuhören, um von
der Demokratie als Führer willkommen geheißen und geehrt zu werden. Allein
die Demokratie war klug und verlangte von ihren unerwarteten Freunden Be¬
weise ihrer aufrichtigen Gesinnung. Da waren diese bald verschwunden. Die
verbissenen Klerikalen aber scharten sich um die Assumptionisten. deren Organe
bald das ganze Land überschwemmten und immer rückhaltloser die demokratische
Republik bekämpften. Und als dann das innerste Wesen der Römlinge durch
den Taxilschwindel und den Drehfushandel völlig offenbar geworden war. da
erkannte die französische Demokratie die Wahrheit des berühmten Ausspruchs.
den Gambetta getan hatte: „Der Klerikalismus ist der Feind!" „1898 er¬
innerte sich, wie Sabatier sagt, die Demokratie stärker als je daran, und sie
ermaß nun mit Schrecken die furchtbaren Krisen, die eine anscheinend kaum zu
beachtende Minderheit über ein Land heraufbeschwören kann, wenn sie kühn und
wohldiszipliniert ist und an die religiösen Leidenschaften appelliert", wie es in
den ganz Frankreich aufwiegelnden Blättern der Assumptionisten geschah.
Die aufrichtigen Anhänger der Republik schlössen sich nun zusammen und
bekundeten durch die Präsidentenwahl am 18. Februar 1899, wie der Erwählte
der Nationalversammlung von Versailles, Loubet, in seiner ersten Botschaft
an das Parlament sagte, das Verlangen, „eine Beruhigung der Gemüter herbei¬
zuführen und die Einigung aller Republikaner wiederherzustellen und dauerhaft
zu gestalten". Als dann im Juni desselben Jahres das Ministerium Dupuy
infolge seiner zweideutigen Haltung gegenüber dem Widerstande der verbündeten
Klerikalen, Monarchisten und Nationalisten gegen die Revision des Drehfus-
prozesses zurückgetreten war, bezeichnete der Ministerpräsident Waldeck-Rousseau
in seinem Programm klar und bestimmt das Ziel aller Republikaner. „Es
handelt sich, erklärte er, darum, das uns allen gemeinsame Erbe unverändert
aufrechtzuerhalten . . . sich zu verständigen, die Streitfragen ruhen zu lassen
gegenüber der gemeinsam zu erfüllenden Pflicht, die dahin geht, dem Treiben
ein Ende zu machen, das sich unter leicht zu durchschauenden Vorwänden
gegen die Regierungsform richtet, die das allgemeine Stimmrecht sanktioniert
hat, und die es aufrechtzuerhalten wissen wird." Und nun wurden mit dem
Beginn des neuen Jahrhunderts in rascher Folge die großen kirchenpolitischen
Gesetze geschaffen, die bei der fortdauernd beendigten Feindschaft der Klerikalen
gegen die Republik zur völligen Trennung der Kirchen und des Staats mit
innerer Notwendigkeit führen mußten.
Zunächst kam das Vereinsgesetz von 1901, das sich gegen das Eindringen
der Kongregationen, der katholischen Lehrorden, in das Unterrichtswesen richtete
und nach der Erklärung des Ministerpräsidenten Waldeck-Rousseau der Gefahr
begegnen sollte, „die daraus erwächst, daß sich in einer demokratischen Gesellschaft
immer mehr eine Vereinigung entwickelt, die darauf ausgeht, unter der Maske
einer religiösen Einrichtung in den Staat eine politische Körperschaft einzu¬
führen, die bezweckt, völlige Unabhängigkeit zu erlangen und alle Autorität an
sich zu reißen".
Dann folgte das nach dem Nachfolger Waldeck-Roussecius, dem Minister¬
präsidenten Combes, benannte Unterrichtsgesetz von 1904, das die Ordens¬
schulen völlig verbot und den zugelassenen Orden eine Aussterbefrist von
zehn Jahren, also bis 1914, setzte. Den Abschluß bildete das mit dem
1. Januar 1906 in Kraft getretne Gesetz über die Trennung der Kirchen
und des Staats, das die unbehinderte Ausübung jedes religiösen Kultus, also
freie Religionsübung, gewährleistet, aber keine Kirchen mehr kennt, sondern
nur die Bildung von Kultusvereinen zuläßt, die sich zwar zu das ganze
Land umfassenden Verbänden mit zentraler Verwaltung zusammenschließen
können, aber gleich allen andern Vereinen dem gemeinen Rechte, insbesondre
dem Vereinsgesetz unterworfen sind und vom Staat und seinen Organen,
den Departements und den Gemeinden, keinerlei finanzielle Unterstützung er¬
halten. Die innere Organisation der Kultusvereine und ihrer Verbände ist
bedingungslos frei. Alle Kirchengüter werden vom Staate inventarisiert. Die
beweglichen Kirchengüter werden den Kultusvereinen als Eigentum übertragen,
die unbeweglichen Kirchengüter bleiben Eigentum des Staats, der Departements
und der Gemeinden, werden aber den Kultusvereinen unentgeltlich zur Ver¬
fügung gestellt, die zum Gottesdienst bestimmten Gebäude dauernd, die Wohn-
gebüude für eine Frist von fünf Jahren. Um Härten zu vermeiden, sind den
zur Zeit des Inkrafttretens des Gesetzes im Amte stehenden Geistlichen lebens¬
längliche, nach Alter und Dienstzeit verschieden bemessene Pensionen, dem
jüngern, noch nicht unter das Gesetz fallenden Klerus Unterstützungen auf vier
Jahre ausgesetzt. Zugleich hat das Gesetz Bestimmungen vorgesehen, die den
Staat und die einzelnen Staatsbürger gegen Mißbrauch der den Kultus¬
vereinen und ihren Organen eingeräumten Freiheiten sichern sollen.
Im Auslande hat man sich vielfach darüber gewundert, daß die parla¬
mentarischen Beratungen des Trcnnungsgesetzes einen im allgemeinen sehr
ruhigen und friedlichen Verlauf genommen haben, und seine Durchführung nur
ganz vereinzelt auf einen, wie außerdem feststeht, künstlich erregten faktiösen
Widerstand gestoßen ist. Diese Beobachtung bestätigt jedoch nur die Richtig¬
keit der von Paul Sabatier gewonnenen und in seiner Schrift begründeten
Überzeugung, daß das französische Parlament mit der Verabschiedung des
Trennungsgesetzes nur einen tatsächlich schon gegebnen Zustand gesetzgeberisch
geregelt und anerkannt hat. Daraus erklärt sich der ruhige und friedliche
Verlauf der parlamentarischen Erörterungen. „Wenn das Parlament, sagt
Sabatier, der öffentlichen Meinung vorausgeeilt wäre, würde sich diese erregt
und beunruhigt haben; aber nein, sie ist einfach mit ruhiger Aufmerksamkeit
den Veratungen gefolgt, bei denen es sich um eine der ernstesten Fragen
handelte, die seit 1789 die französische Volksseele berührt haben. Die Trennung
der Kirche und des Staats, verstanden in dem Sinne, wie sie das französische
Parlament aufgefaßt hat. ist mehr als ein Wechsel der Dynastie oder der Re-
gierungsform, sie ist der Abschluß einer geschichtlichen Periode und die Richtung
des Kurses nach neuen Zielen." Für diese Abfassung spricht auch der Ausfall der
im Mai in Frankreich vollzogncn allgemeinen Wahlen, die Antwort der fran¬
zösischen Demokratie auf das päpstliche Rundschreiben vom 11. Februar 1906. D:e
für das Trennungsgesetz eingetretne republikanische Mehrheit der Abgeordneten¬
kammer, der „Block", hat nicht nur keine Verluste, sondern eme nicht unbe¬
deutende Verstärkung erfahren, während die Umtriebe der klerikalen Gegner
der Republik jämmerlich zusehenden geworden sind. Die demokratische Republik
"weist sich immer mehr als die dem Wesen des französischen Volkes ent-
sprechende Regierungsform, und die Anfeindungen, die sie von ihrer Gründung
an durch die Klerikalen erfahren hat, sind der Befestigung der Republik nur
förderlich gewesen. Durchaus zutreffend schreibt Paul Sabatier:
„Seit 1870 hat die französische Demokratie nicht aufgehört, sich ihrer
selbst mehr und mehr bewußt zu werden. Sie hat über alle Krisen triumphiert,
alle Gifte ausgestoßen. Durch die Bezeichnung »weltlich« kündigt sie an, daß
sie auf jede Art göttlichen politischen Rechts verzichtet, und daß sie aus diesem
Verzichte alle Konsequenzen ziehn will. Der Kastengeist widerstrebt ihr; in
allem und überall schreitet sie zur Freiheit und zum Lichte vor, ebenso ab¬
geneigt allen Gerichtsverhandlungen hinter verschlossenen Türen wie den
Heimlichkeiten der Kanzleien. Sie will den obligatorischen weltlichen Unter¬
richt; denn daß ein andrer für uns denken könne, erscheint ihr ebenso unmög¬
lich, wie von einem andern zu verlangen, für uns zu essen und zu verdauen.
Sie will, daß jeder Einzelne ein Bürger werde, das heißt ein tätiges und
einsichtsvolles Mitglied der Gesellschaft, und dieser Bürger hat ebensowenig
das Recht, auf eine seiner Pflichten oder eines seiner Rechte zu verzichten,
wie er das Recht hat, sich zu entmannen. Unsre ältern Brüder hatten vor
dreißig Jahren noch Stellvertreter, die in ihrem Namen für tausend oder
zweitausend Franken Heeresdienst taten. Heute, nach kaum einem Menschen¬
alter, erscheint uns der Gedanke der Stellvertretung wie eine Ungeheuerlichkeit.
Das ist in kurzen Zügen die Geistesrichtung der Demokratie, die, weit ent¬
fernt, sich schon am Ziele zu wähnen, vielmehr überzeugt ist, daß alles, was
sie bisher getan hat, nur der Anfang der kommenden Zivilisation ist."
Über diese kommende Zivilisation entwickelt nun Paul Sabatier, gestützt
auf eigne feinsinnige Beobachtungen, höchst interessante und geistreiche Ge¬
danken. Was die französische Demokratie in allen ihren Gruppen am Ka¬
tholizismus verabscheut, ist, meint er, nicht das Dogma, sondern einzig und
allein seine politische Haltung. Damit scheint ihm die Antwort auf die Frage,
welche Stellung der Katholizismus zukünftig in Frankreich einnehmen wird,
gegeben zu sein. Es kommt darauf an, welche Stellung der unfehlbare Papst
zu der Trennung der Kirche vom Staate einnehmen wird. Indem Pius der
Zehnte die Kultusvereine anerkennt oder verwirft, wird er eine Prinzipien¬
frage entscheiden, die Frage, ob die Demokratie eine Ketzerei ist oder nicht.
Von dieser Entscheidung hängt zwar nicht das Schicksal Frankreichs ab,
wohl aber die Zukunft der römischen Kirche in Frankreich. „Frankreich,
schreibt Sabatier, hat gleich vielen andern Völkern eine Art ehelicher Ver¬
bindung mit den demokratischen Ideen geschlossen. Die alte Kirche hat alles,
was in ihrer Macht stand, getan, um diese Verbindung zu verhüten; jetzt, wo
sie vollzogen ist, handelt es sich nur noch um die Frage, ob sie von der
Kirche anerkannt oder verworfen wird. Im Falle der Anerkennung wird
Frankreich fortfahren, so gut oder so schlecht es geht, mit der Kirche zu leben
wie mit einer Mutter, die man liebt und achtet, obwohl sie einer vergangnen
Generation angehört. Mit der Verwerfung wird dagegen die Kirche ihren
Verzicht auf die Stellung aussprechen, die sie bisher einnahm, und bald wird
der Tag kommen, wo die Karte des katholischen Frankreichs Punkt für Punkt
der Karte des unaufgeklärten Frankreichs entsprechen wird. Die Kantone
ohne Verkehrsstraßen und ohne Schulen werden die letzten Bollwerke der
Kirche sein, und unsre Nachkommen werden die Erscheinung sich erneuern
sehen, die das Ende der heidnischen Zivilisation bezeichnete, als das Wort
x^fünf, xaz^n, Bauer, den Sinn von xaien, Heide annahm. Am Ende des
zwanzigsten Jahrhunderts wird xaz^an, Bauer, des Synonym von Katholik
geworden sein."
Zunächst hat Pius der Zehnte in seinem an den Episkopat, den Klerus
und das Volk Frankreichs gerichteten Rundschreiben vom 11. Februar 1906
namens der Kirche das Trennungsgesetz in aller Form feierlichst verworfen
und verdammt. Sabatier will zwar noch nicht annehmen, daß Rom damit
sein letztes Wort gesprochen hat, er hofft vielmehr, daß es den Versuch machen
wird, sich in loyaler Weise mit den Tatsachen abzufinden. Es ist ja möglich,
daß die abweisende Antwort, die die französische Demokratie auf das päpst¬
liche Verdammungsurteil durch die allgemeinen Wahlen erteilt hat, im Vatikan
Eindruck macht und den Papst zum Einlenken bestimmt. Sicher ist zu¬
nächst nur, daß die Politik, die Pius der Zehnte Frankreich gegenüber ein¬
schlägt, für die Zukunft der römisch-katholischen Kirche im allgemeinen von
entscheidenden Einflüsse sein wird. Darin aber liegt die weltgeschichtliche Be¬
deutung des französischen Gesetzes über die Trennung der Kirchen und des
Staats. Jedenfalls hat die dritte französische Republik das Verdienst, zum
erstenmal den Versuch gemacht zu haben, die politischen Herrschaftsansprüche
der Kirche ohne jeden Eingriff in die Religionsfreiheit des Einzelnen im Wege
autonomer Gesetzgebung abzuweisen. Rein auf sich selbst gestellt, hat die
römisch-katholische Kirche in Frankreich Gelegenheit, ihre innere geistige Kraft
zu beweisen, und jedem einzelnen Franzosen ist volle Freiheit auf religiösem
Gebiete gewährleistet. Sollte sich nun bestätigen, was von vielen behauptet
wird, daß die Macht Roms nur in der Unterstützung durch die Staatsgewalt
liegt, daß sie „des weltlichen Armes" nicht entbehren kann, um sich zu er¬
halten, dann werden sich die Wirkungen der neusten kirchenpolitischen Gesetz¬
gebung Frankreichs weit über die Grenzen der dritten Republik hinaus er¬
strecken und die Fortführung des in seinen Anfängen stecken gebliebner Werkes
°er deutschen Reformation anbahnen. Dann wird aber auch Paul Sabatier
Recht behalten mit seiner Ansicht, daß es sich bei den kirchenpolitischen Vor¬
gängen in Frankreich um eine religiöse Umwälzung von weltgeschichtlicher Be¬
deutung handelt.
KW! at es einen Sinn, im heutigen Lärm des Geschäfts, der Politik,
des Sports, der niedern Komik, der Riesenunglücksfälle und
Massenmorde, die als angenehme Sensation genossen werden, noch
von ästhetischen Dingen, zumal vom Tragischen*) zu sprechen?
!Nun, einige tausend Stille im Lande gibt es wohl noch, denen
tiefes Versenken in ein tragisches Menschenschicksal eine heilige Festfeier ist,
und deren Blick sich lieber auf das Schöne als auf das Häßliche, schmutzige,
Wüste und Verworrene richtet, und denen wird Volkelt ein lieber Führer
werden, soweit er es nicht schon geworden ist. Was er sagt über das Tragische
im Leben und in allen Künsten, über die Größe des tragischen Menschen,
über den schicksalsmäßiger Charakter und die pessimistische Grundstimmung des
Tragischen, über die tragische Schuld, das Tragische des Verbrechens, über
die den Helden bekämpfende Gegenmacht, die erhebenden Augenblicke im
tragischen Untergang, über das Tragische der befreienden und das der nieder¬
drückenden Art, über die tragische Situation, über das notwendig, das organisch
und das zufällig Tragische, das wird den Freunden der tragischen Muse zu
einem tiefern Verständnis ihrer alten Lieblinge verhelfen und ihren Genuß
im Umgange mit ihnen erhöhen. Volkelt erkennt die Verdienste der spekulativen
Ästhetik eines Hegel, Bischer, Hartmann um die Lösung des Problems des
Tragischen voll an, verwirft aber ihre Methode, die Forderungen, die man
an den Dichter zu stellen hat, aus vermeintlichen apriorischen Begriffen oder
Ideen abzuleiten, die beim Lichte besehen weiter nichts seien als Abstraktionen
von Mustern, zum Beispiel von den Tragödien der Alten, für die der Philosoph
voreingenommen ist. Volkelt will seine Theorie des Tragischen aus der Er¬
fahrung schöpfen, die Erfahrungstatsachen aber, von denen die Ästhetik aus-
zugehn habe, seien seelischer Natur, darum müsse auch bei der Untersuchung
des Tragischen psychologisch verfahren werden. Es komme hauptsächlich darauf
an, möglichst bedeutungsvolle ästhetische Gefühlstypen zu gewinnen. „Man
wird unter den mannigfaltigen Äußerungsweisen des ästhetisch erregten Gemüts
Umschau zu halten und dabei darauf zu achten haben, welche charakteristisch
ausgeprägten Formen sich darin als gruppenbildend und zwar als eine möglichst
große Anzahl von Arten und Nebenarten in sich schließend entdecken lassen."
Die psychologische BeHandlungsweise ist um so dringender zu fordern, weil
kein ästhetischer Gegenstand die Seele näher angeht, tiefer ergreift und durch
die Annäherung an den Urgrund alles Seins höher erhebt als das Tragische.
Reicher und stärker als irgendeine andre Art des Ästhetischen offenbart das
Tragische das „Menschlich-Bedeutungsvolle", den bedeutenden, den wertvollen
Inhalt der Menschenseele und des Menschenlebens. „Das Tragische gestaltet
sich unter Aufgebot der tiefsten und innerlichsten Kräfte der menschlichen
Natur, unter Aufmühlung der ganzen Seele, unter Zutagetreten der großen
wie der gemeinen, der gesunden wie der kranken Seiten des Menschlichen,
unter Offenbarwerden dessen, was für den Sinn des menschlichen Daseins,
für Wert und Unwert menschlichen Strebens entscheidend ist. Vor allem sind
an der Entwicklung des Tragischen die schwersten und letzten Widersprüche
der menschlichen Natur beteiligt. So entläßt uns daher auch jede gute
Tragödie mit dem Eindruck: wir sind in dem Bewußtsein dessen, was es heiße,
ein Mensch zu sein, reifer geworden."
Soll sich im Tragischen das volle und reiche Menschenleben offenbaren,
so darf sein Begriff nicht zu eng gefaßt werden. Volkelt bekämpft deswegen
alle einschränkenden Bestimmungen, zum Beispiel daß der tragische Held sterben,
daß er seinen Untergang verschuldet haben müsse, wodurch eine Menge gute
Dramen von entschieden tragischen Charakter aus der Gattung Tragödie aus¬
geschlossen werden. Es ist darum auch nicht zu verwundern, daß er die be¬
kannte Definition des Aristoteles ungenügend, dürftig findet. „Vor allem
kommt die ganze Masse der zuständlich persönlichen Gefühle i)vie Beklemmung,
KontrastgefiW bei ihm nicht vor; die ganze Stufenleiter der niederdrückenden
und erhebenden Gefühle bleibt unbeachtet. Aber auch die teilnehmenden Ge¬
fühle sind nur sehr unvollständig berücksichtigt. Weder das tapfere Mit-Leiden
noch das Mitleidsgrcmscn lassen sich einfach unter den Begriff des Mitleids
bringen. Ebensowenig aber lassen sich die Gefühle des sittlichen Abscheus,
ohne künstlich zu werden, einfach als Furcht hinstellen. Ferner fehlt jedwede
Berücksichtigung der Gefühle der Anerkennung, der Bewunderung, des Zu¬
trauens, und endlich sind die tragischen Weltgefühle in keiner Weise erwähnt."
Weltgefühle nennt Volkelt die von der Tragödie erweckten Gefühle, sofern die
sann verbundn- Betrachtung bei dem Einzelfall nicht stehn bleibt. „Indem
die tragischen Gestalten und Entwicklungen an uns vorüberziehn, erscheint
uns das Weltgetriebe gemäß der Grundstimmung des Tragischen als etwas
Banges, Unruhe, Angst und Grausen Einflößendes, zugleich aber, insoweit er¬
hebende Augenblicke fühlbar werden, als ein Geschehen, das uns zu Vertrauen,
zu mutiger Zustimmung auffordert."
Was Volkelt dann weiter von der Aristotelischen Katharsis sagt, veranlaßt
mich, meine Ansicht über eine Grundfrage der Ästhetik, eigentlich die Grund-
frage, auszusprechen. Volkelt spricht davon, daß der Dichter eines tragischen
Epos, Dramas oder Romans darin seine Weltanschauung zugrunde lege oder
wenigstens verrate, und daß sich auch die Theorie des Tragischen von Welt-
und Lebensanschauung nicht gänzlich loslösen lasse; manche Ästhetiker ver¬
suchten es trotzdem; wer freilich auf dem Boden der ästhetischen Prinzipien
Herbarts steht, der müsse folgerichtig zur gänzlichen Abtrennung des Tragischen
von der Weltanschauung kommen. Ich halte nun die Herbartische Ästhetik
— wenigstens ihre Grundsätze, nicht alles, was daraus hergeleitet werden
oder darauf gebaut werden kann — für richtig und für unentbehrlich, wenn
man die ästhetischen Gefühle als eine besondre Art von Gefühlen von den
andern unterscheiden will. Was ästhetisch angenehm wirkt, das sind gewisse
arithmetische Verhältnisse. Bekanntlich ist das zuerst bei der Musik heraus¬
gefunden worden von den Pythagoreern, und die neuere Physik hat diese
Erkenntnis durch die Berechnung der Schwingungszahlen exakt gemacht. Ob
die Schwingungszahlen des Lichtäthers schon aus ihre Beziehung zu Farben¬
harmonien hin untersucht worden sind, weiß ich nicht, jedenfalls aber beruht
auch die ästhetische Wirkung der Farben und der Farbenzusammenstellungen
auf arithmetischen Verhältnissen. Daß solche für die Schönheit einer geometrischen
Figur ausschlaggebend sind, bezweifelt kein Mensch, und dasselbe gilt natürlich
von der Schönheit aller Gestalten: der Kristalle, der Pflanzen, der Tiere, der
Menschen, der Bauwerke, der Gefäße und Geräte. Es kommt auf dasselbe
heraus, wenn Adolf Götter schreibt: „Das Gefühl des Schönen ist nichts
andres als das Gefühl aus einer hochgesteigerten und störungslos hin¬
strömenden Vorstellungstätigkeit." Wenn wir ein regelmüßiges Polygon mit
dem Blick umkreisen — der Kreis ist ein Polygon mit unendlich vielen
Seiten —, so läuft unsre Vorstellungsreihe ungestört ab, weil die durch die
erste Seite und den ersten Winkel erregte Erwartung an keiner Ecke getäuscht
wird. Dagegen versetzt eine ganz unregelmäßige Figur unsrer Erwartung so
viel unangenehme Stöße, als sie Ecken hat. (Das Werk des verstorbnen
Professors der Architektur an der Technischen Hochschule in Stuttgart, Adolf
Götter: „Das ästhetische Gefühl, eine Erklärung der Schönheit und Zer¬
gliederung ihres Erfassens auf psychologischer Grundlage", hat sein Sohn in
der Königlichen Hofbuchdruckerei von Zeller und Schmidt 1905 herausgegeben.)
Die Schönheit einer Handlung besteht in ihrer Angemessenheit, in ihrem
richtigen Verhältnis zu den Umständen, die Schönheit eines Charakters in
seiner Harmonie, die nichts andres ist, als ein gewisses Verhältnis der Triebe,
Kräfte und Lebensäußerungen zueinander. Nun hat es zwar der Philosophie
Herbarts, die das ganze Seelenleben in eine Mechanik der Vorstellungen auf¬
löste, nahe gelegen, diese ganze Mechanik samt den Vorstellungsreihen, die
ästhetisch wirken, auf sich selbst zu stellen und vom Weltgrunde abzutrennen.
Aber notwendig ist das nicht; im Gegenteil! Wenn wir erkennen, daß alles,
was den beruhigenden und erfreuenden Eindruck der Schönheit auf uns macht,
auf festen arithmetischen Verhältnissen beruht, so geht uns damit der Gedanke
der das Weltall durchwaltenden Gesetzlichkeit auf, die uns den Mut verleiht,
zu hoffen, es werde sich dereinst die gleiche Gesetzlichkeit in der Gestalt einer
vollkommnen Gerechtigkeit auch im Menschenleben und Menschenschicksal ent¬
hüllen, sodaß also gerade die Herbartische Ästhetik zu einer befriedigenden Welt¬
anschauung hinleitet.
Und dann: es muß ja im Drama nicht alles ästhetisch sein, ja in keinem
Drama ist alles ästhetisch; es ist ein gemischtes Gebilde, sodaß sich in ihm
außer der ästhetischen Form auch noch vielerlei Stoff finden kann, der eine
Weltanschauung offenbart oder an eine solche anknüpft. Volkelt läßt es dahin¬
gestellt sein, ob Aristoteles mit der Katharsis die Entladung der Seele von
Furcht und Mitleid oder, wie andre wollen, die Läuterung dieser Gefühle
gemeint habe. Im zweiten Falle stehe die Aristotelische Theorie auf dem
Boden der Ästhetik, denn jede ästhetische Wirkung reinige das Gefühlsleben.
Im ersten Falle dagegen sei zunächst zu bemerken, daß die Seele meist
gar kein Bedürfnis fühle, ihr Mitleid los zu werden, dann aber, was die
Furcht und die dieser verwandten Gefühle des Schmerzes, der Angst, der Be¬
klemmung, der Niedergeschlagenheit betrifft, daß die Befreiung von diesen gar
kein ästhetischer Vorgang sei; es handle sich dabei „um eine grobstoffliche,
aber psychologisch interessante Wirkung, die in manchen Fällen der tragischen
Dichtung zukommt". Also „in manchen Fällen" bringt das Tragische Wirkungen
hervor, die außerhalb des ästhetischen Gebiets liegen! Wirklich bloß in manchen
Fällen? Wenn ich mit Posa für Freiheit schwärme, mit den Rütlimännern
den Tyrannen hasse, mit Tell ihn morde, mit den Wallensteinischen mich an
einem frischen, wilden, lustigen Soldatenleben ergötze, mit Wallenstein und
seinen Feinden Intriguen spinne, die Größe einer Antigone bewundre,
Richards des Dritten Schandtaten verabscheue, mit Romeo in Zärtlichkeit zer¬
fließe, an Hamlet und Tasso Seelenanalyse übe — sind das alles ästhetische,
rein ästhetische Tätigkeiten oder Genüsse? Sind die beim Lesen oder Schauen
und Hören der Dramen erregten Gefühle nicht größtenteils sittlicher oder
sinnlicher Art, und tritt nicht oft auch der Genuß hinzu, den die Befriedigung
der intellektuellen Triebe gewährt, zum Beispiel wenn wir eine sinnreiche
Intrigue einfädeln und gelingen oder mißlingen sehen? Ein Hochmoderner
schrieb vor ein paar Jahren einmal, die ganze Ästhetik sei leeres Geschwätz;
was an schönen Menschen und an Bildern von solchen gefalle und erfreue,
das sei — das Erotische. Das ist nun zwar Unfug, aber dem Unfug liegt
Fug zugrunde. Wir sind nicht allein berechtigt, sondern wenn wir einer
Menge von Unklarheiten und Streitigkeiten ein Ende machen wollen, genötigt,
anzuerkennen, daß bei allen Kunstwerken, die den Menschen zum Gegen¬
stande haben, außer den ästhetischen Gefühlen noch viele andre erweckt werden,
und daß im Drama, das den Menschen am vollständigsten darstellt, die Masse
dieser andern Gefühle die rein ästhetischen weit überwiegt und manchmal ganz
in den Hintergrund drängt. Der Klassizist, der strenge Ästhetiker (was man
heute einen Ästheten nennt, das ist etwas ganz andres) muß sich schon für
befriedigt erklären, wenn in einem modernen Drama der Wust von Laster,
Verbrechen, Häßlichkeit und Schmutz nicht gar zu unförmlich über die Schön¬
heitslinie hinausquillt. Damit ist zugleich die Streitfrage entschieden, ob die
Polizei das Recht habe, Kunstwerke zu zensurieren und ihre Aufführung oder
Verbreitung zu verbieten. Wenn alle Kunstwerke so wie die Arabesken, die
Landschaften, die Stillleben, die Bauwerke bloß ästhetisch wirkten, dann hätte
die Polizei selbstverständlich in Kunstangelegenheiten nichts zu sagen, würde
auch gar kein Verlangen danach tragen, sich einzumischen. Aber einen
Menschen, sei es ein wirklicher oder ein abgebildeter, nur als ästhetische
Figur anzusehen, das ist uns ganz unmöglich; darum wirken Kunstwerke, in
denen Menschen vorkommen, niemals rein ästhetisch, sondern zugleich durch
Weckung von Sympathien und Antipathien, Trieben und Leidenschaften, und
in vielen, wahrscheinlich in den meisten Fällen übertönt diese Wirkung die
ästhetische. Das Premierenpublikum, das einer sogenannten neuen Moral
zujauchzt, der Volkshaufe, der sich durch ein Revolutionsstück zu wilden Taten
aufgestachelt fühlt, der Knabe, in dem eine pikante Photographie vorzeitige
Lüsternheit weckt, die fragen nicht nach dem ästhetischen Werte des Kunstwerks;
darum soll auch die Obrigkeit nicht danach fragen. Damit ist natürlich noch
kein Urteil über den einzelnen Fall gesprochen. Es kann sein, daß die Moral
der „Intellektuellen" höher steht als die der Polizei, wozu in Nußland nicht
viel gehören würde, daß das Verbot eines Theaterstücks aus politischen
Gründen eine große politische Dummheit, und daß frühzeitige Gewöhnung der
Jugend an den Anblick des Nackten die beste sexuelle Pädagogik ist. Es soll
nur konstatiert werden, daß die Künstler und die Kunstfreunde nicht berechtigt
sind, im Namen der Ästhetik zu entscheiden, in Dingen, die mit der Ästhetik
gar nichts zu schaffen haben. Was ist denn Ästhetisches an den häßlichen
Fratzen des Simplicissimus und an den noch häßlichem Ausbrüchen seines
Hasses gegen Stände, Personen und Institutionen?
Das Ästhetische bedeutet uns zweierlei. Erstens eine Erscheinung, die
durch gewisse Verhältnisse im Beschauer oder Hörer angenehme Empfindungen
hervorruft: das ist das Ästhetische in dem bisher erörterten Sinne, und die
Ästhetik, die sich darauf bezieht, ist die Wissenschaft vom Schönen. Zweitens
rechnen wir zum Ästhetischen alles, was nicht Ernst sondern Spiel ist und
dadurch ergötzt, also das, was Schiller seiner Ästhetik zugrunde gelegt hat.
Es ist aber ein Irrtum, das Wohlgefallen am Schönen und die Freude am
Spiel für zwei Seiten derselben Sache anzusehen, und aus diesem Irrtum
entspringen, wie mir scheint, die meisten Streitigkeiten über das Ästhetische.
Wir haben es vielmehr mit zwei verschiednen Gebieten zu tun, die einander
auf mehrfache Weise berühren und durchdringen und darum von den Theo¬
retikern in einem und demselben Kessel untereinander gerührt worden sind,
dem man die Etikette: „Ästhetik" aufgeklebt hat. Das Ästhetische im ursprüng¬
lichen Sinne ist das Schöne; Spiel aber ist das Gegenteil von Ernst und
von Arbeit: ist Bewegung oder Tätigkeit bloß um der Bewegung und der
Tätigkeit willen, ohne einen sittlichen, wissenschaftlichen oder wirtschaftlichen
Zweck. Das Schöne ist nun keineswegs immer ein Spielzeug, und ein Spiel¬
zeug oder ein Spiel braucht nicht schön zu sein, das gehört nicht zu seinem
Wesen. Schöne Kirschen sind geradeso zum Essen da wie die unscheinbare oder
häßliche Kartoffel, und eine schöne Arbeitstube, eine geschmackvoll tapezierte
und möblierte geräumige Stube von guten Proportionen ist ein nicht weniger
ernsthaftes und sogar noch nützlicheres Ding als eine häßliche Stube, in der
man schlecht arbeiten kann, weil man sich nicht wohl darin fühlt. Ein Mensch
hört darum, weil er schön ist, noch nicht auf, ein wirkliches und leibhaftiges
Wesen zu sein, ein Wesen von inhaltlichen und sachlichen Wert, wenn ihn
auch allerdings die Gabe der Schönheit manchmal in Gefahr bringt, von
andern als Spielzeug gemißbraucht zu werden. Andrerseits: was ist denn
Schönes am Fuhrmann Henschel? Niemand und nichts ist schön darin, aber
gespielt wird er, und es gibt auch Leute, die Vergnügen daran finden, darum
gehört er ohne Zweifel in das Gebiet, das hergebrachterweise das ästhetische
genannt wird. Ein Spiel von Gassenjungen kann schön aussehen oder auch
nicht, ein Spiel geübter Sportsmen und Sportsladies sieht meist schön
aus. Ein Ballett ist schön, ein Kriegstanz maskierter Wilder schon weniger.
Die Verwandtschaft der beiden Gebiete besteht darin, daß ein unverdorbner
Geschmack zu Spielzeugen am liebsten schöne Gegenstünde erwählt, und daß
gesunde, junge und kräftige Menschen im Spiel anmutige Bewegungen machen,
die Schönheit ihrer Glieder und ihres ganzen Körperbaus zur Geltung bringen.
Das alles gilt nun auch vom Bühnenspiel. Es ist Spiel, denn die Personen
und Ereignisse, die dargestellt werden, sind keine wirklichen Personen und Er¬
eignisse, und der Genuß der Zuschauer besteht darin, daß sie im Geiste mit¬
spielen. Können sie es, als Mitglieder eines Liebhabertheaters, körperlich
tun, die Rollen selbst übernehmen, so steigert sich ihr Genuß, der im Einleben
besteht, ohne daß der Genuß des Schauens und Hörens ganz verloren ginge,
denn der Spielende sieht und hört ja die Mitspielenden, wenn diese vielleicht
auch keine großen Künstler sind. Beim Tanz liegen aktiver und passiver
Genuß weiter auseinander. Wer ein Ballett sieht, fühlt sich wohl auch, wenn
^ nicht gar zu korpulent oder zu alt ist, ein wenig angeregt, die Bewegungen
der Tänzer und Tänzerinnen innerlich mitzumachen, aber das Lustgefühl dieser
uur vorgestellten Motion ist verschwindend klein im Vergleich zu der Freude,
^e der schöne Anblick gewährt; die Teilnehmer an einem Ball dagegen sehen,
solange sie selbst tanzen, nur wenig von dem graziösen Fluge der Frackschöße
und der Schleppen der Mittanzenden. Gemeinsam aber ist allen solchen mensch¬
lichen Ergötzlichkeiten, daß dabei zwei Arten von Genuß: die Freude am
Schönen und die Freude an der Bewegung um der Bewegung willen, ge-
mischt sein können, jedoch nicht müssen, sodaß entweder das Schöne oder die
Bewegung ganz ausfallen kann. Die Zusammengehörigkeit beider ist keines¬
wegs bloß äußerliche und zufällige Verknüpfung, sondern sie hängt mit dem
tiefsten Sehnen des Menschenherzens zusammen. Alle utopischen Träume und
alle höchsten Ideale wie der christliche Himmel, Dantes Paradiso enthalten
beides: eine Welt absolut schöner Gestalten, aus der alles Häßliche ausge¬
schlossen ist, und ein Leben in völlig freier Tätigkeit, die eben dadurch, daß
sie völlig frei wäre, zum Spiel werden würde. Im gesunden Kinde, das
schön, und dessen Tätigkeit Spiel ist, sieht der Mensch die Verwirklichung
seines Ideals gesinnbildet und verheißen. Aus dem Paradies der Kindheit
wird er ins Leben hineingestoßen, gezogen, gezerrt, das voll von Häßlichen
ist und ihn zu harter Arbeit zwingt, die einem freien und fröhlichen Spiel
meist sehr unähnlich sieht, und durch die Kunst, die ihm bald das Schöne vor
Augen stellt, bald ihn mit seinen Gliedern oder mit Gedanken, Leidenschaften,
Leiden, Kämpfen und Erfolgen nur eben spielen läßt, hält er die Hoffnung
auf den Jdealzustand in sich aufrecht. In den Anfängen der Kultur pflegt
die Religion diese Aufgabe der großen Menschentrostung zu übernehmen und
sich zu diesem Zwecke mit der Kunst zu verbünden; vielen Millionen leistet
sie diesen Dienst noch heute, und an der geistlichen Dichtkunst wie an der
Kirchenmusik sehen wir wieder, wie das Schöne keineswegs an sich ein
Spielzeug und dem Ernst des Lebens entgegengesetzt ist: im Gottesdienst be¬
treibt die Gemeinde, obwohl er ihr eine Feier bereitet, das allerernsthafteste
Geschäft.
Mit dieser ganzen Betrachtung ist nun auch schon die alte Frage be¬
antwortet, wie das Anhören, Schauen und Lesen der traurigen und schrecklichen
Dinge, die in der Tragödie vorkommen, Genuß bereiten könne, und da kommen
wir wieder mit Volkelt zusammen. „Das Tragische, schreibt er, stellt sich stets
an menschlich bedeutungsvollen Inhalt dar; und zwar ist gerade das Tragische
ein Boden, auf dem sich das Menschliche nach seinen tiefsten und mächtigsten
Kräften, nach seinen schwersten und entscheidungsvollsten Kämpfen, nach seinen ge¬
fährlichsten und zugleich segensreichsten Entwicklungen mehr als irgend anderswo
verwirklicht. Das Menschlich-Bedeutungsvolle ist hier zum Menschheitlich-
Bedeutungsvollen gesteigert. Nun wirkt das Menschlich-Bedeutungsvolle überall,
wo es uns entgegentritt, lusterregend. Es ist stets unmittelbar ein Genuß,
Leben und Welt nach bedeutungsvollen Zügen dargestellt, in ihren Triebkräften
und Tiefen offenbart zu sehen. Um wie viel mehr muß dies der Fall sein,
wo, wie im Tragischen, jene Steigerung des menschlich-bedeutungsvollen
Charakters vorliegt. Und diese Genußquelle wird auch durch erschreckenden,
grauenhaften Inhalt nicht ganz verschüttet. Sie kann auch in solchen Fällen
das Überwiegende bilden. Es kommt nur darauf an, daß die dichterische Dar¬
stellung die bedeutsamen Seiten des tragischen Gegenstandes vollkommen zur
Geltung bringe. Dann kann der Erfolg eintreten, daß auch dort, wo uns
die Herrschaft des Gemeinen, Wüsten und Sinnlosen geschildert wird, dennoch
die von der Besonderheit des Inhalts ausgehende Unlust durch die vom
Menschlich-Bedeütungsvollen erregte Lust überwogen wird." Da, wie gesagt
worden ist, der Dichter des Tragischen sein Werk nicht schaffen kann, ohne
dabei von seiner Weltanschauung beeinflußt zu werden und sie einigermaßen
zu verraten, so fragt es sich, welche Weltanschauung der Darstellung des
Tragischen am günstigsten sei. Ausgeschlossen bleibt selbstverständlich als
gänzlich unverträglich mit dem Tragischen jede frivole und gemeine, auch die
Philisterhaft moralische. „Eine frivol gewonnene Lebensanschauung ist nicht
menschlich gewichtvoll genug. Außerdem wird durch eine Lebensanschauung,
die ihre Freude daran hat, den Leser mit sich in den Kot zu ziehn, die Grund¬
lage jeder künstlerischen Stimmung gröblich verletzt. Sobald sinnliche Begierden
aufgestachelt werden oder der Leser auch nur spürt, daß der Dichter auf solche
Aufstachelung loszielt, hört die Möglichkeit künstlerischen Genießens auf. Der
Leser Leider nicht jederZ fühlt sich erniedrigt, angeekelt, geärgert, empört.
Gefühle dieser Art drängen sich beim Lesen zahlreicher moderner Schriftsteller
auf, z. B. Conrads und Bahrs." Die antike und die des orthodoxen Christen¬
tums hält Volkelt für wenig günstig, weil in beiden das Schicksal transzendent,
die im Hintergrunde bestimmende und entscheidend eingreifende höhere Macht
als eine dem Menschen fremd gegenüberstehende gedacht wird. Den christlichen
Glauben nennt Volkelt noch außerdem seiner optimistischen Grundstimmung
wegen untragisch. Der christliche Dichter werde, wenn er schon so kühn ist,
seinen Helden in den Tod zu führen, ihm die Aussicht auf die ewige Seligkeit
eröffnen und dadurch die Tragik abschwächen. Auch seien die Tugenden, die
das unverfälschte Christentum vorzugsweise empfiehlt und pflegt: Demut,
Sanftmut, Bereitwilligkeit zum geduldigen Leiden, der Entfaltung straffer
Männlichkeit, wie sie den tragischen Helden und seinen Gegnern ziemt, wenig
günstig. Es gibt zwar, muß man hinzufügen, ein Christentum, das gerade
diese Eigenschaft pflegt, und das sich ebenfalls für das unverfälschte hält, das
kalvinische, aber dieses verbietet, wo es sich seine puritanische Reinheit bewahrt
hat. das Theater und auch jede den Theatergenuß ersetzende Lektüre und ist.
nebenbei bemerkt, mit seiner Prädestination nicht bloß nicht optimistisch, sondern
mehr als tragisch, gräßlich. Die moderne Weltanschauung erklärt Volkelt für
das Element, in dem allein das Tragische seine ungehemmt kraftvolle und
folgerichtige Entwicklung finden könne, denn hier sei das Schicksal das Ergebnis
des Zusammenwirkens des Einzelnen mit der gesetzmäßig geordneten Umwelt,
^ sei immanenter Natur. Demnach hätten wir von unsern Modernen, die
sich zum Monismus bekennen, die allervollkommensten Dramen, einen Uber-
shakespeare zu erwarten. Ganz so meint es nun wohl Volkelt nicht; er sagt
ausdrücklich, daß die Immanenz nicht in einem dem Christentum feindlichen
Sinne gedacht zu werden brauche, daß der Geist des Christentums in die
moderne Weltanschauung aufgenommen werden könne. Und da er an einer
andern Stelle bemerkt, der Dichter sei durchaus nicht verpflichtet, seinen
Schöpfungen eine bestimmte einheitliche Philosophie zugrunde zu legen, eine
abschließende Lösung der darin auftauchenden philosophischen Probleme zu
leisten, so darf man wohl sagen, daß christlicher Glaube überhaupt kein Hindernis
sei für die Schaffung tragischer Dichtungen. Die mit dem Christentum vollen
Ernst machen, verlegen sich nicht aufs Dichten; sie haben gar keine Zeit dazu.
Sie werden Heidenbekehrer oder Krankenpfleger oder puritanische Bußprediger
oder Mitglieder der Heilsarmee. Die gewöhnlichen Christen aber — ich meine
nicht heuchlerische oder bloße Namenschristen, sondern aufrichtige —, für die
das Christentum nicht ein und alles, sondern nur Würze oder Stütze oder
beides ist, tun täglich hunderterlei Dinge, die ziemlich oder sehr unchristlich
sind, warum sollten sie nicht, wenn sie das Zeug dazu haben, auch trotzige
oder frevelhafte oder verliebte Helden dichten und sie auf eine schreckliche Weise
untergehn lassen? Und was das transzendente Schicksal betrifft — Rettung
einer Seele durch die geweihte Benediktusmedaille können wir Heutigen freilich
ebensowenig brauchen wie den kindischen vsus sx ra^omina der sonst so großen
Alten (obwohl Goethe im Faust Wunder über Wunder passieren laßt). Aber
auch der orthodoxeste Glaube fordert das Wunder nicht. Er verbietet bloß,
die Möglichkeit des Wunders zu leugnen, und daß sich in der Vergangenheit
tatsächlich Wunder ereignet haben. Und gerade der Wunderbegriff hat das
Naturgesetz zur Voraussetzung, denn wo dieses nicht waltet, wo alles regellos
und willkürlich geschieht, da kann man von Ausnahmen, die Wunder genannt
werden, nicht sprechen. Der christliche Glaube ist also durchaus kein Hindernis
für den Dichter, in seinem Drama alles natürlich verlaufen zulassen und das
Schicksal seines Helden als das natürliche Ergebnis des Zusammenwirkens der
in dem Stück auftretenden Personen darzustellen. Die Frage des Philosophen,
ob die Gesetzlichkeit des Naturgeschehens in einem bewußten göttlichen Willen
wurzle oder in der nicht weiter zu erklärenden Beschaffenheit der Materie,
der Atome, oder wie man sonst die Grundbestandteile der Welt nennen will,
diese Frage geht den Dichter nichts an, sofern er nicht gerade ein philosophisches
Gedicht schreiben will.
Der letzte Abschnitt des Buches ist der Metaphysik des Tragischen ge¬
widmet. Die Welt könnte, meint Volkelt, das Tragische nicht enthalten, wenn
seine Wurzel nicht bis in den Weltgrund hinabreichte, wenn dieser Weltgrund
als ein ungebrochen Einiges, als ein friedlich Gegensatzloses vorgestellt werden
müßte. Ganz abgesehen von allen auffälligen Unvollkommenheiten, von allen
auffälligen Schmerzen, Zerrüttungen, Irrtümern, Verschuldungen sei schon die
Endlichkeit an sich ein Widerspruch, seien die Formen der Endlichkeit, Zeit
und Raum, voller Widersprüche, was sehr hübsch durchgeführt wird. „Wäre
der Weltgrund nichts als lauteres, gegensatzloses Sein, das ruhig und be¬
friedigt in sich ruht, so wäre es nicht zu verstehn, wie aus ihm die Endlichkeit,
dieses irrationale, sich selbst aufhebende Sein, entspringen sollte." Aus einem
solchen Sein hätte unsre wilde und grausame Wirklichkeit mit ihrem Gemisch
von Unvernunft, Gewalttätigkeit und tölpelhaften zerstörenden Zufällen nicht
hervorgehn können. (Daß das Weltweh in der Gottheit seinen Ursprung hat,
symbolisiert die naive Darstellung der heiligen Dreifaltigkeit, die dem himmlischen
Vater den Leichnam des geliebten Sohnes in den Schoß legt.) Dennoch lehnt
Volkelt den Pessimismus ebenso ab wie den plumpen und geistlosen Monismus
der Darwinianer und ist gleich mir überzeugt, daß die Welt trotz allen ihren
Schrecken und Widersprüchen die Vernünftigkeit und Güte des Weltgrundes
offenbare. Die Welttragik bleibt demnach ein Mysterium, dessen Inhalt sich
nur ahnen läßt. Volkelt drückt die Ahnung in drei Sätzen aus: „Erstens, der
ewige Weltgrund ist beides: vernünftig und doch in Vernunft nicht aufgehend,
sein söllend, positiv und negativ. Zweitens: das Vernünftige, Gute, Positive
ist das umfassende, übergeordnete, siegende Prinzip; das Negative besteht nur
als ein- und untergeordnetes, ewig waches und ewig nberwundnes Moment im
Positiven. Drittens: das Positive bedarf der Negation, kann sich nur dadurch
verwirklichen, daß es sich ewig an seinem Gegensatze belebt, entzündet und ihn
überwindet."
Georgy verwirft in dem eingangs genannten Buche ganz entschieden die
psychologische Behandlung des Tragischen und polemisiert darum viel gegen
Volkelt, den er übrigens hochschätzt. Diesem ist, wie uns, das Tragische vor
allem, wo nicht ausschließlich, etwas Menschliches, Persönliches; um Menschen¬
schicksale handelt es sich ja darin und um nichts sonst. Georgy erklärt es für An¬
maßung, wenn der Mensch sein Empfinden zum Maßstabe nimmt bei der Be¬
urteilung des Weltgeschehens, von dem das Tragische eben eine Seite sei. Der
Mensch dürfe sich nur als ein Glied des Weltganzen betrachten, dieses Weltganze,
die Natur, habe es auf Gestalten abgesehen, und darum bestehe die Aufgabe des
Menschen darin, zu gestalten und selbst Gestalt zu werden. Daß er nicht mühelos
Gestalt wird wie die Blume, daß er sich und andres nur in mühevoller Arbeit
gestalten kann, daß er dabei furchtbare Hindernisse zu überwinden hat, daß er
dabei schuldig wird — denn nicht jeden Augenblick seine Aufgabe lösen, und wer
kann sich rühmen, daß er ihr in jedem Augenblick gerecht werde, ist Ver¬
schuldung —, daß er mitten im Werk, vor dessen Vollendung, untergeht, daß
statt der Gestalt oft eine Mißgestalt herauskommt, daß alles dieses leidvoll ist,
darin besteht die Tragik des Daseins. Aber der Mensch hat kein Recht, darüber
Zu klagen, noch weniger ein Recht, sich sein Leid und seine Leistungen als
Verdienst anzurechnen. Es gibt keine Helden, keine Größe; alles, was geschieht,
'se notwendiges Naturereignis, ist nur ein Abschnitt des Prozesses, der, sofern
Tod, Untergang und Leid unentbehrliche Bedingungen des Daseins, Werdens
und Gestciltens sind, ein tragischer Prozeß ist. In der Einsicht der Notwendig¬
st des Leids liegt die Versöhnung und Erlösung; eine andre gibt es nicht.
Wir haben demnach das Leid, den Tod und die Schuld, diese unumgänglichen
Durchgcmgsstadien des ewigen Gestaltwerdens, gar nicht als Übel anzusehen.
Ja, wenn sich das nur so leicht machte für uns, die wir nicht als Götter auf
das Leid, von ihm unberührt, herabschauen, sondern als seine fühlenden Opfer
es empfinden!
Das alles ist nun zwar Philosophie und Biologie, aber doch eigentlich
nicht Ästhetik. Für Ästhetik hält es Georgy, weil er dem Kunstwerk die Auf¬
gabe stellt, die Sprache der Natur zu verdeutlichen, d. h. noch deutlicher als
die Natur es auszusprechen, daß Gestaltwerden das Grundgesetz des Universums
ist. Nun hat es zwar mit diesem Gesetz seine Richtigkeit, auch kommt im
Ästhetischen auf die Gestalt alles an, aber das Dasein, das Universum erschöpft
sich nicht in Gestalten. Es enthält noch vielerlei andres: Anziehung und
Abstoßung, Liebe und Haß, Polarität, Ruhe und Bewegung, Entstehen und
Vergehen, Schein und Sein, Äußeres und Inneres. Alle diese Formen, Vor¬
gänge und Kräfte sind beim Gestalten tätig, können auch im Drama verwandt
werden, kommen aber nicht zur Geltung, wenn man das Gestaltwerden als
die einzige Seite des Daseins hervorhebt. Eine so einseitige Theorie wird
demnach weder dem Leben noch der Kunst gerecht. Übrigens würden sich der
Monist Georgy und der fromme Kanonikus Lämmer wundern, wenn sie mit¬
einander bekannt würden und erführen, daß sie beide denselben Gedanken haben.
Lämmer hat nämlich einmal einen sehr schönen Kommentar zum Kirchweih¬
hymnus geschrieben, in dem auch das Menschendasein und das Gotteswerk als
ein ineinander eingreifendes Gestalten erscheint, nur daß dies in einem nicht
dem organischen Leben, sondern dem künstlerischen Schaffen entnommenen Bilde
geschieht, und daß es sich bei einem Bilde von selbst versteht, daß dieses den
Gegenstand nur einseitig, nicht erschöpfend, darstellt. Die beiden hier in
Betracht kommenden Strophen — zwischen ihnen ist von den Qualen der
Märtyrer die Rede — lauten:
Das Poliertwerden ist eben das Tragische für die lebendigen Steine.
Nach Georgy soll zwar das Kunstwerk die Natur erklären helfen, aber es ist
samt dem Menschen, der es schafft, selbst nur ein Stück Natur.
Durch ein Erfühlen (wir müssen gewaltige Naturvorgänge eben in unsrer
Sprache bezeichnen), Hintasten, Aus- und Aufeincmderbezogensein schied sich das
Chaos und blieben beieinander und schössen zusammen die kleinen und allerkleinsten
Beförderungen zu größern oder mieden sich und prallten feindselig aufeinander.
Dort fühlte die Monere sich zur Monere gezogen, da sehnte die Zelle sich zur Zelle,
lauter physisch-chemische Vorgänge und Ereignisse, die ihre große Entwicklung und
Geschichte haben. Daher auch unsre Fähigkeit, zu scheiden, ein Ganzes zu bilden
und zu schauen, durch die fortgesetzte natürliche Entwicklung der Dinge unser Bewußt-
sein zu steigern, unser Fühlen und Vorstellen auszuweiden und durch unsre be¬
ziehende Tätigkeit eine Welt als organische Einheit in uns aufzunehmen. Da ist
es nicht erst nötig, nachträglich eine Brücke von Subjekt zu Objekt zu schlagen, wie
die psychologische Ästhetik tut, indem sie den Gegenständen der Natur und Kunst
gerade die ästhetischen Normen abpreßt, die gewissen Tatsachen ^Forderungen?^
der menschlichen Seele entsprechen. Vielmehr jene Gegenstände und diese Psyche
haben das ihrige an demselben Orte zusammen empfangen. Sie können ohne nach¬
trägliche Konstruktion zueinander gelangen. Denn sie waren und sind beieinander^
solange die physisch-chemischen Prozesse der Natur das Substrat unsrer Triebe,,
unsre Triebe und Leidenschaften aber das Substrat unsrer geistigen Prozesse sind.
Aber! Nicht zu vergessen: die Eigenschaften des ästhetisch Wirksamen, des Gestalt¬
mäßigen waren infolge chemisch-physischer Vorgänge an gewissen Gegenständen Jahr¬
millionen für jvor?1 den Menschen da! Denn: kann sich der Sohn der Natur
eine Feierstunde durch Schauen und Bilden machen, so muß dies der großen Mutter,
ein deren Brüsten er seine Kräfte einsog, erst recht zugetraut werden. Nun: wir
sehen und spüren die Herrlichkeit ihrer Erscheinung! Aber ich meine, wir müssen
ihr zutrauen, etwas zu entwickeln, das über das nackte oder kahle Lebensbedürfnis
hinausgeht, oder des Lebens Notdurft so reich und doch gemessen zu geben, daß
ein Überflüssiges vorhanden ist, das trotzdem das Gepräge der Notwendigkeit keinen
Augenblick verliert.
O diese große Mutter, was wird ihr nicht alles zugetraut! Sonderbare
Leute, diese Monisten. Zuerst schlagen sie unsern Herrgott tot, und dann
konstruieren sie sich eine große Mutter, die gleich der ephesischen Diana viele
Brüste hat, an denen sie ihre Kindlein säugt, eine Natur, die vor den Moneren
und wahrscheinlich auch vor den Atomen da war und die Atome, Zellen,
Moneren mit den wunderbarsten Fähigkeiten ausgestattet hat; eine Künstlerin,
die schöne Gebilde hervorbringt, um sich damit Feierstunden des ästhetischen
Genusses zu bereiten, ungefähr so wie der Gott Dantes. Was nützt es nun, den
himmlischen Vater totzuschlagen, wenn man dafür die alte Mutter wieder kriegt,
die seit beinahe 1900 Jahren tot und begraben ist? S. 116 hat der Druck¬
f
WSWMN seinen Schattenspielen hat sich der Orient ein höchst eigenartig
entwickeltes volkstümliches Unterhaltungsmittel geschaffen, das im
I Geistesleben der Kulturvölker des Ostens bis auf den heutigen
WlMvv^Tag eine große Bedeutung hat. Wo die anmutige, aus phan-
und realisttschen Zügen seltsam gemischte Kunst des
Silhouettenspiels ihre Heimat hat, ob in Indien oder in einem andern der
großen asiatischen Reiche, darüber wird die Forschung wohl niemals zu völliger
Klarheit gelangen, wohl aber wissen wir aus unanfechtbaren literarischen Doku¬
menten, wie dem dem elften Jahrhundert entstammenden „Tau-sou" der Chinesen,
daß der Ursprung dieser szenischen Darbietungen bis in die fernsten Kulturperioden
Zurückreicht.
Es ist nicht zu verwundern, daß im Lande des Konfuzius, wo die Klein¬
kunst es schon früh zu bedeutenden Leistungen brachte, auch die subtile Kunst
des Schattenspiels die eifrigste Pflege fand, wie denn der ganze technische
Apparat dieser Miniaturbühne unter den geschickten Händen der Zopfträger zu
einer erstaunlichen Vollendung gelangte. Im Mittelalter finden wir chinesische
Schattenspieler am Hofe der Mongolenfürsten, wo ihre Vorführungen die
höchste Bewunderung hervorriefen, und jener gewandte Artist aus Kairo, der auf
Geheiß Sultan Selims des Zweiten dem jungen Prinzen Soliman im Palast
zu Konstantinopel das Ende des letzten Mamelukenherrschers auf der ^trans¬
parenten Leinwand vorführen mußte, hatte seine Kunstfertigkeit wohl auch
Lehrmeistern aus dem Lande des gelben Stromes zu verdanken.
So viel jedoch darf als feststehend betrachtet werden, daß die Chinesen
zur Verbreitung des Schattenspiels im Orient sehr viel beigetragen haben, und
auch das heutige türkische Schattentheater kann seine Herkunft vom chinesischen
nicht verleugnen, wie schon ein Vergleich des beiderseitigen, in Größe und
Technik völlig übereinstimmenden Figurcnmaterials ganz deutlich zeigt. Während
aber die Wirkung des chinesischen Spiels vornehmlich auf seinem wunderbaren,
die raffiniertesten szenischen Effekte ermöglichenden Mechanismus beruht, hat
sich die türkische Schattenbühne mit ihrem umfangreichen Posten- und Schwank¬
repertoire literarisch so eigenartig und interessant entwickelt, daß es sich wohl
verlohnt, dieses die dramatische Kunst der osmanisch-islamitischen Welt fast aus¬
schließlich repräsentierende Unterhaltungsinstitut in bezug auf seine künstlerischen
Qualitäten einmal näher zu betrachten. Die Hauptperson dieses kleinen ori¬
ginellen Theaters heißt Karagöz, zu deutsch „Schwarzauge"; er ist ein Geistes¬
verwandter unsers heimischen Kasperle, das seine Ahnenreihe bekanntlich
zurückverfolgen kann bis zu dem „Vidusccka" der Jndier, der schon vor zwei¬
tausendfünfhundert Jahren im Lande der Lotosblume mit seinen Hanswurst-
späßeu glänzte.
Am Ramadanfeste, wo sich die Bekenner Mohammeds den ungezügeltsten
Ausschweifungen überlassen und sich dann in der Moschee von ihrer seelischen
Befleckung reinigen, steigt Karagöz aus den dunkeln Tiefen seiner Verborgen¬
heit empor, um sich während der Dauer des großen islamitischen Festes in
der ganzen Glorie eines durch die Keckheit und Urwüchsigkeit seiner Inspirationen
verblüffenden Genies zu zeigen. Zur Erfüllung seiner künstlerischen Mission
steht ihm alljährlich nur die verhältnismäßig kurze Frist eines Monats zur
Verfügung, aber was er während dieser Zeitspanne in Gemeinschaft mit
seinem Freunde und unzertrennlichen Begleiter „Hagievad" an Witz und
originellem Humor zlltage fördert, dürfte schwerer wiegen als die Leistungen
sämtlicher Berliner Cabarets während einer ganzen Theatersaison zusammen¬
genommen.
Was auch nach unsern abendländischen Begriffen dem lustigen Helden der
türkischen Schattenbühne, als dessen Vater der zur Zeit Murads des Vierten
lebende Silhouettenkünstler Hasanzade gilt, ein erhöhtes geistiges Interesse
verleiht, ja ihm direkt eine ethische Bedeutung gibt, ist der Umstand, daß er
von seiner Narrenfreiheit den ausgiebigsten Gebrauch macht, und zwar im Sinne
eines öffentlichen Anklägers, der mit beißendem Spott und treffender, oft geist¬
reicher Satire die menschliche Komödie geißelt. In manchen seiner Äußerungen
nach dieser Seite hin steckt etwas von der Schürfe und Schlagkraft eines
Juvenal, und als Mitarbeiter unsrer Witzblätter würde er zweifelsohne brillante
Honorare einheimsen.
Als man einmal an ihn die Frage richtete, weshalb er sich bei seinem
Anstand und seiner Bildung nicht um eine Hofstelle bewerbe, entgegnete er:
Aus Sparsamkeitsrücksichten. — Wieso aus Sparsamkeitsrücksichten? fragte
der Fragesteller erstaunt. — Weil es kaum Wasser genug gibt, einen Höfling
rein zu waschen.
Einst ließ sich ein hochgestellter, aber keineswegs mit einem Übermaß von
Verstand gesegneter Beamter herab, mit dem Spaßvogel eine Unterredung an¬
zuknüpfen. Deine Witze sind gut, Karagöz, bemerkte er, manchmal haust du
aber auch daneben. Wenn mir hin und wieder mal ein ungereimter Einfall
entführt, muß ich immer laut auflachen. — In Wahrheit, dann bist du zu
beneiden, Effendi, versetzte der Angeredete, denn da mußt du ja das lustigste
Leben von der Welt führen.
Ein andresmal kam ein Gelehrter zu ihm und sagte: Mein Freund, du
bist ein Mann von Geschmack und Kenntnissen. Hier bringe ich dir ein Heft,
das die Niederschrift meines neuesten Buches enthält. Lies es und unterbreite
mir nach einigen Tagen dein Urteil. Als der Gelehrte zur bestimmten Frist
wiederkehrte, um die Meinung des Karagöz zu hören, erklärte ihm dieser:
Deine Blätter haben am Licht meiner Lampe Feuer gefangen und sind ver¬
brannt. — Unseliger, rief der Mann der Wissenschaft entsetzt, was hast du
getan? — Tröste dich nur, erwiderte Karagöz. Ich habe ein vortreffliches
Gedächtnis, und mit dessen Hilfe habe ich dein Werk wort- und sinngetreu
niedergeschrieben. Hier ist es. — Aber die Schrift kann ja niemand lesen! —
Das ist der beste Gefallen, den ich dir habe tun können, meinte der Schalk
"ut sarkastischen Lächeln.
Leider sehen wir unsern Helden mit einer Schwäche behaftet, die fast einer
direkten Verneinung seiner guten Eigenschaften gleichkommt, es ist dies ein
faunisches Behagen am Niedrig-Erotischen, das ihn in zahlreichen Komödien
Zu Obszönitäten verleitet, die sogar der in Dingen öffentlicher Moral gewiß
uicht sehr empfindlichen türkischen Polizei Veranlassung boten, gegen solche
Ausschreitungen mit strengen Maßregeln vorzugehn. Seine perverse Natur
macht sich in den widerwärtigsten Bocksgelüsten Luft, und was er in manchen
Possen an Cynismen und Unanständigkeiten leistet, genügte vollkommen, drei
moderne Cyniker in der opulentesten Weise damit auszustaffieren. Karagöz,
dieser mit seinen sadistischen Neigungen sich brüstende Dekadent, ist, wie ein
Franzose geistreich von ihm bemerkte: poro oonronns ä'rin bourse as ton,
und diese charakteristische Bezeichnung käme ihm auch dann zu, wenn er sich
nicht bis zu der Ungeheuerlichkeit seines Bruders in Tunis versteigt, der sich
erdreistet, seine seltsame körperliche Bildung öffentlich zur Schau zu tragen,
ohne daß man es für notwendig erachtet, der anwesenden Jugend beiderlei
Geschlechts diesen schamlosen Anblick zu entziehn.
Neben Karagöz ist sein schon vorhin erwähnter Freund und Kartellträger
„Hagievad" sehr bemerkenswert. Eleganter in seinem Exterieur als der zuerst
genannte, den man gemeinhin für einen Schmied hält, und der auch auf der
Szene immer als eine plumpe Figur mit groben Gesichtszügen erscheint, hat
er auch etwas mehr Bildung, wenngleich er ebenfalls in bedenklichem Maße
zu Verstößen contra, bonos moros neigt, wie sich denn überhaupt seine Sitt¬
lichkeitsbegriffe nur wenig vorteilhaft von denen des Haupthelden unterscheiden.
In Karagöz und Hagievad sehen wir die ältesten Typen der Komödie, und es
gibt Stücke, in denen nur diese beiden lustigen Ulkvögel allein auftreten; viel¬
leicht sind es sogar die unterhaltendsten. Bekri Mustafa, der reich gewordne
Bauer, der nach der Stadt kommt und sich dort jedesmal übertölpeln läßt,
der dünkelhafte, sehr selbstbewußt auftretende Kawasse, der Tschifut, der arme,
von Karagöz beständig gemaßregelte jüdische Schnorrer, der gaunerhafte Der¬
wisch, der Opiumraucher, der Stammler, der Raster, der Armenier, der Franke,
der Albanese, sie und zahlreiche andre charakteristische Vertreter des männlichen
und des weiblichen Geschlechts bilden den anmutigen Chorus, der zu den
Abenteuern und Heldentaten Meisters Karagöz in mittelbaren oder unmittel¬
baren Beziehungen steht.
Von allen deutschen Orientalisten ist Professor Georg Jacob wohl am
tiefsten in das Wesen der Karagözbühne eingedrungen, und ihm gebührt das
unbestrittene Verdienst, sie durch zahlreiche treffliche Übersetzungen ihrer Re¬
pertoirestücke unserm Verständnis näher gebracht zu haben. Aber schon lange
vor ihm haben bekannte französische Schriftsteller wie der feinsinnige Theophile
Gautier und der dichterisch vornehm empfindende Gerard de Nerval diesem
amüsanten Miniaturtheater ihr Augenmerk zugewandt, und insbesondre die von
Champfleury in seinem Nusös ssorst as Is. og-rivaturs mitgeteilte Analyse einer
Karagözkomödie aus der Feder de Nervals ist geeignet, uns eine ziemlich klare
Vorstellung der türkischen Schattenbühne in ihrer Eigenart zu vermitteln. Das
köstliche, von dem genannten Autor elegant und künstlerisch reizvoll wiedergegebne
Stückchen führt den Titel: „Karagöz als das Opfer seiner Keuschheit" und
zeigt uns, wenngleich im Original reich an geschlechtlichen Anspielungen, den
alten Possenreißer und Zotenbruder noch von einer seiner mildesten Seiten.
Der Schauplatz der Begebenheit ist eine öffentliche Platzanlage in Kon¬
stantinopel in transparenter Darstellung; im Vordergrunde ein Brunnen, rechts
und links Häuser. Zunächst erscheint ein Wächter, dann ein Hund, hierauf ein
Wasserträger; es folgt eine Menge Personen, die zu dem Inhalt des Stückes
in keiner wesentlichen Beziehung stehn, sondern nur dazu dienen, das Tableau
recht lebendig zu machen und ein möglichst realistisches Bild konstantinopoli-
tanischen Straßenlebens zu geben. Nun öffnet sich die Tür des Hauses, und
die bekannte Gestalt Hagievads tritt heraus, gefolgt von einem Mohren mit
einer Reisetasche. Er ruft laut:
Karagöz, Karagöz, mein bester Freund, schläfst du?
Der Berufne, von allen Zuschauern mit frenetischem Jubel begrüßt, steckt
augenblicklich seine Nase zum Fenster hinaus. Dann eilt er hinunter, um
seinen wackern Freund zu umarmen.
und du könntest mir einen großen Dienst erweisen. Du weißt, ich habe eine reizende
Frau, und sie allein zu lassen, kostet mich außerordentliche Überwindung. Da ist
mir über Nacht eine vorzügliche Idee gekommen, nämlich dich, mein Junge, zum
Wächter ihrer Tugend zu machen. Deine aufrichtige Hingebung an mich ist mir
bekannt, und ich freue mich, dir diesen Beweis meines Vertrauens geben zu können.
Karagöz: Donnerwetter, das ist eine verdammt kitzlige Geschichte. Betrachte
mich gefälligst einmal.
Nun, und?
Fü
verlieben wird, sobald sie mich erblickt?
Seite habe ich am allerwenigsten Gefahr zu erwarten, mein armer Junge. Denn
beim Barte des Propheten, deine Bauart ist doch etwas bedenklich. Also ich rechne
auf dich (ab).
In einem längern Monolog stellt der Held des Stückes nun Betrachtungen
darüber an, ob er sich der Frau des Hauses zeigen oder ihr seinen nach seiner
Meinung ihr so gefährlichen Anblick entziehn soll. Endlich kommt er zu dein
Entschluß, ihrer Tugend keine Fallstricke zu legen und der übernommnen Auf¬
gabe treu zu bleiben.
Nun folgt eine Szene, die auf der Leinwand höchst komisch wirkt, die zu
beschreiben aber nicht leicht ist. Um sich der Frau seines Freundes unkennt¬
lich zu machen, formt Karagöz aus seinem Körper eine Brücke, die eine Menge
Personen überschreiten; als ihm dies zu gefährlich wird, macht er aus sich
einen Eichenpfahl. Wäscherinnen kommen vom Brunnen, breiten ihre Linnen
vor ihm aus, und der heldenhafte Mann freut sich der gelungner Täuschung.
Knechte erscheinen, um die Pferde zur Tränke zu führen, ein Genosse ladet sie
zu einem Trunke im naheliegenden Wirtshaus ein, und sie binden die Tiere
ein den vermeintlichen Pfahl. Plötzlich nehmen diese Reißaus und schleppen
den unglücklichen Karagöz hinter sich, bis er auf seine Hilferufe von der Menge
befreit wird.
In diesem Augenblick wird die Dame sichtbar. Sie ist von ihm entzückt,
und es kostet Karagöz Mühe, ihre wachsende Leidenschaft im Zaume zu halten.
Schließlich geht er in seiner Selbsterniedrigung so weit, sich als einen öffent¬
lichen Sicherheitswächter zu bezeichnen. Aber auch diese freiwillige Erniedrigung
seiner Person vermag auf ihr entflammtes Herz nicht abkühlend zu wirken;
sie will durchaus, daß er sich in ihrem Hause ausruhe. Da, als sie den
Widerstrebenden anfassen will, kommt diesem ein letzter verzweifelter Gedanke;
er bezeichnet sich als unrein. Ich kann ein ehrbares muselmännisches Haus
nicht durch meine Gegenwart beflecken, ich bin besudelt durch die Berührung
eines Hundes.
O, das ist nicht schlimm, gibt die treulose Frau zur Antwort. Dort steht
ein Brunnen, wasche dich und warte, bis ich aus dem Bade zurückkomme.
Karagöz, der den festen Entschluß gefaßt hat, unter allen Umständen
tugendhaft zu bleiben, ergibt sich in sein Schicksal. Nach einer Weile, während
sich die Szene wieder ziemlich bewegt gestaltet, kehrt die Dame zurück, aber
sie ist nicht allein: zahlreiche Hanoums, denen sie im Bade von der Schön¬
heit und dem Auslande des Mannes, den sie auf dem Platze getroffen, er¬
zählt hat, sind in ihrer Begleitung, und sie will diese nun zu Zeuginnen ihres
Sieges über den Gegenstand ihrer Leidenschaft machen. Sie lockert ihre Ge¬
wänder, löst das Haar und spart überhaupt kein Mittel, um endlich zu ihrem
Ziele zu gelangen. Er scheint zu unterliegen. Da, in diesem kritischen Augen¬
blick kommt eine vornehme Karosse angefahren; ein Herr, elegant in Seide
und Sammet gekleidet, den Degen an der Seite, den Dreispitz auf dem ge¬
puderten Kopf entsteigt dem Wagen, um sich nach der Ursache der ungewöhn¬
lichen Szene zu erkundigen; es ist der französische Gesandte. Karagöz bittet
ihn um seinen Schutz gegenüber den Versuchungen, die ihn bedrohen. Der
hohe Herr ladet ihn ein, in seinem Wagen Platz zu nehmen; die Tür wird
zugemacht, die Pferde ziehn an, die Karosse rollt von dannen, und mit ihr
entschwindet der schöne Traum der liebeglühenden Frauen von Stambul.
Hagievad kehrt zurück, höchst erfreut darüber, die Tugend seiner Frau unan¬
getastet zu sehen.
Die starke Wirkung, die diese und ähnliche kleine Komödien auf den Zu¬
schauer ausüben, erklärt sich aus der großen Geschicklichkeit, womit der hinter
der Leinwand auf einem Tische hockende Schattenspieler, der „Karagödschi" zu
Werke geht. Er muß nicht nur über bedeutende rezitatorische Fähigkeiten ver¬
fügen, sondern sein Metier stellt auch an ihn als Artisten hohe Anforderungen,
da sein Bühneninventar neben zahlreichen Versatzstücken aus vierzig bis fünfzig
meist beweglichen Figuren besteht, von denen oft ganze Gruppen zugleich auf
der Szene erscheinen, was nur durch eine eminente Handfertigkeit zu ermög¬
lichen ist. In der Tat gibt es unter den türkischen Karagödschis Künstler,
die durch ihre virtuosen Leistungen bei den Zuschauern die Illusion derart zu
steigern wissen, daß diese vermeinen, keine Silhouetten, sondern lebende Menschen
Vor sich agieren zu sehen. Jedenfalls aber bildet das türkische Karagöztheater,
über dessen technische Einrichtung und figurale Ausstattung wir in unserm
das gesamte Marionettenwesen behandelnden Werke*) näheres mitgeteilt haben,
im Geistesleben der Osmanen einen Charakterzug, für den sich auch abend¬
ländische Kreise interessieren dürften.
es hatte das Glück, vor einigen Jahren eine Reise nach Sizilien
zu machen und habe dort, obgleich erst halbwegs an der Schwelle
der tropischen Zone, einen kleinen Vorgeschmack vom Lande der
scheitelrechten Sonne bekommen. Es war sehr schön, aber es
war trotzdem kein Wunder, daß der unbestimmte gelegentliche
Wunsch, auch einmal in den hohen Norden zu kommen, in der afrikanischen
Hitze unter den Tempelruinen Selinunts unheimlich schnell reifte. Im Juni
und Juli des Jahres 1905 gelang es mir, den Plan zur Ausführung zu bringen
und bis an das Nordkap zu kommen, an die nördlichste Spitze Norwegens
und Europas. Das Nordkap ist weit von uns entfernt und noch weiter, als
man gewöhnlich denkt. Wenn man auf einem Globus die eine Zirkelspitze
in Stuttgart einsticht und die andre auf das Nordkap einstellt und dann mit
dieser Zirkelspitze eine Rundreise durch die Welt macht, so kommt man über
den Euphrat, die Sahara und die Azoreninseln und um Island herum, ehe
man wieder nach dem Nordkap gelangt.
Das Nordkap ist nördlicher als Island und liegt etwa in der Breite
der ewig mit Eis blockierten Durchfahrt von Grönland nach Sibirien.
Aber wer am Nordkap, nur 17 Grad vom Nordpol entfernt, die typische
Natur des Polarkreises studieren wollte, der würde sie so wenig finden wie
die Flora Siziliens auf dem Gipfel des Ätna. Man sieht am Fuße des
Nordkaps nicht eine einzige Eisscholle im Meer treiben, geschweige denn, daß
man gelegentlich ein kleines Abenteuer mit Eisbären zu bestehn hätte, wie es
w Grönland, viel südlicher, vorkommen kann.
Diese Erscheinung, eine der auffallendsten klimatischen Ausnahmen auf
dem ganzen Erdball, ist ja allbekannt, wie auch ihre Ursache, der warme
Golfstrom, der die ganze Küste Norwegens bespült. Wo das warme Meer-
Wasser und die feuchten warmen Winde hinkommen, da ist üppiges Pflanzen-
leben bis hinauf an das Nordkap, aber hart daneben beginnen der ewige
Schnee und riesige Gletscherfelder, wie die Wüste am Rande der wasserbelebten
Oase. Auf meiner Reise nach dem Süden habe ich die erste baumartige
Araucaria (^.. sxeslsa, die Norfolktanne) erst angesichts Siziliens angetroffen
und habe sie als die Botin einer andern Provinz des Pflanzenreiches begrüßt;
über wer beschreibt mein Erstaunen, als ich in Norwegen drei Grade südlich
vom Polarkreis im Freien wieder eine Araucaria brasiliMsis) antraf! Es
war in Motte, drei Breitengrade nördlicher als Se. Petersburg, und ich gestehe,
daß ich es nicht ohne weiteres glaubte, daß der etwa drei Meter hohe Baum
im Garten des deutschen Konsuls frei im Boden wurzelte.
Wer also das Eismeer mit seinen Wundern sehen will, der muß noch
weiter als das Nordkap, der muß bis nach Spitzbergen vordringen, wo von
jedem Berg ein Gletscher bis ins Meer herunterhängt. Mir war dies leider
nicht möglich, aber einige Ausflüge in das gebirgige kältere Innere des
Landes gaben mir wenigstens eine Idee von der nördlichen Tier- und Pflanzen¬
welt und machten mich mit dem nördlichsten Volksstamm Europas, den Lappen,
bekannt.
Übrigens gehn auch die meisten Reisenden nicht wegen der nordischen
Landschaft oder gar wegen der Tier- und Pflanzenwelt in diese abgelegnen
Gegenden, sondern wegen der eigentümlichen Vorgänge am Himmel.
Für das, was am Boden haftet oder kreucht und fleugt, haben ja die
meisten der vielen Vergnügungsreisenden zu wenig Sinn, als daß sie den
Wechsel empfänden, jedenfalls geniert er sie nicht. Aber die Vorgänge am
Himmel des hohen Nordens sind so in die Augen springend, daß sie sich auch
dem Harmlosesten als Niegesehenes und Wunderbares aufdrängen. Die Mitter¬
nachtssonne ist es, die man gesehen haben will und muß, „Ins Land der
Mitternachtssonne" — so lautet der lockende Aufruf auf den Prospekten der
Dampfergesellschaften, die jedes Jahr Vergnügungsreisende in steigender Menge
nach dem Nordkap führen, wo sie auf dem eigens dazu errichteten Postamt
ihre Ansichtspostkarten abwerfen und dann befriedigt wieder heimreisen.
Was übrigens dieses Postamt anlangt, so will ich unter dem Siegel der
Verschwiegenheit mitteilen, daß es jeweils immer nur so lange offen ist, als
Schiffspassagiere am Lande sind. Derselbe Schiffsangestellte, der den Riesenpack
Karten, die man vorher auf dem Schiff schreibt, auf das Postamt Nordkap
trägt, stempelt sie dort ab und trägt sie wieder zur Beförderung auf das
Schiff, da die paar Ziegen, die die einzigen stündigen Bewohner der Insel
sind, vorerst noch keine postalischen Bedürfnisse haben.
Ich machte die Reise mit den sogenannten norwegischen Touristenschiffen,
die in sieben Tagen von Hamburg nach Drontheim und in weitern sieben
Tagen von Drontheim nach dem Nordkap und wieder zurückfahren. In An¬
betracht des unendlich vielen, was der gewissenhafte Reisende unterwegs zu
sehen hätte, kann man diese Reisen nur als Hetztouren*) bezeichnen, aber wer
nicht sehr viel Zeit zur Verfügung hat, muß sich mit Rücksicht auf die riesigen
Entfernungen und die spärlichen Verkehrsmittel einer solchen Touristenfahrt,
sei es nun mit der Hamburg-Amerikalinie oder mit den norwegischen Schiffen,
anschließen.
Wenn ich das hier einfügen darf, so bietet die Hamburg-Amerikalinie den
großen Vorteil, daß sie bei ihren großen Schiffen Spitzbergen und das Eismeer,
wenn auch natürlich so flüchtig wie das übrige, mit in ihre Fahrten hineinzieht,
wogegen die kleinern Schiffe der Norweger tiefer in die Fjorde eindringen
können. Ich benutzte die norwegischen Schiffe und muß gestehn, daß mir
ihr Reiseweg aufs sorgfältigste ausgedacht zu sein scheint, nicht bloß, weil er
lauter hervorragende Punkte berücksichtigt, sondern weil der rüstigere Reisende
auf der südlichen Hälfte der Fahrt dreimal Gelegenheit hat, einen halben oder
einen ganzen Tag zu einer Tour ins Land zu benutzen, ohne dabei von dem
offiziellen Programm etwas wesentliches zu verlieren.
Es war der 20. Juni 1905, als wir um Mitternacht von Hamburg ab¬
fuhren; Morgens um fünf Uhr stand ich schon auf Deck, weil mir das Schlafen
im engen Raum und bei geschlossenem Fenster zu ungewohnt war, und glaubte
die Westküste Dänemarks vor mir zu haben, ein ziemlich flaches Weideland,
als ich im Hintergrund immer deutlicher eine Bergkette sah; also waren wir
schon angesichts von Norwegen. Wir sollten das Land aber nicht so bald
betreten. Beim Frühstück war es schon sehr verdächtig, daß die Tische mit
lauter Schutzvorrichtungen gegen das Herunterfallen der Teller usw. bedeckt
waren, und bis zum Mittagessen hatte sich die Sache richtig schon so gestaltet,
daß nur noch sieben Herren hinunter kamen. Es war eine riesige Speisen¬
folge, aber ich ließ den ersten Gang, einen wunderbaren Fisch in Mayonnaise,
vorbeigehn und wartete auf die Suppe. Mittlerweile war ein Nachbar, dem
ich von dem Fisch abgeraten hatte, schon verschwunden, und nach der Suppe
machte ich es ebenso und legte mich wieder ergeben in Winterüberzieher und
Teppich eingewickelt auf einen Stuhl auf Deck und betrachtete, während der
Wind über mich hinpfiff, krampfhaft die ferne Küste. Es war ein langer
Nachmittag, nur unterbrochen durch zwei sehr unbeabsichtigte plötzliche Rutsch¬
fahrten meines Stuhles gegen das Schiffsbord, die mich notdürftig aus meiner
Lethargie aufrüttelten.
Um zehn Uhr gab ich den Kampf auf und legte mich in meine Kammer,
und als ich wieder aufwachte, war es Heller Morgen, und das Schiff ging
so ruhig wie auf dem Rhein; ich hatte alle die Schrecken der Nacht, von
denen am andern Tage viel erzählt wurde, traumlos verschlafen. Sogar
der Kapitän gab übrigens zu, daß es ein ganz ordentlicher Wind gewesen
sei, und freute sich, daß sich die Irma, so hieß das schöne Schiff, das mit
uns erst seine zweite Reise machte, so gut gehalten habe und sehr zuver¬
lässig sei.
Was die Passagiere, und zwar nicht bloß die Damen, aber entschieden
noch mehr freute, war die Versicherung, daß wir jetzt vom Wetter nichts mehr
zu leiden bekämen, denn wir seien von jetzt an immer durch die Schären ge¬
deckt, und in den Fjorden, die wir jetzt der Reihe nach befahren würden, sei
nichts zu fürchten. Zunächst ging es in eine weite Meeresbucht hinein, dann
um ein Vorgebirge herum, und dreißig Stunden nach der Abfahrt von Ham¬
burg befanden wir uns angesichts der alten Königsstadt Stcwanger, die in
prächtigstem Sonnenlichte vor uns lag. Vom Hafen aus steigt man durch
einige alte schmale Straßen auf einen Hügel, auf dem sich der Dom erhebt.
Das Innere des romanischen Schiffes mit seinen schweren Granitsäulen von
ungewöhnlich großem Durchmesser und fremdartigen Zieraten macht einen
weihevollen aber düstern Eindruck: es ist die steingewordne germanische Helden¬
sage im christlichen Gewand, aber mehr Nibelungenlied als Frithjofssage.
Um so lieblicher war das Bild, das sich außen bot: der Dom, daneben
der alte Bischofshof, beides umrahmt von prächtigen alten Bäumen, die sich
in dem Teich am Fuße des Hügels spiegelten; es war als Gesamtbild das
reizvollste, was ich von Überresten des Mittelalters in Norwegen gesehen
habe. Auf einem andern Hügel gegenüber liegt ein kleiner niedriger, äußerst
wirkungsvoller Bau in altnorwegischem Holzsül, den man mit seinen schiffs¬
schnabelförmigen Drachenköpfen und der wehenden Flagge auf hohem Mast
für ein Sportgebäude halten möchte, es war aber eine der katholischen
Missionskirchen, wie sie gegenwärtig in Skandinavien vielfach errichtet werden.
Nach wenig Stunden ging es weiter nach einem der Glanzpunkte der Reise,
nach dem Hardanger Fjord, immer zwischen den Schären zur Linken und der
zerklüfteten Küste des Festlandes zur Rechten.
Ehe ich von diesem Fjord spreche, muß ich einiges allgemeine über die
vielgenannten Schären und Fjords und die Bodengestaltung Norwegens über¬
haupt vorausschicken.
Wenn man sich vom Meer her Norwegen, namentlich dem nördlichen
Norwegen nähert, so hat man den Eindruck eines Gebirges, dessen Fuß zahl¬
reiche Inseln vorgelagert sind. Diese Inseln sind die Schären; sie sind so
zahlreich und oft in mehreren Reihen hintereinander angeordnet, daß man
zwischen dieser Schürenflur und dem Festlande von Norwegen bis in den
höchsten Norden wie durch einen Kanal führt. Man hat deshalb nur selten
einen freien Ausblick in das offne Meer, andrerseits aber auch Schutz vor
den Unbilden von Wind und Wellen.
Dieses Gebirge, das man vom Meer aus zu sehen bekommt, ist jedoch
nur der Steilabsturz einer Hochebene, die wie unsre Schwäbische Alb gegen
Westen steil abfüllt, während sie sich gegen Osten langsam senkt. Verlängert
man in Gedanken einmal unsre mit der norwegischen Küste genau parallel
laufende Alb bis nach Königsberg und läßt man ihre Höhenlinie auf das
Dreifache oder das Vierfache anschwellen, so braucht man, wenn man das
schönste Gegenstück zu Skandinavien haben will, nur noch ein klein wenig
Phantasie und Meerwasser.
Die Wissenschaft nimmt an, daß die norwegischen Fjorde alte Flußtäler
sind, die später durch Eisströme ausgefüllt und ausgearbeitet und schließlich
infolge einer Senkung des Landes unter Wasser gesetzt worden sind. Jeder
Fjord endigt gegen das Land zu in ein Tal mit einem Fluß, manchmal auch
nur in eine Art Tal, besser gesagt, in eine Absturzrinne, in der der Fluß als
eine Kette von tosenden Wasserfallen herunterstürzt. Jedes dieser ehemaligen
Täter, der jetzigen Fjorde, hat natürlich seine Nebentäler, und das Haupttal
ist vielfach rechtwinklig oder gar spitzwinklig geknickt. Infolge dieser Krümmungen
schneiden die Fjordwasserstraßen trotz einer Länge von 200 Kilometern und
mehr verhältnismäßig nicht tiefer in das skandinavische Festland ein als unsre
Albflüßchen und endigen vielfach wie diese in schluchtenartigen Gebirgsrinnen,
deren steile Wände bis zu 1500 Metern ansteigen. Die Hauptrichtung der
Fjorde ist wie die der Albtrauftäler eine westöstliche, und zwischen je zwei
Fjorden entsteht wie dort eine Halbinsel. Das Plateau dieser Halbinseln
besteht vielfach aus riesigen Firnscldern, die an einzelnen Stellen Eisströme
zu den Fjorden hinabsenden.
Der erste Fjord, den wir besuchten, war der Hardanger Fjord, der für den
lieblichsten der Fjorde gilt. Ich möchte ihn im Charakter mit dem Vierwald-
stütter See vergleichen.
Nach mehrstündiger Fahrt befand sich unser Schiff dem Hof Sundal gegen¬
über vor einem der schönsten Seitentäler, dessen Abschluß ein wunderbarer
Gletscher, der Bondhusbrae, bildet. Hier ließ ich mich Abends acht Uhr mit zwei
Gefährten ausbooten, um am Rande dieses Gletschers auf das Plateau hinauf¬
zusteigen und nach dessen Durchauerung wieder zum Fjord, und zwar an dessen
Ende, hinunterzusteigen. Die Situation war, um wieder auf den Vergleich
mit der Alb zurückzukommen, wie wenn ich das tief überschwemmte Filstal
bis in die Höhe von Göppingen hinaufgefahren und in Voll gelandet wäre,
um von dort über den Bosler und das Albplateau wandernd das große Knie
des „Filsfjord" abzuschneiden und in einer Talrunse möglichst steil gegen
Ditzenbach hinabzusteigen.
Wir erreichten „bei Nacht" elf Uhr, aber noch bei ganz gutem Tageslicht,
bei etwa 700 Metern die Schneegrenze und rasteten zwei Stunden in einer
Sennhütte auf Renntierfellen, die uns die Hirten abtraten. Um diese Renntier¬
felle herum war ein Verschlag, der aber einem Frühbeet viel ähnlicher war
als einer Bettstelle, was unserm Schlaf aber keinen Abbruch tat. Um ein Uhr
war es hell genug für unsre Wanderung über das mehrere Quadratmeilen
große Schnee- und Firnfeld des Folgefonds. Die Wanderung über diese gro߬
artige Wüste von zuckerkörnigem Schnee war köstlich. Hinter der nächsten
Anhöhe begrüßte uns schon die Sonne, und bald wetteiferte das Blau des
wolkenlosen Himmels an Reinheit mit der leuchtendweißen, nirgends unter-
brochner Schneefläche. Nach vier Stunden hatten wir mit etwa 1600 Metern
die Paßhöhe erreicht und sahen staunend und schweigend in das unbegrenzte
weiße Wunderland ringsum.
Ich Hütte der Welt gewünscht, daß der Dichter der Bergpsalmen, unser
Scheffel, einmal da oben gestanden hätte; mir aber wünschte ich die Flügel¬
sohlen der Schneeschuhe, um befreit von der irdischen Schwere durch diese
Wunderwelt dahinzueilen. Aber das Schönste sollte noch kommen: nach dem
verjüngenden Hauch des Hochgebirges, nach dem leuchtenden Glase des Winters
der Zauber des Frühlings und seine Schmeichellüfte. Der Abstieg über die
Schneeflächen war bald zu einem Absausen über Schneehalden geworden, als
wir plötzlich das Rauschen von Quellen hörten. Nach einer kleinen Biegung
des Weges standen wir an des Stromes Mutterhaus. Unter dem weit vor¬
springenden Schirmdach des Schnees sprudelten reiche Quellen lustig hervor
und tanzten und sprangen weiter über den moorigen Boden. Rechts und links
aber waren schwellende Polster von Gräsern und von ganz niedrigen Weiden,
die ihre riesigen Palmkätzchcn der warmen Sonne entgegenstreckten, dazu überall
ein fröhliches Treiben von Hummeln und andern geflügelten Gästen. Tief
unter uns lag wie ein breiter Strom der grüne Fjord und an seinem Ende
die Holzhüuschen von Obba, und ihnen gegenüber lag auch unser Schiff, das
wir nach einem steilen Abstieg, zuletzt durch einen prächtigen Buchenwald, um
neun Uhr Morgens erreichten.
Ich hatte noch zweimal Gelegenheit, vom Schiff weg und in das Land
hineinzukommen, beidemal in der Weise, daß ich, von einem Fjord ausgehend,
der Straße durch das dazu gehörende Flußtal bis auf die Hochfläche folgte,
dann die trennende Landzunge überschritt, um nach dem benachbarten Fjord
abzusteigen. Bei beiden Touren war der Anstieg verhältnismäßig langsam und
lang, der Abstieg steil und entsprechend kurz.
Der erste der beiden Ausflüge war die weltberühmte Tour von Voßwcmgen
über Stahlheim nach Gudwangen am Näröfjord. Der Aufstieg nach Stahlheim
ist für den einigermaßen gebirgsverwöhnten Reisenden eine fortgesetzte Ent¬
täuschung, aber der Blick und der steile Abstieg von der Stahlheim-Kiep, d. h.
Stahlheim-Klippe, hinunter in den schluchtartigen Beginn des Närötales mit
seinen beiden Prachtwasserfällcn ist überwältigend.
Unvergleichlich großartiger ist der Übergang vom Nordfjord nach dem
Geircmgerfjord, von Visnäs über Grotii nach Merok; es ist ein Weg von
82 Kilometern, den wir in anderthalbem Tag mit den bekannten Stoolkarren
zurücklegten. Die ganze Tour ist nicht bloß landschaftlich außerordentlich
lohnend, sondern auch für den Freund typischer geographischer Bilder äußerst
interessant, da sie alle Einzelheiten der norwegischen Landschaft in prächtigen
Charakterbildern darbietet. Unsre kleine Gesellschaft, drei Damen und drei
Herren, hatte außerdem das Glück, alle diese Schönheiten noch unentweiht
von den gelangweilten Blicken der Herdereisenden taufrisch aus der Hand der
Natur zu bekommen. Was wollte es dagegen besagen, daß die Herren von
den 82 Kilometern mehr gehn mußten, als uns lieb war, und daß man an
den noch stark schneeverwehten Stellen die Stoolkarren zum Teil stützen und
schieben mußte! Das zweite Drittel der Straße war für die mit unserm Schiff
erwarteten Reisenden durch ein großes Aufgebot von Leuten eben noch not¬
dürftig geöffnet worden.
Ich habe nnr bedauert, daß ich nicht photographieren konnte, sonst hätte
ich von unserm Wagenzug da oben auf der melancholischen Hochfläche des
Fjeld ein Bild mitgebracht, das an die Kriegsbilder aus der winterlichen
Mandschurei erinnert hätte.
In den ersten Stunden merkte man freilich vom Winter nichts. Bei
strahlendem Sonnenschein ging es von Visnüs am Nordfjord zuerst eine
kleine Anhöhe hinauf, dann ziemlich eben, durch ein frühlingsgrünes Wiesen¬
tal an dem tosenden und schäumenden Strynsfluß entlang, bis an dessen
untersten Reinigungssee, den Strynswand, den wir in etwa zweistündiger
Fahrt auf einem kleinen Dampfer der ganzen Länge nach vom Ausfluß bis
an den Einfluß den Stryns durchfuhren. Kurz vor dem Ende der Fahrt
eröffnete sich rechts der Blick in ein Seitental mit einem bis auf die Talfohle
reichenden Gletscher, den man nur mit seufzender Ergebung unbesucht vorbei-
ziehn lassen konnte. Statt dessen erwartete die Anssteigenden in einer der
reizenden Holzbauten, die die norwegische Fremdenindustrie überall aufzustellen
weiß, ein auch nicht zu verachtendes Mahl, und dann ging es wieder über
einen kleinen Berg in das nun schon viel engere Oberlauftal des Stryn, das
Widetal, hinein. Der Zugang zum Widetal schien gesperrt durch einen riesigen
Wall, worin nur der Fluß und die Straße einen tiefen Einschnitt machten.
Der Wall war eine besonders schöne Stirnmoräne des ehemaligen Widetal-
gletschers, und zwar schon aus der Zeit seines Rückzugs, eine andre, ältere,
hatten wir ungeahnt und unbemerkt gleich nach dem Verlassen des Schiffes
bei Visnns überschritten.
Unser immer noch grünes Widetal wurde enger und steiler, der Strynfluß
immer wilder, bis wir nach etwa anderthalb Stunden an einen vielleicht
200 Meter hohen Querriegel des Tales kamen, den der Fluß in einer Reihe
von Wasserfällen, die prächtige Kunststraße in unzähligen Kehren überwindet.
Oben angekommen war das Bild bei etwa 1000 Metern Höhe ein ganz andres,
wir waren mitten im Schnee. Ein prachtvoller Wasserfall, in den man von oben
hineinsah, steckte zur Hülste in einer Schneerinne, die beschneiten Randbcrge
unsers nunmehr flachen Hochtales zeigten der ganzen Länge nach eine Eiskrone,
und der mehrere Kilometer lange See, an dessen Ufer wir der Karte nach
««hinfahren sollten, wollte ewig nicht kommen; in Wirklichkeit war er unter
dem Schutz seiner tiefen Schneedecke unerkannt fast schon ganz passiert. Wir
waren allmählich zwölf Stunden unterwegs und schon mehrere Stunden auf
der Hochfläche, auf dem Fjeld. dahingezogen und vom Schneestrampfen und
von dem Einerlei der Schneelandschaft abgespannt, als der Führer plötzlich
auf einen zum Teil schneefreien, unendlich melancholischen, grauen Berghang
zur Linken deutend ausrief: „Nenntiere!" Dieser Ruf elektrisierte uns, aber
der Mann hätte mir ebensogut zumuten können, im Gipfel eines grünen
Baumes eine grüne Raupe zu sehen, ich sah keine Renntiere. Durch ein eigen¬
tümliches-Pfeifen gelang es jedoch dem Führer, die Renntiere aufzuscheuchen
und über ein Schneefeld zu treiben. Jetzt waren sie auch ohne Fernglas gut
zu sehen, und mit dem Glas konnte man auch sehr hübsch verfolgen, wie sich
die weiblichen Tiere bei der Flucht ihrer Kälbchen annahmen.
Kurze Zeit darauf, nachdem wir die Paßhöhe überschritten hatten, sahen
wir in mäßiger Tiefe vor uns einige Häuschen auf einem grünen Fleck, es
war die Fjeldstue (Feldstube) Grotii im Ottatal, unser ersehntes Ziel. Gegen
zehn Uhr langten wir unten (bei 873 Metern) an. Es war noch hell genug
zum Lesen, aber dabei doch ein ganz eigentümliches Zwielicht, worin die ganze
ärmliche Landschaft, der Bach, der sich eben von dem Eise befreite, einige kümmer¬
liche Birken, dazu die Hütte des Renntierhirten, eines Lappen, einen welt¬
entrückten, vorgeschichtlichen, eiszeitlichen Eindruck machte.
Um elf Uhr statteten wir der Lappenfamilie noch einen Besuch ab, und
ich war erstaunt über die Behaglichkeit in der äußerlich nichts weniger als
einladend aussehenden, mit Häuten verkleideten zeltartigen Hütte. Es war
ganz angenehm warm darin und doch nicht die erwartete Stickluft, der Boden
war durch Heidekraut und heidelbeerartige Kräuter zu einem Teppich um¬
gewandelt. Weniger komfortabel erschienen die Lagerstätten des Besitzers und
seiner Gattin, während der etwa einjährige Sprößling in einer Art von Riesen¬
pantoffel warm eingepackt war und einen Meter über dem Boden freischwebend
aufgehängt äußerst bequem untergebracht zu sein schien. Die Gebrauchsgegen¬
stände des renntierhütenden Lappländerpaarcs lagen auf dem Boden herum,
darunter war unter anderm auch eine Weckeruhr. Dieser Anblick riß mich
urplötzlich aus meinem Eiszeitraum heraus. So etwa muß es einem frisch aus
Italien angekommenen römischen Beamten zumute gewesen sein, der sich zur Zeit
Hadrians am Limes in einem Bauernhause nach dem Treiben der Barbaren
umsah und dabei auf ein Gefäß aus echter Siegelerde gestoßen war. Die Fjeld¬
stue Grotii ist ein gemütliches zweigeschossiges Haus, worin unten das Speise¬
zimmer und, wie in jedem norwegischen Gasthaus, ein behaglicher Salon sind.
In dem Speisezimmer war in einer Ecke ein riesiger Kamin, die übrige Ein¬
richtung bestand aus zwei langen Tafeln und vier schweren Bänken, wie ich
sie später nur noch etwas urwüchsiger, aber mit Schnitzereien bedeckt in den
Museen getroffen habe. Das Haus war wie alle Häuser auf dem Fjeld ganz
aus Holz und hatte deshalb, wie es allgemein üblich ist, an jedem Fenster
eine Sicherheitsleiter. Wie man sich bei uns vor dem Auskleiden über die
Vollständigkeit des Zimmerinventars orientiert, so vergewissert sich in diesen
norwegischen, auf das Abbrennen eingerichteten Häusern der routinierte Reisende
zuerst über das Vorhandensein der Rettungsleiter. Ländlich, sittlich! Daß
überall Plakate in norwegischer, deutscher und englischer Sprache angebracht
waren, die zur Vorsicht mit dem Licht mahnten, hinderte jedoch meinen fast
siebzigjährigen Schlafkameraden uicht, im Bett zu rauchen. Ich habe den
Mann allerdings auf der ganzen Reise auch sonst nie ohne Zigarre gesehen.
Am andern Tage ging es wieder sacht aufwärts, dem Oberlauf der Oeta
folgend, vorbei an tief eingefahrenen Seen und rechts und links fortwährend
begleitet von schneestarrenden und eisgekrönten Bergwänden, es war dieselbe
Hochtalszenerie wie die letzten drei Stunden am Abend zuvor, aber wie anders
wirkte sie jetzt am frischen Morgen und im strahlenden Sonnenschein! Am
Quellsee der Oeta steht bei etwa 1000 Metern Höhe ein kleines Gasthaus, wo
wir Mittagsrast hielten, die Djupvashütte. Alles war im tiefsten Schnee,
aber auf der Veranda der Djupvashütte war es zu heiß zum Sitzen, und die
Milch zu unserm wohlverdienten Kaffee war geronnen, hart neben dem tief-
gefrornen See.
Wenig Minuten hinter der Djupvashütte bezeichnet ein Denkstein in alt¬
norwegischer Form, eine hohe, dünne Granitplatte, die Wasserscheide zwischen
dem Skagerrcck, dem die Oeta zueilt, und dem freien Atlantischen Ozean, dessen
nächster Punkt, der Geirangerfjord, 1000 Meter tief unter uns, aber in der
Luftlinie nur noch 6000 Meter von uns entfernt liegt. Die Bergstraße hinunter
nach dem Fjord braucht 15 Kilometer und ist wahrhaftig noch kühn genug,
aber der Gletscherbach, der ihr den Weg vorgezeichnet hat, nein, der reißende
Bergstrom, saust zu Tal wie der Sturmwind von Klippe zu Klippe, einen
prächtigen Bogen nach dem andern bildend, dann und wann in Felsenrunsen
verschwindend, einmal nach dem andern zerstäubend und in allen Farben des
Regenbogens leuchtend, bis er in dem spiegelglatten Fjord zur Ruhe kommt.
Der Abstieg von der Djupvashütte nach Merok am Geirangerfjord gilt
für eine der allergroßartigsten Glanzpartien Norwegens; ich kann darüber nicht
urteilen, da ich zu wenig von Norwegen gesehen habe, aber wer ihn auszuführen
das Glück gehabt hat, kann ihn nie vergessen, ebensowenig wie den Blick vom
Fjord rückwärts nach dem hohen Berg und dem Silberband seines Berg¬
stromes. Den würdigen Beschluß des schönen Tages bildete die Fahrt auf
unserm Dampfer durch den Geirangerfjord nach dem offnen Meer zu.
Das Einzigartige der norwegischen Landschaft besteht ja eben in dem
Ineinandergreifen von Meer und Gebirge; das Meer streckt seine Fühler bis
an das Herz des Gebirges, und die Gletscher baden sich im Meer.
Es kann kaum einen höhern Rcisegenuß geben, als nach einer frischen
Binnenwanderung in der Abenddämmerung dahinzugleiten durch die Meeres¬
pfade, bis man felbst ins Reich der Träume hinübergleitet.
^lsri^ Olä DnAlsriä . . .
^^SN^^)>apitän Percy durchschritt den langen, steinernen Gang des Wirts¬
hauses — es war eins der berühmten ländlichen Wirtshäuser des
siebzehnten Jahrhunderts, das zwei- und auch dreihundert Gäste be¬
herbergen konnte — und pochte an die Tür zu Lady Elizabeths
Vorzimmer. Eine ihrer aufwartenden Damen öffnete — kriechend,
!halb verlegen.
Kann ich mit Mylady sprechen? fragte er kurz.
Gleich, Kapitän. Mylady macht Toilette, aber es kann ja sein, daß Ihr
trotzdem hineinkommen könnt, sagte sie verbindlich.
Danke, Mistreß! Ich werde warten.
Eine ganze Viertelstunde ging Harry auf und nieder auf dem steinernen Fu߬
boden in dem langen Zimmer, das zum Schlafgemach für Lady Elizabeths Gentle¬
women bestimmt war. Es war so niedrig, daß die Feder seines Hutes fast die ge¬
schwärzten Balken der Decke berührte.
Endlich hörte man Rauschen von Röcken und Kichern und Lachen hinter der
Tür zu dem innern Zimmer. Eine Stimme sagte laut und ermunternd: So,
Mylady — und die Tür wurde ein klein wenig geöffnet. Harry schlug die Hacken
zusammen und nahm den großen Hut ab.
Durch die halbgeöffnete Tür, die sich sofort wieder schloß, schlüpfte — nicht
Lady Elizabeth, sondern ein langer, schmächtiger Page in brandgelben Seidenstrümpfen,
die bis an die Hüften reichten, und seidnen Beinkleidern mit vielen Puffen. Unter
der brandgelben Jacke fiel das Hemd faltig um die Taille und durch die geschlitzten
Ärmel tief auf die Hände hinab. Auf dem Kopf, über dem frei herabwallenden,
rotbraunen Haar saß das breite Barett mit einer weißen Feder schief auf dem
linken Ohr. Kapitän Percy stand einen Augenblick da und starrte — dann setzte
er würdig, ohne ein Wort zu sagen, den Hut wieder auf den Kopf.
Harry ... tönte es halb beklommen, halb flehend mit einem verlegner Lachen.
Er würdigte sie keiner Antwort, wandte sich wieder der Tür zu und legte
schon die Hand auf den Türgriff.
Aber Harry I... Du wolltest doch mit mir reden?
Ich wollte mit Lady Elizabeth Percy reden — nicht mit einem Clown oder
einem Groom.
Ach, Harry, murmelte sie beschämt und verletzt. Sie fühlte selbst, wie sie
errötete, und ärgerte sich darüber. Es sind ja nur Narrenspossen. Lady Sophia
hat es sich ausgedacht: wir tun es, um unsern Spaß mit Sir Thomas zu treiben,
der schon so betrunken ist, daß er uns gar nicht mehr kennt. Es ist nichts auf¬
fallendes dabei — alle Hofdamen in Whitehall tun es oft, Spaßes halber, auch in
Gegenwart Seiner Majestät. . .
Harry hörte ihr nicht zu. Den Hut auf dem Kopf, die Arme über der Brust
gekreuzt, ging er gerade auf sie zu, wie sie dort am Fenster stand — verlegen
und tief errötet, gar nicht so Ag,i11g,räh wie vorhin.
Jetzt will ich Euch etwas sagen, Lady Elizabeth, sagte er strenge. Wenn
Ihr es wagt, Euch vor Sir Thomas und seinen Dienern in dem Narrenkostüm
zu zeigen, in dem Euch zu sehen ich mich schäme, so kehre ich augenblicklich nach
Alnwick zurück, und — das schwöre ich Euch hoch und heilig — es soll, weiß
Gott, lange währen, bis Ihr mein Gesicht wieder sehet. . .
Sie antwortete nicht, zog nur mürrisch die Mundwinkel herunter und ließ
den Kopf trotzig verzagt hängen. Harry Percy stand da und sah sie an — sie
wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen.
Großer Gott! rief er plötzlich ganz außer sich aus. Weshalb hat denn niemand
außer mir Interesse daran, eine anständige Frau aus dir zu machen. Und wie
kann wohl ich — ich armer Teufel, der selber so wenig von der Welt gesehen
hat! — allein gegen alle und ganz gegen deinen eignen Willen dich zu einer
feinen, hochsinnigen Frau machen, so wie ich es immer geträumt habe. . .
Geträumt! murmelte sie spöttisch entrüstet. Ja, du machst dir nichts aus mir,
so wie ich bin . . .
Hier sah sie unter dem Barett zu ihm empor, begegnete aber nur ein Paar
zornigen Augen und einem harten Munde, der nicht die geringste Lust zum Lachen
hatte. Und nun wurde Lady Elizabeth böse.
Kann ich was dafür, daß ich nicht so ein Grande von Spanien bin wie du?
höhnte sie. Ich bin nicht für den Purpur und königliche Gebärden geschaffen.
„Würde!" — sie warf den Kopf in den Nacken und lachte ihrem Tyrannen ver¬
ächtlich ins Gesicht. Ich mache mir nichts aus Würde — ich will mich amüsieren,
das will ich. Und ich bin wahrhaftig nicht schlimmer als andre Damen meines
Standes. Selbst Großmutter findet nichts weiter an mir auszusetzen .. . Aber
du — du sprichst mit mir, als wärest du Jarl von Northumberland und nicht
ein elender Bastard, mein Diener.
Jetzt mag es genug sein, Lady Ogle! Harry ließ die geballte Faust auf den
festen eichnen Tisch fallen, sodaß es durch das Zimmer hallte. Ein Bastard bin
ich freilich, aber eines andern Diener als des Königs und der Krone bin ich, weiß
Gott, nicht! Ohne zu grüßen wandte er sich um und ging nach der Tür.
Sie geriet außer sich vor Reue und Angst. Harry . . . Harry ... Die Worte
ertranken fast in einem entsetzten Schluchzen. Von hinten schlang sie ihre Arme
um seinen Hals.
Laß mich los, Dirne!
Ach, Harry, ich habe mir nichts dabei gedacht, nicht das geringste . . . aber
du kannst selbst einen Heiligen zur Verzweiflung bringen. Harry, sieh — sie
^griff einen großen Reitermantel, der jemand von der Dienerschaft gehörte und über
einem Stuhl an der Tür hing. Sieh! Sie warf ihn schnell über die Schultern
und hüllte sich hinein, schlank und geschmeidig wie ein Junge. Sieh, Harry — nun
?w ich wieder so, wie du mich haben willst, und Gott sei mir gnädig, wenn ich
^mals anders sein will.
Er stand, den Rücken der Tür zugewandt, mürrisch und mit zusammengezognen
brauen, aber schon halb versöhnt da — das sah sie.
Geht jetzt, Lady Elizabeth.
Aber ich habe ja gar nicht erfahren, was du mir sagen willst. Was war
es denn?
Es war nicht so wichtig . . . Eine Stafette von daheim, ans Alnwick . . . Das
kann ich später erzählen. Geht jetzt, sonst kommt Ihr zu spät zur Abendmahlzeit.
Geht jetzt! äffte sie ihn nach. Man sollte fast glauben, du wärest bange vor
mir, Harry.
Er schwieg, stand mit niedergeschlagnen Augen, würdigte sie keiner Antwort.
Sie sah ihn an — hielt sich aufrecht in dem zu langen Mantel, den Kopf
im Nacken und — und brach plötzlich in Lachen aus. Dann nahm sie das Barett
ob und senkte es so tief, daß die Feder den Boden berührte.
^ vos ol'ärES, wonsikur 1s oaxiwioe! sagte sie spöttisch demütig. Aber ich
möchte doch gern wissen — wandte sie sich übermütig um, schon auf dem Wege
nach ihrer Kammertür —>, wer von uns beiden dem andern eigentlich am meisten
zu sagen hat. Bist du Herr, Harry — oder bin ich es? . . .
Als Kapitän Percy endlich zur Abendmahlzeit in der großen Gaststube herunter¬
kam, die so gemütlich und freundlich war mit ihrem roten Ziegelsteinfußboden, ihrem
Feuer aus flammenden Holzscheiten in dem breiten Kamin und den mit Holz¬
schnitten, Kupferstichen und Balladen überklebten Wänden, war die ganze Ge¬
sellschaft schon um den üppigen Tisch versammelt. Lady Sophia hatte Wort ge¬
halten: sie war ein prächtiger und traiter Page in violettem Sammet und weißen
Spitzen, und niemand, nicht einmal die alte Gräfin, schien Anstoß an dem Scherz
zu nehmen. Lady Sophia spielte ihre Rolle als Kavalier auch auf das vorzüglichste —
sie konnte ein Lied singen wie auch einen Toast ausbringen. Neben ihr saß Sir
Thomas, schon ein wenig angetrunken mit matten Augen und breitem Mund, aber
— wie es schien — zufrieden mit dem Dasein.
Lady Elizabeth hatte neben ihrer Großmutter Platz genommen; sie trug wieder
ihre gewöhnliche Kleidung und war schon fertig mit dem Essen.
Als Harry zur Tür hereinkam, sah sie flüchtig auf — begegnete einen Augen¬
blick seinen Augen und beugte sich dann vor und küßte ihre Großmutter zärtlich
auf die Wangen. Sah noch einmal unter den Wimpern zu Harry hinüber — ob
er es gesehen habe . . .
Ja, er hatte es gesehen. Und er war sich auch nicht im Zweifel darüber,
wer diesen Kuß hatte haben sollen und können.
Er kam geradeswegs von draußen — auf den Schultern und dem Hutrand
lagen noch Hagelkörner, denn die Frühlingsstürme heulten um die Ecken des Hauses.
Hier drinnen waren Wärme, Licht, Wein und gute Speisen. Er grüßte, warf
seinen Hut einem der Diener zu und nahm Platz an dem untern Tischende neben
Lady Northumberlands Hauskaplan. Über dem Weißen Tischtuch begegnete sein
Blick abermals Lady Elizabeths — er lächelte, dachte an ihre Worte von vorhin,
wer von ihnen der Herr sei, und dankte ihr ungekünstelt warm mit den Augen.
Sie errötete, spielte und fingerte mit dem halbgefüllten Weinglase vor sich
und wagte nicht recht aufzusehen, zum erstenmal in ihrem Leben wirklich schamig
unter der Wärme seines männlichen und zärtlichen Blickes. Sie empfand die gleiche
Lust wie immer, ihm nahe zu sein, empfand aber plötzlich, wie weit süßer und
sicherer es war, in seine Arme hinein gezwungen, gezogen, gebettelt zu werden, statt
mit kindlicher Offenheit immer selbst zuerst die Arme auszustrecken.
Harry vermochte die Augen nicht von ihr zu wenden — er vergaß die ganze
Welt um sich her in entzückten Beschauen dieser neuen, errötenden, verlegen un¬
sichern Elizabeth, die dort saß und beinahe bange vor ihm war. Niemand von
den andern hatte ein Auge für sie; sie fühlten sich und waren in Wirklichkeit so
gut wie allein. Die alte Gräfin, die satt und müde war und ein wenig schläfrig
nach dem schweren, gewürzten Abendtrunk, saß da und zwinkerte mit ihren kurz¬
sichtigen Augen; der Kaplan, der hochehrwürdige Herr Samuel Littlejohn, der hier
auf der Reise während der ganzen Mahlzeit zugegen sein durfte — statt wie sonst
nur bei ein Paar Gerichten —, aß und trank für sieben; Sir Thomas hatte schon
viel zu viel, und Lady Sophia war, in bezug auf die Weinlaune, nicht weit davon
entfernt, ihre Rolle als Kavalier zu naturgetreu zu spielen. Es kam ihr nicht in
den Sinn, die heute Abend so stille Lady Elizabeth zu beachten — nicht einmal
Harry Percy schenkte sie Aufmerksamkeit, dem gegenüber sie doch sonst, wenn sie
sich auch den Anschein gab, auf ihn hinabzusehen, nicht ganz gefühllos war.
Der Wirt, ein dicker, rotwangiger Yorkshiremann mit roollner Zipfelmütze und
einer großen Narbe über der Nase, die von einem Säbelhieb herrührte, den er
vor fast vierzig Jahren bei Marston Moor von einem von Cromwells Reitern er¬
halten hatte, öffnete die Tür von der Küche her. Er verneigte sich vor den Herr¬
schaften, winkte jemand zu — man sah viele Köpfe da draußen und ganz im
Hintergrunde das Feuer, das auf dem Herde brannte. Dann schloß er die Tür
hinter sich und trat in das Zimmer, einen alten Mann an der Hand führend, der
eine Laute trug, und der blind zu sein schien. Harry Percy sah Lady Elizabeth
nach der Tür Hinsehen und wandte selbst den Kopf; zwischen den Dienern, die die
großen Schüsseln auf deu Schultern trugen, und an dem Tisch vorüber, wo die
aufwartenden Damen erst jetzt ihre Mahlzeit begannen, tastete sich der Blinde an
der Hand des Wirtes vorwärts. Er trug braune Kleider und einen breiten, herab¬
fallenden, altmodischen leinenen Kragen, der mit einer weißen Schnur um den Hals
gebunden war. Den Hut hielt er demütig in der Hand, und das dünne, weiße
Haar siel zu beiden Seiten des Gesichts tief über die gebeugten Schultern hinab.
Das ist Cecil mit der Laute aus Leeds, sagte der Wirt ehrerbietig erklärend
zu den beiden Damen auf dem Ehrensitz. Er ist ein alter Invalide, und ich habe
ihn im Felde getroffen, als er unter Mylord Essex stand, während ich unter Prinz
Rupert stand. Aber nun hat ihn der Herr erleuchtet, welch einer großen Sünde
und Verirrung er sich schuldig gemacht hat, indem er die Hand gegen den seligen
König Karl erhob.
Komm näher, sagte die alte Gräfin sanft — gegen Leute, die keine Präten-
twnen machten, war sie ja immer gut. Die Hände über dem Tisch gefaltet, beugte
sie sich vor und betrachtete voller Interesse ihre beiden Altersgenossen. Mein
seliger Herr und Gemahl, der Jarl von Northumberland, ergriff auch die Waffen
gegen König Karl, und er bereute es ebenfalls — so wie du, mein guter Mann.
Ja, sagte der Blinde mit kräftiger, lebhafter Stimme — ich entsinne mich
Lord Northumberlands noch sehr wohl. Das war, ehe die verfluchten Jrländer
wir die Augen ausschossen. Mehr als einmal habe ich ihn in Mylord Essex Zelt
aus und ein gehn sehen . . .
Ja, das waren schwere Zeiten! seufzte die alte Dame plötzlich, indem sie diese
beiden betrachtete, die zu ihrer eignen Zeit gehörten, überwältigt von gemeinsamen
Erinnerungen.
^ Und Mylady, die ich jetzt höre, aber nicht sehen kann, habe ich auch gesehen,
>°gte der alte Cecil, redselig und aufgeräumt durch die Aufmerksamkeit, die ihm
Zuken wurde. Das war damals, als ich vor Carisbrook Wache stand. Da kam
sie geritten, an dem Tage, als — nein, an dem Tage, bevor Prinzeß Eliza¬
beth starb.
Ja, das stimmt ... Ach ja! das kleine unschuldige Lamm, der Herr nahm
sie zu sich.
Sie war die schönste von unsern Prinzessinnen, fiel der Wirt ein. Ich kann
davon mitreden, denn ich habe sie oft in Oxford gesehen. Feiner und schöner noch
als yady Elizabeth Percy, die dort sitzt — Gott segne sie! Er verbeugte sich
galant vor der jungen Dame und fügte hinzu — wie um seine UnHöflichkeit
wieder gut zu machen: Aber nicht so fröhlich, Mylady — nicht so munter und
glücklich.
Lady Elizabeth winkte ihrem Mundschenk.
Herr Wirt, sagte sie gutmütig schelmisch und freundlich, sodaß sie für immer
sein altes Kavalierherz gewann, und man ihn später oft darauf schwören hörte,
daß von allen hochgebornen Damen in England Lady Elizabeth die sei, der er am
liebsten dienen wolle. Guter Herr Wirt — auch wenn Ihr findet, daß ich nicht
so schön bin wie die selige Prinzeß Elizabeth, meine Namensschwester, so werdet
Ihr es mir wohl nicht abschlagen, einen Becher Euers eignen Sekts auf mein und
des Hauses Percy Wohl zu trinken. Kapitän Percy — rief sie über den Tisch —,
erhebt Euch und laßt uns einen Becher mit diesen beiden guten Männern trinken, die
Euern Oheim, meinen Großvater, den Jarl von Northumberland gekannt haben.
So altmodisch würdig konnte sie zuweilen sein — stattlicher und doch un¬
mittelbarer und leutseliger, als es Lady Northumberland jemals gewesen war. Alte
Diener, die sich noch der Gräfin Dorothy, der Mutter von Henry Percys Vater
und der Schwester von Königin Beß Jarl von Essex erinnern konnten, meinten,
sie sei die in der Familie, nach der Lady Elizabeth am meisten arte. Mehr eine
Devereux als eine Percy!
Mit schläfrigen Augen verfolgte Sir Thomas Thynne über der Weinlaune dieses
Intermezzo. Die Diener wandten sich um und sahen einander bedeutungsvoll an
und flüsterten leise und stießen sich mit den Ellenbogen an —er allein hatte nicht
Verstand genug, zu sehen, in welchem Maße seine Braut ihren Verwandten aus¬
zeichnete.
Die, die von Lady Elizabeth aufgefordert waren, in Erinnerung an Jarl
Algernon auf das Wohl des Hauses Percy zu trinken, tranken feierlich — sogar
die alte Gräfin führte gerührt das Glas an die Lippen. Kapitän Percy nahm
mildtätig ein Goldstück aus der Tasche und gab es dem Blinden. Auch eins auf
meine Rechnung, Harry! rief Lady Elizabeth. Wahrlich — sie verstand nicht, Maß
zu halten! Sie behandelte ihn, als sei er ihr Mann und habe Verfügung über
ihre Mittel.
Und dann holte Cecil seine Laute hervor und bat, zu Ehren der edeln Herr¬
schaften eine Ballade von Chevy Chase und Henry Percy singen zu dürfen —
„von ihm, den sie Heißsporn nennen".
Schon bei den ersten Tönen wurde es still im Zimmer, und sie lauschten
alle: Elizabeth, die Hand unter dem Kinn, fast verdeckt von dem Haar, das auf
den schlanken, entblößten Hals hinabfiel; hinter ihr, halb im Schatten, der finstere
Henry Percy, seinen blauen Dragonerrock über der Krawatte aufgeknöpft, sinnend
und aufmerksam lauschend, den Ellenbogen auf ihre hohe Stuhllehne gestützt. Lady
Northumberland lehnte ihren Weißen Kopf gegen den blanken Masurenstuhl, in
Gedanken versunken durch die Erinnerung an vergangne Zeiten und die Kämpfe,
die ausgekämpft waren. Weiter unten am Tische, über dem die halb herabge¬
brannten Lichter der Armleuchter jetzt ruhig leuchteten, Sir Thomas, halb einge¬
schlafen über dem Humpen, und Lady Sophia in ihrer violetten Pagenkleidung, sich
nonchalant an ihr großes, dunkelhaariges Kammermädchen lehnend. Die Pagen
in ihren reichen Trachten, der fette und andächtige Wirt mit der roten Zipfel¬
mütze, die Frauen an dem Tische mit ihrem steifen weißen Kopfputz und die be-
waffneten Soldaten neben der Tür. Vor ihnen allen, den Rücken dem flammenden
Feuer im Kamin zugewandt, saß der weißhaarige Lautenspieler, der Veteran von
Marston Moor und Irland. Er saß da, gebeugt und alt, das hölzerne Bein
vorgestreckt, sein Gesicht vor Eifer und Anstrengung rot; neben ihm am Boden lag
sein verschlissener flacher Hut, in den so viele gute Menschen gleichgiltig ihre
Kupfermünzen geworfen hatten, aber auf dessen Boden jetzt des armen Harry Percy
zwei blanke Goldstücke schimmerten.
Das Lied von Heißsporn war kaum beendet, als aus der Küche her ein ge¬
waltiges Geräusch, ein Lärm — viele Stimmen — hereindrang, eine davon
klarer und befehlerischer als die andern. Die Tür tat sich auf, und über die hohe
Schwelle trat ein vornehmer reisender Herr mit Goldtressen auf seinem scharlach¬
roten Rock, gewaltige weiße Straußenfedern auf dem Hut, die, als er den Kopf
entblößte, über den Boden des Zimmers hinfegten.
Alle Anwesenden richteten ihre Augen auf ihn, hinter ihm sah man zwei
andre Männer. Lady Sophia vergaß völlig ihre Pagenkleidung, sprang auf und
ging dem fremden Herrn entgegen. Sie war dunkelrot vor Freude geworden.
Ihr, sagte sie verwundert. Ihr? Seid Ihr zurückgekommen?
Nein, welch eine Überraschung, Madame — er breitete beide Hände aus,
ganz wie ein Franzose getan haben würde. Welch ein Zusammentreffen! Ich lange
mit einem Schiff aus meinem Heimatlande in Newcastle an, reise sofort bis Aork
und ... Er beugte sich über ihre Hand: Vous voM, Sophie — vous mßms!
Lady Sophia hatte niemals so gut ausgesehen mit einem feinen Erröten der
Wangen, mit strahlenden Augen, glücklich, sodaß sie zitterte. Lady Elizabeth hatte
sich wie die andern vorgebeugt — sie betrachtete aufmerksam verwundert die Be¬
gegnung ihrer Base mit dem strahlenden Fremden, und ganz natürlich, wie eine
souveräne Fürstin, die das Recht hat, alles zu wissen, fragte sie laut und langsam:
Wer ist denn das, Cousine Sophia?
Lady Sophia wandte sich um. Ebenso laut, bereitwillig erklärend, fast mit
Triumph in der Stimme antwortete sie:
Das ist der vielbesvrochne schwedische Graf, den Seine Majestät König Karl
seinen Mama-miMon zu nennen pflegt.
Der Fremde verneigte sich tief, als sie König Karls des Zweiten Namen
aussprach — Graf Karl Johann Königsmark.
Den „vielbesprochnen" schwedischen Grafen hatte Lady Sophia Karl Königs-
-nark genannt. Und obwohl selbst die wenig welterfahrne Elizabeth Percy sehen
k°unde. daß sie in bezug auf ihn parteiisch war. mußte sie doch als sie späterhin
«in Abend im Schlafzimmer der Base diese neugierig nach dem fremden Kavalier
ausfragte, aestelin daß sie wirklich ein Recht hatte, ihn so zu nennen. Das war
^ um damit zu Prahlen, als der strunMnnige
"Ub einfältige Sir Thomas, den Lady Sophia doch, solange dle Werbung :in
Gange war. bis in die Wolken erhoben hatte.
N-'^.-^
T.«Pi° d°w„ h.«- r,d-» °»-°>, °b°r si° gi°«- -I«t, d-es s,es «. «°» d-n
Kavalieren dort mit Graf Königsmark messen konnten. Nicht einmal in Whitehcill,
nicht einmal in Versailles konnten es viele mit ihm aufnehmen. So schön, so statt¬
lich: Aentilluzwius aeeowM, soläg,t Atlant, bei ami clss Aranäss ni^nos! . . . Lady
Sophia saß in ihren langen Pagenstrümpfen auf dem Rande des Bettes und schlug
einmal über das andre die Füße eifrig zusammen, als sie, weil sie die Über¬
legenheit des fremden Herrn nicht in gewöhnlichem Englisch auszudrücken vermochte,
mit ihren französischen Worten kam. Neben ihr kicherte die dunkelhaarige Kammer¬
zofe, die so „warm" lachen konnte — wie Ladh Elizabeth sagte —, während sie
das Haar ihrer Herrin in viele kleine feste Flechten flocht, damit es am nächsten
Tage unter dem Hut so recht kraus und üppig aussehen sollte. Lady Elizabeth
war noch völlig angekleidet. Sie saß — wie sie so gern sitzen mochte — hoch
oben auf dem Tisch, die Füße auf einem Stuhl. Erzähle! sagte sie jedesmal,
wenn Lady Sophia Atem schöpfte.
Erzählen! — Ja, damit konnte Lady Sophia wahrlich bis zum dämmernden
Morgen fortfahren, wenn sie wollte. Herr du meines Lebens -— solche Abenteuer,
wie Graf Königsmark sie erlebt hatte! Und dabei war er doch noch so jung —
kaum viel älter als Henry Percy, glaubte sie. Er war in Paris gewesen — nun,
das hatte sie ja schon erzählt! — hatte alle königlichen Jagden in Versailles und
Marly mitgemacht. Die französischen Damen waren geradezu wild auf ihn — er
konnte jeden Tag eine andre haben, mehr als er mochte, nur . . .
Dann war er in Italien gewesen — in Venedig, hatte sie gehört — und auch
Malta. Bei den Rittern, denen er im Kriege gegen die Türken geholfen hatte.
In Genua hatte er einen Rubin so groß wie ein Kiebitzei — sie hatte ihn selbst
mehr als einmal gesehen — zur Erinnerung an eine Prinzessin oder Contessina
erhalten, die seinetwegen in ein Kloster ging. Von dort war er nach Spanien
gereist, visu — alle die boruss tortuiuzs! . . . Weil er blond ist, meine kleine
Elizabeth . . .
Erzähle! sagte Lady Elizabeth förmlich gierig.
Aber du großer Gott, was soll ich denn noch weiter erzählen! Das war
damals, als sich die Schwestertochter unsers Königs in Madrid verheiratete, Madame
Marie Louise de France, weißt du ...
votto gontillo 1?Isur as I^s, summte Lady Elizabeth leise das Lied vor sich
hin, das Anna von der Königin von Spanien, Prinzeß Marie Louise von Orleans,
zu singen Pflegte, deren Mutter eine Stuart war.
Sie vermählte sich, wie ich dir schon sagte, gerade in den Tagen, und ganz
Madrid strahlte von Festlichkeiten — von Turnieren, Karussells und Stiergefechten,
wo die Granden des Reiches in der Arena mit den Stieren kämpften. Und
— denk nur! — er, der Ausländer, der gar keine Übung in dergleichen Kampf¬
spielen hatte, war trotzdem mit dabei und wurde Matador — schlug dem aller-
schlimmsten Stier den Kopf ab, weißt du. Hinterher waren die spanischen Damen
denn auch nahe daran, ihn mit allen ihren Liebkosungen umzubringen . . .
Erzähle! sagte Lady Elizabeth abermals.
Und dann kam er nach England. Und wir hatten in London ja schon lange
von ihm reden hören — Seine Majestät kam beinahe um vor Neugier, 1s ^rancl-
ntiAucm, wie er zu sagen Pflegt, zu sehen. Und die Herzogin von Cleveland,
die — ja, das sage ich dir, Elizabeth, und dn kannst mir aufs Wort glauben! —
ein ganz liederliches Frauenzimmer ist, warf gleich ihre großen Angen auf ihn
und wollte ihm nicht erlauben, eine andre auch nur anzusehen. Aber daraus ließ
er sich selbstverständlich nicht ein, und da zeigte er sich als der echte Kavalier,
der er ist . . .
Das schwarzhaarige Mädchen „lachte warm" — sie hatte die Geschichte schon
gehört oder war mit dabei gewesen.
Es war an einem Abend in Whitehall, plauderte Lady Sophia eifrig weiter —
jetzt, wo sie endlich zu den Abenteuern des Grafen gekommen war, in denen sie
selbst eine Rolle spielte, fühlte sie sich erst so recht inspiriert. Es war an einem
Abend in Whitehall, sage ich, und es war überfüllt, wie es da immer ist —
obendrein noch mehr Menschen als gewöhnlich und mehr Schwatzen und Reden,
denn sie wollten alle etwas davon hören, was Lord Halifax, der Schlauberger,
am Morgen in der Ratsversammlung über den Herzog von Jork gesagt hatte.
Der König spielte Karten mit der Herzogin von Portsmouth und einem der
Bischöfe und noch einem — wer das war, weiß ich nicht mehr. Die abscheuliche
Cleveland war so wütend, weil sie nicht mitspielen durfte, und ließ ihre Galle über
mich Ärmste aus, auf die sie schon lange einen Haß geworfen hatte, und die ge¬
zwungen war, ihrer Gnade gegenüber — ihrer Gnade! — höflich und demütig
zu sein. Da kommt Graf Königsmark herein. Und sofort winkt sie ihn zu sich
heran und fängt an, Annäherungsversuche zu machen . . . schamlos, versichere ich
dir, ganz haarsträubend schamlos — und der König, der ihr jeden Faden geschenkt
hat, den sie auf dem Leibe hat, und die Herzogskrone für ihre Bastardkinder, sitzt
dn und sieht es mit an! . . . Nun, der schwedische Graf hört sie ja eine Weile
an, dann wendet er sich um — von der Erinnerung hingerissen, erhob sich Lady
Sophia jetzt und spielte die Szene in den leichten Überresten ihrer Pagenkleidung.
Er wendet sich um, sage ich dir, sieht sie über die Schulter an — so —, hebt die
Nase, als wittere er etwas, und sagt:
Madame la Duchesse, Euer Gnaden — Ihr müßt mich entschuldigen, aber
ich habe niemals Wild vertragen können, das zu lange gehangen hat. Lady Sophia
lachte selber laut und fragte bewundernd:
War das nicht witzig?
Ja, antwortete Lady Elizabeth ein wenig zaghaft — sie wollte nicht ein-
gestehn, daß sie die Pointe nicht so recht verstand. Ist Lady Cleveland denn
sehr alt?
Wie Methusalem. Nach dem kleinen Ereignis wurden der Graf und ich
gute Freunde.
Das schwarzhaarige Mädchen lachte wieder mit ihrem warmen Lachen und
nahm mit niedergeschlagnen Augen das ausgekämmte Haar aus dem Kamme. Lady
Elizabeth glitt vom Tisch herab. Sie empfand plötzlich ein gewisses Unbehagen,
eine Art Widerwillen — gegen Lady Sophia? — gegen ihre Kammerzofe? —
gegen den strahlenden schwedischen Grafen? — und fand ans einmal, daß es jetzt
nicht mehr amüsant war.
Ich bin müde, sagte sie kühl und gähnte sehr laut, indem sie völlig das neu¬
gierige Interesse vergaß, das sie vorhin für die Erzählung gezeigt hatte.
Im Bett sagte sie zu der Kammerzofe Amelia, die auf der Reise die Ehre
^ete, das Lager mit ihr zu teilen:
Ich mag Lady Sophias schwarze Zofe gar nicht. Ist es wahr, daß sie sich
°uf die schwarze Kunst versteht und Liebestränke zu bereiten weiß?
Ja, das ist so wahr, wie die Sonne über der Erde steht, sagte Amelia treu-
^rzig. Sie ist aus Wales, und mit ihren Zauberkünsten hat sie die Gedanken
^eier Männer zu Lady Sophia hingezogen — das weiß alle Welt.
Warum nimmt sie sie denn nicht selbst? fragte Lady Elizabeth ganz offen.
Nach einer Weile, als Amelia schon kurz vor dem Einschlafen war, flüsterte
1'e wieder, halb lachend:
Glaubst du vielleicht auch, daß sie Sir Thomas Gedanken zu mir hingezaubert
hat und die des schwedischen Grafen zu Lady Sophia?
Mylady sollte nicht an so etwas denken, wenn Mylady ihre Gebete schon ge¬
sprochen hat, das ist sündhaft.
Ja, aber wenn ich nun doch daran denke, um nicht an etwas andres zu denken,
was noch sündhafter ist . . .
Was ist das denn? fragte Amelia schlaftrunken und richtete sich im Bett auf.
Aber damit wollte Lady Elizabeth nicht heraus. Sie sagte nur, über seine
Gedanken sei man ja nicht Herr, und nun wollte sie schlafen und bis hundert zählen,
damit sie einschlafe. (Fortsetzung folgt)
Die Monarchenbegegnung in Friedrichshof ist sowohl von der deutschen als
von der englischen Presse mit Zurückhaltung begleitet worden, einzelne Ausnahmen
bestätigen nur die Regel. Diese Zurückhaltung war durchaus am Platze und ent¬
sprach der Sachlage. Auf der Durchreise durch Deutschland nimmt der König von
England auf deutschem Boden einen Aufenthalt von vierundzwanzig Stunden als
Gast einer seiner Nichten, der Prinzeß Friedrich Karl von Hessen. Es ist im eigent¬
lichen Sinne kein Besuch des Kaisers und beim Kaiser, sondern ein Zusammentreffen
im Familienkreise. Nun ist es ja selbstverständlich, daß auch das privateste Zusammen¬
treffen der Herrscher zweier mächtiger Staaten folgenreiche politische Wirkungen recht
verschiedner Art haben kann; diese Wirkungen können je nach dem Verlaufe der
Begegnung zu Enttäuschungen und Entfremdungen führen, die, wenngleich auf
persönlichem Gebiete liegend, dann doch in den Beziehungen der beiden Nationen
zum Ausdruck gelangen; sie können sür die betreffenden Länder aber auch eine
mehr oder weniger enge freundschaftliche Annäherung zur Folge haben. Die
zwischen Deutschland und Großbritannien eingetretne Spannung hatte einen natür¬
lichen und einen unnatürlichen Zug. Unnatürlich — wegen der nahen Verwandt¬
schaft der beiden Herrscherhäuser, der, sagen wir: geistigen Verwandtschaft der
beiden Nationen. Auch des überwiegend protestantischen Charakters beider Völker
und ihrer Dynastien muß in diesem Zusammenhange gedacht werden. Ein Jahr¬
hundert lang, von der Mitte des achtzehnten bis zum Beginn des neunzehnten,
hatten dann Preußen und England einen gemeinsamen Feind, dessen Bekämpfung ihnen
ein gemeinsames Interesse verlieh. Dieses Interesse erreichte in der Schlacht bei
Belle-Alliance seinen Höhepunkt und — sein Ende, nachdem es schon wenig Monate
zuvor nahe daran gewesen war, in das Gegenteil, in Feindschaft und Bekämpfung
umzuschlagen. Hätte Napoleon mit der Rückkehr von Elba noch sechs bis zwölf
Monate gewartet, so würde er vielleicht Europa in einer seinen Plänen günstigern
Verfassung vorgefunden haben. Schon im Jahre 1814 hatte es sich gezeigt, daß
England einer Erstarkung Deutschlands, einem einheitlichen Zusammenfassen seiner
nationalen Kräfte, wenig geneigt war und der Vergrößerung Preußens nach Möglichkeit
entgegentrat. Ohne England würde das Elsaß wohl schon damals für Deutschland
zurückgenommen worden sein. Während der Regierungsdauer Friedrich Wilhelms
des Dritten erwies sich die Erinnerung an Belle-Alliance immer noch gelegentlich
als ein festes Band, Friedrich Wilhelm der Vierte reiste noch im Jahre 1842 zur
Taufe des jetzigen Königs Eduard nach London. Mit den Jahren 1843/49 begannen
die Gegensätze. Palmerston verletzte das nationale Empfinden Deutschlands durch
Nichtanerkennung der deutschen Flagge, während der englische Hof die Bestrebungen,
die auf das Erbkaisertum der Hohenzollern gerichtet waren, noch mit seinen Sympathien
begleitete. Dann führte der Krimkrieg zu einer weitern Entfremdung der Politik
beider Länder. Das englisch-französische Kriegsbündnis, vierzig Jahre nach den
Befreiungskriegen, war ein Novum in der Geschichte. Die persönlichen Beziehungen,
die der Prinz und die Prinzessin von Preußen seit dem Jahre 1848 zum englischen
Hofe geknüpft hatten, bewirkten, daß ungeachtet mancher politischen Gegensätze das
freundschaftliche Verhältnis der Höfe erhalten blieb, und die Verlobung des dereinstigen
Erben der preußischen Krone mit der Prinzeß Royal von England möglich wurde.
An dieses Familienbündnis sind manche Hoffnungen geknüpft worden, sie erloschen
wesentlich schon mit dem Tode des Prinz-Gemahls. In den sechziger Jahren finden
wir die englischen Sympathien auf feiten der Polen, der Dänen usw., ihnen hielt nur
das Interesse des englischen Königshauses an der Zukunft der Prinzeß Royal die
Wage. Nicht anders war es 1870. Die spätere deutsche Reichspolitik ist niemals
im eigentlichen Sinne eine antienglische gewesen. Als sich die Gegensätze zwischen
England und Rußland zuspitzten, vermied es Bismarck sorgfältig, Deutschland in
die Lage zu bringen, zwischen diesen beiden Mächten optieren zu müssen; als uns
dann die Anfänge der deutschen Kolonialpolitik wiederholt in direkte Interessen¬
gegensätze zu England brachten, war der erste Reichskanzler immer bereit, allen
englischen Ansprüchen nachzugeben, die auch nur einen Schatten von Berechtigung
für sich hatten; wo eine solche Berechtigung nicht vorhanden war, hielt er fest.
Er wurde dabei von der gewiß richtigen Ansicht geleitet, daß, da wir angesichts
der europäischen Gesamtlage eine Kolontalpolitik im Gegensatz zu England nicht
treiben können, wir auf ein Zusammengehn mit England, wenigstens auf einen
woäus vivsuäi angewiesen sind. Es war ihm völlig klar, daß wenn wir in einen
tiefern Gegensatz zu England gerieten, andre europäische Mächte das mit Ver¬
gnügen aufgreifen würden, um ihre eigne Lage ans unsre Kosten zu verbessern.
Er vermied darum ebenso in das Kielwasser der englischen Politik zu geraten wie
^ darauf hielt, England keinerlei Schwierigkeiten zu machen, wo nicht vitale
deutsche Interessen auf dem Spiele standen. Zu einem Bündnis mit England ist
Bismarck nie gelangt. Er hat es öffentlich wiederholt beklagt, daß England für
uns nicht bündnisfähig sei. weil der englische Staatsorganismus das wichtigste
Fundament eines Bündnisses, die Bindung von Fürst zu Fürst, ausschließe. Im
Allen mochte er überdem befürchtet haben, daß uns ein solches Bündnis von Rußland
entfernen, ja in die Notwendigkeit versetzen könnte, Englands kontinentale Kriege
«uszufechten, ohne daß wir einer englischen Gegenleistung hinreichend sicher wären.
Wie oft hat man während der letzten Dezennien in englischen Blättern lesen können,
daß Deutschland und England, das stärkste Landheer und die mächtigste Flotte, auf¬
einander angewiesen seien. Will man einer solchen deutsch-englischen Bündmsfrage auf
den Grund gehn so kommt doch zunächst in Betracht, daß jedes Bündnis nur dann
Wert für uns haben kann, wenn es die Anerkennung des polü.schen Se.tus a.u°
Europa und die Garantie des Besitzstandes en.Meßt elbstverstandlich eme
gegenseitige. Da England einer Garantie seines europäischen Besitzstandes nicht zu be¬
dürfen glaubt, Deutschland die Garantie des außereuropäischen Besitzstandes Englands
zu übernehmen aus verschiednen Gründen nicht in der Lage war, so entfiel für beide
Staaten der Hauptpfeiler eines Bündnisvertrags. Die Mitwirkung der englischen Flotte
zur Abwehr eines neuen französischen Angriffs auf Deutschland wäre nicht zu er¬
langen, die Art der Ausführung einer solchen Zusage jedenfalls von dem Wechsel
der Parteiverhältnisse in England abhängig gewesen — es fehlte somit für ein
deutsch-englisches Bündnis jede og.uW tosäsris, England hat dem Dreibund seiner¬
zeit seinen Segen erteilt, es hat ihn durch Abmachungen mit Italien gewisser¬
maßen nach der englischen Seite hin ergänzt, aber kein englisches Kabinett würde
bereit gewesen sein, es sei denn angesichts eines schweren kolonialen Konflikts
mit Frankreich, dem dieses immer sorgfältig ausgewichen ist, sich irgendeiner Ab¬
machung fest anzuschließen, bei der eine Sicherung des Frankfurter Friedens in
Betracht kam.
Man könnte nun einwenden, daß England doch wohl für ein Bündnis gegen
Nußland zu haben gewesen wäre. Rußland allein würde uns nie angegriffen
haben, wäre das dennoch geschehen, so bedürfte Deutschland zur Abwehr keines
Bündnisses. Gegen ein im Bunde mit Frankreich fechtendes Rußland wäre Eng¬
land aber nicht zu haben gewesen.
Lagen die Verhältnisse schon so zur Bismarckischen Zeit und unter der Re¬
gierung der Königin Viktoria, so kann bei der intimen Annäherung an Frank¬
reich, die sich neuerdings in der englischen Politik vollzogen hat, und bei dem
englischen Umwerben Rußlands, vou einer deutsch-englischen Büudnisfrage über¬
haupt nicht mehr die Rede sein. Die Zeit für ein solches Bündnis ist auch
wohl für jetzt vorüber. England hat in Europa augenblicklich keine Interessen,
für die es sich mit uns alliieren würde, seine Annäherung an Frankreich hat sich
auf der Basis der afrikanischen und sonstigen überseeischen Politik vollzogen, für
ein deutsch-englisches Bundesverhältnis würde zurzeit auf beiden Seiten Leistung
und Gegenleistung fehlen. Was die Zukunft einmal bringen kann, ist eine andre
Frage. Bündnisse ohne bestimmten Zweck entsprechen nicht den Traditionen unsrer
Politik, wenigstens seit der Negierung Kaiser Wilhelms des Ersten nicht; die
Möglichkeit eines Bündnisses im gegebnen Falle durch freundschaftliche und vertrauens¬
volle Beziehungen offen zu halten, liegt dagegen immerhin bis zu einem gewissen
Grade im Interesse beider Mächte. Deutschland konnte sich nicht auf ein allge¬
meines Verhältnis zu England einlassen, bei dem es nur die Rolle gehabt hätte,
die grundsätzliche kontinentale Ergänzung der englischen Flotte zu sein, aber es sind
doch Probleme der Zukunft genug denkbar, die beide Staaten enger aneinander zu
knüpfen vermögen. Um so bündnisfähiger wir dann sind, desto lieber wird man
uns suchen.
Es ist vollkommen ausreichend, wenn die Begegnung von Friedrichshof und
der dortige ungezwungne Verkehr beider Monarchen, eine offne Aussprache mit¬
einander, ein heiteres Beisammensein im Familienkreise an einer durch gemeinsame
Erinnerungen geweihten Stätte als Symptom einer gebesserter Lage registriert
werden dürfen. Beiden Nationen genügt die Gewißheit, daß ihre Flaggen niemals
gegeneinander wehen werden, und daß Differenzen, die sich ergeben sollten, in
freundschaftlicher Weise zum Austrag gebracht werden, freundschaftlich freilich nicht
in dem Sinne, daß Deutschland dabei immer den kürzern zu ziehen hat. König
Eduard wird hoffentlich die Überzeugung mitnehmen, daß alle Eimnischungs-, Aus-
dehnungs- und Vergrößerungspläne, die von den deutschfeindlichen Strömungen in
Europa unablässig in Umlauf gesetzt worden sind, ausschließlich auf Erfindung be¬
ruhen, und daß speziell England gegenüber Deutschland nichts andres verlangt, als
ein von gegenseitiger Achtung, gegenseitigem Wohlwollen und Vertrauen getragnes
Verhältnis. Reibungen auf dem Weltmarkt — und diese bilden im wesentlichen
den natürlichen Zug in den zeitweise eingetretnen Spannungen — werden auch in
Zukunft unvermeidlich sein, die hat England auch mit seinem Verbündeten, Japan,
Deutschland hat sie mit seinen Alliierten Österreich und Italien. Aber die Politik
soll sich in diesen friedlichen Wettbewerb nicht einmischen, und merkantile Konkurrenz
braucht keine politische Gegnerschaft zu erzeugen.
Ebensowenig soll der beiderseitige Flottenbau verstimmend wirken. Jeder Staat
hat die Pflicht, für den Schutz feiner Unabhängigkeit, seiner Integrität und seiner
Interessen zu sorgen. Im Jahre 1905 liebten es Blätter wie die Daily Mail,
Deutschland mit der Übermacht Englands zu drohen, heute lassen sie Kassandrarufe
erschallen, daß die beiden noch gar nicht einmal auf den Stapel gelegten deutschen
vrsAäua.u.Ant'S das englische Schiff dieses Namens voraussichtlich wesentlich übertreffen
werden! Vielleicht hat England mit der Erbauung dieser neuen großen Schiffsklasfe
einen Fehler begangen. Es hat seine Nachbarn gezwungen, den gleichen Schritt zu tun,
und damit hat es seine bisherige maritime Übermacht einstweilen stark beeinträchtigt.
Deutschland darf gegenüber den Drohungen, die im vorigen Jahre aus dem Munde
und aus der Feder von Engländern in hoher politischer und militärischer Stellung
ergingen, ganz abgesehen von der Haltung eines großen Teils der Presse und der
öffentlichen Meinung Großbritanniens, die Hände nicht in den Schoß legen. Schutz¬
dämme können nicht erst erbaut werden, wenn die Sturmflut hereinbricht, im Gegen¬
teil, wir müssen das gute Wetter fleißig ausnutzen, das allmählich wieder über
der Nordsee aufsteigt. Gewinne es doch fast den Anschein, als seien die französisch¬
englischen publizistischen Erörterungen über die Zukunft Belgiens und Hollands
nnter französisch-englischen« Protektorat, jedenfalls eine seltsame Begleiterscheinung
zu der Begegnung von Friedrichshof, dazu bestimmt, uns recht wach und unsre
Augen offen zu erhalten.
Recht nützlich würde es dagegen sein, wenn unsre Zeitungen sich nicht zu sehr in
„Kolonialskandale" andrer Länder vertiefen wollten. Wer so viel vor seiner eignen
Tür zu kehren hat, tut gut daran, sich um den fremden Kehricht nicht zu kümmern,
wenigstens nicht, bevor der eigne beseitigt ist. Es würde das nur von neuem zu
einer unerfreulichen Polemik zwischen der beiderseitigen Presse Anlaß geben. Wir
werden mit uusern eignen Kolonialgeschichten noch während des kommenden Reichs¬
tags soviel zu tun haben, daß wirklich kein Grund vorliegt, das Ausland gewisser¬
maßen zur Kritik herauszufordern. Andrerseits soll man bei uns doch auch nicht
übersehen, daß wir mit unsrer ganzen Kolonialpolitik nach zwanzig Jahren tatsächlich
noch in den Kinderschuhen stecken, zum nicht geringen Teil deshalb, weil in dieser
Zeit für die Entwicklung unsrer Kolonien und ihrer Verwaltuugsciurichtuugen, von
Kiautschou abgesehen, dank einer verkehrten Reichstagspolitik leider gar so wenig
geschehen ist. Wir haben infolgedessen teures Lehrgeld zahlen müssen, das keiner
kolonisierenden Nation erspart geblieben ist, ebenso ist das bezüglich der dabei
zutage getretner Unregelmäßigkeiten der Fall. Wären die Kolonien nicht viele
Jahre lang auch für deu Reichstag das Aschenbrödel gewesen, so würde manches
vermieden worden sein. Hoffentlich ist jetzt wenigstens die Erkenntnis durch¬
gedrungen, daß wir für die Verwaltung usw. draußen wie in der Heimat nicht
weggelobte Leute, sondern nur die tüchtigsten und erlesnen Kräfte brauchen können.
In einigen Blättern taucht die Amnestiefrnge vou neuem auf, diesesmal mit
dem Zusätze, daß nunmehr doch die Gewährung einer Amnestie von ziemlichem Um¬
fange gelegentlich der Taufe des jüngst gebornen Prinzen zu erwarten sei. An¬
gesichts der letzthin unternommnen Reise des preußischen Justizministers nach
Norderney wird man diese Behauptungen nicht in Abrede stellen können. Aber
wenn einige Zeitungen weiter gehn und von neuem die Forderung einer Amnestie
peremptorisch erheben, so verkennen sie die Sachlage und namentlich den Umstand,
daß sie Gefahr laufen, abermals die Bemühungen derer zu durchkreuzen, die im
Sinne der Gewährung einer Amnestie tätig gewesen sind. Eine Amnestie ist aus¬
schließlich ein Guatemale der Krone, und dieser die Gewährung publizistisch vor¬
zuschreiben, dürfte der allergeeignetste Weg sein, die Sache gänzlich zu vereiteln.
Die alljährlich nach dem Schluß der großen Manöver stattfindenden Ver¬
änderungen in den obern Flottenkommandostellen werfen diesesmcil ihre Schatten
etwas weit voraus, und man begegnet zahlreichen Meldungen, die sich meist durch
innere Widersprüche auszeichnen. Als sicher darf das Ausscheiden des Großadmirals
von Koester und der Übergang des Oberkommandos der Schlachtflotte auf den
Prinzen Heinrich von Preußen anzusehen sein, nachdem die künftige Zusammensetzung
des Admiralstabes der Schlachtflotte schon mit Rücksicht auf die Person des Prinzen
befohlen worden ist. Ob der Großadmiral von Koester noch in der Stellung eines
Generalinspekteurs der Marine, die er auch jetzt schon bekleidet, verbleiben wird, wie
eine Kieler Meldung besagt, muß abgewartet werden. Es würde das sein Verbleiben
in dem aktiven Dienst bedeuten und die Stelle müßte nebst den Anforderungen für
Stab, Adjutantur und Bureau neu auf den Etat gebracht werden. Die ebenfalls wieder
auftauchende Meldung, daß der Chef des großen Admiralstabes, Büchsel, ein Ge¬
schwaderkommando übernehmen werde, ist schon dementiert worden. Bisher galt all¬
gemein die Annahme, daß die Errichtung einer besondern Generalinspektion der Marine
erst beim Ausscheiden des Prinzen Heinrich aus dem unmittelbaren Frontdienst er¬
folgen werde. Der Prinz ist jetzt erst 44 Jahre alt, seit sechs Jahren Admiral, mit
großer Lust und Liebe Seemann, er kann mithin das Oberkommando der Schlachtflotte
noch eine Reihe von Jahren führen. Seine Inspizierung durch einen Generalinspekteur
gilt aus diesem Grunde nicht als wahrscheinlich, wäre aber immerhin für einen
Übergangszeitraum denkbar. — Die Altdeutschen Blätter kommen noch einmal auf
ihre Behauptung zurück, „daß Reichskanzler und Zentrum den Flottenforderungen
des letzten Jahres die Grenze gezogen haben". Es ist dies eine absolute Unwahr¬
heit. Die Entscheidung über die einzubringende Flottenvorlage ist vom Kaiser, zunächst
völlig unabhängig vom Reichskanzler, beim vorjährigen Vortrag des Staatssekretärs
in Rominten getroffen worden. Bei der Entscheidung ist die parlamentarische und
finanzielle Sachlage gewiß mit in Erwägung gekommen, war aber keineswegs aus¬
schlaggebend. Ausschlaggebend waren organisatorische und technische Erwägungen.
Man muß sich gegenwärtig halten, daß diese Entscheidung zu Anfang Oktober 1905
inmitten einer noch ziemlich gespannten politischen Lage zu treffen war, daß somit
eine Reihe von Umständen mit in Betracht kam, die später hinfällig geworden sind,
an denen man aber damals nicht vorübergehn konnte. Der Verfasser sagt wört¬
lich: „Ebenso gewiß wie durch einen Winkel und eine ihm anliegende Seite des
Dreiecks die Länge der gegenüberliegenden bestimmt wird, haben Reichskanzler und
Zentrum den Flottenforderungen die Grenze gezogen." Man darf getrost an¬
nehmen, daß sich die vom Verfasser vertretnen Anschauungen und Behauptungen
auf der Höhe dieser merkwürdigen mathematischen Auffassung bewegen.
Der Erlaß des Kultusministers, der die Aufrechthaltung der Sedanfcier in
den Schulen anordnet, ist eine staatspolitische Notwendigkeit ersten Ranges und als
solche freudig zu begrüßen. Es war in dieser Hinsicht leider schon vielfach eine
bedauerliche Gleichgiltigkeit eingerissen, deren Folgen nicht verkannt werden dürfen.
Die Feier des Sedantages vermehrt die ohnehin recht spärlichen Gelegenheiten zur
Betätigung und Befestigung vaterländischer nationaler Gesinnung und gibt Lehrern
und Schülern Anlaß, sich immer wieder von neuem in die große Werdezeit des
Reiches zu versenken. Je unermüdlicher die Sozialdemokratie daran arbeitet, den
Staatsgedanken und die Staatsgesinnung schon in den jungen Gemütern zu er¬
töten, um so gebieterischer tritt an die Schulbehörde die Pflicht heran, dieser Ver¬
giftung der heranwachsenden Geschlechter mit allen Mitteln entgegen zu arbeiten.
Der junge Mann, der in das Heer tritt, soll sich doch der Siegesgeschichte
und der Ehrentage seines Regiments freuen; dazu aber ist es notwendig, dafür
zu sorgen, daß die Saat des Unkrauts nicht schon in der Schule überwuchernd
aufgeht. Für die Mädchenschulen kommt der große Einfluß in Betracht, den die
Mütter dereinst auf die Erziehung ihrer eignen Kinder ausüben. Je ärmer unser
heutiges öffentliches Leben an Idealen ist, je mehr der Kampf um das Dasein die
Gemüter in Anspruch nimmt, um so ernster ist die Pflicht der Schule, in den
jungen Herzen den Glauben an das Vaterland, die Ehrfurcht vor seiner großen
Geschichte und das Pflichtgefühl, an der Entwicklung seiner Zukunft hingebend und
opfermütig teilzunehmen, zu festigen und zu entwickeln. Schon vor einer Reihe
von Jahren haben aufmerksame Beobachter des französischen Volkslebens, Männer,
die den Krieg in den deutschen Heeren mitgemacht hatten und nun in Frankreich
gelehrten und wissenschaftlichen Forschungen nachgingen, festgestellt, wie dort auf
dem Lande und in den kleinen Städten die Erinnerung an das unbedeutendste
Gefecht, das in der Gegend stattgefunden hat, durch kirchliche und Schul-Feier, durch
Bekränzung der Gräber usw. festgehalten wird, während in Deutschland leider von
Jahr zu Jahr die Gleichgiltigkeit gegenüber unsern patriotischen Gedenktagen immer
größer geworden war. Die politische Tragweite dieser Erscheinung ist um so weniger
zu verkennen, als in den patriotischen Gedenkfeiern zugleich ein kräftiges Band
der Einigung des Nordens und des Südens des Vaterlandes liegt, und es für
Deutschlands Zukunft keineswegs gleichgiltig ist, ob sich alljährlich am 2. September
die Herzen in Nord- und in Süddeutschland zu erhebender Feier zusammenfinden
oder nicht.
Die Öffentlichkeit hat sich in den jüngsten Wochen recht eingehend mit der
Ostmarkenpolitik beschäftigt, es sind dabei die Fragen der Umwandlung der Posener
Akademie in eine Universität und die der Erhaltung des Grundbesitzes in deutscher
Hand in den Vordergrund getreten. Was die Posener Akademie anlangt, so war
es naheliegend, daß sich, nachdem sie einmal geschaffen war, Stimmen erheben
würden, die sie zur Universität ausbauen möchten. Der außerordentlich heilsame
Einfluß, den die Universität Bonn auf das innere Zusammenwachsen der Rhein¬
lande mit dem alten Preußen ausgeübt hat, war mit in die Wage gefallen
bei der Gründung der Universität Straßburg, von der man sich ebenfalls
versprach, daß sie sich als eine starke Feste für das geistige Zusammenwachsen
des Reichslandes, namentlich des Elsaß, mit dem übrigen Deutschland erweisen
werde. Nach Lage der Dinge kann sich dieser Prozeß nur sehr langsam entwickeln,
und die Fortschritte, die in dieser Richtung gemacht worden sind, sind heute, nach
einem Menschenalter, trotz der großen Freigebigkeit des Reiches noch recht gering.
Ganz und gar unzutreffend wäre eine gleiche Erwartung für die Provinz Posen.
Die Akademie dort soll für die Deutschen, die erwachsnen Deutschen, ein Mittel¬
punkt geistigen Lebens und geistiger Fortbildung sein. Zur Universität umgewandelt,
würde sie nicht mehr den Erwachsnen, sondern einer akademischen Jugend ge¬
hören, die zahlenmäßig nur eine überwiegend polnische sein könnte, durchaus nicht
von der Absicht beseelt, sich von dieser Universität germanisieren zu lassen, sondern
allein von dem Willen bestimmt und geleitet, dieses deutsche Btldungsmittel zur
Hebung des Polentums auszunutzen. Eine Universität in Posen würde unfehlbar
das Schicksal der Universität von Prag haben. Wir hatten ehedem in Posen nur
Adel und Geistlichkeit zu bekämpfen, das preußische Gymnasium und die preußische
Realschule haben einen polnischen Bürgerstand geschaffen, der seine Bildung und
den erworbnen Wohlstand nur für den Kampf gegen den preußischen Staat ver¬
wertet und diesen mit wesentlich breiterer Front angreift, als es dem Adel und dem
Klerus jemals möglich gewesen ist. Haben schon unsre Schulen polonisierend ge¬
wirkt, die Universität würde es in wesentlich erhöhtem Maße tun. Was den Grund¬
besitz anlangt, so besteht heute wohl kein Zweifel mehr, daß die bisherige An-
siedlungspolitik nicht ausreicht, dem damit beabsichtigten Zweck zu genügen. Auch
die Kreuzzeitung gibt schon zu, daß ohne Vorkaufsrecht und Enteignungsrecht des
Staates die Sache nicht mehr haltbar sei. Es dürfte die höchste Zeit sein diese
Vor zehn Jahren hat Eduard Hahn in seinem viel zu wenig
beachteten Werke: „Die Haustiere und ihre Beziehung zur Wirtschaft des Menschen"
(siehe das 35. Heft der Grenzboten von 1895) geschrieben: „Unsre Rübe wächst
nicht in tropischer Üppigkeit, und wenn sie mehr als 12 Prozent Zucker enthält,
so ist das viel. Zuckerrohr steht dicht wie das Schilf bei uns, es enthält bis
18 Prozent, und die Halme sind 8 bis 15 Fuß hoch. Sowie die tropische
Arbeiterfrage ihre endgiltige Lösung gefunden haben wird, ist damit das Schicksal
unsrer Zuckerindustrie besiegelt, ja sie wäre wahrscheinlich schon vernichtet, wenn
nicht gerade der Aufschwung der javanischen Zuckeriudustrie durch die Serehkrcmk-
heit des Rohrs zunächst eine starke Verzögerung erlitten hätte. Gelingt es, diese
Krisis zu überwinden, gelingt es ferner, den amerikanischen Neger seiner Indolenz
zu entreißen, so wird unsre Industrie nicht lange widerstehn können. Bedenkt man
aber, daß unser Rübenbau einen großen Teil des allerbesten Bodens der eigent¬
lichen Bestimmung, der Ernährung unsers Volkes, entzieht, und neben der Ver¬
nichtung des bäuerlichen Betriebs in einigen ehemaligen Hauptgebieten, zum Beispiel
der Magdeburger Borde, durch die starke Verwendung fluktuierender Arbeiter¬
massen unsre ländliche Lohnarbeiterschaft proletarisiert, so kann man nur dringend
wünschen, daß wir diese Industrie so bald und mit so wenig Nachteil wie möglich
loswerden." Er schlägt vor, das in der Rübenzuckerfabrikation steckende Kapital
in Zuckerrohrplantagen anzulegen. Wir haben damals dazu bemerkt: weil die bei
uns für die Zuckerindustrie verwandte landwirtschaftliche Fläche verhältnismäßig
klein sei und die beim Rübenbau angewandte Tiefkultur im Fruchtwechsel auch dem
Getreide zugute komme, so werde das, was die Zuckerproduktion den Nahrungs¬
mitteln entziehe, nicht bedeutend sein; aber die übrigen volkswirtschaftlichen und
sozialen Schädigungen, die sie dem Volke zufüge, seien so groß, daß man ihren
Untergang wünschen müsse. Und heute fügen wir hinzu: das Bestreben, die Rohr¬
zuckergewinnung daniederzuhalten, beweist aufs neue die Unvernunft unsrer Wirt¬
schaftsverfassung, da das allein vernünftige doch nur sein kann, jede Gabe der
Natur dankbar anzunehmen, also den Zucker dort zu gewinnen, wo sie ihn am
reichlichsten spendet und mit dem geringsten Anspruch an menschlichen Arbeitsauf¬
wand. Nach der Beendigung des kubanischen Krieges ist sofort — ohne daß
Hahn genannt worden wäre — die Ansicht ausgesprochen worden, wenn sich jetzt
die Aankees auf die Zuckerproduktion in den erworbnen Gebieten verlegten, so
werde Kuba allein schon den Zuckerbedarf der ganzen Welt decken können. Unsre
Zuckerinteressenten wehrten sich natürlich mit Händen und Füßen gegen die Aner¬
kennung dieser Tatsache. Ihr wissenschaftlicher und zugleich parlamentarischer Ver¬
treter, Professor Paasche, untersuchte die Lage an Ort und Stelle und beschwichtigte
in seinem Bericht die Befürchtungen seiner Leute. Professor Julius Wolf findet
Paasches Thesen sehr sympathisch, aber eben das sympathische beweise, einen wie
starken Anteil an ihrer Aufstellung das Gefühl gehabt habe. Der genannte National¬
ökonom veröffentlicht nämlich bei Gustav Fischer in Jena (1906) die Schrift:
„Der deutsch-amerikanische Handelsvertrag, die kubanische Zuckerpro¬
duktion und die Zukunft der Zuckerindustrie. Mit zahlreichen statistischen
Tabellen und Exkursen." Darin beweist er, gestützt auf zweifellos zuverlässige Berichte
von Kennern Kubas, daß diese Insel in Beziehung auf Zucker tatsächlich das Land
der unbegrenzten Möglichkeiten ist. Sie enthält 120000 Quadratkilometer, was vier
Fünftel der eigentlichen Halbinsel Italien (Italien ohne die Inseln und den kontinen¬
talen Querbalken) ausmacht. Sie hat nicht ganz 1800000, das entsprechende Stück
Italiens 16000000 Einwohner. Und sie ist von der Natur weit mehr begünstigt
als Italien; ihr ganzes Areal ist anbaufähig, und ihr Boden sehr fruchtbar. In ge-,
regelten Anbau gezogen sind erst 3600 Quadratkilometer, wovon 1700 mit Zucker¬
rohr bestanden sind, also 1,3 Prozent der Bodenfläche. Obgleich nun die Zuckerge¬
winnung noch nachlässig und primitiv betrieben wird — die bessern Methoden fangen
eben erst an, sich zu verbreiten —, ist die Produktion, die in der besten Zeit vor dem
Kriege 10 Millionen Doppelzentner betragen hatte, im Kriege auf 2 bis 3 zurück¬
gegangen war, jetzt auf 13 Millionen gestiegen. Die Produktionskosten betragen
1,35 Cents für das Pfund looo Bord. Außerdem erzeugen Rohrzucker: Java 10,
Hawai 3,7, Louisiana 3 Millionen Doppelzentner, Brasilien, Mauritius, Portorico,
Queensland kleinere Mengen; alle zusammen erzeugten im Jahre 1900 36 Millionen.
Ostindien, das ebenfalls Zuckerrohr baut, zählt nicht mit, weil es den Bedarf der
eignen Bevölkerung nicht ganz deckt, darum für Zucker nicht Aus- sondern Ein¬
fuhrland ist. Die Rohrzuckerproduktion ist langsam von 11 Millionen Doppel¬
zentnern im Jahre 1840 auf 36 Millionen im Jahre 1900 gestiegen. Der
Rübenzucker hat in derselben Zeit gewaltige Sprünge gemacht: im ersten Jahrzehnt
von 0,4 auf 2 Millionen, in jedem folgenden auf ungefähr das Doppelte des
vorhergehenden bis 60 Millionen im Jahre 1900. Aber den Rekord im Ringen
mit dem Rohrzucker hat der Rübenzucker schon im Jahre 1899 erreicht, wo sein
Anteil an der Weltproduktion 64^ Prozent betrug; in der Kampagne 1904/05
deckte er nur 51,7 Prozent des Weltkonsums; der Rohrzucker machte also mit ihm
beinahe Halbpart. (Die genauen Zahlen werden gerade hier nicht angegeben; da
der Weltbedarf reichlich 100 Millionen Doppelzentner beträgt, müßte die Rohr¬
zuckermenge in der genannten Zeit fast 50 Millionen erreicht haben.) Wolf schließt
daraus, daß das Jahr 1900 der Wendepunkt sei. von dem an der Rübenzucker in
immer stärkeren Maße vom Rohrzucker überflügelt werden werde. Denn der Er¬
folg des Rübenzuckers beruhe auf der Wissenschaft, und die sei mit ihren Leistungen
an den Grenzen der Möglichkeit angelangt, die Rohrzuckerfabrikation bedürfe vor
der Hand noch gar keiner Chemie, sondern nur des Kapitals (das ihr jetzt durch
die Verbindung mit den Vereinigten Staaten zur Verfügung stehe) und der Arbeiter,
die nötig seien, die Anbaufläche des Zuckerrohrs zu vergrößern; sie stehe also erst
im Anfange ihrer Entwicklung. Ein Kubaner hat erklärt: „Wir brauchen keine
Chemie; könnten wir nur all unser Rohr durch die Fabrik durchpeitschen! Wir
müssen jedes Jahr ganze Rohrfelder ungeschnitten stehn lassen." Deutschland ge¬
winnt mit allen wissenschaftlichen Schikanen 43 Doppelzentner Zucker vom Hektar,
Hawai ohne solche 104, auf den besten Plantagen 334. Nun hat es ja die
Versuchsstation Lauchstadt bei Halle auf 87,1 Doppelzentner gebracht, und so hoch,
meint Wolf, könnte man es überall bei uns bringen, wenn man — die Kosten
nicht scheute; leider verraten die Lauchstädter Berichte nicht, wie hoch sie sich be-
laufen. Ja, die Kosten! Da liegt der Hase, genannt landwirtschaftliche Industrie
oder kapitalistische Landwirtschaft, im Pfeffer! Wenn man nur die genügende
Quantität teuern ausländischen Düngers und nicht eben wohlfeiler menschlicher und
Maschinenarbeitskraft anwendet, kann die deutsche Landwirtschaft mit Leichtigkeit
100 Millionen Menschen ernähren, und wenn man den Roggen, gleich den Gurken,
unter Glas zieht, vielleicht sogar 200 Millionen; es fragt sich nur, wie viel er
dann kostet, und wer ihn bezahlen soll; von Milch, Butter und Fleisch gar nicht
zu reden. Daß übrigens die Wissenschaft gerade in der Zuckererzeugung Erstaun¬
liches geleistet und sich mit unsterblichem Ruhme bedeckt hat, muß anerkannt werden.
Im fünfzehnten Jahrhundert hat der Zentner Zucker 1000 bis 1200 Mark, im
Jahre 1650 120 Mark, im Anfange des neunzehnten Jahrhunderts 50 bis 60 Mark
gegolten, jetzt gilt er 8 bis 9 Mark, und die Herstellungskosten betragen 6 bis
8 Mark — dank der Wissenschaft.
Professor Wolf hegt nicht etwa den oben ausgesprochnen ketzerischen Wunsch,
der Rohrzucker möge siegen; er weist im Gegenteil die Wege, wie wenigstens der
Siegeszug des kubanischen Zuckers aufgehalten werden könne. Die Union gewährt
Kuba einen Vorzugszoll, und es wird nun für dieses ein leichtes sein, unter dem
Schutze solcher Begünstigung den ganzen Bedarf der Vereinigten Staaten zu decken.
Dieser beträgt 18,3 Millionen Doppelzentner über die nicht sehr bedeutende Eigen¬
produktion, und davon hat Kuba 1904/05 10,3 Millionen geliefert; steigert es seine
Produktion auf 18 Millionen, so fallen die Zufuhren aus den übrigen Zucker¬
ländern hinweg, darunter die eine Million, die Deutschland dorthin exportiert.
Es gibt nun, wie Wolf mit Zeitungsartikeln beweist, sogar in den Vereinigten
Staaten Leute, die anerkennen, daß der kubanische Vorzugszoll gegen den Meist¬
begünstigungsvertrag verstoße, der zwischen dem Deutschen Reiche und der Union
besteht, und Wolf zeigt, wie Deutschland die Benachteiligung hätte abwenden können,
und was es noch in Zukunft dagegen tun kann. Ein Kampf gegen den Zollver¬
trag mit Kuba werde in der Union selbst Bundesgenossen finden, sowohl an den
amerikanischen Rübenzuckerfabrikanten und den Rohrzuckerproduzenten von Loutsiana,
Hawai, Portorico und den Philippinen, als auch an den Politikern, die in dem
Kubavertrag eine Schädigung der Finanzen der Republik sehen. Die weitere Ent¬
wicklung des Zuckerdramas wird also, wie es scheint, zunächst davon abhängen, ob
diese Interessengruppen zusammen stärker oder schwächer sind als die Kapitalisten,
die sich die „Erschließung" Kubas zur Aufgabe machen.
Wir fügen hier noch ein paar kurze Anzeigen an. Bei B. G. Teubner,
Leipzig und Berlin (1906) ist erschienen: „Die Weltwirtschaft. Ein Jahr-
und Lesebuch, unter Mitwirkung zahlreicher Fachleute herausgegeben von Dr. Ernst
von Halle, Professor an der Universität Berlin. Jahrgang 1906, I. Teil:
Internationale Übersichten." Ein sehr gutes und vollständiges Nnchschlagebuch, das
viele lieber benutzen werden als die aus Hildebrands Jahrbüchern zusammengestellte
Volkswirtschaftliche Chronik, weil in dieser, die Monat für Monat berichtet, der
Stoff zu sehr zerrissen wird. Im 11. und 13. Heft dieses Jahrgangs haben wir
Buecks großes Werk: Der Zentralverband deutscher Industrieller angezeigt. Der
Genannte hat jetzt (bei I. Guttentag in Berlin, 1906) eine Broschüre herausge¬
geben: Der Zentralverband deutscher Industrieller und seine dreißigjährige
Arbeit von 1876 bis 1906, deren Inhalt zum Teil dem mit dem Jahre 1901
abschließenden größern Werke entnommen ist, zum Teil dieses durch Fortführung
der Geschichte des Verbandes bis zur Gegenwart ergänzt. — Max Lorenz, Heraus¬
geber der Antisozialdemokratischen Korrespondenz, veröffentlicht (bei Dr. Wedekind
u. Co., Berlin, 1906) unter dem Titel: Das Deutschland der Gegenwart
vier im Wirtschaftlichen Schutzverband zu Hamburg gehaltne Reden über die poli¬
tische Entwicklung in Deutschland, die Arbeiterfrage, die moderne Frauenbewegung
und die moderne Literatur, die recht verständige Ansichten enthalten. Die Tätig¬
keit des Schutzverbandes und die Hamburger Wahlrechtsänderung werden im letzten
Vortrage als Reaktion des Individualismus gegen „die terroristischen Ansprüche
des proletarischen Naturalismus" charakterisiert.
Wir machen zuerst auf
den großartigen neuesten Berlagskatalog aufmerksam, der auf 200 Seiten die Ab¬
teilung „Galeriepublikationen" verzeichnet. Er ist alphabetisch nach den Meister¬
namen geordnet und umfaßt die Hauptsammlungen von Deutschland, Belgien, Holland,
England, Italien, Österreich-Ungarn und Rußland. Es fehlen also nur der Louvre
und der Prado. Die Blätter werden als unveränderliche Kohle- oder Silber-
Photographien und als Pigmentdrucke in sechs Formaten von 75 Pfennigen an ge¬
liefert. Es kauft sie der Einzelne nach seiner Wahl, und die Buchhändler legen
sie den Netzdrucken ihrer Bücher zugrunde. Was wäre unsre ganze kunstgeschichtliche
Illustration ohne Hanfstängls Aufnahmen! Nach einer beschränkten, immerhin aber
doch noch sehr großen Zahl von Originalen werden auch photomechanische Re¬
produktionen im künstlerischen Charakter einer Radierung, nur noch treuer als diese,
hergestellt. Diese Hanfstä'nglschen „Gravuren" sind Kunstblätter, die nicht auf eine
Linie gestellt werden dürfen mit dem vielen minderwertigen Zeug, das neuerdings
unter demselben Namen auf den Markt gebracht, und weil es dann vielleicht fünfzig
Pfennige oder eine Mark pro Blatt kostet, dem Publikum als halb geschenkt an¬
gepriesen wird. Hanfstängls Remarquedrucke auf Japanpapier, z. B. nach einem
Rembrandtschen Porträt, haben überhaupt nicht ihresgleichen. Wer unter den ihm
bekannten Originalen einen Liebling hat, den er täglich an der Wand seines Zimmers
sehen möchte, kann sich das kleinste Format in dieser ReProduktionsweise auf China-
Papier (50x37 Zentimeter Blattgröße) schon für 3 Mark verschaffen. Die größern
Formate, z. B. Imperial (auf China 15, auf Japan 30 Mark), machen eine ganz
wundervolle Wirkung. Und das Auge braucht geradezu von Zeit zu Zeit den
Eindruck des Echten, damit es die Fähigkeit, Qualitäten zu unterscheiden, nicht ein¬
büßt. — Für Musikfreunde hat Hanfstängl ganz kürzlich einen besondern Katalog
über Kunstblätter nach Darstellungen aus Opern und nach Musikerporträts heraus¬
gegeben, der schon als Buch mit seinen hundert kleinen Illustrationen (vorwiegend
Richard Wagner und was mit ihm zusammenhängt) eine willkommne Gabe sein
wird. Er kostet 50 Pfennige. — Endlich empfehlen wir noch als neueste Künstler¬
biographie desselben Verlags „Adolph von Menzel" von Franz Hermann Meißner,
82 Seiten in Großquart mit vielen Textabbildungen und Lichtbrücken (4 Mark).
Jedenfalls das Beste und Billigste, was sich jemand anschaffen kann. Und am
Ende ist und bleibt doch Menzel der einzige unbestrittne Künstler, den unsre Zeit
gehabt hat, den namentlich auch die Ausländer ohne Vorbehalt gelten lassen, wenn
sie auch nicht soviel darum hermachen, wie wir um Robim oder Meunier. „Ob man,
sagt Meißner, ihn immer zu den Ganzgroßen der Kunstgeschichte zählen wird, zögere
ich zu entscheiden." Wir dürfen diese Sorge der Zukunft überlassen und meinen
nur, daß dann Böcklin, Klinger und Thoma, auf die Meißner öfter vergleichend
hinweist, noch weniger Aussicht auf die künftige „Ganzgröße" haben. „Wenn je
wieder die Erkenntnis dämmern sollte, daß eine ernsthafte Kunst, die vor den Nach¬
fahren nicht zu erröten braucht, ohne eine hohe persönliche Bildung des Künstlers
nicht möglich ist, dann wird Menzel der tauglichste Schulmeister der Jungen werden."
Ganz unsre Ansicht!
Auf Haufstängls Aufnahmen beruhen auch „Weichers Kunstbücher", gefällige
kleine Hefte in Taschenformat mit buntem Pergamentumschlag, aus dem Verlag von
Wilhelm Welcher in Leipzig, die um ihrer besondern Art willen sehr zu empfehlen
sind. Sie geben nämlich keinen Text, was in Anbetracht der vielen fabrikmäßigen
Kunstschreiberei von heute allein schon beinahe als ein Vorzug anzusehen ist, nur
Abbildungen in Netzdruck, und zwar sehr gute. Also ganz so wie die „Maler¬
klassiker" des Hanfstänglschen Verlags, nur daß diese nach Galerien angeordnet sind,
die Weicherschen dagegen nach Meistern. Erschienen sind drei Hefte: Rubens,
Vandyck, Rembrandt. Jedes kostet 80 Pfennige und enthält 60 Bilder. Man wird
zugeben, daß das betnahe geschenkt ist. Auf diese Weise wird doch in Wahrheit ceo^
„zugänglich gemacht". Wir stellen uns das nicht so vor, daß jeder darauf ausg .
wird, sich die ganze Sammlung anzuschaffen, die nach Plan und Inhalt neben so
manchem andern Unternehmen doch auch nur wieder etwas Zufälliges sein kann,
sondern er hat die Gelegenheit, buchstäblich für nichts sich seine Lieblingsmeister zu
kaufen und zu vervollständigen. Am meisten hat uns das Vandyck-Heft interessiert,
weil es eine Anzahl wenig bekannter Bildnisse aus den englischen Sammlungen bringt.
Erst die redaktionelle Bemerkung zu meinem Aufsatz über
„Die Physiognomie der russischen Sprache" (S. 207) hat mich auf die Möglichkeit
eines Mißverständnisses hingemiesen, die mir um so ferner lag, als die dort ab¬
gebrochn« Gedankenreihe inzwischen an andrer Stelle ihren Abschluß gefunden hatte.
Natürlich denke ich nicht daran, die Schule gleichzeitig mit drei neuern Fremd¬
sprachen belasten zu wollen. Vielmehr soll das Russische wahlfrei sein, unter Um¬
ständen aber an die Stelle des Französischen oder des Englischen treten, je nach
der vom nationalen Bedürfnis abhängenden Ökonomie des Lehrplans. Näheres enthält
meine im diesjährigen Juliheft des Pädagogischen Archivs S. 395 bis 403 veröffentlichte
Abh
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von A. Lschenbach
- !le zur Deckung des Mehrbedarfs des Reichs beschlossene Brau¬
steuererhöhung hat, wie bekannt, nicht nur für die Kreise der ge¬
samten deutschen Brauindustrie und des gesamten Wirtsgewerbes,
sondern weil es sich um einen außerordentlich wichtigen Konsum-
I artikel für die breitesten Kreise, ja fast die gesamte Bevölkerung
handelt, Fragen von materiell ganz außerordentlicher und allgemeinster Be¬
deutung hervorgerufen. Es liegt selbstverständlich völlig außerhalb des Rahmens
der nachfolgenden Ausführungen^) irgendwie dazu Stellung zu nehmen, ob die
Mehrsteuer billigerweise allein von den Brauereien oder allein von den Gast¬
wirten und Restaurateuren oder nur von dem Publikum, d. h. den Konsumenten
oder nach einem gewissen Prozentsatz von allen drei beteiligten Gruppen ge¬
meinsam getragen werden soll oder auferlegt werden kann;**) in nachfolgendem
soll vielmehr zu einer mehrfach sehr lebhaft erörterten, in dem Gesamtproblem
liegenden Sonderfrage Stellung genommen werden. Und zwar ist der Inhalt
dieser Frage, ob, da sich weite Kreise der Brauereien weigern, die Steuer allein
auf sich zu nehmen, diese vielmehr in anscheinend noch erhöhten Beträgen zunächst
auf die Vertriebsstellen, d. h. die Restaurationen und die Gastwirtschaften ab¬
wälzen wollen, sodaß für die Brauindustrie nicht nur kein Schaden, sondern noch
ein bedeutender Nutzen entstehn würde, die in diesem Sinne also gleichsam die
Konsumenten vertretenden Gastwirte etwa ihrerseits in dem Sinne vorgehn können,
daß sie das für die Bevölkerung benötigte Bier selbst erzeugen, und zwar durch
gemeinschaftlichen Zusammenschluß in Gestalt der Begründung von Genossen¬
schaftsbrauereien. Mit andern Worten: es soll die Frage erörtert werden, ob es
sich für die, nationalökonomisch gesprochen, die Distributivfunktion ausübende
Bevölkerungsklasse der Gastwirte empfiehlt zum eignen und zum Nutzen der
Konsumenten selbst die Erzeugung eines wesentlichen Bedarfsartikels, der für
das fragliche Gewerbe mit der bedeutendste ist, gleichsam in Konkurrenz zu
den bisherigen Produzenten der gedachten Ware in die Hand zu nehmen, indem
man die Ware auf gemeinschaftliche Rechnung selbst erzeugt oder erzeugen
läßt? Um welche Werte und Zahlen es sich aber bei dieser Frage handelt,
davon kann man sich ein ungefähres Bild machen, wenn man die Biererzeugung
Deutschlands einer auch nur summarischen Würdigung unterzieht/') Die Zahl
der Brauereien in Deutschland betrug schon im Jahre 1896 nicht weniger als
21433, die Menge des von ihnen hergestellten Bieres aber 6160000000 Liter;
nimmt man nun das Liter Bier im Durchschnitt nur zu 20 Pfennigen an,
so ergibt sich ein Betrag von 1232000000 Mark, also Summen, bei denen
dem Zahlenlaien fast schwindlig wird, und man wird es nur für angemessen
erachten können, wenn der Kundige hier vor übereilten Entschließungen auf
das eindringlichste warnt.
Wenden wir uns nach diesem Überblick nun der Frage selbst wieder zu.
Grundlegend ist zunächst für unsre Untersuchung in juristischer Beziehung
der Paragraph 1, Ziffer 4 des Gesetzes über die Erwerbs- und Wirtschafts¬
genossenschaften, der wie folgt lautet: „Gesellschaften von nicht geschlossener
Mitgliederzahl, welche die Förderung des Erwerbes oder der Wirtschaft ihrer
Mitglieder mittels gemeinschaftlichen Geschäftsbetriebes bezwecken (Genossen¬
schaften), namentlich: g,) Vereine zur Herstellung von Gegenständen und zum
Verkauf derselben auf gemeinschaftliche Rechnung (Produktivgenossenschaften)
erwerben die Rechte einer »eingetragnen Genossenschaft« nach Maßgabe des
Gesetzes." Danach erscheint es nun auf den ersten Blick allerdings so, als
wenn die entstandne wirtschaftliche Differenz verhältnismäßig sehr einfach und
leicht dadurch beigelegt werden könne, daß die Gastwirte und die Restaurateure
von der gedachten Gesetzesbestimmung in Gestalt der Gründung von Genossen¬
schaftsbrauereien Gebrauch machen.
Aber es wird sich bei näherm Durchdenken des Planes nicht verkennen
lassen, daß ihm sehr praktische Bedenken wenn nicht gegenüberstehn, so doch
auf alle Fälle in dem Sinne innewohnen, daß die eingehendste Prüfung der
Sache sowohl vom theoretischen wie vom praktischen Standpunkt aus not¬
wendig erscheint. Dies nämlich deshalb, weil ein etwaiger Fehlschlag für die
weitesten Kreise der daran beteiligten und davon betroffnen Personen, ganz ab¬
gesehen von der auch damit verknüpften Schädigung des genossenschaftlichen
Allgemeingedankens, unter Umständen von nicht nur bedeutenden Nachteilen,
sondern geradezu die Existenz von Tausenden und Zehntausenden von Mit¬
gliedern des bürgerlichen Mittelstandes gefährdender und zerstörender Wirkung
sein müßte. Dies erscheint um so bedeutungsvoller, als ja leider in weiten, der
Dinge nicht kundigen Kreisen die Ansicht verbreitet ist, daß wenn irgendwie ein
wirtschaftliches Problem oder eine wirtschaftliche Schwierigkeit auftritt, man
einfach glaubt, solche Situation durch eine genossenschaftliche Gründung ohne
weiteres erledigen zu können und gleichsam den Stein der Weisen für die be¬
treffende Frage damit gefunden zu haben. Nichts ist aber verkehrter, als eine
solche Auffassung, wie die Erfahrung besonders gerade auf dem Gebiete der
Produktivgenossenschaften leider nur an allzuvielen Beispielen schon gelehrt
hat und noch täglich zeigt. Man wird, abgesehen etwa von Molkereien, für
die allerdings die gemeinschaftliche Verwertung von eignen Erzeugnissen eine
geradezu ideale Wirtschaftsform darstellt, wirklich prosperierende und ihren
Zweck erfüllende Produktivgenossenschaften nur ganz außerordentlich selten
finden, wie ja denn auch die Geschichte der Nationalökonomie einschlägig fast
überall nur Fehlschläge zu verzeichnen hat, auch wenn die Dinge in der Theorie
noch so glatt und schön aussehend konstruiert waren. Es genügt in dieser
Beziehung, auf die Assoziationsversuche vom grauen Altertum über ihre Haupt¬
periode zur Zeit Fouriers bis zu Hertzkas Freiland und den betreffenden ge¬
nossenschaftlichen Versuchen zu verweisen: die Reibungsflächen des wirklichen
Lebens und der Personen mit ihren verschiednen Anschauungen und Tem¬
peramenten sind eben stärker als die schönste theoretische Konstruktion.
Deshalb soll nun im einzelnen an der Hand von Erfahrungen, die auf
dem Gebiete der gemeinschaftlichen genossenschaftlichen Erzeugung von Waren
gemacht sind, unter den speziell im Thema liegenden Einzelfragen dieses des
nähern durchgesprochen werden.
Das wesentlichste ist zunächst selbstverständlich die Frage der Rentabilitäts¬
berechnung auf Grund einer genauen Aufmachung der Erzeugungs- und
Geschäftskosten sowie einer entsprechenden Konsumstatistik, d. h. es müssen
nach den allgemeinen Erfahrungen, die möglichst genau festzulegen sind, der
Umfang des beabsichtigten Unternehmens in bezug auf das Quantum und
der Herstellungspreis des zu erzeugenden Bieres oder der einzelnen Biersorten
festgestellt werden. Inwieweit diese Feststellungen tatsächlich möglich sind,
wird Sache der genauesten Erwägungen und Ermittlungen sein müssen, damit
nicht nur das Anlage- sondern auch das Betriebskapital wenigstens einiger¬
maßen zutreffend geschätzt werden kann. Was sodann die Form anlangt, die
der zu gründenden Gemeinschaft zu geben sein möchte, so würden nach dem
Genossenschaftsgesch die drei möglichen Formen der Genossenschaft, nämlich
die der beschränkten oder der unbeschränkten Haftpflicht und der unbeschränkten
Nachschußpflicht in Betracht kommen. Daß die unbeschränkte Haft- und die
nnbeschrünkte Nachschußpflicht wohl kaum in Frage stehn können, wird einer
weitern Darlegung nicht bedürfen, da eine Differenzierung der Mitglieder der
Genossenschaft in bezug auf die Haftpflicht und die kapitalistische Beteiligung
bei diesen Formen nur sehr bedingt möglich ist, sondern hier überall nur die
gleiche sein kann, d. h. es müßten, wenn nicht juristisch ganz außerordentlich
komplizierte Bestimmungen getroffen werden sollten, was a unius abzuweisen
ist, sowohl die wohlhabenden als sogar die unbemittelten Mitglieder überall
mit demselben Maßstabe der Beteiligung und der Haft gemessen werden. Daß
dies nicht möglich ist, liegt auf der Hand.
Es bleibt also nur die beschränkte Haft übrig. Bei der Anwendung dieses
Prinzips würden ebenfalls wieder zwei Möglichkeiten vorhanden sein, nämlich
folgende: entweder wird das Schwergewicht auf die einzuzahlenden Geschäfts¬
anteile als solche oder aber auf die mit diesen Geschäftsanteilen verknüpften
Haftsummen gelegt, sodaß je nachdem beispielsweise der Geschäftsanteil auf
300 Mark und die Haftsumme auf denselben Betrag oder aber der Geschäfts¬
anteil auf nur 50 bis 100 Mark und die Haftsumme etwa auf 500 bis
1000 Mark festgesetzt werden könnte. Man wird nicht fehl gehn, wenn man
die Aufbringung barer Mittel durch direkte Einzahlung aus die Hastsummen
in bezug auf die Beträge, die dadurch sofort als Anlage- und Betriebskapital
beschafft werden könnten, nicht übermäßig hoch anschlüge. Andrerseits aber
werden sich Kreditgeber, die allein auf hohe Haftsummen hin der Genossenschaft
bedeutende Betrüge vorzustrecken oder zu kreditieren bereit sein sollten, wohl
kaum finden, da ja die Haftsummen vielfach nicht nur sehr schwer realisierbar
sein werden, und zwar zu einem sehr bedeutenden Prozentsatz, sondern außerdem
ja auch noch die Beitreibung der Haftsummen im Falle der Liquidation oder
des Konkurses geraume Zeit in Anspruch nimmt, sodaß — wenn überhaupt —
die Kreditoren erst nach einer für kaufmännische Anschauungen sehr langen Zeit
ihr Geld erhalten würden. Um kurz zu resümieren: die beschränkte Haft wird
ebenfalls schon unter diesen Umständen kaum als geeignete Grundlage für die
Assoziativ» betrachtet werden können, und zwar um so weniger, wenn man
noch die ehelichen Güterrechtsverhältnisse, die gerade hierbei eine sehr bedeu¬
tende Rolle spielen, mit in Betracht zieht. Diese Betrachtungen waren nötig, um
das Augenmerk darauf zu lenken, wie überhaupt die Kreditfrage oder die Frage
der Kapitalbeschaffung gelöst werden könnte, wobei, wie auch noch weiter aus¬
zuführen sein wird, ferner ganz besondres Gewicht darauf zu legen ist, daß
nicht nur schon an und für sich ein recht bedeutendes Anlage- und Betriebs¬
kapital nötig sein wird, sondern daß das Unternehmen auch zweifellos mit
sehr bedeutender und langfristiger Kreditinanspruchnahme wird rechnen müssen,
die das Betriebskapital wahrscheinlich in außerordentlichem Umfange festlegen
würden: liegt ja doch gerade in diesem durch und durch ungesunden Kredit-
nicht Ge-, sondern Mißbrauch mit der Hauptgrund für das bedauerliche Über¬
maß an Gastwirtschaften aller Art, an denen namentlich unsre Großstädte zum
Unheil der Bevölkerung leiden. Nicht minder schwierig erscheint aber auch
die Frage der Leitung und der Organisation von Brauereigenossenschaften: hier
müssen ebenfalls zwei Dinge Hand in Hand gehn, die technische Seite des
Brauereibetriebes als solchen und die kaufmännische Leitung, die exakte Kontrolle
und die Geschäftsführung. Wenn man nun zunächst auch mag zugeben können,
daß die Frage der Beschaffung geeigneter Techniker, d. h. also der Braumeister
und der einschlägigen Hilfskräfte, wohl noch relativ leichter zu lösen sein wird, so
dürfte sich desto schwieriger die kaufmännische Seite der Sache gestalten. Und
ob nicht zwischen technischen Leitern und kaufmännischen Leitern nur allzuleicht
sehr ernste Reibungen entsteh» können oder gar unvermeidlich sein werden, die
das glatte Funktionieren des ganzen Betriebs in hohem Grade zweifelhaft
machen, ist eine Frage, die vorläufig nur nebenher gestreift werden mag. Auch
hier mahnt die Erfahrung zu der größten Vorsicht. Haben sich nämlich, wie
dies sehr leicht eintreten kann, die Geschäftsergebnisse nicht gerade als die
allerglünzendsten gestaltet, so werden die Techniker die Schuld auf die kauf¬
männische Leitung und diese wieder auf jene schieben, und der Keim zu Zwistig-
keiten in der Verwaltung — der Tod jedes gesunden Unternehmens — ist
ohne weiteres gegeben. Hierzu kommt nämlich noch eins: es ist eine ganz
besondre Eigentümlichkeit gerade des Genossenschaftswesens, daß die allergrößte
Exaktheit gerade, was die Beobachtung von Formvorschriften anlangt, wie sie
das Genossenschaftsgesetz, das Statut, die Dienstanweisung usw. aufstellen und
erheischen, absolut notwendig ist, und zwar mit einer solchen Schürfe, wie dies
bei keiner andern Wirtschafts- oder Gesellschaftsform der Fall ist. Zwar gehn,
wenn diese Grundsätze vernachlässigt werden, die Geschäfte regelmäßig vorläufig
noch eine gewisse Zeit lang anscheinend ruhig und ungestört weiter, und diese
scheinbare Gesundheit der Verhältnisse kann sich sogar über einige Jahre er¬
strecken, ebenso zweifellos ist es aber, daß über kurz oder lang der oder die
gemachten Fehler zutage treten, und wenn diese Fehler anscheinend zunächst
auch noch so geringfügig sind, so wirken sie ebenso regelmäßig in ihren
Konsequenzen und nachhaltigen Folgen sehr häufig geradezu unabsehbar. Und
es bedarf, wenn überhaupt eine Heilung möglich ist, alsdann der Gewaltkuren
und ganz außerordentlicher Opfer.
Damit steht weiter zur Erörterung, ob die leitenden Vorstandsämter, die
des Aufsichtsrats einbegriffen, als im Ehrenamt oder aber gegen Besoldung geführt
werden sollen. Auch hier wird sich einer der wundesten Punkte des modernen
Genossenschaftswesens zeigen, der durch die Überspannung des sogenannten „ehren¬
amtlichen Prinzips" und der „Gemeinnützigkeit" teilweise auf die verhängnis¬
vollsten Bahnen zu gelangen im Begriff ist. Man verbindet, dank einer völlig
falschen Auffassung des Genossenschaftswesens, wie sie sich speziell seit andert¬
halb Jahrzehnten breit macht, für die Praxis des Genossenschaftswesens mit
dem Gedanken der genossenschaftlichen Vereinigung nur allzuleicht ausschließlich
den der Rechte, nicht aber auch der Pflichten, und dies zeigt sich namentlich
bei den Ansprüchen der einzelnen Genossen an Vorstand und Aufsichtsrat. Es
ist hier nicht der Ort, diese zweifellos höchst wichtige Frage, auf die bei ihrer
außerordentlichen Gefährlichkeit gar nicht eindringlich genug hingewiesen
werden kann, des nähern zu erörtern, jedenfalls würde sie aber auch hier über
kurz oder lang eine außerordentliche Rolle spielen. Es zeigt sich nämlich
gerade auch nach dieser Richtung hin die ebenso interessante wie psychologisch
befremdende Erscheinung, daß eine Genossenschaft das komplizierteste und
empfindlichste wirtschaftliche Gebilde ist, das es überhaupt gibt, während
man bei dem Schulter-an-Schulter-stehen eigentlich genau das Gegenteil an¬
nehmen sollte. Zeigt sich nur irgendwie ein Zank, ein Fehler oder auch nur
eine Reibungsfläche, so treten ebenfalls unabwendbar über kurz oder lang die
größten Schwierigkeiten ein, sei es auch nur die, die Genossenschafter über¬
haupt zusammen zu halten, wenn nicht sehr energische und sehr klar schauende
Personen an der Spitze stehn, die auch vor dem schwärzesten Undank für das
Gute nicht zurückschrecken, das sie vielleicht jahrelang in gemeinnützigen Sinne
und unter Einsetzung aller ihrer Fähigkeiten geleistet haben. Eine Genossen¬
schaft kennt Rücksichten nur zugunsten der Mitglieder, fast nie aber zugunsten
der Geschäftsleitung, mag diese auch noch so aufopfernd ihre Pflicht getan
haben — wohl aber das Gegenteil von Anerkennung oder Erkenntlichkeit.
Nicht minder wichtig ist aber auch noch folgender Punkt: der, wie schon
erwähnt worden ist, vielfach überspannte Begriff der sogenannten Gemein¬
nützigkeit hat es weiter auch mit sich gebracht, daß es die Genossenschaften
vielfach vollständig verkennen, daß sie in ihren Betrieben und Zwecken tat¬
sächlich weiter nichts sind als „Kaufleute", wie dies sogar das Gesetz dadurch
direkt zum Ausdruck gebracht hat, daß es die Genossenschaft als „Kauf¬
mann" bezeichnet und ihr die entsprechenden Pflichten auferlegt. Nun hat
aber bekanntlich der nach gesunden Grundsätzen arbeitende Kaufmann zu¬
nächst das Bestreben, Vermögen und Kapital zu erwerben, um möglichst
kapitalkräftig zu sein, sodaß er auch ungünstigen Zeiten entgegensehen, unter
Umständen auch einmal einen Verlust erleiden kann. Genau das Gegenteil
pflegt aber die Maxime der Generalversammlung von Genossenschaften zu sein.
Die Mitglieder einer Genossenschaft verlangen möglichst sofortige direkte, un¬
mittelbare und möglichst hohe Vorteile und Gewinne aus ihrer Mitgliedschaft —
das Unternehmen als solches, dessen Zukunft, seine finanzielle Stärkung durch
Reserven usw. pflegt ihnen meist vollständig überflüssig zu erscheinen, und die
allgemeinsten volkswirtschaftlichen Grundsätze werden nach dieser Richtung hin
meist geradezu mit einem Saltomortale genommen. Auch die ruhigsten und
verständigsten Aufklärungen der Verwaltung sind gegenüber den Führern dieser
Bestrebungen, die in den Kreisen der Mitglieder leider meist nur ein allzu ge¬
neigtes Ohr finden, vollständig machtlos, sodaß eine weitere Stärkung der
Genossenschaft, wenn überhaupt, so jedenfalls nur unter den größten Schwierig¬
keiten zu erlangen ist. Daraus folgt weiter, daß sich, sowie nur irgendwie
einmal ungünstige Zeiten oder sogar Verluste kommen, in deren Verfolg unter
Umständen vielleicht auf die Geschäftsanteile oder bilanzmäßig gar auf die Haft-
summen zurückgegriffen werden müßte, in der Genossenschaft eine außerordentliche
Unruhe zu zeigen beginnt: Guthaben werden zurückgezogen, viele Mitglieder und
namentlich die wohlhabendsten kündigen, um möglichst bald aus ihrer Haft-
Verpflichtung herauszukommen, und die Verwaltung wird, mag sie auch noch
so unschuldig sein, mit Vorwürfen überhäuft. Irgendwie bedeutende Reserven
zu legen und Betriebsrücklagen zu stellen, scheint der großen unerfahrnen
Menge der Genossenschafter fast immer als etwas vollständig überflüssiges,
man will, unbekümmert darüber, ob man sich mit den fundamentalsten volks¬
wirtschaftlichen Erfahrungssützen in Widerspruch setzt, vor allem sofortigen
direkten persönlichen Nutzen haben.
Eine weitere Frage ist die, ob nun für die Mitglieder der Genossen¬
schaft statutarisch etwa der Zwang festgelegt werden soll, ihren Bedarf von
der gemeinschaftlichen Produktivgenossenschaft zu beziehen, und ob etwa für
Zuwiderhandlungen Konventionalstrafen festgesetzt werden sollen; desgleichen,
ob den Absatz des Produkts auch auf NichtMitglieder und unter welchen Um¬
stünden auszudehnen beabsichtigt wird? Auch hier bedarf es nur des Hinweises
auf diesen Punkt, wenn man auf den ersten Blick eine außerordentliche Menge
von sehr schwer wiegenden Zukunftsereignissen voraussehen will.
Wie zum Beispiel, wenn einem Gastwirt das Bier nicht gut zu sein
scheint, und er nun, sei es mehr oder minder gutwillig oder böswillig, glaubt,
daß er mit diesem Bier sein Geschäft nicht betreiben kann? Schon diese
Perspektive eröffnet eine Aussicht auf Prozesse, die nichts weniger als er¬
freulich ist, und diese Prozesse werden nicht nur kostspielig sein, sondern mit
allen Mitteln geführt werden, die überhaupt nur denkbar sind. Denn auch
Skrupellosigkeit ist in dieser Beziehung ein nur allzu oft angewandtes Prinzip —
es wird hier nicht selten geradezu nach dem Grundsatz gehandelt: Der Zweck
heiligt die Mittel, wie dieser Satz überhaupt vielfach bei genossenschaftlichen
Agitationen zur Quasimaxime genommen wird.
Auf das engste verwandt mit dieser Frage ist ferner die der Konkurrenz
der Brauereien, die durch den gemeinschaftlichen Zusammenschluß haben matt
gesetzt werden sollen. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß hier ein Krieg bis
auf das Messer entstehn wird, bei dem es voraussichtlich ebenfalls irgend¬
welche Bedenken über die anzuwendenden Mittel kaum geben dürfte. Denn
es wird von hüben und drüben nicht nur um Millionen, sondern sogar um
die Existenz gekämpft. Vor allen Dingen werden — und das ist, wenn es
auch gewiß nicht schön ist, so aber menschlich begreiflich — die außerhalb
stehenden und durch die Genossenschaft geschädigten Brauereien Zwietracht in
den Kreisen der Genossen zu säen suchen. Es werden sich ebenso natürlich inner¬
halb der Genossen besondre Kreise und Cliquen bilden, denen die Kriegsfackel
in die eignen Kreise der Genossenschafter selbst zu werfen eine Kleinigkeit sein
wird. Damit ist aber alsdann ebenfalls der Anfang vom Ende gegeben.
Hand in Hand hiermit geht weiter die Frage, ob man denn nicht etwa
durch Zwangsmaßregeln einer solchen Zersetzung von vornherein entgegen-
treten könne, indem man die Mitglieder gleichsam unlösbar mit der Genossen¬
schaft verbindet. Auch diese Frage ist zu verneinen. Abgesehen davon, daß dem
sehr gewichtige ethische Bedenken entgegenstehn würden, sind nach der Recht¬
sprechung des Reichsgerichts irgendwelche Erschwerungen des Austritts aus
der Genossenschaft vollständig undurchführbar: das höchste, was sich nach dieser
Richtung hin erreichen ließe, wäre, daß eine zweijährige Kündigungsfrist fest¬
gesetzt würde. Ob diese aber, auch wenn sie genügend wäre, eine Billigung
der Mitglieder bei der Festsetzung des Statuts fände, dürfte schon ebenfalls
zweifelhaft sein. Es kann außerdem keinem Zweifel unterliegen, daß sobald
nur erst Meinungsverschiedenheiten entstehn, die Kündigungen der Mitglied¬
schaft nicht auf sich warten lassen werden, jeder will alsdann so schnell wie
möglich aus der Genossenschaft heraus, und um ein bekanntes Bild zu ge¬
brauchen — den letzten beißen alsdann die Hunde. In dieser Beziehung ist
nämlich folgendes zu beachten. Es würde sich bei der Errichtung und der
Erwerbung von Genossenschaftsbrauereien ja selbstverständlich um die In¬
vestierung, d. h. die Immobilisierung sehr bedeutender Mittel handeln, weil
ja eben wirtschaftliche Gebilde geschaffen werden sollen, die ihrer eigensten
Natur nach auf die Dauer und auf dauernden Betrieb berechnet sind und nur
so berechnet sein können. Andrerseits aber kann, wie soeben ausgeführt worden
ist, kein Mitglied auf länger als höchstens zwei Jahre gebunden werden.
Muß nun aber, wie dies unter Umständen sehr leicht möglich ist, die Genossen¬
schaft wegen mangelnden Absatzes usw. ihren Betrieb einschränken oder sogar
einstellen, so sind die erworbnen Einrichtungen kaum viel mehr wert als altes
Eisen oder ein leer stehendes Gebäude, und die Mitglieder, die bei der schlie߬
lichen Liquidation noch in der Genossenschaft mitverhaftet sind, werden bis
zum letzten Tropfen der übernommnen Haftsummen ausgepreßt werden.
Allermindestens würden also alle diese Fragen einer sehr eingehenden
Prüfung unter juristischen und genossenschaftlichen Erfahrungsgrundsätzen be¬
dürfen, ehe etwa die Leiter der Bewegung daran gingen, ihre Berufsgenossen
zur Gründung solcher Genossenschaften aufzufordern. Allerhöchstens könnte
zweckmäßigerweise nur die auf längere Zeit zu erfolgende Pachtung ge¬
eigneter Brauereien in Betracht kommen; von einem Erwerbe zum Eigentum
für eigne Rechnung der Genossenschaft muß unter allen Umständen auf
das entschiedenste abgeraten werden. Grundsätzlich wird vielmehr auch hier
zu beachten sein, daß große Erzeugungsanstalten von der Art der Konsum¬
artikel, wie sie das Bier ist, das einer hohen Konkurrenz in bezug auf das
Angebot und die Produktion ausgesetzt ist, überhaupt niemals auf genossen¬
schaftlicher Grundlage errichtet werden sollten und auch nicht errichtet werden
können, ohne daß über kurz oder lang ebenso große und schließlich meist kaum
zu überwältigende Schwierigkeiten entstehn könnten oder müßten. Der Haupt¬
grund hierfür liegt, wie oben schon, wenn auch nur in der allergrößten Kürze,
dargelegt worden ist, darin, daß die eigentliche Unterlage für das Unter¬
nehmen natürlich das materielle Fundament — das Kapital — sein muß,
und zwar in einer solchen Form, daß es nicht etwa in der kürzesten Frist
aus dem Unternehmen herausgezogen oder ihm entzogen werden kann.
Deshalb würde sich auch, wenn dem Gedanken überhaupt näher getreten werden
sollte, nur eine doppelte Möglichkeit dafür eröffnen: entweder, sofern tatsäch¬
lich solche Genossenschaften gegründet werden sollten, dürften nur Brauereien
gepachtet werden können, um darin einen Betrieb für genossenschaftliche
Rechnung zu eröffnen und auf diese Weise die Investierung von Kapitalien
für eigne Rechnung auf das geringste Maß zu beschränken, oder aber, falls eben
eine Assoziativ» tatsächlich für eigne Rechnung einen Brauereibetrieb einrichten
will, der den Interessenten des Gastwirtsgewerbes zur Verfügung stehn soll,
so könnte hier nur die Aktienform in Frage kommen. Denn es ist eine
wirtschaftlich zweifellose Erfahrung, daß, sobald ein wirklich größeres wirt¬
schaftliches Produktivunternehmen gewisse Grenzen überschreitet, die Form der
Genossenschaft im engern Sinne über kurz oder lang versagt, und zwar gerade
deshalb, weil die Genossenschaft mehr oder minder eben einem Taubenhause
gleicht, aus dem die Mitglieder ziemlich ungehindert entfliegen können. Die
Grenze zu finden, wo das genossenschaftliche Prinzip aufhört anwendbar zu
sein, und wo eine andre kapitalistische Wirtschaftsform notwendig erscheint, ist
Sache des nationalökonomischen Feingefühls, mit dem die Leiter des Unter¬
nehmens dessen Puls fühlen; allgemeine zahlen- und rechnungsmäßige Normen
lassen sich nach dieser Richtung hin nicht aufstellen.
Die vorstehenden Ausführungen, die auf das knappste Maß beschränkt
worden sind und nur die allerwichtigsten Punkte in gedrängtester Kürze
skizzieren wollen, sollen nach keiner Richtung hin in den wirtschaftlichen Kampf
irgendwie eingreifen, der jetzt in den weitesten Kreisen des Deutschen Reiches
zwischen den Brauereien und den Distributeuren von deren Produkten ent¬
standen ist. Es ist auf das peinlichste vermieden worden, etwa Partei zu
ergreifen. Sie sollen einzig und allein nur dazu dienen, die Leiter auf die
Schwierigkeiten aufmerksam zu machen, die unter Umständen entstehn müssen,
wenn sich die Kreise, denen der Vertrieb des Bieres obliegt, bei dessen Er¬
zeugung auf eigne Füße stellen wollen.
Die Warnung zur höchsten Vorsicht erscheint aber deshalb aus alle Fälle
gerechtfertigt, weil es ebenso eine nur zu vielfach gemachte Erfahrung ist, daß
bei solchen übereilt und ohne genügende juristische und volkswirtschaftliche
Kenntnis ins Leben gerufnen Unternehmen nicht nur gewaltige — in Millionen
gehende — Summen verloren und viele Existenzen geradezu gefährdet werden
können, sondern daß sehr häufig damit auch moralische und ethische Gefahren
verknüpft sind, die zuweilen zu noch schlimmeren führen als nur zu pekuniären
Verlusten.
8^n Leibesstrafen, die in Deutschland gebräuchlich seien, werden auf¬
geführt: das Nutenaushauen, Staupenschlag (immer mit ewiger
Landesverweisung verbunden, es sei denn, daß man noch auf
i Besserung zu rechnen habe). Diese Strafe soll nicht durch die
I das Leben gefährdende Vergiftung der Unter geschärft werden.
Empfohlen wird, dem Nichtlandesverwiesnen einen Galgen auf den Rücken zu
brennen. Ferner Abhauen der rechten Hand (ebenfalls mit Landesverweisung
verbunden). Hat der Delinquent eine „dürre" Hand, so soll eher diese als
die gesunde abgehauen werden, und ist er ohne eine zweite Hand, so soll auf
eine andre Leibesstrafe erkannt werden. Die Eidesfinger eines Meineidigen
sollen abgehauen und an den Pranger genagelt werden. Herausreißung der
Zunge durch den Nacken soll, da dies nicht ohne Lebensgefahr ausführbar
sei, nur bei „schwören Lastern" verhängt werden. Sonst soll man die Zunge
vor dem Munde abschneiden oder abhauen, was nicht mit Lebensgefahr ver¬
bunden sei. Strafschärfend kann auch auf Abschneiden der Ohren erkannt
werden. Die Verschickung auf die Galeere auf gewisse Zeit oder auf ewig wird
in diesem letzten Falle der Todesstrafe gleich geachtet, weil die auf die Galeere
geschickten „nit ein sondern tausend mal sterben wegen allerhand erleidender
Mühseligkeiten und LtraMsisri,". Dahin gehören auch die Verurteilungen zum
„schantzen in den Stadtgraben und andere öffentliche Arbeit mit Fußschellen zu
verrichten".
Als „Extraordinari"-Strafen sind gebräuchlich: Geldstrafe, Gefüncknus und
Landesverweisung. Armutshalber wird Geldstrafe in Keychen oder zeitliche
Landesverweisung umgewandelt. Die Geldstrafe kann bis zur völligen Ver¬
mögensentziehung ausgedehnt werden. Das Gefängnis (Kcychen) soll kein so
„abschäulicher Winkel sein, allwo die Kräfftcn verschmachten und das Leben in
Gefahr stehet". Die zeitliche Landesverweisung soll zehn Jahre nicht über¬
steigen. Vor Exequierung der Landesverweisung hat der Verurteilte in urkund¬
licher Form eidlich „Urphede" zu leisten, deren Verletzung ihn „als einen
meineidiger Urphedbrecher" strafbar macht. Kann der Urfehdeweigernde zur
Leistung weder durch Gefängnis noch durch schmale Kost gezwungen werden,
so soll der Gerichtsdiener die Urfehde in seine Seele schwören, ein Fall, in
dem bei Verletzung der Urfehde an dem Verbrecher ebenfalls „die Strafe des
Meineides unfehlbar vollstreckt werden" soll. Im übrigen soll die Obrigkeit
bei Erkennung willkürlicher Strafen „ihres besten Verstandes gebrauchen". Als
nach Fallbewandtnis geeignet und gebräuchlich werden beispielsweise erwähnt:
an den Pranger stellen, in den Stock schlagen, in der Geigen führen, „item
ichtwas, mit dene man eigentlich gesündiget hat, an Hals hencken als da seynd
falsche Gewichter, Mäßlen und dergleichen, item vor die Kirchthür mit brinnenden
Kertzen und Ruthen zu stellen, item haimbliche oder öffentliche Geißelung, Buß,
Kirchfahrten hev. zu Halt deß abgeleibten Seel in ?rmot>o einer oulpossn Ent-
leibung se«, und was dergleichen noch mehr seyn und erteilte werden mögen".
Die Strafe soll in der Regel nur die Person des lebenden Verurteilten
treffen. Wegen „abschäulichster Landesverräthereyen" können aber auch die
Leichname der Schuldigen ausgegraben und „mit öffentlicher Verunehrung an¬
gethan" werden, „damit dero Gedächtnus in ewiger Welt-Zeit verdammet und
vermehrt, auch das Gut czonüsoisrt) werde und andere darob ein Abscheuhen
und Exempel nehmen können". Wer sich einer Straftat schuldig bekannt hat
oder dessen überwiesen wird und sich dem Verfahren durch Selbstentleibung
entzieht, dessen Leiche soll „wegen Verdoplung der Übelthat gar billich mit
öffentlichem Spott als Verbrenn- oder Anffhenckung verunehrt werden" können.
Das „unvernünfftige Vieh", mit dem Sodomiterei begangen worden ist, soll
„öffentlich umbgeschlachtet" und verbrannt werden.
Die Strafverfolgung wegen gewisser besonders schwerer Verbrechen ist „in
Ewigkeit nit verjährlich", das Bann- und Achturteil hebt den Lauf der Ver¬
jährung auf. Tritt bei dem Verurteilten „Dollsinnigkeit" ein, so ist er nicht
abzustrafen, sondern „wegen erleidender Dollsinnigkeit zu erbarmen". Im Fall
der Delinquent „nur ein halb tholer Narr oder angeschossen und halb brennt
wäre, also daß man einen halben Verstand daran merken mechte, der gleichen
wären nach den Umbständen mit willkürlicher Straff, sonderlich der Züchtigung
mit Ruthen in der Keychen abzustraffen und nachgehends fleissig zu verwahren".
Die UklMvlioliör und „Traurmüthige" sind mit Strafe zu verschonen, wenn
sie sich „unmögliche Ding einbilden, daß es ein purer Aberwitz und ein an¬
zeigen völlig verlohrener Vernunfft ist, als da einer ihnen einbildet, er sehe
ein Glaß, item er sehe eine Persohn aus der Heiligsten Dreyfaltigkeit". Die,
die aber nur von „betrübten Gedanken" sind, und „ihnen was einbilden, das
möglich ist", sind zwar „von der Ordinari-Straff zu absolvisrön", aber „mit
einer Dxtraorämaiia zu belegen", weil sie nicht verstehn, was sie tun. „Die
Vorbild einer ledigen Dirn, welche den zum Todt verurtheilten völinausutöii
zu Hehrathen anbegehrt, ist uneracht, daß so kavorMsn Werck deß heiligen Ehe-
standes von Rechtswegen nit kräfftig genug, den vslinauöiitöll das Leben zu
schmalen. Dann öde zwar die Frantzosen und Spanier vermeinen, es sehe ein
härtre Straff, mit dergleichen vermuthlichen rsvsrWÄo H . . . n zu Hausen, als
Zu sterben, nichts desto minder wurden vit und aber vit seyn, die lieber ein
unzüchtige Dirn, geschweigens ein ehrliches Mädel erheyrathen, als den Todt
erwehlen wurden. Da nun ein solcher vasus vorföllet und der DslinoMut
sonsten ein guter ehrlicher Kerl oder etwas einfältige Persohn wäre, tönte die
Obrigkeit die üxsvution auffhalten" und an die Landesherrschaft berichten, „daran
ein Richter ein untadlbares Werck der Barmhertzigkeit erweiset".
Unter Umständen ist erlaubt, daß der Inquisit seine richterliche Aburteilung
durch Abschließung eines Vergleichs mit der Obrigkeit abwendet. Das soll
aber nur geschehen, wenn es sich nicht um ein besonders abscheuliches Verbrechen
handelt, wenn der Verfolgte weder geständig noch überwiesen noch für die Ver¬
hängung der Tortur ausreichend belastet ist, wenn der Verletzte seine Zustimmung
gibt, auch die vorgesetzte Instanz sich mit dem Vergleich (oompositio) einver¬
standen erklärt. Obwohl also ein schlechthin abgeschlossener Vergleich über Ein¬
stellung der Strafverfolgung mit dem Gericht gesetzwidrig ist, „so pflegt man
jedoch täglich mit der Herrschafft, üseg-ihn, und den Gerichts-Herrschafften wegen
verübter Übelthat gegen Erlegung eines Stück Geldes abzukommen. Und wird
keiner für einen tauglichen beliebten Beambten geschätzt, der nicht weiß, mit
dergleichen Kompositionen meisterlich umbzuspringen, und das Interesse seines
Oberen zu beförderen; aber Hiereinfalls ist Maß zu haben: Damit nit wegen
schnödem Gelt die Welt geärgert, die ^ustitig. nicht administrirt und einesmahls
schwäre Verantwortung bey Gott dem Herrn als wahren Eysferer der Gerechtig¬
keit zu besorgen sehe."
Zwischen der Ankündigung der Urteilsbestätigung und der Vollstreckung
soll, wenn es sich um Todesstrafe handelt, eine dreitägige Frist liegen, damit
der arme Sünder Zeit habe, seine Sünde zu beichten und das heilige Sakra¬
ment zu empfangen. Man soll ihn „in eine feinere Stuben setzen, ihn zu
mehrerer Auffmuntemng mit besserer Kost und Trank tractiren lassen, jedoch
ist ihnen nur so vit Wein zu geben, damit selber die Angst in etwas abdrucken,
nicht völlig aber ertrencken möge. Das Sakrament der letzten Ölung aber ist
nicht zu administriren." Am Hinrichtungstage ist dem zu Richtenden von zwei
Geistlichen das Geleit zum Rathaus zu geben. Der Delinquent wird an den
Pranger gestellt und dort der Tatbestand seines Verbrechens samt dem Urteil,
„sovil ohne öffentliche Aergernuß seyn mag", verlesen. Dann übergibt der
Richter den Delinquenten dem Nachrichter mit den Worten: Du hast gehört,
was für ein Urteil über diesen armen Sünder ausgefüllt worden. Ich gebiete
dir bei deinem Eide, daß du dieses gegebne Urteil getreulich vollziehest. Hierauf
ist der Stab zu brechen. Der Nachrichter übernimmt aus der Hand des
Gerichtsdieners den Delinquenten mit der Bitte, ihm zu verzeihen, was er nun
auf den ihm erteilten Befehl an ihm vollziehn werde. Darauf geht der Zug,
an dessen Spitze der Richter reitet, weiter zur eigentlichen Richtstätte, wo der
Richter ausruft oder durch den Gerichtsdiener ausrufen läßt, „daß bei Leibes¬
und Guts-Strafe niemand dem Nachrichter Verhinderung zu thun" oder „ob
ihme mißlunge, nicht Hand anzulegen". Nach der Vollstreckung fragt der Nach-
richter den Richter, ob er recht gerichtet habe. Dieser bejaht das, oder er ant¬
wortet: „Du hast nicht gericht, wie es Urteil und Recht mitgebracht, und bleibt
dir die Straff bevor."
Die Leiche darf „denen Nscllois, Barbieren zu der Anatomie und Zer¬
gliederung" nur mit Genehmigung der vorgesetzten Behörde und Vorwissen der
„Freundschafft" des Gerichteten überlassen werden, ja einzelne Doktores lehren,
daß man den armen Sünder vor dessen Tode darum ansprechen solle.
Die „Gerichtlichen Feri-Zeiten" sollen die Ausführung der Strafvoll¬
streckung nicht hemmen, wohl aber im allgemeinen die von der christlichen Kirche
gebotnen Feiertage. Ausnahmen werden gegen besonders abscheuliche Mörder
zugelassen, wiewohl jede Hinrichtung an Feiertagen bedenklich bleibt. Denn es
sei der verschieden „zweiffelhafften Fürfallenheiten, so sich am Tag der Exemtion
begeben mögen, nicht zu vergessen: als erstlich, wenn der Scharpffrichter den
Kopff nicht abhauen kan, oder der Strick nicht haltet, zerbricht, der NaleÄeÄnt,
Lebendig herab fallet, da er unbeschädigt auß dem Feuer heraußgehet usw."
Die Rechtsgelehrten sagen, daß man mit der Vollstreckung nicht fortfahren,
sondern „zunächst der Sache weiter nachsuchen" solle, wenn der Vorgang „gleich-
samb übernatürlich und Miraculoß" erscheine, zumal wenn sich der arme Sünder
auch noch am Hinrichtungstage für unschuldig erklärt hatte. Im Zweifel soll
„die Entledigung für Miraculoß prassuiniert" werden. Andernfalls soll man
sich durch das erste Fehlgehn nicht beirren lassen und mit der Vollstreckung
fortfahren. Selbstverständlich ist bei der Vollstreckung scharf darüber zu wachen,
daß der Delinquent nicht etwa „gähling in ein Kirchen oder Freydhoff einen
Absprung nemme und sich also entledige", falls es sich um ein „der geistlichen
Freyheit" fähiges Delikt handelt. In diesem Falle würde er auch schon da¬
durch die Vollstreckung vereiteln können, daß er einen das heilige Sakrament
tragenden Geistlichen oder einen Kardinal zu berühren Gelegenheit findet.
Die Kosten des Verfahrens sind vom Verurteilten und bei dessen Unver¬
mögen von der Gerichtsherrschaft zu tragen, die die Unkosten „nicht ansehen"
und deshalb „das Übel ungestraffter lassen" sollen, „sondern dessen eingedenk"
sein sollen, daß sie auch die Nutzungen der Gerichtsherrlichkeit genießen. Der
Freigesprochne kann zu den Kosten des Verfahrens verurteilt werden, wenn er
dazu „genügsame Ursach" gegeben hat.
Soviel auch im Laufe des Verfahrens höherer Bescheid einzuholen und
ein Rechtsmittel erlaubt ist, so besteht doch unter den Rechtsgelehrten darüber
Streit, ob „bey des Heil. Römischen Reichs Chur-Fürsten und Höfen" von
dem Endurteil eines Jnquisitionsprozesses sxpslliört werden darf. In Tirol
findet die Appellation gegen das Urteil nicht statt, es gilt als vox äsoisiva.
"Nicht destominder, damit die etwa nicht genugsamb defendierte Delinquenten
nicht übereylet, sondern mit aller Nothdurfft überflüssig angehört werden, würde
einem Richter obliegen, dafern der verdambte Delinquent bey Ankündigung deß
Urteils sich beschwärete. daß ihm zu vit und Unrecht beschehe, selben von
Neuem zu exairüllirsu, und außzufragen .. . seine etwa begangene Richterliche
Fehler ehender zu bekennen, als ein unschuldiges Blut vergissen zu lassen und
dem Delinquenten Gelegenheit zu machen, daß er seine Sach Supplications-
oder Beschwörs-Weiß nacher Hoff vorführen möge, welche, weilen es eine
unwiederbringliche Sach betrifft, den ektövtuln äsvolutivuin und 8U8vönsivuirl,
gleichwie ein ^.xMla-ton nach sich ziehet." Übrigens werde kein Richter
wünschen, aus „allzu füreilender Lxöoution den Nachklang eines xsssionirtsn
oder blutbegirigen Gemüths zu erwerben, geschweigens denn der kläglichen
Historien, da wegen nicht erhörter beschwärde die Obrigkeiten vor das Gericht
des strengen und Allmächtigen Richters unterschiedlich von dem Hingerichten
Delinquenten seynd berüffen worden".
Wir kommen nun zu dem „Anderem Tractat von denen Ublthaten ins
Gemain und wie dieselben von Rechtswegen unterschyden werden".
„Die vsliotg, bestehen nit allein in verbottenen wirklichen Nealthatcn,
sondern auch in unzuelässigen und straffbaren Worten, ja Gebannten selbsten."
Unter diesen „ist die schwerste Übelthat die Gotteslästerung, wodurch Krieg,
Hunger, Pest und Erdbiden, zum Untergang und Verderben gantzer Länder
verursacht werden. Die Criminalisten tractieren dieses Laster vor den andern,
weil der Allmächtige Gott dadurch am höchsten verletzt wird." Die Verletzung
der Göttlichen Majestät kann durch Worte oder durch Werke geschehen, diese
können unmittelbar oder mittelbar gegen Gott gerichtet sein. Als Beispiele der
ersten werden unter andern aufgeführt: Äußerungen, wodurch die Existenz
Gottes oder göttliche Eigenschaften (Allmacht, Allgegenwart, Gerechtigkeit usw.)
verneint werden, oder wodurch erklärt wird, daß man nicht an Gott glaubt.
Ferner solche Reden, die eine Schmähung des christlichen Glaubens enthalten,
wie zum Beispiel die eines Juden, er wünsche „daß er Gott und den Bapsten
in Händen hätte, er wollte ihnen die Augen ausstechen, item, da die Juden
gesagt: ig. vostrs, tsäö 6 tkäs al dö,Wi." Eine unmittelbare Gotteslästerung
kann auch durch Vermehrung der Bilder des Gedächtnisses, des Lebens der
Jungfrau Maria oder eines Heiligen begangen werden, wenn auch die Evan¬
gelischen und Akatholiken dies verneinen. Da aber die heilige Jungfrau und
die Heiligen täglich „durch so viele Mirakel geziert werden", ist der Vorwurf
des Irrtums gegen Gott darin zu finden, daß man die Heiligen verunehrt, die
von Gott so ausgezeichnet werden. Die mittelbare Gotteslästerung liegt vor,
wenn jemand „durch den Tod Leyden, Passion, Blut, Wunden Christi und
H. LaorÄUiMtÄ fluchet und schwöret".
Man unterscheidet auch zwischen ketzerischer und nichtketzerischer Gottes¬
lästerung, „je nachdem von Gott etwas ausgesagt wird, das wider den Glauben
und gleichsam ein Anzeigung neuer Ketzerischer 8sol" wäre oder das Gesagte dem
Glauben „toillia,I1tkr und schnurgerad nit zuwider läufst", aber unehrerbietig ist.
Wenn der Beschuldigte ein Jude ist, so darf hierin ein belastendes inäiomra
gefunden werden, weil „gleichwie ein Spinn nit ohne Gift, also kan ein Jud
ohne Gotteslästerung unseres Hehland Jesu Christi nit leben. Ja, vrusws
lehrt, daß jeder Jude täglich dreimal die Christliche Kirche lästern und Gott
anrufen müsse, sie sammt ihren Geistlichen und Weltlichen Vorstehern zu Grunde
zu richten."
Nicht minder sind Indizien der Hang zum Spiel und die Abneigung
gegen Kirchenbesuch, die Ketzerei und die Hexerei, weil „dieses Geschmeiß ohne
Gotteslästerung nicht leben kann".
Der Lehre der Kriminalisten, daß „ein Gotteslästerer ohne Prozeß und
ohne Zulassung der vstsusion oder rexrobation der Zeugen" abgestraft werden
kann, soll man aber nicht beitreten.
Im Lateranischen Konzil unter Leo dem Zehnten sind auf unmittelbare
Lästerung Gottes und unsrer lieben Frau für solche von Adel Geldstrafen von
25 Dukaten, bei Wiederholung 50 Dukaten und im dritten Fall Adelsverlust
gesetzt worden. Unedle und gemeine Personen sollen das erste und das andre
mal Gefängnisstrafe erhalten, das drittemal aber einen ganzen Tag „mit
einer höhnischen Kappen vor die Kirchenthür gestellt" werden. Das viertemal
soll der Gotteslästerer „auf die Galeere oder zu ewiger Keychen verdammt"
werden. Pius der Fünfte hat 1566 alles dieses bestätigt, aber das Ausdauer
mit Ruten und das Durchstechen der Zunge hinzugefügt. Die weltlichen ge¬
meinen Rechte haben die Todesstrafe durch das Schwert bestimmt. Der Reichs¬
abschied von 1548 schreibt Todesstrafe oder „Benehmung etlicher Leibesglieder"
vor. Nach der Niederösterreichischen Landesgerichtsordnung Leopolds des Ersten
soll wegen vorsätzlicher wohlbedächtiger Gotteslästerung im höchsten Grade der
Delinquent mit glühenden Zangen gerissen werden, aus seinem Leib sollen
Riemen geschnitten werden, er soll zur Richtstätte geschleift, die Hand, mit der
etwa gesündigt worden, abgehauen, die gotteslästerliche Zungen, soweit sie aus
dem Munde herauszubringen, abgeschnitten und der Leib lebendig zu Staub
und Asche verbrannt werden. Bei „nit so gar schweren Umbständen" soll Hin¬
richtung mit dem Schwert genügen, nachdem die sündigen Zungen, Hände oder
Gliedmaßen abgehauen worden sind. Juden sollen immer schwerer gestraft
werden.
Das Laster der Zauberei, sortile^iuin, NsKta, „ist der Stein, an deme sich
vit Gcrichtsbediente anvormercklich gestoßen, vit unschuldige Personen Hingericht
ja wegen schwäre und Wichtigkeit der Sachen und abscheuen deß mühesamben
^roosss schuldige und öffentliche Hexen ungestrafft gelassen haben". Dieser
Gegenstand ist aber nunmehr „durch erlehr- und Erfahrung an Tag gebracht
und dergestalten Erkennst worden", daß, dafern die Lehren der Autoren recht
beobachtet werden, „gleichsam unmöglich Med, Jemande unschuldigen wider¬
rechtlich zu verföllen". Es ist zu unterscheiden zwischen der natürlichen erlaubten
Magie, die die wissenschaftliche Erforschung des Weltalls zum Lobe Gottes be¬
deckt, und der teuflischen verbotnen, „die gemeiniglich Zauberei oder Schwartz-
Künstlerei benmnbset" wird. Durch wissentlichen Pakt mit dem Teufel will der
Mensch mehr wissen und wirken, als ihm von Gott vergönnt ist. Die Schwarze
Kunst wird „gemeiniglich bei finsterer schwacher Nachtzeit getrieben und der
Buße Feind in gestalt eines schwachen Maus, Hunds oder Katzen" sichtbar.
Aus den in den Hexenprozessen abgelegten Geständnissen hat man nach und
nach über Schließung des Paktes mit dem Teufel folgendes in Erfahrung ge¬
bracht. Der Teufel sitzt bei der öffentlichen Zusammenkunft des Hcxengeschmeißcs
auf dem Throne seiner Majestät, gleich einem Könige. Vor ihm muß der neue
Zauberer Gott, seinem Erschaffer, absagen, den Taufbund aufkündigen, Gottes
Sohn verleugnen, alle christlichen Lehrgesetze verlassen, die heiligen Sakramente
der Kirche verwerfen, das heilige Kreuz, die Bildnisse der übergebenedeitesten und
unbefleckten Maria und Allerheiligen mit Füßen treten und Gottes Namen mit
abscheulichen Lasterworten entheiligen. Alsdann gibt er dem Teufel einen
Zettel, worauf er sein Bündnis mit eignem Blute geschrieben hat. Kann der
Schwarzkünstler nicht schreiben, so erstattet er das Handgelübde, dem Teufel
ewig treu und gehorsam zu sein, oder er legt seine Finger auf ein großes mit
schwarzen Blättern angefülltes Buch und gelobt, daß er ein ewiger Vasall und
des Teufels Diener sein, nimmermehr zur christlichen Kirche zurückkehren noch
die Gebote Christi halten will, dagegen die Gebote des Teufels ungesäumt
vollziehn, daß er auf Berufen zu den nächtlichen Tanz-Zusammenkünften sich
fleißig einstellen, den Fürsten der Zusammenkünfte mit den gewöhnlichen Zere¬
monien anbeten und alle seine Aufträge vollziehn will usw. Für dieses Ge¬
löbnis redet der Teufel gar freundlich mit dem neuen Zauberer oder der Hexe,
verheißt ihnen ewige Glückseligkeit, Freude und Lustbarkeit für dieses Leben und
noch höhere danach, ordnet ihnen einen bestimmten Teufel zu, der nie von ihnen
weicht, ihnen immer dienstbar ist, ihnen die Zusammenkünste ansagt und sie dorthin
geleitet. Das ist die hochfeierliche und zierliche öffentliche Form des Teufels¬
bündnisses. Die private und heimliche besteht darin, daß man mit seinem
Lehrmeister (der schon ein Zauberer, eine Hexe ist) früh, bevor das Wasser ge¬
weiht ist, in die Kirche geht, dort die obige Ableugnung vollzieht, das Gelübde
in die Hand des Lehrmeisters ablegt und von dem noch nicht geweihten Wasser
trinkt. Manche Gelehrten wollen zwar behaupten, daß der Bund mit dem
Teufel nicht freiwillig sondern erzwungen abgeschlossen werde, weil viel Zauberer
und Hexen bei der Verbrennung Gott um Barmherzigkeit anflehen und ihn als
Zeugen ihrer Unschuld anrufen. Deshalb sollte man sie mit der Todesstrafe
verschonen, falls sie nicht etwa Menschen oder dem Vieh Schaden zugefügt
haben. Der Verfasser des Kommentars lehrt aber, daß diese Auffassung irrig
sei. Er unterscheidet als Zauberer: I'röche.iAig.toi'of, d. h. solche, die durch
teuflische Künste das menschliche Auge verblenden, sodaß es sieht, was nicht ist,
und nicht sieht, was ist. Ihr Lehrmeister ist der Teufel selbst, der tausenderlei
Gestalten annimmt, „wie z. B. aus den Erlebnissen des Dr. Musws genugsam
bekannt ist". Ferner Nsoiowantioi, d. h. solche, die mit gewissen Circuln,
Charakteren und Beschwörnissen die Teufel und die Geister aus der Tiefe
herausfordern und künftige Dinge von ihnen erfragen. Die darauf erscheinenden
Geister „sind meist nur pure Teufel". Die L.rin>Il oder Wahrsager „oder besser
Lugensager", diese pflegen aus teuflischer Kunst durch zugerichtete Spiegel,
kristallene Knöpfe, Ringe und dergleichen Aufschluß über geschehene Diebstähle
und andre verborgne Dinge zu geben. Dahin gehören die „Zigenier" und
Planetenleser, die nun in Tirol und andern kaiserlichen Erbländern für vogel¬
frei ausgerufen worden sind. Die In<zg.v.ta,rorös oder Segensprecher bannen
nicht nur die Ottern, Schlangen und dergleichen giftige Tiere, sondern sie machen
auch Menschen unmannbar und unfruchtbar, ja sie verzaubern ganze Armeen,
Wasserflotten und Belagerungen. Die Vsustioi verursachen mit Hilfe des Teufels
(„aus Göttlicher Zulassung") die Vergiftung von Früchten, Tieren und Menschen,
ja sogar „pestilenzische Seuchen". Auch „Rießlwetter", Regen und Wind ist
erwiesnermaßen mit Hilfe eines ihnen vom Teufel gegebnen grauen Pulvers im
Salzburger Lande erzeugt worden, während sie ein schwarzes Pulver zur Er¬
zeugung von Menschen- und Viehheerden verwandt haben. Die Schwarzkünstler
heilen „durch allerhand Widergläubige Sachen" natürliche Krankheiten und
wordos dz^örvn^sioos. Man soll jedoch nicht jede wunderbare Heilung auf
Schwarzkunst zurückführen, sondern unterscheiden, ob Grund zu der Annahme
vorliegt, daß der gütige Gott oder ein guter Engel den Geheilten der einge-
tretnen Wirkung gewürdigt habe. Verdächtig ist die Sache, wenn bei der Be¬
sprechung unkatholische, von der Kirche verworfne Worte gebraucht worden sind,
wenn die Namen unbekannter Engel angerufen worden sind, „so doch nur böse
Geister ausweisen", und dergleichen mehr.
Die unter den Gelehrten streitige Frage, ob eine Hexe eine wahre mensch¬
liche Geburt hervorbringen könne, wird bejahend entschieden. Der Teufel kann
übrigens keineswegs ein Ding seiner Wesenheit noch in ein andres trMssud-
stÄntig.1it<zr verändern. Wo also eine Hexe „ein Älster, einen Wolfs, eine Katz
abgibet", liegt nur eine teuflische Verblendung des menschlichen Auges vor. Man
hat deshalb vielfach verstellten Hexen Wunden beigebracht, Schlüssel und andres
Gerät vom Baum geschossen, auf dem sie als Vögel, Füchse oder Hasen ver¬
stellt saßen. Hierin liegt also der völlige Gegensatz zur Transsubstantiation
der Hostie im Sakrament, die ihrem Wesen nach der Leib Christi wird, ohne
daß sie dein menschlichen Auge ihrem Wesen und ihrem Aussehen nach verändert
erscheint.
Eine zur Strafverfolgung genügende Belastung ist unter anderm die Be¬
schuldigung eines sterbenden Verzauberter, wenn überdies vernünftige Beweg¬
gründe angegeben werden. Dagegen ist es bedenklich, jemand allein auf ein
sich an seinem Körper befindendes Mal hin den Hexenprozeß zu machen. Der
Teufel pflegt zwar die Seinigen mit gewissen Zeichen zum Beispiel in Gestalt
eines Hasen, Küfers, einer Kröte, Spinne oder Ratte zu versehen. Aber solche
Zeichen kommen auch vor, ohne teuflischen Ursprungs zu sein. Durchsticht man
sie mit einer Nadel, so sind die Teufelszeichen nicht schmerzempfindlich, aber
die Hexen können sich so stellen, als ob sie eine Schmerzempfindung dabei
hätten, und macht man diesen Versuch ohne ihr Vorwissen, so kann doch der
Teufel im Spiel sein und die untersuchende Person täuschen.
Die Untersuchungshaft ist bei den der Zauberei beschuldigten geboten,
damit ihrem leicht zur Vereitelung des Verfahrens führenden Treiben mög¬
lichst Einhalt getan werde. Man darf der gefangen genommnen Hexe nicht
erlauben, nochmals ihr Haus zu betreten, damit sie sich dort nicht noch Medi¬
kamente holen kann, kraft deren sie in der Tortur nicht bekennt oder sich gar
unsichtbar macht. Sie muß schleunigst ihre Kleidung nach gründlicher körper¬
licher Untersuchung mit unverdächtiger vertauschen, aber es kommt nichts darauf
an, daß das Hemd, das man ihr gibt, gerade „in einem Tage gewürkt, gesponnen
und zusammen genähet sehe". Wohl aber lehren manche, daß man die Hexe
rückwärts in die Verhörstube führen soll, damit sie den Richter nicht anblicken
und bezaubern kann. Jedenfalls soll dieses dadurch verhütet werden, daß man
zuvor ihre Kleidung gründlich durchsucht und am besten ihr unverdächtige
Kleidung anzieht. Am sichersten geht der Richter in solchen Sachen, wenn er
den Beistand Gottes anruft, sich katholischer Benediktionen und eines unmakel-
haften Gewissens befleißigt, denn „er hat nicht allein mit einer menschlichen
Kreatur und altem Weib, sondern mit dem Teufel selbsten zu fechten".
Da es sich um ein „verborgnes Laster" handelt, muß man sich für die
Zulässigkeit der Tortur schon mit sehr geringen Belastungsmomenten begnügen.
Wegen seiner Schwere darf mit ihr auch niemand wegen vornehmen Standes
oder hoher Würden verschont werden. Die „noch vor kurzen Jahren" in
Deutschland übliche Wasserprobe soll als „eine allzu verborgene, ungewisse,
ja teuflische, Gott versuchende Anzeigung" nicht mehr angewandt werden. Auch
sollen rechte gewissenhafte Richter nicht dadurch Gestündnisse zu erlangen suchen,
daß sie der Hexe trügerische Versprechungen, wie vielfach üblich gewesen ist,
machen, zum Beispiel Zusicherung von Speise und Trank für ihr ganzes Leben
auf seine Kosten, oder gar Auferbauung eines neuen Hauses (womit der Scheiter¬
haufen gemeint wird), Versprechen des Lebens (nämlich des ewigen) oder der
Gnadenerweisung (nicht für die Hexe, sondern für das Gemeinwesen), Zusage,
zum Entkommen aus der Keychen behilflich sein zu wollen (nämlich auf die
Nichtstütte) und dergleichen mehr. Vor Ausführung der Tortur soll man das
Haar der Hexe an allen Körperteilen sorgfältig entfernen und sie vollständig
mit warmem Wasser waschen, damit sie sich nicht „durch angestreute Pulver
oder angestrichene Salben von teuflischer Kraft schützen,, die Tortur verlachen
und dabei schlafen" könne. Man soll ihr nächst „Auffopfferung des Heil. Ge¬
betes und Göttlicher Anrusfung geweihte ^Apus vel" anhängen. Dieses An¬
hängen eines ^Anus ohl habe vielfach geholfen. Auch Besprengen mit ge¬
weihtem Wasser, Reichung von Weihwasser zum Trinken und Räuchern mit
geweihten Kräutern, wenn auch „die ^.oAtnolioi wenig herauff zu halten Pflegen".
Bei einer „in der jüngsten Salzburgischen Hexen-Inquisition" an einem „zauberischen
Bub, der ohne Effect gemartert" wurde, geschehenen Tortur haben sich diese
Mittel so bewährt, daß er bald eine weiße teuflische Salbe von unbekannter
Materie erbrochen und selbst um Anwendung solcher Mittel zur Bannung des
teuflischen Einflusses gebeten hat. Das Übergießen des Körpers mit kaltem
Wasser vor oder nach der Tortur der Hexe soll die für Erhaltung des Lebens
regen Geister im Körper besonders schrecken und schmerzen, dies verdient aber
keinen Glauben. Bekenne die Hexe innere oder solche Vorgänge, die natürlich
nur von dem Teufel selbst würden bezeugt werden können, so genügt das Ge¬
ständnis zur Verurteilung. Andernfalls muß noch festgestellt werden, ob die
von ihr eingestandnen äußern Vorgänge sich anderweit bestätigen.
Soviel von diesem Verbrechen, dem der Kommentator wegen seiner be¬
sondern Wichtigkeit und Schwierigkeit zweiundsechzig Quartseiten widmet.
Es folgt das Laster der Ketzerei oder Häresie, das ausschließlich der geist¬
lichen Rechtspflege vorbehalten ist.
„Für ein Ketzer wird eigentlich derjenige gehalten, welcher nach empfangener
Hailiger Tcmff sich von der Einigkeit der Römischen Kirchen thailet, und eine
deroselben öffentlich widrige Lehr halsstarrig außgibt, und wissentlich verfechtet."
Es gehört das Verbrechen, wie das vorige, zu den privilegierten, insofern ge¬
ringere Anforderungen an die Velastungsmomente und die sonstigen Voraus¬
setzungen einer Verurteilung gestellt werden. Die Strafverfolgung kann noch
nach dem Tode des Verbrechers geschehen. In der Regel wird dem Beschul¬
digten kein Verteidiger erlaubt. Wie bei der Zauberei, besteht die Strafe in
der des Feuers. Daneben wird das Vermögen eingezogen und der Familie,
„auch wenn sie in wahrer katholischer Religion unverbrüchlich verharrte", nichts
davon belassen. Den nach Begehung der Ketzerei geborenen Kindern werden
auch die geistlichen bönglloia entzogen. Nach der tirolischen Landesordnung
unterbleibt jedoch die Vermögenskonfiskation. Nach den jüngsten Reichsab-
schieden ist auch das llsbils Lenellvinin iniKrationis zu beachten, und die An¬
hänger „der Augspurgerischen und nunmehr auch tolerierten reformierte
Religion" sind danach auch nicht mehr als Ketzer strafbar.
Um das Einreiben des Sektenwesens zu verhüten, sollen alle Obrigkeiten
fleißig dahin wirken, „ob die Unterthanen die H. österliche Beichte und Kommunion
gebührend verrichten", und was für Bücher in ihrem Besitze sind. Bei Ver¬
dächtigen soll danach Haussuchung gehalten werden.
Verwandt ist das Verbrechen der Apostasia, „jenes äelivwin, wenn ein
getauffter Christ von dem Glauben abfüllt und den jüdischen, mahomedanischen
oder heydnischen Glauben annimmt" (Renegaten). Daneben werden auch noch
die Apostaten genannt, die entweder den geistlichen Stand nach empfangner
Weihen verlassen oder nach der Profession aus den Klöstern entspringen. Ein
gewichtiges Anzeichen des begangnen Verbrechens liegt vor, „wenn ein von
Christlichen Eltern Geborener beschnitten gefmide:-i wird". Da es bei den Juden
häufig geschieht, daß sie zur Gewinnung eines Taufgelds sich wiederholt christlich
taufen lassen, sollen auch solche Bösewichte zu der Strafe des Schwertes ver¬
urteilt werden.
Unter die Laster, wodurch die göttliche Majestät verletzt wird, gehört auch
„das Meynaydt". Ein „Meynaydt" ist „ein mit leiblichem Aydt oder Schwur
bekräfftigte RkversnAo Lügen, welches aber nur von dem ^uramönto Ässsrtorio
gesagt werden kann, so eine beschehene Sach bekräftiget oder in Abrcd setzt,
dann durch ein ^uramsutuin xr0ini88orwin: wordurch kiinfftige Sach mit gutem
Vorhaben und wahrer Meynung aydtlich versprochen jedoch nachher nicht ge¬
halten wurde, wird Gott vor keinen Zeugen der Falschheit angeruffen". Das
letzte zieht deshalb nur nach Beschaffenheit der Umstände Geldstrafe, Keychen,
Verweisung, wo üblich auch Umkränzung der Eidestafel und Ausstellung vor
die Kirchtür nach sich. Der eigentliche Meineid wird in der Regel mit Ab¬
hauen des ersten Glieds der Schwurfinger und Abschneiden des vordem Endes
der Zunge bestraft. Ist aber durch Schuld des Meineidigen jemand um Leib
und Leben gestraft worden, so soll er mit derselben Strafe wie dieser bestraft
werden. Wer die geschworne Urfehde bricht, also dem geleisteten Eide zuwider
in das Land zurückkehrt, wird im ersten Falle mit Geldstrafe belegt, im Wieder¬
holungsfalle wird ihm die Hand oder die Schwursinger abgehauen, bei wieder¬
holtem Rückfalle wird er durch das Schwert vom Leben zum Tode gerichtet.
„Das oriinsu laesak NHestMs kann gegen die Päpstlichen und die Kayser-
lichen Majestäten des Heil. Römischen Reichs, auf Grund der Goldenen Bulle
auch gegen die Churfürsten des Römischen Reichs deutscher Nation und gegen
dieses selbst, nicht aber gegen die der Majestät entbehrenden Reichsstände be¬
gangen werden." Die männlichen Delinquenten werden in der Regel gevierteilt,
die weiblichen ertränkt, „ja, da der Schaden schwär und ärgerlich, wird die
Straff mit Schlaiffen und Zangenrissen vermehrt". Machen sich ganze Ge¬
meinden dieses Verbrechens schuldig, so sollen sie mit hundert Pfund Goldes
und Verlust ihrer kaiserlichen Freiheiten und Privilegien gestraft werden. Die
streitige Frage, ob sich ein Kleriker wegen Beleidigung weltlicher Majestät
strafbar machen könne, wird bejahend entschieden. Äußere sich die Beleidigung
in einer feindseligen Handlung gegen die Majestäten oder in der Begünstigung
ihrer Feinde, so wird das Delikt zum vrinrsn xsrcluellioiüs. Neben der Strafe
des Leibes und Lebens wird Vermögenskonfiskation und Infamie von Frau
und Kindern ausgesprochen.
Durch „Falschmünzerei" wird ebenfalls das orimM lassas NajeLwtis be¬
gangen. Sie ist mit dem Feuertode zu bestrafen. Dies wird nach richtiger
Meinung auch auf die Fälschung landesherrlicher Münzen erstreckt, während
die Fälschung andrer Münzen nur mit der Hinrichtung durch das Schwert ge¬
ahndet werden soll. Die Fälschung kann Schrot oder Korn (Form oder Materie)
oder beides betreffen, sie kann aber auch dadurch begangen werden, daß ein
nicht Münzberechtigter Münzen ausgibt, auch wenn die Münze von rechtem
Wert und Gewicht wäre. Willkürlich zu strafen ist der Münzberechtigte, der
auf die vollwertige Münze Wappen oder Jnsiegel eines andern Münzberechtigten
Prägt. Wer die gefälschte Münze, mit der er selbst betrogen worden ist, vor¬
sätzlich weiter gibt, soll nach Befinden mit dem Schwert oder auch milder ge¬
straft werden. Das gilt auch von dem Abfeilen und Beschneiden echter voll¬
wertiger und überwertiger Münzen.
u den mannigfachen Errungenschaften, die in den letzten Jahr¬
zehnten für die höhern Schulen erkämpft wurden, gehört auch
die wachsende Würdigung und Pflege des deutschen Unterrichts.
Die Phrase mancher Philologen, Griechisch und Lateinisch — mit
ihren dreizehn Stunden in der Woche! — bildeten das Rückgrat
des humanistischen Gymnasiums, hat ihre Zugkraft verloren; der deutsche
Unterricht soll das Herz bilden, von dem alles Blut ausströmt und zu dem
alles Blut hinströmt; ist doch jede fremdsprachliche Stunde auch eine deutsche
Stunde, und ist doch das Deutsche vor allem das gemeinsame Band, das alle
verschiednen Schulgattungen verbindet, mag es sich nun mit der antiken Geistes¬
kultur oder mit der modernen verflechten. Mit dem Erwachen des nationalen
Gedankens nach der Gründung des Reichs ergab sich mit geschichtlicher Not¬
wendigkeit die Forderung, auf deutschen Schulen das Deutsche in den Vorder¬
grund zu rücken. Kein Lehrgegenstand jedoch ist der Oberflächlichkeit und der
Phrase, der Nüchternheit und der Verballhornung mehr ausgesetzt als das
Deutsche. Gute Lehrer, d. h. geborne Unterrichtsmeister und Unterrichtskünstler,
im Gegensatze zu den Abrichtungsvirtuosen, den Drillmaschinen und Stunden¬
gebern, sind natürlich ebenso selten wie die Meister auf andern Gebieten des
Wissens und des Könnens. Freilich scheint nichts leichter zu sein als eine deutsche
Unterrichtsstunde; die Jungen können ja Deutsch lesen und Deutsch sprechen,
und dem Lehrer macht es keine Mühe, einige Fragen an jeden Satz, der gelesen
wird, anzuknüpfen; auch ist ja nichts leichter, als ein paar Gedichte abzuhören
und einige Bemerkungen daran anzuschließen: es ergibt sich ein behagliches
Geplauder, und die Stunde ist herum. Aber damit ist es wahrlich nicht getan.
Von einem Deutschlehrer muß man nicht nur festes philologisches Wissen
und sicheres pädagogisches Können, sondern auch Geschmack und Urteil fordern,
eine gewisse künstlerische Gabe des Nachempfindens und des Nachgestaltens; nun
ist aber bekanntlich die Kunst des Aufnehmens fast ebenso selten wie die des
Schaffens; ein tieferes Verständnis für Lyrik und die Fähigkeit, den Gedanken
und Stimmungen, die durch sie ausgelöst werden, Ausdruck zu leihen, ist nicht
häufig, woher der weitverbreitete Aberglaube stammt, das Lyrische verstehe sich
von selbst; und doch muß der Lehrer vor allem selbst klar zu empfinden und
zu denken und sich klar auszudrücken verstehn, wenn er die Schüler zu dieser
Fähigkeit hinerziehn will, er muß durchglüht sein von der Wärme des Gefühls,
das den Dichter beseelte, wenn er die Schüler erwärmen, von Begeisterung, wenn
er begeistern soll. Es ist dabei schwer zu sagen, was schwieriger sei, der Unter¬
richt in Sexta oder in Prima; das Richtige wird wohl sein, daß jeder Unterricht
schwierig ist, den der Lehrer ernst nimmt, mögen zu dem einen mehr und zu
dem andern weniger Fachkenntnisse gehören; didaktisch ist der untere, stofflich der
obere schwieriger, denn heutigestags kommt man nicht mehr mit der Kenntnis
der Klassiker aus, sondern der Lehrer muß mitten im modernen Leben stehn, er
muß die Literaturbewegung bis in unsre Tage verfolgt haben; er muß Linien
ziehn können von Kleist über Hebbel und Otto Ludwig zu Gerhart Hauptmann,
von Goethes Wilhelm Meister über die Romantiker zum Grünen Heinrich und
Jörn Abt, von Goethe über Mörike und Storm zu Liliencron usw. Das ist
keine leichte Aufgabe, da erst spät die Dichter — in billigern Volksausgaben —
der Schule zureifen. An Wegweisern durch die moderne deutsche Dichtung
mangelt es nicht; verdienstlich ist das vielgenannte Unternehmen Otto Lyons
(Deutsche Dichter des neunzehnten Jahrhunderts, bei Teubner in Leipzig);
manches gute Bändchen enthält auch Die Dichtung,herausgegeben von
Paul Remer (Berlin, Schuster und Löffler); es ist an sich ein bestechender
Gedanke, daß der Dichter den Dichter erkläre; oft freilich sind gerade Dichter
schlechte Kritiker (nicht bloß der eignen Schöpfungen!), und nicht alle Broschüren
der Sammlung sind kleine Meisterstücke wie Ricarda Huchs Gottfried Keller;
groß angelegt ist das Unternehmen Statuen deutscher Kultur, heraus¬
gegeben von Will Vesper (München, Beck), eine Sammlung besonders wert¬
voller Werke des deutschen Schrifttums von den Anfängen bis zur Gegenwart;
bisher erschienen: Germania, der Arme Heinrich, das Hohelied Salomonis in
43 Minneliedern, Luthers Dichtungen, Vorgoethische Lyriker, Hölderlins Dich¬
tungen, Jean Pauls Träume, Meier Helmbrecht; die Übertragungen sind echt
modernen Geistes, der Buchschmuck ist sehr reizvoll. Wertvolle Schätze der neuern
Literatur bieten die Sammlungen von Meyer, Cotta, Hendel, Reclam, auch die
Wiesbadner Volksbücher; für die Lyrik gibt es eine Unzahl Anthologien; ich
nenne den neugebornen Echtermeyer, das Haushund von Avenarius, Neuere
deutsche Lyrik von Busse, Balladenbuch von Scholz, Vom goldnen Überfluß
(bei Voigtlünder), Was der Jugend gefüllt (Köhler), Von allen Zweigen (Nvigt-
lauter), Lyrische Andachten (Ferdinand Gregori, bei Haessel), Deutsche Lyrik seit
Liliencron (Bethge, bei Haessel), Die blaue Blume (von Jacobowski); das alte
„Wunderhorn" haben Paul Ernst und Eduard Grisebach erneuert. Einen
Ehrenplatz unter den Vlumenlesen verspricht zu erringen das soeben heraus¬
gegebne Buch: Die Ernte aus acht Jahrhunderten deutscher Lyrik,
gesammelt von Will Vesper (Düsseldorf und Leipzig, W. Langewiesche-Vrandt),
Die Bücher der Rose, Band 1 (480 Seiten, 1 Mary. Dichter veranstalteten
selbst Auswahlen ihrer Lyrik, wie Liliencron und Dehmel, oder ließen sie
veranstalten durch Freunde, wie Vierordt, Greif, Lingg.
So hat der Deutschlehrer an literarischen Hilfsmitteln über die neuere
deutsche Dichtung keinen Mangel; was seine Methode betrifft, so ist er darin
glücklich, daß er weit mehr Bewegungsfreiheit hat als der Lehrer in den
Sprachen und in der Mathematik. Um so größer ist die Gefahr, in Willkür
und Systemlosigkeit zu verfallen. Großzügig war die Art der ältern Zeit, wo
Hiecke, Wackernagel und Laas wirkten, auf ihren Bahnen schritten Rudolf
Lehmann, Wendt u. a. fort. Die Kleinarbeit begann durch Übernahme der
seminaristischen Methode und der Herbartschen Pädagogik; Frick herrschte lange
mit seinen Formalstufen; mir sind immer als die fruchtbarsten „Stufen" er¬
schienen: wecke klare Anschauung, lebendige Empfindung und klare Gedanken.
Gegenüber der sehr straffen und strengen Herbartschen Schulung traten der
praktische Realismus O. Jägers und die lebensfrischere und wärmere Geistes¬
art Rudolf Hildebrands hervor, dessen rühriger Schüler, Otto Lyon, die ver¬
dienstvolle Zeitschrift für den deutschen Unterricht, neben großen Unterrichts¬
werken, herausgab, den verschiednen Richtungen freien Spielraum gebend.
Wie aber alles heutigestciges im geistigen Leben in die Breite geht, so
auch die pädagogische Literatur des deutschen Unterrichts. Unendlich viel
Schund ist in der Unzahl von Erlüuterungsschriften und in den üppig
wuchernden Kommentaren zu den Schulschriftstellern angehäuft.
Es war somit gerade jetzt an der Zeit, Umschau über das wirklich Tüchtige
und Brauchbare zu halten und das reife Korn in die Scheuern zu sammeln.
Wer war berufner, dies in die Wege zu leiten, als Adolf Matthias, der auf
einer hohen Warte nicht nur in seiner amtlichen Stellung, als Vortragender
Rat im preußischen Kultusministerium, steht, sondern auch als Meister des
deutschen Unterrichts selbst? So mußte er für sein großes Handbuch des
deutschen Unterrichts an höhern Schulen im engen Bunde mit einem
ungewöhnlich kenntnisreichen und rührigen Verleger (Oskar Beck in München)
die rechten Männer an den rechten Platz zu stellen wissen; auf sechs Bände
"ut je zwei bis drei Unterabteilungen ist das Werk berechnet, deutsche Sprache,
Stilistik, Poetik, Altertumskunde, Sage, Literatur und ihre Behandlung in der
Schule umspannend. Voran leuchtet dem Ganzen als Leitstern der Satz: „Es
erscheint heutzutage einfach als eine nationale Pflicht und eine pädagogische
Forderung ersten Ranges, daß unsre Jugend ein Anrecht darauf habe, in das
Verständnis ihrer Muttersprache und deren Geschichte, in des eignen Volkes
Literatur und Geistesleben eingeführt und so der Pflege heimischer Empfindungen
und vaterländischen Sinnes in vollem Umfange teilhaftig zu werden." Der
Verfasser der „Praktischen Pädagogik" legt auch hier den Nachdruck auf die
Praxis, nicht auf die Theorie, und so ist es denn auch in den beiden zunächst
erschienenen Bänden (Paul Goldscheider, Lesestücke und Schriftwerk
im deutschen Unterricht, und Paul Geyer, Der deutsche Aufsatz) das
bedeutsamste, daß tüchtige, erfahrne und besonnene Schulmänner zeigen, wie
sie es gemacht haben, und wie sich dies bewährt hat.
Bei Goldscheider ist besonders die Kunst bewundernswert, mit der er die
Entfaltung des Lesestückes und des Schriftwerkes von den verschiedensten Seiten
her beginnt, wie er unter gleichmüßiger Heranziehung der Poesiearten und der
Prosaabhandlungen der Einwirkung auf Gemüt und Phantasie sowie auf den
Verstand gerecht zu werden weiß. Ist es doch ungemein schwer, hier die
Grenze zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig inne zu halten, zwischen sachlicher
Gründlichkeit und dem reinen, unbefangnen Genuß. Goldscheiders Darstellungs¬
weise ist freilich nicht ganz leicht und durchsichtig, da er bald Betrachtung
und Erklärung und Kritik, bald Schilderung aus der Praxis bietet; aber wer
ihm ernst prüfend folgt, wird reich belohnt; vortreffliche Mahnungen und
Warnungen werden überall eingestreut; man soll nicht zu weit ausholen und
zu viel herbeischleppen, nicht schon vorher alle Steine für das Verständnis
wegräumen; das Lesen muß im Mittelpunkte stehn, sachliches und Ästhetisches
müssen sich durchdringen. „Lies das Ganze, ehe du über das Einzelne urteilst!
Suche den Inhalt, suche die Form, vergleiche Inhalt und Form miteinander!
Betrachte zunächst das Werk für sich und dann auch im Flusse der Er¬
scheinungen!" Das klingt einfach und selbstverständlich, enthält aber eine
Reihe sehr schwieriger Probleme für die Praxis. Ein goldnes Wort lautet:
„Du, Erklärer des Dichterwerkes, in dem Menschenwelt und Menschenleben
in vollendeter Kunstform veranschaulicht werden, erkläre, rede aus der Tiefe
deiner menschlichen Eigenart heraus und nicht bloß als gelehrte und durch
Verfügungen geregelte Lehrmaschine! Sprich wie ein Mensch zu Menschen;
zu Menschen, die allerdings noch unreif, täppisch, oberflächlich sind, die aber
sämtlich die Fähigkeit besitzen, mit dir und wie du von jener kunstvoll durch¬
geistigten Darstellung des Menschenlebens ergriffen und gepackt zu werden."
Die Proben kurzer Dichterbiographien für die einzelnen Klassenstufen und vor
allem die Beispiele der Erläuterung sind höchst anregend; der Abdruck der
Texte dazu im Anhang war Verschwendung. Was den literarisch-ästhetischen
Standpunkt Goldscheiders betrifft, so ist er gar zu konservativ; mit gewisser
Einseitigkeit wird das gedanklich Gründliche und in der Stilform Sorgfältige
bevorzugt vor kräftiger, leidenschaftlicher, ringender und suchender Eigenart;
so vermag er Freytags „Fabler" zu preisen und den Faust abzulehnen, überhaupt
die neuere und neueste Literatur, von Kleist, Grillparzer, Hebbel, Ludwig bis auf
unsre Tage nur sehr stiefmütterlich, als „epigonenhaft", zu behandeln; Uhland soll
der „Spätromantik" angehören, Mörike, Storm, Keller, Scheffel u. v. a. kommen
nicht zu ihrem Recht. Trotz alledem ist die Arbeit als Ganzes gediegen.
Paul Geyer behandelt den deutschen Aufsatz und die Fülle der Fragen,
die dieses Gebiet des Unterrichts umfaßt, in weitschauender und tiefgründiger
Weise. Gerade in unsern Tagen kreuzen sich die verschiedensten Richtungen
über die Stilbildung der Jugend; die einen überschätzen diese, die andern
unterschätzen sie; die einen knien ehrfürchtig vor jeder Kundgebung des kind¬
lichen (oder kindischen) Geistes, wie der sentimentale Naturfreund vor einem
Waldblümchen, die andern wollen an dem jungen Pflänzchen, das da Knaben¬
seele oder — deutscher Aufsatz heißt, alles zurechtstutzen und beschneiden.
Geyer hält die Mitte zwischen dem akademischen und dem seminaristischen
Verfahren. Und das ist recht. Man darf nicht wild wuchern lassen, die
Frucht davon ist Unsinn; man muß Richtung geben zu klarem, lichtvollen
Denken und klarem, lichtvollen Ausdruck der Gedanken; man muß den engen
und armen Kreis der Vorstellungen erweitern und bereichern und allmählich
den knabenhaften Sinn zu Höheren emporführen. Gewiß kann der Lehrer
viel lernen von der Jugend selbst an Natürlichkeit und Frische der Anschauung,
besonders auf der untern Stufe, aber es gibt auch Jahre ungefüger Art (in
körperlicher und geistiger Entwicklung), da tut eine feste Hand zur Führung
not; man soll nicht abrichten, aber doch auch leiten und unterweisen; auch die
Handschrift bildet sich erst allmählich, so auch der Stil; man muß den Mut
zur Selbsttätigkeit wecken, denn Freudigkeit ist auch hier die Mutter aller
Tugenden. Geyer führt uns in feinster, gediegenster Weise durch die ver-
schiednen Klassenstufen und ihre geeigneten Stoffe hindurch. Sein Buch hat
die Fülle und die Frische des blühenden Lebens; es ist entstanden, es ist nicht
gemacht worden; die Früchte reiften in der Stille, und am Ende bedürfte es
nur leisen Schüttelns, und sie fielen dem Gärtner in den Schoß. Besonders
erfreulich ist neben der Umsicht und Vielseitigkeit die Heiterkeit, die über dem
Ganzen wie ein goldiger Schein liegt. Die ethisch-philosophische Durchdringung
der Fragen liegt dem Verfasser mit vollem Recht auf den obern Stufen haupt¬
sächlich am Herzen; nichts ist fruchtbarer als solche Gedankengänge über all¬
gemeine Begriffe und Probleme.*) Aber Geyer weiß auch, daß sich auch noch
andre Gebiete, als er behandelt, erfolgreich für den deutschen Aufsatz nutz¬
bringend erschließen lassen; er geht nicht nur auf Geschichte und Poesie und
Philosophie (Ethik) näher ein, sondern deutet auch auf naturwissenschaftliche
Fragen hin und läßt Selbstbeobachtetes und Erfahrnes nicht verkümmern.
Aus eigner Praxis möchte ich noch an die Pflege des Natursinnes nach den
verschiednen Seiten hin, an die Erfassung des Metaphorischen in der Dichter¬
sprache, an die stufenweise sich vertiefende Darlegung des Tragischen*) sowie
andrer ästhetischer Begriffe erinnern. Man wird gut tun, nach Eigenart der
Schuljugend in den verschiednen Landesteilen und der Schülergenerationen das
System der Anpassung und der Wahlfreiheit zu üben; nicht immer hat man
Primaner, die, wie ich es hier wiederholt erlebte, aus sich heraus Abhand¬
lungen über Bilder, im Vergleich mit Gedichten ähnlichen Stoffes, über
Lessings, Herders und Goethes Stellung zu dem Grenzverhältnis der ver¬
schiednen Künste u. a, in. vorlegen oder Vorträge zur Ehrenrettung der „Ahnfrau"
Grillparzers und zur Kenntnis Mörikes, Eichendorffs, Storms u. a. halten.
Man muß eben nur die Geister zu wecken und zu rufen wissen; die
Jugend ist empfänglich und leicht begeistert; um Widerhall fehlt es dann nicht.
Das spürt man auch bei dem trefflichen Werke Geyers sowohl in der Auf¬
satz- wie in der Vortragskunst. Der Erfolg des deutschen Unterrichts hängt
in ganz besonderm Sinne an der Persönlichkeit des Lehrers.
W!rapezunt besteht aus drei Teilen, der schon genannten Oststadt,
der Türkenstadt und der westlichen Vorstadt. Die erste beginnt
mit niedrigen Fischerhütten am Hafen, breitet sich um das Hafen¬
becken herum aus, verliert sich nach Osten zu in einigen Anwesen
!an den von Mauern eingefaßten Wegen bis zur nächsten Ort¬
schaft und geht nach Westen zu mit dem Basar in die Türkenstadt über. Sie
ist Griechenstadt und beherbergt einen Teil der Armenier und die Handels¬
und die Wohnhäuser der Fremden. Aber auch wohlhabende Türken haben
sich hier niedergelassen und in einem eignen Baustil mohammedanische Haus¬
einrichtung mit europäischer Bequemlichkeit zu vereinen gesucht. Hier hat, dem
Handel folgend, die Stadtverwaltung ihr Heim gefunden und neben einigen
Agenturen die Post ihren Wohnsitz aufgeschlagen. Diese steht nicht gerade auf
der Höhe. Trotzdem daß jede Depesche sehr sorgfältig gebucht und mit einem
Abreißzettel aus dem Eintragungsbuch und einer über den Trennungsstrich
geklebten Stempelmarke quittiert wird, ist die Beförderung unsicher. Die
Armenier, die mangels geeigneter Beamter angestellt werden müssen, finden
immer noch Mittel und Wege, durch Unterschlagungen eine Zulage zu ihrer
kärglichen Besoldung zu erübrigen oder durch Schikcmicrung der Kaufleute mit
verzögerter Telcgrammbestellung sie zu besondern Leistungen, zum Beispiel dem
Geschenk eines neuen Umzugs. zu nötigen. Ein Glück ist noch, daß sich diese
verlangten Zuwendungen immerhin in mäßigen Grenzen halten, sonst wäre diese
Art Gehaltszuschußsteuer bei der großen Zahl der sich dazu für berechtigt
haltenden Empfänger bei der Negierung, der Munizipalitüt und der Polizei schier
unerschwinglich. Sehr niedlich ist, daß zum Beispiel der vom Gouverneur
unabhängige Hafenpolizeibeamtc, der an dem vom Koran nicht gerade ausdrück¬
lich und namentlich verbotnen Bier Gefallen gefunden hat, einigen von seiner
Gefälligkeit abhängigen Geschäftshäusern öfters diskrete Lieferungen von zehn
Flaschen auferlegt; weniger schön, daß der in Ungnade verabschiedete frühere
Polizeigcwaltige doch noch so viel Verbindungen unterhält, daß es nicht ge¬
raten ist, seine bei Begegnungen sehr deutlich ausgesprochne Bitte um einige
Piaster abzuschlagen.
Von dem lebhaften Handelstreiben der Oststadt sticht die Ruhe in den
engen, mit hohen Mauern besetzten Straßen der Türkenstadt fast unheimlich
ab. Auch hier ist jedoch keine reinliche Scheidung nach Völkerstämmen erfolgt.
Es gibt Teile, die von Griechen und von Armeniern bewohnt sind. Vor¬
nehmlich im Basar, der sich an den vom Kleinhandel mit Lebensmitteln,
Früchten, Manufakturen und manchem europäischen Schund belegten Teil der
Oststadt anschließt, sind gewisse Gewerbe in den dafür bestimmten Gassen in
armenischen Händen. Das Hauptleben konzentriert sich auf die nach der West¬
vorstadt ziehende Hauptstraße, an der der große unschöne rote Gebäudekomplcx
des Generalgouverneurs liegt. Der Hauptsache nach dehnt sich die eigentliche
Türkenstadt auf einer von zwei Schluchten eingerahmten Felsplatte aus, die
zum Meere hinablüuft und außer starken Mauern der ehemaligen byzantinischen
Stadt die Ruinen des Kaiserschlosses der Komnenen trägt. Hochgeführte
Viadukte überspannen die Schluchten und die auf ihrem Grunde fließenden
Bäche und sind ebenso auffallend ordentlich gehalten wie die über sie führende
Haussierte Hauptstraße, die davon Zeugnis ablegt, daß ein energischer General-
gouvemeur mit einigem Sinn für Ordnung auch in der kleinasiatischen Türkei
solche schaffen kann. Die Ruhe der Friedhöfe isoliert die alte und die neue Murad-
Jmcired-Moschee von dem Treiben auf der Hauptstraße. Die Moscheen selber
bieten ebensowenig Sehenswertes wie die Kirchen mit ihrem dürftigen Schmuck,
der ärmlichen unkünstlerischen Decken- und Wandmalerei; aber die gesamte An¬
ordnung des mit saubern Steinplatten belegten Vorhofs, der Türbes und des
Brunnens am Eingang, des Minaretts und der mit immergrünen Gewächsen,
Efeu und Kirschlorbeer übersponnenen Mauern und Grabsteine sowie die kurze
Zypressenallee luden doch zu lungern Verweilen ein. Ein paar jüngere
Moscheendiener kostete der Gehorsam gegen den Koran harten Kampf, als sie
sich ihm folgend weigern mußten, vor unserm Kodak standzuhalten. Auch
die Knaben, die aus der Schule kommend, in langer Reihe paarweise gehend,
unsern Weg kreuzten, waren von dem Gebot unerschütterlicher Ruhe und Gelassen¬
heit gegenüber allem Fremden, Ungewöhnlichen nicht so durchdrungen, daß sie
die braunen zu Boden gerichteten Augen nicht einmal auf uns erhoben und
verstohlen gelächelt hätten.
Ganz stille winklige Straßen in unübersichtlicher Planlosigkeit führen
hinunter zum Fischerhafen. Alle haben sie mit den Basarstraßen die Eigentüm¬
lichkeit, daß in der Mitte schmale tiefe Rinnen dem Wasserabfluß dienen und
auf beiden Seiten deren verhältnismäßig gutes Pflaster als Trottoir und Räder¬
spur dient. Leichtsinnigerweise bewegt sich ab und zu ein Fahrzeug durch diese
hohlen Gassen auf gut Glück, daß ihm kein andres begegnet. Sonst füllt die
Anpassung des Lebens an das Tote, Alte hin und wieder auf. Nicht bloß
Haustiere finden in den Mauertrümmern ihren Stall, sondern auch Menschen
haben sich schlecht und recht darin einzurichten verstanden. Wo die hohe
Ufermaner, die sich an eine flache, mit tiefen Scharten versehene Bastion
anschließt, den einen zum Meere stürzenden Bach mit einem breiten Gewölbe
überspannt, sind alle alten Einrichtungen zur Bestreichung der Öffnung noch
vorhanden.
Der Strand zeigt einen eigentümlich leichten schwarzen Sand, der sich fast
wie Lavamasse anfühlt und verrät, daß sein Ursprung ganz andrer Arbeit zu
verdanken ist, als der unsrer nördlichen Küste. Lebhaftes Treiben herrscht an
diesem, vom Handelshafen durch eine steil zum Meer abstürzende Felsplatte
getrennten Fischerhafen. Fischerboote, die in ihrer Form, dem hohen Aufbau
des Bug und des Heat bei niedrigen Seitenwänden und in ihrer bunten Be¬
malung an die alte Galeere erinnern und an den Nudergriffeu keulenartige
Verstärkungen, wohl als Gegengewicht, haben, waren an Land gezogen. Dahinter
lagerten in Gruppen, ihr Essen zubereitend, bunt bekleidet aber doch meist mit
recht ärmlichen Fetzen behängt, die kräftigen Gestalten der Schiffer und Fischer,
die durchaus nicht alle einen vertrauenerweckenden.Eindruck machten. Hinter
ihnen führten die Verkaufsreihen von Obsthändlern allmählich zum Basar, durch
dessen schmale abschüssige Gassen wir unsern ersten Rundgang beendeten. Mit
den Goldschmieden handelseins zu werden, die ihre Ware, saubere Filigran¬
arbeiten, Ketten, Gefäße, Kästchen, Schnallen u. a., nach Gewicht verkaufen,
wollte nicht gelingen. Dafür bot sich mancherlei Gelegenheit, von der Straße
aus der Ausübung verschiedner handwerksmäßiger Tätigkeit in den engen
Räumen hinter dem Verkaufstische zuzuschauen, zum Beispiel den Wollzupfern,
die mit der Sehne eines Flitzbogens weiße Angoraschafwolle bearbeiteten, den
Kupferschmieden, die kupferne Trinkgefäße und Kochgeschirre cmsbeulten, den
Teppichknüpfern, Schustern, Kochen, Bäckern, die ihr Gewerbe gerade so wenig
appetitreizend betrieben wie in Konstnntinopel. Wer, wie alle diese Leute in seinem
Laden sitzend oder stehend arbeitet, ganz wenig auf Vorrat und meist auf Be¬
stellung anfertigt, sehr wenig Bedürfnisse hat, kann billig liefern, aber er kann
auch andern nur wenig bezahlen. Regeres Leben herrscht in den Läden der
Oststadt, in denen man sich aber über Warenzusammenstellungen wie schlechtes
Schuhwerk und Fernrohre nicht allzusehr wundern darf. Ideal schien mir in
der übrigens ganz sachgemäß eingerichteten Apotheke das Zusammenarbeiten
von Arzt und Apotheker, von denen der erste, an einem Fenster in blitzblanker
Uniform etabliert, untersuchte und Rezepte verschrieb, die gleich an Ort und
Stelle bereitet werden konnten. Ansichtspostkarten, auch von andern Küsten-
Punkten, werden schon in großer Zahl vertrieben.
Der Großhandel hat seine Hauptstädten in den Agenturen der Dampf-
schifsahrtslinien, deren Inhaber meist die Vertreter ausländischer Handelshäuser
sind und natürlich niemals die Waren einer Spezialbranche allein vertreiben.
Kein Geschäft wird abgeschlossen, ohne daß es zuvor bei türkischem Kaffee und
Zigaretten sehr gemächlich besprochen würde. Und wenn man sich gegenseitig
noch so erfolgreich über das Ohr gehauen hat, kein Gruß wird beim Kommen
oder Gehn ohne kräftigen Händedruck und die allerbesten Wünsche ausgetauscht.
Die Kaffeesitte ist nicht übel und hat uns bei den Besuchen auf den Agenturen
Wohl gefallen.
Handelsgegenstünde sind im Einfuhrhandel mit Anatolien Baumwollwaren,
Tuche, Kleider, Zucker, Brotmehl, Tee und Kaffee, für die Ausfuhr Produkte
der Viehzucht, Tabak und Obst (im Jahre 1896 im Betrage von 13,47 und
8,76 Millionen Mark). Eine bedeutende Rolle spielt der Durchfuhrhandel mit
Persien, der vornehmlich Baumwollen-, Wollen-, Seiden- und Sammetstoffe
zur Einfuhr und Seidenwaren, Schals und Teppiche zur Ausfuhr bringt (im
Jahre 1896 im Betrage von 11,67 und 3,82 Millionen Mark). Übrigens hat
dieser Verkehr mit Persien unter der Konkurrenz der russischen Eisenbahnen in
Kaukasien und in Transkaspien nicht wenig gelitten. Zu der Zeit unsrer Fahrt
aber war wegen der Unsicherheit des Betriebs auf der transkaukasischen Eisen¬
bahn schon wieder eine Steigerung fühlbar, die natürlich angehalten hat. Die
für Persien bestimmten, in Batna zu löschenden Frachten wurden in Trapezunt
ausgeladen und in Kamellasten weiter befördert. Bei einem Spaziergang kamen
wir an einer Karawanserei vorüber, worin gerade eine Karawane von achtzig
Kamelen ruhte. Die Kamele lagen reihenweise ausgerichtet, gesattelt auf dem
Bauch, die Beine unter dem Leib. Einzelne lehnten faul an den Pfosten des
Stalles, und alle zeigten das törichte Gesicht des eingebildeten Untergebnen,
der von seinen Vorgesetzten geärgert, d. h. belehrt, das Gefühl des Besserwissens
ausdrücken und auch wieder verstecken möchte. Die Karawanentreiber, echte
Persische, gutgewachsne Gestalten mit schöngeschnittnen, auch gutmütigen Ge¬
sichtern, hockten in ihren zerschlissenen bunten Anzügen, der kurzen offnen Jacke,
den rasierten Schädel mit verschiedenfarbigem Turban bedeckt, wie Feueranbeter
UM einen dampfenden Kessel. Einer war gefällig genug, uns die Sattlung zu
zeigen. Um den Höcker werden vier Kissen, darüber eine dicke Decke mit einem
Ausschnitt für den Höcker und wieder Kissen gruppiert. Darauf wird der hohe
Packsattel mit den Resten ehemaliger Schönheit, den aus Teppichgewebe ange¬
fertigten Kameltaschen angebracht und mit Stricken befestigt, die vorn und hinten
um die Weichteile geschlungen und scharf angezogen werden. Das Kamel hat
deswegen eine entzückende Taille, ohne doch merklich in seiner Bewegung
gehindert zu werden. Rührend ist die Geduld, mit der es die ihm aufgepackten
schweren Lasten im Paßtritt schleppt, dauernd im Schritt, von Lager zu Lager
ohne längere Ruhe und nur mit dürftigem Häcksel gefüttert, in den der Sand
des Bodens achtlos hineingekehrt wird. Abends begegneten wir der Karawane,
die am Nachmittag ihre Lasten übernommen hatte und nun, fünf bis sieben
Tiere gekoppelt, das letzte — um die Verbindung zu erhalten — mit einer
großen Glocke am Hals, ein Tier jeder Gruppe nur mit Futter und Decken
für den Führer belastet und als Reserve bestimmt, über Erzerum nach Tebris
zog. Die Treiber gingen meist nebenher, jetzt mit Dolch und Pistolen be¬
waffnet, denn ans ihrer Straße muß mit Überfüllen gerechnet werden. Groß
ist das Vertrauen, das der Kaufmann dem Karawanenführer entgegenbringt,
gering die Sicherheit, die der bietet, trotzdem, dem Vertrauen entsprechend, die
Zuverlässigkeit der Beförderung. Die Karawane braucht bis Erzerum zwölf
Tage, bis Tebris noch weitere dreißig Tage; eine Reise in der Kamelkarawane
kostet 55 Franken. Fast bedauerten wir, durch die Kürze unsrer Zeit an einer
solchen Studienreise gehindert zu sein. Es wäre ein Plan, ein andermal über
Erzerum-Kars den Anschluß nach Kaukasien zu gewinnen.
Um wenigstens etwas vom Binnenlande Kleinasien zu sehen, folgten wir
am dritten Tage unsers Aufenthalts zu Wagen den Spuren der Karawane.
Zwar schien es uns wunderlich, daß unser Diamant nur eine gut bespannte
Droschke gemietet hatte, um uns bis Dshevislik, der ersten Station aus der
Straße nach Erzerum, zu führen, aber der Erfolg rechtfertigte ihn. Der Kurde,
unser Kutscher, fuhr mit seinen flinken Rotschimmeln so flott darauf los und
doch dabei so vorsichtig überlegend und seine Pferde schonend, daß wir nach
reichlich vierstündiger Fahrt oben ankamen und die Rückfahrt, etwa 28 bis
30 Kilometer, in zweiundeinhalber Stunde zurücklegten. Unsre Fahrt führte
nach Osten hinaus am Hafen vorbei, worin jetzt ausnahmsweise etwas neues,
praktisches gebaut wird, eine Mole von 400 Metern Länge, die im Verein mit
einem alten halbverfallenen Wellenbrecher von der Spitze des Hafenkaps aus
einen fast rechtwinkligen Winterhafen zum Schutz gegen die häufigen Nord¬
stürme abschnüren soll — jetzt wird bei Sturm die Reede von Platana, zwei
Meilen westlich von Trapezunt, aufgesucht. Beim ersten Ort abbiegend führt
die uralte Handelsstraße in das Innere, als gar nicht üble Chaussee von einer
Telegraphenleitung szwei Drähte) begleitet, zunächst ins Tal der Mutschka (von
den Griechen in Trapezunt Pisidis genannt) und begleitet sie dauernd. Es ist
ein richtiger Gebirgsfluß, der zahlreiche Trümmer zu einem im Querschnitt
völlig horizontalen, zunächst ziemlich breiten Tal angeschwemmt hat und in
seinem flachen Flußbett augenblicklich wenig Wasser über die abgeschliffnen
Steine führte, vielfach abgedämmt ist und zu kleinen Mühlenbetrieben die nötige
Kraft liefern muß. Sehr bald beginnen hohe steile Berge und steigen hier und
da schroff mit Felsstürzen auf. Zuerst bedeckt noch dürftiges Gras die Hänge,
auch Haselnußpflanzungen und wildwachsende Gebüsche, immergrüne Sträucher,
später tritt der Wacholder in mehreren Arten an ihre Stelle. Allmählich wird
das Tal enger, und die Chaussee drängt sich näher an die Mutschka hinan;
manchmal ist sie in engen Passagen durch Kalksteinquadern gegen die Gewalt
des Hochwassers geschützt, wohl nicht immer ausreichend, denn an einer Stelle
war ihr Damm zerrissen. Im allgemeinen folgt sie den Windungen des Tales
ohne allzuviel Verlorne Steigungen. Bäche aus den Seitentälern laufen über
flache, ausgemauerte Rinnen im Fahrdamm. Der chaussierte Straßenoberbau
ist zwar nicht glatt, doch läßt sein Zustand immerhin auf eine gewisse Aufsicht
und die Ausführung der nötigsten Ausbesserungsarbeiten schließen. Aber wo
weiter oben einige Kilometer vor Dshevislik die ganz schmale Klamm der
Mutschka verlassen und eine Kulisse des Tales in Serpentinen überschritten
werden muß, fehlt der nötige Schutz nach der Talseite. Das hält jedoch
den Rosselenker nicht ab, in schneller Fahrt hart am Rande entlang zu jagen,
wenn begegnende Karawanen oder Geführte zum Aufbiegen nötigen.
Wo die Hänge nicht zu steil und die Halden nicht zu steinig sind, wird
Getreide gebaut. Freilich, der Pflug kann hier nicht arbeiten. Nebeneinander
stehend gräbt eine Reihe Männer und Weiber nach talwärts zu und hohe all-
mühlich schmale Fettstreifen in Terrassen auf, deren unterer Rand mit Stein-
Packungen bekleidet wird. Auch zur Abgrenzung der Felder finden Steinwälle,
für die es an Material nicht fehlt, Verwendung: Trockenmauern schließen die
Felder gegen die Chaussee ab und schützen den Straßendamm gegen Wasser¬
unterspülung; Quer- und Längsdämme aus Steinen weisen dem Wasser den
Weg. Trockenmauerwerk bildet die Umfasfungswünde der vielen Wohnhäuser,
der Schuppen und der Ställe für allerlei Tragtiere. Freilich, Holz ist ein
teurer Artikel und wird in Esel- und Packpferdlasten von weither hergeschafft,
denn das Knüppelholz der Wacholderbuschwälder eignet sich nur zum Brennen.
Was aber den dünnen, aus dem Gebirge stammenden Stangen als Decken¬
balken, Stünder-, Strebe- und Sparrenhölzern zugemutet wird, geht über alle
Vorstellung.
An Leben fehlt es nicht. Einzeln liegende Gehöfte größerer Herdenbesitzer
Wechseln mit ärmlichen Hütten; mehrere Weiler kleben an und über der Straße,
und weiter oben zieht ein mohammedanisches Dorf endlos lang eine steile Halde
empor. Ziegen- und Schafherden, auch einzelne Kühe klettern an den Abhängen
entlang und wundern sich vielleicht ebenso wie ihre Hüter über die ungewohnte
fränkische Erscheinung unsers Wagens und seiner Insassen. Viele Kamelställe
deuten auf regen Karawanenverkehr; Stellmcichereien und Schmieden haben
dauernde Arbeit; kleine Eisenplatten werden als Hufeisen auf- und umgelegt
und mit Nägeln befestigt, die zugleich als Stollen dienen, denn noch ist Winter
oben im Gebirge. Auch die Wallfahrtskirche auf einer hohen Kuppe fehlt nicht,
vom Dragoman, der auf dem Bocke thront und eine selbstgedrehte Zigarette
nach der andern in das Fuchsgesicht steckt, wie immer als Se. Marie bezeichnet.
Auf der schon erwähnten Serpentinenhöhe wird die Szenerie ganz alpenmäßig.
Da rauscht unter uns die Mutschka in einer schmalen Spalte und verliert sich
in zahlreichen Windungen hinter immer höher ansteigenden Bergen, dem noch
schneebedeckten Gipfel des Kolat Dagh.
Der Verkehr auf der Straße ist rege, aber er beschränkt sich auf Menschen,
Pferde und Esel, Wagen fehlen. Alle möglichen Ausgaben der Spezies Koino
sapiens, alte und junge, schön gewachsne und krumme, zerlumpte, buntfarbig be¬
kleidete Reiter und Fußgänger begegnen uns, und nicht wenig von ihnen
scheinen verzweifelte, verwegne Kerls, Desperados, die aus der Erzräubergegend,
dem Lasistangebirge, herüberwechseln und es auf Tabakkarawanen und Händler
mit Geld abgesehen haben. Die Sicherheit auf der Straße ist nicht unbedingt,
und die vielen Gendarmen im Schnürenrock mit Gewehr, Dolch und Pistole
haben durchaus keine Sinekure. Die Reiter sind, meist viel zu groß für ihre
Tiere, für unser an eine gewisse Harmonie der Größenverhältnisse, der An¬
forderungen und der Kräfte gewöhntes Auge kein erfreulicher Anblick, und das
Geklapper des Karrachho, mit dem ein Gendarm auf der steinharten Chaussee
an uns mehrfach vorübersauste, weckte in uns kein freundliches Echo. Auf
beiden Seiten war aber die Freude groß, als wir unsern jungen Generalstabs¬
offizier der Dampferbekanntschaft begegneten, der seine ganze Einrichtung einer
kleinen Karawane von Pferden und Eseln aufgeladen hatte und nun gen Ersingjan
zog, dem Stabsquartier des vierten Korps.
Dshevislik, unser Ziel, ist ein typisch kleinasiatisches Dorf, in dem kesselartig
erweiterten Tal an der Einmündung eines Nebenflüßchens lang ausgezogen an
der Straße liegend. Im landwirtschaftlichen Kleinbetrieb relativ wohlangebaute,
gut bewässerte Felder versprachen gute Ernten, eine Anzahl ordentliche Häuser
deutete auf Wohlstand. Das Wirtshaus war jedoch so entsetzlich, daß wir mit
den von Frau Marengo vorsorglich verpackter Lebensmitteln auf eine Anhöhe
zogen und trotz Februar bei warmer Sonne im Freien unsre Suppe kochten und
das kräftige Frühstück verzehrten. Um uns blühten ja auch schon Alpenveilchen,
Primeln und andre Pflanzen, die sich leider in die vorhandnen botanischen
Kenntnisse nicht einreihen lassen wollten.
Man soll in einem unbekannten Lande nicht böse sein, wenn Hin- und
Rückweg bei einem Ausfluge derselbe sind: die vielen neuen Eindrücke vertiefen
sich, die Erinnerung bleibt lebendiger. Unsre schnelle Rückfahrt verlief darum
anregend genug; freilich äußerte sich die Bewegung auf den schmalen Vordersitz
gefahrbringend und wenig angenehm und nötigte zu öfteren Plätzetausch.
So war denn der gezwungne Aufenthalt in Trapezunt nicht verloren.
Manches ist dort zu sehen und zu studieren; der Ethnograph und der Archäolog
finden Gegenstände genug für ihr Studium, und der harmlose Reisende, zu dessen
Kategorie ich uns rechne, viel Unterhaltung. Freilich, so friedlich und so angenehm
wie uns erscheint Trapezunt nicht immer. Was uns der Vertreter eines Hamburger
Hauses, ein liebenswürdiger Schweizer, von dem Klima, den vielen Stürmen,
der Rheuma befördernden Feuchtigkeit, der Kürze und Mangelhaftigkeit des
Winters und des Frühjahrs und der Sommerhitze erzählte, ist gewiß nicht
lockend. Die Zustände aber, die während des Armeniermassakres im Jahre 1896
geherrscht haben, machen begreiflich, daß z. B. der eine Konsul seine Familie in
seiner Heimat läßt. Bei der Gelegenheit entlud sich der künstlich zu religiösem
Fanatismus angestachelte Brotneid der Mohammedaner gegen die Armenier unter
Duldung, man sagt sogar Anstiftung der Behörden in der Niedermetzelung von
fünfhundert Menschen. Tagelang knallten die Schüsse und erzeugten eine Panik
wie in Baku, wo die Entwicklung der Ereignisse ähnlich gewesen ist; tage¬
lang lagen die Opfer der Volkswut unbeerdigt auf den Straßen. Harmloser
war jetzt freilich das nächtliche, uns zunächst unerklärliche Geknatter in unsrer
Nähe — eine Türkenhochzeit wird mit Flintenschüssen gefeiert.
Der russische Konsul hatte unsre Bedenken über Batna mit der Gegenfrage
entkräftet: Warum wollen Sie nicht fahren? Als am Sonnabend ein Dampfer
der Russischen Dampfschiffahrts- und Handelsgesellschaft eingetroffen war, ließen
wir darum unsre Billette vom Lloyd umschreiben und gingen Nachmittags um
vier Uhr an Bord des Imperator Alexander II. Wieder erledigte sich die Zoll-
und Paßrevision glatt und ohne allzu viel Bakschisch; wir erhielten unsre
Bücher wieder — der Staat des Großherrn war jedenfalls durch die Umsicht
seiner Beamten gerettet — und verstanden uns und unsre Habe in einem Boot.
Da kam der Diener der Pension mit einigen vergessenen sehr intimen Bekleidungs¬
und Toilettestücken nachgelaufen. Unter dem kritischen slroelciiig- einer nicht mehr
ganz jungen aber jung verheirateten Mistreß kletterten wir an Bord. Diese
Dame und ihr Gatte, ein richtiger Beefsteakesser und Flegel, sowie ihr Vater
waren Kajütpassagiere, mit denen wir das zweifelhafte Vergnügen genossen, den
wie auf dem Unsitte eingerichteten Salon teilen zu müssen. Ein Batumscher
Gutsbesitzer, ein mohammedanischer „Fürst", wie er sich dank dem Entgegen¬
kommen der russischen Herren nennen darf, zum Glück völlig europäisiert, hatte
für seine unsichtbare Frau und seine weiblichen Dienstboten ein paar Kabinen
belegt und erschien gelegentlich mit einem Teil der Familie, einem Baby. Bei den
Mahlzeiten saß der Kapitän, wie es sonst, nur nicht auf dem Unsitte, üblich ist,
als Hausherr vor der Tafel. Es war ein sehr angenehmer, Vertrauen erweckender
Mann, dieser Kapitän, schwarzbärtig, hochgewachsen, bestimmt, ruhig. Nur wenn
er auf Rußlands staatliche Organisation und die von ihm schon damals als
höchst unerfreulich gekennzeichneten Zustande in der Marine und auf die Pro¬
tektionswirtschaft, die überall herrscht, zu spreche:: kam, wurde er lebhaft und
ließ es an Offenheit nicht fehlen. Man merkte wohl, daß man es mit einem
tüchtigen Selfmademan zu tun hatte, der gegenüber seinen Untergebnen über
den richtigen Ton der Bestimmtheit verfügte und sicher auch später auf dem
von ihm geführten Schiffe Ordnung gehalten hat. Offiziere und Mannschaften
machten denn auch einen guten Eindruck, und der Dampfer, ein eben renoviertes,
zur Aushilfe eingestelltes Schiff, war reinlich und ordentlich und ließ fast be¬
dauern, daß wir uns ihm nicht von vornherein anvertraut hatten. Sein Deck
war gestopft voll, beherbergte eine Musterkarte verschiedner asiatischer Völker und
Völkchen, Kaukasier, Perser, Sarten und Inder, und fesselte unsre Aufmerksamkeit:
den Toilettekunststücken einiger wohlhabender Passagiere aus Teheran zuzusehen,
war mindestens spaßhaft — ein Einblick in die Julina des uuter seidnem Kciftcm
verborgnen Kleiderprunks.
Als der Alexander II. um Mitternacht den Anker gelichtet hatte, suchten
wir zum letztenmal die Koje auf und hatten die angenehmste Fahrt. Am Morgen
lag Rise vor uns, eine prächtige Gartenstadt mit üppig fruchtbarer Umgebung.
Von diesem Küstenstrich stammen die Kirsche und die Birne, und hier bedecken
noch immer blühende Kulturen von Nußbäumen, Stein- und Kernobst die Vor¬
berge. Wein rankt sich in allen Wäldern und Gärten bis in die Wipfel um
den Baumwuchs. Hart tritt das Lasistangebirge mit seinem Hauptkamm an die
ersten Höhen heran und wirkt durch seine Masse, durch die Schroffheit seiner
Formen, die Rauheit seiner vielfach zerklüfteten Hänge, den Wechsel zwischen
bloßliegenden bunten Urgestein und schneebedeckten Flächen mächtig auf den
Beschauer. Die Heimat der Lasen ist es, die sich im wesentlichen in dem durch
die Tschoroch abgeschnürten Gebirgsland zu nicht gerade vorteilhafter Eigen¬
tümlichkeit entwickelt haben. Durch ihre Sprache, die mit dem Grusinischen,
Mingrelischen und Sucmischen eine zusammenhängende, abgeschlossene Sprcich-
gruppe bildet, als Verwandte der südkaukasischen Stämme legitimiert, sind sie ein
wegen Roheit der Sitten, Grausamkeit und Leidenschaftlichkeit berüchtigtes Räuber¬
volk, das nach spät erfolgter Annahme des Christentums bald genug dem Moham¬
medanismus verfiel und dann in religiösem Fanatismus seinesgleichen suchte.
Einsam zog der Dampfer auf der blauen Flut an diesem großartigsten Teil
der kleinasiatischen Küstenlandschaft, von der Mittagssonne bestrahlt, vorüber
dem in der Ferne auftauchenden Ziel entgegen. Der Pontus, der als „axenos"
verschrien ist, war uns wirklich ein „euxenos", ein gastlicher gewesen. Kein
Mensch vermochte sich so anhaltend prächtigen Wetters zu entsinnen. Was war
uns nun im Lande Kolchis beschieden?
in nächsten Morgen auf dem Wege nach Aork ritt nicht Kapitän Percy
an Lady Elizabeths Seite, sondern der schwedische Graf. Und er
war wirklich ein viel muntrerer und lustigerer Kavalier als der schwer¬
mütige und mißtrauische Harry. Sein Englisch, das er auf die
flotteste Weise mit Französisch und Italienisch vermischte, war so
amüsant und dabei so unwiderstehlich graziös, daß Lady Elizabeth
allmählich zu der Ansicht gelangte, seine Sprache sei die bezauberndste, die sie jemals
gehört hatte. Und wie er erzählen konnte! Nicht plump und grob sich in alle
möglichen geschmacklosen Details vertiefend wie Mylady Sophia, sondern fein und
überlegen das Zweideutige streifend, ohne es jemals zu nennen. Er ließ einen
die Pointe erraten, und man fand, daß man in seiner Gesellschaft selbst witziger
und klüger wurde. Und wie er aussah! Schlank und groß — ebenso groß wie
Harry, aber viel schmächtiger und feiner, mit einer Haltung wie ein junger Prinz,
der gewöhnt ist, überall nur gebeugte Nacken zu treffen; reich gekleidet in Spitzen,
goldnen Geschmeiden und Galons vom Hut bis hinab zu den Stiefeln. Große
und fremde Namen: Venedig, Malta, Cadiz, Madrid, der Kaiser, König Ludwig,
Fürst Morosiin, Monsieur, die Königin von Spanien, der Prinz von Conto —
Namen, die einen Duft vom Mittelmeer, von Rosen, von güldnen Weinranken, von
Hofparsüm, von dem Blut der Arena und der Schlachtfelder allein auf ihren
Schallwellen hertrugen, nannte er ruhig, flüchtig, ohne Prahlerei. Seinen eignen
Namen nannte er selten direkt — aus Lady Sophias Schilderung hätte man den
Eindruck erhalten können, daß er ein faber und affektierter Prahlhans sei — keines¬
wegs! Er war ein wandernder Ritter, ein Märchenprinz, dessen Gürtel, Stiefel-
schaft und Sattelfutteral angefüllt waren mit Heldentaten, die er ausgeführt hatte
"der hatte ausführen sehen, man ahnte sie, sah sie von weitem, doch wurden sie
")ehe zur Betrachtung herbeigezogen. Ebensowenig wie der Rubin — „so groß wie
ein Kiebitzei!" — und die goldne Dose mit König Ludwigs leicht erkennbaren Profil,
die er bei sich trug und benutzte, von der er aber nicht sprach.
Er war blond und frisch, seine Haut war fein, brünett, gleichsam vergoldet
vom Sonnenbrand. Wie Harry Percy trug er sein eignes Haar — lang und hell
und gelockt, und seidenweich fiel es ihm über den Rücken und auf die Brust hinab —
fast bis an den Gürtel. Die Augen waren blau, ungewöhnlich strahlend und warm,
°le Nase gebogen und hoch, der Mund schelmisch und ein wenig spöttisch. Mitten
U dem langen Kinn lächelte ein tiefes Grübchen. Und das Eigentümliche an seinem
äußern war. daß man es nicht vergessen konnte, wenn man es einmal gesehen hatte.
Er hatte die schöne Singstimme seiner Landsleute. Am Morgen, als sie vor
der Abreise aus dem Wirtshause die Hymne für Reisende sangen, hatten sie alle
gestaunt über seine helle, wohltönende Stimme, die alle die andern pfeifend, brummend
oder schwach erscheinen ließ.
Natürlich unterhielt er Lady Elizabeth nicht die ganze Zeit über Madrid und
den König von Frankreich — er hatte ihr auch noch vieles andre zu sagen. Über
sie selbst zum Beispiel — wie oft er von ihr hatte reden hören, als er das erstemal
in England gewesen war, und sie noch ein kleines Mädchen war, wie er sie beklagt
hatte, deren Name in aller Munde war — xauvi-s xstitv orxnslins —, und wie er
mehr als einmal gewünscht hatte, Mylord Ogle zu sein und das Recht zu haben,
Schwert und Lanze zu ihrer Ehre und ihrer Verteidigung tragen zu dürfen.
Ach, Herr Graf — wehrte Lady Elizabeth errötend und mit starkem Herzklopfen
seine Komplimente ab. Ich bin nicht so unbeschützt, wie Ihr glaubt.
Das weiß ich, das weiß ich, Madame — unsre vortreffliche Freundin, Lady
Sophia, hat mir alles erzählt. Er sah mit einem vielsagenden Blick zu Sir Thomas
Thynne hin, der heute ebenfalls zu Pferde war und mit Harry Percy vor ihnen
herritt.
Lady Elizabeth fühlte sich plötzlich wunderbar erleichtert, weil sein vielsagender
Blick, dem ein ebenso vielsagender Seufzer folgte, dem Bräutigam und nicht Harry galt.
Seit dem Augenblick, als Graf Königsmark heute Morgen beim Aufbruch galant
und resolut dos Privilegium erobert hatte, ihr aufs Pferd zu helfen, hatte Harry
kein Wort mit ihr gewechselt. Er hatte daneben gestanden und zugesehen, wie der
Fremde mit tausend Vorsichtsmaßregeln und kleinen Höflichkeitsbeweisen, ehrerbietig,
als sei sie eine regierende Königin, sie in den Sattel placierte — als diese kleine
Zeremonie beendet war, hatte er sich, im stillen über diese „Geschäftigkeit" spöttelnd
und über die Art und Weise, wie Lady Elizabeth es aufnahm, verbittert zurück¬
gezogen und sich zum erstenmal auf der ganzen Reise an Sir Thomas Gesellschaft
genügen lassen. Während der Mittagsrast unter der großen Eiche hatte er sich ihr
— oder dem Schweden — nicht ein einzigesmal genähert. Er hatte sich völlig
Lady Northumberland gewidmet, hatte alle ihre Fragen, die Gegend betreffend, be¬
antwortet: wieviel Meilen sie noch bis York zurückzulegen hätten; ob es nicht gerade
hier in der Nähe dieses Waldes gewesen sei, wo der berüchtigte Jack mit dem
Handschuh, der Straßenräuber, seinem Vater eine Börse geraubt habe, die die Kauf¬
summe für ein ganzes Gut enthalten hatte, usw. Er hatte sich auch Lady Sophia
gegenüber ungewöhnlich galant gezeigt — sie war aufs höchste gekränkt über Königs¬
marks Verrat und machte wahrhaftig kein Hehl daraus —, aber nicht ein einziges¬
mal, auch nicht eine Sekunde hatte Harry nach der Seite hinübergesehen, wo Lady
Elizabeth saß und an einem Kükenknochen knabberte.
Nicht daß sie ihn auch nur im geringsten entbehrt hätte — ach Gott, nein!
Sie hatte wirklich noch nie so prächtige Reisebegleitung gehabt, man hatte ihr noch
nie so galant aufgewartet wie heute. Und doch —
So jung und verhältnismäßig unerfahren, wie Lady Elizabeth war, hatte sie
nichts dagegen, „vielerlei Federn auf ihrem Hute zu befestigen" — wie sich ihre
Cousine in ihrem Ärger pittoresk ausdrückte.
Und wenn es auch nur eine elende Hahnenfeder war — eines armen, kleinen
Pagen erster schüchtern verliebter Blick —, so schmückte sie sich doch fröhlich damit.
Nicht einmal Sir Thomas Thynnes egoistische und leicht zu durchschauerte, berechnete
Courmacherei war ihr von diesen« Standpunkt aus gleichgiltig. Und weil sie so
glücklich war, einen neuen Bewundrer zu gewinnen, hatte sie natürlich keineswegs
die Absicht, die alten aus dem Gesichte zu verlieren.
Harry Percys stumme und höhnisch-übermütige Pflichtvergessenheit war um so
ärgerlicher — und unerklärlicher —, als er ebensogut wie sie wußte, daß die Reise-
gesellschaft des schwedischen Greifen nicht länger als bis zum nächsten Morgen währen
würde. In York trennten sie sich von ihm wie auch von Sir Thomas; Königsmark
sollte nämlich jetzt nach Hull, um dort mit seinem jungen Bruder, Grafen Philipp,
zusammenzutreffen, der dem Wunsche der Familie gemäß in England erzogen wurde.
Also nur diesen einen Tag konnte Lady Elizabeth auf seine unterhaltende und
wirklich lehrreiche Gesellschaft rechnen.
Die Reisenden hatten gehofft, aus dem Walde herauszukommen, ehe es zu
dunkeln begann, aber bisher sahen sie vor sich nichts weiter als unübersehbare Massen
großer Bäume, und die Sonne stand schon niedrig. Oben auf einem Hügel, wo
der Weg eine Biegung machte, sahen sie sie hinter dem Höhenzuge im Westen ver¬
sinken. Die Dunkelheit brach herein.
Gestatten Sie mir, Madame, sagte Königsmark höflich ehrerbietig aber bestimmt.
Er legte seine Hand auf die Zügel des Pferdes.
In demselben Augenblick ritt Harry Percy an ihre andre Seite.
Lady Elizabeth — zum erstenmal heute redete er sie direkt an, und es war
sonderbar, wie ihr das Blut bei dem ersten Laut seiner Stimme zum Herzen strömte.
Lady Elizabeth, es wird spät und kalt. Wollt Ihr nicht in dem Wagen Eurer
Großmutter Platz nehmen?
Einen Augenblick zauderte sie.
Nein, warum das? entgegnete sie dann keck und rücksichtslos. Ich bin doch
wirklich in ärgerer Kälte draußen gewesen, und wir müssen ja bald in York sein.
Harry bat nicht mehr. Aber während der zwei Stunden, die die Reise noch
währte, wich er nicht von ihrer Seite. Er ritt ganz dicht neben ihr, stumm wie
eine Mauer, feindlich wie ein Türke, wachsam wie eine Bulldogge. Sie fühlte sich
sicher in seiner Nähe, ahnte seinen ohnmächtigen Zorn und schwelgte doppelt in
Graf Königsmarks sentimentaler und „instruktiver" Konversation.
L.lehr tus miwQsr ok ins ravs i
viel ikui'ious voräs . . .
Über dem dunkeln, alten Dom stand der Vollmond schon hoch, als Lady Eliza¬
beth Percy mit ihrem Gefolge in das nördliche Stadttor Yorks einritt. Viele von
den Soldaten kannten den Weg zu des „Herzogs Wappen", das zu jener Zeit als
das beste Wirtshaus galt und in einer engen, gewundnen Straße unter den alten
Wällen lag.
Die Stadt war schon zur Ruhe gegangen, nur hier und da schimmerte noch
Licht in einem Giebelfenster, und zuweilen hörte man Stimmen aus einem
Torweg, oder wenn jemand aus einem Wirtshaus kam.
Die Straßen waren schmutzig und rochen schlecht, mit Rinnsteinen in der Mitte,
und so schmal waren sie, daß man nur mit Beschwer zu zweien nebeneinander
^neu konnte.
Draußen vor dem niedrigen Tore, das zu des „Herzogs Wappen" führte,
baumelte trotz dem Mondschein eine schläfrige Laterne unter dem stark vergoldeten
Schild. Als die Reisenden Halt machten, und das Parlamentären mit dem Wirte und
den Stallknechten begann, öffneten sich in den benachbarten Häusern viele Fenster, und
mehrere Köpfe in mehr oder weniger wunderlichen Schlafmützen guckten heraus.
Lady Elizabeth war so müde von ihrem langen Ritt, daß Kapitän. Percy, als
er sie vom Sattel hob, sie wie ein Kind in die Arme nehmen und sie in ihre
Kammer tragen mußte. Sie war so schläfrig, aber doch nicht schläfrig genug, daß
sie nicht gesehen hätte, wie erzürnt Harry noch war.
Harry — begann sie. Sie ließ sich ja immer dazu herab, den ersten Schritt
zu tun.
Er aber — und das machte sie ihm später gekränkt zum Vorwurf — warf
sie auf ihr Bett — ganz wie einen Mehlsack — und ging seiner Wege.
Am nächsten Morgen schlief sie so lange, daß sie nur im halben Negligee, den
Kopf zum Fenster hinausbeugend, Sir Thomas ein Lebewohl zuwinken konnte, der
zum letztenmal seine langen, gelben Zähne in einem liebenswürdigen Grinsen zeigte,
und dem Grafen Königsmark, der — schon zu Pferde — mit einer tiefen Ver¬
neigung die weiße Feder des Hutes über den holprigen Steinen des Stallhofes
schweben ließ.
Fi'-ma Mihir, ins,äÄMs, as vous rsvoir! rief er mit seiner schönen, klang¬
vollen Stimme zu ihr hinauf.
Sie verneigte sich tief mit ihrer hohen Nachtmütze, während sie der Kälte
halber den Pelzkragen dicht unter dem Kinn zusammenhielt.
Ein Bauer bog in das Wirtshaustor ein und verursachte mit seinen vier roten
Ochsen Unruhe und Verwirrung unter den Reitern. Flüche und laute Drohungen,
erhobne Stöcke und Säbel — Henry Percy auf der Treppe nahm, heftig fluchend,
die Partei des Bauern. Lady Elizabeth lehnte sich interessiert mit dem halben Körper
zum Fenster hinaus.
Mylady, warnte Amelia, die hinter ihr stand. Mylady friert in ihrem Hemde
und mit den bloßen Füßen.
Endlich gelangten Sir Thomas und der schwedische Herr mit ihren Begleitern
zum Tore hinaus. Zähneklappernd und lachend in ihrem dünnen Hemde hüpfte
Lady Elizabeth wieder ins Bett hinein und zog schauernd die Knie bis ans Kinn
hinauf. Amelia kam mit ihrem warmen Morgentrunk und plauderte, während sie
ihre Herrin bediente, von dem, was sich gestern Abend zugetragen hatte, und „wie
heiß es unten in der Schenkstube hergegangen war".
Wieso? fragte Lady Elizabeth neugierig mit vollem Munde.
Ja, die Herren hatten natürlich die Karten hervorgeholt und reichlich Bier
und Sekt kommen lassen. Amelia hatte selbst gehört, wie laut sie waren, und heute
Morgen hatte John, der Knecht des Kapitäns, erzählt, daß es einen Augenblick
übel ausgesehen habe, und daß Kapitän Percys Schwert einmal halb aus der Scheide
heraus gewesen sei.
Aber mein Gott! . . . Warum denn nur?
Es hätte nichts mit dem Kartenspiel zu tun gehabt, sagt John. Amelias
Stimme sank Plötzlich zu einem mystisch vertraulichen Flüstern herab. Aber der
fremde Graf habe sich erkühnt, etwas über Mylady zu sagen —
Über mich? murmelte Lady Elizabeth unruhig und verwundert.
Ja, aber er hat es dann später erklärt. John sagt, er könne seine Worte
besser verdrehen als ein Franzose. Es sei ja nur ein Mißverständnis gewesen, aber
Kapitän Henry fängt ja immer gleich Feuer, so leicht wie ein Pulverfaß.
Lady Elizabeth saß sinnend da und schlürfte ihr warmes, gewürztes Bier.
Wenn jemand gezwungen gewesen wäre, mich zu verteidigen, sagte sie nach
einer kleinen Weile überlegen und gereizt, so hätte es doch wohl Sir Thomas sein
müssen.
Ach der! rief Amelia mit ungeheuchelter Geringschätzung aus und sagte dann
ganz offen und erstaunt: Niemand von uns kann begreifen, daß Mylady den
haben will.
Elizabeth Percy errötete, demütig und beschämt unter dem bedauernden Blick
des Mädchens.
Er ist reich, sagte sie keck und bestimmt. Reicher als irgendein andrer in Eng¬
land — nicht mir an Gütern, sondern auch an Geld, an barem Geld. Und Mylady
Northumberland sagt, daß ich Verwendung für alles Geld hätte, was ich bekommen
könnte, um die großen Schlösser wieder aufzubauen.
Das mag wohl sein, sagte Amelia höflich einräumend. Übrigens, fügte sie
tröstend hinzu, ist er wohl uicht viel anders als alle andern, die sehr reich sind.
Nein, räumte Lady Elizabeth mit einem Seufzer ein. Mit Lord Ogle war
es ja auch nicht weit her.
Sie hatte sich niemals Illusionen in bezug auf ihre künftige Ehe gemacht, und
sie hatte es satt, davon reden zu hören. Jetzt war es ja doch endgiltig bestimmt.
Unendlich mehr als der Herr von Longlent und alle seine Geldkisten — Lady Sophia
hatte sie eingehend beschrieben — interessierte es sie in diesem Augenblick, daß Harry
ihretwegen blank gezogen hatte, und was in aller Welt es nur sein konnte, was
der schwedische Graf gesagt hatte. . . .
Ein paar Poststationen südlich von Aork sollten die Damen auf Herrn Wright
stoßen, den Obersten von Seiner Majestät kürzlich errichteter Garde, der, da Kapitän
Percy jetzt nach Alnwick zurückkehren mußte, es übernommen hatte, sie sicher nach
London zu geleiten. Dann allerdings wurde die „große nördliche Landstraße"
weniger einsam, je mehr man sich der Hauptstadt näherte, aber es war doch ge¬
fährlich des Wegs zu ziehn. Und obwohl man nun den Distrikt hinter sich gelassen
hatte, innerhalb dessen der über das ganze Land bekannte Straßenräuber William
Nevison zu hausen pflegte, hatte man noch die Finchleyheide in der Nähe von London
zu durchzieh«, über die kein Mann unbewaffnet zu reiten wagte.
Von dem Augenblick an, wo Königsmark und Sir Thomas jeder seines Weges
geritten waren, hatte sich Lady Elizabeth Percy in ihrem Benehmen Henry Percy
gegenüber rührend demütig gezeigt. So hatte sie auch den Rat befolgt, den sie
gestern verschmäht hatte, und war den ganzen Tag im Wagen ihrer Großmutter
gefahren, hatte halb schlafend, halb träumend dagesessen und über das phantasiert,
was der Graf von ihr gesagt hatte, und was Henry gesagt hatte, und was Henry jetzt
>ager würde. Alle diese unnützen Gedanken, die sie dachte, wenn sie allein war!
Im Laufe des Nachmittags waren sie mit einem zerbrochnen Rade, den Gala¬
wagen bis an die Kalesche mit Kot bespritzt — sie hatten sich in einem Graben
festgefahren und hatten andre Wegefahrcnde um Hilfe bitten müssen —, an einen
Gasthof gelangt, den sie nicht kannten. Jetzt am Nachmittag saßen sie alle gemütlich
und friedlich, ermattet von den Strapazen, um den Kamin im Gastzimmer, während
Harry einen alten, fettigen „Neuigkeitsbrief" vorlas, den er auf dem Gasthofstische
gefunden hatte.
Aber nach einer frühen Abendmahlzeit beschlossen sie weiterzuziehn, um diesen
Reisetag nicht ganz zu vergeuden. Es war Heller Mondschein und stilles Wetter
wie ^ den vorhergehenden Abenden, und die Landstraße bis zur nächsten Raststätte
gut und hart. Zu beiden Seiten des Wegs dehnten sich offne Heideflächen
°us. Lady Northumberland und Lady Sophia saßen wieder allein in dem vordern
^°gen, hinter dem sich die Eskorte in geschlossenem Trupp hielt. Henry Percy
und Lady Elizabeth ritten, von zwei Reitknechten gefolgt, eine Strecke vor den
andern her.
Den ganzen Nachmittag im Wirtshause war Lady Elizabeth so ungewöhnlich
still gewesen, daß die alte Gräfin, die ganz besorgt war wegen dieses ungewohnten
Schweigens, sie gezwungen hatte, eine große Dosis aurum xotabils zu nehmen; auch
jetzt zeigte sie keine Lust zu reden oder zu lachen.
Sie saß ein wenig vornübergebeugt im Sattel, fast ganz verhüllt von dem dunkeln,
faltenreichen Mantel und die spitze Abendmütze fest unterm Kinn zusammengebunden.
Henry Percy saß ebenfalls schweigend da, die Hand in die Seite gestemmt, den
Kopf unter dem breitrandigen Hute in den Nacken geworfen. Ihre Schatten jagten
lang und schweigend neben ihnen her, fielen über den Weg und den Graben und
weit auf die Heide hinaus.
Lady Elizabeth lenkte plötzlich ihr Pferd näher an das ihres Reisegefährten
heran. Sie zog die Hand in dem langen Handschuh aus den Falten des Mantels
und legte sie leise auf die seine. Er wandte sich nach ihr um.
Woran denkst du, Harry? fragte sie leise, ein wenig unsicher und sehr sanft.
Ach — an so mancherlei, Lady Elizabeth.
Du willst mir nie etwas sagen, murmelte sie vorwurfsvoll.
Ich saß nur da und philosophierte und versuchte mich selber zu trösten. Er
wandte ihr das Gesicht halb lächelnd zu, und ihre Augen begegneten sich. Ich dachte
darüber nach, ob es hier wirklich auf der Welt etwas gibt, was wert ist, daß man
sich bis zum Herzzerbrechen darüber grämt. . . . Das Leben währt für uns alle ja
doch nur eine kurze Zeit.
Ja, sagte Lady Elizabeth gedämpft, sich plötzlich seiner Stimmung anpassend,
die sie verstand. Niemand glaubt es natürlich von mir, aber ich denke oft an den
Tod. Wie unsre alte Anna daheim sagt: Tausend Jahre sind wie ein Tag, und
ein Tag ist wie tausend Jahre.
Sie schwiegen beide. Es war, als ob die Worte der Schrift, von ihrer sanften
und andächtigen Stimme gesprochen, noch in ihren Ohren klangen.
Ich habe so oft Menschen sterben sehen, begann er wieder nachdenklich, und
es ist eigentlich wunderbar, wie leicht es ihnen wird. Wenigstens meist. Ich entsinne
mich meines Oheims, des Jarl Algernon — er war ja noch nicht alt und eigentlich
auch nicht gerade lebensmüde, aber . . .
Erzähle mir davon, murmelte Elizabeth leise, als er innehielt.
Ja, Ihr könnt Euch dessen ja nicht mehr entsinnen, aber Ihr wart übrigens
selbst bei dem Ganzen zugegen. Er lag in seinem Bette in spor House — die
Sonne ging unter. Er hatte den Bettvorhang zurückziehen lassen, um noch einmal
hinauszusehen. Ich entsinne mich alles dessen noch so deutlich. Eure Mutter war
mit Euern Muhmen in das Zimmer nebenan gegangen, um sich nach Gräfin North-
umberland umzusehen, die fast bewußtlos war, ganz starr vor Angst und Kummer.
Neben dem Bette saß ich und hielt Euch in meinen Armen, Lady Elizabeth, und
Mylord Jocelyn, Euer Vater, saß auf der andern Seite und hielt die Hand des
Jarls. Sie hatten Euch, obwohl Ihr noch so klein wart, aus Euerm Bette ge¬
nommen, als sie merkten, daß es zu Ende ging, damit er in seiner letzten Stunde
uns alle aus seinem Geschlecht um sich haben solle. Aber Ihr wart ja so klein
und saßet auf meinem Knie und schliefet ein ...
Das hab ich oft getan, Harry. als ich noch klein war.
Ja, oft, sagte er und schwieg wieder.
Nun? fragte sie.
Ja, riß er sich aus seinen Gedanken los, ich habe oft in den letzten Jahren
daran gedacht, was mein Oheim damals zu meinem Vetter Jocelyn sagte: Wenn
ein Mann da liegt und sterben soll — so ungefähr lauteten seine Worte, soweit
ich mich ihrer entsinnen kann —, dann wird das ganze Leben ihm so sonderbar
gleichgiltig. Was bedeutet es jetzt für mich, wer Recht hatte: König Karl oder
Oliver? Und viele, viele Nächte habe ich keinen Schlummer in meine Augen be¬
kommen, nur weil ich darüber nachdachte und darüber grübelte, wem zu folgen
meine Pflicht sei. Ich habe mein Blut für England vergossen — sogar England
ist mir jetzt gleichgiltig. Nur an dich und deine Schwester und den armen Harry
und die da — er sah dich an — denke ich noch, aber bald werdet auch ihr ver¬
gessen sein. Und ein andrer wird die Füße in meine leeren Schuhe stecken und auf
meinem Stuhle sitzen und meinen Namen tragen. ... An so etwas dachte er, während
er dalag, aber nicht mit Bitterkeit. Er wird meine geheimsten Papiere lesen — sagte
er —, meine Kleider und meine Hunde andern schenken, nach eignem Fürgutbefinden
und nach dem Willen andrer mit dem schalten und walten, was mir jederzeit
mein Teuerstes gewesen ist, und worauf ich den größten Wert gelegt habe.
Starb er dann? fragte Lady Elizabeth.
Nein, antwortete Henry. Er lebte noch vier Tage. Als er starb, konnte er
wahrlich nicht mehr soviel sagen.
Lady Elizabeth saß da und dachte. Weshalb nannte er nicht meines Vaters
Mutter? fragte sie.
Das weiß ich nicht, Lady Elizabeth.
Hatte er sie denn nicht lieb?
Wie soll ich denn das wissen können? Ich habe gehört, er hätte seine erste
Gemahlin, Lady Ann, sehr geliebt, aber . . . woher sollte ich so etwas wissen?
Cousine Sophia sagt, entgegnete Lady Elizabeth nachdenklich, daß es in London
keinen Mann gäbe, der sich viel aus seiner Frau machte, und keine Frau, deren
Herz bei ihrem Eheherrn wäre.
Ich zweifle nicht daran, daß Lady Sophia das weiß, sagte Harry mit einem
kurzen und boshaften Lachen.
Lady Elizabeth wußte sehr wohl, daß Harry Lady Sophia nicht leiden konnte,
auch warum er das nicht konnte.
Gerade deswegen verteidigte sie sie immer und führte sie mit Vorliebe an.
Aber heute Abend hatte sie keine Lust, sich zu zanken. Ihr Herz war zu schwer,
wenn sie an die Trennung von ihrem Freunde dachte.
Harry, murmelte sie beklommen, ohne ihn anzusehen.
Ja, Lady Elizabeth.
Wenn wir uns nun morgen trennen — nein, nicht die Miene aufsetzen,
Harry — ich muß doch sprechen dürfen . .. Wenn wir uns nun morgen trennen,
bist du mir dann böse? . . .
Er schwieg.
Sag es mir, Harry, bettelte sie.
Böse, entgegnete er steif. Nein . . . Nein, Lady Elizabeth . . . Dazu habe
ich ja keinen triftigen Grund, nicht das geringste Recht . . .
Das weiß ich selbst, sagte sie ungeduldig. Danach frage ich ja nicht. Bist
du böse, oder bist du es nicht?
Er begegnete ihrem Blick. Ich bin nicht böse, entgegnete er kühl.
Auch nicht verbittert, murmelte sie, oder mißvergnügt, oder . . .
Nichts von alledem, Lady Elizabeth. Ich fteue mich nur, daß ich bald Meder
"ach Hause kommen kann.
Ach, Harry . . . murmelte sie vorwurfsvoll, enttäuscht, mit Tränen in den
Augen. Er lächelte übermütig, halb ironisch zu ihr hinab.
Wenn du es willst, Hcirry, sagte sie schnell — plötzlich außer sich, rasend
über dies Lächeln, das sie verletzte und sie reizte. Wenn du es willst, könntest
dn jetzt — jetzt, jetzt, hörst du! mich überreden, mit dir über die Heide dort zu
entfliehen. Sage nur ein Wort — sie legte ihre Hemd auf seinen Arm —, heb
mich hinüber auf dein Pferd . . .
Er Wandte sich ganz ihr zu, mit einem Paar zusammengezogner, schmaler Augen,
die sie gar nicht wieder erkannte, und einen Augenblick schloß sich seine Hand fest
um die ihre. Ihr Herz stand ganz still. Später sann sie darüber nach, ob sie
schrecklich bange oder furchtbar frech gewesen wäre.
Henry! schrie sie und war ganz entsetzt und erstaunt über den Klang in ihrer
eignen Stimme.
Er nahm seine Hand weg. Und als habe er kein Wort von dem gehört,
was sie gesagt hatte, wandte er sich im Sattel um und erteilte mit lauter und
scharfer Stimme einen belanglosen Befehl einem der Leute hinter ihnen.
Harry! Sie war ebenso bleich geworden wie er, und ihre grauen Augen
blitzten ihn an. Jetzt war sie wieder sie selber und wußte, was sie sagte. Glaubst
du, daß ich es nicht im Ernst meine?
Nein, sagte er barsch. Wenn ich das glaubte, wären wir jetzt schon halb¬
wegs über die Heide, und du brauchtest nicht noch einmal zu fragen. So wie es
jetzt ist ... Freilich hast du mich toll nach dir gemacht, mein Püppchen, aber
-— so wahr ich Henry Percy heiße! — so verrückt bin ich denn doch nicht, daß
ich mich dazu erniedrige, auf offner Landstraße eine unmündige Törin zu entführen,
die nicht zwei Minuten hintereinander weiß, was sie selbst will.
Am nächsten Morgen bei Tagesgrauen ritt Kapitän Percy, ohne sich von
jemand anderen verabschiedet zu haben als von Lady Northumberland und seinem
Stellvertreter Oberst Wright, den sie schon bei ihrer Ankunft im Wirtshaus ange¬
troffen hatten, nach Aork zurück, um von dort seine Reise nach Alnwick fortzusetzen.
Erst als er schon weit weg war, erfuhr Lady Elizabeth beim Erwachen von Amelia,
daß er davongeritten war.
Sie sagte nichts — blieb still im Bett liegen, den Kopf gegen die Arme
gepreßt, ohne sich aufzurichten. Dann aber schloß sie die Augenlider über großen
Tränen, die sie zum erstenmal vor dem Mädchen zu verbergen suchte, schob leise
ihren Morgentrunk von sich und kehrte sich nach der Wand um.
^ wsri^ luouiU'od, svÄncl^Ioris kennt poor
^U Al'kwa Mihir as von« rsvoir, hatte der schwedische Graf gesagt, und seine
Augen hatten noch beredter, noch einschmeichelnder dasselbe gesagt.
Jetzt hatte er sie wieder gesehen. „Das große Vergnügen" traf bei einem
Fest bei dem Jarl von Pembroke ein, der Mitte April seine Tochter, Lady Char¬
lotte Herbert, an Lord Jeffries vermählte.
Lady Elizabeth — oder Lady Ogle, wie sie gewohnt war, hier in London
genannt zu werden — hatte gerade an demselben Abende die Ehre gehabt, Seiner
Majestät vorgestellt zu werden, der mit seiner mait-rosss su titi-g, der Herzogin
von Portsmouth, einer Schwester der Brautmutter, der Hochzeit beiwohnte. Seine
Majestät waren in allergnädigster Laune gewesen, hatten die kleine Erbin auf die
Wange geklopft, ihr Kinn in die Höhe gehoben und geruht zu bemerken, während
er ihr in die Augen sah, daß — wenn sie sich auch lange nicht mit ihrer Mutter
messen könne — sie doch stark an die Wriothesleys erinnere: voulsnr se vivaeitö,
ins, elwrs vawöl ... Er fügte hinzu, von diesen Eigenschaften könne er gar nicht
genug bei Hofe bekommen.
Karl der Zweite stand im Marmorsaal, als Lady Elizabeth Percy ihm vor¬
gestellt wurde. Er war — wie fast immer bei feierlichen Gelegenheiten — in
Weiße Seide mit Gold gekleidet. Eingerahmt von der mächtigen, schwarzen Allonge-
Perücke erschien sein Gesicht mit den großen, scharfen Zügen gelblich und sehr lang.
Aber das Lächeln war einnehmend, lebhaft, und er hatte ein Paar prächtige, strahlende
Augen. Er benahm sich natürlich und einfach auf eine lebhafte und gewinnende
Weise — nicht prahlend oder prätentiös königlich Is. Ludwig der Vierzehnte,
den er im übrigen bewunderte und nachzuahmen suchte, sondern mehr wie sein
Großvater mütterlicherseits, Heinrich der Vierte. Er fragte Lady Elizabeth nach
der Jagd im Hulne Park und sagte, es sei immer sein größter Wunsch gewesen,
einmal in den Cheviot Hills zu jagen, aber das sei zu nahe an Schottland ... zu
nahe dem langweiligen, psalmensingenden Schottland, mein liebes Kind ... Er
machte eine lustige Grimasse, als er Schottland nannte, zuckte die Achseln wie ein
Franzose und fing dann an, ihr die kleinen, sinnreichen, geheimen Schubfächer in
einer lackierten japanischen Schatulle zu zeigen, die der Jarl von Pembroke kürz¬
lich mit großen Kosten durch die Ostindische Kompagnie aus dem Orient hatte
kommen lassen. Schließlich fiel ihm ihre Verlobung mit Tom von den Zehntausend
ein, er neckte sie auf eine etwas grobkörnige Weise und versprach, ihr die Ehre
zu erweisen, sie selbst ins Bett zu legen — xut ner to dha —, so wie er jetzt im
Begriff stehe, es mit Lady Charlotte Herbert zu machen. Lady Elizabeth ver¬
neigte sich und lachte, errötete, zeigte ihre Grübchen in den roten Wangen und
verneigte sich abermals. Sie war dazu erzogen, sich für mindestens ebenso vor¬
nehm zu halten wie einen Stuart — hatte nicht ein Percy von Alnwick Krieg
mit William Wallace geführt, lange bevor Schottland daran dachte, einem Stuart
zu folgen? —, und sie war nicht bange vor dem König. Im Gegenteil, er gefiel
ihr. ^oll? via maul sagte sie ungeniert zu Graf Königsmark, als sie gleich darauf
mit ihm sprach, und dann fragte sie philosophisch, ob Seine Majestät, der jetzt so
heiter und zufrieden aussah, wohl jemals daran denke, daß sein königlicher Herr
Vater vor den Fenstern seines eignen Schlosses geköpft worden sei.
Ja, das mag Gott wissen! sagte Königsmark, der ja zu der intimsten Koterie
in Whitehall gehörte und also nicht daran gewöhnt war, Karl den Zweiten feier¬
lich zu nehmen. „Old Rowley" nannten seine eignen Kavaliere ihn in der Regel.
Ich kann mir denken, daß man sich daran gewöhnen kann, fast alles hier in der
Welt zu vergessen, ausgenommen seine eigne hohe Person und ...
Und? wiederholte Lady Elizabeth und sah ihn unbefangen an, die Hände im
Schoß gefaltet.
Und „sie", antwortete Königsmark leise. In demselben Augenblick war er so
frei, seine Lippen gegen eine ihrer langen, schweren Haarlocken zu pressen, die er
ganz im geheimen in der Hand wog.
Lady Elizabeth wußte nicht, ob sie verpflichtet sei, sich über seine Kühnheit
beleidigt zu fühlen — ob es zum guten Ton gehöre oder nicht. Sie hatte hier
w London ja häufig Damen gesehen, die, ohne die Nase zu rümpfen, sich weit
dreistere Galanterien gefallen ließen, und sie hatte die kleine scherzhafte Vorlesung
noch in frischem Andenken, die ein gewisser Herr Anthony Hamilton, Bruder der
^lehren Herzogin von Grammont, ihr vor nicht gar langer Zeit in Lady Sophias
Gegenwart über xruciss und prSoisusss gehalten hatte. Sie hatte schon entdeckt,
daß „guter Ton" jetzt ein ganz andrer Begriff war, als er es zu ihrer Gro߬
mutter Zeiten gewesen, und obwohl sie noch alle der alten Anna langatmige Vor¬
schriften und Henry Percys scharfe Worte in Erinnerung hatte, so war es wahrhaftig
nicht ihre Absicht, sich lächerlich zu machen, indem sie nicht so war „wie die andern".
So zum Beispiel Lady Charlotte Herbert — noch vorgestern hatte sie ihren
Freundinnen gesagt, niemand solle doch glauben, daß sie sich mit ihrem Lord ver¬
heirate, weil sie ihn andern vorziehe . . . Nein, wenn sie jemand vorzöge, so wäre
es wahrhaftig der hübsche irländische Viscount, der jetzt munter und vergnügt mit
Sir Thomas Thynne Karten spielte und ihn ohne Gewissensbisse rupfte. Und Lady
Charlotte war wirklich nicht melancholisch an ihrem Hochzeitstag — im Gegenteil.
Sie sah strahlend aus, nahm Glückwünsche entgegen, lächelte nach rechts und nach
links, und als der feierliche Augenblick kam, ließ sie sich, ohne auch nur mit den
Wimpern zu zucken, von ihrer Mutter, der Herzogin von Portsmouth, in das
Brautgemach führen. Lady Elizabeth grübelte — ein wenig verzagt — darüber
nach, ob sie selbst sich in einer ähnlichen Situation ebenso kaltblütig benehmen könne,
aber auf alle Fälle: eine feige und lächerliche xruäs sollte sie niemand jemals nennen.
Ohne zu tun, als bemerke sie etwas, ließ sie also Königsmark die Haarlocke
behalten, die er noch in der Hand wog. Aber das gelobte sie sich selbst: wenn
jemand mit ihr über ihre Gefühle für ihren Zukünftigen sprach, so wollte sie
sich wahrlich auch die Gerechtigkeit erzeigen, ebenso aufrichtig zu sein wie Lady
Charlotte. (Fortsetzung folgt)
Cronberg! Nächst dem Abschluß der Algeciraskonferenz ist die Begegnung in
Cronberg zwischen dem Kaiser und dem König von England bisher das wichtigste
Begebnis auf dem Gebiete unsrer auswärtigen Politik in diesem Jahre. Politische
Geschäfte sind in Cronberg weder gemacht noch eingeleitet worden, aber die Zu¬
sammenkunft der beiden Monarchen hat immerhin das nicht gering zu veranschlagende
Ergebnis gehabt, daß alle die Elemente im Auslande, die bisher persönliche Ver¬
stimmungen für ihre politischen Zwecke auszubeuten trachteten, fortan die Rechnung
ohne den Wirt machen werden. Dieses Ergebnis ist, wie gesagt, nicht zu unterschätzen
angesichts der Tatsache, daß die englische Politik die einmal gewonnene Basis der
Entente mit Frankreich nicht aufgeben, mithin eine Annäherung an Deutschland
nur so weit suchen und eingehn wird, als sie erreicht werden kann, ohne in Frankreich
Verstimmung oder Mißtrauen zu erwecken. Schon die freundliche Aufnahme erst
der deutschen Bürgermeister, dann der deutschen Redakteure in England schien die
französische Empfindlichkeit berührt zu haben, namentlich die Aufnahme der Journalisten,
der ein ausgesprochen politischer Zweck zugrunde lag, und die ungeachtet ihrer
längern Dauer an Wärme nur zunahm. Man hat den Eindruck, als ob es schon damals
für die englische Regierung notwendig geworden sei, sowohl der französischen Botschaft
in London gegenüber als auch in Paris zu versichern, daß die engen und ver¬
trauensvollen Beziehungen Englands zu Frankreich durch die höfliche Aufnahme der
deutschen Gäste in keiner Weise berührt würden. Der französische Botschafter in
London, Herr Cambon, der ja auch für Herrn Delcasst der Gewährsmann des
englischen Kriegsbündnisses gewesen ist, scheint in dieser Hinficht besonders argwöhnisch
und eifersüchtig zu sein, zumal nachdem mit dem liberalen Kabinett die Tendenz
in England sichtlich Boden gewonnen hat, die unnötigen Spannungen mit Deutsch¬
land zu begleichen und den deutsch-englischen Beziehungen wieder einen freundschaft¬
lichem Charakter zu geben.
Will sich England einerseits von seinem jetzigen diplomatischen Pivot der englisch-
französischen Entente nicht entfernen, andrerseits bessere Beziehungen zu Deutschland
Pflegen, ohne ein Mißtrauen Frankreichs wachzurufen, von dem Andeutungen schon
in der Pariser Presse zutage traten, so bleibt für das britische Kabinett nur übrig,
allmählich eine Besserung der französisch-deutschen Beziehungen durch Unterstützung der¬
jenigen französischen Politiker herbeizuführen, die dieser Besserung geneigt und deshalb
bereit sind, die Hand dazu zu bieten. Ihre Zahl ist nicht groß, und die Aufgabe
wird darum weder leicht noch in kurzer Zeit zu vollbringen sein. Die große
Mehrzahl der französischen Politiker wünscht die Ententenpolitik nicht in der Richtung
einer Annäherung an Deutschland, sondern im Sinne eines fort und fort zu ver¬
stärkenden Gegensatzes zu Deutschland auszubauen. Dem jetzigen französischen Bot¬
schafter in Berlin, Herrn Bihourd, bezüglich dessen unbegründete Rücktrittsgerüchte
im Umlauf waren, sagt man nach, daß er ein Anhänger der Annäherung an Deutsch¬
land sei, während sein Londoner Kollege, der schon genannte Herr Cambon, die
französisch-englische Entente nur als gegen Deutschland gerichtet auffaßt und für
ihren Ausbau in dieser Richtung eintritt. Solange die Republik in London durch
diesen Botschafter vertreten ist, wird es dem englischen Kabinett somit nicht leicht sein,
die Richtung der Annäherung zu Deutschland einzuschlagen, auch wenn das ganze
Kabinett hierin einmütig wäre. Das ist aber nur mit Abstufungen der Fall. Als
wirklich deutschfreundlich sind in erster Linie der Lord-Kanzler Cockburne und der
Kriegsminister Haldane anzusprechen, der ja auch den deutschen Herbstmanövern auf
Einladung des Kaisers beiwohnen wird. Der Premier selbst, Sir Campbell Banner--
man, hat sich öffentlich wiederholt und namentlich in seiner Programmrede vom
21. Dezember v. I. dahin ausgesprochen, daß er in keinem einzigen der Interessen
beider Völker irgendwelchen Grund zu einer Entfremdung sehen und die kürzlich
erfolgten offiziellen Freundschaftsbezeigungen begrüße. Er dürfte deshalb seinen
vorher genannten Amtskollegen in bezug auf Deutschland am nächsten stehen.
Kühler und ressortmäßig zurückhaltender ist dagegen der Staatssekretär des Aus¬
wärtigen, Sir Edward Grey, der kein Hehl daraus macht, daß die britische Politik
bon dem Einvernehmen mit Frankreich abhängig, mithin für die Annäherung an
Deutschland nur bedingungsweise zu habe« ist. Hierzu kommt, daß dem britischen
Staatssekretär die Erreichung einer Verständigung mit Rußland viel wichtiger er¬
scheinen mag, die hauptsächlich der Sicherstellung Indiens und einer Abmachung
über Zentralasien gelten soll, um auf diese Weise das indische Budget zu entlasten,
gegenwärtig schweben Verhandlungen mit dem Petersburger Kabinett wegen Tibet.
>5se dieser Abschluß erst einmal erfolgt, so wird es für England vielleicht weniger
schwierig sein, ihn auch auf Zentralasien auszudehnen. Es mag das um so eher
gelingen, als Rußland ohnehin für eine Reihe von Jahren kaum in der Lage sein
"?"d, sich auf größere kriegerische Unternehmungen einzulassen, und weil auch ein
etwa vorhandner Wunsch, der Armee durch eine größere Aktion ihren innern Halt
zurückzugeben, doch nur dann ausführbar sein wird, wenn es mit sichrer Aussicht
°uf Erfolg geschehn kann. England wird sich somit sicherlich nicht unfreundlich gegen
Deutschland Verhalten, bevor es des Abschlusses mit Rußland sicher ist, schon aus
dem Grunde, weil sich Rußland schwerlich beeilen würde, mit einem in Schwierigkeiten
mit Deutschland begriffnen England zum Abschluß zu kommen. Später würde sich
die russische Politik darüber klar zu werden haben, ob sie den diplomatischen Waffen¬
stillstand, den England für alle asiatischen Fragen zwischen sich und Rußland anstrebt,
im Sinne eines Anschlusses an die französisch-englische Entente ausbauen soll. Die fran¬
zösische Politik wird voraussichtlich in diesem Sinne bemüht bleiben, mit welchem Er¬
folge — steht dahin, zumal da der jetzige russische Minister des Auswärtigen, Herr von
Jswolsky, auf dem Standpunkt steht, daß es für Rußland notwendig sei, die guten
Beziehungen zu Deutschland zu festigen. Für das Deutsche Reich bestehn also nach
wie vor die Zukunftsfragen: wird die englisch-französische Entente noch enger als
Gegengewicht gegen Deutschland ausgebaut, und gewinnt sie in diesem Sinne Rußlands
Beitritt? Oder — fühlt sie sich mit oder ohne Rußland zu solchem Gegengewicht nicht
stark genug und sucht infolgedessen Deutschland in diese Verständigung aufzunehmen?
Vor dieser Alternative steht die deutsche Politik, daran läßt sich
nichts ändern. Es ist alte Bismarckische Lehre, daß man sich in der Politik
immer auf den schlimmsten Fall einrichten soll. In diesem Sinne äußerte er sich
gegen Moltke im Jahre 1879 in bezug auf die damals im Anschluß an die
russische Kongreßverstimmung stärker hervortretende französische Revanchesttmmung:
„Rechnen wir mit dem schlimmsten Fall, mit dem Überfall, und wir werden uns
nicht verrechnen." Von dieser Linie wird sich keiner seiner Nachfolger ungestraft
entfernen dürfen, namentlich solange nicht, als die Franzosen ängstlich bemüht
bleiben, ein intimeres Verhältnis Deutschlands und Englands nach Möglichkeit zu
verhindern. Weshalb tun sie das wohl? Im Sinne des Friedens schwerlich,
denn der wird durch gute Beziehungen zwischen Deutschland und England auch
für Frankreich am sichersten gewahrt. Diese Richtung der französischen Politik
gilt mithin unbestreitbar weniger dem Wunsche nach Erhaltung des Friedens als
vielmehr der Hoffnung auf Unterstützung im Kriege. Die angebliche Befürchtung
eines deutschen Angriffs, mit der die französische Diplomatie krebsen geht, ist haltlos.
Deutschland hat fünfunddreißig Jahre Frieden gehalten, hat sogar in Augenblicken,
wo das Verhalten Frankreichs dies sehr erschwerte, von seiner Stärke keinen Ge¬
brauch gemacht. Ebenso wie Bismarck es war, ist auch die heutige Leitung der
deutschen Politik von der Unzulässigkeit eines Präventivkrieges durchdrungen. Einen
Angriffskrieg gegen Frankreich hat Deutschland nie geführt, niemand im Deutschen
Reiche wünscht einen Krieg mit Frankreich, wir könnten bei einem solchen, wenn
auch siegreichen Kriege, nichts gewinnen. Wohl aber ist eine französische Politik,
die in der Delcasseschen Richtung weiter läuft und Deutschland mit Hilfe weit
ausgesponnener Erdeulen und Bündnisse einzukreisen trachtet, nicht ohne Gefahr.
Eine Macht wie Deutschland kann es sich auf die Dauer nicht bieten lassen, bei
jedem Schritt außerhalb der Reichsgrenzen auf eine diplomatische Umzäunung zu
stoßen, eines Tags entsteht unvermeidlich die Notwendigkeit, sie zu durchbrechen.
Die französische Diplomatie hatte die Stimmung, die in England gegen
Deutschland entstanden war, geschickt zu nähren verstanden; sie hatte das Ziel, durch
England Frankreichs Geschäfte Deutschland gegenüber besorgen zu lassen, damit das
Deutsche Reich bei einem ihm geschickt aufzuerlegenden Konfliktsfalle es mit beiden
Mächten zu tun bekomme, fest im Auge. Wie weit Delcasst auf diesem Wege
gelangt war oder gelangt zu sein glaubte, kann für jetzt unerörtert bleiben. Das
Ergebnis haben die Cromberger Unterredungen jedenfalls gehabt, daß England nicht
so leicht bereit sein wird, Frankreichs Kriege zu führen, wenn es die Überzeugung
hat, daß Englands Interessen den Krieg nicht erheischen.
Sehen wir auf den Weg zurück, den die deutsch-englischen Beziehungen seit
dem Kabinettswechsel im Dezember des vorigen Jahres eingeschlagen haben, so ist
eine Besserung, ein Aufsteigen des politischen Thermometers über den Nullpunkt
unverkennbar; bis zu welchem Wärmegrade er sich weiter entwickeln wird, hängt
nicht allein von uns ab. Die Entente mit Frankreich ist zum politischen Glaubens¬
satz der Engländer geworden; der Umstand, daß sie diese Annäherung als das
Werk ihres Königs ansehen, das er sein Leben lang sorgfältig hüten wird, hat ihm
eine gewaltige Popularität und einen großen persönlichen Einfluß in England ver¬
schafft, weit über die eigentliche Stellung der Krone in Großbritannien hinaus.
In Anbetracht dieses großen persönlichen Einflusses, den der König in der Politik
seines Landes auch ferner haben wird, ist es im Interesse des Friedens nur er¬
freulich, wenn an Cronberg wenigstens die Hoffnung geknüpft werden darf, daß
das persönliche Verhältnis zwischen den beiden Herrschern fortan zugunsten der
deutsch-englischen Beziehungen in die Wage fallen wird. Im übrigen heißt es
abwarten, die Entwicklung kann nur eine langsame sein. Bemerkenswert erscheint
in diesem Zusammenhange die Notiz in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, die
die alte Forderung eines englischen Gegenbesuchs in Berlin oder Potsdam für irrtüm¬
lich erklärt, da der König seinen offiziellen Gegenbesuch, den er 1904 in Berlin
beabsichtigt habe, auf Wunsch des Kaisers damals in Kiel abgestattet hätte. Nachdem
ans deutscher Seite diese Auffassung anerkannt wurde, ist damit auch der Weg von
Berlin uach London wieder freigemacht. König Eduard kam damals in Begleitung
eines englischen Geschwaders zur Kieler Woche und wurde mit allen Ehren empfangen;
der offizielle Charakter des Besuchs ist also nicht in Abrede zu stellen.
Die Reise des Reichskanzlers von Norderney nach Wilhelmshöhe ist in der
Presse beifällig als ein Zeichen registriert worden, daß Fürst Bülow wieder mit
voller Kraft und Gesundheit in die Leitung der Geschäfte getreten ist. Durch
die Reise „zum Vortrag" ist das für jedermann sinnfällig wahrnehmbar geworden,
an einem reichen Maße von Arbeit hat es während dieser Sommermonate in
Norderney aber wahrlich nicht gefehlt. Wie schon bekannt ist, wird der Reichskanzler
am 29. dieses Monats auch der Taufe in Potsdam beiwohnen und zu diesem Zweck
am 27. von Norderney in Berlin eintreffen. Am 28. gedenkt er einem Ministerrate
z» Präsidieren, und er wird voraussichtlich die Hauptstadt vor der Abreise des Kaisers
nicht verlasse». Es ist keineswegs die Cromberger Begegnung, die die Reise zunächst
veranlaßt hat. Über den Verlauf der mit König Eduard gepflognen Unterredungen
hat der Kaiser den Reichskanzler telegraphisch ausführlich unterrichtet, sodaß Fürst
Bülow schon vor der Abreise von Norderney in voller Kenntnis der Dinge war.
Diese Unterredung hätte einen sofortigen Vortrag in Wilhelmshöhe nicht gefordert,
zumal da der Reichskanzler den Kaiser acht Tage später in Potsdam und Berlin
wiedersieht. Es kann sich mithin nur um Dinge gehandelt haben, die einen acht-
bis zehntägigen Aufschub nicht vertragen. Zu diesen gehört vor allem das Abschieds¬
gesuch des Landwirtschaftsministers, dessen Entscheidung einstweilen ausgesetzt ist,
sodann war auch wohl die Zustimmung des Kaisers für die Borbereitung gesetz¬
geb
Über die viel bestrittnen Verhältnisse, die zum ersten
Auftreten Luthers führten, werden wir jetzt nach einer sehr wichtigen Richtung bis
!"s einzelne hinein unterrichtet durch die aktenmäßige Darstellung von Aloys Schulte
w Bonn: Die Fugger in Rom 1495 bis 1523. Mit Studien zur Geschichte des
"-'Glieder Finanzwesens jener Zeit. Erster Band- Darstellung mit einer Ächtdruck-
wfel (Jakob Fugger nach H. Holbein dem Altern) Zweiter Band: Urkunden mit
^vel Lichtdrucktafeln (römische Fmggermnnzen). Leipzig. Duncker und Humblot 1904.
Da>Z Haus Fugger. das für sein tirolisches Silber (von Schwaz) vor allem in Italien.
zuerst in Mailand und Venedig, seit etwa 1471 auch in Rom einen Markt suchte
und hier spätestens 1495 eine Faktorei im „Bankenviertel" (nicht weit von der
Engelsbrücke) gründete, hier auch einige Jahre durch Jakob Fugger vertreten wurde,
übernahm für die päpstliche Kammer zunächst, wie früher andre Banken, den Transport
der Geldzahlungen aus dem Norden, namentlich aus Deutschland. Bald trat an die
Stelle dieses schwerfälligen und kostspieligen Transports die Zahlung durch den
Wechsel, und da die Kurie das Geld häufig dringend brauchte, noch ehe es wirklich
einkam, so entwickelte sich daraus ein gewinnbringendes Anleihegeschäft, das in der
unerschütterlichen Solidität des Hauses Fugger seine beste Stütze fand. Infolgedessen
wurden die Fugger in die Geldinteressen der Kurie derart verflochten, daß auch die viel¬
fachen Ablässe unter ihrer Vermittlung eingezogen wurden. Von besondern: Interesse
sind deshalb die Kapitel über die großen Ablässe unter Julius dem Zweiten und
Leo dem Zehnten, besonders über den von 1517 zum Neubau der Peterskirche, den
verhängnisvollen Anlaß zum Auftreten Luthers und die damit eng zusammenhängende
Wahl Albrechts von Brandenburg zum Erzbischof von Magdeburg und Mainz, deren
hohe Erhebungskosten aus dem ihm von Rom cmgebotnen Anteil am Ablaß gedeckt
werden sollten, Geschäfte, an denen die Fugger, wie von jeher bekannt war, einen
großen, ja entscheidenden Anteil hatten. Das Anstößige war nicht dieser Ablaß,
sondern die ganze veräußerlichte Buß- und Ablaßpraxts, die aus dem Bedürfnis
frommer Seelen längst ein Geldgeschäft gemacht hatte, und die namentlich Jakob
Fugger kräftig gefördert hat, sehr zum Schaden seiner Kirche (S. 251). Immerhin
wäre ohne diese Ablässe und ohne alle die Geldleistungen der deutschen Kirchen an
Rom die glänzende Blüte der Kunst in Rom, die Unvergängliches geschaffen hat,
gar nicht möglich gewesen, und das mag die billige Entrüstung darüber mildern.
Schulte verschweigt und beschönigt gar nichts (vgl. S. 132 und dazu die schöne
Charakteristik des letzten germanischen Papstes, Hadrians des Sechsten, S. 288 ff.); der
Spektakel, den vor einigen Jahren seine Forschungen erregten, war völlig grundlos;
er gibt sogar die Unvermeidlichkeit der Reformation und die Berechtigung von Huttens
und Luthers scharfen Urteilen über den Ämterschacher der Kurie im Kerne zu. Aber
käuflich waren damals sogar die Kurfürsten, und auch Landesherren, Bischöfe und
Städte (Nürnberg) begehrten Ablässe oder Anteil an Ablässen für besondre, mit
den schwachen regelmäßigen Mitteln der Regierungen nicht zu befriedigende Zwecke,
sodaß der Streit vor allem um den größern oder geringern Anteil der Kurie ging-
Erst allmählich trat auch die moralische Entrüstung dazu. Besonders anziehend sind
auch die Kapitel über die Beziehungen der Fugger zur Kunst und die Stellung
ihrer Bank während der Plünderung Roms 1527, bei der sie mit Beutegeldern
gute Geschäfte machte und ganz unbehelligt blieb. Den Schluß bildet eine glänzende
Charakteristik Jakob Fuggers (geht. 1525; S. 244 ff.), dieses königlichen Kaufmanns,
der 1523 Karl dem Fünften schreiben durfte: „Es liegt am Tage, daß Eure Kaiserliche
Majestät die römische Krone ohne meine Hilfe nicht hätten erlangen können." Die
Ausstattung des Buchs ist vorzüglich.
Über die Bestrebungen der Wohnungs¬
reformer und über die Ansichten ihrer Gegner ist in den Grenzboten von Zeit zu
Zeit berichtet worden. Zu einem kurzen Überblick über den Stand der Debatte
liefert das Buch zweier Sachkundigen reichliches Material: Kleinhans und Miet¬
kaserne, von Dr. Andreas Voigt, Professor, und Paul Geldner, Architekt.
(Berlin, Julius Springer, 1905.) In den siebziger Jahren, als Berlin rasch wuchs,
erwachte in den Eingepferchten die Sehnsucht nach der freien Natur; und die HY°°
gieniker verstärkten mit der Bauspekulation im Bunde die schon vorher durch den
Blick auf England hervorgerufne Landhausbewegung. Schöner und gesünder waren
ja nun die Wohnungen in den neuen Villenvierteln, aber für den Durchschnitt der
Landliebhaber zu teuer, und die zu geringe Nachfrage hatte einen Krach zur Folge,
dessen Ausbruch durch ungesunde Bodenspekulation beschleunigt wurde. Bei dieser
ersten Bewegung war an die Arbeiter nicht gedacht worden. Die zweite faßte vor¬
zugsweise die ärmern Klassen ins Auge und wollte diesen weiträumige gesunde
Wohnungen verschaffen. Sie wurde durch Eberstadts bekanntes Buch, das Voigt
als ganz verfehlt verurteilt, und von den Bodenbesitzreformern hervorgerufen, die
behaupteten, die Ausdehnung der Berliner Baupolizeiverordnnng von 1887, wonach
nur zwei Drittel des Grundstücks bebaut werden durften, auf die Vororte, und die
von 1897, durch die bei einer Tiefe von zweiunddreißig Metern die Bebauung
von drei Vierteln der Fläche gestattet wird, hätten eine vernünftige Bebauung der
Vororte unmöglich gemacht, indem sie zur Errichtung von Mietkasernen auf großen
Häuserblocks mit breiten Straßen zwängen. Die Reformer wollten nnr die Ver¬
kehrsstraßen breit haben, die Wohnstraßen eng, und statt großer Häuserblocks Reihen
kleiner niedriger Häuschen. Und während bis dahin als selbstverständlich gegolten
hatte, daß die weiträumige, allen Anforderungen der Hygiene entsprechende Bau¬
weise die teurere sei, wird jetzt die Behauptung aufgestellt, daß die Mietkaserne die
teuerste Wohnung, das Einfamilienhaus die wohlfeilste sei. Voigt beweist nun mit
genauen Berechnungen der Lufträume, daß die Wohnungen in den Berliner Miet¬
kasernen gesünder sind als die in kleinen und schlechten Häusern, wie solche be¬
sonders in Bremen häufig find, und mit genauen Kostenberechnungen, daß das viel-
stöckige Miethaus der wohlfeilste Bau ist. Mit der Intensität der Ausnutzung der
Bodenfläche nehmen die Kosten ab. Und zwar beruht die Verbilligung auf zwei
Umständen. Erstens wird an Baukosten gespart, wenn eine gewisse Zahl von Wohn¬
räumen in einem Hause vereinigt wird, statt auf viele Häuser verteilt zu werden.
Und zweitens macht der Bodenpreis einen desto geringern Teil der Herstellungs¬
kosten aus, je mehr Stockwerke das Haus hat. Wenn in fünf Baubezirken der
Quadratmeter Boden die folgenden verschiednen Preise hat: 3 Mark, 20 Mark,
42 Mark. 67^ Mark, 99 Mark, die Häuser im ersten Bezirk ein Geschoß haben,
im zweiten zwei usw., im fünften fünf Geschosse, so sind die Herstellungskosten in
allen Bezirken gleich, nämlich, eine bestimmte Güte angenommen, 69 Mark für den
Quadratmeter Wohnfläche, trotzdem der letzte Bodenpreis das dreiunddreißigfache
des ersten ist. Was dann die Spekulation betrifft, so wird bewiesen, daß nicht sie
es ist, die den Boden verteuert, sondern die Konkurrenz der Mieter. Die Leute,
die eine gute Geschäftslage suchen, überbieten einander. So entstehn die hohen
Mieter, und nach diesen wird der Preis berechnet, den der Spekulant oder der
Bauunternehmer für den Baugrund zahlen kann, ohne zu Schaden zu kommen. Die
Behauptung Eberstadts, daß Spekulanten „weite Geländeflächen aufkaufen, um sie
jähre- und jahrzehntelang von der Bebauung auszusperren", beruhe auf völliger
Verkennung der Verhältnisse. Ist ein Baugrund baureif, das heißt ist die Stadt
so weit vorgerückt, daß neue Häuser auf diesem Grunde Aussicht haben, bald be¬
rgen zu werden, so würde nach Voigt der Besitzer, wenn er ihn unbebaut liegen
ließe, die Zinsen verlieren, die ihm die augenblickliche Bebauung oder der Verkauf
°n einen Bauunternehmer brächte. Ist der Baugrund aber noch zu entlegen, so
würde es unwirtschaftlich und unrentabel sein, Häuser darauf zu bauen, die keine
Mieter fänden. Der Spekulant Pflege seinen Gewinn zu realisieren, sobald sich
ihm eine günstige Chance darbietet, um sein Kapital dann wieder in neuem jungem
Gelände anzulegen. Rascher Umsatz, nicht Liegenlassen sei der Grundsatz der Spe¬
kulation, die den Boden nicht verteuere, sondern verbillige. Nicht weniger un-
begründet seien die Klagen über die Bauunternehmer und über die „Hausagrarier".
Die Bauunternehmer seien im allgemeinen solid. Die Zusammenbruche, bei denen
Bauhandwerker durch leichtsinnige oder unerfahrene oder betrügerische Unternehmer
zu Schaden gekommen seien, fielen bei der ungeheuern Menge von Bauten nicht
ins Gewicht. Sie hätten sich auf Berlin und einige andre Großstädte beschränkt;
dergleichen sei dort in neuerer Zeit nicht mehr und in den meisten Großstädten
überhaupt nicht vorgekommen. Man habe also eine kleine Zahl von Vorkommnissen
ungebührlich verallgemeinert. Der normale Gewinn des Hausbesitzers aber betrage
in Berlin ein Prozent des gesamten in dem Gebäude angelegten Kapitals über den
üblichen Hypothekenzins. Diesen Gewinn dürfe man ihm Wohl gönnen — ganz
umsonst werde doch niemand die Mühe und das Risiko auf sich nehmen, das Wohnungs¬
bedürfnis seiner Mitmenschen zu befriedigen, und einen höhern Gewinn durch höhere
als die ortsüblichen Mieter zu erzielen sei unmöglich. Des Verfassers verstorbner
Bruder Paul Voigt hatte in seinem auch in den Grenzboten oft erwähnten Buche
berechnet, daß wenn die Steigerung des Wertes des in Charlottenburg zwischen
1865 und 1897 bebauten Bodens von zwei auf zweihundert Millionen Mark den
Mietern statt den Hausbesitzern zugeflossen wäre, dadurch die Mieter um 41 Pro¬
zent verbilligt worden sein würden. Andreas behauptet: diese 198 Millionen sind
nicht den Mietern entzogen, sondern ohne Beeinträchtigung dieser durch eine doppelte
Ersparnis erzielt worden: Ersparnis an Boden und Ersparnis an Baukosten durch
intensivere Bebauung. „Eine solche wäre unmöglich gewesen, wenn die 33000 Familien
Charlottenburgs alle auf eignem Boden und in eignen Häusern hätten untergebracht
werden sollen." Die Agitation der Bodenbesitzreformer hat den Erfolg gehabt,
daß das Ministerium des Innern die Steuer vom gemeinen Wert den Städten
empfohlen hat. Voigt erklärt das für schlechte Wohnungspolitik. Die Spekulation
sei aufzumuntern, nicht zu fesseln. Die Steuer bedeute eine Strafe für die Nicht-
bebauung, und eine solche sei nach dem oben gesagten nicht gerechtfertigt. Der
Erfolg werde sein, daß der Spekulant mit sechs und mehr Prozent Zinsverlust
rechnet, statt mit vier oder fünf, daß er, um diesen größern Zinsverlust zu ver¬
mindern, länger wartet, ehe er kauft, die Baureife näher herankommen läßt, und daß
in der kürzern Zeit der Bodenpreis raschere und größere Sprünge macht. „Die
Steuer bringt der Stadt finanzielle Einkünfte, die der erste Besitzer zu tragen hat;
der Spekulant entschlüpft ihr." Im letzten Kapitel berichtet Geldner über den
Goethepark genannten neuen Stadtteil Charlottenburgs, mit dem eine Aktiengesell¬
schaft die Möglichkeit demonstrieren wollte, „einen tiefen Baublock zu bebauen, ohne
den bisherigen Typus der Mietkaserne zugrunde zu legen, ohne Hinterhäuser zu
errichten und Höfe vorzusehen, und doch eine gleiche Bodenausnutzung wie bei den
Mietkasernen zu erzielen". Den Baugenossenschaften, bemerkt Geldner, gönnt der
private Unternehmer „volle Bewegungsfreiheit; er weiß, daß sie ihn doch sobald
nicht überflüssig machen und verdrängen werden. Nur eins verlangt er mit Recht:
daß Genossenschaften nicht übermäßig von Staat und Gemeinde begünstigt werden,
sodaß ihm die Konkurrenz erschwert und seine Tätigkeit lahmgelegt wird." Die
Mietkaserne erklärt Voigt nicht etwa für ein Ideal, sondern eben nur für das Wohl¬
feile, und solange wenig bemittelte Leute in der Großstadt wohnen wollen oder
müssen, sind verhältnismäßig billige Wohnungen nötig.
Im großen und ganzen scheint uns Voigt Recht zu haben. Doch machen wir
fünf Vorbehalte. Seltne Ausnahme scheint uns der Bauschwindel nicht zu sein,
auch nicht der Vergangenheit anzugehören, denn die Zeitungen berichten immer
noch recht starke Fälle. Dann sehen wir nicht ein, warum die Kommunen den
Bauspekulanten nicht ein weniges von ihrem Spekulationsgewinn abnehmen sollen;
müssen doch andre Leute jeden mit mühseliger Arbeit verdienten Groschen ver¬
steuern; ob dadurch der Häuserbau erschwert und verteuert wird, wollen wir ab¬
warten. Ferner: Voigt behauptet, daß das Sperren von Baugrund zum Zwecke
der Preissteigerung nicht vorkomme, die Organe der Bodenbesitzreformer aber führen
Fälle dieser Praxis an. Um entscheiden zu können, wer von beiden Recht hat,
wüßte man die fraglichen Fälle an Ort und Stelle untersuchen können. Sodann
wird, wenn auch Voigt in allem einzelnen Recht haben sollte, damit die Ansicht
derer nicht widerlegt, die die Anhäufung der Bevölkerung in Großstädten an sich
und aus vielen andern Gründen außer der Wohnungsnot für ein Unglück halten.
Voigt hat ganz Recht, wenn er meint, gut wohnen ist eben, wie alles gute, teuer,
und: solange es überhaupt Elend gibt, wird es auch Wohnungselend geben. Aber
die schlechte Wohnung in der Großstadt wirkt schlimmer als eine vielleicht noch
schlechtere auf dem Lande, die nur als Schlafstätte benutzt wird, weil die Leute
den ganzen Tag im Freien und in gesunder Luft zubringen. Endlich würde ohne
die Agitation der Gesundheitsapostel und der Bodenbesitzreformer der heutige Wett¬
eifer privater Unternehmer und gemeinnütziger Genossenschaften, auch die ärmern Leute
mit menschenwürdigen Wohnungen zu versorgen, nicht wachgerufen worden sein, wie
wan unter anderm aus der Geschichte einiger Hamburger Arbeiterviertel ersieht, die
W.F.Classen erzählt in seinem sehr lesens- und beherzigenswerten Büchlein:
Großstadtheimat. Beobachtungen zur Naturgeschichte des Großstadtvolks. (Ham¬
burg, Gutenbergverlag Dr. Ernst Schulze, 1906.) Der Verfasser leitet einen Lehr¬
lingsverein, ist Mitarbeiter der Gesellschaft „Volksheim" und kennt seine Hamburger
gründlich. Die Wohnungsfrage ist nicht Hauptgegenstand des Buches, sondern wird
nur gelegentlich erörtert. Es enthält eine Reihe von Skizzen, die unter vier Über¬
schriften gebracht sind: Verlorene Volkskinder, Die Jngend unsre Hoffnung, Lehr¬
lingsvereine, Zur Naturgeschichte des Großstadtvolks.
Der Fluch unsrer Frauenbildung ist der Dilettantismus!
Nicht etwa der der Kunst, dieser Dilettantismus ist bis zu einem gewissen Grade
berechtigt, sogar notwendig und gut. Ernsthafte Dilettanten sind des Künstlers
festes Publikum, denn sie werden ihn meist am besten verstehn. Wer irgendein
Instrument spielt, wird in einer Komposition die Melodienführung und die Harmonik
besser erfassen und das Ganze rascher nachempfinden können, als wer sich nur auf
dus Höre» beschränkt. Wer nach der Natur zeichnet und malt, dem wird ganz
unbewußt der Blick geschärft für Formen, und er wird ein feineres und wahreres
»arbengefuhl erlangen als der, dem sich Linien und Farben nie in praktischer
Wirklichkeit als „Problem" entgegengestellt haben. Und so auf allen Gebieten, je
Mehr man sich mit einer Kunst beschäftigt, desto tiefer wird das Interesse und
auch das Verständnis für sie. Wie anders soll überhaupt die Kunst Gemeingut
werden? vilstwis heißt gern haben: je mehr und selbsttätiger wir die Kunst lieben,
um so besser.
Es gibt aber noch eine andre Art von Dilettantismus, der, bei dem sich das
^isttöi-o auf die eigne Person bezieht. Und diesem Bildungsdilettantismus huldigen
leider viele Frauen häufig und eifrig. Ihnen kommt es nicht auf die Dinge an,
pudern darauf, sich mit einem gewissen Können und Wissen auszustatten, um mit-
^°en zu können, um sich geistig zu schmücken. Es ist zum Beispiel eine traurige
^"tsache, daß Frauen durchschnittlich ihr ganzes Wissen immer aus zweiter Hand
beziehn. Ganz harmlos; sie merken kaum, daß das ja gar kein persönliches
"wissen" gibt! Beispielsweise lesen sie eine — meinetwegen ausgezeichnete —
Kntck über Darwin, über Harnack. über Dante — im Handumdrehn glauben sie
diese Männer ganz genau zu kennen. Sie kennen Darwins „Affentheorie", wissen,
was ungefähr in der Göttlichen Komödie steht — fertig! Bei der nächsten Gelegen¬
heit reden sie von Darwin wie von einem alten Bekannten und im mitleidigen
Tone wissenschaftlichen Besserwissens. Was wird überhaupt heute nicht alles von
Frauen besprochen und beschrieben! Die Hälfte davon ist Dilettantismus. Es
fehlt an Vorkenntnissen, an eignen Gedanken. Und nun die dadurch verbreitete
Talmibildung, die immer bestärkte Neigung, alles nur flüchtig und von außen zu
betrachten und zu betreiben — das gibt einen wahren Rattenkönig von Bildungs-
dilettantismus.
Wir sollten doch endlich mit dieser — leider auch oft in Frauenzeitschriften
gepflegten — Art von Dekorationswissen ausräumen. Abgesehen von der innern
UnWahrhaftigkeit, ist es doch auch so furchtbar langweilig! Warum sind wir so
bescheiden, uns mit dem Urteil andrer, mit Essays und „Studien über —" zu be¬
gnügen? Was liegt daran, ob wir eine wissenschaftliche Größe kennen (auf diese
Weise kennen!) oder nicht? Ein ehrliches „ich weiß darüber nichts" bekundet eine
viel tiefere Geistes- und Charakterbildung als ein oberflächliches, kaum halb durch
eigne Gedanken begründetes Urteil.
Aber es ist den meisten ziemlich schwer beizubringen, daß es zum Beispiel
unendlich bildender ist, sich durch einen einzigen Gesang der Göttlichen Komödie
durchzuarbeiten, als eine Besprechung über die ganze zu lesen. Es ist ja schlie߬
lich zunächst auch nur Dilettantismus, mit den Voraussetzungen unsrer Durchschnitts-
mttdchenbildung Dante zu lesen. Aber solche Bücher können nicht anders, als den
ganzen Menschen zu vertiefen, schon indem sie den Trieb nach gründlicheren Ver¬
ständnis wecken. Und das ist eben der Anfang, das rechte clilsttsro in Kunst und
Literatur zu Pflegen und Früchte davon zu ernten in wirklicher persönlicher Bildung.
In einem ausgezeichneten Aufsatz von Marianne Weber wurde kürzlich er¬
läutert, daß die Frau zunächst befähigt und deshalb auch berufen sei, als Persön¬
lichkeit zu wirken. Wir können aber keine harmonische Persönlichkeit werden ohne
eigenstes Nachdenken, ernstes Wissen. Es braucht gar uicht vielerlei, nicht einmal
viel zu sein; nur gründlich sollte es sein. „Wir müssen unbedingt mit in der
Bildung" — das hetzt die Frau oft von Oberflächlichkeit zu Oberflächlichkeit. Wird
ja einmal das Gefühl wach, daß es doch nichts rechtes ist mit dieser Bildung,
dann heißt es Wohl: „man hat nicht die Zeit." (Aber für Götz Krafft und die
Berliner Range und ähnliche Werke voll Geist und Tiefe haben die allermeisten
Zeit gehabt!) Oder man wird sentimental und holt die Herzenseigenschaften heran,
die eben doch das wichtigste seien und die edle Weiblichkeit ausmachten usw. Dies
ist das schlimmste! Denn dabei verkehrt sich die richtige Behauptung „Die Frau
soll zumeist durch ihre Persönlichkeit wirken" in die Scheinfolgerung: also ist viel
Wissen unnütz. Wie man ja auch immer noch den verständnislosen Satz hören kann:
Mädchen brauchen nicht viel zu lernen.
Gewiß sind die Herzenseigenschaften bei weitem das wichtigste, nicht nur für
die Frau! Aber die werden doch nicht vielen fertig in die Wiege gelegt. Es ge¬
hört zu ihrer Erlangung und Pflege Arbeit, auch und gerade Geistesarbeit. Auch
sie werden schließlich zu Sentimentalität und Dilettantismus, wenn sie nicht ihre
Nahrung aus dem Erdreich wahrer persönlicher Bildung nehmen können.
le politischen Verhältnisse in der österreichisch-ungarischen Monarchie
haben sich in der letzten Zeit so verschlechtert, daß nicht nur die
rein menschliche Teilnahme an dem Schicksale des alten Habs-
bnrgerreichs sondern auch Erwägungen der praktischen Politik
den Gang der Ereignisse an der mittlern Dornen mit gespanntem
Interesse verfolgen lassen. Es wäre verfrüht, das, was sich gegenwärtig in
Lsterreich-Ungarn vollzieht, schon als einen Auflösungsprozeß zu bezeichnen.
Das Reich hat im Laufe der Jahrhunderte wiederholt ähnliche schwere Krisen
glücklich überstanden, und die Möglichkeit einer Wiedergeburt ist sicher nicht
ausgeschlossen, aber nur ein geradezu wunderbares Zusammentreffen persönlicher
Tüchtigkeit der Regierenden mit außerordentlich günstigen äußern Verhältnissen
vermag noch die Katastrophe zu verhindern und den Pessimismus zuschanden
Zu machen, der aus dem gegenwärtigen Chaos schon die Keime neuer Staaten¬
bildungen sich entwickeln sieht.
Die staatsrechtliche Grundlage der Monarchie bildet bekanntlich die Prag¬
matische Sanktion vom Jahre 1723, die die Thronfolge in den Habsburgischen
Ländern regelte und zugleich diese als unteilbar erklärte. Der ungarische
Reichstag hatte in dem genannten Jahre diesem Grundgesetze zugestimmt,
jedoch unter Aufrechterhaltung der sonstigen staatsrechtlichen Selbständigkeit
Ungarns, sodaß dieses mit den übrigen Habsburgischen Ländern nur durch die
Person des Herrschers und den Zweck der Verteidigung und der Aufrechter¬
haltung der gemeinsamen Sicherheit verbunden war. Dieser Zweck setzte die
einheitliche Leitung der auswärtigen Politik und des Kriegswesens voraus, und
diese Gemeinsamkeit der beiden Reichshälften wurde bis auf die jüngste Zeit
auch von der ungarischen Seite niemals bestritten, sondern im Gegenteil in
dem ungarischen Ausgleichsgesetze vom Jahre 1867 vom ungarischen Reichs¬
tage feierlich anerkannt. Schon im achtzehnten Jahrhundert reichte jedoch die
auf die auswärtige Politik und das Kriegswesen beschränkte Gemeinsamkeit
zur Befriedigung des Gesamtstaatszweckes nicht mehr aus; in demselben Maße
aber, wie die Habsburger diese Gemeinsamkeit zu erweitern suchten, hielt das
Magyarentum an der staatsrechtlichen Selbständigkeit Ungarns fest, und aus
diesen gegensätzlichen Bestrebungen entwickelten sich schon unter Joseph dem
Zweiten schwere Verfassungskämpfe, die im Jahre 1848 zum Ausbruche der
Revolution und schließlich, 1867, zu einem Vergleiche führten, worin die sich
aus der Pragmatischen Sanktion ergebende Gemeinsamkeit der auswärtigen
Politik, des Kriegswesens und der damit verbundnen Finanzgebarung zwar
neuerdings ausdrücklich anerkannt, die Erweiterung der Gemeinsamkeit auf
wirtschaftliche Angelegenheiten jedoch der Einsicht der Gesetzgebungen der beiden
Reichshälften überlassen wurde. Der auf Grund dieser Vereinbarungen ab¬
geschlossene österreichisch-ungarische Ausgleich bestand mithin aus zwei Teilen:
der eine handelte von den dauernd als gemeinsam erklärten Angelegenheiten:
der Leitung der auswärtigen Politik, d. h. der „diplomatischen und der
kommerziellen Vertretung des Reiches gegenüber dem Auslande", der einheit¬
lichen Leitung des Kriegswesens mit Ausnahme der Rekrutenbewilligung, der
Feststellung des Wehrsystems und der Dislozierung des Heeres und drittens
von dem Reichsfinanzwesen, d. h. der Gebarung der von den beiden Reichs¬
hälften für gemeinsame Zwecke bewilligten Gelder. Der Reichsgedanke blieb
also auch in der Verfassung von 1867 auf diese drei gemeinsamen Zwecke
beschränkt, er kam jedoch sowohl in dem österreichischen wie in dem ungarischen
Ausglcichsgcsetze zum klaren und unzweifelhaften Ausdruck, indem in beiden
Gesetzen ausdrücklich vom „Reiche" und von einem „gemeinsamen Ministerium"
und „seinen Mitgliedern" die Rede ist. Dem entsprachen auch die Titulaturen:
kais. königl. Regierung, Reichskriegsminister und Reichsfinanzminister.
Wie erwähnt worden ist, hatte jedoch die Krone im wohlverstandnen
gesamtstaatlichen Interesse eine Erweiterung der gemeinsamen Angelegenheiten
angestrebt, und der ungarische Reichstag gab insofern nach, als er zugestand,
daß „noch andre Angelegenheiten, deren Gemeinsamkeit zwar nicht aus der
Pragmatischen Sanktion fließt, teils aus politischen Rücksichten, teils wegen
des Zusammenfallens der Interessen beider Teile zweckmüßiger im gemeinsamen
Einvernehmen als streng gesondert erledigt werden können". Zu diesen von
der österreichischen und von der ungarischen Gesetzgebung nach von Zeit zu Zeit
zu vereinbarenden gleichen Grundsätzen zu behandelnden Angelegenheiten wurden
gerechnet: erstens die Feststellung des Wehrsystems, zweitens die Gesetzgebung
betreffend das Zollwesen, das Münzwesen, den Viehverkehr, die indirekten
Steuern und die Eisenbahnen, die die beiderseitigen Interessen berühren, alles
das im Rahmen eines Zoll- und Handelsbündnisses, drittens die Be¬
streitung der gemeinsamen Ausgaben. Die Verständigung betreffend das Wehr-
system erfolgte bis zum Jahre 1898 von zehn zu zehn Jahren, desgleichen
die Erneuerung des Zoll- und Handelsbündnisses; über die Bestreitung der
gemeinsamen Ausgaben wurde bestimmt, daß das Neinerträgnis der Zollein¬
nahmen nicht gesondert zu verrechnen, sondern als gemeinsame Zolleinnahme
an den Reichsfinanzminister abzuliefern, der noch nicht dadurch gedeckte Rest
der gemeinsamen Ausgaben aber von den beiden Reichshälften in einem Ver¬
hältnis zu decken sei, das zwischen beiden Gesetzgebungen ebenfalls von zehn
zu zehn Jahren vereinbart werden solle. Die erste dieser Vereinbarungen
lautete dahin, daß Österreich 70 und Ungarn 30 Prozent zu dem durch die
Zolleinnahmen nicht gedeckten gemeinsamen Erfordernis beisteuern solle.
Die Vorteile, die aus diesen Abmachungen Ungarn erwuchsen, waren
außerordentlich. Die Gemeinsamkeit des Münz- und zum Teil auch des
Kreditwesens gab nicht nur dem öffentlichen Kredit Ungarns erst eine feste
Grundlage, sondern förderte auch insofern die wirtschaftliche Entwicklung Ungarns,
als die Einrichtung der gemeinsamen Bank dem ungarischen Hypothekarkredit
weit mehr Nutzen als dem österreichischen brachte, da dieser seine Befriedigung
weitaus zu dem größten Teile bei eignen österreichischen Instituten fand; das
Quotenverhältnis von 30 zu 70 mochte wohl ursprünglich der beiderseitigen
Leistungsfähigkeit entsprechen, später war das jedoch nicht mehr der Fall, ab¬
gesehen davon wurde es aber noch durch jene Bestimmung wesentlich zugunsten
Ungarns verschoben, wonach das Reinerträgnis der Zolleinnahmen in Bausch
und Bogen der gemeinsamen Reichskasse zugeführt wurde. Die jährliche»
Zolleinnahmen Österreichs betrugen in den letzten dreißig Jahren durchschnitt¬
lich 84, die Ungarns 16 Prozent. Berücksichtigt man nun, daß ein Teil der
österreichischen Zolleinnahmen für nach Ungarn bestimmte Durchfuhrgüter ein¬
genommen wurde, so stellt sich nach den vorliegenden Berechnungen die öster¬
reichische Zolleinnahme auf 81, die ungarische auf 19 Prozent. Österreich
deckte also von einem bedeutenden Teil der gemeinsamen Ausgaben nicht 70,
sondern 81 Prozent.
Alle diese Vorteile für Ungarn vergrößerten sich aber im Laufe der
Jahre noch infolge der ganz verschiednen Beschaffenheit des ungarischen Reichs¬
tags und des österreichischen Reichsrath. Jener war eine national durchaus
gleichartige Körperschaft, da die Magyaren der ungarischen Verfassung von
vornherein einen streng nationalen Charakter aufgeprägt hatten und ihn auch
aufrechterhalten konnten, weil die Nichtmagyaren fast gar keine politische
Organisation, vor allem aber keinen Adel hatten; der österreichische Neichsrat
hingegen war von Anbeginn an durch nationale Spaltungen zerrüttet und ge¬
schwächt. Gewiß hat die Krone niemals auf der Höhe der Aufgabe gestanden,
°le ihr als Mittler zwischen den beiden Reichshälften und als Wahrer der
Reichseinheit zugefallen war; aber es war jedenfalls menschlich begreiflich,
sie, zwischen den starken ungarischen Reichstag und den schwachen öster¬
reichischen Reichsrat gestellt, bei'allen Konflikten zwischen den beiden Reichs-
Hälften immer mehr die Neigung zeigte, die Wünsche des Starken auf Kosten
des Schwachen zu befriedigen. Darauf ist es auch zurückzuführen, daß sich
Ungarn besonders im Hinblick auf seiue Verkehrs- und Jndustriepolitik nicht
an seine mit Österreich getroffnen Abmachungen halten zu müssen glaubte,
und in demselben Augenblick, wo es von Osterreich wesentliche Tarifbegün-
stigungen forderte und auch erreichte, eine der österreichischen Industrie feind¬
liche Tarifpolitik einschlug und österreichische Jndustrieprodukte immer mehr
von öffentlichen Lieferungen in Ungarn ausschloß, um eine eigne vater¬
ländische ungarische Industrie aufziehen zu können. Auch für dieses Vorhaben
war der Ausgleich ganz günstig, hatte man doch vergessen, auch die gewerb¬
liche und die sozialpolitische Gesetzgebung nach denselben Grundsätzen zu ordnen,
sodaß es Ungarn möglich war, durch eine von der österreichischen verschiedne
Gesetzgebung betreffend den Patent- und Musterschutz die österreichische Industrie
arg zu übervorteilen und durch fast völlige Untätigkeit auf sozialpolitischen
Gebiete die Gestehungskosten der ungarischen Industrie weit niedriger zu halten
als die der österreichischen.
So hatte Graf Julius Andrassy nicht ganz Unrecht, als er seinen Lands¬
leuten die Vorzüge des Ausgleichs von 1867 mit den Worten begreiflich
machte: „Der Ausgleich gibt uns 70 Prozent Rechte und belastet uns nur
mit 30 Prozent Pflichten: er ist ein glänzendes Geschüft, wie man es sonst
nur mit Südseeinsulanern abzuschließen pflegt, denen man echte Perlen für
böhmische Granaten abtauscht." Trotz der großen Vorteile aber, die Ungarn
aus dieser Gemeinschaft mit Osterreich zog, kam in Ungarn jene Bewegung
nicht zum Stillstande, die auf die vollständige wirtschaftliche und politische
Unabhängigkeit des Landes zielte. Deal, der eigentliche Schöpfer des Aus¬
gleichs, war sicher von der Überzeugung durchdrungen gewesen, daß sein Werk
ein abschließender Akt in der staatsrechtlichen Entwicklung Ungarns sei, jedoch
noch bei seinen Lebzeiten tauchten schon andre Ansichten auf, und zwar nicht
nur im Schoße der sogenannten Opposition von 1848, sondern in der Re¬
gierungspartei selbst. Oppositionelle und Minister vertraten sehr bald die
Ansicht, daß mit dem Ausgleich von 1867 die verfassungsrechtliche Entwicklung
Ungarns nicht abgeschlossen habe, sondern daß er nur der Nahmen sei, worin
sich Ungarn erst zur vollen Selbständigkeit entwickeln solle. Hauptsächlich von
der Opposition genährt, von der Regierungspartei aber stillschweigend gefördert
bewegten sich diese Bestrebungen in drei Richtungen: erstens in der der Durch¬
brechung des Reichsgedankens, zweitens in der der Untergrabung der Einheit¬
lichkeit der Armee und drittens in der der allmählichen Auflösung jeder wirt¬
schaftlichen Gemeinsamkeit.
Schon Ende des Jahres 1868, also kaum ein Jahr nach dem Abschlüsse
des Ausgleichs, konnte der damalige ungarische Ministerpräsident im Reichs¬
tage mitteilen, daß die „Kaiserl. königl. österreichisch-ungarische Monarchie"
in eine „Kaiserl. und königl. österreichisch-ungarische Monarchie" umgewandelt
Worden sei, und so dauerte es denn auch nicht lange, daß auch bei der Armee,
bei den Hofchargen und bei sämtlichen gemeinsamen Beamten diese Titel¬
änderung vollzogen wurde, die an die Stelle Österreich-Ungarns ein „Öster¬
reich und Ungarn" setzte. Der wichtigste Fortschritt erfolgte aber durch die
Art und Weise, wie die Landwehr in beiden Reichshälsten organisiert wurde.
Im Oktober 1870 hatte der damalige Führer der Opposition im ungarischen
Reichstage, Koloman Tisza, die Errichtung einer eignen ungarischen Armee
beantragt. Ein solcher Plan stand im Widerspruche mit der erst vor drei
Jahren feierlich beschworner Verfassung, der Antrag Tiszas wurde jedoch von
der Regierungspartei nur sehr matt bekämpft und erst abgelehnt, nachdem sich
der damalige ungarische Ministerpräsident Graf Andrassy dafür verbürgt hatte,
daß die Ausgestaltung der Organisation der Landwehr den Wünschen der
Nation vollkommen entsprechen werde. Und das geschah auch. Nach dem
Ausglcichsgesetze gehörten von militärischen Dingen nur die Feststellung des
Wehrsystems, die Rekrutenbewilligung, die Dislokation und die Verpflegung
in den Wirkungskreis der Gesetzgebungen der beiden Neichshülften. Gegen
den Rat des Erzherzogs Albrecht wurde nun dieser Wirkungskreis dadurch
erweitert, daß bei der Organisation der Landwehr diese von vornherein in
eine österreichische und eine ungarische geschieden, ihre Verwaltung den beiden
Landesverteidigungsministern unterstellt und die direkte Rekrutenaushebung zur
Landwehr zugelassen wurde, ausschließlich mit Rücksicht auf die Magyaren,
die wenigstens in ihrer Landwehr eine eigne nationale Armee besitzen wollten,
die nicht dem gemeinsamen Monarchen, sondern nur dem Könige von Ungarn
den Eid der Treue schwur. Damit war der Keim zur Zertrümmerung der
gemeinsamen Armee schon gelegt; hatte doch die ungarische Landwehr (Honved)
von Anfang an magyarisches Kommando und wurde in streng national magya¬
rischem Geiste gedrillt.
Das lag durchaus nicht im Interesse der Pflege des Reichsgedankens,
der übrigens bald auch unmittelbar angegriffen wurde. Schon bei dem
Wechsel in der Leitung des Neichsfinanzministeriums im Jahre 1886 wurde
Freiherr von Kallay nicht mehr zum „Neichsfinanzminister", sondern nur zum
gemeinsamen Finanzminister ernannt. Das war durchaus entgegen der Ver¬
fassung von 1867, die den Begriff des „Reichs" sehr wohl kannte und zur
Besorgung seiner Angelegenheiten ein aus den drei Reichsministern bestehendes
gemeinsames Ministerium eingesetzt hatte. — Noch wagte man allerdings
'"ehe, die Institution des gemeinsamen Ministeriums selbst sowie den Neichs-
charcckter des Kriegsministeriums und den des Ministers des Auswärtigen
als diplomatischen Repräsentanten des Gesamtstaats anzugreifen, aber eine
Bresche schlug man wenigstens auch hier. Nach dem Paragraphen 3 des
ungarischen Ausgleichsgesetzes war die Leitung der auswärtigen Angelegen¬
heiten ausschließlich Sache des Ministers des Äußern, der sich darüber mit
den beiden Regierungen im Einverständnis zu halten hatte und allein zur
Abgabe offizieller Äußerungen berechtigt war. Als nun im Jahre 1895 der
damalige ungarische Ministerpräsident Baron Banffy im ungarischen Abge¬
ordnetenhause in einer auswärtigen Angelegenheit eine Erklärung abgab, ohne
hierzu von dem damaligen Minister des Äußern, Grafen Kalnoky, autorisiert
zu sein, erklärte dieser nur dann im Amte bleiben zu können, wenn sichere
Garantien gegen die Wiederholung solcher verfassungswidrigen Eingriffe in
den Wirkungskreis des Ministeriums des Äußern gegeben würden. Baron
Banffy zeigte hierzu jedoch nicht die mindeste Lust, und Graf Kalnoky gab
seine Entlassung in der Hoffnung, daß es durch die Ausscheidung des Persön¬
lichen aus der Krise möglich sein werde, die im Interesse der Stetigkeit und
der Einheitlichkeit der auswärtigen Politik notwendigen Garantien zu erhalten.
Das offiziöse Fremdenblatt schrieb damals: „Die ruhende Achse, um die
bisher die Geschicke der Monarchie in ruhigen Bahnen sich bewegen konnten,
ist in die Kämpfe der Parteien gezogen worden, und niemand weiß, wie der
Wiederkehr solcher Erschütterungen zu begegnen sei. Graf Kalnoky hat einen
Curtiussprung unternommen. Mit seiner Person wollte er die Krisen be¬
schwören, die in der letzten Zeit immer von neuem ausbrachen. Aber wir
fürchten sehr, es ist ihm nicht gelungen, den Schlund zu schließen, aus dem
sie emporgestiegen sind." Ging daraus einerseits hervor, daß die Bemühungen
der Magyaren, die Stellung des Ministers des Auswärtigen hinabzudrücken,
schon ältern Datums waren, so bestätigte es sich andrerseits, daß der Nach¬
folger des Grafen Kalnoky, Graf Goluchowski, die Banffysche Auffassung von
der Kompetenz der ungarischen Regierung in auswärtigen Angelegenheiten
ohne weiteres acceptierte. Unmittelbare Folgen hatte diese Verschiebung der
Kompetenzen allerdings nicht, denn es ist eine alte und erprobte Taktik
ungarischer Staatsmänner, neuerworbne Rechte sich erst theoretisch einbürgern
zu lassen, bevor sie sie im Geiste der ungarischen Unabhängigkeitsidee aus¬
nützen.
Nicht minder zielbewußt strebten die Magyaren endlich der allmählichen
Wiederauflösung jeder wirtschaftlichen Gemeinsamkeit mit Österreich zu. Während
die ungarischen Regierungen einerseits unter Mißachtung der mit Österreich
geschlossenen Verträge der Einfuhr österreichischer Jndustrieprodukte nach Ungarn
entgegenarbeiteten, waren sie andrerseits mit Erfolg bestrebt, den Kreis jener
Angelegenheiten, die nach gemeinsam festzustellenden Grundsätzen behandelt
werden sollten, immer mehr einzuengen, sofern das natürlich ihren Interessen
entsprach. Es ist schon erwähnt worden, daß Österreich dadurch über Gebühr
zu der Bestreitung der gemeinsamen Ausgaben herangezogen wurde, daß der
Reinertrag der Zölle pauschaliter an die Reichskasse abgeliefert wurde. Eine
wenn auch nur kleine Entschädigung dafür lag für Österreich ursprünglich in
der Bestimmung, daß die Ausfuhrvergütung für Bier, Branntwein und Zucker,
also hauptsächlich österreichischer Exportartikel, aus dem Ertrage der gemein¬
samen Zölle zu bestreiten sei, wodurch Österreich jährlich etwa 1,16 Millionen
Gulden profitierte. So geringfügig diese Kompensation war, Ungarn setzte
es schon im Jahre 1877 durch, daß diese Rückvergütungen nicht mehr aus
den Zolleinnahmen, sondern von den beiden Neichshälften nach Maßgabe der
Erzeugung in beiden Ländern bestritten wurden. Abgesehen davon, daß
Osterreich dadurch geschädigt wurde, wurde dadurch auch die kaum gewonnene
Gemeinsamkeit der Regelung der indirekten Abgaben wieder gestört. Dasselbe
gilt von der ungarischen Jndustrieförderungspolitik, der EinHebung einer
statistischen Gebühr auf österreichische Waren an der ungarischen Grenze und
der Donautransportsteuer, durchweg Maßregeln, die mit der Verfassung von
1867 im Widerspruch standen und das deutliche Bestreben der ungarischen
Regierungen verrieten, die Gemeinsamkeit überall dort aufzulösen, wo sie dem
vermeintlichen Interesse Ungarns nicht entsprach.
Wie der Tropfen den Stein höhlt, so hatte die ungarische Unabhängig¬
keitsbewegung im Verlaufe von dreißig Jahren nahezu unbemerkt so manches
wertvolle Stück der Gemeinsamkeit hinweggespült, aber die Entwicklung dieses
Prozesses beschleunigte sich zusehends, als es Ende der neunziger Jahre zur
dritten Erneuerung des wirtschaftlichen Ausgleichs zwischen beiden Neichs¬
hälften kommen sollte. Diesseits wie jenseits hatten sich die Verhältnisse der
Erhaltung der Gemeinsamkeit recht ungünstig gestaltet. In Österreich hatte
sich der Bevölkerung, besonders der deutschen, eine tiefe Unzufriedenheit über
die unverhältnismäßig schweren Lasten bemächtigt, die der Ausgleich mit Ungarn
Österreich aufbürdete. „Während der Dauer des Zoll- und Handelsbündnisfes
— so heißt es in einer Denkschrift des niederösterreichischen Gewerbevereins
aus jener Zeit — hat Ungarn den Löwenanteil der wirtschaftlichen Erfolge
davongetragen, während Österreich gerade in derselben Zeit die Früchte jahr¬
hundertelanger Beziehungen mit Ungarn der Gefahr einer langsamen Ab-
bröcklung ausgesetzt sieht." Hier und da hörte man auch schon den Ruf:
"Los von Ungarn!" Praktisch äußerte sich jedoch diese tiefe Verstimmung
vorerst nur in dem Bestreben, bei der bevorstehenden Erneuerung des wirt¬
schaftlichen Ausgleichs bessere Bedingungen für Österreich zu erlangen. Das
Ministerium Badeni hatte jedoch nicht die Fähigkeit und die Kraft, der
ungarischen Regierung einige Vorteile abzugewinnen, und so wurde die Er¬
neuerung des Ausgleichs unter Bedingungen vereinbart, die im österreichischen
Abgeordnetenhause auf den heftigsten Widerstand stoßen mußten. Allerdings
^igten sich die alten Parteien der Rechten geneigt, die Ausgleichsvorlagen
bewilligen, aber die Rechte hatte nicht mehr die Majorität, und die Jung¬
tschechen erklärten, nur dann die Regierung unterstützen zu wollen, wenn diese
^e Einführung der innern tschechischen Amtssprache in Böhmen und in
Mührer verfügen würde. Dem Ministerium Badeni blieb kaum eine andre
Wahl, als dieses Angebot anzunehmen. Die bekannten Badenischen Sprachen¬
verordnungen erschienen, riefen aber in der deutschen Bevölkerung eine Er¬
regung hervor, die die deutschen Parteien im Abgeordnetenhause bestimmte,
durch Obstruktion die gesamte Gesetzgebung zum Stillstand zu bringen. Die
parlamentarische Erledigung des Banffy-Badenischen Ausgleichs war damit un¬
möglich geworden, eine Folge davon war aber eine weitere Lockerung der
Gemeinsamkeit.
Wohl wurde der Ausgleich erneuert, jedoch nicht unter Mitwirkung des
österreichischen Parlaments, sondern mit Hilfe des kaiserlichen Notverordnungs¬
rechts; diesen konstitutionellen Mangel benützte aber der ungarische Reichs¬
tag, zu erklären, daß unter diesen Verhältnissen von einer Erneuerung des
wirtschaftlichen Ausgleichs, wie sie die Gesetze von 1867 vorsehen, nicht die
Rede sein könne; da nämlich in Österreich die parlamentarische Genehmigung
hierzu nicht zu erlangen sei, trete automatisch die wirtschaftliche Selbständigkeit
Ungarns wieder in Kraft, jedoch sei Ungarn bereit, sich bis Ende 1917 an
die Banffy-Badenischen Vereinbarungen zu halten, solange Österreich dasselbe
tue. Theoretisch war damit schon die wirtschaftliche Trennung der beiden
Reichshälften ausgesprochen, beruhte die wirtschaftliche Gemeinsamkeit doch
nicht mehr auf dem Verzichte der beiden Reichshälften auf die handelspolitische
Selbständigkeit, sondern nur mehr auf einem Reziprozitütsverhültnis, das
jederzeit von dem einen oder von dem andern Teile gelöst werden konnte.
Mittlerweile hatten aber die Verhältnisse in Ungarn eine Wendung genommen,
die für die Reichsverfassung das Schlimmste befürchten ließ.
In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre war Franz Kossuth, der Sohn
Ludwig Kossuths, nach Ungarn zurückgekehrt und sofort als Kandidat der Un¬
abhängigkeitspartei zum Abgeordneten gewählt worden. Die Partei hatte in ihm
einen Führer gewonnen, der wohl nicht durch besondre politische Befähigung
hervorragte, durch seinen Namen allein aber in der magyarischen Bevölkerung
die Erinnerungen an die Revolution des Jahres 1848 weckte und dadurch der
Unabhängigkeitsbewegung neue Schwungkraft verlieh. Die Partei gewann zu¬
sehends an Macht und Einfluß im Lande, und ihre Aussichten wuchsen noch,
als mit dem Sturze des Ministeriums Banffy der einzige Führer der alten
liberalen Partei gefallen war, der durch eine allerdings ebenso skrupellose wie
gewalttätige Wahlpolitik nicht nur in den nichtmagyarischen, sondern auch in
den magyarischen Bezirken die Opposition niederzuhalten verstanden hatte.
Sein Nachfolger, Herr von Szell, suchte der wachsenden Macht der Unab¬
hängigkeitspartei durch die Fusion der Regierungspartei mit der unter der
Führung des Grafen Apponyi stehenden Nationalpartei zu begegnen. Die
Grundlage dieser Vereinigung bildete ein Abkommen, das die Reinheit der
Wahlen — natürlich nur in den magyarischen Bezirken — sowie die Be¬
rücksichtigung der Wünsche der Nation bei der Erneuerung des Wehrgesetzes
sicherstellen sollte. Herr von Szell erfüllte zunächst die erste der beiden Be¬
dingungen durch Vorlage eines Gesetzes über die Wahlgerichtsbarkeit, und die
darauf folgenden Neuwahlen ergaben wirklich eine Mehrheit für die Regierung,
die durch ihre numerische Stärke nach außen wenigstens imponieren mußte.
Innerlich zeigte die neue Regierungsmehrheit jedoch von Anbeginn an deutliche
Zeichen der Schwäche, denn Graf Äpponyi begann sofort sehr gegen den Willen
Herrn von Szells auf die Erfüllung der „Forderungen der Nation" betreffend
die Armee zu drängen. Eine Krise folgte im Schoße der Regierungspartei
der andern, und schließlich kam es zum Bruche: Herr von Szell sah sich außer¬
stande, der eignen Partei die Bewilligung der für die Neubewaffnung der
Artillerie notwendigen Gelder abzuringen. Der Verlauf der Parlamentskrise,
die sich an den Sturz Szells knüpfte, ist noch zu frisch in der Erinnerung,
als daß ihre Darstellung notwendig wäre, und es genügt, den Hauptgegenstand
des Streits zu skizzieren.
Die Opposition, den Grafen Apponyi inbegriffen, forderte: die Reform
der in Ungarn liegenden gemeinsamen Militärbildungsanstalten in national¬
magyarischem Sinne, die Vermehrung der Stiftsplätze für ungarländische
Militärzöglinge, eigne Wappen, Fahnen und Embleme für die ungarländische»
Regimenter der gemeinsamen Armee, sofortige Konzentrierung aller ungar-
ländischen Regimenter in Ungarn, und schließlich die Einführung der magya¬
rischen Kommandosprache in diesen Regimentern. Im Verlaufe der Krise
hatte die Krone schon in allen Punkten mit Ausnahme des letzten nachgegeben,
ohne daß jedoch die Opposition dadurch versöhnt worden wäre. Unerbittlich
forderte sie das magyarische Kommando, und die Krise verschärfte sich, als die
Opposition geltend machte, daß die Krone diese Forderung gar nicht ablehnen
könne, weil die letzte Entscheidung über die innere Organisation des ungarischen
Heeres der Nation und nicht der Krone zustehe, der sie von der Nation nur
zeitweise überlassen worden sei. Damit war die Parlamentskrise zur Ver¬
fassungskrise geworden, denn die Opposition bestritt damit ein nach der
ungarischen Verfassung unzweifelhaft feststehendes Majestätsrecht, nämlich das
Verfügungsrecht der Krone über die innere Organisation der Armee, d. h. die
Opposition wollte dieses Recht von der Krone auf den ungarischen Reichstag
übertragen wissen und aus einem Teile des kaiserlichen Heeres ein ungarisches
Parlamentsheer machen.
In ein neues Stadium trat die Krise, als nach den vergeblichen Be¬
mühungen des Ministeriums Stephan Tisza, der Opposition Herr zu werden, die
Neuwahlen im Februar 1906 eine starke oppositionelle Mehrheit ergaben. Die
Opposition forderte die Übertragung der Regierungsgewalt auf Grund ihres
Programms, dem inzwischen auch die Forderung nach wirtschaftlicher Trennung
von Österreich hinzugefügt worden war; die Krone dagegen wollte ihr die
Regierungsgewalt nur dann anvertrauen, wenn sie aus ihrem Programm die
Forderung nach Einführung der magyarischen Kommandosprache ausschaltete
und die Majestätsrechte über die Armee nicht mehr bestritt. Nach einem ein
volles Jahr währenden Kampfe kam es endlich zu einem Vergleiche, der jedoch
wiederum keine Lösung des Konflikts, sondern nur eine Vertagung der Ent¬
scheidung brachte: die Krone übertrug den oppositionellen Führern die Kabinetts-
bildung, wogegen diese sich verpflichteten, die Forderung nach Einführung der
magyarischen Kommandos und nach Erweiterung der Kompetenz des Reichstags
wegen der ungarländischen Regimenter der gemeinsamen Armee zurückzustellen,
bis ein auf Grund eines neuen von ihr zu entwerfenden Wahlgesetzes ge¬
wählter Reichstag konstituiert sein werde. Ebenso wie die Entscheidung darüber
sollten bis dahin aber auch alle neuen Armeeforderungen vertagt sein; alle
übrigen Forderungen der Opposition waren ohne weiteres bewilligt worden.
Als die Krone diesen Waffenstillstand, wobei sie allein der gebende Teil
war, schloß, mochte sie hoffen, daß die Übertragung der Regierungsgewalt auf
die Opposition ihren Radikalismus mildern und vor allem sie bewegen werde,
die Frage der Zolltrennung ruhen zu lassen. Eine Zwangslage war in dieser
Beziehung ohnehin vorhanden, da die wichtigsten Handelsverträge mit dem
Auslande schon abgeschlossen worden waren, und zwar für die Monarchie als ein
einheitliches Zollgebiet. Es scheint auch, daß die Führer der Opposition, als sie
mit der Krone wegen Übernahme der Negierung verhandelten, bei der Zollfrage
eine Haltung eingenommen hatten, die den Kaiser zu der Annahme berechtigte,
daß die Opposition mit Rücksicht auf den schon erfolgten Abschluß von Handels¬
verträgen die Durchführung ihres zollpolitischen Programms bis zum Ablauf
dieser Verträge, also bis 1917 verschieben werde. Die Krone täuschte sich
jedoch oder wurde vielmehr getäuscht; denn kaum war das neue ungarische
Kabinett gebildet, als der Justizminister Polonyi in einer Wahlrede die Auf¬
stellung eines autonomen ungarischen Zolltarifs und die Ersetzung des bis¬
herigen Zoll- und Handelsbündnisses mit Österreich durch einen Handelsvertrag
als unerläßlich bezeichnete; damit aber dadurch die schon auf Grund des ge¬
meinsamen Zolltarifs abgeschlossenen Handelsverträge nicht hinfällig würden,
sollte sich der autonome ungarische Tarif mit dem ursprünglich als gemeinsam
gedachten Tarif decken, während andrerseits Österreich und Ungarn einander
bis zum Jahre 1917 die zollfreie Einfuhr gewähren sollten. Der Kaiser wurde
dadurch überrascht, gab jedoch nach, als der Ministerpräsident Dr. Wekerle die
Kabinettsfrage stellte. Zwar kündigte die österreichische Negierung an, daß sie
die Aufstellung eines autonomen ungarischen Zolltarifs als einen Bruch des
1899 vereinbarten Reziprozitätsverhältnisses betrachten und zunächst mit der
Beseitigung des gemeinsamen Charakters der Zolleinnahmen beantworten werde,
woraus für Ungarn eine monatliche Mehrbelastung von 2 Millionen Kronen
erwachsen würde, denn wenn es keinen gemeinsamen Zolltarif mehr gäbe, könne
auch von gemeinsamen Zolleinnahmen nicht mehr die Rede sein. Es blieb
jedoch bei der Drohung, der ungarische Zolltarif wurde Ende Juni in Kraft
gesetzt, ohne daß die österreichische Regierung eine Gegenmaßregel ergriffen
hätte. Und das ist schließlich auch erklärlich. Die Aufstellung des autonomen
ungarischen Zolltarifs hat der österreichischen Regierung allerdings das Recht
gegeben, das seit 1899 bestehende Reziprozitütsverhältnis zu lösen, aber in
Pest will man davon nichts wissen, weil man sich klar darüber ist, daß Ungarn
noch für längere Zeit in wirtschaftlicher Beziehung der österreichischen Stütze
bedarf, und darum will man in Pest bis auf weiteres die Gemeinsamkeit mit
Österreich vorläufig in allen Punkten aufrechterhalten, wo sie für Ungarn von
Vorteil ist. So soll einerseits die gemeinsame Armee vollständig getrennt
werden, die Bestreitung ihrer Kosten jedoch eine gemeinsame Angelegenheit
bleiben, weil sonst Ungarn nicht wie bisher 34. sondern 42 Prozent für
Armeezwecke aufbringen müßte; auch das Zollwesen wird getrennt, die Zoll¬
einnahmen aber sollen gemeinsam bleiben, weil Ungarn dabei jährlich 24 Mil¬
lionen Kronen profitiert; die Gesetzgebung betreffend die indirekten Steuern
soll nicht mehr im gegenseitigen Einverständnis geregelt werden, weil Ungarn
durch die völlig autonome Gestaltung seiner Steuern auf Branntwein, Bier,
Zucker und Petroleum gegen die österreichische Einfuhr dieser Produkte eine
Zwischenzolllinie errichten will, dagegen sollen Österreich und Ungarn im übrigen
einander freie Einfuhr gewähren, und es sollen die bisherigen Bestimmungen
über den Viehverkehr aufrecht erhalten bleiben, damit dem ungarischen Getreide,
Mehl und Vieh der österreichische Markt erhalten werde, was die ungarische
Regierung allerdings nicht hindert, schon jetzt der österreichischen Industrie die
Lieferungen nach Ungarn möglichst zu erschweren. Für Österreich ist das gewiß
ein schlechtes Geschäft, es wird jedoch voraussichtlich in den sauern Apfel beißen
müssen, nicht nur wegen der Schwäche seines Parlaments, sondern auch mit
Rücksicht auf die bisherige Haltung der Krone.
Es liegt auf der Hand, daß der wirksamste Schachzug gegen die Zer¬
trümmerung der Reichseinheit darin bestünde, den Magyaren durch die sofortige
gänzliche wirtschaftliche Trennung der beiden Neichshälften die ungeheuern
Nachteile einer solchen Entwicklung deutlich vor Augen zu führen und ihnen
dadurch das Verständnis dafür beizubringen, daß die Erhaltung der Reichs¬
einheit auch im ungarischen Interesse liegt. Für eine solche Radikalkur wird
sich Kaiser Franz Joseph jedoch kaum entscheiden. Ein ungarisch offiziöses Blatt
hat kürzlich schon gedroht, daß der „Kaiser von Österreich" dem Versuch, wegen
der Aufstellung des ungarischen Zolltarifs die wirtschaftliche Gemeinsamkeit
völlig aufzulösen und so die Monarchie zu „zertrümmern", mit dem kaiserlichen
Notverordnungsrechte begegnen werde. Die Taktik der ungarischen Regierung
ist danach ganz klar: während sie einerseits der Krone die Erfüllung der
ungarischen Forderungen betreffend die Ausgestaltung der wirtschaftlichen und
der militärisch-diplomatischen Selbständigkeit Ungarns als unerläßlich hinstellen
wird, wird sie dem Kaiser vorspiegeln, daß die Erfüllung der österreichischen
Forderung nach gänzlicher Lösung der wirtschaftlichen Gemeinsamkett die Einheit
des Reichs zerstören und seine Machtstellung erschüttern würde, und daß es
darum Österreich besser anstünde, sich an Ungarn ein Beispiel zu nehmen, das
nur aus purem Patriotismus und aus lauterer Hingabe an die Dynastie
zurzeit auf die vollständige Trennung verzichtet habe. Und der Kaiser wird
für diese Ratschläge ein offnes Ohr haben; er wird glauben, daß es gut sei.
wenigstens etwas von der bisherigen Gemeinsamkeit zu erhalten und nicht be¬
achten, daß staatsrechtlich die Zertrümmerung des Reichs schon erfolgt ist,
und daß Ungarn die gänzliche Losreißung von Österreich nur darum bis zum
Jahre 1917 verschieben will, weil es fühlt, daß es heute wirtschaftlich noch
nicht auf eignen Füßen stehn kann.
Der Habsburgischen Monarchie ist also nur noch eine knappe Galgenfrist
von zehn Jahren eingeräumt worden. Man begreift es, daß Kaiser Franz
Joseph bei seinem Besuche der Reichenberger Ausstellung schmerzlich bewegt er¬
klärte, daß er das Jahr 1917 nicht mehr erleben werde, aber mit schwerem
Herzen daran denke, wie sich dann die Geschicke der Monarchie gestaltet haben
würden, aber um so weniger versteht man es, daß es der greise Kaiser in den
letzten Jahren nicht vermochte, den Ausblick in die nächste Zukunft freundlicher
zu gestalten und den Bestand des Reichs gegenüber den magyarischen Uuab-
hüngigkeitsbestrebungen zu sichern. Gibt man der Wahrheit die Ehre, dann
wird man allerdings zugestehn müssen, daß die Wiener Politik seit 1859 von
der Hand in den Mund gelebt und über dem Heute immer das Morgen ver¬
gessen hat. Eine solche Politik des „Fortwurstelns" im schlimmsten Sinne
konnte aber wohl nicht fähig sein, den „Reichs"gebauten zu wahren, ließ sie
es sich doch erst in den letzten Wochen stillschweigend gefallen, daß der
Präsident der ungarischen Delegation das „Reich" konfiszierte, indem er ex
xiÄösiäio erklärte, daß es weder ein „Reich" noch „Neichsminister" noch eine
Neichsregierung gebe.
l in dritten Bande des Jahrgangs 1901 der Grenzboten haben
wir die Leser mit Dr. Josef Redlichs Werk über die englische
Lokalverwaltung bekannt gemacht. Vorm Jahre hat nun Redlich
unsre Kenntnis Englands durch ein noch umfangreicheres Werk
! vervollständigt: Recht und Technik des Englischen Parla¬
mentarismus. Die Geschäftsordnung des Houss ok Lollunons in ihrer ge¬
schichtlichen Entwicklung und gegenwärtigen Gestalt. (Leipzig, Duncker und
Humblot; 881 Seiten.) Der englische Rezensent in IKs Lxoallsr bezeichnet die
Haltung deutscher Historiker, Juristen und Politiker der englischen Verfassung
gegenüber als eine höchst interessante Erscheinung, charakterisiert die Be¬
schreibungen des englischen Staates, die Ranke, Gneist und Pauli gegeben
haben, als teils unvollständig, teils fehlerhaft und geht dann auf Redlich mit
den Worten über: IKs intörpistsr lor vdom ^6 Kg.v<z og-itsä so lonA nah at
last g,xxsarsä. Am Schluß spricht er den Wunsch aus, das Werk möge recht
bald ins Englische übersetzt werden, was denn auch, wie wir vernehmen, dem¬
nächst geschehen wird. Redlich polemisiert, wie gegen Gneist, so gelegentlich
auch gegen Lothar Bucher*). Wir glauben jedoch, daß wenn er Buchers
Politische Grundsätze zu behandeln hätte, er sich mit diesen einverstanden er¬
klären würde; die abweichende und in einigen Hauptpunkten jedenfalls irrige
Auffassung des Tatsächlichen bei Bucher rührt u. a. daher, daß dieser in einer
für die Beurteilung des englischen Staatswesens ungünstigen Zeit in England
geweilt hat. Buchers politisches Glaubensbekenntnis lautet: „Gesetz ist eine
Regel des Verhaltens, abgeleitet aus der Natur des Menschen und der Dinge.
Der Inbegriff der Gesetze ist das Recht." Er macht sich Platos Wort zu
eigen: „Das Bedürfnis schafft den Staat", und die Ansicht Vlackstones, eines
Juristen des achtzehnten Jahrhunderts, daß das Recht auf dem Naturgesetze
beruhe, das ist auf den Eigenschaften, die der Schöpfer bei der Erschaffung
des Weltalls dem Stoffe eingeprägt habe, daß kein diesem Naturgesetz wider¬
sprechendes Gesetz zu Recht bestehe, und daß jedes zu Recht bestehende Gesetz
seine Kraft und Verbindlichkeit von jenem empfange. Darum sei das Volk,
dessen Bedürfnisse die Regeln seines Verhaltens erzeuge, der einzige berechtigte
Gesetzgeber. Die sogenannten Gesetzgeber, meint er, tun nur dann etwas
Nützliches, wenn sie die Gesetze, die sich das Volk selbst in der Gestalt eines
Gewohnheitsrechts gibt, kodifizieren. Sobald ein Volk zu zahlreich wird, seine
Angelegenheiten selbst zu besorgen, bestellt es sich Vertreter, die in seinem
Namen unter anderm auch die Gesetzgebung fortzubilden haben. Aus den
Mandataren werden Interessenten, sie schließen sich zu einer Korporation zu¬
sammen, die man Staat nennt, und aus dem Organ ist ein Polyp geworden.
So wie die Gesetzgebung nach Bucher vor sich gehn soll, ist sie in England
nach Redlich vor sich gegangen. Auch nach ihm hat dort der Staat, oder was
in diesem Falle dasselbe ist, das Parlament vorübergehend die Polypennatur
angenommen — und zwar gerade in der Glanzzeit des Parlaments, wo der
größte Teil des arbeitenden Volkes im tiefsten Elend schmachtete —, aber nach
Redlich haben die Demokratisierung des Parlaments und die Reform der
Lokalverwaltung den aus dem germanischen Geiste gebornen und ihm treu ge-
bliebnen englischen Volksstaat wiederhergestellt; seine ursprüngliche Natur ist
wieder zum Durchbruch gekommen und hat die Verderbnis überwunden. Der
Staat ist nicht mehr ein Schmarotzergewüchs am Volkskörper, sondern der
organisierte Volkskörper. Das Unterhaus ist wieder das Organ, mittelst dessen
das Volk sich selbst Gesetze gibt, sich selbst regiert. Oder vielmehr, nicht das
Unterhaus selbst ist es, weil ja, wie Redlich bemerkt, eine Körperschaft von
670 Köpfen nicht regieren kann, sondern die technisch sogenannte Regierung
ist es, das Kabinett, das die Mehrheit des Unterhauses aus sich heraus
gebiert, sodaß man als die Hauptaufgabe des Unterhauses ansehen kann, als
Wahlkollegium die Regierung einzusetzen. Um dieser Aufgabe und seinen übrigen
Aufgaben genügen zu können, muß das Unterhaus zunächst sich selbst regieren,
denn es hat keinen Herrn über sich, der ihm sein Verhalten vorschriebe. Es
hat sich auch nicht selbst in der Weise gebunden, daß es in einer geschriebnen
Geschäftsordnung sein Verhalten für alle ewigen Zeiten bestimmt hätte. Wie
das englische Volk keine geschriebn? Verfassung hat, so hat auch sein Parlament
keine in einem bestimmten Moment abgefaßte Geschäftsordnung. Sondern wie
jenes sich selbst durch das Parlament in jedem Augenblick die Gesetze gibt, die
es gerade braucht, so gibt sich das Unterhaus jederzeit die neuen Orders (welches
Wort hier Befehle, nicht Ordnungen bedeutet), deren es zur glatten Erledigung
seiner Geschäfte bedarf. Und so ist denn der englische Staat der Idealstaat,
weil in ihm weder ein persönlicher noch ein papierner Tyrann dem Volke sein
Verhalten vorschreibt. Sondern das Volk tut dies selbst durch seine Vertreter
in der Weise, daß sich die Gesetzgebung dem wechselnden Bedürfnis, der
wachsenden Volkszahl, der sich wandelnden Struktur des sozialen Körpers, den
sich verändernden äußern Umständen jederzeit anpaßt. Und dieselbe Anpassungs¬
fähigkeit wie der Volkskörper im ganzen bewährt auch das Parlament in
Beziehung auf seine eignen Bedürfnisse und innern Angelegenheiten. Wie
dieser Anpassungsprozeß bis jetzt verlaufen ist, zeigt Nedlichs Buch. Um nun
die gegenwärtige Geschäftsführung in einem dürftigen Auszuge aus dem Werke
einigermaßen verstündlich machen zu können, müssen wir vorher nach seiner
Anleitung die Geschichte des Parlaments flüchtig überblicken.
Die Versammlung der geistlichen und weltlichen Lords im dreizehnten
Jahrhundert war noch nicht das heutige Parlament. Sie war der große Rat
des Königs und der höchste Gerichtshof. Sie wird der Keim des Parlaments
durch die Heranziehung der Lommovs, der Gemeinden. Deren Mitwirkung bei
der Beschlußfassung über die Steuern wird von Eduard dem Ersten als zu
Recht bestehend anerkannt, indem er „in der Einberufung zu seinem großen
Parlament 1295 den aus dem Oorxus Mris oivilis durch das kanonische Recht
vermittelten Satz feierlich als politische Maxime verkündigt: ut auoä orrmss
tiMAit, ad owruvus oomxrodswr". Die gewöhnlichen laufenden Bedürfnisse
seines Haushalts und des Staats hatte der König aus seinem Grundbesitz,
aus den Gerichtsgebühren und den lehnsrechtlichen Leistungen zu bestreiten. In
Welchen Fällen er eine besondre Beisteuer zu erwarten hatte, besagt der Noän8
tsnknäi ?in-1ig.amon mit den Worten: lion solsbat- xstsrs auxilium as
rsZno Luv visi pro Zv.srra iustanti vel Was suos railitss fg.c;ikiiäo3 vol Was
«uz« eng.ritMäas. Nun wurde aber im vierzehnten und im fünfzehnten Jahr¬
hundert ununterbrochen Krieg geführt und darum die als Ausnahmefall ge¬
dachte Steuerbewilligung Regel, die fast jährliche Einberufung des Parlaments
eine Notwendigkeit. Wer um etwas gebeten wird, der kann Bedingungen
stellen. Die Commons machten die Steuerbewilligung von der Abstellung ihrer
Beschwerden abhängig. Im Jahre 1401 fordern sie. daß der König dieses
Verfahren ausdrücklich anerkenne; dazu verstand sich zwar Heinrich der Vierte
nicht, aber das Verfahren bürgerte sich trotzdem als Gewohnheitsrecht ein. Die
Beschwerden wurden dem König in Form von Petitionen vorgetragen. All¬
mählich wird aus dem Parlament eine Körperschaft, die felbst Petitionen
empfängt, und es gibt also von da an zweierlei Mtions, solche, die die Mit¬
glieder des Parlaments als Volksvertreter an den König, und solche, die
Privatpersonen an das Parlament richten. Diese zwei Arten von Petitionen
waren die Keime, aus denen die zwei heute noch bestehenden Zweige der
englischen Gesetzgebung, die ?ud1lo und die private LiU I^MMon, hervor¬
gegangen sind. Mit der so erlangten Stellung begnügten sich die Commons
noch nicht. Weil es vorgekommen war, daß die von ihnen geforderten Zu¬
geständnisse in einer andern als der vereinbarten Form oder gar nicht in die
Statuts Koll eingetragen worden waren, forderten sie vom Jahre 1379 an und
setzten es schließlich durch, daß die Antworten auf die Petitionen, also die
Bewilligungen, vor Schluß des Parlaments inrotuliert und gesiegelt wurden.
Damit war die Gleichstellung der Commons mit den Lords in der Gesetz¬
gebung vollzogen. Und nun war es auch Zeit, für die gesetzgebende Tätigkeit
die ihr zukommende Form einzuführen. Die Form der Petition wurde unter
Heinrich dem Fünften und dem Sechsten aufgegeben. Die Commons legten Gesetz¬
entwürfe vor: eine pill» Kringln aows lAvt —Gesetz) w Sö ooritinsus. Indem
die Petition durch die Bill verdrängt wurde, ging die Ständeversammlung in
das heute noch bestehende Parlament über. In diesem hatten sich die Commons
schon vor der formellen Gleichstellung mit den Lords sogar den tatsächlichen
Vorrang vor ihnen dadurch gesichert, daß sie die eigentlichen Bewilliger der
Steuern waren. Schon lange vor dem sechzehnten Jahrhundert war es Brauch,
»daß die Commons zuerst um Bewilligung der Steuern anzugehn waren und
w ihre Bewilligung die Lords mit einschlossen, worauf diese dann noch ihre
Zustimmung gaben. Als Grund hierfür war die Anschauung maßgebend, daß
die Commons als die ärmsten der drei Stände nicht durch frühere Beschlüsse
der Lords und der Geistlichkeit benachteiligt werden dürsten." Indem so das
Kouss ol vvminons mehr und mehr Gesetzgebungsmaschine wird, tutt der
ursprüngliche Charakter des Parlaments als höchsten Gerichtshofs zurück, ohne
ganz zu verschwinden. Wie vollkommen schon im sechzehnten Jahrhundert der
heutige Parlamentarismus ausgebildet war, bezeugt ein Abschnitt aus der 1581
erschienenen Schrift of Nsxublioa ^.vAlorum von Sir Thomas Smith, aus
der Redlich u. a. folgende Stellen mitteilt:
Die höchste und souveräne Gewalt im Königreiche England liegt im Parlamente.
Denn so wie im Kriege die Stärke und Macht Englands dort ist, wo der König
in Person weilt, der Adel, die Gentry und die Aeonen, so ist im Frieden und
zu friedlicher Beratung gleichfalls mit dem Fürsten vereint zum Zwecke, die höchsten
Gebote des Staats zu verkündigen: die Baronie oder der Adel für den höhern,
die Ritter, die Esquires, die Gentlemen und die Commons für den niedern Teil
der Staatsgemeinschaft, und die Bischöfe für den Klerus. Nach reiflicher Erwägung,
wobei jede Bill dreimal gelesen und nach der Gewohnheit jedes Hauses in jedem
der beiden Häuser diskutiert worden ist, geben sie ihren Konsens, jedes für sich
nach erfolgter Abstimmung. Sodann erteilt der Landesfürst in Gegenwart beider
Häuser seine Sanktion, und dadurch tritt das Gesetz in Kraft. Das Parlament
schasst alte Gesetze ab und macht neue, schafft Ordnung für vergangne Dinge und
für solche, die erst kommen sollen, ändert die Rechte und den Besitz von Privat¬
personen, legitimiert Bastarde, setzt neue Formen der Religion ein, ändert Maß
und Gewicht, bestimmt die Thronfolge, gewährt Subsidien und Steuern, erläßt
Strafen, widerruft Ächtungen und spricht, als höchster Gerichtshof, schuldig und
frei. Um es kurz zu sagen: all das, was das römische Volk in seinen Centuriat-
und Tributkomitien getan hat, alles das kann auch durch das Parlament von
England getan werden, das die Macht des ganzen Königreichs repräsentiert und
in sich sowohl Körper als Geist vereinigt. Denn es wird angenommen, daß jeder
Engländer dort vertreten ist, sei es in Person oder durch Bevollmächtigung und
Stellvertretung, jedermann ohne Unterschied des Standes und Ranges, vom König
angefangen bis zur niedrigsten Person. . . . Wie im Oberhause, so wird auch im
Unterhause verhandelt. Der speaker, in einem erhöhten Stuhle sitzend, sodaß er
von allen gesehen werden kann, hat vor sich in einem niedrigen Sitze seinen Clerk,
der die Bills, die zuerst im Unterhause vorgelegt werden, oder wie sie von den
Lords herabgesandt worden sind, vorträgt. Alle Bills werden dreimal an drei
verschiednen Tagen gelesen und diskutiert, bevor darüber abgestimmt wird. In der
Diskussion ist eine wunderbar schöne Ordnung in Übung. Wer entblößten Hauptes
aufsteht, der macht dadurch bemerkbar, daß er zur Bill sprechen will. Stehn
mehrere auf, so wird der zuerst gehört, von dem man erachtet, daß er zuerst auf¬
gestanden sei. sJst das nicht auszumachen, so entscheidet der speaker, sagt ein
andrer Autor jener Zeit.s Obgleich nun der eine für das Gesetz, der andre dagegen
spricht, so findet doch kein Gezänk oder keine Widerrede zwischen beiden statt, denn
jedes Mitglied spricht zum speaker gewandt, nicht zu einem andern Mitgliede,
da solches als gegen die Ordnung des Hauses verstoßend erachtet wird. Als
ordnungswidrig gilt es auch, einen, den man widerlegen will, mit Namen zu nennen;
sondern es ist Sitte, diesen durch Umschreibungen zu bezeichnen, indem man ihn
den Vorredner oder den Gegner der Bill oder ähnlich nennt. Und so hält jeder
seine Rede in ununterbrochnem Vortrag, nicht in Zwiegespräch oder Streit mit
den andern, bis ans Ende. Wer einmal zu einer Bill gesprochen hat, darf, mag
ihm auch direkt widersprochen sein, an diesem Tage nicht replizieren, auch dann
nicht, wenn er seine Meinung geändert hätte, sodaß man zu ein und derselben Bill
an einem Tage nicht zweimal sprechen darf, sonst würden ein oder zwei Abgeordnete
mit Rede und Widerrede leicht die ganze Zeit in Anspruch nehmen. Am nächsten
Tage darf er wieder sprechen, dann aber auch nur einmal. Beschimpfende oder
höhnische Worte dürfen nicht gebraucht werden, sonst ruft das ganze Haus: Das
Verstöße wider die Ordnung. Und wenn jemand unehrerbietig oder aufreizend gegen
den Landesfürsten oder das Privy Council spricht, so werden solche Redner nicht
nur unterbrochen, sondern es ist auch der Antrag gestellt worden, sie nach dem
Tower zu schicken.
Alle diese Regeln stehn noch heute in Kraft und werden tatsächlich befolgt,
nur daß für rebellische Abgeordnete nicht mehr der Tower das Haftlokal ist,
sondern ein im Parlamentsgebäude eingerichteter Kerker. Der Tyrannei
Heinrichs des Achten und Elisabeths beugte sich das Parlament protestierend,
weil die Politik beider Herrscher im großen und ganzen dem Volksgeiste und dem
Staatsinteresse entsprach. Da das bei den nicht minder tyrannischen Stuarts
nicht der Fall war, so machte der dem Parlament aufgezwungne Kampf gegen
den Herrscher das Volk vollends mündig und entschied ein für allemal, daß
der König nur als KwA in ?ar1i-iinsnt regieren könne. Nach erfochtnem
Siege führte der durch dynastische Sympathien und Antipathien verstärkte
religiöse Gegensatz zur Bildung der zwei großen Parteien, die dazu nötigte, aus¬
drückliche Befehle zur Aufrechterhaltung der alten löblichen Ordnung und be¬
sonders zum Schutze der Minderheit zu erlassen. Die Gesamtheit dieser Orders,
deren Zahl mit der Menge und Kompliziertheit der Geschäfte besonders im
neunzehnten Jahrhundert wuchs, macht eben das aus, was man die Geschäfts¬
ordnung des englischen Unterhauses nennen kann.
Die prinzipiellen Gegensätze verschwanden teils ganz, teils wurden sie
abgeschwächt, und im achtzehnten Jahrhundert nahmen die Parteien die be¬
kannte Gestalt an. Die Deomcmry war verschwunden. Die mit der Volks¬
vermehrung und der wachsenden Industrie entstandnen Massen der Lohnarbeiter,
eine Zeit lang sogar die industriellen Unternehmer, waren unvertreten. Die
Arbeitermassen war politisch tot. Das Unterhaus war die Vertretung einer
sozial gleichförmigen aristokratischen Oligarchie, die sich in zwei große Familien¬
gruppen schied, die unter den Namen Whigs und Tories in der Führung der
Geschäfte abwechselten. Trat die eine Gruppe die Regierung an, so fungierte
die andre als Opposition. Diese Scheidung der gesetzgebenden Körperschaft
w Mehrheit und Opposition war notwendig, weil doch eben jede Regierungs¬
maßregel und jedes Gesetz von wenigstens zwei Seiten beleuchtet werden muß,
ehe darüber Beschluß gefaßt wird. In dieser Zeit gab es keinen Anlaß, die
Geschäftsordnung auszubauen. Die spärlich besuchten Versammlungen der
großen Vetterschaft verliefen friedlich, gemütlich und schläfrig. Erst die Ver¬
suche der Krone, sich das Haus durch Bestechung dienstbar zu machen, und
dünn die französische Revolution und die napoleonischen Kriege brachten Leben
hinein. „Es gab damals keine Reformgesetzgebung im großen Stile, keine
Bills mit Hunderten von Paragraphen und zahllosen bestrittnen technischen
Details. Die innere Politik beschränkte sich in dieser über ein Jahrhundert
dauernden Periode des parlamentarischen Konservativismus auf kleine Ände-
rungen des Verwaltungsrechts, auf partikuläre und lokale Maßregew Der
Schwerpunkt der Tätigkeit des Unterhauses lag in der äußern und Kolomal-
Politik und den für diese geforderten finanziellen Maßnahmen." Darüber
aber herrschte der Hauptsache nach keine Meinungsverschiedenheit.
Im Mittelalter waren es die Religion, die Gleichartigkeit der Bildung
und der bäuerliche Charakter der ganzen Bevölkerung, denn auch die Lords
waren doch von Beruf große Bauern, was die etwa zwei Millionen durch be¬
queme Kommunikation unter sich gut verbundnen Bewohner des mäßig großen
Landes zu einer gleichförmigen, in politischer Beziehung von einem Willen
beseelten Masse, zu einem lebendigen Volkskörper machte, der sich selbst Gesetze
zu geben, sich selbst zu regieren vermochte. In der großen Zeit des Parla¬
mentarismus, wo er die letzten Versuche des Königs, das Parlament nach
seinem Willen zu lenken, zurückschlug, war die Gleichartigkeit dadurch hergestellt,
daß die durch Volksvermehrung stark vergrößerte Masse von der Politik aus¬
geschlossen blieb, der Staat zur Aristokratie der Grundbesitzer zusammen¬
geschrumpft war. Die wunderbarste Leistung des englischen Volkes und seines
Hauptes, des Unterhauses, besteht nun darin, daß es ihm im neunzehnten
Jahrhundert trotz der noch viel stärkern Volksvermehrung gelungen ist, durch
die allmähliche Erweiterung des Wahlrechts und durch große Verwaltungs¬
reformen das ganze Volk mit Ausnahme seiner Hefe in den politischen Körper
einzugliedern, ohne ein auflösendes Element in diesen einzuführen; daß trotz
gewaltigen sozialen Unterschieden das englische Volk in politischer Beziehung
wieder eine einheitliche, gleichartige Masse geworden ist. Zuerst wurde das
reiche Bürgertum mit dem Grundadel zu einer einzigen Aristokratie verschmolzen,
dann der höhere, gebildetere Teil der Arbeiterschaft in der Weise herangezogen,
daß er zwar wühlt, aber für gewöhnlich Mitglieder der herrschenden Aristokratie
wählt: die Arbeiter haben vor den letzten Parlamentswahlen meist ihre eignen
Unternehmer als ihre Vertrauensmänner ins Unterhaus geschickt. Darum hat
sich auch die Natur der Parteien noch nicht geändert. Die soziale, die
berufliche Differenzierung zerreißt das Volk nicht; sie fällt nicht mit der
politischen Partei zusammen; in jeder der beiden Parteien finden alle vor-
handnen Interessen ihre Vertretung. „Es bleibt, schreibt Redlich S. 156,
dem englischen Parlamentarismus der alte Charakterzug der zwei großen, ab¬
wechselnd zur Majorität und Regierung gelangenden Parteilager erhalten.
Aber es sind mehr zwei gemeinsame Lager für eine Mehrheit verschiedner
Interessengruppen, die auf beiden Seiten ihre Vertretung finden, als einheit¬
liche, innerlich völlig gleichartige Heere, die sich schroff gegenüberstehn. Ge¬
wisse historische Traditionen, die von Tones und Whigs übernommen wurden,
wirken wohl auch jetzt noch bei Konservativen und Liberalen fort; aber wenn
schon in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts die prinzipiellen
Unterschiede zwischen den aristokratischen Tories und Whigs immer unbestimmter
geworden, bis sie fast gänzlich verschwunden waren, so gilt dies nicht minder
von ihren demokratischen Erben. Was die beiden großen Parlamentsparteien
trennt, sind nicht unüberbrückbar tiefe Spaltungen innerhalb des gesellschaftlichen
Körpers der Nation, große prinzipielle Differenzen, die etwa in den beiden
Politischen Parteien ihren Ausdruck fänden. Denn es sind, wie gesagt, die¬
selben Standes- und Klasseninteressen in beiden Parteilagern vertreten, wenn
auch in betreff mancher Punkte in verschiedner politischer Nuancierung: man
kann z. B. sagen, daß das spezifisch agrarische Interesse noch immer ausschließlich
in der konservativen Partei steht, daß die Trade-Unions und die Nonkonformisten
traditionell der liberalen Partei anhängen, daß hinwiederum die hochkirchlichen
Kreise fast regelmäßig Tones sind. In staatsrechtlicher Hinsicht besteht seit
langem nur eine einzige tiefgehende Scheidungslinie, die durch die Home-Rule-
Politik Gladstones geschaffen worden ist.*) Aber auch dieser Gegensatz ist im
letzten Jahrzehnt wesentlich gemildert worden. Was also die beiden regierungs¬
fähigen Parteien trennt, das sind nicht intransigente Grundsätze, sondern Ver¬
schiedenheiten in der Auffassung einzelner ganz konkreter, wenn auch oft sehr
bedeutender und das politische Interesse beherrschender Fragen der äußern und
der innern Politik, der Finanz-, Wirtschafts-, Sozial- und Kirchenpolitik: Ver¬
schiedenheiten, die sich aber, so wichtig sie auch zurzeit den Angehörigen der
einen oder der andern Partei erscheinen, dennoch auf dem breiten Boden ge¬
meinsamer nationaler Politik, gemeinsamer Grundanschauungen und Interessen
erheben. Das außerordentlich starke Nationalgefühl, die ungemein lebendige
historische Tradition und das tief wurzelnde, alle Klassen der Bevölkerung
durchdringende konservative Empfinden rufen in England eben immer wieder
eine im Vergleich zu andern Staaten beispiellos starke politische und soziale
Kohärenz der Nation über alle Parteiung hinweg hervor. Darin darf man
den letzten Grund und die eigentliche Erklärung finden für die den beiden
Jahrhunderten der parlamentarischen Regierungsweise so charakteristische Er¬
scheinung: daß gerade in dem klassischen Lande der Parteiregierung und des
Parteienkampfes jederzeit die großen staatlichen Gesamtinteressen aus dem Be¬
reiche des Parteiwesens und der Parteifehde in ausdrücklichen oder stillem
Einverständnisse herausgehoben erscheinen."
Nur bei solcher Gleichartigkeit des Volkes, bei dieser Gliederung des
Unterhauses in zwei Parteien und dieser Beschaffenheit der Parteien konnte
sich auf dem Wege ruhiger Entwicklung, ohne Revolution, die ungeschriebne
tatsächliche Verfassung Englands bilden. Das Kabinett ist, wie gesagt, nur
ein aus Mitgliedern der Mehrheit beider Häuser bestehender Exekutivausschuß.
Als ein Kabinett im kontinentalen Sinne existiert das englische Kabinett nach
Redlich heute so wenig wie vor zwei Jahrhunderten, wo einmal ein Mitglied
sich erhob und darüber Klage führte, daß wider die Verfassung des Landes
Kabinett vorhanden sei. Alle Abgeordneten sind einander gleichberechtigt,
und die Minister sind im Unterhause nichts als Mitglieder des Hauses, die
den andern gleichstelln. Nur als solche, als Mitglieder des Hauses, können
die Minister ihre Bills einbringen. Es gibt keine „Negierung", keine Diener
des Königs, die dem Hause als Vertreter der Majestät gegenüberstünden,
sondern es gibt nur Diener des Hauses, des Volkes. Es gibt auch keine
Ministerbank; die Minister sitzen auf der vordersten Bank (^rout Lsnou) der
Regierungsseite. Der Premier ist Leader der Mehrheit, und wird die Mehrheit
zur Minderheit, so übernimmt er gewöhnlich die Führung der Opposition.
Mit dem Könige, der staatsrechtlich nichts andres ist als der Repräsentant
der Majestät des Volkes, der erbliche und lebenslängliche Präsident der
Republik, verkehrt das Parlament immer unmittelbar, ohne Dazwischenkunft
der Minister. Sogar unter der despotischen Königin Elisabeth ist es vorge¬
kommen, daß, als einmal im Unterhause über den Staatssekretär Cecil Be¬
schwerde geführt wurde, dieser aber, der anwesend war, dem Redner Schweigen
zu gebieten versuchte, ein Abgeordneter aufstand und den speaker und das
Haus an beider Pflicht erinnerte mit den Worten: ?»r in xarsiu non lutdst
jucliewrn. „Wir sind hier alle Glieder eines Leibes, und keiner ist als einzelner
Richter über den andern." Also diese tatsächliche Verfassung wird nur möglich
durch die oben beschriebne Beschaffenheit des Volkes, des Unterhauses und
seiner Parteien. Redlich schreibt: „England besaß und besitzt sein System der
Parteiregierung durch ein parlamentarisches Kabinett deshalb, weil es, um
dies ganz paradox auszudrücken, keine Parteien im kontinentalen Sinne hat."
Er führt eine Rede des vorigen Premiers Arthur Balfour an, worin dieser
sagt, es sei in der englischen Geschichte oft vorgekommen, daß der Unterschied
der beiden Parteien gar nicht in ihrer Stellung zu Prinzipien oder Ma߬
regeln bestandenHabe, sondern nur ein Gegensatz von Personen gewesen sei.
Da liege denn die Gefahr nahe, daß die Politik zu einem — nicht einmal
anständigen — Spiele werde, zum Ringen um eine Bente, um Staatspfründen
soie in den Vereinigten Stcmtens. Die Gefahr der Beutepolitik sei nun zwar
in England überwunden. Immerhin bleibe es jedoch wahr, daß wenn zwischen
den Parteien keine ernstliche Streitfrage schwebt, die Politik einem Football-
match gleicht, bei dem nichts ernstliches auf dem Spiele steht, sondern nur
etwa der Sieg in einem Wahlkampf oder bei einer Abstimmung oder ein
Ministerwechsel. Doch sei dieses das geringere der beiden Übel, die einen
Verfassungsstaat bedrohen. „Das andre Übel, an dem einige unsrer kontinen¬
talen Nachbarn schwer gelitten haben, besteht darin, daß sie versucht haben,
das System).der Parteiregierung einzuwenden, obgleich die Gegensätze zwischen
den Parteien so einschneidend, so vitaler Natur waren, daß die an der Re¬
gierung befindlichen die Gegner zu vernichten und diese mit revolutionären
Mitteln zur Macht zu gelangen strebten. Unter solchen Umständen kann eine
Repräsentativverfassung nicht mit der Aussicht auf günstigen Erfolg arbeiten."
Das Wesen der englischen Verfassung darlegen, das heißt zugleich klar
machen, daß sie in keinem andern europäischen Staate nachgeahmt werden
kann — Vielleicht die drei skandinavischen Staaten ausgenommen, deren Völker
sich vor dem Aufkommen der modernen Industrie und ihrer polaren Ergänzung,
der Sozialdemokratie, einer großen geistigen und sozialen Gleichartigkeit er¬
freuten. Balfour sagt es deutlich genug, und in Beziehung auf Frankreich
hat es Guizot schon im Jahre 1816 erkannt. In diesem Jahre veröffentlichte
er eine Schrift über die dermcilige Lage unter dem Titel: Du Aouvernsmsut
rsxrsssutgM Kranes. Darin charakterisiert er vollkommen richtig die zwei
englischen Parteien. Da, schreibt er, ihre gegensätzlichen Bestrebungen nicht
bis ins Herz der Verfassung und der bürgerlichen Ordnung reichten, so ver¬
ursachten ihre abwechselnden Siege keine ernstlichen Erschütterungen. Der gegen¬
wärtige Zustand sei dadurch herbeigeführt worden, daß sich nach der zweiten
Revolution die Mächte geeinigt hätten, die einander bis dahin bekämpft
hatten. Erfahrung habe die Regierung belehrt, wie gefährlich es für sie sei,
wenn sie außerhalb der Volksvertretung und dieser gegenüberstehe, die Kammern
entweder leiten oder bekämpfen müsse als zwei fremde Mächte, Musinis s'ils
us 8vull ssrvilss, ovstg-olss tsrridles en oas ä'iuimitis, g.pxui.8 sans toros et
8M8 <Z0N8istÄQ06 sit <ZU3 as ssrviwäö. Darum also habe sich die Regierung
weislich entschlossen, ihren Sitz in die Kammern zu verlegen, von deren Mitte
aus und durch sie zu regieren. (Der geschichtliche Hergang ist hier nicht ganz
richtig erzählt, der Enderfolg aber gut gezeichnet.) Von diesem Zustande sei der
gegenwärtige Zustand Frankreichs grundverschieden. In England beschränke
sich der Parteiunterschied darauf, daß die einen für, die andern gegen die
Minister seien; die Opposition denke nicht daran, die Verfassung umzustürzen
oder irgendein Privatinteresse gegen das Staatswohl durchzusetzen. In Frank¬
reich dagegen tobe ein Kampf zwischen den feindlichsten Interessen, den
wütendsten Leidenschaften, den unvereinbarsten Absichten. Nicht die Freiheit,
die gleichbedeutend sei mit der Gerechtigkeit, erstrebe jede der beiden Parteien,
sondern die Herrschaft über die andre. Bei diesem Kampfe zwischen arg¬
wöhnischen Siegern und begnadigten Besiegten sei ein friedliches Zusammen¬
wirken in der Gesetzgebung nicht möglich. Auch sei die Fusion der drei Ge¬
walten, des Königs und der beiden Kammern, noch nicht vollzogen, aus diesen
Gründen demnach in Frankreich eine Parteiregierung nach dem Muster der
englischen nicht möglich. In Guizots „noch nicht" steckt ein Irrtum, der bis
auf den heutigen Tag ziemlich allgemein herrscht. Man glaubt, die übrigen
Völker seien zwar noch nicht reif für die parlamentarische Regierung, würden
es aber mit der Zeit schon werden. Es handelt sich hier jedoch nicht um
verschiedne Stufen politischer Reife, sondern um eine Verfassung, die nur bei
diesem so gearteten Volke, auf dieser so gestalteten und so gelegnen Insel
von dieser bestimmten Größe, in dieser von außen ungestörten geschichtlichen
Entwicklung entstehn konnte, um ein Zusammentreffen von Bedingungen also,
das sich anderswo niemals ereignet hat und wahrscheinlich niemals ereignen
Kird; um eine Schöpfung 8ni Asnsri8, die nicht nachgeahmt werden kann.
Wo sie, wie in allen romanischen Staaten, nachgeahmt worden ist, da fehlt
doch das Wesen; nur Formen sind nachgeahmt worden. Den Satz: is roi
röZnö, ins-is 11 us Aouvörns xas, brauchte Guizot heute nicht mehr zu be¬
kämpfen, wie er es in der angeführten Flugschrift tut, brauchte sich auch nicht
mehr den Kopf darüber zu zerbrechen, wie die Fusion zwischen der königlichen Re¬
gierung und den Kammern erreicht werden könne; in dieser Beziehung haben
ja die Franzosen ihr englisches Vorbild weit überflügelt; radikal, wie sie sind,
haben sie das Königtum beseitigt. Aber der Hauptunterschied zwischen Frank¬
reich und England ist seit 1816, wenn auch in vielfach veränderter Form,
bestehn geblieben: seine Kammerparteien — es sind ihrer mehr als zwei —
stehn einander in Todfeindschaft gegenüber. Eine Körperschaft, deren Mit¬
glieder einander zu vernichten streben, kann nicht den Staat regieren, wenn
sie es auch der geschriebn«« Verfassung nach tun soll. Wer regiert, das ist
eine routinierte Bureaukratie, der wechselnde Zufallskabinette, die Geschöpfe
von Zufallsmehrheiten, die Richtung geben. Immerhin hat in Frankreich der
große religiöse Gegensatz bis jetzt wenigstens die Zusammenfassung der kleinern
Gruppen in zwei Blocks möglich gemacht. Wenn aber nun, nach der Ent¬
scheidung der kirchlichen Frage, die sozialistischen Arbeitervertreter sich von den
bürgerlichen Radikalen trennen, dann hat die Zweiteilung ein Ende, und wo
die Kammer in ein halbes oder ganzes Dutzend einander feindlicher Parteien
zerfällt, da ist schon der bloße Gedanke an parlamentarische Negierung eine
Lächerlichkeit. In der letzten Reichstagssitzung äußerte ein süddeutscher Demo¬
krat einmal: Wenn wir einen konstitutionellen Staat hätten, müßte das
Zentrum jetzt die Negierung übernehmen. Nun ist das Zentrum nicht die
Mehrheit und kann sie niemals werden. Dann aber: daß das Zentrum einen
der Zahl seiner Mitglieder entsprechenden Einfluß auf die Gesetzgebung übt
und manchmal den Ausschlag gibt, das schon erregt bei der protestantischen
Mehrheit der Deutschen einen Unwillen, der sich in Blättern der verschiedensten
Parteien in fast täglichen Zornesausbrüchen Luft macht. Wenn nun gar ein
glücklicherweise nicht vorhandner verrückter Verfassungsparagraph dem Zentrum
in aller Form die Übernahme der Regierung aufnötigte, so würde das den
Religionskrieg bedeuten, wie es den sozialen Bürgerkrieg zur Folge haben
müßte, wenn die Sozialdemokraten ans Ruder kämen; und nicht viel weniger
verderblich wäre eine ausschließlich aus Konservativen, das heißt Ritterguts¬
besitzern, oder aus Nationalliberalen, das heißt Industriellen zusammengesetzte
und den Interessen ihrer Partei dienstbare Regierung. Wenn aber jener
Herr konstitutionell sagt, wo es parlamentarisch heißen müßte, so beweist
dieses, daß es sogar angesehene Neichstagsabgeordnete gibt, die noch nicht
einmal über die elementarsten Begriffe im klaren sind. Eine Konstitution
haben wir, oder vielmehr: jeder Deutsche hat zwei Verfassungen, noch dazu,
was einen doppelten Unterschied von England ausmacht, zwei geschriebne
Verfassungen, die seines Landes und die des Reiches. Aber in keiner von
beiden steht etwas davon, daß die Mehrheit der Volksvertretung oder gar
die stärkste Partei im Land- oder Reichstage regieren soll. Sondern nach
Paragraph 45 der preußischen Verfassung ernennt und entläßt der König die
Minister, nach den Artikeln 15 und 18 der Reichsverfassung ernennt der
Kaiser den Reichskanzler und die übrigen Reichsbeamten. Und um noch ein¬
mal auf Frankreich zurückzukommen, so hat bei der Kammereröffnung am
1. Juni der Alterspräsident Passy seine warnende Stimme erhoben: die Mehr¬
heit solle nicht vergessen, daß sie nicht das ganze Land vertrete; die Abge¬
ordneten hätten nicht zu regieren. Es entsteht also die Frage, wer dann
eigentlich regieren soll. Ohne Zweifel bezieht sich darauf die Bemerkung
Passys, die Verfassung von 1875 habe Lücken, den Gesetzgebern werde darin
eine zu große Gewalt eingeräumt.
In England also ist bis jetzt das Ringen der Parteien ein Spiel ge¬
blieben — Redlich macht sich das von Balfour gebrauchte Bild zu eigen —,
und die Geschäftsordnung sorgt dafür, daß es lÄr bleibt. Ob die
Anpassungsfähigkeit der englischen Verfassung und des Parlaments nicht
gerade in diesem Augenblick an ihrer Grenze angelangt ist. ob sich nicht die
Arbeiter, die jetzt eine größere Zahl eigner Vertreter ins Unterhaus schicken,
neben den Iren zu einer zweiten Partei nach kontinentalem Muster entwickeln
und dem schönen Spiel ein Ende machen werden, das muß ja die nächste
Zukunft lehren. Im neunzehnten Jahrhundert hat sich die Anpassungsfähig¬
keit des Unterhauses noch stark genug erwiesen, nicht allein durch Umge¬
staltung des Wahlrechts, der Regierung und Verwaltung den ungeheuern An¬
forderungen zu genügen, die das neue England an seine Leiter stellt, mit
seinen 40 Millionen Bewohnern, seiner gewaltigen Industrie, seinem Weltreich,
sondern sich auch selbst gut zu regieren, sich die zur Erfüllung seiner großen
und schwierigen Aufgaben geeignete Verfassung zu geben in einer Geschäfts¬
ordnung, die zwar, wie schon bemerkt wurde, auch so noch keine auf ein
Niedersitzen abgefaßte Geschäftsordnung ist gleich der unsrer kontinentalen
Parlamente, aber doch auch nicht mehr bloßes Gewohnheitsrecht, sondern ein
im uralten Gewohnheitsrecht wurzelndes neu geschaffnes Statuts I.g.v. Es
besteht aus einzelnen Orders, die zwar durch besondre Anlässe hervorgerufen
worden sind, die aber in ihrer Gesamtheit eine planmüßige Reform ausmachen.
Diese Regeln für das Verfahren des Unterhauses, für die Erledigung seiner
Geschäfte darzustellen, hat Redlich in seinem Werke unternommen, und seine
Darstellung eröffnet den tiefsten Einblick in das Wesen des Uvuss ok vomiuovs
und damit zugleich des Staates, dessen Herz es ist.
! er Hütte in seinem Leben nicht oft schon gern Bestimmtes über die
Witterung der nächsten Tage gewußt? Für den Seemann und
noch mehr für den Landwirt ist dieses mitunter geradezu eine
Lebensfrage. An Witterungsprognosen hat ja nie Mangel ge¬
herrscht, doch sind sie leider in den meisten Füllen unzutreffend,
sobald es sich darum handelt, das Wetter über die allernächste Zeit hinaus zu
bestimmen. Und doch ist anzunehmen, daß auch die Witterung, wie alles in
der Natur, ganz bestimmten Regeln folgt. Wenn man diese zweifellos äußerst
komplizierten Gesetze kennen lernen will, ist es notwendig, alle Vorgänge in
der unsern Erdball umgebenden Atmosphäre genau zu studieren, um dann aus der
Summe der Beobachtungen das Mittel, die Gesetze eben, ableiten zu können.
Diesem Zweck dienen zunächst die auf hohen Bergen errichteten ständigen
Observatorien. Doch auch wenn es möglich wäre, sie auf den höchsten Er¬
hebungen unsrer Erdoberflüche anzulegen, würde man allein damit noch nicht
einmal entfernt in der Lage sein, den täglichen Gang der Witterung voraus-
zubestimmen, der nur als ein Produkt der untern Luftschichten anzusehen
ist. Denn abgesehen von der Unmöglichkeit solcher Anlagen bedeutet sogar
die Höhe eines Gaurisankar noch nichts gegenüber den 300 Kilometern, die
man im allgemeinen für die Ausdehnung der irdischen Atmosphäre an¬
nehmen kann.*)
Wie ist man gerade zu dieser Kilometerzahl gekommen? Die Atmosphäre
ist doch etwas für unser Auge Unsichtbares, ihre Grenzbestimmung demnach
unmöglich. Und doch haben uns die sogenannten Sternschnuppen dazu ver-
holfen. Diese Meteorite, die mit rasender Geschwindigkeit den Weltenraum
durcheilen, erglühn erst durch Reibung mit unsrer Atmosphäre, und man hat
sie noch in Höhen von 300 Kilometern bemerkt.
Und eine zweite, von der eben angeführten gänzlich unabhängige Beob¬
achtung führt zu demselben Resultat.
Ehe nämlich bei Mondfinsternissen der eigentliche Kernschatten die Mond¬
scheibe verdunkelt, huscht — schon drei Minuten vorher — ein leichter Schatten
darüber hin. Man glaubt, daß diese Verdunklung nur von der irdischen
Atmosphäre herrühren könne, für deren Ausdehnung sich dann ebenfalls die
runde Zahl von 300 Kilometern ergibt, wenn man die Geschwindigkeiten der
beiden Gestirne in Betracht zieht.
Wie erforscht mau nun diese uns umgebende immense Lufthülle? Es
wurde schon vorher auf die Notwendigkeit zahlreicher Beobachtungen hingewiesen;
nicht minder wichtig ist es aber, daß diese über möglichst vielen Punkten der
Erde zugleich gemacht werden. Zu diesem Zwecke haben sich die über die ganze
zivilisierte Welt verbreiteten Wetterstationen, die Vereine für Luftschiffahrt und
die Luftschiffertruppenteile zu einem Verbände zusammengetan und veranstalten
an bestimmten Tagen eines jeden Monats Ausstiege und Beobachtungen der
verschiedensten Art. Alljährlich tagen internationale Luftschifferkongresse, auf
den Weltausstellungen werden Preisfahrten und -finge veranstaltet, und Zeit¬
schriften besprechen alles Wissenswerte, alle Erfahrungen auf dem Gebiete der
Luftschiffahrt und der Meteorologie. So erscheinen in Straßburg die auch für
Laien hochinteressanter Illustrierten Aeronautischen Mitteilungen.
Unter den Mitteln, die für meteorologische Zwecke zur Verfügung stehn,
nimmt der bemannte Ballon die erste Stelle ein. Es ist klar, daß ein an Ort
und Stelle tätiger Beobachter am besten alles Wissenswerte feststellen kann.
Doch leider setzt diesen Hochflieger die Sauerstoffabnahme in den Luftschichten
nach oben hin bald eine Grenze. Das mußte man schon zu Anfang des neun¬
zehnten Jahrhunderts erfahren, als zum erstenmal wissenschaftliche Hochfahrten
unternommen wurden, und in den sechziger Jahren büßten die britischen Ge¬
lehrten Glaisher und Koxwell dabei beinahe ihr Leben ein. Auch bei künst¬
licher Sauerstoffeinatmung liegt die dem Menschen erreichbare Grenze nicht
wesentlich höher. Mit 10800 Metern haben am 31. Juli 1901 die Pro¬
fessoren Berson und Süring bis jetzt das Maximum erreicht. Auch sie ent¬
gingen nur durch einen Glückszufall dem Tode. Von einer Ohnmacht befallen,
waren sie nicht mehr imstande, den Ballon zum Sinken zu bringen. Da geschah
dieses, wie durch ein Wunder, infolge äußerer Einflüsse, und wirklichem Luft¬
schichten wiedergegeben, erholten sich die kühnen Forscher allmählich, die man
und Recht „die höchsten Menschen der Erde" genannt hat. Bei dieser Fahrt
wurden in einer Höhe von 10250 Metern — 40 Grad Celsius festgestellt.
(Als niedrigste Temperatur wurde — nebenbei bemerkt — am 4. Dezember 1394
^ 48 Grad in einer Höhe von 9150 Metern abgelesen.)
Um nun noch höhere, dem Menschen nicht mehr zugängliche Luftschichten
^ erforschen, läßt man unbenannte Ballons aufsteigen, die mit selbst¬
registrierenden Instrumenten ausgerüstet sind. Diese sind hauptsächlich Baro-
Hhgro-Thermographen und photographische Apparate. Man verwendet für
die Ballons entweder Gummistoff oder gefirnistcs Papier. Die größte Höhe,
worin auf diese Weise Aufzeichnungen gemacht worden sind, war 25 Kilometer.
Da nun die Instrumente bei einem Platzen und Herabstürzen des Ballons
zerschmettert werden können, befestigt man auch deren zwei übereinander; der
untere wird nicht völlig mit Gas gefüllt und entgeht dadurch dem Schicksal
seines Gefährten, doch hat er allein nur so viel Tragfähigkeit, daß er samt den
Instrumenten langsam zur Erde sinkt. In den meisten Fällen gelangen die
Apparate wohlbehalten in die Hände ihrer Absender zurück, denn beigefügte
Instruktionen dienen zur Orientierung der Finder.
Will man in einer bestimmten Luftschicht eine Reihe von Registrierungen
erhalten, so bedient man sich des unbenannten Fesselballons. Da dieser aber
mit zunehmender Höhe immer mehr Draht zu tragen hat, so ist seine Ver¬
wendung recht begrenzt. Darum gebraucht man für größere Höhen die Kasten¬
drachen, die, nach Art der Kinderdrachen vom Winde getragen, den sie haltenden
Draht weit weniger in Anspruch nehmen als die Ballons, seine Abmessungen
können demnach geringer sein (0,6 bis 0,8 Millimeter). So hat man Ende vorigen
Jahres mit einem Gespann von sechs Drachen zusammen von 27 Quadrat¬
metern Fläche eine Höhe von 6430 Metern erreicht, wozu 14 500 Meter Draht
abgelassen wurden. In der Höhe hatte der Wind eine Geschwindigkeit von
25 Metern in der Sekunde, was etwas heißen will, denn ein halb so starker
Wind macht einen gewöhnlichen Fesselballon schon zum Freiballon.
Aber zwei große Nachteile haften dem Drachen an: es ist schwer, ihn zum
Aufsteigen zu bringen, und seine Bewegungen in der Höhe sind unberechenbar,
er schießt bisweilen plötzlich mit einem Kopfsprung hinunter. Deshalb fordert
seine Bedienung große Aufmerksamkeit und Gewandtheit. Es ist auch versucht
worden, mit Drachengespannen Menschen emporzuheben, sogar bis zu einer
Höhe von 800 Metern, doch ist das für den Passagier ebenso unangenehm wie
gefährlich.
Verhältnismäßig leicht ist das Hochbringen der Drachen von Schiffen aus,
die in der Fahrt begriffen sind, und deshalb spielen sie eine große Rolle bei
der erst kürzlich begonnenen Erforschung der über dem Meere lagernden
Atmosphäre, die für uns so überaus wichtig ist, weil das Wasser ja bekanntlich
zwei Drittel des ganzen Erdballs bedeckt. Die regelmäßig verkehrenden großen
Ozeandampfer sollen diesem Zweck dienen. Wahrscheinlich wird man auch sehr
bald die über den Wüsten lagernden Luftschichten zu erkunden suchen. Wenigstens
war schon vor einiger Zeit von französischer Seite eine Überquerung der Sahara
mit unbenannten Schleppballons geplant. Und auch neue Ballonexpeditionen
nach den Polen sind in Aussicht genommen worden. Doch will man, durch
das Mißgeschick des unglücklichen Andree gewitzigt, gewissermaßen sprungweise
vorgehend, an jeder Landungsstelle eine Station anlegen, die mit der vorher¬
gehenden möglichst durch Schlittenverkehr verbunden werden soll. Hoffentlich
läßt sich dieser Plan anch ausführen. Das lenkbare Luftschiff bringt ihn ja
der Verwirklichung bedeutend näher. So ergibt sich für den Luftschiffer ein
reiches Feld der Tätigkeit. Gilt es doch, sich bei allen Wetterlagen, zu allen
Jahres-, Tages- und Nachtzeiten über Temperatur, Feuchtigkeitsgehalt, elektrischen
Zustand, Zusammensetzung der Luft, Luftbewegung, Wolken, Niederschlags¬
bildungen, Strahlungsintensität der Sonne, optische Wirkungen usw. zu unter¬
richten. (Groß, Die Luftschiffahrt.)
Von all diesem konnte nur wenig von der Erdoberfläche aus erforscht
werden; die Erweiterung, die unsre meteorologischen Kenntnisse neuerdings er¬
fahren haben, verdanken wir nur der Luftschiffahrt.
Wenn auch die Luft ein sehr schlechter Wärmeleiter ist, so werden doch
durch Auf- und Abwärtsbewegung und durch horizontale Strömungen (Wind)
Temperaturausgleiche verursacht. Durch die Wärme, die die Sonne ausstrahlt
— ihre Temperatur beträgt angeblich 6000 bis 8000 Grad —, wird der Erd¬
boden erwärmt und durch Ausstrahlung von diesem die untern Luftschichten.
Die warme Luft steigt vermöge ihres geringern Gewichts auf und gibt ihre
Wärme allmählich an die obern Schichten ab, und zwar nahe an der Erd¬
oberfläche in größern Mengen als in den obern Regionen. Man hat nun auf
Grund von 700 Ausstiegen der verschiedensten Art festgestellt, daß die Temperatur¬
differenzen zwischen den einzelnen Luftschichten von 2 bis 7 Kilometern Höhe
ständig wachsen, darüber hinaus jedoch wieder abnehmen. Ebenso ist es mit
den Jahresschwankungen der Temperatur. Selbstverständlich können zeitweilig,
auch kalte Luftschichten durch wärmere überlagert werden. So hat man zum
Beispiel gefunden, daß einmal im Winter die Temperatur in einer Höhe von
14 Kilometern um 2^ Grad Würmer war als in einer Höhe von 11 Kilo¬
metern. Ebenso wie der Erdboden sind auch zusammenhängende Meere von Ein¬
fluß auf die Lufttemperatur über den Küstenländern. Als die größten Kältegrade
sind über Se. Louis in einer Höhe von 12800 Metern — 73,1 Grad und
in einer Höhe von 14800 Metern sogar —85,6 Grad festgestellt worden.
(Auf der Erde hat man als Minimum — 68 Grad bei Werchojcmsk in Sibirien
und als Maximum ->- 57 Grad im Innern von Arabien gemessen.)
Häufige Lufttemperaturmessungen in unsern Breiten und — wie man sie
jetzt vorzunehmen beabsichtigt — an den Polen, in den Tropen und über
großen Meeren geben aber wichtige Anhaltspunkte für die Wetterbestimmung,
denn Temperaturausgleiche in der Luft erzeugen Wind, und vertikale Luft¬
strömungen beeinflussen die Wolkenbildung und darum auch die Niederschlüge.
Besonders wichtig ist, daß die relative Luftfeuchtigkeit nach oben zunächst
abnimmt, in der Wolkenschicht natürlich wieder zunimmt, dann aber rasch sinkt,
bis bei etwa 8 Kilometern Höhe vollkommne Trockenheit erreicht ist. Kühlt
steh eine gewisse Menge Luft, etwa beim Aufsteigen, über ihren Taupunkt
hinaus ab, so bilden sich Nebel oder in größerer Höhe Wolken von verschiedner
Mächtigkeit. Am häufigsten sind diese in der sogenannten Kumulusgegend und
auch dort, wo die Cirruswolken mit Geschwindigkeiten bis zu 100 Metern in
der Sekunde dahineilen (Höhe bis zu 20 Kilometern). Wegen des größern
absoluten Feuchtigkeitsgehalts bilden sich über dem Äquator die größten, über
den Wüsten die kleinsten Mengen von Wolken. Die zu winzigen Kügelchen
kondensierten Wasserteilchen vereinigen sich im Fallen zu Tropfen und werden,
falls sie nicht in einer darunter liegenden trocknen Luftschicht verdunsten, zu
Regen oder bei größerer Kälte zu Schnee. In Deutschland rechnet man mit
150 bis 200 Niederschlagstagen.
Wind nennt man eine durch Temperaturunterschiede bewegte Luftmenge.
Die Windrichtung ist erstens abhängig von der allgemeinen Strömungsrichtung
in der Atmosphäre zwischen Pol und Äquator, dann aber auch von den
Temperaturunterschieden der über dem Lande und über dem Meere lagernden
Schichten. Die Windstärke ist infolge der Reibung an der Erdoberfläche unten
geringer, nimmt mit der Erhebung über den Boden bis zu einer gewissen
Grenze bedeutend zu und wächst dann nur noch unwesentlich, was durch Berson
auf Grund von Ballonaufstiegen festgestellt worden ist. Die mittlere Wind¬
geschwindigkeit ist bei uns 5 bis 6 Meter, bei Stürmen 30 bis 40 Meter in
der Sekunde, als größter Winddruck wurde 200 bis 300 Kilogramm auf den
Quadratmeter ermittelt. In Europa herrschen Winde von Südwesten bis Nord¬
westen vor, jedoch dreht sich der Wind in höhern Luftschichten sehr häufig nach
rechts. Weiter wurde durch etwa 250 Ausstiege über Nvrdjutland festgestellt,
daß bei starkem Südwest- oder auch Nordwestwinde in einer gewissen Höhe
plötzlich sozusagen Windstille eintrat. Zu derselben Zeit wurden in Paris
Ausstiege unternommen, und man stellte an einem Tage in einer Höhe von
4000 Metern nur unwesentliche Temperaturunterschiede fest, am andern Tage
dagegen war es über Jütland um 22 Grad kälter als über Paris. Solche
und ähnliche Versuche illustrieren die große Unstetigkeit in den höhern Luft¬
schichten.
Ist der Luftdruck über einem Teile der Erdoberfläche besonders groß, so
sagen wir, es herrscht dort ein Maximum. Die Luft sucht dem vorhandnen
Drucke nachzugeben, strömt deshalb fort und steigt außerdem ab, sie erwärmt
sich dabei, verdampft etwa vorhcmdne Wolken und erzeugt vorwiegend trocknes
und heiteres Wetter. Während die Maxima langsam wandern, ziehn die
Minima, d. h. die Sphären mit geringem Luftdruck, rasch dahin. Ihnen strömt
die Luft von den Seiten und von unten zu, sie kühlt sich somit ab, kondensiert
Wasserdampf zu Wolken und bringt nasses Wetter. Luftdruckmaxima herrschen
häufig über den Azoren und im Winter über Sibirien, Minima dagegen über
dem Atlantischen Ozean nordwestlich von Europa und über dem Mittelmeer.
Durch viele Beobachtungen hat man die recht regelmüßigen Zugstraßen der
Minima feststellen können und ist darum sowie auf Grund der andern Forschungen
imstande, für etwa vierundzwanzig Stunden das Wetter ziemlich genau vorher-
zusagen; will man dies für längere Zeit tun, so müssen auch noch die Meeres¬
strömungen, die Passate und andres berücksichtigt werden.
Am 30. August 1905 diente der Ballon zum erstenmal zur Beobachtung
einer totalen Sonnenfinsternis und ihrer Begleiterscheinungen. Von der Erde
aus konnte das Phänomen wegen des teilweise bewölkten Himmels nicht in
allen seinen Stadien verfolgt werden, die Luftschiffer jedoch — auch Professor
Berson befand sich darunter — schwebten in einer Höhe von 4000 Metern
über Vurgos und über den Wolken, sie konnten das großartige Schauspiel
während seiner ganzen Dauer genießen. Es galt für sie außer allem übrigen
zwei rein meteorologische Fragen zu entscheiden:
1. Tritt die bei Beginn der Totalität an der Erdoberfläche beobachtete
Temperatureruiedriguug von 1^ bis 2^ Grad Celsius auch in höhern Luft¬
schichten ein?
2. Ist es richtig und auch für die höhern Luftschichten zutreffend, daß sich
bei Eintritt der Totalität der zurzeit wehende Wind dreht, und zwar fast um
den Kompaß herum?
Beides konnte verneinend beantwortet werden.
Begeistert schildert Berson die Großartigkeit der so seltnen Naturerscheinung:
„Zunächst die wunderbare Beleuchtung, die Färbungen am Himmel und an den
Wolken, eine ganze Skala von Tönen von Orangerot bis Violettgrau am
Himmel und an den Wolken, am Horizont ein grünlicher Streifen, dann beim
letzten Lichtblitz das plötzliche Aufflammen der herrlichen Korona, glänzend wie
flüssiges Silber, und ein schreckhaftes, schauerlich schönes, fast Entsetzen er¬
regendes Schauspiel, das unsäglich schnelle Heranhuschen des Mondschattens,
markiert durch die recht scharfe Grenzlinie zwischen Halb- und Vollschatten über
Wolken und Erde, ein Anblick, vergleichbar dem gespenstisch schnellen Fluge
eines ungeheuer großen Raubvogels. Es ist dies wohl die einzige Gelegen¬
heit auf der Erde, wo eine kosmische Geschwindigkeit, im gegebnen Falle von
750 Metern in der Sekunde aus so großer Nähe, wie die verhältnismäßig geringe
Erhebung des Ballons über Wolken und Erde (die im Laus der Fahrt häufig
durch Wolkenlücken sichtbar war) für unsre Sinne wahrnehmbar wird, daher der
übermächtige Eindruck!"
Die Meteorologie ist eine verhältnismäßig junge Wissenschaft, die sich
außerdem nur auf mühevolle Beobachtungen angewiesen sieht, ohne Experimente
anstellen zu können. Es ist deshalb erklärlich, daß sie bei dem großen Um¬
fang ihrer Forschungen vorläufig noch geringe Erfolge zu verzeichnen hat.
Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte werden noch dahingehn, bis sie von einer
festen Basis aus zum Wohle der Menschheit nicht nur Wahrscheinliches,
sondern Bestimmtes auch für längere Zeit wird vorhersagen können. Daß die
Losung dieser Aufgabe dem rastlos strebenden Menschengeiste gelingen werde,
ist nach den Errungenschaften der jüngsten Zeit und bei dem Aufschwung, den
die wissenschaftliche Luftschiffahrt genommen hat, unzweifelhaft.
er Geircmgerfjord und mehr noch der Näröfjord zeichnen sich durch
ihre geringe Breite und durch die anscheinend fast senkrecht und
bis zu 1500 Metern aufsteigenden Bergränder aus, ein Land¬
schaftsbild, das immer wieder an den Königsee erinnert.
Wer den Königsee, den Gardasee und das Adriatische Meer
mit seinen Klippen gesehen hat und diese drei in Gedanken verbindet, kann sich^
wie Professor Richter in Graz sehr treffend ausführt, mit einiger Phantasie
ein Bild von den schönsten Fjorden machen. Aber ein Hauptzug würde dem
Bilde doch fehlen, und das ist die unendliche Menge der schönsten und wasser¬
reichsten Wasserfälle, die in allen Gestalten, bald als Kaskaden, bald als
Staubbüche oder als Schleier von allen den Talwänden in die Fjorde hinab¬
stürzen. Wer je über den Gotthard gezogen ist, muß seine Freude gehabt
haben an allen den Wasseradern, die rechts und links von den Seiten
hinunterstürzen oder hinunterrieseln, aber dieser Wasserreichtum in den Alpen
ist armselig neben der Überfülle des strömenden und stürzenden Wassers in
Norwegen. Freilich gibt es in den Alpen auch keine Gletscher von 16 Quadrat¬
meilen Ausdehnung und nicht die unermeßlichen Schneefelder Norwegens.
Einige der schönsten der wie der Staubbach im Lauterbrunnertal seitlich
in das Tal hereinstürzenden Wasserfälle fallen in das Jordtal, 8 Kilometer
oberhalb von Otte, wo sich von rechts und links zugleich mehrere der schönsten
Wasserfälle — darunter der berühmte Lotefos — in das enge Tal stürzen
und mit dem tosenden Fluß, der seinen Weg in Stromschnellen durch den
Gletscherschnee erzwungen hat, ihre Wasser vereinigen. Katarakte und Strom¬
schnellen, neben denen unser lieber Rheinfall nach Fallhöhe, Wassermenge
und landschaftlicher Umgebung zurücktreten muß, finden sich in Skandinavien
mehrere, aber einer, der von Dichtung und Sage so gefeiert worden wäre
wie er, ist nicht unter ihnen. Einige von ihnen sind übrigens von der nimmer¬
satten Technik schon ebenso mitgenommen und ausgenützt wie der arme
Vater Rhein.
Von Merok am Geirangerfjord ging unsre Reise weiter über Aalesund,
das wir in den frühen Morgenstunden ungesehen passierten, nach dem be-
rühmten Romsdal, wo man sich plötzlich in die Schweiz versetzt glaubt; dann
mit einem Abstecher über den Moldefjord nach der alten Hauptstadt Norwegens,
nach Drontheim. Gern möchte ich von Drontheim und seinem Dom, einem
Juwel der romanischen Baukunst, erzählen, aber ich muß um so mehr darauf
verzichten, als ich es, um den Gang der landschaftlichen Schilderung nicht
zu unterbrechen, versäumt habe, von der Stadt Bergen zu sprechen, in der ich
vor der letzten Überlcmdtour einen Tag zugebracht habe.
Bergen hat im Mittelalter für uns Deutsche eine große Rolle gespielt,
als eines der hauptsächlichsten auswärtigen Kondore der Hansa. Die Hansen
haben es fertig gebracht, jahrhundertelang den ganzen Handel Norwegens
nach Bergen zu zentralisieren und sogar den eignen Landesbewohnern gegen¬
über zu monopolisieren; sie hatten dort ihre besondre mit einer Mauer um-
gebne Niederlassung mit eignem Landungskai, der jetzt noch die „Deutsche
Brücke" heißt. Die Mauer umschloß eine Kirche, die vielen Kondore und
ausgedehnten Stapelhäuser, von denen noch viele erhalten sind, dazu die Ver¬
gnügungslokale für die zur Ehelosigkeit verurteilten Hansen, Herren und Knechte.
Eins von den alten Kaufhäusern hat sich baulich so ziemlich im ursprüng¬
lichen Zustand erhalten. Es ist als „Hanseatisches Museum" eingerichtet
worden und gibt ein höchst anschauliches Bild von dem Leben und Treiben
der fleißigen, kühnen, gewalttätiger und üppigen Kaufherren und Zwingherren.
Daß man anch die weniger erfreulichen Züge des Bildes nicht übersieht, dafür
sorgt der Führer, ein junger Norweger, der ausgezeichnet Deutsch spricht. Er
zeigt die verschiednen Gewichte, die im Handel mit den Eingebornen, je
nachdem es sich um Ankauf oder Verkauf handelte, gebraucht wurden, und
weist aus den wunderschön geführten Büchern nach, wie jeder der Kontor¬
herren seine Fischer durch ein richtiges Sweatingsystem in dauernder Abhängig¬
keit erhielt, d. h. die Leute wurden nie ganz ausbezahlt und mußten zum Teil
Waren an Zahlungsstatt nehmen.
In Drontheim endigt die sogenannte Fjordtour. Noch an demselben
Tage trat ich auf einem andern Schiff die eigentliche Nordlandreise an.
Wenn ich meinen Eindruck über den Charakter des Pflanzenkleides der
bisher durchmessenen Strecke schildern soll, so kann ich nur sagen, daß sich in
dem, was ich gesehen habe, kein irgendwie auffälliger Unterschied gegenüber
unsrer Flora aufdrängt. Das einzige, was immer wieder auffiel, war das
häufige Vorkommen der Traubenkriche ^runus?Aauh), die übrigens allgemein
von einer Blattkrankheit befallen war, sodaß die Sträucher und die Bäume
schlecht aussahen, namentlich an den Zweigenden, wo die Mütter rot oder
braun verfärbt und vielfach aufgerollt waren. Ich darf aber nicht unterlassen,
darauf hinzuweisen, daß ich die Flora des Fjelds, die Flora der Tundra, nicht
sehen konnte, weil auf dem Fjeld noch alles mit Schnee bedeckt war.
Am Abend des 19. Juni 1905 steuerten wir auf dem Dampfer Neptun
weiter nach Norden. Das Wetter war nicht mehr so prächtig, und die Auf-
nahmefähigkeit für die landschaftlichen Eindrücke an und für sich schon merk¬
lich vermindert, denn die bisherige siebentägige Neise war ein wahres Wett¬
rennen von einem Naturschauspiel zum andern gewesen. Es schadete deshalb
nichts, daß der folgende Tag zunächst keine neue Glanznummer brachte. Man
fuhr den ganzen Tag dahin zwischen kahlen Schäreninseln und den mehr oder
weniger kahlen, zum Teil mit streifigen Schnee bedeckten Bergen des Fest¬
landes. Es waren einzelne prächtige Beispiele von Güßfeldts Zebraschnce
darunter, aber ob mit, ob ohne Zebraschnee, sie wurden mehr und mehr lang¬
weilig. Was gäbe ich freilich dafür, wenn ich diese langweiligen Bergformen
und dieses langweilige Meer heute wiedersehen dürfte! Plötzlich schreckte mich
ein Kanonenschuß aus meinen Träumereien auf. Der dröhnende Schuß war
ein Salut und galt der Majestät der Natur, die hier über den Meeresspiegel
eine unsichtbare und doch unverrückbare Grenze gezogen hat: wir hatten
soeben den Polarkreis (66" 32' 30") überschritten.
Wie oft hatte ich mit andächtigem Sinn an diesen Augenblick gedacht,
und nun hatte er mich unvorbereitet überrascht. Aber die Aufregung rief alle
meine Lebensgeister wach und nahm den Schleier von meinen Augen. Mir
ists, als sähe und fühle ich noch die ganze Situation, ja ich höre noch die
letzten Tonwellen des Schusses. Um mich war kein Mensch, und die ganze
Natur war eine Symphonie von Ruhe und gedämpftem Licht: die Luft weich
und fast warm, der Himmel wolkenlos, aber nicht so hell wie sonst, das weite
Meer im Westen spiegelglatt und sonderbar grau, nirgends ein Ruhepunkt
für das entzückte Auge, nur weit draußen einige zackige Inseln. Der Abend
sollte uns aber noch ein greifbareres Wunder bringen. Wir fuhren an dem
bis zu 2300 Metern aufragenden Steilabsturz eines Hochplateaus entlang,
das in der Länge von 56 Kilometern und in der Breite von 17 Kilometern
von einem Riesengletscher bedeckt ist. Wiederholt sahen wir Zungen davon
herabhängen, und als unser Schiff in einen kleinen Fjord einbog, sahen wir
uns plötzlich einem breiten Eisstrom gegenüber, der sich ins Meer stürzte. Es
wurde ausgebootet, und bald standen wir am Svartisengletscher. Kurz vor
dem Landen hatte es sich allerdings als eine Augentäuschung erwiesen, wenn
wir die Eismassen bis ins Meer hatten hineinhängen sehen.
Eine allerdings sehr niedrige aber etwa einen Kilometer tiefe Landschwelle
mußten wir überschreiten, ehe wir an der hohen sandbedeckten Stirnmoräne
des Gletschers standen. Weiter vorzudringen erlaubte leider die Zeit nicht;
der Anblick der dahinter aufgestauten riesigen Eisblöcke oder richtiger Eisfelsen,
der letzten Wellen des breiten zerrissenen und zerklüfteten, vom Berg sich
herabwälzenden Eisstromes, war auch so überwältigend. Auf dem Rückwege
von dem grandiosen Schauspiel konnte ich nicht umhin, auch den reizenden
Pflanzenteppich zu bewundern, den der nordische Frühling zwischen den Rinnen
und den Ninnlein des Gletscherbaches ausgebreitet hatte. Besonders in die
Augen fallend maren halbkuglige Polster einer Nelke, gespickt mit kurz-
stengligen, feurigen roten Blüten und eine Eisenbrechart, die unsrer Laxitr^a
^ixocm aufs Tüpfelchen ähnlich sieht.
Wir besteigen unser Schiff, und nach vierundzwanzigstündiger, ununter-
brochner Fahrt längs der Schnee- und eisbedeckten steilen Gebirgswand landen
wir in Tromsö, einer Stadt von 7000 Einwohnern, der nördlichsten größer»
Stadt der Erde. Da unser Dampfer erst der zweite Vergnügungsdmnpfer
dieser Fremdensaison war, so erwartete ich, daß ganz Tromsö auf den Beinen
sein werde, und daß es sich namentlich das schönere Geschlecht nicht werde
entgehn lassen, an der zu erwartenden internationalen Damengesellschaft die
neueste Mode zu studieren.
Und wer kam? Ein halbes Dutzend Buben, hinter ihnen gemessenen
Schrittes, offenbar in Geschäften, einige Schiffskapitäne und dann ein Rudel
Lappländer, die uns ihre geschnitzten Löffel und Messer usw. verkaufen wollten,
sonst niemand. Die Stadt Tromsö mit ihren sich rechtwinklig kreuzenden
breiten Straßen und durchweg neuen Holzhäusern ohne jede Spur von
charakteristischer Verzierung macht einen entsprechend langweiligen Eindruck,
der noch gesteigert wurde durch das trübe Wetter, das von der landschaft¬
lichen Umgebung fast nichts sehen ließ. Um so interessanter ist das arktische
Museum und der davor liegende botanische Garten, worin eine Reihe Ranunkel¬
gewächse, auch ein gelber Mohn üppig blühten. In seiner nächsten Umgebung
traf ich an einem Büchlein das hier wilde fast mannshohe Ssmolsum 8ibiriaouin
mit seinen kühn gezeichneten Blättern und stattlichen Blütenschirmen, einen
wahren Riesen unter der sonst ziemlich ärmlichen Pflanzenwelt. In den
Hauptsülen des arktischen Museums war in prachtvollen Exemplaren die ganze
See- und Landtierwelt der Polarzone ausgestellt.
Da waren für uns aus dem Binnenlande hauptsächlich interessant die
Wale und andre Seesäugetiere, dann die Tiere der Tundra, die bei uns
Mischen den Eiszeiten gehaust haben: der Schneehase, der Schneefuchs, der
Lemming, das Hermelin, der Vielfraß und solche, die sich auch bei uns bis
vor kurzem erhalten haben, wie der Luchs.
Noch deutlicher als das Auftreten der mit Ungeduld erwarteten neuen,
aber dem Gefühl fremden Arten verkündete mir aber den Eintritt in die Zone
einer andern Welt das allmähliche Verschwinden der alten lieben heimatlichen
Formen. Der Vorstand des Museums hatte die Liebenswürdigkeit gehabt,
wir die Tagschmetterlinge zu zeigen; da waren als Belegstücke für ver-
schiedne Lokalitüten etwa fünfzig Exemplare vom kleinen Fuchs und zwei
Exemplare vom Distelfalter, diesem Globetrotter unter den großen Tagfaltern,
aber alle unsre andern schönen Tagschmetterlinge, die Admiräle und Schiller¬
falter, und wie sie alle heißen, fehlten. Am eindringlichsten aber zeigten mir
einige andre Schaustücke des Museums, daß die gemäßigte Zone hinter uns
lag- Das erste war eine schöne Getreideähre auf hohem Stengel, die bei
Tromsö gereift war, und die als besonders schönes Exemplar in einem eignen
Glaszylinder an hervorragender Stelle ausgestellt war.
Noch eindringlicher in ihrer Naivität, ja geradezu ergreifend erzählten — in
der kulturgeschichtlichen Abteilung vom kalten Norden und dem eisigen
Winter einige Altertümer, eine Reihe von Kruzifixen: der Bildschnitzer hat
auf ihnen den Gekreuzigte» nicht wie nach der Tradition im Lendentuch,
sondern in voller Kleidung, sogar mit einer hohen Mütze auf dem Kopf
dargestellt; es war ihm einfach undenkbar, daß man in der kalten Osterzeit
einen Menschen im Freien entblößen könne, und sei es anch zum Tod am Kreuz.
Und weiter ging es der allernördlichsten Stadt Europas, dem berühmten
Hammerfest entgegen; die Schiffsgesellschaft sprach jetzt nur noch von der
Mitternachtssonne. „Werden wir sie sehen?" Alles andre, was uoch auf
dein Programm stand, schien uns nur Zeitversäumnis, wie einem Kinde die
Tage vor dem Heiligen Abend. Und doch standen uns noch vorher Wunder
über Wunder bevor. Zwischen dem schon ziemlich kahlen Tromsö und dem
uoch kahlem Hammerfest liegt ein kleiner Fjord, zu dessen Schmuck die Nntnr
alles in verschwenderischer Fülle aufgewandt hat, was sie im Norden über¬
haupt vermag. Noch einmal, unter dem siebzigsten Grad nördlicher Breite, sollten
wir vergessen, daß wir den Polarkreis längst hinter uns gelassen hatten.
Bei strahlendem Sonnenschein fuhren wir in den Lyngenfjord ein und
landeten bei Lhngseidet, dem Mittelpunkt der noch gut bewohnten Gegend. Da
war eine hübsche Kirche, das sehr stattliche Haus des Regierungsbeamten und ein
ebenso stattliches Haus, worin der Landhändler alles zum Verkauf ausstellte,
was der Bauer, der Lappländer und der Tourist irgendwie begehren mochte.
Die ganze Ansiedlung war klein genug, aber wie sie dalag, ganz gebadet in
Licht und Wärme und hineingebaut in den schönsten grünen Rasen, der all¬
mählich in einen frischgrünen Frühlingswald überging, war sie ein wahres
Idyll. Das Merkwürdigste aber war dieser Wald selbst, er bestand nur aus
Birken, Eschen und Vogelbeeren, aber trotzdem waren seine einzelnen frei¬
stehenden Gruppen so mannigfaltig aufgebaut, daß ich die große Zauberin Natur
nie so bewundert habe wie hier, wo sie mit den einfachsten Mitteln ein so
reizvolles Bild zu schaffen verstand. In diesen Nahmen hineingestellt denke
man sich nun eins der fremdartigsten Bilder von urtümlichem Volksleben, ein
Lager von Lappen mit ihren großen Nenntierherden, einen Rest Nomadentum,
mitten im „behausten" Europa.
Für mich, der ich kurz zuvor die Überreste der prähistorischen Renntier¬
menschen auf schwäbischen Boden am Schweizerbild und am Keßlerloch bei
Schaffhausen gesehen hatte, war diese Begegnung doppelt interessant, weil ich
so recht sehen konnte, wie die Unmassen von Geweih- und Knochenabfällen zu¬
stande kommen, die die Schweizer Forscher in metertiefen Schichten in und
unter den alten Wohnstütten ausgehoben und wagenweise zur genauen Durch-
suchung weggeführt haben. Da waren die flachbicnenkorbförmigen fellbedeckten
Wohnzelte, in denen das Herdfeuer brannte, neben dem die Überreste der
Mahlzeit auf den Boden fallen, wo sie von Zeit zu Zeit einfach mit neuer
Streu bedeckt werden, soweit sie nicht vorher ein Hund mitnimmt. Daneben
die äußerst einfache», nur mit eine»? zweifelhaften Dach versehenen Gestelle,
in denen die abgezognen Felle der Renntiere zum Trocknen aufgehängt werden,
und neben denen allerlei Hantierung vorgenommen wird, ohne daß die Ab¬
fülle weggeräumt werden. Wo man geht und steht, liegt der Boden voll von
allen möglichen Abfüllen vom Renntier, das, abgesehen von dem schon mehr
zur Familie zählenden freundlichen Hunde, das einzige Haustier, der Lebens¬
unterhalt, der Schatz und die Freude der Lappen ist. Zwischen den Jurten
und den großen Einzäunungen für die Herden hatten sich die Lappen,
etwa hundert Menschen aller Altersklassen, versammelt, um die Fremden zu
empfangen, und alsbald entwickelte sich ein ganzer Markt von Erzeugnissen ihrer
Kunstfertigkeit. Abgesehen von reizenden Kinderschuhen ans Ncnutierfellen
hatten sie nichts als Schnitzereien aus den Knochen und deu Geweih Stücken
vom Renntier in Gestalt von Löffeln und von Messerscheiden anzubieten. Die
Löffel hatten am Ende des Stiels oft einen gar nicht Übeln menschlichen
Kopf, die knöchernen Messerscheiden waren vielfach in sauber durchbrochner
Arbeit ansgeftthrt; Geweihstücke waren an einer Fläche angeschliffen und zeigte»
auf dem weißen Grunde ganz hübsche, mit schwarzer Farbe eingeritzte Zeichnungen,
meist mit Nenntieren bespannte Schlitten vorstellend.
Während des Handels konnte man sich die Lappen bequem betrachten.
Die kleinen Männer mit ihren verrunzelten braunen Gesichtern sahen alle
recht gutmütig und in ihrem Sonntagsstaat ganz behaglich aus, aber der
lappländische Schönheitsbegriff ist hoffentlich ein andrer als der unsrige, sonst
dauern mich ihre armen Frauen. Wenn ich übrigens auf den ersten Anblick
hin von urtümlichem Volkstum gesprochen habe, so muß ich das schon einiger¬
maßen einschränken; der lappische Handel hat sich schon bis zur Höhe von
Ringbildung emporgeschwungen, die bei dem Feilschen der armen Vergnügungs-
reiseuden auch recht angebracht war.
Am 2. Juli, es war ein Sonntag, kamen wir Morgens in der Bucht
von Hammerfest an, dessen schiffsbelebter Hafen die Hcmdelsbedeutnng der
kleinen Stadt verrät, die sich zwischen einem schützenden Hügelzug und dem
Meer zusammenzwüngt. Von diesem Hügclzug aus hat man eine prächtige
Aussicht über Land und Meer und über sonderbar geformte Inseln, die zum
Teil vollstüudig vergletschert und noch ganz unerforscht sind. Am Fuß dieses
Hügels findet man auch den berühmten nördlichsten Wald Enropas, eiinge
hundert Birken, bei denen man im Zweifel sein kann, ob man sie als hohe
Büsche oder als niedrige Bäume ansehen soll. Der Hauch des Frühlings
hatte sie noch kaum berührt, und ihre von allen Unbilden des Wetters und bis
vor kurzem auch von der Heimsuchung durch Ziegen angenommnen Gestalten
sahen aus, als wenn sie nichts gutes vor sich hätten.
In dem feinsten Teil des Städtchens war im Schutz eines durch seine
großen Fenster auffallenden Hauses ein kleiner, sehr sauber gepflegter Garten,
darin waren eben (am 2. Juli) die Hyazinthen, und wenn ich mich nicht sehr
täusche, die Tulpen im Abblühen. Dementsprechend gab uns der Gang nach
der Meridiansüule auch ganz den Eindruck des Osterspaziergangs im Faust;
ganz Hammerfest war unterwegs und sonnte sich bis hinunter zu den Kindern,
die ihrem zweiten Lenz entgegengingen, und die hier in der Heimat des Leber-
trcms so krummbeinig daherkamen wie nur irgendwo in einer Fabrikstadt.
Die Meridiansänle, die zum Andenken an den Abschluß der europäischen Grad¬
messung errichtet worden ist, steht auf einer kleinen Landzunge mit prächtiger
Aussicht; ihre Umgebung hat noch ganz den Reiz der Ursprünglichkeit, und
zu ihren Füßen blühte massenhaft unser Löwenzahn, aber mit stengellosen, sich
kaum vom Boden abhebenden Blüten. Ich freute mich schou über die Entdeckung
dieser nordischen Form, als ich in einem umzäunten Grasplatz in der nächsten
Nähe das schöne Unkraut wahre Orgien feiern sah mit Blütenköpfen und
Stengeln so üppig wie nur je bei uns; bald entdeckte ich auch in einigen
Ziegen, die sich ohne weitere Umstände an der in der Geschichte der Wissenschaft
so berühmten Stelle herumtrieben, die unbewußten Züchter meiner nordischen
Varietät von lÄraxavum I^sontoxoäiam!
Der Schluß dieses Tages soll uns nach dem Programm den Anblick der
Mitternachtssonne bringen! Niemand hat mehr für etwas andres Sinn, man
liest nicht einmal mehr im Führer nach oder in dem angeschlagnen Tages¬
programm. Bis jetzt hatte „Det Bergenske und Nordenfjeldske Dampskibsselskab"
ihre Versprechungen glücklich eingelöst, wird sie uns auch die Mitternachts¬
sonne vorführen? Immer ungeduldiger werden die großen Kinder, plötzlich
sehen wir mit Erstaunen, daß das Schiff gerade auf einen großen Felsen zu¬
hält, der beim Nüherkommeu ganz weiß aussieht. Plötzlich ertönt ein Kanonen¬
schuß, und die Dampfpfeife macht einen ohrenzerreißenden Lärm, daß sich sogar
die Amerikaner aus ihren Schaukelstühlen erheben. Was vor uns liegt, ist
einer der berühmtesten Vogelberge des Nordens, der Hjelmsöstauren, von dem
sich jetzt Tausende und Abertausende von Vögeln kreischend und mit den
Flügeln schlagend erheben. Vielleicht noch mehr von den Vögeln bleiben sitzen,
aber wenn die weißen Vögel auch alle aufgeflattert wären, der Felsen wäre
doch weiß geblieben. Nachdem die nötigen Photographien gemacht worden
waren, dampften wir weiter; es dauert uicht lange, so kommen die Matrosen
mit sonderbarem Gerät daher und bändigen jedem Reisenden, Männlein und
Weiblein, ein Stück aus. Es sind Dinger wie große Kleiderbügel, aber von
Eisen, und an jedem hängt an einer meterlangen Schnur ein starker Angel¬
haken, und um jeden Zweifel zu beheben, gehört zu jedem Stück auch noch
ein großer Haspel mit Leine. Wir nähern uns einer der reichen Fischbänke,
die der Norweger „Fischberge" nennt, und von denen behauptet wird, daß sich
die Fischschwärme dort manchmal so drängen, daß sie für das Senkblei ein
Hindernis abgeben. So arg war es nun gerade nicht, als wir der Amphitrite
stummes Heer bekriegten, aber immerhin zogen wir ohne jede Lockspeise in
einer Stunde über fünfzig Dorsche von 50 bis 80 Zentimeter Länge heraus,
und es war ganz merkwürdig, welche Mordlust in mehrere der liebenswürdigsten
Leute fuhr, die gar nicht genug bekommen konnten. Soviel ich sehen konnte,
wurden keine andern Fischarten gefangen, nur zwei Sodawasserflaschen sandte
der erzürnte Ägir zum nicht geringen Schrecken einer angelnden Miß herauf.
Wie leicht im Zusammenhang mit der Jagdlust übrigens auch sonst eine
gewisse Gefühlsvcrwirrung eintreten kann, mußte einer der Herren erfahren, der,
durch einen verdorbnen Magen besonders elegisch gestimmt, die Leiden der
blutend und zuckend auf Deck herumliegenden Fische durch Schläge auf den
Schädel mit einer Eiscnstange abzukürzen suchte: „Wie können Sie so grausam
sein!" sagte zu ihm mit vorwurfsvollem Blick eine mitleidige Dame.
Mittlerweile tauchte die Felseninsel Magerö am Horizont auf, nud bald
sahen wir das Nordkap in der nächsten Nähe vor uns. Das Schiff stoppt aber
»och nicht zum Landen, denn zuerst muß noch eine der wichtigsten Aktionen
im Leben der marinierten Vergnügungsreisenden vorgenommen werden, das
Abendessen. Gegen zehn Uhr wird ausgebootet. Niemand bleibt diesesmal
zurück, auch die dienstfreie Mannschaft und das Wirtschaftspersonal macht sich
bereit, nur ein Engländer läßt sich zur Fortsetzung des Fischens das kleine Boot
geben. Am Ufer warten unser, aufgefangen und festgehalten von den Meer-
Pflanzen, die großen Kopfe der eben erst verspeisten Fische und schauen uns
mit ihren gequollnen Augen melancholisch an. Der schmale Strand besteht
aus prächtigen Urgebirgstrümmern jeder Größe, vom Spiel der Wogen bis
zur vollendeten Kugelform gerollt. Angesichts dieser Zeugen der Gewalt der
Brandung wundert es mich nicht mehr, daß unser Kaiser bei schlechtem Wetter
am Nordkap nicht aufsteigen konnte, weil bei dem herrschenden Sturm niemand
die Verantwortung für die Sicherheit der Landung übernehmen durfte. Wir
trafen es besser und konnten uns ohne Anstand die äußerst primitive Landungs¬
treppe, die reinste Hühnerleiter, hinaufziehn. Nach wenig Schritten standen
wir vor dem schon erwähnten Postamt. Dann gings in einer tiefeingeschnittncn
im Schatten liegenden Klinge neben der Bachrunse ziemlich steil aufwärts. Die
ganze Klinge war prächtig begrünt, und zahlreiche Gruppen von üppig blühenden
gelben Dotterblumen (^rollws Luropaeus) brachten Abwechslung in die satte
Grundfarbe, nicht zu gedenken der blühenden Weiden und vieler andrer Blüten,
die das behagliche Schrittmaß des Aufstiegs zu beachten genugsam Zeit ließ.
Also bis in Europas äußersten Norden hatten der Golfstrom und der Frühling
über die physikalische Geographie und ihre Lehrsätze gesiegt! Je höher wir
stiegen, desto Heller wurde es, und oben empfing uns das hellste und vollste
Tageslicht. Im Fluge durchmaßen wir die schmale Hochebene und standen bald
am nördlichen Absturz unsers Felseneilands.
Da lag auch vor uns. mir wenig über dem Meer, die strahlende Sonne —
über uns in wolkenloser Klarheit der Himmelsdom. vor uns der wette Ozean,
spiegelglatt, ein Bild der Unendlichkeit. Nach der Sitte unsrer germanischen
Vorfahren begrüßten wir mit vollen Bechern das Tagesgestirn am Wendepunkt
seines Laufs, nachher aber kam auch der moderne Mensch zu seinem Recht.
In dem Augenblick, wo die Kanone des Schiffs die zwölfte Stunde ankündigte,
schnappte auch der Drücker an dem Kasten des Photographen, und die Mitter¬
nachtssonne hatte ihre Schuldigkeit getan.
Wir warteten so lauge, bis die Sonne wieder zu steigen schien, dann traten
wir den Rückgang um über die sterile, mit glänzenden und im Sonnenlicht
blinkenden Kristallen besäte Hochfläche, bei einer Beleuchtung, wie sie im Hoch¬
gebirge einem heißen Tage vorcmszugehu pflegt.
Noch einmal sollten wir die Mitternachtssonne sehen, ebenfalls großartig,
aber ganz anders als vom Nordkap aus. Es war am Abend des folgenden
Tages, als wir aus dem Lyngenfjord wieder dem offnen Meere zustrebten. Die
Szenerie war die des obern Engadins, prächtige wilde Bergketten rechts und
links, alle mit Schnee und Eis gekrönt, dazwischen tiefe Einschnitte mit weit
herabhangenden Gletscherzungen. Am Himmel jagten schwarze Wolken, nur
gegen Norden war der Horizont frei, und als zur richtigen Zeit das Schiff
aus der Enge des Fjords herauskam, strahlte die tiefstehende Sonne in das
Düster hinein, so recht wie wir uns mit unsrer festgewurzelten Vorstellung
von Tag und Nacht die Mitternachtssonne denken.
Jeder halbwegs zufriedne Mitternachtssonnenreisende Hütte nach so viel
Wetterglück eigentlich hoch befriedigt sein sollen; obgleich ich im allgemeinen
nun nicht zu den ganz undankbaren Geistern gehöre, kann ich doch nicht ver¬
hehlen, daß ich gerade das, was ich vor allem gern gesehen hätte, nicht zu
sehen bekommen habe: ich hätte gern einmal im Leben die himmelumwandelnde
Sonne einen vollen Kreis um meine Wenigkeit beschreiben lassen mögen, die
Tatsache ihres Rundgangs und ihres Nichtuntergehns Hütte ich gern als ein¬
facher Naturmensch mit den Augen verfolgt, statt sie mit Uhr oder Kompaß
und logischem Rüstzeug erschließen zu müssen. Für solche sonderbare Heiligen
sind die eiligen Touristenfahrten nun nicht zugeschnitten, und es wird schon
noch einige Zeit dauern, bis auf dem Nordkap statt des einfachen Champagner¬
pavillons ein Hotel ersteht, von dem aus man solchen Grillen nachgehn kann.
Vielleicht war es übrigens besser so, daß dieses Haus noch nicht steht,
denn sonst hätte dem Uhrenverächter am Ende noch das Schicksal jenes fran¬
zösischen Hahnes geblüht, der, im Lande der Mitternachtssonne mit der Zeit¬
einteilung aus Rand und Band gekommen, sich zuletzt aus Verzweiflung in
das Meer stürzte, wie uns Graf Zeppelin in seiner Spitzbergenfahrt gar
launig erzählt.
lizabeth sollte bald Gelegenheit haben, ihr Versprechen zu halten.
Sir Thomas hat kein Glück im Spiel, sagte Königsmark. Ebenso
wie sie hatte er den Jrländer und den Baronet am Spieltisch beob¬
achtet.
Hat er überhaupt Glück in irgendeines? fragte Lady Elizabeth
mit einem etwas verächtlichen Lachen.
Und das könnt Ihr fragen — Ihr, Lady Ogle? Karl Königsmark sah
mit seinen großen, schelmischen Augen ans sie hinab. (Die tanzten, sagte Lady
Elizabeth.)
Ach ... Sie war noch nicht recht an den Jargon gewöhnt, errötete leicht
und fühlte sich ein wenig dumm. Aber es währte nicht lange. Im nächsten
Augenblick sah sie ihm unerschrocken, fast herausfordernd ins Gesicht und antwortete:
Ich weiß wohl, was das Sprichwort sagt, aber hier — das versichere ich
Ihnen hoch und teuer — paßt es gar nicht. Sir Thomas hat nicht mehr Glück in
der Liebe als ... als .. . Sie genierte sich, den armen Lord Jeffries zu nennen,
an den sie dachte, und war trotz allem altmodisch genug, es unzart zu finden, da
sie Gast auf seiner Hochzeit war. Er nimmt mich meines Geldes wegen, und ich
nehme ihn des seinen wegen. Glaubt Ihr denn, Graf Königsmark, daß das etwas
mit dem Glück oder dem Unglück im Spiel zu tun hat?
Madame, sagte Königsmark, über sie gebeugt, und obwohl sie fühlte, daß sie
bis an den Hals hinab errötete, hielt sie mutig seinen unverschämten und zudring¬
lichen Blick aus. Ich frage Euch auf Ehre und Gewissen: Ist Sir Thomas es
wert, daß manch ein Mann ^- ich scheue mich nicht, zusagen: der besser ist als
er — mit Schmerzen und bitterm Chagrin in sein Grab fahren soll, weil . . .
weil ...
Er beugte sich plötzlich tief hinab und küßte die Spitzen an ihrem Kleide.
Ach, Bella Rubbia! seufzte er warm, sie mit dem spanischen Namen benennend, von
°em er zu sagen Pflegte, daß er so gut für sie passe.
Lady Elizabeth war geschmeichelt und entzückt, gar uicht mehr verlegen. Sie
Sog das Kleid zu sich heran — als sie das tat, kam ihre Hand statt dessen mit
seinen Lippen in Berührung — und sah lächelnd hinab in die strahlenden
"lauen Augen unter dem blonden, seidenweichen Haar, das zu befühlen sie fast Lust
verspürte.
Lady Sophia sieht zu Ihnen herüber, sagte sie bedeutungsvoll, mit einem
plötzlichen Bedürfnis, ihn wissen zu lassen — daß sie es wisse.
Lady Sophia Wright? . . . fragte er unschuldig mit einer so starken Betonung
des Nachnamens, als gäbe es für ihn viele Sophias, aber nur eine Elizabeth.
Und dann — indem er ihren Augen begegnete und den vielsagenden schelmischen
Blick sah, mit dein sie sich erlaubte, den Finger auf den Mund zu legen —: Wer
but Wohl Augen für deu Mond, wenn die Sonne soeben aufgegangen ist?
Und mit dergleichen galanten Redensarten, die zu jener Zeit in Whitehall sehr
Mode waren, fuhr er über eine halbe Stunde fort, ihr zu schmeicheln. Sie
aber lachte nur und blieb ihm keine Antwort schuldig, vielleicht ein wenig wärmer
und mit mehr Glanz in den Augen, aber keinen Augenblick davou berührt.
Sie saß ganz im Hintergrunde des langen Festsaals in einem der neuen, ver¬
goldeten, seidenbezognen Lehnstühle, die der Jarl von Pembroke aus Paris hatte
kommen lassen. Hinter ihr, zwischen zwei Lcnnpetten, hing ein Gobelin in Grün,
der eine Jagd in Mcirly darstellte — ein Geschenk von Colbert an das Haus
Pembroke. Viele, die Elizabeth Percy an jenem Abend sahen, und unter ihnen
Seine Majestät selbst, meinten, wenn sie die welterfahrenste Kokette gewesen wäre,
die sich durchtrieben ihren Platz ausgesucht hätte, sie keinen vorteilhaften Hinter¬
grund für das feine Oval ihres hochgetragnen Kopfes, für ihren schlanken, laugen
Hals und ihre feinen Schultern hätte finden können. Der Lichtschein von oben
verlieh ihrem Haar Kupferglanz und verlieh der schweren, weißlichgrauen Perlen¬
schnur, die es zusammenhielt, einen schimmernden Glanz; von den Ohren herab
sielen ein paar lange, birnenförmige Perlen auf den Hals. Das Kleid, das sie
trug, bestand nur aus Heller, graugrüner Seide und durchsichtigem Spitzentüll —
auch nicht eine Unze Gold, das sie des Haares wegen immer zu meiden Pflegte.
Sie gleiche, sagte Graf Kvnigsmark — in einem französischen Sonett, das er ihr
später sandte —, der Morgendämmerung ihrer nördlichen Heimat, in Nebel gehüllt.
Aber auf den breitschnabligen roten Schuhen, die unter den Falten des Kleides hervor¬
guckten, trug sie Gold wie auch klare Diamanten.
Ihr wißt, Madame — begann Karl Königsmark wieder in dem ausgesuchten
Hofton, den er in Italien gelernt, und in dem er sich in Whitehall ausgebildet
hatte —, daß es einem Toren erlaubt ist, noch mehr zu fragen, als was zehn
Weise beantworten können. Nun bin ich aber ein Tor — er legte die Hand auf
seine Brust und senkte einen Augenblick das Haupt —, und Ihr, Lady Ogle, seid
wahrlich weiser als Pallas, Venus und Juno zusammen.
Wenn ich weise bin, sagte Lady Elizabeth, so erwartet Ihr wohl nicht, daß
ich antworten soll.
Dann laßt Euern Mund schweigen, seht mich aber nur an, und mein Herz
liest die Antwort in Euern Augen.
Er beugte sich über sie, plötzlich ernsthaft:
Liebt Ihr jemand?
Seine brüske und offenbar ehrlich gemeinte Frage überrumpelte sie in dem
Maße, daß sie — rot wie Blut — die Augen niederschlug, unfähig, ein Scherz¬
haftes Wort hervorzubringen.
Er schwieg ein paar Sekunden — freute sich über seine Schlagfertigkeit.
Sie fühlte während der ganzen Zeit seine Augen auf ihrem Antlitz ruhen und sah
nicht auf.
Dann ergriff er leise ihre Hand, die auf der Lehne des Stuhles ruhte.
Habt Dank für Eure Aufrichtigkeit, sagte er. Jetzt weiß ich, was ich wissen
wollte.
Sie sah schnell auf — in seine lächelnden, triumphierenden Augen und begriff,
daß er glaubte — daß er sich einbildete, daß . , . daß er es sei ...
Im ersten Augenblick wurde sie ärgerlich, pikiert — dann unruhig. Dann
aber lachte sie und fand nur, daß es amüsant war. Und als er, seines Sieges
gewiß, sich noch einmal über ihre Hand beugte, war sie leichtsinnig genug, sie ihn
behalten zu lassen.
Die Prozession nach dem Brautgemach fing an sich zu ordnen. Die Braut
war schon vor langer Zeit weggeführt, und man vermutete, daß ihre Mutter und
die Herzogin von Portsmouth im Verein mit einigen der vornehmsten Damen schon
die letzte Hand an ihre Toilette gelegt hätten.
Auch der Bräutigam war in eins der andern Zimmer entführt worden, und
nachdem der kleine Herzog von Richmond — der Sohn des Königs und der
Herzogin von Portsmouth — dem Lord beim Entkleiden behilflich gewesen war,
erwies ihm Seine Majestät die Ehre, ihm eigenhändig das Hemd anzuziehn. Nach
diesem höchst bedeutungsvollen Augenblick wurde er — groß, unbeholfen und rot¬
haarig, in einem Nachtgewand aus steifem Silberbrokat, eine Spitzenmütze auf dem
Kopf — feierlich in das reichgeschmückte Brautgemach geführt, wo die Braut, in
einem vergoldeten Himmelbett aufrecht zwischen den Kissen sitzend, auf ähnliche
Weise gekleidet und von allen den assistierenden Damen umgeben, mit angemessenen
Ernst seiner harrte.
Lady Elizabeth fand, als sie sie mit ihrem hochgetürmten Kopfputz und dem
steifen Staatsgewand erblickte, daß sie eine auffallende Ähnlichkeit mit dem japanischen
Mikado habe, den ihr der König oben auf der Schatulle gezeigt hatte.
Die ganze Brautschar schritt in einer Prozession am Bett vorüber, machte
gewissenhaft ihre Reverenzen und zog sich wieder zurück. Den Hut auf dem Kopf
und die Hand am Degen stand Seine Majestät während der ganzen Cour rechts
von dem wappengeschmückten Bett, während die Herzogin von Portsmouth, königtnnen-
haft und prächtig in ihrem diamantenbesetzten Galakleide aus Goldbrokat und gelber
Seide, an der linken Seite stand. Einige mürrische alte Parteigänger, die den
kriegerisch puritanischen Hof des Protektors gesehen hatten und Falklands Freunde
gewesen waren, flüsterten in den Ecken miteinander darüber, daß „Madame Carwell"
so nannten sie mit dem Spottnamen des Pöbels höhnend Louise de Querouailles,
durch Seiner Majestät Gnade Herzogin von Portsmouth und durch seines Bruders
von Frankreich Galanterie Herzogin von Aubigny — heute Abend ganz sicher die
Hälfte der Kaufsumme für Dünkirchen auf dem Leibe trage. Aber ihr Mißver¬
gnügen und ihre finstere Miene waren glücklicherweise nicht imstande, die schöne
und feierliche Zeremonie auf irgendwelche Weise zu stören.
'
Lady Elizabeth langte daheim in Se. James Street an, ganz erbaut von all
diesem Pomp und dieser Pracht, von diesem Dekorum in einer Situation, die sie
sub ganz anders vorgestellt hatte. Und nachdem sie dieser mondainen, nach allen
Regeln der Mode inszenierten Hochzeit beigewohnt hatte, erschien es ihr noch un¬
möglicher als ehedem, daß die Ehe etwas mit der Liebe zu tun haben könne. Es
war alles so geordnet gewesen, als wenn man sich zu einer Quadrille aufstellt:
of voici — w vont — Arara eoraxliment! Sie sagte respektlos zu Amelia, als
diese ihr das Haar sür die Nacht aussteckte, sie möchte wohl wissen, ob sie einen
Tanzlehrer da drinnen gehabt hätten, um das Tableau zu arrangieren und Seine
Majestät in Positur zu stellen. Er stand so, als wäre er gemalt, versichere ich dir,
Fußspitzen nach außen . . .
Ja ja, Mylady, sagte die schläfrige Amelia, die nicht zum Scherzen aufgelegt
war. Wer zuletzt lacht, lacht am besten.
Lady Elizabeth sprach eine ganze Weile kein Wort, saß nur still mit gesenktem
Haupt da und während das Mädchen sich mit ihrem Haar zu schaffen machte. Dann
sagte sie leise mit gedämpftem Lachen:
Ich saß da und dachte darüber nach ... wie ... wie jemand, den ich kenne,
sich in dieser Quadrille ausgenommen haben würde.
Kapitän Percy wird sich auch wohl unter den Großen zu benehmen wissen,
wenn es darauf ankommt, sagte Amelia spöttisch. Sie war selber aus Northumber-
land und duldete nicht, daß sich jemand über ihre Landsleute lustig machte.
An den habe ich ja gar nicht gedacht! fuhr Lady Elizabeth auf — „ganz
Wie ein Löwe, wenn man den auf den Schwanz tritt", sagte Amelia später. Wie
sollte ich wohl an den denken?
Es ist auch das beste, wenn Mylady es nicht tut, erlaubte sich Amelia zu
meinen.
Lady Elizabeth hatte ihre allersouveränste Percymiene aufgesetzt, als sie der
Kammerjungfer ihr Antlitz wieder zuwandte. Mistreß Amelia, sagte sie scharf, be¬
halte du deine Ratschläge für dich allein. Ich glaube nicht, daß dir Kapitän Percy
dafür danken würde.
Lsvars ok Os.ri'oth K'cui Mi'tKniudsi'Jena! , , .
Aus dem dichten Schatten der frischbelaubten Ulmen trat Elizabeth Percy auf
den sonnenbeschienenen Rasenplatz hinaus, und ihr dunkelgrünes Sammetkleid, das
soeben unter den Bäumen fast schwarz ausgesehen hatte, ging jetzt plötzlich in Birn
und seegrün über. Sie hatte weder Hut noch Schleier auf dem Kopfe — das rot¬
braune Haar fiel üppig und sonnenbeschienen um Stirn und Ohren; eine breite,
gezackte Spitze garnierte die tief ausgeschnittene Taille und hing ganz über die
Halbärmel hinab. In der Hand hielt sie die hohe, blaßrote Blüte einer eben cmf-
gebrochnen Kastanie.
An ihrer Seite schritt Graf Königsmark, den Hut unterm Arme, die Hand
an dem Degen, der den Schoß seines gelben seidnen Rockes nach der Seite ab-
stehn machte. Vornübergebeugt sprach er ernsthaft und eifrig auf Lady Elizabeth
ein, die selten antwortete, aber lächelte, den Kopf schüttelte und oft, die Blüte an
die Nase führend und die Augen schließend, den Nacken znrückbog. Weder sie noch
der Graf schienen zu bemerken, daß sie direkt auf die übrige Gesellschaft lossteuerten,
die unten um den großen Teich versammelt war.
Sie waren in diesen Tagen beide Gäste auf Sir Thomas Thynnes Gut
Longleat, wo er zu Pfingsten eine Reihe von Festen zu Ehren seines hohen Freundes
und Gönners, des ältesten Sohnes des Königs, des Herzogs von Monmouth, ver¬
anstaltete. Um Lady Elizabeth zu beeinflussen, die, je näher die Zeit ihrer Hochzeit
heranrückte, mit immer steigendem Unwillen davon redete, hatte die verwitwete
Gräfin von Northumberland auf Lady Sophias und andrer Rat für ihre Enkelin
und sich die Einladung zu einem Besuch in Sir Thomas Haus angenommen —
da sie doch ihrer Gicht wegen nach Bath reisen wollte. Longleat galt nämlich zu
jener Zeit für den prächtigsten Herrensitz in England., Das Schloß war verhältnis¬
mäßig ganz neu — unter Königin Elisabeths Regierung von Johann von Padua
begonnen — und war erst ganz kürzlich unter der Oberaufsicht des berühmten Archi¬
tekten Sir Christopher Wren vollendet worden. Es war keine finstre, alte, mittel¬
alterliche Festung mit Wällen und Türmen wie Alnwick, sondern ein moderner
italienischer Palast, ausgedehnt, bequem, mit großen, blumengeschmückten Terrassen,
sür Festlichkeiten und zu einem friedlichen, üppigen Leben für reiche Leute erbaut.
Die Gärten, die von Gärtnern aus Versailles angelegt und gepflegt und mit Rosen
und holländischen Tulpen geschmückt worden waren, wie ihresgleichen nicht einmal
Sir William Temple auf seinen weit weniger umfangreichen Rabatten auf Sheen
hatte, waren weit berühmt und übertrafen alle ähnlichen Anlagen im Reiche. Der
Park war natürlich nicht so groß wie Hulne Park, aber prächtig und reich an edelm
Wild. Lady Elizabeth fühlte sich denn auch — wenigstens im ersten Augenblick —
ganz überwältigt von dem ganzen Besitz und mußte einräumen, sie habe doch nicht
geglaubt, daß „Tom von den Zehntausend" so fürstlich wohne.
Der Herzog von Monmouth trug auch durch seine Gegenwart in hohem Maße
dazu bei, erhöhten Glanz über das schon im voraus strahlende Longleat auszugießen.
Seine Gnaden — die eifrigsten seiner Anhänger Wagler schon, ihn Hoheit zu titu¬
lieren — war zu dieser Zeit, wo der Stern von seines Vaters Bruder, des Thron¬
folgers, niedrig stand, der meist besprochne, gesuchteste und anziehendste Kavalier in
seines Vaters Reich, und er entfaltete eine Pracht, die seine Freunde wie seine
Feinde blendete und verwirrte. Jetzt trat er immer wie ein legitimer Prinz von
England auf: er behielt seinen Hut in des Königs Gegenwart auf, trug violette
Trauerkleidung für fremde Fürsten und führte Englands Löwen und Frankreichs
Lilien ohne Querbalken in seinem Schilde. Seinen Hut schmückte an Stelle der
Agraffe ein längliches Medaillon, auf dem man deutlich den Wahlspruch des Prinzen
von Wales und die drei Straußenfedern sah. Sein Übermut kannte keine Grenzen;
aber des Königs Vaterliebe und seine eigne unbestrittne persönliche Liebenswürdigkeit
machten alles wieder gut, entschuldigten alles. Hier auf Longleat war er die Seele
aller Vergnügungen, und es gefiel ihm — was ja übrigens nur natürlich war —,
Sir Thomas auserkorner Braut eine auffallende Aufmerksamkeit zu erzeigen. So
hatte er beim Ringkampf im Park ihren gestickten Handschuh auf seinem Hute ge¬
tragen, und bei der großen MÄsauo, die Sir Thomas später gab, hatte er Lady
Elizabeth mehr als einmal zum Tanze geführt. Sie war geschmeichelt und entzückt
von seiner Aufmerksamkeit — nicht weil er des Königs Lieblingssohn war; Bastard
ist Bastard, sagte sie nonchalant zu Lady Sophia, er mag nun Stuart oder Percy
heißen! —, sondern weil er ohne Frage das schönste Gesicht hatte, das sie jemals
an einem Manne gesehen hatte, Graf Königsmark selber nicht ausgenommen. Sie
war ja leicht begeistert für alles Neue — in Feuer und Flamme über ein paar
beredte Augen, eine weiche Stimme, ein verständnisvolles und munteres Lachen.
Karl Königsmark, der ihr beständig, ohne die geringste Rücksicht auf Sir Thomas
zu nehmen, hartnäckig den Hof machte, fühlte sich denn auch gekränkt und eifersüchtig.
Es gab sogar Augenblicke, in denen er ernstlich zu glauben begann, daß sich seine
Bella Rubbia — trotz aller ihrer muntern Freundlichkeit, ihrer großen Offenherzigkeit
und ihrer Lust, Schmeicheleien und Komplimenten zu lauschen — in Wirklichkeit
keinen Deut mehr aus ihm machte als aus den übrigen Herren, die ihr ihre Auf¬
wartung machten.
Diese Entdeckung reizte und verletzte deu jungen Mann mehr, als er sich an-
fänglich eingestehn wollte. Lady Sophia hatte seine Meriten nicht übertrieben, als
sie sie Lady Elizabeth auf der Reise nach London geschildert hatte. Er galt wirklich
in den drei größten Modezentren der Welt — in Paris, Madrid und London —
für unwiderstehlich. Prinzessinnen von Geblüt, Maitressen von Königen hatten sich
mehr als einmal nach dem Taschentuch gebückt, das er geruht hatte, ihnen zuzuwerfen.
Bisher hatte er sich nicht herabgelassen, einem jungen Mädchen alles Ernstes seine
Aufmerksamkeit zu schenken — und Lady Elizabeth wurde ja immer als junges
Mädchen betrachtet, wenn man sie auch Lady Ogle nannte —, und er hatte sich
^ nicht ohne Grund — eingebildet, daß er einen leichten Sieg über sie gewinnen
würde. Aber sie war wie der in der Sonne glitzernde Strahl des Springbrunnens,
den man wieder und wieder mit beiden Händen umfassen und doch nicht festhalten
konnte. Je eifriger er bemüht war, sie zu fangen, um so bezauberter wurde er
selber. Sie war frischer und unschuldiger als andre Frauen, die ihm gefallen hatten,
aber weder prüde noch unwissend, sie war warmblütig, schelmisch, neugierig, mit
einer derben, natürlichen Koketterie, die alle Männer fesselte und verwirrte. Dabei
in hohem Maße selbstbewußt — fast unverschämt selbstbewußt — und die reichste
Erbin in England! Karl Königsmark war selbst reich — sein Großvater hatte im
Dreißigjährigen Kriege, namentlich bei der Plünderung von Prag, wo er das Kom¬
mando gehabt hatte, große Reichtümer gesammelt, und es war alle Aussicht vor¬
handen, daß Graf Karl auch seinen Oheim Otto Wilhelm, den Feldmarschall, beerben
würde. Aber zu dem Leben, das zu führen Graf Königsmark für gut befand,
reichten die Einnahmen aus seinen meilenweiten Gütern in Schweden und in Pommern
nicht aus, ebensowenig wie die Kriegsbeute aus geplünderten Städten, wie groß sie
im übrigen auch war — mit Leuten, die ihr Vermögen nach Pfund Sterling rechneten,
konnte er sich auf die Dauer nicht messen. Aber weshalb sollte die Baronin Percy
ihm nicht ebensogut ihre Hand schenken können wie diesem dummen und liederlichen
Landjunker Thomas Thynne? Es galt nur zu wollen und — sie dahin zu bringen,
daß sie dasselbe wollte, was er wollte.
Er hatte nicht einen Augenblick daran gezweifelt, daß er sie dahin bringen
könne, dasselbe zu wollen wie er. Sie hatte immer ganz deutlich gezeigt, wie ent¬
zückt sie von seiner Gesellschaft war, wie aufrichtig interessiert, sobald sie einander
in diesen Monaten getroffen hatten — was ziemlich oft geschehen war. Er hatte ihr
oft Geschenke gesandt — kleine Kunstsachen und Kuriositäten aus fremden Landen —,
hatte französische Verse und Billetts an sie geschrieben — und sie hatte das alles
ohne Gewissensbisse hingenommen, hatte sich obendrein noch sehr geschmeichelt und
erfreut gezeigt. Aber jetzt, wo er sie mit Monmouth zusammensah — als er sah,
mit welchem erwartungsvollen Eifer und dabei mit welcher ungenierter Heiterkeit und
sonderbarem Mangel an Gefühl sie die Galanterien des verhätschelten Königssohnes
hinnahm — da begriff er, erzürnt, erstaunt und gedemütigt, in welchem Maße er
sich hatte täuschen lassen. Und um dem Übel die Krone aufzusetzen, war er in sie
verliebt — in dieses kleine vergnügungssüchtige, hochmütige und lachende Percy-
frciulein, das, die Nase in der Luft und die Hände in den Seiten, es wagte, die
erfahrensten und gefeiertsten Höflinge Whitehalls zu behandeln, als seien sie Schul¬
buben oder Lakaien. Vielleicht konnten ihre eignen Landsleute sich darein finden, aber
— das schwor er — Karl Johann Königsmark sollte sie nicht zum Narren haben!
Jetzt heute Morgen, nach dem Hahnenkampf unten im äußern Burghof, hatte
er endlich das Blatt vom Munde genommen und sich beklagt. Aber es sah nicht
so aus, als wenn sie sich seine Vorwürfe sehr zu Herzen nähme. So wahr sie
lebte, wußte sie wirklich nicht, was er meinte, und sie konnte nicht begreifen, was
er sich in letzter Zeit eigentlich eingebildet hatte.
Ich liebe Euch! hatte er dann zum erstenmal in klaren Worten zu gestehn sich
erkühnt. Und als er in ihre unbefangnen und schelmischen Augen sah, fühlte er
sich beinahe geniert über das, was er gesagt hatte.
^mo, Aus,8, awa.t>, schwatzte sie auf Lateinisch mit ihrer drolligen englischen
Aussprache. Das weiß ich recht gut, das tut Ihr wohl alle — jeder die seine!
Aber, Herr Graf: amainus, wir lieben, das ist das, worauf es ankommt . . . Ach
nein! ach nein! ach nein! — Sie legte die beiden Hände über das Gesicht. Versucht
nicht, mich glauben zu machen, daß Ihr es ernsthaft meint! Wißt Ihr etwa nicht ebenso¬
gut wie ich, daß ich schon mit Sir Tom von den Zehntausend verlobt bin? . . .
Aber wenn er nicht existierte, Lcidy Ogle — rief er, vor Eifer errötend, indem
er sie zwang, die Hände von ihrem Gesicht zu nehmen —, wäre dann nicht etwas
Hoffnung für mich?
Sie befreite ihre Hände, ohne ihn anzusehen, zuckte die Achseln, stand da und
schwieg und bewegte langsam die schattende Kastanienblüte vor ihrem Gesichte hin
und her.
Wie kann ich das wissen? sagte sie leicht hinwerfend. So etwas kann niemand
im voraus sagen. Sie sah auf, begegnete seinem erwartungsvollen Blick und mußte
lachen.
Als der selige Lord Ogle tot war, rief sie leichtsinnig aus, da hatte ich in
dem Monat darauf einen Freier an jedem Finger. Ich glaubte damals wirklich
nicht, daß ich an Sir Thomas hängen bleiben würde, und ich habe es doch getan.
Alles ist unberechenbar . . .
Unser Herz sollte es nicht sein . . .
Ach, Graf Königsmark. . . Sie wurde plötzlich verlegen — sie liebte es nicht,
daß man über dergleichen Dinge ernsthaft mit ihr sprach. Was hilft es, zu grübeln,
sagte sie ungeduldig. Sir Thomas sieht so aus, als könne er sowohl Euch wie mich
überleben . . .
Ich sage ja nur wenn, murmelte Königsmark beharrlich und mit demselben Ernst.
"
Herr „Wenn ist ein Schelm, rief sie munter. Mit dem will ich nichts zu
tun haben. So — laßt uns jetzt nicht weiter darüber reden. Da kommt Seine Gnaden,
der Herzog von Monmouth.---
Das Fest des Tages beschloß auf würdige Weise das Bankett im Königin-
Elisabethsaale — so genannt zur Erinnerung an den Besuch, den Ihre Majestät
vor ungefähr hundert Jahren auf Longleat abzustatten geruht hatte. Unter den
großen Kronleuchtern, die an langen Ketten von der vergoldeten und gemalten Decke
herabhingen, strotzte der Tisch von Silber und Speisen. Zuoberst am Ende der
Tafel saß Lady Elizabeth Percy zwischen dem Wirt, der die alte Gräfin von
Northumberland zu selner Rechten hatte, und dem Herzog von Monmouth. Nicht
ein einzigesmal, seit sie dem Herrn von Longleat ihr gleichgiltiges und unwilliges
Jawort gegeben hatte, hatte sie sich ihm gegenüber in so versöhnlicher Stimmung
gefühlt wie jetzt. Er war ja freilich ein Schafskopf und ein „Hektar"; aber freigebig
und gastfrei wie ein echter englischer Edelmann, das war er — und gutmütig dabei.
Sie sing an zu glauben, daß Lady Sophia am Ende doch nicht so sehr Unrecht
hatte: sollte man sich mit einer gleichgiltigen Person verheiraten — und das mußte ja
einmal notgezwungen ihr Schicksal werden —, so war jedenfalls ein solider und stein¬
reicher Landjunker wie Sir Thomas sowohl dem schönen schwedischen Grafen als auch
dem jungen, ahnenstolzen und dumm herablassenden Herzog von Somerset vorzuziehn,
die man so oft in Verbindung mit ihr genannt hatte. Sie hatte nicht viel mit ihm
gesprochen, aber doch genug, daß sie wissen konnte, wie halsstarrig und lächerlich un¬
wissend er war — ein wahres Wunder von Hoffart und Prätensionen. Und dann
stotterte er — konnte nie das bißchen herausbringen, was er zu fügen hatte, der Ärmste!
Ach Gott, nein! — Lady Elizabeth schauderte leicht und warf einen verstohlnen Blick
Zu dem jungen Somerset hinüber, der auch in Longleat zu Gaste war und ihr jetzt
schräg gegenübersaß — brünett, finster und steif wie ein Pfahl in seiner langen,
sorgfältig gekämmten Perücke. Es würde sicher auf die Dauer unleidlich ermüdend
s^n, ihn zum Gatten zu haben? Sir Thomas hingegen, der sich aus nichts weiter
etwas machte als aus Trinkgelagen und Mädchen vom Theater, würde sicher auf
die Dauer ein ganz unschädlicher Gatte werden, und vielleicht durfte sie tun und
lassen, was sie wollte, und konnte in Northumberland House oder auf Alnwick wohnen.
Mehr würde sie niemals von ihrem künftigen Gemahl verlangen. Denn glücklich —
so recht warm und wahnsinnig glücklich, wie sie sich nur in Harrys Gesellschaft
fühlen konnte, das wußte sie wohl . . .
Seine Gnaden von Monmouth hatte Lady Elizabeths Seufzer gehört. Er
Wandte sich nach ihr um, ein lichtes Lächeln in seinen blauen Augen.
Seid Ihr nicht zufrieden? sagte er mitleidig, neckend, als spräche er mit einem
Kinde. Drückt uns unser kleiner Schuh? Er beugte sich hinab, als wollte er ihn
befühlen, und sie zog schnell die Füße unter den Stuhl.
Oder sollte es? ... Er sah mit einem drolligen Blick verständnisvoll an ihr
vorüber nach dem Herrn von Longleat hin.
Lady Elizabeth schüttelte energisch den Kopf. Seine ungestüme Unbesonnenheit,
die an das Benehmen des Königs erinnerte, und sein Mangel an Respekt machten
sie verlegen, verletzten sie ein wenig. Und sobald sie verletzt war, wurde sie unbeholfen
und befangen, was man ihr sonst nicht nachsagen konnte.
Mein liebes Kind, näselte Monmouth langgezogen, väterlich sanft. Seht Euch
um, Lady Ogle — und ungeniert zeigte er ihr alle Herrlichkeiten, von denen sie
umgeben waren: van Dycks und Sir Peter Lelys meisterhafte Gemälde, den Kamin
aus parischem Marmor, die venezianischen Spiegel, die flandrischen Tapeten, mitten
auf dem Tische das berühmte florentinische goldne Trinkgefäß, das ein Medici
Königin Elisabeth geschenkt hatte. Seht Euch um: sogar mein Vater, der König,
wohnt nicht so prächtig, wie Ihr wohnen werdet.
Mit einem leichten Achselzucken und einem Ausdruck kindlichen Unwillens lehnte
sich Lady Elizabeth gegen den Rücken des Stuhls. Sie fühlte sich plötzlich ermüdet
von dem Glänze und von ihrem fürstlichen Tischherrn.
Aber ist denn dieses, fragte sie unsicher, alles dieses ... das Wichtigste?
Ja, sagte Monmouth zynisch, bestimmt, plötzlich ganz ernsthaft. Dieses — wie
Mylady es zu nennen beliebt — ist das Wichtigste auf der Welt, das Einzige.
Es ist das Einzige, was sich anzuschaffen wirklich der Mühe verlohnt, denn alles
ist käuflich und verkaufbar.
Auch ich, sagte sie unwillkürlich, bitter, mit einem Gefühl der Selbstverachtung,
wie sie es nie zuvor empfunden hatte.
Auch Ihr! nickte Monmouth frech mit seinem wohlklingenden gedämpften Lachen.
Lady Elizabeth erhob die Augen und sah ihn an — sah ihm beständig gerade
in die Augen, mit einem plötzlichen, siedenden Unwillen, den zu verbergen sie sich
nicht einmal die Mühe machte.
Auch wenn sie gekauft und verkauft war — und daß sie das war, wußte sie
ja selbst am besten —, so sollte sie wenigstens niemand ungestraft daran erinnern.
Nicht einmal der König selber — wieviel weniger der unebenbürtige Herzog.
Sie wandte langsam den Blick von ihrem Nachbar ab und sah die Tafel
hinab: Lady Sophia mit den Perlen um ihren fetten Hals, zwei blaue Rosetten
in den Favoris, die über ihre heißen Wangen hinabhingen — Seiner Gnaden von
Somersets lange Nase und langes Kinn über der Krawatte — Königsmark —
Sein Blick begegnete sofort dem ihren, warm und fragend. Sie lächelte ihm
sanft zu, konnte es nicht lassen. Und sie fühlte sich verwundert, dankbar froh, ganz
warm ums Herz, als sie ihn erröten und sich plötzlich verbeugen sah, die Hand
bedeutungsvoll unter seinem Halstuche gegen die Brust gepreßt.
Er macht sich wirklich etwas aus mir, sagte sie zu sich selber — er macht
sich etwas aus mir. Und das Gefühl der Trostlosigkeit und Einsamkeit, das sie
Während der Unterhaltung mit Monmouth so bitter und verstimmt gemacht hatte,
beherrschte sie nicht mehr.
Am nächsten Tage war Lady Elizabeth fast ausschließlich mit Graf Königsmark
zusammen — sie saß ihm im Park, während er ihr Bild zeichnete, bat ihn zu singen
und war so fromm wie eine Taube gegen ihn. Und als sie endlich mit ihrer Gro߬
mutter die Reise nach Bath fortsetzte, ritt der schwedische Herr neben dem Wagen.
(Fortsetzung folgt)
Die diplomatischen und publizistischen Erörterungen, die unter die Überschrift
„Cronberg" fallen, haben zur Genüge ergeben, daß der Schwerpunkt der deutsch¬
englischen Beziehungen — in Frankreich liegt. Es bedürfte dazu nicht erst der Er¬
innerung der Times an den unantastbaren Charakter der englisch-französischen lZntsnts
ooräials und an die von Sir Edward Grey im Unterhause abgegebne Erklärung:
jedermann möge wissen, daß das Einvernehmen mit Frankreich durch irgendeine andre
Entwicklung der englischen Politik keine Beeinträchtigung erfahren werde. Darüber
war man auf deutscher Seite vor der Cromberger Begegnung hinreichend unterrichtet.
Eine Absicht, hierin eine Änderung herbeizuführen, hat auf deutscher Seite ebenso fern
gelegen wie auf der englischen die, in eine solche Änderung zu willigen. Für die Zu¬
kunft konnte es sich nur darum handeln, ob England sein Einvernehmen mit Frankreich
fortgesetzt als ein Gegengewicht gegen Deutschland, als einen Gegensatz zu Deutschland
auffasse oder auffassen lassen wolle, wie das auf französischer Seite der Fall ist. Deutsch¬
land muß eine Gewißheit darüber haben, ob sich England Sinn und Richtung dieser
Entente dauernd von einer französischen Politik vorschreiben läßt, die darin nichts
andres sieht und nichts andres bezweckt, als die Verpflichtung Englands zum Beistand
ni einem Kriege, für den den geeigneten Zeitpunkt zu wählen sich Frankreich vorbehält.
Es kann nur wiederholt werden: Wäre es der französischen Politik nur um eine
Friedensgarantie zu tun. die England ihm leisten soll, so müßte sie die deutsch-
englische Annäherung fördern und mit Freuden begrüßen, denn eine größere Friedens¬
garantie wäre dann bet der Innigkeit der englisch-französischen Entente kaum
denkbar. Je mehr Frankreich daher jede Annäherung der beiden Nordseemächte
^it Mißtrauen und Mißfallen begleitet und zu verhindern bestrebt bleibt, desto
luehr rechtfertigt es den Argwohn, daß es das Einvernehmen mit England nur als
eine Kriegsvorbereitung betrachte. Ist das Londoner Kabinett damit nicht ein¬
verstanden, so wird es seinen Einfluß in Paris dazu anwenden müssen, daß die
'ranzösische Politik den permanenten Ansatz zum Revnnchesprunge aus ihren Be¬
gehungen zu Deutschland ausscheidet.
Wie schwierig das sein mag, dafür hat der frühere nationalistische Deputierte
Lepelletier in seinem Buche x-^s voraus einen neuen Beweis geliefert. Obwohl
er die fortschreitende Eroberung der Gemüter in Elsaß-Lothringen durch Deutschland
offen anerkennt, ja sogar zugibt, daß es keineswegs ausgeschlossen sei, die Mehr¬
heit der Elsaß-Lothringer bei einer Volksabstimmung zugunsten des Anschlusses an
Deutschland votieren zu sehen, so warnt er doch vor der Annahme, daß der Ge¬
danke an einen Revanchekrieg für immer in Frankreich erloschen sei. Er gebraucht
durchaus zutreffend das in diesem Zeitalter vulkanischer Ausbrüche naheliegende Bild:
„Unser Land ist ein schlummernder Vulkan, sein Krater kann plötzlich erwachen und
eine Lava von unwiderstehlicher Begeisterung, Opferfreudigkeit, Heldenmut und
Ruhmbegierde über die überraschte Erde ausschütten." Aber auch das ernste Journal
ach V6hö.t>s kann nicht umhin, in seiner Nummer vom 19. dieses Monats darauf
hinzuweisen, daß die englische Annäherung an Frankreich die wirkliche Ursache der
deutsch-französischen Krisis des vorigen Jahres gewesen sei. Es zitiert die Stimme
der Kai-fete, die der Meinung ist, daß man sich die Cromberger Höflich¬
keiten hätte ersparen können, und des Ontlock, der erklärt, daß Deutschland, das
zu spät in eine zu alte Welt gekommen sei, alle Leute auf ihrem Platze bedrohe,
die dadurch natürlicherweise berufen seien, sich gegen Deutschland zu Verbunden.
Das ^ourns,! fügt hinzu, daß das im Grunde genommen die Meinung vieler Eng¬
länder sei. Die Herstellung guter Beziehungen könne die Dinge mildern und ver¬
zögern, aber man dürfe nicht vergessen, daß die Ungewißheiten der Lage, mit denen
sich die englischen Blätter beschäftigen, Frankreich mindestens ebensoviel, wenn nicht
mehr als England angingen. Also auch hier das Bestreben, die öffentliche Meinung
beider Länder gegen Deutschland in Übereinstimmung zu bringen, wobei auf die
kommerzielle und industrielle Konkurrenz Deutschlands, auf sein Bedürfnis, „seinem
jungen Imperialismus Platz zu verschaffen", was in einer Welt, in der die torrao
nullius rar geworden seien, nicht ohne Verdrängungen und Gebietsveränderungen
möglich sei, auf seine maritimen Anstrengungen sowie auf die Notwendigkeit, seiner
stetig anwachsenden Bevölkerung einen Abfluß zu ermöglichen, hingewiesen wird.
Das ist aber absolut unrichtig. Unsre anwachsende Bevölkerung können wir im
Lande noch sehr wohl brauchen und ernähren. Solange wir noch einer stetigen
polnischen Zuwanderung bedürfen, brauchen wir keine deutsche Auswanderung, sondern
nur Fürsorge für eine zweckentsprechendere Verteilung des jetzt nur in die Gro߬
städte drängenden jährlichen Zuwachses. Einstweilen hat die deutsche Erde noch
hinreichend Raum für alle Arme, die arbeiten wollen, und unser „junger Impe¬
rialismus" verlangt nicht nach fremden Gebieten, sondern nur nach unbehindertem
Wettbewerb. Über die deutsche Flotte aber und unsre maritimen Anstrengungen
wird sich am wenigsten eine Politik beklagen dürfen, die nur darauf ausgeht, Gegen¬
gewichte gegen Deutschland zu schaffen.
In diesem Zusammenhange möchte noch ein Wort über die Klagen in deutschen
Blättern zu sagen sein, als ob wir bei der Abmachung der drei Mittelmeermächte
über die abessinischen Eisenbahnen zu kurz gekommen seien. Unser Verhältnis
zu dem abseits vom Meere liegenden und nur mittelst Durchzug durch englisches,
französisches oder italienisches Gebiet erreichbaren Abessinien kann mit der Situation
der drei genannten Länder, deren Kolonien unmittelbar an das ostafrikanische Kaiser¬
reich grenzen, doch gar nicht in Vergleich gestellt werden. Die französischen Be¬
hörden haben der deutschen, nach Abessinien entsandten Mission bei deren Landung
im Hafen von Djibuti viel freundliches Entgegenkommen und jede gewünschte För¬
derung erwiesen. Auf dieses Entgegenkommen werden wir auch für die Zukunft, selbst
bei dem idealsten Vertrage mit Abessinien angewiesen bleiben, da wir nicht An-
grenzer sind und dort keinen einzigen Hafen haben. Dazu kommt, daß der deutsche
Vertrag mit Abessinien älter ist als das englisch-französisch-italienische Eisenbahn¬
abkommen, in das wir uns nicht einmischen konnten, weil wir eben keine Küstenpunkte
besitzen, von denen deutsche Eisenbahnunternehmungen ausgehen könnten. Zu einer
Einmischung würde uns mithin jeder Rechtstitel gefehlt haben. Bei neuen Unter¬
nehmungen, die der Negus im Innern des Landes etwa früher oder später kon¬
zessionieren sollte, steht den Deutschen auf Grund unsers Vertrages, der, wie gesagt,
älter ist als jenes Eiseubahuabkommeu, der Wettbewerb durchaus frei. Aber es ist
unrichtig und den legitimen deutschen Interessen nicht nützlich, das an der großen
Welthandelsstraße liegende Marokko, mit dem wir langjährige vertragsmäßige Be¬
ziehungen haben, ohne weiteres mit dem vom Meere durch fremde Gebiete abge¬
schlossenen Abessinien zu vergleichen. Einstweilen bleibt abzuwarten, wie sich das
deutsche Kapital, der deutsche Handel und die deutsche Industrie den neuen
Vertrag zunutze machen werden. Von dieser Betätigung hängt der deutsche Ein¬
fluß in Abessinien ab. Mit dem diplomatischen Einfluß ist es, zumal in einem
nicht benachbarten und nicht unmittelbar erreichbaren, halbkultivierten Lande nicht
getan, hier heißt es: zeigt, was ihr könnt! Von dieser Leistungsfähigkeit wird'
der Glaube an Deutschlands Bedeutung wesentlich abhängen. Abessinien steht erst
in den Anfängen der Erschließung. Von dem deutschen Unternehmungsgeist wird
es abhängen, welchen Anteil Deutschland daran zu nehmen berufen ist. Der Weg
ist frei.
Bei dem jüngst in der Umgebung von Kiel abgehaltnen Landnngsmanöver
hat es sich selbstverständlich nicht darum gehandelt, den Landnngscibteiluugen der'
Flotte und ihren Führern ein Vergnügen, eine Abwechslung vom Einerlei des
Borddienstes zu gewähren, sondern der Zweck war, zu erproben, ob von Eckern¬
förde aus ein Angriff dort gelandeter Truppen gegen Kiel oder ein Handstreich
gegen den Kanal und die Levensauer Brücke ausführbar sei, wenn anders die
Besatzungstruppen in Kiel und am Kanal auf dem Posten sind. Nach dem Er¬
gebnis der Übung ist die Frage rundweg zu verneinen. Richtiger wäre es ja
vielleicht gewesen, den Angriff mit Truppen der Armee zu unternehmen. Aber
hätte man diese wirklich erst landen lassen wollen, so war die Charterung von
Transportschiffen notwendig, die mit bedeutenden Kosten verknüpft gewesen wäre;
ein Verzicht auf Transport und Landung hätte ein unvollständiges Bild geliefert.
Die verunglückte Expedition Seymours gegen Peking, die bekanntlich auch von
Landungsabteiluugen der Kriegsschiffe verschiedner Nationen unternommen wurde,
und bei der Admiral Seymour auf dem schwierigen Rückzüge die Deutschen an
die Spitze rief, mag manchem Seeoffizier dabei in die Erinnerung gekommen sein.
Jene Expedition hat bewiesen, daß den Landungskorps der Marine auch recht
schwierige Unternehmungen größern Stils in das Innere zufallen können. Der
Angriff auf Kiel war somit auch eine Übung in dieser Richtung. Der Zufall
fügte es, daß der Führer, Admiral von Holtzendorff, seinerzeit in China designierter
Führer der Landungsabteilungen der Brandenburg-Division war, die aber nicht in
Aktion getreten sind.
Die Neue Zürcher Zeitung, bekanntlich ein angesehenes und für Deutschland
freundlich gesinntes Blatt, hat sich neuerdings einen zweiten Berliner Berichterstatter
Zugelegt, der die schon einmal an dieser Stelle gerügte knabenhafte Darstellung des
Deutschen Boten von neuem aufwärmt, daß der Kaiser seine Äußerungen in Ham¬
burg über die welfische Intrigue im Reichstage, beim Scheitern des Kolonialamts,
einer Mitteilung der Grenzboten entnommen habe, die zum Zweck der Reinwaschung
des Zentrums erfunden worden sei, um „auf diesem Wege mit Erfolg dem Kaiser
diesen Zusammenhang plausibel zu machen". Die ganze Leistung des Korrespon¬
denten ist so auffallend unreif und ohne jede Kenntnis der wirklichen Verhältnisse
geschrieben, daß es nur bedauert werden kann, wenn ein angesehenes Schweizer
Blatt seine Spalten zur Veröffentlichung so vielen Unsinns mißbrauchen läßt. Die
noch näher liegende Frage, welches Interesse ein Deutscher haben kann, den Kaiser
im Auslande auf so unwahre Weise bloßzustellen, ist in Anbetracht der Urteils¬
losigkeit des Verfassers nicht am Platze, obwohl er versichert, als „einsichtiger deutscher
Politiker" durch die Grenzboten „sehr verschnupft" zu sein. Zur Sache selbst genügt
es zu bemerken, daß erstens von wölfischer Seite — der einzigen, die dazu berufen
wäre — der Darstellung der Grenzboten in keiner Weise widersprochen worden ist,
auch nicht der Angabe, daß die Welsen damit Revanche an einer für die Regierung
sehr empfindlichen Stelle für einige kurz vorher in Hannover verfügte Nicht-
bestätigungen von Parteigenossen für gewisse Ämter nehmen wollten; zweitens daß diese
vor der Abstimmung zur Kenntnis der Regierung gebrachte Haltung selbstverständlich
zugleich mit dem Resultat dem Kaiser gemeldet worden ist. Ein seiner
Verantwortlichkeit bewußter deutscher Publizist würde dem Auslande gegenüber den
Kaiser nicht in der Rolle erscheinen lassen, als ob dieser seine Information über
die wichtigsten parlamentarischen Vorgänge den — erfundnen — Angaben einer
Wochenschrift entnähme. Als ob der Kaiser das so ohne weiteres tun würde!
Eine Reinwaschung des Zentrums — das sollte der „einsichtige" Politiker doch
auch wissen — ist um so weniger notwendig gewesen, als das Zentrum von
Anfang an keinen Zweifel daran gelassen hatte, daß es für das Kolonialamt nicht
stimmen werde
Die Allgemeine Zeitung in München hat eine längere Reminiszenz veröffent¬
licht über die Begegnung, die am Morgen des 22. Oktober 1867 auf dem Bahn-
Hofe zu Oos zwischen König Wilhelm und Kaiser Franz Joseph auf Initiative des
Königs stattfand. Die Tatsache selbst ist hinlänglich bekannt. Sie wird in den
richtigen historischen Zusammenhang gerückt durch die Erinnerung an den Besuch,
den Napoleon der Dritte mit der Kaiserin Eugenie den österreichischen Majestäten
im August in Salzburg abgestattet hatte. Äußerlich war dafür die Form eines
Kondolenzbesuchs wegen der- Erschießung des Kaisers Max in Queretaro gewählt
worden, tatsächlich wurde jedoch der Zweck verfolgt, ein österreichisch-französisches
Bündnis unter Heranziehung Bayerns gegen Preußen zustande zu bringen. Bayern
lehnte es jedoch ab, von der Partie zu sein, war es doch ohnehin durch den August¬
vertrag von 1866 an Preußen gebunden. Der König begrüßte das französische
Kaiserpaar auf dessen Durchreise durch Bayern nicht, versagte sich auch der Teil¬
nahme an der Salzburger Begegnung und verschwand in den Bergen. Napoleon und
Eugenie trafen am Geburtstage des Kaisers Franz Joseph, 18. August, in Salzburg
ein, Napoleon in Zivil, er und Eugenie in tiefer Trauer. Die österreichischen
Majestäten hatten dagegen des Geburtstags wegen die tiefe Trauer abgelegt und
waren in großer Gala, sodaß gleich der Empfang am Bahnhof recht seltsame
Kontraste bot, und der österreichische Hof durch den französischen Verstoß gegen die
Etikette unangenehm berührt war. Der damalige preußische Flügeladjutant und
spätere General der Artillerie, Prinz Kraft Hohenlohe, hat als Badegast von
Reichenhall diesen Begebnissen inkognito beigewohnt und sowohl über die äußer¬
lichen Vorgänge als auch über den intimen Verlauf der Begegnung seinem Könige
berichtet. Er plaudert darüber sehr ausführlich im dritten Bande seiner in den letzten
Jahren erschienenen sehr interessanten Aufzeichnungen, in denen leider der zensierende
Rotstift maßgebender Stellen ziemlich arg gehaust hat. Wie Hohenlohe mitteilt, wurde
der österreichische Hof weiter verstimmt durch die Tatsache, daß Napoleon insgeheim
die Führer der österreichischen und der ungarischen Opposition empfing, was der
wachsamen österreichischen Polizei nicht entgangen war. Hohenlohe mag in der
auch dem Könige ausgesprochnen Annahme, daß die Salzburger Begegnung mit
einem Mißerfolg geendet habe, vielleicht etwas zu weit gegangen sein. Napoleon
hatte wiederholt mit dem Grafen Beust längere Zeit „gearbeitet", das war etwas
ostensibel in die Welt hinaustelegrnphiert worden und hatte in Deutschland, drei
Monate nach der Luxemburger Angelegenheit, eine gewisse Beunruhigung hervorgerufen,
der Bismarck durch eine alsbald veröffentlichte Zirkulardepesche vom 7. September 1867
ein Ende machte. Ihr sehr bestimmter Ton mahnte das Ausland zur Vorsicht, es
war die unzweideutigste Zurückweisung fremder Einmischung in deutsche Angelegen¬
heiten. Zu Anfang Oktober hatte der König dann die Reise durch Süddeutschland
angetreten, die wider alles Erwarten an patriotischen Ovationen reich war und
manchen erfreulichen Ausblick in die Zukunft öffnete. In Geislingen war der König
in einer Ansprache namens der Bürgerschaft als der künftige deutsche Kaiser begrüßt
worden, am 3. Oktober nahm er auf Burg Hohenzollern aus Simsons Händen
die bekannte Adresse des Norddeutschen Reichstags entgegen. Der Reichstag nahm
dann am 18. Oktober das Gesetz über die Verpflichtung zum Kriegsdienste in
dritter Lesung an. Auf Roons Meldung antwortete der König am 21. Oktober
in sichtlich gehobner Stimmung. Roon hatte auf die Vollendung dieses Werkes
„nach achtjährigen schweren Kämpfen" hingewiesen. Der König erwiderte: „Wenn
ich den Weg nachgehe, den dieses Werk gegangen ist seit unsrer ersten Unter¬
redung auf Babelsberg, bis es nun vollendet ist, so sieht man recht klar, wie das
Schicksal die Menschen zusammenfügt, um etwas Großes zu schaffen!" Am folgenden
Morgen fand die Begegnung statt, noch am Abend des 22. Oktober trat der König
die Rückreise nach Berlin an, am 23. Mittags 2 Uhr finden wir ihn schon bei
Bismarck, der einer Erkältung halber das Zimmer hüten mußte.
Dem ritterlichen Sinne des Königs dürfte es entsprochen haben, als der
Sieger die Hand zur persönlichen Aussöhnung von Fürst zu Fürst zu bieten, teils
um damit im Sinne der von Bismarck schon bei Königgrätz als Ziel der preußischen
Politik bezeichneten Wiederannäherung an Österreich einen Schritt zu tun, teils auch
um den Kaiser vor einem Engagement gegenüber Frankreich abzuhalten, was nach
dem Hohenlohischen Bericht ziemlich leicht sein mußte, doch blieb der Schritt des
Königs in Anbetracht der noch unvernarbten Wunde, die dem Habsburgischen Stolze
geschlagen war, zunächst ohne Erfolg; Österreich mochte sich auch Wohl zu sehr als
der umworbne Teil fühlen.
Bindende politische Abmachungen zwischen Österreich und Frankreich sind in
Paris damals nicht erfolgt, aber während der Jahre 1868 bis 1870 dauerten
bekanntlich die Verhandlungen fort, einen österreichisch-französisch-italienischen Drei¬
bund gegen Preußen zustande zu bringen, obgleich der Versuch der Annäherung von
Hof zu Hof im Jahre 1869 preußischerseits erneuert wurde, als der Kronprinz
auf der Reise zur Eröffnung des Suezkanals vom 6. bis 9. Oktober in Wien als
Gast des kaiserlichen Hofes verweilte — er war schon im Jahre zuvor auf der
Reise nach Florenz in Tirol von den österreichischen Behörden und Garnisonen
feierlich und höflich empfangen worden —, anch später in Konstantinopel und bei
den Eröffnungsfeierlichkeiten mit dem Kaiser zusammentraf. Bei den beiderseitigen
Regierungen dagegen hatte in den Jahren 1368/69 ein scharfer Notenwechsel und
eine lebhafte Preßpolemik, hervorgerufen durch die Schreibseligkeit Beusts, ange¬
dauert. Trotzdem — oder vielleicht deswegen — hatte Bismarck dem Wunsche des
Königs, den Kronprinzen über Wien reisen zu lassen, in einer am 11. September
1869 in Königsberg gelegentlich der ostpreußischen Manöver stattgehabten Unter¬
redung zugestimmt. Das Hauptverdienst dabei nahm dle Königin Augusta für sich in
Anspruch. Die Instruktion, die der König am 5. Oktober 1869 in Baden-Baden
den Begleitern des Kronprinzen mitgab, ist ungemein charakteristisch und läßt auch,
rückwärts leuchtend, einiges Licht auf die Begegnung von Oos fallen. Den Auf¬
zeichnungen des Generals von Stosch zufolge sagte der König: „Für den Orient
habe ich Ihnen nichts zu sagen. Meine Beziehungen sind dort die allerbesten.
Ihnen wünsche ich nur, daß Sie gesund bleiben. In Wien wünsche ich nur freund¬
liches Entgegenkommen. Ich will da nichts, ich bedarf ihrer nicht. Kommt man
auf 1866 zu sprechen, so behandeln Sie die Sache coulant, kommt man aber mit
Rodomontaden, so scheuen Sie die Antwort nicht. Wenn man auf Baden hin¬
weist, als über den Prager Frieden hinausschreitend, so sagen Sie, daß die Ver¬
hältnisse ohne uns gemacht sind. Wir stehn auf dem Boden des Prager Friedens.
Und nun Adieu! Wenn ich jünger wäre, hätte ich die Reise selbst gemacht, ich
beneide Sie." Der Empfang des Kronprinzen, zu dem die Kaiserin Elisabeth von
Pest nach Wien gekommen war, war sehr herzlich, die Begegnung mit dem Kaiser
durchaus freundlich. Der Kaiser streifte die Vergangenheit nur mit dem Ausdruck
des Dankes an den Kronprinzen für die kameradschaftliche Freundlichkeit, mit der
er den gefangnen und verwundeten Österreichern begegnet sei. Soweit diese Er¬
innerungen. Beide Vorgänge sind insofern nicht ohne Bedeutung, als sie die
schließliche Annäherung der beiden Kabinette, die dann in die Versailler Zeit
fällt und in der Salzburg-Gasteiner Begegnung von 1871 sowie in der Berliner
Dreikaiserzusammenkunft von 1872 ihren Ausdruck fand, wirksam eingeleitet haben.
Allerdings hat Kaiser Franz Joseph bei der Begegnung in Oos wohl nicht an die
Möglichkeit gedacht, daß er fünf Jahre später — der Gast des Deutschen Kaisers
in Berlin und später über ein Menschenalter hinaus sein enger Verbündeter sein
werde. Der erste Faden zu diesem so dauerhaften Gewebe mag immerhin an jenem
M
UNach den übereinstimmenden^ Angaben hervorragender Forscher entspricht
Odol zurzeit den Anforderungen ^der Hygiene am vollkommensten und wird
daher als das beste^vonAllen gegenwärtig bekannten Mundwässern anerkannt.
Wer Gdot Konsequent täglich vorschriftsmäßig anwendet, übt die
«ach dem Heutigen Stande der Wissenschaft denkbar beste Zayn- «ut
Mundpflege aus.
le Einführung einer neuen Vorschrift für die Ausbildung der
Infanterie, der Hauptwaffe im Heere, hat auch die Aufmerk¬
samkeit solcher Kreise erweckt, die sich nicht von Berufs wegen mit
militärischen Angelegenheiten befassen. Schon seit lcingrer Zeit
war man sich in der Armee und außerhalb darüber klar, daß
das Exerzierreglement von 1888, das mit geringen Änderungen bis jetzt be¬
standen hat, in vielen Punkten nicht mehr genügte. Selbstverständlich dachte
man in der Armee nicht im entferntesten daran, die altbewährte stramme
Preußische Exerzierdisziplin aufzugeben, wie das hier und da in der Literatur
gefordert wurde, die sich manchmal nicht genug tun konnte an Spott und
Hohn auf den angeblich übertriebnen Paradedrill. Man weiß im Heere viel zu
gut, was für ein wertvolles Erziehungsmittel die straffen Griffe und der Exerzier¬
marsch auch heute noch sind, wenn auch einzelnes davon entbehrlich wurde und
wegfallen konnte zugunsten der Ausbildung der Truppe für das Gefecht.
Wer die Truppenübungen in den letzten Jahren verfolgt hat, dem wird
nicht entgangen sein, daß sich allmählich die Ausbildung geändert hat. Das
schulmäßige Exerzieren des Bataillons, das früher einen großen Zeitraum in
Anspruch nahm, ist in den letzten Jahren bis auf das Einüben weniger not¬
wendiger Formationen verschwunden; die geschlossenen Bewegungen der Regi¬
menter und Brigaden gehören ebenfalls der Vergangenheit an. Bataillons-,
Regiments- und Brigadeexerzieren dienen neuerdings fast ausschließlich zum
Über des Gefechts, die eigentliche Exerzierschule findet in der Kompagnie
ihren Abschluß. Auch die eigentliche Gefechtsausbildung hat neuen An¬
forderungen gerecht werden müssen, an die das Reglement von 1888 noch
nicht gedacht hat.
Das ist durchaus natürlich. Mitte der achtziger Jahre wurden die Mehr-
lndegcwehre erfunden und eingeführt, in der deutschen Armee zuerst das aus
dem Modell 71 (Mausergewehr) ungeänderte Modell 71/84. Wenig Jahre
später gelang es durch die Erfindung des rauchlosen Pulvers und die An¬
wendung kleiner Gcwehrkaliber in Verbindung mit verbesserten Mehrladeein¬
richtungen dem Gewehr eine so vergrößerte Tragweite und Trefffähigkeit zu
geben, daß eine vollständige Umwandlung aller Gefechtsformen die Folge sein
mußte. In Deutschland wurde das „Gewehr 88", das alle diese Verbesserungen
auswies, eingeführt und etwa 1890 an die Truppen ausgegeben.
Diesen neuen Anforderungen sollte das jetzt ungiltig gewordne Exerzier¬
reglement für die Infanterie gerecht werden. Die Zeiten, wo geschlossene Ba¬
taillone auf dem Schlachtfelde vorgehn konnten, waren vorüber, und so betonte
das Reglement von 1888, daß in Zukunft der Schützenschwarm die „Hauptkampf¬
form" der Infanterie sein müsse. Über die Wirkungen der neuen Waffen auf
dem Schlachtfelde gab es aber damals noch keine Erfahrungen. Was man auf
Schießplätzen sah, ließ erkennen, daß zwar die Leistungen der neuen Waffen
gegen die der frühern bedeutend gesteigert waren, daß aber diese großen
Leistungen auch eine viel sorgsamere, gründlichere Ausbildung des Mannes
zur Voraussetzung hatten. Wie weit diese Ausbildung unter den seelischen
Eindrücken des wirklichen Kampfes wirksam bleiben würde, was also die Waffe
im Ernstfalle leisten würde, darüber konnte man damals nur Vermutungen
haben. So konnte das Reglement von 1883 für das Gefecht nur Grundsätze
geben. Die Formen, in denen sich das Gefecht abspielen sollte, wurden im
allgemeinen festgelegt, aber für ihre Anwendung ließ das Reglement einen weiten
Spielraum, der nur von einigen Gesichtspunkten aus geregelt werden konnte.
So war zum Beispiel für den Angriff schon damals der Grundsatz ausge¬
sprochen worden, daß es darauf ankomme, mit starken Schützenlinien so nahe an
den Gegner heranzugehn, daß man von dem eignen Feuer eine vernichtende
Wirkung erwarten könne. Sobald sich diese Wirkung geltend mache, sobald
die „Feuerüberlegenheit" errungen sei, dürfe es für die Schützenlinie und alle
hintern Staffeln nur noch das Streben nach vorwärts geben, um schließlich
den Feind im Sturme aus seiner Stellung hinauszuwerfen, ein Grundsatz,
den sich die Japaner angeeignet haben, und der nichts von seiner Giltigkeit
eingebüßt hat. Aber wie sich alles dies im einzelnen abspielen würde, darüber
gingen die Ansichten weit auseinander. Die Heeresleitung hatte das Ver¬
trauen zu der Tüchtigkeit der Offiziere, daß diese, wenn ihnen die musterhaft
knapp und klar gegebnen Grundsätze in Fleisch und Blut übergegangen sein
würden, in der Wirklichkeit des Kampfes die richtigen Mittel und Wege schon
finden würden. Sie verzichtete deshalb darauf, den Offizier durch schematische
Vorschriften zu binden, von denen sich nicht voraussehen ließ, ob sie sich be¬
währe» würden. Ein gesperrt gedruckter Satz im Reglement untersagte „jede
weitere Schematisierung des Angrisfsvcrfahrens". Hierin ließ man sich im
deutsche,? Heere auch später nicht irre machen, obwohl die Forderung nach
einem „Normalangriff" stellenweise laut genug erhoben wurde, und obwohl in
andern Armeen, zum Beispiel in der französischen, ein bis ins einzelne fest-
gesetztes Kampfverfahren eingeführt wurde. Jedenfalls hatte das deutsche
Verfahren den Vorteil, daß die Armee nicht dazu kam, sich mit einem ge¬
gebnen Schema bequem zu beruhigen, sondern der weite Spielraum, den das
Reglement ließ, nötigte zu immer neuen Versuchen, das Problem des Jn-
fcmteriekampfes zu lösen. Wie eifrig daran gearbeitet worden ist, zeigen die
zahllosen Aufsätze in Zeitschriften und Broschüren, die sich mit diesen Fragen
befaßt haben, und die Mannigfaltigkeit der Bilder, die die Übungs- und
Manöverplätze seither geboten haben.
Manche Offiziere wollten nur mit einem gewissen Widerstreben der Schützen¬
linie das Recht der „Hauptkampfform" einräumen und wollten, wenn sie auch
der Schützenlinie die Arbeit des Feuerkampfes zuwiesen, doch die eigentliche
Kraft und den Impuls zum Angriff in dem Vorstoß möglichst starker zurück-
gehaltener geschlossener Reserven sehen. Man fürchtete dabei wohl, daß in den
losen Schützenlinien der Einfluß der Führer nicht stark genug sei, um diese
im feindlichen Feuer zum Vorgehn zu veranlassen, eine Befürchtung, die öfter
mit dem Hinweise damit begründet wurde. daß das Reglement von 1888
mancherlei althergebrachte Exerziermanöver, die als Mittel der Erziehung zur
Disziplin hoch eingeschätzt wurden, der erweiterten Gefechtsausbildung ge¬
opfert hatte. Alle diese Ansichten, auch die gerade entgegengesetzten, die be¬
sonders in der Literatur ihre Vertreter fanden und teilweise bis zu der Be¬
hauptung gingen, der Angriff sei überhaupt ein Ding der Unmöglichkeit, konnten
nur durch die Erfahrungen des wirklichen Krieges berichtigt werden.
Diese brachte zunächst der Burenkrieg, bei dem sich anfangs die Engländer
infolge ihres rücksichtslosen Draufgehens, trotz aller ihrer sehr anerkennens¬
werten Tapferkeit, einige empfindliche Niederlagen holten. Die Engländer
haben in ihrer Presse das deutsche Gefechtsverfahren, dem sie gefolgt seien,
für ihre Mißerfolge verantwortlich gemacht. Das ist sicher ein unberechtigter
Vorwurf, wenn auch zugegeben werden muß, daß damals auf vielen deutschen
Exerzierplätzen Gefechte zur Darstellung kamen, in denen der Wirkung der
modernen Schußwaffen nicht ausreichend Rechnung getragen wurde. Man
darf aber auch nicht vergessen, daß die Darstellung eines Jnfanteriekampfes
auf dem Übungsplatze zu den allerschwierigsten Aufgaben der militärischen Aus¬
bildung gehört. Der Truppe muß das Streben, nach vorwärts und an den Feind
heran zu gehen, anerzogen werden, und so kommt es bei Friedensübungen leicht
dahin, daß der Angriff zu einem durch kurze mit Schießen ausgefüllte Pausen
unterbrochner Heranlaufen an den Feind wird, während in Wirklichkeit der Feuer¬
kampf stundenlang dauert, und sich nur hin und wieder den Schützen die Gelegen¬
heit bietet, in einem Sprunge dem Feinde ein Stückchen näher zu kommen.
Immerhin gaben die Erfahrungen aus dem Burenkriege einen Maßstab
zur Beurteilung der Wirkung des modernen Jnfanteriefeuers. Nur war eine
gewisse Vorsicht bei der Anwendung dieser Erfahrungen geboten. Denn die
Geländeverhältnisse des Kriegsschauplatzes, die Stärken der beiden Gegner und
vieles andre wichen von allem, was ein europäischer Krieg bieten konnte, sehr
weit ab; außerdem konnte man wohl bezweifeln, ob man die Schießleistungen
einer Bevölkerung, die wie die Buren von Kindheit an die Büchse in der
Hand hatte, mit denen eines europäischen Heeres würde vergleichen können.
Eins nur bewies der Burenkrieg für alle, die dieses Beweises noch bedurften,
auf das schlagendste: die Erfolglosigkeit der strengen Defensive, auf die sich
die Buren bei der Mangelhaftigkeit ihrer militärischen Organisation beschränken
mußten. Trotzdem die englischen Angriffe glänzend abgewiesen wurden,
wurden die Engländer durch ihre Niederlagen doch nie ins Herz getroffen,
wie es Hütte geschehen können, wenn die Buren ihrerseits zum Angriff und
zur Verfolgung übergegangen wären. So konnten die Engländer das, was
ihnen das erstemal mißlungen war, später besser vorbereitet wiederholen. Sie
haben wieder einmal bewiesen, daß der Erfolg im Kriege dem gehört, der dem
Gegner zu Leibe geht und ihn anpackt.
Es galt nur die Mittel zu finden, die dem Angriffe trotz allen weit¬
tragenden Schnellfeuerwaffen die Möglichkeit des Gelingens geben konnten.
Die Frage, auf die es dabei ankam, wie es möglich sei, eine freie, vom feind¬
lichen Feuer beftrichne Strecke ohne allzugroße Verluste zu durchschreiten, ver¬
suchte man damals mit der sogenannten Burentatik zu lösen, d. h. man
ging mit dünnen lichten Schützenlinien, die sich in einem Abstände von
mehreren hundert Metern folgten, gegen den Feind vor. Kam die vorderste
Linie so nahe heran, daß ein weiteres Vorgehn ohne große Verluste nicht
mehr möglich war, so warf sie sich nieder und wurde von den nachfolgenden
Schützenlinien nach und nach so weit verstärkt, daß sie ein wirkungsvolles
Feuer eröffnen konnte, mit dessen Hilfe sich einzelne Teile immer näher an
den Feind „heranarbeiteten". So hoffte man allmählich die „Feuerüberlegen¬
heit" und damit die Möglichkeit zu gewinnen, den Feind im letzten Sturm¬
anlauf aus seiner Stellung hinauszuwerfen. Dieses Verfahren hatte neben
mancherlei Vorteilen auch große Nachteile; vor allem den, daß die zuerst
vorgehenden Schützenlinien lange Zeit dem Feinde gegenüber in der Minder¬
heit ausharren mußten und so einem Feuer ausgesetzt waren, dem sie nichts
Gleichartiges entgegenzusetzen hatten. Um diese und andre Nachteile zu ver¬
meiden, versuchte man auch das Vorgehn über solche besonders gefährliche
Geländestreifen in die Dunkelheit zu verlegen, oder die eignen Schützen suchten
sich durch Kriechen auf dem Boden dem Auge des Feindes zu entziehn.
Das Reglement vou 1888 stand allen solchen Versuchen durchaus nicht im
Wege. Es schrieb sogar ausdrücklich vor, daß die normalen Formen an¬
standslos aufgegeben werden müßten, sobald die Wechselfülle des Gefechts dies
verlangten.
Der ostasiatische Krieg bot zum erstenmal Gelegenheit, die Wirkungen
moderner Bewaffnung und Taktik in einem Kampfe zu beobachten, dessen Be¬
dingungen denen eines europäischen Krieges im wesentlichen glichen. Die
Japaner haben ihrer Ausbildung eingestandnermaßen die Grundsätze des
deutschen Reglements zugrunde gelegt, und diese haben sich mit ihrer Freiheit
von jedem Schematismus in den Händen des allerdings militärisch hoch be¬
gabten japanischen Volkes glänzend bewährt. Der ostasiatische Krieg hat
wieder den Beweis geliefert, daß der Angriff auch heute noch die einzige zur
Entscheidung drängende und führende Form des Kampfes ist, und daß er für
eine gut ausgebildete, gut schießende und vor allem von dem Willen zum
Siege beseelte Armee noch ebenso gut möglich ist wie zur Zeit Friedrichs
des Großen oder Napoleons. Allerdings weicht der Verlauf eines solchen
Kampfes weit von dem ab, was noch der Feldzug von 1870/71 gezeigt hat.
Das Gefecht stellt heute viel größere Anforderungen an die untern Führer
und an den einzelnen Mann. Diese Entwicklung der Kampfesweise ist die folge¬
richtige Fortsetzung der Entwicklung der Kampfesweise in den letzten andert¬
halb Jahrhunderten. Friedrich der Große kommandierte seine Schlachten bis
ins einzelne selbst, er setzte jedes Bataillon selbst an, die Generale waren in
der Schlacht nicht mehr als Führer solcher Bataillone und streng an die Aus¬
führung der gegebnen Dispositionen gebunden, der einzelne Soldat war nur
Maschine; nur ganz ausnahmsweise, zum Beispiel bei Torgau, hat der große
König größere Teile des Heeres unter das einheitliche Kommando eines Generals
gestellt und zur selbständigen Lösung eines Auftrags verwandt. Die Schlachten
Friedrichs des Großen suchen darum die Ebne, das offne freie Gelände auf, wo
der Feldherr sein Heer übersehen und einheitlich leiten konnte. Was unter dem
Könige die Ausnahme gewesen war, wurde in den Revolutionskriegen und zur Zeit
Napoleons die Regel: die Heere wurden zum einheitlichen Kommando zu groß,
das Gelände begann seinen zwingenden Einfluß auszuüben: während der eine
Teil des Heeres in der Ebne kämpfte, mußte sich ein andrer mit Wäldern,
Ortschaften und hügligen Boden abfinden. Das nötigte dazu, die Front
des Heeres zu teilen, jedem Teile konnte nicht mehr ein bindender Befehl
gegeben werden, sondern an dessen Stelle trat ein Auftrag, der das zu er¬
reichende Ziel angab, die Wahl der Mittel aber dem Führer überließ. Dazu
gehörte aber weiter, daß dem Führer eines solchen Teils für den Verlauf
des Gefechts, der nun gar nicht voraus zu übersehen war, alle Waffen¬
gattungen, die er brauchen konnte, Infanterie, Kavallerie, Artillerie, technische
Truppen und schließlich auch Trains und Kolonnen, mitgegeben wurden. So
entstand die Division und aus der Zusammeufcissung mehrerer Divisionen zu
einem größern Heereskörper das Armeekorps.
Mit dem weitern Anwachsen der Heere infolge der allgemeinen Wehrpflicht
wuchs die Bedeutung der Selbständigkeit dieser Hceresteile und ihrer Führer.
Napoleon, der diese Organisation der Massenheere, der 6ro8 bataillons, zu einem
gefügigen Werkzeuge geschaffen hatte, mußte es selbst erleben, daß ihm die
Erziehung seiner Marschälle zu wirklichen Feldherren nicht gelungen war. Sie
waren „Schlachtenmarschälle" und als solche befähigt, in der Schlacht ihre
Korps zu führen, sobald sie wußten, was der Kaiser von ihnen erwartete,
aber sie versagten meist, sobald sie sich selbständig ihre Aufgaben suchen und
auf eigne Verantwortung im Interesse des Ganzen handeln mußten. Im
Jahre 1813 war Napoleon genötigt, gegen die verschiednen Heere der Ver¬
bündeten Teile seines Heeres selbständig abzuzweigen, und immer wurden diese
geschlagen, so Oudinot bei Großbeeren, Macdonald an der Katzbach, Ney bei
Dennewitz usw. An der Unfähigkeit seiner Marschälle, auch außerhalb des
Schlachtfeldes und ohne unmittelbare Weisungen zu handeln, ist der Kaiser
1813 bis 1815 wesentlich mit gescheitert. In diesem Sinne hat die preußische
Armee unter König Wilhelm das militärische Erbe des Soldaten Napoleon
angetreten, während in der französischen Armee das Verständnis für die
großen Traditionen des Kaisers erlosch. Generale wie die preußischen von 1870,
z. B. Konstantin von Alvensleben, der ohne Zaudern die ungeheure Verant¬
wortung für den Angriff bei Vionville auf seine Schultern nahm und der Armee
damit den größten Dienst erwies, der überhaupt in dieser Lage möglich war,
solche Führer — und die Feldzüge von 1866 und 1870 haben noch viele ähnliche
gezeigt — hat weder die Armee Napoleons des Ersten noch die Napoleons des
Dritten aufzuweisen. Diesen Geist der Selbständigkeit und der Verantwortungs¬
freudigkeit dem Offizierkorps zu erhalten, ist das eifrigste Streben des Königs
gewesen. Das Vertrauen auf das Offizierkorps rechtfertigte es auch, ihm im
Jahre 1888 ein Reglement in die Hand zu geben, das frei von Schematis¬
mus für das Gefecht nur leitende Grundsätze enthielt, deren Anwendung für
jeden Fall der Einsicht der Führer überlassen bleiben mußte.
Der ostasiatische Krieg hat nun gezeigt, daß die Bedeutung der untern
Führung im modernen Kampfe noch viel größer ist, als es das Reglement
von 1888 zum Ausdruck gebracht hat. Die Wirkung der modernen Schu߬
waffen macht eine sorgfältige, raffinierte Ausnutzung des Geländes notwendig.
Wie weit man diese treiben kann, haben die Japaner gezeigt. Für den einen
Schützenzug, der ein Getreidefeld vor sich hat, kann ein ganz andres Verhalten
nötig und nützlich sein als für den danebenliegenden, der ein Rübenfeld vor
sich hat, sogar innerhalb desselben Zuges, derselben Gruppe kann eine Furche,
ein Erd- oder Steinhaufen ein verschiedenartiges Verhalten der Schützen herbei¬
führen. So wird es verständlich, wenn das neue Reglement in seinem ersten
Satze betont, daß es „Vorschriften" für die Ausbildung und „Gesichtspunkte"
für das Gefecht der Infanterie gebe, und gleich darauf fortführt: „Der Krieg
fordert eiserne Mannszucht und Anspannung aller Kräfte. Im besondern
verlangt das Gefecht denkende, zur Selbständigkeit erzogne Führer und selbst¬
handelnde Schützen, die aus Hingebung an ihren Kriegsherrn und das Vater¬
land den festen Willen zu siegen auch dann noch betätigen, wenn ihre Führer
gefallen sind."
Eine Besprechung aller einzelnen Neuerungen des Reglements würde den
Rahmen dieser Arbeit weit überschreiten. Es sei nnr nochmals betont, daß die
Grundsätze des Reglements von 1888 nirgends verlassen worden sind. Wer also
glaubt, daß an die Stelle der altbewährten Straffheit eine mehr legere Aus¬
bildung treten werde, wird sich getäuscht sehen. Allerdings wird das schul-
mäßige geschlossene Exerzieren bedeutend eingeschränkt zugunsten der Ausbildung
in der geöffneten Ordnung. Die Exerzierschule findet endgiltig ihren Abschluß
in der Kompagnie. Der Bataillonskommandeur führt sein Bataillon durch
Befehle an die Kompagnieführer. Nur ausnahmsweise kann er das Bataillon
einheitlich unter sein Kommando nehmen. Die Exerzierformationen der Kompagnie
sind in viel höherm Maße als früher dem Bedürfnisse des Gefechtsfeldes an¬
gepaßt: sie sind elastischer geworden, Abstände und Zwischenräume sollen immer
dem Gelände angepaßt werden, alle Formationen bieten die Möglichkeit raschen
Drehens und Entwickelns in jede mögliche Front. Die schulmäßige Ausbildung
des Schützen ist eingehend behandelt. Nur bei der allersorgfältigsten Einzel¬
ausbildung kann es gelingen, den selbsthandelnden Schützen heranzubilden, den
das moderne Gefecht verlangt. Darum sind hier alle Künsteleien vermieden
worden, überall wird die Sache, der zu erreichende Zweck, über die Form gestellt.
Der zweite Teil des Reglements, „das Gefecht", lehrt die Anwendung der
im ersten Teile „der Schule" gelernten Formen. Da im Gefecht die Infanterie
Zwar die Hauptwaffe ist, aber in der Regel in Verbindung mit den andern
Waffen handelt, so geht der zweite Teil des Reglements über die ausschließliche
Behandlung des Jnfanteriegefechts weit hinaus. Er gibt Anweisungen für die
verschiednen Arten der Gefechte, für die verschiedensten möglichen Lagen, ohne
die Entschlußfreiheit des Führers einzuengen. Was auf den 54 kleinen Oktav¬
seiten dieses Teiles gesagt ist, ist in seiner Knappheit und Klarheit schlechtweg
mustergiltig, es sind keine blassen theoretischen Abhandlungen, sondern kurze
scharfe Grundsätze, die wohl oftmals als Binsenwahrheiten erscheinen könnten,
aber doch keine sind, denn sie sollen dem Offizier und dem Soldaten völlig
zum geistigen Eigentum werden und sollen ihm eine Stütze bieten, damit er unter
dem Drucke der schwierigsten Lagen, die auf einem Menschen lasten können,
einen einfachen klaren Entschluß fassen und danach handeln kann. Alles
Schematisieren wird verworfen und bei jeder Gelegenheit das verautwortungs-
sreudige Handeln betont, aber auch in die richtigen Grenzen gewiesen. An
einer Stelle heißt es: „Die Selbständigkeit der Unterführer darf nicht zur
Willkür werden", an einer andern: „Die Verantwortungsfreudigkeit wäre falsch
verstanden, wenn sie darin gesucht würde, eigenmächtige Entschlüsse ohne Rücksicht
auf das Ganze zu fassen oder gegebne Befehle nicht peinlich zu befolgen und
ein Vesserwissen an die Stelle des Gehorsams treten zu lassen", und etwas
weiter: „Alle Führer müssen sich bewußt bleiben und ihren Untergebnen ein¬
prägen, daß Unterlassen und Versäumnis eine schwerere Belastung bilden als
Fehlgreifen in der Wahl der Mittel."
Der Krieg verlangt Männer, und wenn Friedrich der Große auf dem
Standpunkte stehn konnte, nur der Offizier habe Ehrgefühl, ber der o^Nils
sei keines — uns erscheint bei dem Heere von Roßbach und Leuthen dieses
Urteil zu hart und pessimistisch —, so ist bei den Armeen der allgemeinen
Wehrpflicht das Ehr- und Pflichtgefühl jedes einzelnen Mannes die wichtigste
und letzte Stütze für den Erfolg. Als vor einigen Jahrzehnten die Fragen
der neuen Bewaffnung und der neuen Kriegsweise in der militärischen Welt
lebhaft besprochen wurden, erschien unter dem Titel: „Drill oder Erziehung"
eine Schrift eines hohen österreichischen Offiziers, in der die Frage erörtert
wurde, ob es nicht an der Zeit sei, an Stelle des seither beliebten Drills eine
mehr individuelle Erziehung des Soldaten treten zu lassen. Kaiser Wilhelm
der Erste, dem die Schrift auch vorgelegt wurde, kritisierte sie in seiner feinen
ruhigen Weise, indem er die Feder nahm, auf dem Titel das Wörtchen „oder"
aufstrich und „und" dafür hinschrieb. So wollte er es in seiner Armee ge¬
halten haben, und so ist auch der einzige Weg, auf dem sich die hohen, ge¬
waltig hohen Ziele erreichen lassen, die das neue Reglement der Armee gesteckt
hat. Denn die Erziehung zur Selbsttätigkeit, zum guten Willen ist immer
wichtiger geworden, je weniger weit der unmittelbare Einfluß des Offiziers im
Gefecht reicht. Sie ist aber auch schwerer geworden. Und hier kann sich keiner,
der es mit der Zukunft unsers Vaterlandes ernst meint, der Sorge erwehren.
Unser Offizierkorps steht gewiß noch auf der Höhe trotz allem, was darüber
geredet und geschrieben worden ist, aber das Material, das es zur Hingebung
an das Vaterland und zum Willen zum Siege erziehen soll, bringt leider mehr
und mehr einen Geist mit, der von vornherein nicht geneigt ist, sich der er¬
ziehenden Arbeit der Armee willig zu unterwerfen. Die sozialdemokratische
Hetzarbeit tut ihre Wirkung und leider ziemlich ungestört. Es gibt Leute, die
für jeden nur ein überlegnes Lächeln haben, der von einer sozialdemokratischen
Gefahr redet. Unser Heer sei durch und durch gesund. Gott sei Dank ist das
buchstäblich wahr. Es ist auch kein Wunder, daß es der Sozialdemokratie
nicht gelungen ist, im Heere zu revolutionieren. Zur Unzufriedenheit hat der
Soldat ja auch nicht die mindeste Veranlassung. Er braucht für nichts zu
sorgen: er erhält Wohnung, Kleidung, Nahrung, für seine Gesundheit wird
gewissenhaft gesorgt, seine Behandlung ist zwar streng, aber äußerst wohl¬
wollend trotz der paar Mißhandlungsfälle, die der Reichstag mit breitem Be¬
hagen erörtert. Über die Strapazen des Dienstes helfen ihm die jederzeit
mögliche Aussprache mit den Kameraden und die Scheu, sich vor diesen zu
blamieren, hinweg. Weshalb sollte er unzufrieden sein?
Aber man täusche sich nicht. Diese Leute sind vor ihrer Einstellung
großenteils durch eine Schule gegangen, in der ihnen systematisch der Glaube
an alle Ideale, an Gott und Vaterland genommen worden ist, in der ihnen
der Geistliche und der Lehrer als Narr oder Betrüger, der Offizier als alberner
Menschenschinder in eindringlichsten Farben hingemalt worden sind. Gewiß
schwinden bei den meisten in der frischen Lust des Dienstes im aktiven Heere
diese Eindrücke wieder, und das Vertrauen ist berechtigt, daß das Heer seine
ganze Schuldigkeit tun wird, wenn die sozinldemokratische Partei einmal eine
Revolution versuchen sollte. Die Parteiführer werden das selbst wohl genau
wissen. Aber ist die Gefahr für das deutsche Volk darum nicht vorhanden?
Wenn der aktive Soldat erst in das Leben zurücktritt, wenn Not, Ent¬
täuschungen und die Kämpfe, die keinem Menschen erspart bleiben, an ihn heran¬
treten, ob dann der Idealismus, den ihm die Erziehung im Heere zu geben
versucht hat, standhält? Wenn schon ein steter Tropfen den Stein höhlt, wie
sollte dann das Gift nicht wirksam sein, das die sozialdemokratische Agitation
über ihn eimerweise ausgießt, noch dazu ohne Scheu, öffentlich und unter dem
Schutze der Gesetze des Staates, den sie verderben will! Dem kann nur der
Widerstand leisten, dem Gottesglaube und nationales Ehrgefühl tief im Herzen
sitzen. Wer diese aber einmal verloren hat, in den Jahren, in denen sich der
Charakter bildet, und das ist wohl meist vor dem zwanzigsten Jahre, der findet
sie später nicht wieder, am allerwenigsten unter den Einflüssen, denen das
deutsche Volk in unsrer Zeit ausgesetzt ist.
Unsre Schlachten im nächsten Kriege schlägt aber nicht das aktive Heer,
sondern das ganze deutsche Volk, und — das vergesse man nicht — die genialste
Heerführung, die glänzendste Organisation und Bewaffnung werden uns nicht
zum Siege führen, wenn nicht in der Schützenlinie Männer ihre Arbeit tun,
die in der Brust den Idealismus finde», der ihnen Kraft gibt, den furchtbaren
Eindrücken Widerstand zu leisten, die dort auf sie einstürmen. Das Volk wird
im nächsten Kriege siegen, das den festen Willen zum Siege und die sittliche
Kraft dazu mitbringt. Gebe Gott, daß unser Volk diese Prüfung, die früher
oder später einmal kommen wird, besteht.
urch eine kürzliche Veröffentlichung aus dem Nachlasse des be¬
kannten Geheimagenten Staatsrat Georg Klindworth haben wir
das erste Wort gehört von den Verhandlungen, die dieser 1853
im Auftrage des Ministerpräsidenten Freiherrn von Manteuffel
mit dem Zwecke in Rom einleitete, in den kirchenpolitischen
Fragen einen bessern inoaus vivenäi zwischen der preußischen Regierung und
dem Heiligen Stuhl zustande zu bringen. Wir sind in der Lage, auf Grund
einiger geheimer Dokumente noch etwas mehr Licht über die kirchenpolitische
-Nission Klindworths zu verbreiten. Eine besondre Wichtigkeit legte der
Priester des Oratoriums August Theiuer, der mit Klindworth Hand in Hand
arbeitete, auf jenen Artikel der abgeschlossenen Punktation, der die Gründung
eines preußischen Nationalkollegiums für die Bildung junger preußischer Pricster-
zöglinge in Rom vorsah: „Preußen wird dnrch dieses Institut, so schrieb
August Theiuer am 28. April 1854 dem Minister Manteuffel, eine neue und
dauernde Stellung zum Heiligen Stuhl und zum ganzen katholischen Deutsch¬
land erhalten, da es nicht fehlen kann, daß auch die übrigen mittlern und
kleinern Staate» dasselbe alsbald beschicken werden, besonders wenn diese einen
vertraulichen Wink von Berlin her erhielten. Dieses Institut wird zudem eine
rein deutsche und rein katholische Gesinnung vertreten und fremdartige Ele¬
mente auf diesem heiligen Gebiete fernhalten zum Wohle der Kirche und des
Vaterlandes."
Ein andrer Gegenstand, für den sich der Staatsrat von Klindworth
während seines Aufenthalts in Rom interessierte, betraf die Erwerbung des
Palazzo Cassarelli*) für Preußen.
Diese Angelegenheit, so schrieb er um 23. April 1854 nus Rom an den
Minister Manteuffel, ist in hohem Grade verwickelt und Verfahren. Der Papst
und der Kardinal-Staatssekretär sprachen mir wiederholt und ausführlich über dieselbe.
Viel hat zu ihrer heutigen Physiognomie das ungeschickte uno unüberlegte Be¬
nehmen des (in Rom wenig beliebten und wenig geachteten) Königlichen Geschäfts¬
trägers**) beigetragen. Als eine kleine Probe dieses Benehmens mag das hier in?
Original angelegte Schreiben desselben an den geheimen Kämmerer Seiner Heilig¬
keit, den Fürsten von Hohenlohe dienen, der dasselbe ohne alle Erwiderung ließ.
Auch die Zuschrift des Königs an den Papst über diesen Gegenstand war, ich sage
es offen, ein Mißgriff! Doch es kann sich augenblicklich und auf diesem Blatte
nicht darum handeln, auf eine nähere Erörterung des Vorgefallenen sowie der
Angelegenheit überhaupt einzugehen. Wie die letztere heute vorliegt, so darf sich
die Negierung des Königs keine Hoffnung machen, in den Besitz des erwähnten
Palastes zu gelangen oder mich selbst darin zur Miethe zu verbleiben!
Es fragt sich, legt man dortiger Seits dieser Sache Wichtigkeit bei und wird
der Besitz des streitigen Objekts ganz besonders gewünscht?
In beiden Fällen bin ich sehr gern bereit, meinen unmaßgeblichen Rath zu
ertheile«, wenn man mir denselben abfordert, sowie auch es mir angelegen sein zu
lassen, zu einem besseren Erfolge hinzuwirken, wenn man mir die Mittel und Wege
dazu zugestehen will, welche ich zu diesem Ende in Vorschlag zu bringen in dem
Falle sein würde. Nur mit Versöhnung und Entgegenkommen ist hierbei das Er¬
forderliche auszurichten, und erwarte ich eventuell Seiner Excellenz Befehle zur
vorläufigen Verständigung über deu Gegenstand und, wenn es beliebt wird, zu
meiner selbstthätigen Mitwirkung bei demselben!
Unstreitig das bedeutsamste ebenfalls an Manteuffel gerichtete Aktenstück
Klindworths datiert aus Aachen vom 14. Mai 1854, es ist in französischer
Sprache abgefaßt; denn Kliudwvrth liebte es, mit seiner vorzüglichen Beherrschung
der Diplomatensprache zu glänzen. Nach einer von mir angefertigten wort¬
getreuen Übersetzung lautet der Bericht wie folgt:
Bei Übersendung der Aktenstücke über die Ergebnisse der Mission, die mir
Eure Exzellenz übertragen haben, darf ich nicht unterlassen, Ihnen privatim zu
schreiben; gestatten Sie, daß ich mich über den vertraulichen Teil dieser Mission
und über das, was mich persönlich betrifft, mit dem Freimut ausspreche, den ich
mit Ihrer Erlaubnis, Herr Minister, auch bei unsern intimsten Beziehungen ge¬
zeigt habe.
Sie wissen ebenso gut wie ich, daß ich von einer unverdienten Ungnade schwer
betroffen worden bin, die keine andre Ursache hatte, als meine Treue und Hin¬
gebung für Ihre Person und Ihre Politik. Es liegt mir fern, darüber einen
Borwurf oder eine Klage laut werden zu lassen. Ich kenne die menschlichen Leiden¬
schaften, Vorurteile und Schwächen wie die Wandlungen des öffentlichen Lebens
zu gut und habe zuviel Dinge erlebt und gesehen, als daß ich auch nur die ge¬
ringste Überraschung über eine Behandlung empfinden sollte, auf die ich bei gerechter
Beurteilung nicht gefaßt sein durfte. Aber es handelt sich um die Zukunft, und
ich will auf die Vergangenheit nicht zurückkommen!
Ich möchte Eurer Exzellenz spezielle Aufmerksamkeit auf die von mir über¬
sandten Schriftstücke lenken. Auf Ehre und Gewissen erkläre ich, daß ich bei
weitem nicht ein so günstiges Ergebnis erwartet habe, und ich bin überzeugt, daß
Eure Exzellenz ebenso darüber urteilen werden, wenn Sie die Angelegenheit mit
Ihrem unparteiischen Geiste prüfen.
Ich weiß nicht, ob der König und seine Regierung wirklich die Absicht hegen,
sich dein Römischen Hofe zu nähern und frei und offen zu einem Einverständnis
mit ihm zu gelangen; ich darf es glauben. Wenn dem so ist, so ist der Weg dazu
durch die Ergebnisse meiner letzten Mission nach Rom deutlich vorgezeichnet. Sie
war nicht ohne Schwierigkeiten und ohne Arbeit. Ich mußte zunächst den Übeln
Eindruck, den die Kabinettsorder Sr. Majestät in betreff der gemischten Ehen bei
einigen Personen hinterlassen hatte, beseitigen. Aber ich muß Sr. Heiligkeit das
Zeugnis geben, daß Sie mir von unsrer ersten Unterredung an die wohlwollendsten
Absichten bezeigt hat. Ich sehe also von selten des Heiligen Vaters keine Schwierig¬
keiten voraus. Ich freue mich, dies Eure Exzellenz zu versichern, weil die Zeit
vielleicht nicht sehr fern ist, wo sich die Regierungen und die Völker durch ihre
eignen Erfahrungen überzeugen werden, daß man den für die bedrohte Gesell-
schaftsordnung so notwendigen religiösen Glauben nur aufrechterhalten und unter¬
stützen kann, wenn man den Geist der Abschließung und den Sektengeist verbannt;
nur auf dem freien und fruchtbringenden Boden der Religionsfreiheit und einer
wahrhaft frommen Toleranz werden alle christlichen Konfessionen an der Erreichung
des Zieles ihrer heiligen Sendung mitwirken können.
Nach den persönlichen Anschauungen des Papstes halte ich den Augenblick für
günstig zu einer gründlichen Verständigung mit dem Heiligen Stuhl über alle
zwischen der Königlichen Regierung und dem Päpstlichen Stuhle schwebenden Fragen.
Ich weiß aber auch, daß dabei keine Zeit zu verlieren ist. Ich werde in dieser
Ansicht bestärkt durch die Kenntnis, die ich auf dem Römischen Terrain erworben
hube, und durch die Eindrücke, die der intime Verkehr mit den wichtigsten Persönlich¬
keiten bei mir zurückgelassen hat. Diese haben mir ihre Anschauungen über alle
Angelegenheiten gern mitgeteilt. Ich habe mich vergewissert, daß die Geister auf
ein ähnliches Arrangement wohl vorbereitet sind; die allgemeinen Tendenzen der
Zeit und die Aussicht auf die nächste Zukunft treiben dazu, deu Weg einer solchen
Politik zu betreten, die nach meiner Überzeugung sehr vorteilhaft für Preußen sein
wird; sie wird Preußens moralische Autorität zum großen Vorteil der sozialen
Ordnung heben und die Ruhe und das religiöse Vertrauen in allen Teilen
Deutschlands wiederherstellen. Aber ich wiederhole, die Sache ist dringlich; ein
Verzug würde hente in Rom als Beweis einer auf eine Ablehnung zielenden Ver¬
zögerung angesehen werden; man würde es als gleichbedeutend mit einem Bruch
und folglich als eine erneute und definitive Spaltung ansehen. Ich füge nur «och
eins hinzu: Eure Exzellenz wissen so gut wie ich, daß für den Erfolg solcher
Geschäfte der Charakter des Unterhändlers der wichtige Punkt ist. Wenn Eure
Exzellenz meine Ansicht teilen, und wenn Sie sich im Einvernehmen mit dem König
für eine Fortsetzung der Unterhandlungen, für die ich die Grundlagen geschaffen
habe, entscheiden, so können Sie den neuen Unterhändler nach Rom senden oder
dem Papste den Wunsch ausdrücken, daß die Verhandlungen in Berlin stattfinden
möchten. Ich glaube, das erste würde besser sein, weil die nach Rom abgesandte
Persönlichkeit den wertvollen Vorteil des persönlichen Einflusses des Pater Theiner
und seiner wirksamen Intervention dort finden würde, was nicht verhindern würde,
daß vor definitiven Abschlüssen Eurer Exzellenz Bericht erstattet werden müßte.
Wie auch im übrigen der Beschluß der Königlichen Regierung ausfallen mag,
ich glaube, daß der Papst das Recht hat, von selten Eurer Exzellenz eine schleunige
und wohlwollende Antwort mit dem Versprechen einer aufmerksamen Prüfung des
Entwurfs zu erwarten, und ich habe das Vertrauen, daß Sie in dieser Hinsicht
ebenso wie ich urteilen werden. Nach meiner Ansicht könnte diese Antwort, die
nichts weiter als eine Höflichkeitserwiderung sein würde, die Regierung nicht
binden, und Eure Exzellenz würden die Ausdrücke leicht so wählen können, daß es
sich um eine einfache Präliminarie handelt. Meines Erachtens ist man diese
Reziprozitcit dem Römischen Hofe für das Entgegenkommen schuldig, mit dem sowohl
diesesmal wie bei meiner ersten Reise meine vertraulichen Eröffnungen aufgenommen
worden sind. Was die Form dieser Antwort betrifft, so gibt es nach meiner
Ansicht nichts einfacheres. Eure Exzellenz können die Form einer offiziellen, an den
Kardinal-Staatssekretär gerichteten Depesche oder aber ein Privatschreiben in fran¬
zösischer Sprache wählen, das Eure Exzellenz an den Prinzen Hohenlohe zu richten
hätten. Beides würde genügen, den Heiligen Vater und seinen Premierminister
in der hohen Meinung zu bestärken, die sie über den loyalen Charakter Eurer
Exzellenz hegen.
Ich habe mehrere wichtige Zugeständnisse von der Weisheit und dem Wohl¬
wollen Sr. Heiligkeit erlangt. Das eine wird, wie Eure Exzellenz bemerken werden,
durch die Bestimmungen des Art. 9 des Entwurfs") gewährleistet. Nach dem Wort¬
laute dieses Artikels soll Se. Majestät ermächtigt sein, in Rom selbst ein nur für die
katholischen Untertanen bestimmtes und für diesen Zweck eingerichtetes Religivns-
Unterrichts-Jnstitut zu errichten. Nach meiner Ansicht würde die Gründung eines
solchen Instituts ein sicheres Mittel zur Erringung politischen und religiösen Ein¬
flusses in Rom bieten, denn das preußische katholische Kollegium würde dem
LolloZinm (xörmMiLum eine Konkurrenz machen, bei der das letzte schließlich unter¬
liegen müßte. Dies würde ein großer Erfolg gegenüber dem österreichischen, heute
wie immer sehr energisch von dem Jesuitenorden unterstützten Einfluß sein; der
Jesuitenorden hat dieses Kollegium und die Universität Rom in seinem Besitz. Eure
Exzellenz wissen sehr wohl, daß der in diesen beiden Religions-Unterrichts-Anstalten
herrschende Geist in die katholischen Seminare Preußens einzudringen bestrebt ist,
und daß es sicher von höchster Bedeutung ist, die geistlichen Schüler Preußens der
Leitung der Jesuiten zu entziehen. Pius IX. würde diese Gründung lebhaft be¬
günstigen; er würde auch seinerseits darin ein Mittel zur Einschränkung des Ein¬
flusses der Jesuiten und Österreichs auf den Glaubensunterrtcht in den andern
Gebieten Deutschlands sehen; er hat gute Gründe, diesem Einflüsse zu mißtrauen.
Der Heilige Vater, das weis; ich, würde diese Gründung in entschiedner Weise
begünstigen. Wenn das Institut Erfolg hätte, würde er nicht zögern, diesem später
einen Teil der sehr beträchtlichen Fonds zu bewilligen, die gegenwärtig ausschließlich
zur Unterhaltung des vollogium ^rmanienm verwandt werden. Er könnte es mit
»in so größerer Berechtigung tun, als die Jesuiten, die hierin die österreichische
Regierung unterstützen, in das LoUsKium voiwanioum viele junge Ungarn auf¬
nehmen, die nicht aufgenommen werden dürften, weil sie wegen ihrer Herkunft
keinerlei Anspruch darauf habe». Der Papst hat den Plan der Errichtung eines
preußischen katholischen Kollegiums in Rom so gut aufgenommen, daß er sogar
schon bereit ist, der Königlichen Regierung entweder das im Kolosfeumsviertel liegende
ehemalige Haus des Hochmeisters des Malteserordens oder das Kloster der Minime-
brüder (8t. ^n-Zrea, «ZsUs trats) gegenüber dem Palaste der Propaganda zur Ver¬
fügung zu stellen.
Ich weiß nicht, ob die Königliche Regierung bereit sein wird, den in Art. 2
des Promemoria ausgedrückten Wunsch zu erfüllen, die Errichtung eines Vikarints
in Berlin zu gesenkten. Jedenfalls muß ich Eurer Exzellenz gleich sagen, daß dies
lediglich ein Wunsch ist.
Art. 3 des Promemoria hat einen ganz andern Charakter, denn es handelt
sich um die Zulassung eines Vertreters des Heiligen Vaters, eines Jnternuntins
"der Geschäftsträgers für Berlin. Eure Exzellenz wissen, wie ich über diese
Förderung des Römischen Stuhles denke: es ist schwierig, dieses Zugeständnis nicht
ZU machen, wenn man darauf besteht. Sie urteilen darüber, Herr Minister¬
präsident, 'wie ich, weil Sie wissen, von welcher Bedeutung für die Königliche
Negierung die Gegenwart eines diplomatischen Agenten des Papstes sein würde;
man kann mit diesem beständig in Beziehungen stehen und ihn dazu benutzen, auf
der Stelle eine Menge delikater Sachen zu erledigen, die zwar keine wirkliche Be¬
deutung haben, manchmal aber eine beständige Quelle von Angelegenheiten für die
Regierung bilden.
Art. 4 des Promemoria verspricht der Königlichen Regierung eine tätige Mit¬
wirkung zur Erreichung des Gehorsams und der Unterwerfung der Geistlichkeit und
der katholischen Bevölkerung. Der Papst hat sich mir gegenüber verbindlich gemacht,
Päpstliche Rundschreiben und Vorschriften zu erlassen, die notwendig sind, um die
treue und vollständige Ausführung dieser Bestimmung, so es von ihm abhängt,
zu sichern.
Das gleiche soll gelten von Art. 5 in bezug auf die Missionen.
Zur Vervollständigung dessen, was ich über den vertraulichen Teil meiner
Mission zu berichten habe, schließe ich diesem Schreiben die Mitteilungen an, die
mir von dem Prinzen Gustav von Hohenlohe-Schillingsfürst und von dem Pater
Theiner vom Orden der Oratorianer für Eure Exzellenz übergeben worden sind.
Der Prinz Hohenlohe besitzt auch ferner im hohen Maße das volle Vertrauen des
Papstes. Der Pater Theiuer. dessen intimer und alter Freund ich bin ist in »vom
sehr einflußreich. Er verdankt diesen Einfluß seinem Wissen, seinem Ehamkter und
den wichtigen Funktionen, die er ausübt. Pater Theiner gilt als ausersehen für
eine der nächsten Promotionen des Heilige» Kollegiums Er hat muh während
des ganzen Verlaufs meiner Unterhandlungen mit einem Eifer unterstützt der nich
einen Augenblick nachgelassen hat. und der sowohl durch seine tiefe Anhänglichkeit
an die Königliche Regierung als durch seinen lebhaften und aufrichtigen Wunsch
veranlaßt wird, die geistliche und die weltliche Macht zu einer nach seiner Ansicht
für das Heil der Welt unerläßlichen Verständigung vereinigt zu sehen. Eure Exzellenz
können nichts für den Pater Theiuer tun, der nichts verlangt und nichts annehmen
würde. Ich empfehle ihn nur Ihrem Wohlwollen.
Es bleibt mir noch übrig, über meine persönliche Lage zu sprechen. Eure
Exzellenz haben zweifellos nicht vergessen, daß, wie ich bei vertraulichen Erörterungen
Ihnen häufig sagte, wenn ich jemals den Vorzug, mit Ihnen persönlich zu arbeiten und
Ihrem Privatkabinett anzugehören, verlieren sollte, ich dem politischen Leben entsagen
und mich in Rom niederlassen würde, um ausschließlich historischen Studien zu leben
und die Ergebnisse meiner Arbeiten zu veröffentlichen. Der von mir bezeichnete
Augenblick ist gekommen. Ich bin also entschlossen, nach Rom zurückzukehren, um
meinen Plan dort zu verwirklichen. Die Güte des Heiligen Vaters, die freundliche
Aufnahme, ich mochte sage» das Vertrauen, das er mir bewiesen, die ausnahms¬
weise so wertvolle und so seltene mir gewahrte Bewilligung, in den Geheimen
Archiven des Vatikans Nachforschungen anzustellen, die für meine Arbeiten nötig
sind und schon die glücklichsten Resultate gezeitigt haben — alles dies ermutigt mich,
bei meinem Plane zu beharren, der mir für die Zukunft ruhigere, wenigstens nicht
durch Haß und Neid vergällte Tage verspricht. Ich bin übrigens nicht gleichgiltig
gegen die Hoffnung, einige Spuren meines Daseins in diesem Leben zurückzulassen!
Wenn ich in dieser neuen Stellung Eurer Exzellenz noch nützlich sein kann,
so biete ich Ihnen meine guten Dienste wie für die Vergangenheit an. Ich strebe
keineswegs nach der Ehre, von dem Könige mit dem Abschlüsse eines definitiven
Vertrages mit dem Päpstlichen Stuhle betraut zu werde» (obwohl ich überzeugt bin,
daß niemand Sr. Heiligkeit für dieses Geschäft so angenehm wie ich wäre); aber wenn
dieser Vertrag eines Tages geschlossen werden soll, so werde ich die Bestrebungen
des damit Beauftragten sehr gern und tätig unterstützen, vorausgesetzt, daß Eure
Exzellenz es wünschen und mich dazu auffordern.
Ich kann Eurer Exzellenz auch einen Dienst andrer Art leisten, und niemand,
darf ich sagen, kann ihn Ihnen so leisten wie ich. Wenn es Ihnen genehm ist, ans
Rom eine politische Korrespondenz über die gesamten italienischen Angelegenheiten
zu beziehen, so bin ich bereit, das zu übernehmen.
Eure Exzellenz werden begreifen, daß ich Ihre Ansicht hierüber bald erfahren
möchte, und werden entschuldigen, wenn ich Sie bitte, mich von Ihrer Entschließung
möglichst bald in Kenntnis zu setzen. Wie sie auch ausfallen möge, es wird mir
immer eine große Genugtuung sein, daß ich die Überzeugung habe, die von mir Eurer
Exzellenz gegenüber bei meiner Abreise von Berlin übernommenen Verpflichtungen
tren erfüllt zu haben. Ich hatte Ihnen versprochen, alles, was menschenmöglich
sei, zu tun, um deu mir mitgeteilten und von mir in Rom zu erstrebenden Zweck
zu erreichen. Es handelte sich darum, die Grundlagen zu schaffen und das Feld
für eine spätere Unterhandlung vorzubereiten, ohne jedoch etwas abzuschließen, weil
ich diesesmal keine amtliche und spezielle Vollmacht zum Unterhandeln erhalten hatte.
Ich tat es mit vollem Erfolge. Die Schriftstücke, die ich Ihnen übersende, geben
Zeugnis davon; das übrige steht bei dem Könige und seiner Regierung!
Gestatten Sie mir zum Schluß, Ihre Aufmerksamkeit auf einen letzten Punkt,
der nur mich betrifft, zu lenken; ich meine die pekuniäre Entschädigung, auf die
ich, wie Sie wohl finden werden, einigen Anspruch habe. Eure Exzellenz wollen
erwägen, daß ich fünf Monate lang meine Zeit und meine Tätigkeit ausschließlich
Ihrem Dienste im Auslande gewidmet habe, wo ich, ich kann sagen, weder Mühen
noch Sorgen gescheut habe. Die Aufträge des Papstes haben mich veranlaßt, aus
Italien zurückzukehren, denu Seine Heiligkeit wünschten, daß ich der Überbringer der
von mir erlangten Schriftstücke sei, damit ich ihren wahren Sinn und ihre ganze
Tragweite darlegen könne. Ich habe gehorcht: Eure Exzellenz werden aus den
Daten dieses Schreibens ersehen, daß ich mich in Aachen befinde, dem Endpunkt
der Telegraphenlinien und des Postdienstes der Regierung. Ich erwarte dort Ihre
Befehle. Herr Ministerpräsident. Ich darf noch einmal wiederholen, haben Sie
die Güte, mir diese so schleunig wie möglich zukommen zu lassen.
Die Gründe, aus denen die langwierigen Verhandlungen Klindworths zu
gar keinem Ergebnis führten, sind nicht bekannt geworden. Vermutlich waren
es die orientalische Krisis und der Krimkrieg, die das Interesse der preußischen
Regierung von dieser Frage augenblicklich ablenkten.
oller wir einen Dramatiker, der die Menschen, allerdings wohl
wesentlich die von germanischem Geblüt, so stark beschäftigt wie
Ibsen, in die Geschichte einreihen, so ist dies natürlich ein vor¬
läufiger Versuch, den die Zukunft sicher mit mancher Abwechslung
wiederholen wird. Aber unter allen Umständen erhebt sich dabei
^ne stattliche Reihe von Fragen und Vergleichungen. Ich wähle davon nur
einen ganz kleinen Teil aus, nämlich die Frage, wie weit Ibsen der Möglichkeit,
Allgemein genossen zu werden, nahe kommt, und wie er sich zum allgemeinen
Problem des ernsten Dramas verhält, das nachher zu bezeichnen ist.
Zwischen Kunstproduktion nud Kunstgenuß nämlich besteht ein oft be¬
ugtes, aber nicht immer gleich starkes Mißverhältnis. Eigentlich muß wohl
der Künstler wünschen, von allen genossen, also auch — was nicht dasselbe
möglichst verstanden zu werden. Aber dieses Ideal ist nicht zu erreichen;
sonst wäre es ja keins. Die Natur hat es offenbar auch hier nicht auf eine
allgemeine Gleichmacherei abgesehen. Ihr darin hartnäckig, z. B. mit der Ver¬
breitung der „Bildung" entgegenzutreten, gehört in das große und anziehende
Kapitel von der Karikatur der Idee. Trotz der differenzierenden Eigenheit
des Weltlaufs hat es aber mitunter Annäherungen an dieses Ideal gegeben,
"ut zwar wesentlich unter dem Einfluß der Religion. So ergriff die Malerei
in Italien die Gemüter viel allgemeiner und tiefer als bei uns. Noch tiefer
war vielleicht der Eindruck der geistlichen Schauspiele des Mittelalters, der
sogenannten Mysterien, die in verschiednen Ländern und in der breitesten und
bequemsten Öffentlichkeit etwas darstellten, was damals zum Kern des geistigen
Gebens gehörte. Auch in Griechenland war ja die Tragödie, wenigstens ur¬
sprünglich, eine religiöse Feier von nationalem Charakter. Freilich schwanken die
Meinungen über die Beschaffenheit des Publikums. Lessing dachte wohl etwas
zu hoch davon (im zweiten und im achtzigsten Stück der Dramaturgie); Böckh
erkannte an, daß die Tragödie den Patriotismus geweckt und das Volk beraten
habe; aber er findet es doch schwer begreiflich, wie das Publikum besonders dem
hohen Schwung der Chöre folgen konnte, und meint, es war offenbar nicht
darauf abgesehen, daß jeder alles verstehe. Wir werden ihm wohl beistimmen
müssen, wenn wir uns auch vergegenwärtigen, daß die Darstellung fast opern¬
müßig, jedenfalls langsamer war, als wir es uns beim Lesen gewöhnlich denken.
Uns interessiert gegenwärtig hauptsächlich die Gesellschaft mit ihren
Strömungen und Gegensätzen bis zu dem Grade, daß man, wie Hebbel sagt,
nur ein Mensch zu sein braucht, um ein „Schicksal" zu haben. Wir sind also
über Gottscheds Anschauung hinaus, daß das Hofleben das Original des
Trauerspiels, das Stadtleben das der Komödie, das Landleben das des Schäfer¬
spiels ist. Vielmehr ist uns gezeigt worden, daß das Landleben vor tragischen
Verwicklungen nicht sicher ist, und daß das Hofleben sich zuweilen zum Lust¬
spiel eignet, auch wenn wir dabei nicht gleich an B. Shaws zum Teil recht
amüsantes Stück „Cäsar und Kleopatra" denken. Die Schilderung der Ge¬
sellschaft wird um so lebensvoller oder aktueller sein, je mehr es die gegen¬
wärtige oder, da sie nicht überall gleich ist, eine gegenwärtige ist, so jedoch,
daß diese eine das moderne Leben in seinen allgemeinern oder typischen Zügen
wiedergibt. Welche Eigenschaften zeigt also, fragen wir uns, die Gesellschaft
bei Ibsen, an was für Personen werden diese Eigenschaften dargestellt, und
welche Schicksale erleben sie?
In den „Stützen der Gesellschaft" lernen wir hauptsächlich besitzende und
angesehene Leute kennen; aber ihr Ansehen, besonders das Bernicks, ist im
Grunde unverdient. Trotzdem preisen sie sich mit genügendem Stimmaufwands
gerade als die Stützen. Diese Neigung, uns zu sagen, daß nicht alles Gold
ist, was glänzt, und daß jene Leute eine irgendwie peinliche Vergangenheit
haben, deren Folgen durch die Logik der Tatsachen zutage treten, ist bei Ibsen
stark ausgebildet. Die arme Nora ist sehr unvorsichtig gewesen, als sie Datum
und Namen des Vaters unter den Wechsel setzte. Werkes Geschäfte scheinen
nicht reinlich gewesen zu sein; aber er ist freigesprochen worden, nur Leutnant
Ettal verurteilt. Werte hat auch mit Gina in etwas zu liebevollen Be¬
ziehungen gestanden und sie dann mit Hjalmar verheiratet. Die kleine Hedwig
ist, wie Werle selbst, augenleidend. Düstre Schatten sind in den „Gespenstern"
auf die Ehe der Frau Helene mit Alving gefallen. Zu Borkmanns furcht¬
barem Zusammenbruch kommt noch die der Öffentlichkeit fremde Tatsache, daß
er, von zwei Schwestern geliebt, die eine an den Advokaten Hinket verkaufen
wollte, weil er diesen brauchte. Nebekkas Schuld enthüllt sich uns: um Rosmer
zu gewinnen, suchte sie heimlich Beate in Wahnsinn und Tod zu treiben.
Genug heimliche Schäden! Ihre Konsequenz oder die Rache wird aber nicht
durch eine besondre Menschenklasse, etwa den sogenannten vierten Stand, ver¬
anschaulicht und herbeigeführt. Die „Arbeiter" kündigen sich nur eben an gegen
Bernick — feindlich gegen die neuen Maschinen, bereit, unter sich agitieren zu
lassen, aber in ihrem Repräsentanten, Anker, sympathisch; denn er will die
„Gazelle" nicht auslaufen lassen, weil sie nicht seetüchtig ist. Die Gesellschaft
sorgt in und durch sich selbst für die Konsequenzen der Handlungen. Wird
über deren psychologische Glaubwürdigkeit auch hier mitunter Streit sein, so
muß man doch (wie A. Eloesser) sagen, daß Ibsen in der Darstellung der
Konsequenzen der logischste Kopf unter den Dramatikern ist. Er hat eine un¬
gemeine Neigung, aus genauen Prämissen genaue Folgerungen abzuleiten. Zu
den Prämissen gehören aber die Beweggründe der Personen. Die wollen auch
hier auf ihre Art glücklich sein, durch Liebe, Macht. Ansehen, Selbstbehauptung.
Dabei schweben sie aber nicht in einer gewissen Zeitlosigkeit, sondern wurzeln
durchaus in modernen bürgerlichen Verhältnissen. Wir hören wiederholt von
.Handel. Banken, industriellen Anlagen, Eisenbahnen und dergleichen mehr,
außerdem von der Tätigkeit und der Macht der Zeitungen. Bernick will nicht
mir die alte Mutter und die Firma retten, sondern auch selbst reich und ge¬
achtet sein. Er schließt eine Geldheirat und läßt Johann Tönnchen. den jüngern
Bruder seiner Frau, mit dem freiwillig übernommuen Schein einer Schuld nach
Amerika gehn. Natürlich mag er auch nachher die wahre Sachlage nicht ent¬
hüllen. Seine Geschäftsfreunde glänzen ebenfalls nicht in der Toga der Makel¬
losigkeit, obgleich der eine aus dem Schiff „einige Trattütchen verteilt hat,
von denen er sich eine gute Wirkung verspricht". Nora träumte davon, sie
würde von ihrem Manne, wenn er von ihrer bedenklichen Liebestat hört oder
sie sogar vom Recht schuldig gesprochen sieht, mit jubelnden Dank in die
Arme geschlossen werden, allen Urteilen der Gesellschaft zum Trotz. Aber er
fühlt sich dem nicht gewachsen. Auch Werle findet es mißlich, daß sein guter
Name und Ruf durch Ettal bei dem Waldlaus eine Art Flecken bekommen
hat. Frau Borkmann spricht wiederholt zuerst von der Schande, der häßlichen,
entsetzlichen Schande, erst hinterher vom Ruin und der Armut. Sogar Rebekka
hat nicht Lust, für ein uneheliches Kind zu gelten, „es bleibt doch immer noch
eins und das andre Hunger. wovon man sich nicht freimachen kann". Auch
der tapfre Volksfeind empfindet diesen Namen unangenehm, obgleich er den
Wert seiner Gegner genau kennt. Rofners Schwager fordert ihn auf, seine
neuen Ansichten, die der Tradition des Geschlechts Rosmer widersprechen, für
sich zu behalten, „es ist ja gar nicht notwendig, daß so etwas über das ganze
Land aufgeschrien wird". Kurz, ich finde hiermit die eine Macht und Tyrannei
der Gesellschaft gekennzeichnet, die, ewig lüstern nach einem Skandälchen oder
Skandal, den Einzelnen zu einer sorgfältigen Rücksicht auf die Reputation
zwingt, in noch höherm Grade, als dieses Cassio (II. 3) ausspricht: Röxu^lion,
i'vMation, rsr.uiMc.ii! 0, I napf lost reputation! I napf lost tut
innen-tÄ Mit ok ni^sit. ann owl I6MANS is oestial. rexutÄwn,
"0 rsM-Mon! Diese Knechtung des Einzelnen hat ihre gute und ihre
schlimme Seite. Wäre denn die Meinung der Gesellschaft immer die richtige?
Recht aktuell mutet uns an, was uns über einen Ausschnitt der öffentlichen
Meinung im Volksfeind gesagt wird. „Der gefährlichste Feind der Wahrheit
und Freiheit, das ist die kompakte Majorität; ja diese verfluchte kompakte . . .
Majorität, das ist unser ärgster Feind." Es sei eine landläufige Gesellschafts¬
lüge, daß die Mehrheit immer das Recht auf ihrer Seite hat und im Besitz der
Wahrheit ist. Wer denkt hierbei nicht an die bekannte Stelle in Schillers
Demetrius? Es sei falsch, meint Stockmann, daß der gemeine Mann, dieser
unser unwissender, geistig unreifer Mitbruder dasselbe Recht habe, ein Urteil
abzugeben, zu herrschen und zu regieren, wie die wenigen geistig Vornehmen
und Freien. Es sei Zeitungslüge, daß die Masse der wahre Kern des Volkes
sei, aber auch Volkslüge, daß die Kultur demoralisiere. Eine Partei sei wie
eine moralische Saugpumpe, die nach und nach Verstand und Gewissen voll¬
ständig aussauge — daher die vielen Hohlköpfe; kein Mensch wage etwas aus
Rücksicht auf alle andern Menschen usw.
Wir wissen ja nun, daß Majoritäten notwendig und mitunter höchst
erwünscht sind, ebenso, daß ewig zwischen Majoritäten und Minoritäten Vor¬
würfe oder Verdächtigungen ausgetauscht werden. Aber dieses eine bleibt wohl
an Ibsens Schilderung der Gesellschaft bestehn, daß sie in viel höherm Grade
als früher die Tyrannei der Reputation ausübt, auch wenn es sich nicht um
tiefgreifende sittliche Fragen dabei handelt. Da das Geld Reputation gibt,
so bringt es am leichtesten Verwicklungen und Schuld; so in den Stützen der
Gesellschaft, Nora, Borkmann, zum Teil in der Wildente und im Volksfeind.
Auch im „Bund der Jugend" ist die Gesellschaft stark durch Geldangelegen¬
heiten bewegt, und eine Hauptperson, der Rechtsanwalt Steinhoff, sucht als
Lokalpolitiker und Freier sein Glück zu machen, d. h. eine angesehene Stellung
zu erringen, indem er mit verblüffender Kaleidoskopik zwischen Agnes, Hertha
und Frau Rundholm herumtaumelt. Anders steht es in Rosmersholm und
in den Gespenstern.
Die Gesellschaft übt noch eine zweite Art von Beschränkung oder Knechtung
aus. Es gibt außer der Tradition der Familie (wie in den beiden zuletzt ge¬
nannten Stücken) auch eine alte Tradition der Gesamtheit, verkörpert in
Buchstaben von Sittenformeln. Deshalb sind die Menschen durch die bloße
Tatsache, daß sie mit den andern leben, in einer Art von Unfreiheit. Oswald
Alving hat von seinem Vater ein böses Erbteil (wie in Nora Rank von seinem
Vater her krank ist, wie Peer Gynt von Natur durch die Eigenart seiner
Mutter ungünstig beeinflußt ist). Die Gespenster, die Frau Alving sieht, sind
zweierlei. Das erstemal, als Oswald und Regiue sich im Eßzimmer herum¬
jagen, wird die Mutter an eine analoge Handlung ihres Mannes erinnert:
„das Paar aus dem Blumenzimmer geht wieder um". Außerdem äußert sie
aber zu Manders: „Ich glaube beinahe, wir alle sind Gespenster. Es ist nicht
allein das, was wir von Vater und Mutter ererbt haben, das in uns umgeht.
Es sind allerhand alte, tote Ansichten und allerlei alter Glaube und dergleichen.
Es lebt nicht in uns, aber es steckt in uns, und wir können es nicht los
werden. Wenn ich nur eine Zeitung in die Hand nehme, um daraus zu lesen,
so ists mir schon, als sähe ich die Gespenster zwischen den Zeilen umher¬
schleichen. Im ganzen Lande müssen Gespenster leben . . . Und dann sind
wir alle miteinander ja so gottsjämmerlich lichtscheu." Aber in diesem Stück
rächt sich einfach die Sünde des Vaters an seinem Sohne. Frau Alving führt
die Aufklärung herbei, daß Regime, die Oswald zu seiner Frau haben möchte,
seine Halbschwester ist. Und als Oswald wahnsinnig wird, fühlt sich seine
Mutter schließlich doch nicht fähig, ihn nach seinem Wunsche mit den Morphium-
Pillen zu vergiften, die er bei sich trägt.
Auch in Rosmersholm ist von vererbten Zweifeln, vererbter Angst, ver¬
erbten Gewissensbissen die Rede; Rebekka klagt darüber. Sie ist einmal eine
Gestalt voll Kraft und Saft. Aber: „ich hatte einen so frischen mutigen
Willen; jetzt hat ein fremdes Gesetz mich unterjocht." Sie ist jetzt geknechtet
durch Gesetze, die früher nicht für sie galten. Wie ein Sturm auf dem Meere
war das Begehren nach Rosmer über sie gekommen. Sie wollte mit dabei
sein in der neuen Zeit und Rosmer beherrschen, wie er einst von seinem Lehrer
Ulrik Brendel beherrscht worden war. Dieser Kentaur, halb verlumpt und
halb geistreich, nennt sie einmal „meine reizende Meerfrau". Nicht ohne
Absicht, scheint mir, läßt Ibsen sie so bezeichnen. Eine Art von Naturwesen,
wie Melusine, kommt sie aus dem hohen Norden, aus Finnmarken, in die
„Gesellschaft". Sie hat, wie der Rektor Kroll sagt, die Fähigkeit, die Menschen
zu behexen. Ihre suggestive Kraft hat sie in der Tat selbst in ihrem kleinen
Kreise mehrfach bewiesen. Aber mit dieser natürlichen Anlage macht sie doch
in der Gesellschaft kein Glück, gerade dann nicht, als sie scheinbar ganz nahe
daran ist, es zu ergreifen. Rosmer wird von Kroll auf die Tradition des
Geschlechts aufmerksam gemacht und schwärmt für die stille, freudige Schuld-
losigkeit. Sein Zusammenleben mit Rebekka ist ganz rein gewesen, er glaubt
an ein reines Zusammenleben zwischen Mann und Weib. Nebekkas frischer
Wille steht am Ende unter der Macht der Rosmersholmschen Lebensanschauung,
deshalb gehört es sich, daß sie führt, was sie verbrochen hat. Rosmer bekennt
sich nicht zu der einmal von Kroll erwähnten freien Liebe. Auch er huldigt
bisweilen der Phantastik, Adelsmenschen zu schaffen ringsumher. Mit diesem
zarten Gewissen fühlt er sich denn auch schuldig. „Dieses innige Leben in¬
einander und füreinander haben wir für Freundschaft gehalten. Nein, unser
Verhältnis ist eine geistige Ehe gewesen, vielleicht schon von Anfang an.
Deshalb liegt auf meiner Seite das Verbrechen. Ich hatte kein Recht dazu —
um Beatens willen." ^ ^
Sollen wir als Gegensatz zu dieser Tragödie der Liebe die „Komödie der
Liebe" erwähnen? Dann hebe ich heraus, was mir darin den Glanz komischer
Brillanten (wie Schmock in den „Journalisten" sich ausdrückt) zu haben scheint:
eben nur dies, daß vier bemutternde Tanten auftreten, daß der Pfarrer
Strohmann, der zugleich Abgeordneter ist, mit seiner Gattin — dem Resteln,
das er lieb hatte vor andern, wie Eichendorff sagt — und acht Töchtern
auftritt, die ihm auf Schritt und Tritt folgen, daß er außerdem noch vier
Kinder zuhause hat, daß ihm dieser Segen mitunter in Form von Zwillingen
zuteil wurde, und, last not 1<ZÄ8t>, das besagte Resteln die Freude eines
Sommerfestes noch dadurch erhöht, daß sie die ganz sichre Hoffnung ausspricht,
die Zahl der Kinder (ob um eins oder zwei?) in nicht gar zu langer Zeit
erhöht zu sehen.
Das Glück, das die gütige Natur hier so reichlich spendet, versagt sie nun
eben dafür an andrer Stelle, ohne daß wir erkennen, ob der Welt ein be¬
stimmtes Maß beschieden ist, das durch ein Balancieren zwischen den Gegen¬
sätzen hergestellt werden muß, als wäre das Schicksal des Einzelnen davon
abhängig, daß genau das Gleichgewicht jener beiden Schalen hergestellt wird,
daß also im ganzen einer gewissen Menge von Glück eine gewisse Menge von
Unglück entsprechen muß.
Überschauen wir diese modernen Stücke auf ihre Fähigkeit hiu, allgemein
menschliches Interesse zu erregen, so werden wir wohl sagen müssen, daß sich
die Rätsel des Daseins wesentlich in die Formel fassen lassen, wie sich der
Einzelne mit seinem Charakter und seinen Handlungen der Gesellschaft gegen¬
über abfinden muß. Sie tritt ihm als eine kompakte, zur Knechtung geneigte
Masse gegenüber. Die Folgen der Handlungen treten mit unerbittlicher Logik
ein, obgleich die Gesellschaft keineswegs die unantastbare Vestalin ist, die das
reine Feuer des Rechten und des Guten hütet. Einen Sinn muß doch das
Leben haben, heißes in Klein Eyolf. Allmers schreibt dort an einem Buche
über die Vergeltung, von deren Sicherheit auch Rita überzeugt ist. Doch
finde ich nicht, daß in dieser Erkenntnis, die sich mehr wie der dünne Nebel
einer Stimmung ausbreitet, das eigentlich Anziehende bei Ibsen besteht.
Indem ich von den mehr oder weniger symbolischen Stücken absehe, weil es
zu schwer ist, genau und sicher durch die gemalten Fensterscheiben dieser Ge¬
dichte den wahren Sinn zu erspähen, wende ich mich der Frage zu, in welcher
Form sich die kompakte Gesellschaft Satisfaktion verschafft. Zugleich leitet
uns das zu der Frage, wie sich Ibsen zum allgemeinen Problem des ernsten
Dramas verhält.
Bernick legt, allerdings hier kein angenehmes Geschüft, eine Beichte ab.
Ob wir diesen Entschluß glaublich finden oder nicht, so wird er nicht durch
die Gesellschaft dazu gezwungen, sondern durch seine Verwandten oder sein
Rechtsgefühl. Leider erfahren wir nicht, was die Gesellschaft schließlich von
ihm halten wird. Nora droht Rache durch Günther, also einen Deklassierten.
Im Volksfeind hat höchstens die Gesellschaft selbst eine Schuld — aber sie
bleibt einstweilen siegreich. Werte hat einige peinliche Auseinandersetzungen
mit seineni Sohne gehabt, bei dem das akute Nechtlichkeitsfieber ausgebrochen
ist, und der an der fixen Idee der idealen Forderung leidet. Aber der Vater
wird seine liebe Frau Sorby heiraten, und damit ist die Sache abgemacht.
Der Maul- und Magenheld Hjalmar, immer fähig, etwas Unausstehliches zu
sagen und mit dem Schwert des Hungers vom Leder zu ziehen, um einzu¬
hauen, wird weiter schwatzen, faulenzen und essen. Die kleine Hedwig, die
den nicht jedem begreiflichen Entschluß faßte, sich zu erschießen, wird bald für
Hjalmar ein Deklamationsthema sein. In den Gespenstern hat die Gesellschaft
nichts mit der Strafe zu tun, obgleich der so trefflich gezeichnete Tischler
Engstrand gern bereit Ware, jemand etwas am Zeuge zu flicken, zum Beispiel
dem Pastor Manders. An Borkmann hat die Gesellschaft Rache geübt. In
Rosmersholm ist die Entscheidung ebenso reinlich: aber in diesem Meisterwerk
vollziehen im Grunde die beiden Liebenden Strafe an sich selbst. Die Schuld,
die sich durch Tod, Vereinsamung, äußere Einbuße, innere Demütigung
juristisch und moralisch vollziehen kann, kommt bei Ibsen verschieden und nicht
immer reinlich zur Sühne. Noch bleibt die Möglichkeit des innern Auf¬
schwungs übrig: in Klein Eyolf. Wir sehen also doch auch hier, daß die
Welt ans Kompromisse eingerichtet ist.
Im ernsten Drama wird der Gegensatz nud Kampf eines Willens gegen
einen andern geschildert, wobei jedoch einer von beiden nicht der Ausdruck
einer rein persönlichen Schrulle sein darf, sondern einen substantiellen Wert der
geistigen Welt vertritt, dessen Verneinung oder Aufhebung schließlich mit der
von uns gedachten Weltordnung unverträglich ist. Diese ist, wie bekanntlich
die Welt selbst, eine Idee. Jener Kampf kann also auch ein Kampf des
Einzelnen gegen die Idee genannt werden. Diese erhält, wie Hebbel sagt,
Satisfaktion durch Unterwerfung oder durch Untergang des Individuums, das
sich zu eigenmächtig ausdehnen wollte. Nur ist Streit darüber, inwieweit
dabei von Schuld die Rede sein kann. Schopenhauer zitiert ja beifällig aus
Calderon: Die größte Schuld des Meuschen ist, daß er geboren ward. Aber
wir werden höchstens geneigt sein, darin das Leiden des Menschen begründet
ZU finden, noch nicht aber das, was wir im Sinne des Dramatikers eine
Schuld nennen. Jedoch kommt gerade ein solcher dem Philosophen ziemlich nahe.
Denn Hebbel meint, das Leben erzeuge die Schuld nicht bloß zufällig, sondern
bedinge sie und schließe sie notwendig ein? sie sei eine uranfängliche, vom Be¬
griff des Menschen nicht zu trennende und kaum in sein Bewußtsein fallende.
Darum widerstrebe das Individuum der Idee durch sein Handeln oder durch
sein Dasein selbst. Wollen wir dieser Theorie zugeben, daß wir alle schuldig
werden oder schuldig sind? Auch Ibsen steht dieser Ansicht fern. Mir scheint.
daß ihn im Grunde die realistische Frage beschäftigte, was sich ergibt aus dem
Gegeueinanderspielen der Eigenschaften und Kräfte der Gesellschaft und denen
des Einzelnen, der allerdings zum Teil besondre Schrullen hat. wie d:e Frnn
vom Meer, wie Hedda Gabler. Diese strenge Mechanik der Konsequenz und
der Vergeltung bringt es mit sich, daß er die Personen möglichst reaMsch
darstellt und ihr Seelenleben bis in die Tiefe scharf beleuchtet. Außerdem
führt es zu dem bevorzugten Typus des König Ödipus, der allmählichen
Enthüllung der Vergangenheit, die sich durch Folgen in der Gegenwart auf¬
klärt. Wer von Vergeltung spricht, kann die Verantwortung nicht leugnen.
Auch Ibsen tut es nicht; zuweilen (wie am Schluß der Frau vom Meer)
wird sie ausdrücklich betont. In jenem Enthüllungstypus liegt es von Natur,
daß wir selten ein heißblütiges Aufstreben des Einzelnen zu sehen bekommen,
der sich mit irgendeiner Leidenschaft oder Erkenntnis der Gesamtheit entgegen¬
setzt. Vom starken Recht einer persönlichen Natur ist weniger zu spüren als
von einer ungewöhnlichen Klarheit der Erkenntnis des eignen Wesens und des
Wesens der andern. Daß der Einzelne gegen „Wahrheiten" der Gesellschaft
anrennt, ist mitunter um so verzeihlicher oder begreiflicher, als diese Wahr¬
heiten, wie im Volksfeind zugestanden wird, nicht alle ewig sind. Im Gegen¬
teil, manche sterben ab, wenn sie fünfzehn bis zwanzig Jahre alt sind. Aber
solche bejahrte Wahrheiten seien immer entsetzlich dürr und mager. Liegt es
aber in der Natur der Gesellschaft, sich ununterbrochen zu häuten, so ist der
Wert von Stockmanns „Entdeckung" fraglich, nämlich daß unsre sämtlichen
geistigen Lebensquellen vergiftet sind, und daß unsre ganze bürgerliche Gesell¬
schaft auf dem pestschwangern Grunde der Lüge ruht. Natürlich wird es
nie an Leuten fehlen, die dieser Ansicht ohne Einschränkung zustimmen.
Unser Dramatiker aber kann nicht dazu gerechnet werden. Denn wenn er so
oft die Vergeltung schildert, so gibt er damit zu, daß eine Konsequenz des
Weltlaufs vorhanden ist, die die Vergangenheit und ihre Verfehlungen ent¬
hüllt und das Individuum in seine Schranken zurückweist.
Fragen wir nach Gestalten, die uns, wie sonst in der Dramatik, als ein
Typus gewisser Strebungen, wie der Liebe, des Ehrgeizes, verschlagner List
und Bosheit usw. gelten könnten, so kann man einwenden, diese Typen seien
erschöpft, also auch ihre Darstellung sei von Ibsen nicht zu verlangen. Und
darin liegt viel Wahres. Er Hütte für seine modernen Dramen vielleicht die
stille Überzeugung mitnehmen können, die Byron am Anfang des Don Inca
in die Worte faßt: Mir fehlt ein Held. Die moderne Dramatik ist dieser
Neigung für typische Personen satt geworden, weil sie leicht unrealistisch wirken,
da die lebensvollen Einzelzüge des menschlichen Wesens über der Hervor¬
hebung einer Haupteigenschaft leicht vernachlässigt werden. So sind Ibsens
Personen oft von erstaunlicher Plastik; er gibt ja auch meist sehr genau an,
wie sie aussehen sollen. Ebenso ist Ibsen oft bewunderungswürdig in der
Erregung der Spannung. Diese beiden Eigenschaften bewähren sich zudem in
der Schilderung der heutigen Gesellschaft, die in der Regel nicht desto idealer
aussieht, je genauer man sie kennen lernt, in feiner Technik und Zerfaserung
des seelischen Lebens. Die Ereignisse sind meist fein ausgeklügelt, die Ver¬
hältnisse sehr intim. In seiner Kritik der Gesellschaft kann ihn kaum eine
Partei für sich allein in Anspruch nehmen; deshalb gibt er jeder etwas.
Alles dieses übt eine starke und ziemlich ausgedehnte Anziehung aus. Vielleicht
auch der Umstand, daß Ibsen das vorsichtig in diesen Stücken abzulehnen
scheint, was man idealen Schwung nennt. Es ist wohl zu beachten, daß
Ulrik Vrendel erklärt, er habe Heimweh nach dem großen Nichts; ein Leben
ohne Ideale zu leben — das sei das große Geheimnis des Handelns und
des Siegers. Frau Alving würde, wie sie aufwallend sagt, wenn sie nicht
so gottsjämmerlich feige wäre, Oswald auffordern, sich mit (seiner Halb¬
schwester) Regime zu verheiraten oder nach Belieben einzurichten. Was dabei
aus den Idealen wird, kümmerte sie nicht. Sie hat das schwere, bittere
Heucheln aus ihrer Ehe satt und haßt jeden weitern „Betrug", jede Devotions¬
kurve und geduldig-süßliche Augenverdrehung vor Ordnung und Gesetz.
Manchmal glaubt sie beinahe, daß diese beiden alles Unglück hier auf Erden
stiften. Die Menschen dieser Gesellschaft sind in den „Stützen" so sehr an¬
ständig und moralisch: die arme Dina, die keine günstige Position hat, wünscht,
sie wären anderswo mehr natürlich. Wer sich in der wohlangepaßten Kleidung
der Korrektheit nicht immer oder nur selten wohl fühlt, wird mit solchen
Aufwallungen sympathisieren. Wird nicht schließlich ein Dramatiker durch den
Geschmack gerechtfertigt, den das Publikum an ihm findet? Einen Vers des
Euripides: Was ist denn schnöde, Wenns dem Brauchenden nicht so scheint,
parodiert Aristophanes in den Fröschen: Was ist denn schnöde, Wenns den
Zuschauern nicht so scheint? Aber es handelt sich bei der Beurteilung von
Dramatikern keineswegs bloß um Schnödigkeiten. Und die Rechtfertigung
durch den Geschmack des Publikums gilt nicht ohne Einschränkung. Wir
wissen es ja. daß zum Beispiel Kleist unrecht leiden mußte. Auch wechselt
der Geschmack des Publikums, und in der Folgezeit begreift man oft nicht,
wie gewisse Dramen so unsäglich beliebt sein konnten. Ibsen gehört sicher
nicht zu denen, von denen es heißt: Was glänzt, ist für den Augenblick ge¬
boren. Er hat zu viel Echtes in sich. Er wird wohl seine Rechtfertigung
auch durch die Teilnahme der Nachwelt finden, wenn auch mit dem üblichen
Subtraktionsexempel, das sie an Dichtern und Dramatikern vorzunehmen pflegt.
Aber wenn man seine scharfen anatomischen Schnitte bewundert, wird man
Wohl manches zu ausgeklügelt finden und bei seiner Kritik etwas vom Puls
natürlicher Leidenschaft vermissen, von der starken Stimme der Natur und dem
Zauber dessen, was die Dichter sonst oft als rein poetische Schönheit aus¬
strahlen. Vielleicht kann man dies bei ihm mehr in einer gewissen indirekten
Tragik finden; in dem. was Nora oft sagt von der Schönheit des Lebens,
wenn Günther bezahlt ist, in dem Umstände, daß die Handlung gerade Weih¬
nachten spielt, daß die kleine Hedwig dicht vor ihrem Geburtstag steht, auf
°en sie sich so freut - Züge, die mich außer dem Lakonismus an die Ennlia
Galotti erinnern, die dicht vor ihrer Hochzeit steht und gerade da vorzeitig
geknickt wird
In den Gesprächen mit Eckermann äußert Goethe einmal: Wahre Kraft
und Wirkuug eines Gedichts bestehe in der Situation und den Motiven. Die
Auffassung und die Darstellung des Besondern sei auch das eigentliche Leben
der Kunst, In dem, was Ibsen von diesen beiden Erfordernissen hat, scheint
anch seine besondre Bedeutung begründet zu sein, die sich auch immer wieder
wirksam erweisen muß. Der vielfach Rätselhafte liebte es offenbar nicht, von
allen Seiten und möglichst vielen neugierigen Zuschauern in sich hineinschauen
zu lassen. Als scharfer Beobachter und Darsteller der Konsequenzen mag er
wohl den Eindruck bekommen haben, daß die meisten fragwürdig oder uner¬
wünscht sind. Gelegentlich (Borkmann) findet sich die (unrichtige) Bemerkung,
nur die Geschwisterliebe sei nicht der Wandlung unterworfen. Ein unschätz¬
bares Gut ist aber die Freiheit. Zu ihr gehört das Gefühl der Schuldlosig-
keit. Wer es verloren hat, kann die Schuld sühnen; dadurch wird er wieder
frei. Aber auch an sich kann er sich sehnen, aus den verworrenen Kreisen
des Lebens mit seinen Gedanken und Strebungen zu entrinnen. Vielleicht
hat man desto weniger zu bereuen, je weniger man handelt? Vielleicht wird
man desto weniger gezerrt, mit je weniger Banden man an die Welt geknüpft
ist? Mag in einer solchen Bescheidung eine Art von Egoismus liegen, so ist
die Selbstüberwindung ja doch auch ein Preis, der gezahlt worden ist. Dafür
geht es dann (wie es in Klein Eyolf heißt) aufwärts zu den Gipfeln. Zu
a lag es vor uns, das nächste Ziel unsrer Sehnsucht, die Hafen¬
stadt Vatum. Allmählich unterschied man Häuser und Kirchen und
fast am Ende der die Bucht gegen Westen abschließenden Land¬
zunge, der Arbeit des Tschorochflusses, das Küstenfort Burnn
labia. Auch andre Befestigungen, zum Teil aus der türkischen
Zeit stammende Uferbattericn und Artilleriestellungen auf den zwei bis drei
Werst vom Ufer entfernten Hügeln über der Artilleriestadt, sind mit einem
guten Glase zu erkennen. Es ist allerdings kein zweites Portsmouth oder
Toulon, was hier entstanden ist, sondern mehr ein geschützter Handelshafen, der
sich als vorgeschobner Posten gegen etwaige türkische Nückeroberungsgelüste halten
soll. Jedenfalls ein recht guter, eisfreier Hafen, der wohl die ganze Schwarze-
meerflotte und eine bedeutende Anzahl Handelsdampfer aufnehmen kann, auf der
Westseite bei vorzüglichem Ankergrund reichlich Wasser, auf der Ostseite immer
noch sechs bis acht Meter Wassertiefe und kurze Piers als Anlegeplätze für die
Handelsschiffe hat und hier durch Schienengeleise mit der transkaukasischen Eisen¬
bahn verbunden ist.
Landschaftlich hervorragend schön, in gartenähnlicher Gegend, umrahmt von
den Ende Februar noch schneebedeckten Lasistcmbergen, die Stadt schmuck und
sauber, wäre Batna ein „Edelstein in der Krone des Zaren", wenn es nicht
zugleich ein Tummelplatz wilder Leidenschaften, ein Herd ewiger Unruhe und
Aufregung wäre. Ein Wunder ist das ja freilich nicht. Man muß sich nur
vergegenwärtigen, welches Gemisch in Kaukasien durch Ablösung immer neuer
Völkerscharen in vorgeschichtlicher und in geschichtlicher Zeit entstanden und an
der Küste durch Kreuzung mit griechischen und italienischen Schiffern und Ein¬
wandrern und türkischen Eroberern verdorben ist. Südlich heißblütig, durch ein
warmes Klima und die Fruchtbarkeit des Bodens begünstigt, leicht zu ernähren und
nicht übermäßig arbeitslustig, ist es das geeignetste Menschenmaterial für Putsche
und unüberlegte Streiche geworden, auf das der Zuzug lasischer Elemente und
verarmter, von Haus und Hof Vertriebner, durch Güterschlächter zur Verzweiflung
gebrachter Bauern keineswegs beruhigend wirken konnte. Welche Rolle Dolch und
Revolver spielen, konnte schon die Tatsache lehren, daß die Schüler einer höhern
Lehranstalt einen mißliebigen Lehrer umgebracht haben, und daß die Fälle nicht
selten waren, daß Kaufleute oder Reisende in ebenso deutlicher wie hohnvoll höf¬
licher Weise auf offner Straße aufgefordert werden, von dem Überfluß ihrer Porte¬
monnaies eine nicht unbedeutende Summe abzugeben. Rußland hatte nach der
Erwerbung im Jahre 1878 Batna bis 1886 als Freihafen bestehn lassen, dann
aber die Zollfreiheit aufgehoben. Seit dieser Zeit ging die Bedeutung des Hafens
stark zurück, denn der kleinasiatische Handel verzog sich nun zunächst nach den
türkischen Küstenplätzen, während das aufblühende Noworossiisk im kaukasischen
Handel starke Konkurrenz machte. Die sich hieraus ergebende Verschlechterung
der Erwerbsverhältnisse der arbeitenden und der Schiffahrt treibenden Bevölkerung
mußte natürlich immer mehr beunruhigend wirken und hatte schon vor zwei bis
drei Jahren unhaltbare Zustände herbeigeführt. Natürlich hatte die von den
Hauptstädten ausgehende, in den südrussischen Hafenplätzen aufgenommne Be¬
wegung, wahrscheinlich unter dem Einfluß von Sendungen der roten Pro¬
paganda, eine sehr bedenkliche Wendung zum schlimmern hervorgerufen, der
gegenüber die geringe Garnison. Festungsinfanterie, Artillerie, Scippeure und
Mineure, nicht mit der nötigen Energie verwandt wurde. Zwar waren die Un¬
ruhen von Anfang Februar beigelegt, doch erhielten sich dauernd alarmierende
Gerüchte, die unsern Kapitän zu der Äußerung bewogen, das sei nicht mehr
Streik sondern Aufruhr, Gerüchte, daß es am folgenden Sonnabend, dem 4. März,
wieder losgehn solle.
Als wir am Sonntag gegen zwei Uhr Nachmittags in den Hafen einliefen,
lag die tiefste Stille über dem Wasser. Kein Mensch war auf den mitten um
Hafenbecken verankerten Petroleumdampfern zu sehen, kein Schiff löschte, und
nur am Ende der Landzunge wurde ein Getreidedampfer am dortigen Pier von
Soldaten entladen, weil sonst Hungersnot ausgebrochen wäre. Ganz wenig
Boote schaukelten sich auf dem kristallklaren Wasser; ihre Insassen wurden von
einzelnen Mitreisenden angerufen und überboten sich in Tatarennachrichten, die
sodann auf unserm Dampfer die Runde machten. Aber sie brachten doch wenigstens
die sichre Nachricht, daß der Eisenbahnverkehr in beschränktem Umfang aufrecht
erhalten werde Unser Bcitumscher Fürst meinte sogar, daß wir den schönen Tag
zu Spaziergang und Fahrten ausnutzen und im Hotel übernachten könnten.
Aber kein Konsul und kein Vertreter der Dampfschiffahrts- und Handels¬
gesellschaft erschien. Unser Kapitän wurde ärgerlich und verhandelte, selber mit
den Hafenverhältnissen nicht vertraut, mit seinen Offizieren, ging dann vor Anker
und entsandte ein Boot zur Hafenbehörde. Auf meine Frage, weshalb wir nicht
anlegten, meinte er nur: „Das ist Rußland!" Endlich erschien etwas offizielles,
ein Boot mit zwei uuiformierten Herren und einem Gendarmen. Der eine der
Insassen war ein Arzt, der den Dampfer einer gesundheitspolizeilichen Kontrolle
unterwerfen sollte. Es war uns durchaus unklar, wie er auf einem Spaziergang
durch die Menschen- und Gepäckmassen diese Kontrolle ausüben wollte. Aber
er fand ein Opfer in einem armen Inder, der mit seinen Habseligkeiten in das
Quarantänelazarett geschleppt wurde — man sagte, es sei Ranküne gegen alles,
was englisch heißt oder auf englischen Schutz Anspruch machen kann. Endlich
rasselte die Ankerkette von neuem. Wir gingen an den Anlegeplatz der Passagier¬
dampfer hinan, aber weil die Landebrücke für den Odessaer Schnelldampfer frei¬
gehalten werden mußte, unter schwer verständlichen Manövern breitseit an einen
ebenfalls als Anlegestelle benutzten Hulk, dessen Verbindung nach dem Lande zu
jedoch den Streitenden zum Opfer gefallen war. Aber jetzt nahte doch die Er¬
lösungsstunde. Polizeibeamte und Schreiber richteten sich im Salon ein, unter¬
warfen die schon vorher eingesammelten Pässe einer genauen Durchsicht, trugen
sie nacheinander in zwei Bücher ein und stempelten ab. Unsre Empfehlungs¬
schreiben verschafften uns beschleunigte Abfertigung nach den Beefsteakeaters, für
die sich der englische Konsul in Person bemüht hatte, und die natürlich keinen,
Steward auch nur eine Kopeke Trinkgeld zahlten. Dann begann die Gepäck¬
revision, die dank der Empfehlung schnell und kostenlos erledigt wurde. Aber
Augen und Ohren mußte man offen, Hände und Grobheiten bereit halten.
Kaum hatte ich Nummer zwei geöffnet, so war Koffer Nummer eins in einem
Landungsboot verschwunden, das sogleich mit ihm und andern Sachen abstoßen
wollte. Für die Beförderung zum Zollbeamten, von da zum Kahn, vom Kahn
zu Lande fanden sich genng hilfsbereite, Trinkgeld heischende Hände, und die
Freude war unter der am Ufer stehenden Bande groß, als mir das Mißgeschick
passierte, den geforderten Kahnpreis auf russisch aus Versehen für „zu wenig"
zu erklären. Aber da war ein braver Gendarm zur Hand, der uns mit nicht
mißzuverstehender Energie vor dem allzu dringlichen Angebot von Hilfe schützte
und drei oder vier verwegne Gesellen mit dem Gepücktrcmsport nach den Droschken
betraute. Auch die Droschkenbesitzer nahmen ihren Vorteil wahr und verlangten
in Anbetracht der Zeiten doppelte Taxe. Ich gab sie gern und war im tiefsten
Herzensgrunde froh, meine Reisegesellschaft und ihre Habe auf schnell laufende
Räder gebracht zu haben.
Wir rollten, vorzüglich gefahren, durch die schönen breiten, saubern Straßen
in kurzer Zeit zum Bahnhof. Auch in der Stadt war überall Feiertag, aber
an allen Straßenecken und wichtigen Gebäuden standen Posten, einzelne Häuser
waren stark mit Einquartierung belegt, und Patrouillen durchzogen die Straßen.
Tot lag der Bahnhof da, war aber durch Posten an allen Ausgängen bewacht;
eine Kompagnie war mit seiner Sicherung beauftragt worden. Von Gepäck¬
trägern draußen keine Spur: im Gepäckaufbewahrungsraum saßen sie und spielten
Karten, eine Beschäftigung, bei der sie sich ungern stören ließen. Im hohen,
luftigen, gut ventilierten Wartesaal richteten wir uns, so gut es auf den harten
Stühlen ging, für die Nacht ein und hatten wenigstens das Gefühl, in mili¬
tärischer Obhut hinter festen Doppelfenstern in reinlicher Umgebung mit gutem
Gewissen als sanftem Kissen der Ruhe pflegen zu dürfen. Bevor wir jedoch
dazu übergingen, wie der militärische Ausdruck lautet, hatten wir uns, unter
Verzicht auf jeden Besuch der Stadt, über die Einrichtung und die Umgebung
des Bahnhofs orientiert und mit Genuß das schon im Hafen während der un¬
freiwilligen Muße bewunderte Bild der Alpenlandschaft in der Abendbeleuchtung
auf uns wirken lassen. Auf telephonische Anfrage hin hatte sich der liebens¬
würdige Besitzer des Hotel Richter (einer Filiale des Hotel London in Tiflis)
persönlich nach dem Bahnhof bemüht und sehr uneigennützig seine volle Billigung
ausgesprochen, daß wir gleich dahin übergesiedelt waren. Wir erfuhren von ihm
näheres und nicht gerade Vertrauen erweckendes über die Zustände im Kaukasus
und in Batna und erhielten Bescheid, daß unser in Moskau häßlicherweise von
uns versetzter Reiseteilnehmer uns sehnsüchtig in Tiflis erwarte. Trotz allen
Alarmnachrichten und trotz dem aus einer Wirtschaft herüberschallenden Lärm,
bei dem es wahrscheinlich nicht ohne einige Stiche abgegangen ist, trotz dem
halben Kriegszustande, unter dem wir uns befanden, empfanden wir unsre Lage
fast als Idylle und freuten uns, soweit gelangt zu sein. Die Bahnhofswirtschaft
lieferte sachgemäßen Borschtsch, Tee, kaukasischen Wein und Bier nach Bedarf,
jedenfalls in ausreichender Menge, daß wir die nötige Bedingung für das
improvisierte Nachtlager auf Stühlen erfüllen konnten, uns genügende Bett¬
schwere zu erwerben. Bequem war es nicht, und die mißhandelte Natur rächte
sich durch so kräftige Sägetöne ans dem Kehlkopf, daß vereinzelt erscheinende
Ratten erschreckt davoneilten.
Um vier Uhr Morgens begann sichs zu regen, denn auf etwa fünf Uhr war
die Abfahrtszeit des Zuges nach Tiflis angesetzt, ein wesentlicher Grund, daß
wir auf Hotelunterkunft in einer so unsichern Stadt verzichtet hatten. Droschken
fuhren vor, der Wartesaal füllte sich, und an der Fahrkartenausgabe sammelte
sich kaukasisches Reisepublikum. Mühevoll unter Stoßen und Drängen mußte
der Platz am Schalter erworben und verteidigt werden, aber die Unterbringung
im vorfahrenden Zuge ließ sich sachgemäß und leicht in zwei durch Klapptüren
verbundnen Coupe's erster Klasse bewirken, die bei Tage zu einem größern Raum,
unserm Bedürfnis entsprechend, umgestaltet werden konnten. Unser langer, nach
dem Pullmansystem erbauter, gut fahrender und federnder Wagen machte einen
ausgezeichneten Einbruch ganz ebenso wie die Bahnhofsanlagen durchaus sauber,
ordentlich und übersichtlich ausgebaut erschienen, und wie alles, was wir von der
transkaukasischen Eisenbahn zu sehen bekommen haben, in vorteilhaften Gegensatz
zu dem steht, was man traditionell als russische Eisenbahnwirtschaft zu tadeln
gewohnt ist.
Seitdem die transkaukasische Eisenbahn durch die Strecke am Kaspischen
Meer angeschlossen ist, verkehren durchgehende Züge und wöchentlich ein Schnellzug
zwischen Batna und Moskau. Diese Züge bedürfen für ihre schweren Durch-
gcmgswagen, besonders auf der westlichen Hülste der Strecke wegen deren starker
Steigungen, schwerer Maschinen, die sämtlich für Navhthaheizung eingerichtet
sind. Das Fahrpersonal ist besonders zuverlässig.*) kräftig und in jeder Beziehung
Vertrauen erweckend. Mancher trügt auf der Brust ein oder mehr Georgskreuze
für kriegerisches Verdienst in den Feldzügen in Kaukasien und Zentralasien.
Zugführer und Schaffner waren mit Revolvern bewaffnet und rieten auf die
Frage: Warum? die eignen Waffen in Bereitschaft zu setzen, denn die Gurier
seien im Aufstände. Die erregte Stimmung, die sich von Batna ans zunächst
in das benachbarte Gurien übertragen hatte, war denn auch die Ursache, daß
°er regelmäßige Zugverkehr unterbrochen worden war. Täglich wurde nur ein
Zug in jeder Richtung, und zwar nur bei Tage unter militärischer Bedeckung
abgelassen und durch vorauffahrende Maschinen gesichert, denn kurz vor unsrer
Fahrt war das Geleise mehrfach unterbrochen worden, und die vielen Kunst¬
bauten, Brücken. Durchlässe und Einschnitte gaben die beste Gelegenheit, Ent¬
gleisungen herbeizuführen. Natürlich waren die Züge wegen der Einschränkung
des Zugverkehrs überfüllt, viel länger als sonst und mußten auch aus diesem
Grunde langsamer fahren.
Noch in der Dämmerung eines leichten Morgennebels setzte sich der Zug in
Bewegung, hielt sodann auf dem Güterbahnhof und erlaubte uns einen Blick auf
die nächsten Stadt- und Hafenanlagen. Petroleumtanks und einige im Kascrnen-
M angelegte Wohnungen der Arbeiter der Petroleumindustrie. Die Bahn folgt
zunächst dem Gestade des Meeres, steigt dann allmählich und schneidet sehr bald
in die an das Ufer tretenden Felshänge ein; sie überschreitet an den Abhang ge¬
schichtete Dammschüttungen und Trümmerfelder, in denen sich grangrüner Trachyt
von dunkelrotem Ton abhebt. Eine Reihe herrlicher Landschaftsbilder wird er¬
schlossen: fehlt auch noch das frische Frühjahrsgrün der Laubhölzer, so wiesen
doch die Gartenanlagen der geschmackvollen Landhäuser, die der Bahn einige
Halbstationen weit folgen. Lorbeerkirschen und Rhododendron und andre immer¬
grüne Gewächse auf. Alles wächst in dieser vor Nord- und Ostwinden völlig
geschützten Landschaft, deren Teeplantagen schon guten Ertrag abwerfen. Be¬
sonders vom Klima begünstigt ist der Ort Tschakwa, die erste Station hinter
Batna: hier bringt die Flora unter dem Einfluß der warmen Sonne auf frucht¬
barem, reichbewässertem Boden tropische Gewächse in üppigem Reichtum zur Blüte
und zur Frucht und ist in ihrer Fülle kaum zu bündigen. Als ich mich nach
dem Verlassen des ersten kleinen Tunnels noch einmal umschaute, erschien hinter
der eben durcheilten Bergkulisfe in der Ferne, vom blauen Grunde des Meeres
sich absehend, Batna mit seinen weißen Häusern und Hafenbauten, den Schiffen in
seinem Hafen unter den ersten Strahlen der Morgensonne wie ein Märchenbild.
Hinter den malerischen cfeuüberwucherten Ruinen einer über dem Meere
hängenden Bergfeste folgt die Station Kobulety. Von hier ab ändert sich die
Landschaft. Rechts treten die Berge, links das Meer zurück, und eine breite
Ebene öffnet sich, die zum Teil mit Urwäldern, zum Teil mit ausgedehnten
Kukuruzfeldern bedeckt, eigentlich ein Sumpfland ist, das aber bei einiger Be¬
arbeitung unter der tropischen Hitze des Sommers vorzügliche Ertrüge abwerfen
kann. In den Wäldern entwickeln sich Eichen, Buchen, Karagatsch (Kugelbaum)
und Platanen aus dem wässerigen Moorgrunde zu bedeutender Hohe und sterben
schließlich an Wurzelfüule. Die Kukuruzfelder weisen eine Unmenge kleiner pfahl¬
bauartiger Hütten auf, wie sie die Neuseeländer noch heute benutzen, bestimmt,
die Maisernte trocken aufzubewahren. Ebenso muß auch das Heu, auf hohen
Stangendreifüßen künstlich aufgebunden, getrocknet werden. Natürlich ist dieses
Land eine Fiebergegend erster Klasse, aber die Eingebornen sind dem Fieber
gewachsen; es ist ein schöner, stattlicher Menschenschlag, diese Gurier, schlank,
sehnig, straff wie ein arabischer Hengst; kühnblickend stolzieren ihrer ein paar
in schwarzen Burken (Mänteln), schwarze Baschliks umgebunden, auf den Bahn¬
höfen auf und ab. Aber das friedliche Leben, das sonst hier herrscht und die
Stationen beinahe in Basare verwandelt, auf denen die hübschen Gurierinnen
mit ihrem buntfarbigen seidenen Kopfschmuck, sauber angezogen, Seidenstoffe,
-tücher und -Schärpen verkaufen, und wo sich gesund aussehende großäugige Bengel
von ganz italienischem Typ herumbalgen, dieses Leben fehlte.
Die Gurier sind ein Teil der christlichen Bevölkerung iberischen Stammes
in Transkaukasien, die, am weitesten gegen Kleinasien vorgeschoben, natürlich
auch am meisten unter den feindseligen Beziehungen zu den Türken zu leiden
hatte und deshalb sehr schnell bereit ist, sich ihrer Haut mit den Waffen in
der Hand zu wehren. Durch ungünstige wirtschaftliche Verhältnisse verarmt,
haben sie von jeher ein ganz gehöriges Kontingent Raubgesindel gestellt, das in
mehr oder weniger mittelalterlicher, mehr oder weniger ritterlicher Weise Verdienst
auf den Straßen sucht und in dem armenischen Berglande, den letzten Ausläufern
des Lasistangebirges, Schlupfwinkel genug findet und eine fortwährende Be¬
drohung der sehr künstlich, darum leicht zerstörbar angelegten Eisenbahn ist. Die
in den Ebenen wohnenden Gurier haben jedoch schon seit langer Zeit durch
Landwirtschaft ihren Erwerb gesucht, aber in sehr ungünstigen wirtschaftlichen
Verhältnissen gelebt. Die wohlhabend aussehenden Ansiedlungen an der Straße
von der Eisenbahnstation Notanebi nach der Hauptstadt Osurgeti dürfen darüber
nicht täuschen. Die Kanalisation ist zu wenig rationell, die Wohnstätten müssen
darum höher liegende, möglichst fieberfreie Stellen aufsuchen. Dadurch verbietet
sich stellenweise eine intensive Bewirtschaftung. Bei der Bodenaufteilung zu¬
gunsten des zahlreichen Adels, was die Zuweisung der Lündereien anlangt, ent-
schieden übervorteilt und bei Pachtverträgen mit den sämtlichen auf dem Lande
ruhenden Lasten überbürdet, vermochten sich die gurischen Bauern größtenteils
nicht zu eiuer günstigern Lage emporzuarbeiten. Sie müssen, der Not gehorchend,
»n ihrer veralteten Bewirtschaftungsweise festhalten und in ihren dürftigen Hütten
Weiter Hausen. Nur stellenweise konnten sie sich bessere Lebensbedingungen schaffen,
ganz besonders, wo sie an der Eisenbahn und nach den Häfen einen Absatz
ihrer Hausindustrieprodukte fanden. Dort aber ergaben sich Berührungen mit
unzufriednen Bestandteilen andrer Stände und andrer Herkunft, die die sich seit
sieben bis acht Jahren bemerkbar machende Unzufriedenheit nur schürten. Die
Folge war, daß jetzt die Polizei und die russischen Behörden sowie eine Anzahl
mißliebiger Gutsbesitzer verjagt, einzelne Beamte getötet wurden. Immerhin
kann von einer Revolution im politischen Sinne in Gurien gewiß nicht gesprochen
werden; es ist dem General Alichanoff, der am 6. März mit der Verwaltung
der Kreise Osurgeti und Ssenak des Gouvernements Kutais und des Amts
Kintrisch des Gebiets Batna mit den Rechten eines Generalgonverneurs betraut
worden ist, ziemlich leicht geworden, mit ein paar tausend Mann ohne ernstliches
Blutvergießen die staatliche Ordnung wiederherzustellen. Wenn nun aber auch
die Ruhe nicht nachhaltig gestört worden ist, so war doch an mancherlei An¬
zeichen eine gewisse Aufregung im Lande nicht zu verkennen, und unsre Fahrt
gewann dadurch für uns noch mehr an Interesse. Sie bot an sich schon sehr
viel neues: Reiter und Fußgänger in ihren bunten Trachten, zweirüdrige Last¬
karren mit massiven Rädern aus schweren Buchenholzscheiten primitivster Form,
Ochsen-, Esel- und auch Pferdegespanne mit urtümlicher Anschirrung, endlose
Maisfelder. Bewässerungskanäle und dichtes Gebüsch, zwischen dem halb und
ganz wilde Schweine durchbrachen und ebensowenig zivilisiertes Hornvieh weidete,
dann wieder, als wir uns dem Rion näherten, weite steinbesäte Flächen, die
das breite Tal als Ablagerung der von den Bergwässern mitgeführten Trümmer
erkennbar machten. Was an Wegen vorhanden war, erinnerte auch an Noahs
Zeiten und Hütte gefederte Wagen nicht zu verwenden erlaubt; aber es ging
häufig sogar über die Kraft der nicht verwöhnten Stiernacken, die acht ge-
schmierten Blockräder in den nur noch obenhin gefrornen Wagenspuren zum
Drehen zu bringen. Die Felder sind alle sorgfältig durch Flechtzäune, weiterhin
auch durch aufgeschichtete Steiuwülle voneinander geteilt. Größer^ Niederlassungen
sind selten, die Wohnungen ärmlich aussehende. aus Holz. Schilf. Maisstroh
und Strauchwerk ziemlich unansehnlich zusammengefügte fensterlose Hütten, in
denen die ganze Familie samt dem notwendigen Kleinvieh haust.
Mit der Annäherung an den Rion, dessen gewundne Ufer die Eisenbahn
öfters berührt, verändert die Kultur der Felder ihr Aussehen. Der Boden ist
außer mit Kieseln mit einer Erde bedeckt, die den Anbau des Weines er¬
möglicht. Auf den Feldern stehn Bäume, die durch armstarke Stränge von
Weinreben verbunden sind. Leider hat der Kukuruzbau den des Weines als
weniger gewinnbringend verdrängt und mit den Bäumen auch die sehr wohl¬
schmeckende und saftige Trauben bringenden Reben vernichtet. Vor Ssamtredi
wird der Rion überschritten, ein heftiges Gebirgswasser mit gelben Fluten, das
der Eindämmung bedarf, übrigens zur Kanalisation der Felder der Ebne mit
Vorteil verwandt wird. Wir nähern uns der Landschaft Jmeretien, die sich in
dem majestätischen Kamme des vor uns liegenden Großen Kaukasus verliert
und dort mit Mingrelien berührt. Zwischen der von der wärmenden Sonne
scharf bestrahlten und hell glänzenden Schneedecke des Hochgebirges und der
Niederung werden die schon schneefreien Vorberge mit den Weißen Häusern
ihrer zahlreichen Jmeretinzendörfer sichtbar. Jmeretien ist wesentlich besser an¬
gebaut als Gurien. Weingärten und -berge losen sich ab mit regelmäßigen
Obstpflanzungen und sorgfältig bearbeiteten, von Steinen befreiten eingezäunten
Feldern, die, wie in Oberitalien, mit Maulbeerbäumen reihenweise besetzt und
durch grüne Weinguirlanden berankt sind. Auch hier gibt es noch sumpfige
Strecken; aber man sieht die Kultur gleichsam vorwärts schreiten und zunächst
durch Ziehen von Abwässerungsgräben das bisherige Urland dem Anbau zu¬
führen. Besser gehaltne trockne Wege erleichtern die Bewirtschaftung und den
Verkehr. Auch das Vieh erscheint kräftiger, besser genährt; geräumige und
solidere Häuser in den Anwesen deuten auf größern Wohlstand und bilden
einen wirklich erfreulichen Gegensatz zu dem Verfall und der erbärmlichen
Wirtschaft in den unter türkischer Herrschaft stehenden Ländern in Kleinasien.
Und wenn auch diese Kultur die eines altchristlichen Volkes und weniger den
Russen zu verdanken ist, so erscheint doch Rußland als ihr Träger gegenüber
dem verkommnen Seldschukkentum in vorteilhafter Beleuchtung.
Freilich ist auch hier, wo die Dessjätine (1,1 Hektar) Boden schon 500,
600 und 1000 Rubel kostet, und wo man drei Viertel des Jahres über arbeiten
kann, viel zu bessern. Noch geht der urtümliche alte hölzerne Hakenpflug über
die Felder — recht bezeichnend für den gegenwärtigen Stand und bei dem
Reichtum des Ertrags für den Wert des Grund und Bodens, für die Frucht¬
barkeit der von den Bergen herabgeschwemmter fetten Lehmschicht, die die breite
ebne Talsohle bedeckt. Und noch liegen südlich vom Rion weite Steppenflächen
unbebaut und müssen von den darauf liegenden Steintrümmern befreit werden.
So wechselnd ist der Charakter des Tales des Rion und seines Nebenflusses,
der Quirila.
?d.osdlls Ins briglit. rÄ^s «Iiscis on ^.luvio^ to^vsrs ,,.
I?rorn üsr rsä IoÄ« Kör moutli viele vsoorn LIIs ...
Swift
istreß Anna läßt den Herrn Kapitän bitten, zu ihr zu kommen —
sofort,
Harry Percy war eben von einem längern Ritt heimgekehrt und
saß noch zu Pferde, als ihm der Bote draußen im Burghof ent¬
gegentrat.
Sofort? wiederholte er mißtrauisch, ironisch. Und nachdem er
einen Blick auf des Burschen runde Augen und seinen offnen Mund geworfen hatte:
Was zum Teufel auch ist denn da los?
Das wollte Mistreß Anna Euch lieber selbst sagen.
Harry beeilte sich nicht. Ehe er hineinging, untersuchte er das Tier, das
während der letzten halben Meile an dem einen Hinterbein gelähmt hatte, und
erteilte dem Stallknecht eingehende Instruktionen in bezug auf den Schaden. Dann
klopfte er mit der Hand ganz mechanisch den ärgsten Staub von Rock und Bein-
Neidern, während er sich — nachdenklich pfeifend — endlich in Mistreß Annas
Zimmer begab.
Es war ein klarer Junitag um Sonnenuntergang, von dem ein Brandschein
schräg durch die eine tiefe Fensternische fiel und das reiche, rotbraune Haar des
jungen Mädchens vergoldete, das auf dem Fensterbrett saß.
Lady Elizabeth! . . . Harry glaubte anfänglich seinen eignen Augen nicht.
Die alte Anna kam auf ihn zu. An den leicht in die Höhe gezognen grauen
Brauen, einem leisen Beben der hängenden Wangen und dem unsichern, gezwungnen
Lächeln konnte man sehen, wie ängstlich sie war.
Ja, weiß Gott, das ist eine nette Geschichte! rief sie aus.
Harry hörte sie kaum — er sah nur Lady Elizabeth an. Sie hatte sich er¬
hoben und stand mit niedergeschlagnen Augen da. Neben ihr auf dem Tische lagen
noch die Reitpeitsche und ein Paar gelbe, gestickte Handschuhe. Bei Annas Worten
erhob sie die Hand.
Anna, laß es mich Harry selbst sagen, flehte sie.
Harry wandte sich um und schloß sorgfältig die Tür hinter sich — ein wenig
ungeschickt. Es währte jedenfalls lange, ehe er wieder aufsah.
Es ist weiter nichts, sagte Lady Elizabeth schnell und trotzig, ehe er sich noch
umgewandt hatte, als daß ich Großmutter und Sir Thomas weggelaufen bin.
Die alte Anna wandte ihren entsetzten Blick nicht von Harry. Ohne es selbst
zu wissen, rang sie die Hände.
Mistreß Anna, sagte Harry Percy laugsam und wandte sich höflich nach ihr
um. Ich möchte gern eingehender mit Lady Elizabeth hierüber reden.
Anna begriff, daß sie ihrer Wege gehn sollte, aber sie zögerte noch, sah un¬
sicher von einem zum andern. Elizabeth beugte sich vor und flüsterte hastig und
flehend: Ach, geh ein wenig hinaus, herzliebe Anna —
Schon an der Stimme konnte Anna hören, wie nervös sie plötzlich geworden
war. Und sie war wahrhaftig sorglos und unbefangen genug gewesen, als sie vor
einer Stunde, den Hut auf dem einen Ohre, im Sonnenscheine vor die Tür ge¬
ritten kam.
Mistreß Anna ging zögernd hinaus. Lady Elizabeth richtete sich auf und zupfte
an der Schneppe ihrer Taille, ehe sie begann:
Ich weiß, daß es übereilt und „indiskret" ist, wie Muhme Essex zu sagen
pflegt. Und, Harry — du kannst mich ruhig ausschelten, aber steh doch um Jesu
Barmherzigkeit willen nicht so still da!
Aber weshalb? ... Er trat ein paar Schritte auf sie zu.
Weil sie ihr Wort nicht hielten, das Wort, das sie mir gegeben hatten.
Kaum waren wir von Bath nach Petworth gekommen (Lady Elizabeth hielt es für
überflüssig, von Königsmarks s,ssiänit6 in Bath zu erzählen, oder vielleicht vergaß
sie es auch), als Lady Northumberland Sir Thomas dahin kommen ließ — Base
Sophia war schon vorher da — und klar und offen den Wunsch äußerte, daß die
Hochzeit jetzt gleich stattfinden solle.
Henry Percy legte schnell seine Hand auf Lady Elizabeths Handgelenk. Sie
sah zu ihm auf und fuhr fort — plötzlich sicherer werdend: Aber ich habe ihnen
meine Meinung gesagt, darauf kannst du dich verlassen. Ein so niedriger Verrat,
eine so schändliche Überrumpelung, sagte ich, wäre mir noch nie vorgekommen. Und
ich sagte ihnen, sie irrten sich sehr in mir, wenn sie glaubten, daß ich mich auch
darein finden würde.
Sie hielt einen Augenblick inne und sah Harry triumphierend ins Gesicht, sah,
wie atemlos interessiert er war.
Und dann mußte Base Sophia bei mir im Zimmer schlafen, fuhr Lady Elizabeth
mit einem Ausdruck von Verachtung fort. Aber als sie schlief — sie schläft wie
ein Stein nach ihrem Abendtrunk —, da stand ich auf und holte mir Amelia.
Wir hatten vorher das Ganze mit einem von Großmutters Kavalieren verabredet
— das ganze Haus hielt es ja mit mir, wie du wohl begreifen kannst —, und
vor Tagesgrauen. . .
Sie küßte die Spitze ihres Zeigefingers und beschrieb damit einen Bogen in
ber Luft. Ich hatte ihnen ja gedroht, daß ich zu meiner Muhme Essex gehn
würde, und dort werden sie wohl nach mir suchen. Sie lachte sorglos.
Harry stand da und sah sie an. Langsam führte er ihr Handgelenk, das er
noch festhielt, an seine Lippen. Sie seufzte — erleichtert und zufrieden. Jetzt
war das überstanden!
Er hielt jetzt ihre beiden Hände in den seinen, und Lady Elizabeths Herz
stand einen Augenblick ganz still unter seinem Blick — er beugte sich tief über
sie hinab.
Weshalb kommst du zu mir. . .? fragte er mit einer Stimme, die fast von
Gemütsbewegung erstickt wurde.
Harry . . . Fast zum erstenmal in ihrem Leben machte sie einen schwachen
«ersuch, sich zu sträuben, als er sie an sich zog, und sein erster heißer Kuß traf
ihr Ohr.
Aber Harry . . .
Du kommst hierher... an einem Sommerabend — er wußte nicht mehr, was
er sagte — und glaubst, daß ich von Stein bin . . . Ich, der ich . . .
Dann hat er sich doch ein ganz klein wenig nach mir gesehnt, flüsterte sie —
nicht recht natürlich, denn sie war zu bewegt.
Ach. Elizabeth...
Ihr Anblick hatte ihn ganz überrumpelt. Ein paar Minuten lang war er
nicht mehr Herr seiner selbst, die anspruchsvolle Lady Elizabeth fand, daß sie jetzt
endlich erfuhr, was es heißt, geküßt und umarmt zu werden.
Harry, aber Harry . . .
Er stand dicht neben der Truhe, den Rücken dagegen gelehnt, ganz bleich,
W Mistreß Anna unsicher eintrat. Lady Elizabeth aber war ebenso glühend rot
wie der Abendhimmel im Hintergrunde, und sie lachte.
Da ist Lammbraten und ein Pie aus roten Möhren draußen im Eichenvorzimmer
erviert, Lady Elizabeth, und . . . welch ein Glück, daß meine französischen Arti-
Aocken diesem Jahre gediehen sind! . . . Mylady hat seit heute früh keinen
^Mer zu sich genommen, sagte Amelia. . .
Die alte Anna konnte gar nicht versteh», warum Elizabeth Percy, die eben,
ais sie hereinkam, noch so lächelnd und fröhlich gewesen war, sich ihr plötzlich um
°en Hals warf — fast schluchzend.
Ach Gott, Anna! — Ach, wie wunderschön ist es, wieder daheim zu sein,
^heim auf Alnwick. . .
Als sie aber erst mit den andern in die Halle hinausgekommen war, hinderte
hre Bewegung sie nicht, mit gierigen Appetit ihren Lammbraten und ihren Pie aus
^oder Möhren zu verzehren und sich unsagbar auf den Erdbeerkuchen zu freuen,
°en die alte Anna in Aussicht gestellt hatte. Den Kapitän hingegen mußte Mistreß
<urna geradezu nötigen, um ihn zu bewegen, nur etwas zu genießen.
Das „Eichenvorzimmer" feto OaK-I'arlonr) war ein Raum vor der Stube der
Mer Anna, von dem die breite Wendeltreppe nach dem zweiten Stockwerk hinauf¬
führte. Es war groß und niedrig, mit Paneelen und Fußböden aus dunkelm,
polierten Eichenholz? an den Wänden liefen feste Bänke von derselben Holzart
entlang, die unter den tiefen Fenstern eingeklemmt waren. Es lag gegen Westen,
und wenn — wie eben jetzt — die letzten Strahlen der Abendsonne durch die
b eigefaßten Fensterscheiben schienen und in alle Ecken und Winkel hinein, auf die
blankpolierten Kandelaber aus Erz, auf den hohen Schrank und die steifen kleinen
Prosen und den blauen Rittersporn in dem silbernen Krug auf dem Tische trafen,
land Lady Elizabeth. daß es eins der freundlichsten und traulichsten Zimmer in
ihrem ganzen großen, verfallnen Hause war. In dem breiten, dunkeln Kamin,,
über dem ein Van Dyck-ähnliches Porträt von Henry Percy auf Alnwick,.
Harrys Vater, thronte, der während der kurzen Zeit, die er hier wohnte, diese
Zimmer eingerichtet und bewohnt hatte, brannte jetzt — trotz der Juniwärme —
co mächtiges, frisch angezündetes Feuer, das, als die Sonne endlich verschwand?.
°'el dazu beitrug, die Gemütlichkeit zu erhöhen.
Lady Elizabeth war so munter wie eine Lerche. Sie zwang ausgelassen die
alte Anna, sich neben sie selbst in den Lehnstuhl zu setzen, und sie neckte während
der ganzen Zeit rücksichtslos die Zofe Amelia und foppte sie ausgelassen mit Lady
^orthumberlands Gentleman, der sich aus e^ra für das ebenerwähnte junge
Mädchen hatte verleiten lassen, ein der „Flucht aus Ägypten" teilzunehmen, wie
Lady Elizabeth jetzt ihre Entweichung aus Petworth zu nennen beliebte.
Mit Harry Percy sprach sie nicht, sah kaum nach der Seite, wo er saß. Aber
er wußte natürlich, daß, wenn er nicht mit bei Tische gesessen hätte, sie lange nicht
so übermütig oder so fröhlich gewesen wäre.
Amelia fing indessen an, sich ein wenig gekränkt zu fühlen durch die un¬
barmherzigen und leicht zu durchschauenden Andeutungen ihrer Dame, namentlich
da sie während der ganzen Zeit das errötende Gesicht ihres Bewunderers gerade
gegenüber hatte. Und da sie ein sehr resolutes junges Mädchen war, fing sie bald
an, die Neckereien zu erwidern und sich über den schwedischen Grafen in Bath zu
äußern.
Anfänglich sagte Elizabeth lachend: dies habe nichts zu sagen, und das habe
nichts zu sagen — sie sollten nur nicht glauben, was Amelia sagte — was sie
alles aus einer Geschichte machen könne.
Amelia wollte nur in aller Untertänigkeit fragen, ob Mylcidy noch das fran¬
zösische Sonett aufbewahre, das um das Smaragdarmband gewickelt gewesen sei,
das Graf Königsmark an dem Abend, ehe sie aus Bath abgereist waren, zum
Fenster hineingeworfen hatte. . .
Nein! rief Lady Elizabeth und lachte aus vollem Halse, aber sie sah verstohlen
nach dem Platze hinüber, wo Henry Percy schweigend und mit gesenkten Augen saß
und einen silbernen Löffel drehte und wandte.
Nun, Amelia habe doch neulich das Papier in Myladys Schmuckschrein ge¬
sehen . . .
Natürlich habe sie es aufbewahrt, schlug Lady Elizabeth keck um. So
schöne Gedichte erhalte man nicht jeden Tag, die dürfe man nicht auf den Mist¬
haufen werfen.
Nein, räumte Amelia ein, das Gedicht sei schön und rührend zugleich, das
sei sicher und gewiß. Aber ob Kapitän Percy und Mistreß Anna, die ja so fertig
Französisch könne, wohl fänden, daß es eigentlich angehe, ^ins as mon ovour auf
ÜÄmms aräouts ä'amour zu reimen, das bezweifle Amelia sehr.
Schweig jetzt still mit deinen Dummheiten! rief Lady Elizabeth plötzlich un¬
geduldig befehlend aus. Sie hatte das halb bittere, halb verächtliche Lächeln ge¬
sehen, mit dem sich Harry, als Amelia ihm die Sache anheimgab, nach ihr umwandte.
Lady Elizabeth hatte sich plötzlich in ihre ganze souveräne Würde drapiert:
Baroneß Percy, Paynings, Fitz-Payne usw. Deutlicher als Worte sagte jetzt ihre
ganze Haltung, daß sogar, wenn sie sich einen verletzenden Scherz erlaubte, natürlich
niemand von ihren Untergebnen das Recht habe, in demselben Ton zu antworten
oder zu versuchen, sie mit gleicher Münze zu bezahlen.
Der letzte Teil der Mahlzeit verlief in ziemlich gedrückter Stimmung. Als
man von Tische aufgestanden war, fragte Kapitän Percy ehrerbietig, ob er sich
Myladys fernere Befehle in bezug auf die Reise ausbitten dürfe.
In bezug auf die Reise? wiederholte Lady Elizabeth fragend und unsicher,
und sie war gar nicht mehr so würdevoll und unnahbar, wie sie eben noch ge¬
wesen war.
Ja. Oder war es etwa Myladys Absicht, einige Zeit auf Alnwick zu ver¬
weilen? In dem Falle würde er sich erlauben, Lady Northumberlcmo sofort davon
in Kenntnis zu setzen.
Harry . . . murmelte Lady Elizabeth kläglich und streckte ihre Hand halb
nach ihm aus; als sie aber seinem Blick begegnete, zog sie sie sofort wieder zurück.
Die in Ungnade gefallne Amalia und ihr ergebner Kavalier hatten es für
ratsam gefunden, das Zimmer schleunigst zu verlassen. Die alte Anna stand vor
der geöffneten Schranktür und band mit niedergeschlagnen Augen Schweinsblasen
über den Rest der kandierten französischen Birnen, mit denen sie die Gesellschaft
traktiert hatte. Sie war plötzlich so nervös geworden, daß ihr förmlich die Hände
zitterten. Weder Henry Percy noch Lady Elizabeth schienen sich zu erinnern, daß
sie noch im Zimmer anwesend war. ,^
^
Ja, rief er unwillig aus. Wundert es dich, daß ich mich nicht aufhalten
will, wo du bist? , . , .
^
Ich bin zu dir gekommen . . . sagte Lady Elizabeth leise. Sie war ganz
blaß geworden. .
,^
Ich habe es so aufgefaßt und . . . Er hielt inne und atmete tief ause Em
paar Sekunden schwiegen beide. Lady Elizabeth führte die Spitze ihres Nagels
auf einer Tafel des Paneels auf und nieder.
Du bist hierhergekommen — zu mir. Er beugte sich über der Stuhllehne
Mischen ihnen vor. und sie zog sich unwillkürlich einen Schritt zurück — die Ohren
vollgepfropft von den Liebeserklärungen und Gedichten und Sonetten und Teufels¬
kram dieses verdammten schwedischen Grafen. Du nimmst Geschenke von ihm an~- Smaragde! — er hob das Wort ironisch hervor; es klang beinahe, als speie
er es aus —, von ihm und von jedem Beliebiger, vermute ich. springst durchdas Fenster auf einem deiner eignen Schlösser, treibst dich acht Tage und Nachte
auf der Landstraße herum und glaubst... Er ließ den schweren eichneu Stuhl,
der zwischen ihnen stand, los und schleuderte ihn durch das Zimmer, sodaß er
förmlich tanzte, ehe er endlich umfiel.
„.^Du hast Recht, sagte Lady Elizabeth - jetzt war auch sie empört und ernstlich
^rnig. Ich hätte nicht hierherkommen sollen. Ich hatte lieber mit Graf Konigs-
wark nach Holland oder Frankreich oder seinem eignen Lande ziehn sollen — gleich¬
viel wohin —, als er mich darum bat.
^,<^
Hat er dich darum gebeten? fragte Harry mit beißender Verwunderung und
verächtlicher Betonung, als traue er seineu eignen Ohren nicht.
Ja. antwortete Lady Elizabeth rücksichtslos und begegnete seinem Blick, ohne
mit den Wimpern zu zucken. Er hat mich darum angefleht, wenn du es doch wissen
willst. Auf den Knien.
Henry Percy antwortete ihr nur mit einem groben Fluch.
Hätte ich es doch getan! sagte Lady Elizabeth haßerfüllt.
Ehe das geschieht — er stand ihr gegenüber wie eine Mauer-. werfe ich
dich in den Turm von Alnwick. Und sollte es mir den Kopf kosten - ich tue es.
Dann lässest du es wohl hübsch bleiben, morgen nach Petwor h zureiten und
ZU Pelzen, höhnte sie übermütig. Aber ihre Lippen bebten, und sie mußte in sie
hineinbeißen, um nicht in Tränen auszubrechen.
Wohl wußte ich. daß du eine leichtsinnige Dirne wärest, sagte Henry Pere
gedämpft - die den Gedanken eines redlichen Mannes nicht wert ist; aber daß
du obendrein so wenig Ehrfurcht vor deinem Namen und deiner
d°ß du dich nicht für zu gut hieltest, geradezu mit einem ausländischen Abenteurer
ZU intrigieren - das habe ich denn doch nicht glaubt.
Lady Elizabeth konnte sich nicht länger zügeln Sie flog auf ihn zu wie eine
wilde Katze und schlug ihn mit der flachen Hand ins Ge steht
^Mistreß Anna, die noch mäuschenstill hinter der Schranktür stand, ließ eine
ihrer kostbaren Einmachekruken fallen.
Herr Jesus! schrie sie außer sich vor Entsetzen.
Lady Elizabeth brach in Trauer aus, die Hände vor dem Gesicht.
Henry Percys eine Wange war feuerrot von der kräftigen Ohrfeige, als er
sich jetzt aber an Mistreß Anna wandte, war seine Haltung würdiger denn je.
Mistreß Anna, sagte er laut, leider ist triftiger Grund vorhanden zu der
Annahme, daß Lady Ogle nicht ganz zurechnungsfähig ist, sodaß sie nicht weiß, was
sie in diesem Augenblick tut oder sagt. Ich überlasse sie bis auf weiteres Euch
und Mistreß Amelia.
Dann verneigte er sich und ging.
Der selige Jarl Algernon selber, sagte die alte Anna, als sie das Ganze später
dem Haushofmeister erzählte, hätte nicht stattlicher aussehen können.
Lady Elizabeth schluchzte, wiegte sich hin und her, ganz außer sich: Anna!...
Ach, Anna! . . .
Mein Lamm . . . Herz meines Herzens . . . Sie zog sie auf das Fensterbrett
nieder, liebkoste sie, redete ihr zu, als sei sie noch ein fünfjähriges Kind. So so,
mein liebes Schätzchen — jetzt ist er ja weg . . .
Anna, kann ich mir das gefallen lassen? Lady Elizabeth nahm die Hände
von ihrem dunkelroten Gesicht fort und sah Mistreß Anna mit ein Paar brennenden
Augen an.
Nein, mein Kind . . . nein . . . Laß uns jetzt nur nicht daran denken . . .
Und ich, sagte Lady Elizabeth — ich, die ich . . . Sie fing an zu weinen.
Er ist zu weit gegangen — das ist sicher und wahrhaftig ... So so — jetzt
müssen wir sehen, daß wir uns trösten, Mylady. Soll ich uns ein wenig Orangen-
blütenwasser holen? . . . Sie stand auf. Das tut so gut. . .
Lady Elizabeth trocknete die Augen in der gestickten seidnen Schürze der alten
Anna. Sie sah auf unter den geschwollnen Lidern, um die Nase ganz rot vom
Weinen, und sagte, noch mit Schluchzen in der Stimme: War es zu sehen?
Was, mein Kind?
Daß ich ihn geschlagen hatte. . .
Ja, ich sah ganz deutlich die Spuren von allen fünf Fingern . . .
Gott sei Dank! sagte Lady Elizabeth. —
Den ganzen folgenden Tag begegnete Lady Elizabeth Kapitän Percy nicht.
Sie hielt sich fast ausschließlich im Eichenvorzimmer oder in Annas Stube auf und
hatte sich wieder mit Amelia ausgesöhnt. Gegen Abend saß sie mit ihrer Laute
in Jarl Henry „des Prachtliebenden" Rosengarten. Harry hörte ihr Lachen und
sah einen Schimmer ihres roten Haares, als er an der Hecke vorüberritt.
Am nächsten Tage — Vormittags — näherte er sich zögernd vom Schloßhof
aus Mistreß Annas Zimmer und klopfte an die Fensterscheibe. Sie öffnete das
Fenster und neigte sich zwischen den Blumen heraus. Kommt herein! sagte sie
sofort ernsthaft und mit gedämpfter Stimme.
Er wagte nicht, Einwendungen zu erheben. Der Ausdruck in dem Gesicht
der Alten war feierlich vorwurfsvoll und ängstlich gewesen.
Drinnen im Zimmer saß Mistreß Anna in ihrem Lehnstuhl am Fenster und
strickte nervös. Er sah sich um.
Wo ist Lady Elizabeth? fragte er schnell, obwohl es eigentlich gar nicht seine
Absicht gewesen war, so schnell von ihr zu beginnen.
Mistreß Anna rciusperte sich, sie legte beide Hände auf die Lehnen des Stuhls und
sammelte ihre Kräfte: Mylady ist heute Morgen vor Tagesanbruch davongeritten.
Das ist nicht wahr! rief er aus.
Ja, nickte Mistreß Anna halb triumphierend. Schon gestern erteilte sie den
Befehl, die Pferde bereitzuhalten . ..
Mir wurde gesagt, sie wolle einen Ritt durch den Park machen...
Es war von Anfang an — seit vorgestern Abend — ihre Absicht, von hier
wegzugehn. Sie sagte es mir, ehe sie reiste, bat mich aber, oder vielmehr befahl
mir, Euch kein Wort davon zu sagen. . .
Harry stemmte einen Augenblick die Hand in die Seite.
Wohin ist sie denn geritten? fragte er kurz. .
5«^Das konnte ich anfänglich nicht ans ihr herausbringen. Aber schließlich mit
Bitten und Quälen, brachte ich sie dazu, es mir zu sagen Doch - fügte sie
Zögernd hinzu — freilich nur unter der Bedingung, daß ich es Monsieur nicht
verraten wolle... . ->-
.<^<Sagt es mir! entgegnete Harry ganz einfach. Er stand ihr drohend gegenüber,
und ohne es selbst zu wissen, hatte er seine Hand schwer auf ihre Schulter gelegt.
Ich habe es heilig und teuer versprochen...
.^Sagt es mir. Und sollte ich das ganze Land absuchen, ich muß sie sinden.
Um Gottes willen. Mistreß Anna — vergeudet keine Zeit!
Mylndy — sie zog jedes Wort in die Länge, während sie sprach und ihm
ängstlich ins Gesicht sah —, Mylady sprach sehr vernünftig mit mir und sagte, sie
habe sich die Sache überlegt...
...Wohin ist sie geritten? Sagt mir nur das eine. Zurück nach Petworth/
Nein, Er erbleichte so jäh. daß Anna sich beeilte, hinzuzufügen: Sie sagte,
s'e Wolle sich an Sir William und Lady Temple wenden und sie bitten, mit der
alten Gräfin in reden
Gott sei Lob und Dank! Henry Percy hob beide Hände zu seiner Stirn
empor. Gott sei Lob und Dank! ...
.^...in^Und dann ließ sie sich bewegen, den alten John und den schwarzen Neddy
mitzunehmen. Sie hatte nicht mehr Gepäck bei sich, als was sie n den Sattel¬
taschen haben konnte, die arme Kleine. Daß ich es mit ansehen mußte, daß Mylady
Alnwick auf die Weise verließ! . . -
Harry stand schon da, die Hand auf der Türklinke.
,^^
^ Ich reite ihr nach, sagte er schnell. Nein, fürchtet nichts - er erhob die
Hand, mis er ihr erschrocknes Gesicht sah und ihre Einwendungen ahnte — lie
oll niemals erfahren, wenigstens nicht von mir. daß Ihr etwas gesagt habt. S-le
s°it mich nicht einmal zu sehen bekommen. Aber ich muß sie einholen, um Gewißheit
Zu haben, daß sie wirklich zu Sir William reitet. . .
^ Seine Majestät der König hatte im September die Dragonerabteilung, zu der
Kapitän Percy gehörte, von Berwick nach London gerufen; bei Hofe hegte man
augenblicklich nämlich viel mehr Furcht vor den Exklustouisten oder „Whigs - einem
Spottnamen mit dem man seit kurzem angefangen hatte, die Gegner der Regierung
M nennen — als vor den schottischen Landstreichern und Viehraubern an der
Grenze
, Lady Elizabeth. die jetzt von ihrem Besuch bei Sir William und Lady ^he zugekehrt war. lsielt sich im Hause der alten Gräfin in °er S, James Stree
?uf- Das große Northumberland House bei Charmg Cr°ß Md w
leer. Dem bestimmten Wunsch der Braut zufolge. den sie bei Zre^ausdrücklich be ont hatte, sollte die Hochzeit erst nach Weihnachten ge ele^Denn sowohl der sehr ehrfurchtgebietende Sir William wie alle Verwandten mit
Lady Esser an der solle hatten Partei für die unge Dame genommen, und da
wußre d^G^ und auf alle Bedingungen eingehn.
Lady Northumberland war natürlich gekränkt und ganz empört über das rebellische
Benehmen ihrer Enkelin, aber doch fast noch erbitterter auf Sir Thomas und Lady
Sophia, die aus Angst, daß die eigensinnige Erbin zugunsten von Graf Königsmark
oder eines andern beaus im letzten Augenblick ihr Versprechen zurücknehmen könne,
sie beredet hatten, mit List und Brutalität die Hochzeit zu beschleunigen. Wie auch
die alte Gräfin, als man entdeckte, daß der Vogel ausgeflogen war, ihren Mit¬
schuldigen Vorwürfe machte: sie habe, weiß Gott, nicht den geringsten Nutzen
davon, daß Lady Elizabeth nachgab, und doch würde man ihr natürlich alles in
die Schuhe schieben. Und die Gräfin sollte Recht bekommen: die Welt tadelte
sie hart, und als endlich der stattliche Sir William nach Petworth kam, um in
Elizabeths Namen der Gegenpartei die Kapitulationsbedingungen zu unterbreiten,
da war die hohe Dame ausnahmsweise einmal ganz weich und fügsam. Ehe er
kam, hatte sie beinahe Fieber vor Angst gehabt, denn als man Lady Elizabeth nicht
in Cashiobury Park bei Lady Essex faud, glaubten sie wie auch Lady Sophia im
ersten Augenblick ganz bestimmt, daß Königsmark seine „Rubia" entführt habe.
Trotz ihrer cynischen Weltlichkeit und ihrer kriechenden Ehrfurcht vor dem Gelde
liebte nämlich die alte Gräfin ihre Enkelin über alles in der Welt und glaubte
ganz ehrlich, in ihrem Interesse zu handeln, wenn sie die Ehe mit Thynne mit aller
Macht durchzusetzen bestrebt war. Und sie wurde nicht müde zu betonen: Welche
Freude und welchen Nutzen habe sie, die alte Frau, eigentlich von der ganzen
Sache? War es nicht einzig und allein um Bessies willen — nein, weiß Gott,
nichts würde sie sonst bewegen, ihre Blumenanlagen auf Petworth zu verlassen ...
Daß Lady Elizabeth auf Alnwick gewesen war, ehe sie zu Temples ritt, erfuhr
weder die alte Gräfin noch sonst jemand. Sie selbst schwieg darüber und bedrohte
und bestach alle, die um die Sache wußten, dasselbe zu tun. Für die arme Amelia
war es auch nicht einmal ratsam, ihre Herrin jemals an diesen Besuch zu erinnern.
Und hätte es sie das Leben gekostet, sie würde nicht gewagt haben, auch nur an¬
zudeuten, daß sie am Tage nach ihrer Ankunft in Sheen Kapitän Percy gesehen
und mit ihm geredet habe — übrigens hatte er es ihr selber auf das strengste
verboten, etwas darüber vertonten zu lassen —, der, nachdem er sich mit eignen
Augen überzeugt hatte, daß sich Lady Elizabeth wirklich unter Lady Temples freund¬
lichem Schutz befand, augenblicklich wieder nach Alnwick zurückgekehrt war.
Mitte September traf also der Befehl des Königs ein, daß sich die Dragoner
in Berwick — einbegriffen alle sich auf Urlaub befindenden Offiziere — unweigerlich
nach London begeben sollten, und Henry Percy schloß sich seinem Regiment an.
Aber er verließ Alnwick mit dem festen, unerschütterlichen Entschluß, daß er, solange
er noch im vollen Gebrauch seiner Sinne sei — jetzt, wo sie sich in derselben Stadt
aufhalten würden —, Lady Elizabeth niemals aufsuchen oder auch nur einen Finger
rühren wolle, um sie zu sehen. Den ganzen Sommer hatte er sich nun mit dem
Gedanken an sie gequält und sich Vorwürfe gemacht über die verzweifelte Art und
Weise, auf die sie damals, als sie sich in ihrer Not so vertrauensvoll zuerst an
ihn gewandt hatte, auseinandergegangen waren. Aber dies hinderte ihn doch
nicht, daß er im nächsten Augenblick, eifersüchtig und selbstgerecht, wieder alle Schuld
an dem Zwist auf sie und auf ihren unverzeihlicher, gedankenlosen Leichtsinn wälzte.
Oft machte er sich Vorwürfe, daß er nicht beständig an ihrer Seite geblieben war
und mit oder gegen ihren Willen versucht hatte, sie gegen die Gefahren zu be¬
schützen, die bei jedem Schritt auf sie zu lauern schienen. Jeden Tag und jede
Stunde lebte er in der Angst, sie für immer verloren zu haben; daß sie entweder
den Kampf aufgegeben und in die Ehe mit Sir Thomas eingewilligt hätte, oder
was noch schlimmer war, sich von Graf Königsmark zu dem verzweifelten und
abenteuerlichen Schritt, ins Ausland zu fliehen, hätte überreden lassen. Die Sehn¬
sucht nach ihr, nach ihrer bloßen Nähe machte ihn zuweilen so schwach, daß er
Wh selber sagte, er sei jetzt bereit, jegliche Erniedrigung zu dulden, wenn sie ihn
»ur wieder eines sanften Blickes würdigen wolle; und doch wußte er während der
ganzen Zeit, daß er unter denselben Umständen wie die, unter denen sie zuletzt
miteinander gesprochen hatten, wieder genau ebenso handeln würde. Konnte sie
^7 obwohl sie ihn so lieb hatte — ihre Natur nicht verändern, so konnte er, wie
Heiden schaftlich verliebt er auch war, die seine nicht ändern. Es war besser, das
Feuer in seinem Innern wüten zu lassen, bis es verzehrt hatte, was zu verzehren
war, als daß sein Weg den ihren wieder kreuzte! — Sie, die — er mochte ihr
Verhältnis zueinander drehn und wenden, wie er wollte — doch immer gleich
rettungslos von ihm getrennt war.
Der ganze lange, heiße Sommer war geradezu unerträglich gewesen — und
die Leute, die unter Kapitän Percy dienten oder mit ihm zu tun hatten, waren
wenn sie sich darüber hätten äußern sollen — auch nicht auf Rosen gebettet
gewesen! — bis in den August hinein —, und da wurde das Ganze plötzlich noch
unerträglicher. Denn da geschah es, daß ein Brief von Lady Elizabeth an die
^ te Anna kam, den zu lesen sich Harry — nachdem er mehreremale der Ver¬
suchung widerstanden hatte — schließlich das Recht erzwang, und den er dann
ohne weiteres behielt.
Der Brief, der uicht einmal auf den unglückseligen Besuch in Alnwick hin¬
deutete, war mit Lady Elizabeths eigner schöner, langgestreckter Handschrift ge¬
trieben und lautete also:
Wir sind jetzt in London, und es ist erstaunlich zu sehen, wie viele hohe
«tacitspersonen sich dazu bequemen, mir und Lady Northumberland ihre Auf¬
wartung zu machen. Ich habe meinen eignen Spieltisch hier, ganz wie in Bath.
Seine Majestät sehe ich oft. Sonntag war Assemblee bei meiner Vase, Lady
'"etty, und das war sehr amüsant. Nach dem Souper machte der K (orig) Jagd
"uf mich rund um den Tisch herum, und als er mich eingefangen hatte, kitzelte er
wich unter den Armen, bis ich schrie. Er ist immer sehr zuvorkommend gegen
wich und hat mir erlaubt, ihn Ziancl-xsis zu nennen.
Aber ich lache über Seine Majestät. Und ich werde nicht böse, wenn er mich
amie neckt, daß ich meines Oheims Essex wa-uvais saug' tronäsur geerbt habe. Er
meint nicht Lady Bessys Gemahl, der einem eingeschrumpten Apfel gleicht, sondern
°e>>, der ein Devereux war. Er sagt auch, ich hätte Ähnlichkeit mit den Wriothesleys.
^we echte Percy, sagt er, wäre viel ernsthafter und hätte ein viel längeres Ge-
>'ehe. Ich dachte, S. M. sollte nur meinen Vetter Harry sehen.
(Und nachdem sie sich nun endlich — auf diesem langen Umwege — dazu
bequemt hatte, Harrys Namen zu nennen, handelte der Brief wahrlich von nichts
weiter als von ihm.)—
Warum schreibst du mir nichts von Harry? steht da mit unverhohlener Unge¬
duld. Was mache ich mir aus einem Gruß, den er mir niemals gesandt hat?
>5es will wissen, ob er noch ebenso grimmig aussieht, ob er oft nach Newcastle
oder Berwick reitet, und ob er des Abends zuhause bleibt. Ich will wissen, wie
er aussieht, und ob er sich herabläßt, mit den gestickten Handschuhen zu gehn, die
t ihm im Mai schickte, ehe . . . (hier folgte eine energische Durchstreichung mit
vielen Tintenklecksen) und worüber ihr beide sprecht, wenn er zu dir auf dein
Zimmer kommt. Ich bin dumm, schilt mich, weil ich dumm bin. aber antworte
mir. Und wenn du nichts zu antworten hast, so denke dir etwas aus. Nein,
tue das nicht. Schreibe nur, was wahr ist.
Den schönen schwedischen Grafen sehe ich oft. Sage Harry das. Niemand
kann mir genau sagen, wieviele Meilen es von London nach Alnwick sind, obgleich
ich viele danach gefragt habe.
Amelici sind zwei Backenzähne ausgezogen worden. Sie sagt, es hätte grimmig
weh getan, und ich habe ihr selbst den Kopf gehalten.
Hier ist eine Locke von meinem Haar, liebe Mistreß Anna. Zeige Harry,
wie dunkel das Haar seit dem Sommer geworden ist.
Die alte Anna wußte Wohl, für wen die kleine, braunrote Haarlocke bestimmt
war, aber als sie ihr zum erstenmal abgefordert wurde, hielt sie doch tapfer stand,
sprach von dem ersten Gebot und von tus Learlst vous-n und von einem Götzen¬
dienst, der schlimmer sein könne als der der Papisten. Aber noch am Nachmittag
desselben Tages ruhte, dessen ungeachtet, die umstrittne Reliquie auf Henry Percys
Herzen. Aber als sie schrieb, erzählte Mistreß Anna Lady Elizabeth nichts weiter
von Monsieur Harry, als daß er gesund aussähe und — dem Herrn sei Lob und
Dank! — einen gehörigen Appetit habe. Aber seit dieser Zeit hatte Lady Eliza¬
beth nicht wieder geschrieben.
(Fortsetzung folgt)
Die Situation auf der Balkanhalbtnsel hat in der letzten Zeit ein ernsteres
Aussehen sowohl durch den bulgarisch-türkischen Gegensatz als durch die griechen¬
feindlichen Ausschreitungen der bulgarischen Bevölkerung erhalten. In beiden Fällen
ist es Bulgarien, das die Befürchtung erweckt, der bekannten Bismarckischen Warnung
ungeachtet „das Streichholz" sein zu wollen, das die so leicht entzündbaren Balkan¬
fragen in Brand setzt. Man braucht dabei die Reibereien der Gebirgsbevölkerung
nicht zu überschätzen. Oft liegen ihnen Räubereien einer Menschenklasse zugrunde,
die überhaupt keinen Herrn anerkennen und sich keinem Gesetz unterordnen will.
Bismarck hat im Jahre 1882 diese Gebirgsbevölkerungen dahin charakterisiert, daß
sie von jeher die Neigung hätten, sich gegen die bei ihnen herrschende Regierung
zu insurgieren, „weil sie eine staatliche Ordnung wegen der Hindernisse, die sie dem
Räuberleben bereitet, überhaupt nicht lieben". Die bulgarisch-türkischen Grenzkonflikte
der neuern Zeit haben jedoch ein ernsteres Aussehen dadurch erhalten, daß reguläres
bulgarisches Militär gegen türkische Truppen kämpft, und daß die bulgarische Re¬
gierung diesen Ausschreitungen durch Anhäufung von Truppen an der Grenze „zu
Manöverzwecken" einen eigentümlichen Hintergrund gibt. Der Umstand, daß Bulgarien
nächst Rumänien dort die stärkste und am besten organisierte Armee unterhält, fällt
dabei ebenso in das Gewicht wie die besondre staatsrechtliche Stellung des Fürsten
dem Sultan gegenüber. Nach dem Berliner Vertrage ist der Sultan der Suzerän
des Fürsten von Bulgarien, der der Anerkennung und der Bestätigung des Sultans
bedarf. Für Ostrumelien dagegen gilt er der Hohen Pforte einfach als „Vali",
d- h. als Gouverneur, und es verlautet, daß die Pforte ihr Befremden über die
Haltung des „Vali von Ostrumelien" einzelnen Mächten gegenüber mit dem Be¬
merken zum Ausdruck gebracht habe, daß die bulgarischen Truppenanhäufungen zu
Gegenmaßregeln auf türkischer Seite führen müßten, was denn auch geschehen ist.
Die vom Berliner Kongreß bezüglich Bulgariens geschaffne Ordnung ist sür
die Verhältnisse, wie sie damals auf der Balkanhalbinsel bestanden, und in Berück¬
sichtigung des russisch-türkischen Friedensvertrages von San Stefano, ein gewissen¬
hafter Ausdruck der Situation gewesen, aber im Laufe der Jahre hat doch manche
einschneidende Veränderung der damals beschlossenen Ordnung stattgefunden, und
zwar meist in der Weise, daß die Pforte schließlich gute Miene zum bösen Spiel
gemacht hat. Der türkisch-bulgarische Gegensatz hat zu seinem innersten Kern die
Absicht der Bulgaren, sich für unabhängig von der türkischen Oberherrschaft zu
erklären, und den damit verbundnen Ehrgeiz des Fürsten Ferdinand, sich die Königs¬
krone auf das Haupt zu setzen. Man dürfte nun wohl sagen, so gut wie Rumänien
und Serbien, namentlich Serbien, könne auch Bulgarien sehr wohl Königreich sein,
das an Gebietsumfang das Doppelte, an Bevölkerung nahezu das Doppelte von
Serbien aufweist, auch ließe sich die Theorie aufstellen, daß ein befriedigtes Bulgarien
größere Garantien des Friedens und der Ordnung bieten würde als ein unbefriedigtes.
Aber gerade hierin liegen die Schwierigkeiten. Ein souveränes Königreich Bulgarien
Würde noch weit mehr versuchen, eine Vergrößerungspolitik zu treiben, als das heutige
suzeräne Fürstentum. Das heutige Bulgarien hat Verpflichtungen gegen die Mächte
denen es nächst den russischen Waffen seine autonome Existenz verdankt, es steht
gewissermaßen als Kind des Berliner Kongresses noch unter europäischer Vormund¬
schaft. Ein souveränes Königreich Bulgarien wäre auf sich selbst gestellt und damit
w der Lage, sich den Instinkten seines Ehrgeizes zu überlassen, dessen nächstes Ziel
Adrianopel und unvermeidlich Mazedonien wäre. Allerdings wird auch diese nuppe
nicht so heiß gegessen, als sie gekocht wird. Der Türkei eiuen Existenzkampf an-
bieten, das konnte wohl einst Rußland wagen, für Bulgarien wäre es doch immerhin
ein riskiertes Unternehmen. Auch würde dazu zu allererst ein König von aus¬
gesprochen kriegerischen und soldatischen Neigungen gehören. Die hat Fürst Ferdinand
bekanntlich ganz und gar nicht, er ist so wenig Soldat und noch weniger Feldherr
wie alle Koburger, er persönlich wird deshalb mit Recht Bedenken tragen, das
mühsam Gewonnene in einem Existenzkampf auf das Spiel zu setzen, für seine Re¬
gierung und sein Volk kann er freilich nicht einstehen.
Die früher den bulgarischen Ambitionen wenig günstige Stimmung in Europa
hat sich neuerdings doch geändert. Fürst Ferdinand hat sich nicht nur der Sympathien
Englands versichert - sein häufiges Zusammensein in Marienbad mit dem König
Eduard ist in dieser Hinsicht nicht ohne Bedeutung sondern er steht sich auch
mit Frankreich besser, hat es verstanden, sich mit Osterreich auf einen andern Fuß
^ bringen, und auch in Berlin scheint die Beurteilung Bulgariens und seiner
Fürstenherrlichkeit nicht mehr der strengen Auffassung zu unterliegen die Kaiser
Wilhelm der Erste im Jahre 1884 bei der damaligen heimlichen Verlobung seiner
Enkelin mit dem Battenberger zur Geltung brachte und die auch der letz.ge Kä ser
lange Zeit festgehalten hat. Vorübergehende Verstimmungen in t Rußland sind
wieder beglicht Somit wäre die Haltung er Hofe und der Kabwet e n chem^ d
den bulgarischen Wünschen zurzeit gar nicht so ungünstig. Aber deren ^ze-
friedigung w?r aller Voraussicht nach die Lage in Mazedonien u^schweren, und die Türkei, die dem jungen Königreich in aller F°rin Ost ^Morgengabe bringen müßte, würde gegen die abermalig^Alter Vertrags doch wohl nicht ganz gleichgiltig sein. Für den Augenblick läßt
sich allerdings sagen, daß die Unruhen auf dem Balkan in der Regel nur so lange
anzudauern pflegen, als bis im Oktober auf dem Balkan der erste Schnee fällt.
Aber in sechs Monaten ist das Frühjahr wieder da, das Europa in dieselbe Lage
versetzen würde. Auch läßt sich nicht verkennen, daß der bevorstehende Besuch
des Kaisers Franz Joseph in Bosnien schwerlich ohne stärkern Widerhall bei allen
Balkanvölkern bleiben wird, die Fragen „des nähern Ostens" könnten darum sehr
wohl im Jahre 1907 der europäischen Diplomatie ernstere Beschäftigung bieten.
Einstweilen aber wird man wohl auf ein Nachlassen der Spannung rechnen dürfen.
Eine gelegentliche Äußerung des Kaisers, daß er sehr gern einmal Amerika
besuchen und den Präsidenten Roosevelt kennen lernen würde, ist von unsrer in
bezug auf alles, was mit der Person des Kaisers zusammenhängt, geradezu nervösen
Presse zu einer großen politischen Frage aufgebauscht worden. Als ob der Kaiser
nicht wie jeder Privatmann das Recht zu dem Wunsche haben sollte, gelegentlich
Amerika kennen zu lernen! Bedarf er dabei wirklich der Belehrung durch die
Presse, daß die Erfüllung dieses Wunsches für den deutschen Kaiser doch wohl un¬
möglich sein würde? Präsident Roosevelt hat, da er eine nochmalige Wahl be¬
kanntlich nicht annehmen will, nach Erlöschen seines Amtes Muße genug, nach
Europa zu kommen und bei dieser Gelegenheit auch den Kaiser kennen zu lernen.
Es wäre sogar viel besser, wenn eine Begegnung erst dann erfolgte, wenn sie weder
in England Eifersüchteleien noch in Amerika Mißdeutung hervorrufen könnte. Daß
unsre Blätter diese vom Zaune gebrochne Erörterung benutzen, den Amerikanern
zu sagen, daß der Kaiser bei ihnen vermutlich vielen Ungeschicklichkeiten ausgesetzt
sein würde, und zugleich den Engländern, daß wir uns die Freundschaft, die
sie uns versagen, auf diese Weise in Amerika holen würden, gehört zu den Ab¬
sonderlichkeiten unsrer Preßpolitik. Sie könnte im vorliegenden Falle zu der be¬
dauerlichen Folge führen, daß die ablehnende Haltung der deutschen Presse in dieser
Frage in Amerika einen Übeln Eindruck hervorruft. Die einsichtigen Amerikaner
wissen ohnehin, daß der deutsche Kaiser so wenig nach Amerika reisen kann wie
der Präsident der Vereinigten Staaten nach Europa. Wer Menschen regieren
will, ob in der Republik oder in der Monarchie — muß seine Neigungen seinen
Pflichten unterordnen, das ist von dem Begriff der Herrschaft unzertrennlich. Von
der Presse aber ist es nicht taktvoll, eine einfache Höflichkeitsäußerung des Kaisers
einem Amerikaner gegenüber sofort zu einer in unzähligen Leitartikeln breitgetretnen
Staatsaktion aufzubauschen. Namentlich sollte man sich englischen Blättern gegen¬
über keine Blößen geben, die schon kein gutes Haar an uns lassen. Die Diplo¬
matie, die vor und in Cronberg der Ansicht war, daß eine deutsch-englische An¬
näherung Zeit fordre, hat ihre Meinung nur zu schnell bestätigt gefunden. Die
englische Publizistik läßt sich nicht beirren, Deutschland fortgesetzt der Bedrohung
aller englischen Einflußsphären, in der Türkei, im Mittelmeer, in Persien und Gott
weiß wo noch, zu bezichtigen. Die Times haben sich sogar einen Mitarbeiter zu¬
gelegt, der aus dem preußischen Übergang nach Alsen im Jahre 1864 die deutsche
Bereitschaft zur Landung in England folgert. Nach vierzig Jahren! Es sind kuriose
Käuze, die in der englischen Presse fortgesetzt vor Deutschland warnen, aber der
Umstand, daß sie Aufnahme und Glauben auch für den größten Unsinn finden,
kennzeichnet doch eine Richtung des öffentlichen Geistes in Großbritannien, mit der
wir zu rechnen haben, und die durch die publizistische Entente der englischen und
der französischen Presse gegen Deutschland an Bedeutung gewinnt.
Der französische Minister Clemenceau hat Berlin, das er sich einige Tage hindurch
im striktesten Inkognito angesehen hat, vor Beginn der Taufe und der militärischen
Festlichkeiten wieder verlassen. Es ist begreiflich, daß er am Sedantnge nicht mehr
in Deutschland weilen mochte. Er hat hier außer einem Besuch auf der französischen
Botschaft mit keiner offiziellen Persönlichkeit verkehrt, seine Cicerone scheinen in der
Hauptsache französische Journalisten gewesen zu sein. Er hat sich auch in die über¬
wiegend von der Arbeiterbevölkerung bewohnten Gegenden Berlins führen lassen, und
es wird sein Ausspruch zitiert: it taut avoir vu ?s.
,.^
Zur Zeit des deutscheu Journalistenbesuchs in England hat man in deutschen
Blättern tiefsinnige Betrachtungen über die hohe Stellung der englischen Presse
und ihre große Bedeutung im politischen Leben Großbritanniens lesen können.
Vieles davon war übertrieben, andres ist durch die Kürze der Zeit seit der wir
uns in einheitlicher großmächtlicher Entwicklung befinden, sowie durch den bundes¬
staatlichen Charakter dieser Entwicklung erklärt. Immerhin durfte die Ansicht richtig
für. daß in England weit mehr Unsinn über Deutschland als in Deutschland über
England gedruckt wird. Allerdings hat ein nicht geringer Teil unsrer Presse in
den letzten Monaten leider wieder den Beweis geliefert, daß sein Tummelplatz
doch überwiegend die politische Kinderstube ist. Die Behandlung der Amnestie¬
srage, bezüglich deren ein bekannter Mitarbeiter eines Schweizer Blattes diesen
liberalen und demokratischen Zeitungen mit Recht vorhielt, wie seltsam dem Mcmner-
st°lz vor Königsthronen" das Drängen nach Gnadenerlassen zu Gesicht stehe, die
Behandlung der Kolonialangelegenheiten, zuletzt die gekünstelte Aufregung über den
Oberst von Deimling - das sind Dinge, die einer ans der Höhe ihrer politischen
Aufgabe stehenden Presse doch nicht passieren dürften. Es mag in ein Mangel sein,
daß Oberst von Deimling einem »b ir.w gefaßten Reichstagsbeschlusse eine '"kramen ale
Bedeutung zuerkennt. Er weiß ja ganz genau daß die Bewill gnug d r Bahn
Kubub-Keetmannshoop weniger aus sachlichen Gründen als vielmehr aus Ver¬
stimmung versagt worden ist. und daß dabei mehr die parlamentari,che Macht frage
die vaterländische Einsicht im Spiele war. Aber es macht wirklich einen, gelinde
gesagt, komischen Eindruck, wenn ein Berliner Blatt seine schonen Sonntagmorgen-
palteu mit gruseliger Entrüstung darüber anfüllt, daß der Komm.ardeur dem Reichs¬
kanzler ..eine Verfassungsverletzuug angesonnen habe". Schon der Unst n^ daß
der Oberst von Deimling ..angesichts des ihm bekannten Relchstagsbe chlus s
stände gewesen ist. seine Anträge an das Oberkommando und an den Generalstab zu
stellen, wird ihm als Kapitalverbrechen angeschrieben.
. Die Herren vom Redaktionstintenfaß scheinen von den Pflichten eines Truppen-
sührers seltsame Auffassungen zu haben. Ein Truppenführer, ^mal w Mer Fernen,
hat die Verantwortung für die ihm unterstellten Truppen, für deren Wohl und Wehe.
Sieht er. daß Mann und Roß bitter Not leiden, oder daß wegen ungenügender Be¬
förderung des Mass hu s die Operationen in nachteiliger Weise zum SM laut kommen.
s° hat er die Pfl es?, sür die Abstellung der Mißstände zunächst durch An rage be
d» vorgesetzten Behörde Sorge zu tragen, gleichviel was immer der Reichstag mit
'einer zZ lugen M l rden beschlo hin haben mag. Würde er das unterla sen. so wurde
« sich kriegst machen, ^n nicht ^Befehle der V° gesetzten binden den Offizier. G°t VerHute daß es iem°is anders
werde! Hatte der Oberst von Deimling die pfl.chtmaßige Überzeugungaß die Eisenbahn für die Erhaltung der Truppe und ur d,e Durchführung :h er
Aufgabe unabweislich notwendig ist. so würde er ^) einer Pf ich verleg
huldig gemacht haben, wenn er sie nicht beantragt hatte. Zudem geh M Ä>
er°g nicht auf Fortführung der bis Kubub im begriffnesFortsetzung von Kubub aus sollte nach seinem Antrage /s ^ldbahn gebant
werd.i d. h. als eine provisorische Ein^ung K^
a?Uz^ Feldbahn nach Erreichung und
Sicherung des Kriegszwecks wieder abzubrechen. Gerade die Verherrlichung eng¬
lischer Zustände durch unsre liberale Presse legt den Unterschied recht nahe, der in
dieser Hinsicht zwischen Phrasen und Tatsachen besteht. Kein englisches Unterhaus
würde einen Beschluß gefaßt haben wie der Reichstag hinsichtlich dieser Bahn, ganz
abgesehen davon, daß kein englisches Unterhaus daran denkt, der Regierung für
solche Zwecke etwas zu versagen oder der Kriegsleitung Vorschriften in Fragen
zu machen, die sich der parlamentarischen Einsicht völlig entziehen. Wenn ein
englischer Truppenbefehlshaber in Südafrika die Herstellung dieser Bahn trotz
Parlamentsbeschluß dennoch beantragt, oder um seine Truppen nicht verhungern
zu lassen, auf eigne Initiative hin als Feldbahn in Angriff genommen hätte, so
würde es kein englisches Blatt von Ansehen geben, das ihn wegen „Verfassungs-
verletznng" oder „Verführung der Regierung zur Verfassuugsverletzung" an den
Pranger stellte. Im Gegenteil. Der Offizier würde die Anerkennung der öffent¬
lichen Meinung seines Landes dafür finden, daß er den Mut der Verantwort¬
lichkeit gehabt habe, so zu handeln, wie es die Notwendigkeit erheischte. Kein
Befehlshaber kann vor seine Soldaten treten und ihnen sagen: Ja, Kinder, ihr ver¬
hungert und verdurstet, aber zu Hause das Parlament hat es so beschlossen! Hier
darf getrost eingeschaltet werden: parlamentarisches Wesen mag Charaktere züchten,
aber parlamentarisches Unwesen, wie wir es bei uns haben, vernichtet sie. Ein
Feldzug in Afrika läßt sich überhaupt nicht von Berlin aus dirigieren, so wenig
wie sich die Kolonien von Berlin aus verwalten lassen. Man rühmt der englischen
Kolonialpolitik die Selbständigkeit der Gouverneure nach, und bei uns entscheiden
zufällige Reichstagsmehrheiten über die Erfordernisse eines Feldzugs! Wenn die
Engländer uns deshalb auslachen, so sind sie im vollsten Recht. Wir werden auch
in Zukunft noch Männer brauchen, die wie Dort den Mut der Verantwortlichkeit
von Tauroggen haben; was will dagegen eine Feldbahn besagen!
Nun vermag aber Oberst von Deimling die bösen Absichten, die die frei¬
sinnige Presse ihm zutraut, gar nicht einmal auszuführen, d. h. er kann die Feldbahn
aus eigner Initiative nicht bauen, weil er draußen kein Material hat. Aus der
Heimat aber kann es ihm nicht gesandt werden, weil der Reichskanzler selbstverständ¬
lich einem so bestimmt gefaßten Beschluß des Reichstags nicht zuwiderhandeln will.
In andern Fällen würde Fürst Bülow vielleicht kein Bedenken getragen haben,
die nachträgliche Zustimmung des Reichstags für die Feldbahn auf dem Wege der
Indemnität einzuholen. Aber bei den schweren Mißständen, die sich gerade bei
der Bekämpfung des südwestafrikanischen Aufstandes angehäuft und zu berechtigten
Beschwerden des Reichstags Anlaß gegeben haben, ist ein solcher Schritt schlechter¬
dings ausgeschlossen. Daß der Reichstag an diesen Mißständen zu einem großen
Teile selbst die Schuld trägt, kann daran nichts ändern. Der Reichskanzler handelt
verfassungsrechtlich richtig, wenn er die Anträge des Oberst von Deimling bei der
allgemeinen Sachlage ablehnt, auch wenn sich der Oberst durch Pflicht und Gewissen
gebunden erachtet, sie zu stellen. Das ist die einfache Sachlage. Es gehört wirk¬
lich der Doktrinarismus der deutschen linksliberalen, freisinnigen und demokratischen
Presse dazu, daraus eine „Verfassungsverletzung" oder dergleichen zu machen. Oberst
von Deimling tat seine Pflicht, indem er die Anträge stellte, der Reichskanzler die
seinige, als er sie ablehnte. Ob und wieweit die Fortführung der Bekämpfung
des Aufstandes unter solchen Umständen möglich bleibt, das zu entscheiden ist eben¬
falls die pflichtmäßig erwägende Obliegenheit des Kommandeurs. Militärisch richtig
wäre es jedenfalls gewesen, wenn bei Ausbruch des Aufstandes im Süden der
General von Trotha die ganze Linie Lüderitzbucht-Keetmanshoop sofort als Kriegs¬
bahn in Angriff genommen hätte; der Feldzug wäre trotzdem billiger geworden,
es jetzt ^ ^ Kaplande tributpflichtig und militärisch von
ym abhängig wurden. Hätte die Kapregierung „aus Neutralitätsrücksichten" die
^ovmntausfuhr verboten, so hätten wir den Feldzug im Süden aufgeben müssen,
^cote Moltke noch, so wäre die sofortige Inangriffnahme der Bahn wohl die erste
""litansche Maßnahme gewesen.
. . Bei Schluß dieser Zeilen kommt die Kunde, daß der Erbprinz Hohenlohe ans
!em dornenreiches Amt verzichtet hat, und daß ein Bankdirektor sein Nachfolger
werden soll. Über die Qualifikation des künftigen Kolonialdirektors läßt sich selbst¬
verständlich nicht urteilen, bevor er am Werke ist. Es scheint aber, daß der Reichs-
"zlex in ihm den eisernen Besen für die Kolonialverwaltung gefunden zu haben
glaubt, den er selbst, wie alle Welt, wünscht. Auch auf den Erbprinzen Hohenlohe,
w^ ^ Regent in fast souveräner Stellung viele Sympathien erworben hatte,
ni^ Erwartungen gesetzt; es ist ihm nicht zu verargen, wenn er sich dabei
He verbrauchen will. Jetzt mag ein tüchtiger Bankdirektor immerhin der geeignete
Snsü ^" Zukunft wird unser Kolonialwesen doch bei einem geeigneten
si^ - liegen, Land- oder Seeoffizier. Ja, es ist vielleicht zu bedauern, daß
Seeoffiziere vom Kolonialdienste fast grundsätzlich fernhalten, während sie
leist ^"ve in Kiautschou zeigen, daß sie auf diesem Gebiete Hervorragendes zu
>im verstehen. War es doch auch der Kommandant S. M. S. Habicht, der in
°estafrika die ersten Maßnahmen zur Bekämpfung des Aufstandes energisch und
mftchtig organisierte. Jedenfalls sollten die Truppen sobald als möglich aus der
""^Verwaltung ausscheiden und der Heeresverwaltung unterstellt werden, unter
- ''e gehören, schon damit Offiziere und Soldaten Angehörige des Heeres bleiben
^ nicht aus dem Heere ausscheiden müssen in dem Augenblick, in dem sie dem
^citerlande den schweren Dienst eines Kolonialkrieges zu leisten haben. Die Idee
^ "Schutztruppe" war von vornherein verfehlt und erbt sich nun wie eine ewige
Krankheit fort. Wir haben doch auch in Kiautschou keine „Schutztruppe", sondern
"egrierende Teile der Marine. Wem an Ordnung in den Kolonien gelegen ist,
c- mit dem Unwesen der „Schutztruppe" aufräumen, einem Begriff, der wohl
quis « P°^el. aber nicht für die Armee und ihre Angehörigen paßt. Das Re-
^ im'freche der Gouverneure kann daneben ebenso gut bestehen bleiben wie das
im »^^ehörden in der Heimat, es kann sogar weiter ausgedehnt werden. Aber
" übrigen müssen Kaiserliche Truppen Bestandteile der Armee und als solche der
el, "^^erwaltung untergeordnet bleiben. Es hat keinen Sinn, neben Heer und Flotte
Dritte Spezies bewaffneter Macht aufzustellen, die aus der Armee aus-
>cyelden muß, um unter einer Zivilbehörde den Dienst als Soldaten zu tun!
^und widerspricht das der Verfassung, laut deren Artikel 63 die „gesamte Land-
^"He d^ Reiches ein einheitliches Heer" bildet, das in Krieg und Frieden unter
em Befehle des Kaisers steht. Die Truppe» in Südwestafrika sind aber doch nur
n übe
^. Der Gläubige ist kein Freund der modernen Natur-
pyllosophie. Nicht mehr wie früher dient die Beobachtung der Natur dem ver-
esten religiösen Empfinden zur Läuterung. Wenn Swammerdamm einst seine Werke
». .."Bibel der Natur" bezeichnete, wenn auch Kopernikus und Newton fromme
hei ter gewesen sind: ihre Schüler wissen nichts von Religion. Die gemütvolle
Fassung der Welt als Kunst, als die persönliche Schöpfung eines Gottes, ist
"uchternen Nützlichkeitsideen gewichen. Nur wenig Männer (wie Reinke oder
Mes) bemühen sich, im zwanzigsten Jahrhundert das Erbe Eichhorns und
Gaffers. Wrisbergs und Lyonets zu hüten.
Die Geschichte dieser traurigen Entwicklung ist kurz berichtet. Die Deszen¬
denztheorie, deren Begründer die neue Bahn durch erkenntniskritische Erwägungen
nicht zu begrenzen verstanden haben, mußte der Ursprung des abenteuerlichsten
Materialismus werden. Leute wie Fritz Müller, Karl Vogt, Büchner, Weismann
und Häckel wetteiferten miteinander in dem Bestreben, der Naturwissenschaft eine
glaubensfeindliche Richtung aufzudrängen. Vergebens warnte Rudolf Virchow vor
dieser „Aufklärungsarbeit. Umsonst zeigten kühler denkende Menschen, daß ge¬
wagte Hypothesen nicht imstande sind, dem Volke einen moralischen Halt zu bieten.
Und obgleich der Materialismus wissenschaftlich nicht mehr ernst zu nehmen ist:
als agitatorisches Prinzip hat er längst gesiegt.
Seine Früchte beginnen zu reifen. Vor wenig Monaten berichtete man der
aufmerksamen Welt von einem sonderbaren Beschluß der Bremer Volksschullehrer.
Sie verlangten, daß der Religionsunterricht durch eine allgemeine Morallehre er¬
setzt werde. Viel wurde über diesen Beschluß debattiert. Die liberalen Zeitungen,
die immer das Tiefsinnigste loben, freuten sich auch diesmal über den gelungner
Scherz. Und manche waren gar entrüstet ob der „reaktionären" Bosheit, die die
Bremer Leute verlachte. Während des ganzen Streites aber hat man immer auf
eine Frage gewartet, die nicht ausgesprochen worden ist, obschon sie sich allen Ein¬
sichtigen hätte aufdrängen müssen. Eine Frage, die so recht dazu geeignet schien,
den reformeifrigen Volksschullehrern die Lust am „Reformieren" zu verbittern:
Ihr wollt die Jugend nicht in Religion, sondern in Moral unterweisen. Vor¬
trefflich; aber welche Moral meint ihr denn? Spinozas oder Leibnizens Grund¬
sätze? Gefällt euch die Ethik Humes, oder huldigt ihr den Kantischen Imperativen?
Predigt ihr die pessimistische Sittlichkeitsauffassung Schopenhauers, oder preist ihr
Nietzsches „Willen zur Macht"? Wollt ihr der Jugend Hegels Staatsideale ein¬
prägen oder Stirners „Einzigen" den Triumph der höchsten Weisheit gewähren?
Wie versöhnt man, ihr klugen Männer, bei euch in Bremen diese abgrundtiefen
Gegensätze? Wie wählt man aus dem Unendlich-Verschiednem eine einheitliche
Moral? Und glaubt ihr, daß den Bremer Volksschullehrern gelingen werde, was
den größten Denkern unausführbar dünkte: eine allgemein giltige Sittlichkeit ohne
religiöse oder metaphysische Voraussetzungen aus bloßer Vernunft zu begründen?
Wenn man diesen Stein der Weisen unter der Assistenz siebenjähriger Kinder auf¬
finden will — dann ist es freilich gut, ihn frühzeitig zu suchen. Wer Blei in
Gold verwandeln und kreisrunde Dreiecke formen soll, möge in der Jugend be¬
ginnen, damit er es im Alter wenigstens zu einer schonen Hoffnung bringe.
Wir zweifeln nicht daran, daß die Bremer Volksschullehrer nicht so arges im
Schilde geführt haben. Probleme zu lösen, lag ihnen fern. Die Lehrer haben
nur gedankenlos wiederholt, was ihnen „freireligiöse" und „sozial-ethische" Ge¬
meinden beständig einreden: daß die Moral unabhängig von allen Dogmen be¬
steh» könne.
So oft hat man diese Behauptung schon gehört, daß man sich wohl all¬
mählich das Recht erworben hat, sie bewiesen zu sehen. Bis jetzt ist nichts dergleichen
geschehn. Es war zu viel zu tun. Man mußte die „Finsterlinge" bekämpfen und
über die Kirche spotten. Wäre man denn sonst nicht am Ende doch auf den Ge¬
danken geraten, daß „Spießbürger," die aus religiöser Überzeugung sittlich leben,
mehr Menschenwürde haben als „Vernünftige," die sich ohne jedes Vernunftargu¬
ment an die herrschende Ethik halten? Die Gott abschaffen und sich trotzdem nach
seinen Geboten richten, die die Offenbarung leugnen und sie doch befolgen? Der
Darwinist und „Sozialethiker" Carreri sagt einmal: „Nichts liegt uns ferner, als
die Sittlichkeit aus den Gesetzen des Kampfes ums Dasein ableiten zu wollen."
Hätten die „Vernünftigen" nicht längst einsehen müssen, daß diese Carnerischen
Worte Faustschläge sind gegen alle Logik und Konsequenz? Und daß die ^dem
der „Freireligiösen" eine kompromittierende Ähnlichkeit mit den Anschauungen
aufweisen, die Kant in der Kritik der praktischen Vernunft als ein ..Koalitions¬
system widersprechender Grundsatze voll Unredlichkeit und Seichtigkeit" gebrand¬
markt hat?
Was sich dem Gläubigen als die zwingende Notwendigkeit seiner religiösen
Meinungen darstellt, das ist beim Atheisten Carreri nur eine fixe Idee. Warum
verschmäht er es denn, die Sittlichkeit aus den Gesetzen des Kampfes ums Dnsein
abzuleiten? Weil er recht gut weiß, daß ohne metaphysische Postulate nicht einmal
das Gebot der Nächstenliebe zu retten ist. Weil er recht gut weiß, daß die altruistische
Ethik auf der christlichen Metaphysik beruht, mit dieser steht und fallt.
Und erwartet man wirklich, daß die Jugend, der man halbe Aufklärung
geboten hat, ohne Christentum christliche Moral üben wird? Man möge sich nicht
täusche«. Es könnte sich eines Tages ereignen, daß sich kluge Jünglingsaugen
verwundert auf die atheistischen Sittlichkeitsprediger richteten, und daß die jungen
Leute fragten: „Warum sollen wir dieser altruistischen Moral gehorchen, wenn unter
allen unsern Lehrern kein einziger imstande ist. zu dieser Moral eine vernunft¬
gemäße und dabei dognienfreie Begründung zu liefern?"
Man braucht nicht gerade Friedrich Nietzsche zu nennen wenn um» dartun
will, daß sich der Altruismus der Kulturmenschheit nur auf relig ° e Überzeugungen
Mtzt. Ein Mann, dem die „Freireligiösen" (allerdings ans bloßer Uno«
sehr zugetan sind. Baruch Spinoza, schrieb vor beinahe S^ihimdert unfz g Zähren.
-Mit dem höchsten natürlichen Recht... verzehren die Größern ^ K e neu
Das Recht jedes einzelnen Individuums reicht so weit wie seine Macht. (Theo-
"gisch-potiti cher Traktat. Kap. 16.) Was sagen unsre A""»^^sozialdemokratischen Atheisten zu diesem Resultat der Religionslosigke ? Wer wagt
^ 'was, von' einem solchen Stand null aus die Autokratie °is «n ^schreien? Und beweist denn nicht das Beispiel Carneris zur Genüge, daß von
der modernen Naturwissenschaft zur Demokratie nur ein Weg fuhrt: die In¬
konsequenz?
^^Recht ohne Macht setzt den Begriff einer höhern sittlichen Weltordnung ^aus. Diesen Begriff hat die Demokratie törichterweise dem Atheismus g opfert.
Und fürwahr - wenn die ..reaktionär" und die aristokratisch Ge unter so böse
Menschen wären, wie man in liberalen Kreisen behauptet, dann mußten ^servativen an den Bremer Volksschullehrern eine satanische Freude haben, ste
würden teuflisch ?ander über den undankbaren Atheismus, der sich am bitter en
gerade an de ^ die die naturwissenschaftlichen Theorien am lautesten
bejubelt, die alte Kirche am eifrigsten beschimpft hat: an der Demokratie
^
, or. Richard Hennig hat^der sogenannten okkulten Erscheinungen das zweibändige Werk. Wunder und
Wissenschaft gewidmet. Den ersten Band kennen wir ^ ewe Kr^ u"^unter dem Titel „Der moderne Spuk- und Geisterglaub^Erklärung der spiritistischen Ph^me". ^
Ac^^ A^ndes^
»"D?SM^ Wu
der Tatsache, daß genaues Beobachten eine der schwierigsten Künste ist, in der es
kein Mensch zu absoluter Vollkommenheit bringt, und daß bei den meisten Menschen
die Ungenauigkeit durch jede Gemütsaufregung, namentlich durch Furcht, Hoffnung
und Erwartung (Hör ich das Pförtchen nicht gehn? Hat nicht der Riegel ge¬
klirrt?), sowie durch Dunkelheit, ungewöhnliche Lage und Umgebung ins unglaub¬
liche gesteigert wird. Auch bei völlig normaler Beschaffenheit aller Sinnesorgane
stellen sich dann Sinnestäuschungen aller Art ein, und in einer spiritistischen SLance
vereinigt sich der Gemütszustand der Teilnehmer mit der Beschaffenheit des Ortes,
der Person, die den Geist oder die Geister spielt, die Ausübung ihrer Kunst leicht
zu machen. Die versammelten Gläubigen sehen, hören, riechen, fühlen alles, was
sie zu sehen, zu hören oder sonst wahrzunehmen wünschen und erwarten, auch
wenn gar nichts Passiert, und ein Lichtschimmer, ein Schatten genügt, in ihrer Ein¬
bildung das Allergrößte Passieren zu lassen. Doch ist es nach Hennig nicht richtig,
mit Eduard von Hartmann alle in diesen Konventikeln vorkommenden Täuschungen
auf Halluzinationen zurückführen zu wollen. Ganze Klassen dieser Täuschungen,
so namentlich alle „Materialisationen", sind einfach Betrug. Und zwar sind es
Taschenspieler zweiter Güte, die sich aus den Spiritismus verlegen: Leute, deren
taschenspielerisches Geschick nicht ausreicht für Vorstellungen im hellen Lampenlicht
und vor einem Publikum, das aufpaßt, um den Trick herauszubekommen. Hinter
dem Spuk- und Poltergeist steckt gewöhnlich entweder ein sehr geschickter dummer
Junge oder ein solches Mädel. Papa Wrangel ist einmal durch einen kleinen
Schornsteinfeger, der Wider Willen und unbewußt im Berliner Schlosse die Weiße
Dame spielte, so erschreckt worden, daß er nach dem Pastor schickte. Einer wunder¬
baren, aus zarter und inniger Liebe zu dem verstorbnen Töchterchen entsprungnen
Halluzination ist der gar nicht abergläubische Feldmarschall Steinmetz erlegen;
selbstverständlich bei voller Einsicht in den halluzinatorischen Charakter der Er¬
scheinung. Der Trancezustand, der auf Autosuggestion beruht, hat Verwandtschaft
mit einer ganzen Reihe von mystischen Erscheinungen, die, wie Ekstase, Zungen¬
reden, Stigmatisation, Besessenheit ihrerseits wieder mit dem Wahnsinn zusammen¬
hängen. Besessenheit ist Wahnsinn, wenn nicht bloß gewisse Krankheitssymptome
von andern als Wirkungen eines innewohnenden Teufels gedeutet werden, sondern
der Kranke selbst sich einbildet, daß er einen Dämon beherberge. Eine ähnliche
Einbildung hat den Werwolf, d. i. Mannwolfglauben erzeugt. Wenn der Wahn¬
sinnige behauptet, daß er ein Hund oder Wolf sei, wenn er bellt und auf allen
Vieren läuft oder Menschen anfällt und beißt, so glaubt seine abergläubische Um¬
gebung, wirklich ein Tier zu sehen. Sehr interessant sind die Mitteilungen aus
dem Buche des Genfer Professors Flournoy: og« Inäss Is, Musis Nars. Htucls
sur un es,s av LonmÄlndulisnig g-ose- Alossolaiis, Flournoy berichtet darin über die
Kundgebungen des Mediums Helene Smith. Diese Person war in einem Handels¬
hause angestellt und tüchtig in ihrem Berufe, gab aber in ihren freien Stunden
— nicht zum Zweck des Erwerbs, sondern gutgläubig — mediumistische Vor¬
stellungen. Erlebnisse ihrer Jugend hatten in ihr den Glauben erzeugt, daß ein
Schutzgeist ihr nahe sei, der ihr mitunter körperlich erscheine. Eine Zeit lang galt
ihr Victor Hugo als Schutzgeist; an dessen Stelle trat später „Leopold", von dem
herauskam, daß er Cagliostro war. Sie selbst bildete sich ein, die reinkarnierte
Marie Antoinette zu sein; später war sie die Prinzessin Simandini, Tochter eines
Araberscheiks und Gemahlin des indischen Fürsten Sivruka Napata. Zuletzt hat
sie Ausflüge auf den Planeten Mars gemacht. Eines Tages schrieb sie im somnam¬
bulen Schlafe einen arabischen Spruch in arabischer Schrift ab, den ihr der
Araberscheik vor Augen hielt. Übersetzen konnte sie den Spruch nicht, im wachen
Zustande auch nicht lesen. Nach langem vergeblichem Forschen löste sich zuletzt das
Rätsel. Der Hausarzt der Familie hatte vor Jahren eine Reiseschilderung: Lu
LabMg herausgegeben und in jedes der verschenkten Exemplare eine Widmung
geschrieben mit einem angehängten arabischen Spruch. Helene konnte sich nicht
erinnern, eins der Exemplare gesehen zu haben, aber ohne Zweifel hat sie eins
gesehen gehabt, und die Schriftzüge haben sich ihrem Gedächtnis unauslöschlich ein¬
geprägt, ohne je im wachen Zustande die Schwelle ihres Bewußtseins zu über¬
schreiten. Alle Fälle, in denen ungebildete Personen °der Kinder in fremden
Sprachen reden oder schreiben, sind auf das „unterbewußte Gedächtnis - zurückzu¬
führen, wie das Tischrücken und ähnliche Geisterkundgebungen an unterbewußte
Muskeltätigkeit. Die Wunder wäre man nun also los in den Fallen wo Betrug
ausgeschlossen ist. aber die Natur wird dafür mit physiologischen Leistungen aus¬
gestattet, die uns kaum weniger unerklärlich und wunderbar vorkommen wie die
eigentlich sogenannten Wunder. ^
^^<c.Wir haben einmal das Wort eines Autors angeführt: Der Glaube so vieler
Katholiken an Wunder und sogar an den Schwindel der fingierten Miß Vaughan
beweise nicht die ungeheure Dummheit, sondern die ungeheure Trostbedurfttgkeit der
Menschen. Der Durchschnittsmensch findet nun einmal kein Genüge an dem, was
die Wirklichkeit bietet? seine Seele fordert mit Ungestüm eine Ergänzung dieser
Wirklichkeit durch ein Jenseits. Und nur wenige bringen es zu der Resignation,
die dazu nötig ist. mit Kant sich klar zu machen, daß wir an dieses ^en eilf zwar
glauben und darauf hoffen dürfen und sollen, daß wir aber von ihm nichts w sser
und mit ihm nicht verkehren können. Die Macht der katholischen Kirche über
Millionen Gemüter beruht zum Teil auf ihrem naiven Glauben daß sie die Ihrigen
durch mehrerlei Kanäle mit dem Jenseits in Verbindung setzen könne Da sie
dabei immer noch klug Polizei übt, wirkt der Aberglaube, den sie teils hegt teils
zuläßt, weniger verderblich als der außerhalb ihres Bereichs wild wuchernde der
schwärmerischen, mehr oder weniger dem Okkultismiis hilldigenden Sel en W
die Gläubigen, die kirchlichen wie die unkirchlichen, glauben wollen so sind sie
schlechterdings nicht zu bekehren, weder durch wissenschaftliche Beweise n°es durch
die polizeiliche Entlarvung. In Chicago gibt es außer den berühmten Wurst-
sabriken auch ein Warenhaus für Geisterartikel wie Masken und Hände. Das
einlaufende Medium bemerkt gewöhnlich, es habe vorübergehend seine Vierdimen¬
sionale Kraft verloren und müsse künstlich nachhelfen, um seinen Beruf ausüben
zu können.
^ Von einem unsrer ^v'- Hirsch, erhalten wir zu dem Aufsatz in Nummer 11 der Grenzboten: Un re
wichtigsten Nahrungsmittel und ihre Nährwertbeurteilung" folgende Bemerkungen
Es heißt in dem Aufsatz: ..In dieser Hinsicht - nämlich in dem hohen Gehalt
der Hülsenfrüchte an eiweißartigen Stoffen - wettei ern mit ihnen die Speise¬
pilze, deren Stickstoffgehalt dem der Halmgetreldemehle noch weit über egen ist.
Die an Stickstoff ärmern Speisepilze nähern sich in bezug auf Nahrwer d n
Hülsenfrüchten der Stickstoff der meisten Speisepilze ist aber ü erha^ b
dreifach so groß wie der des Weizenmehls; den Hochs en Stickstoffgehalt at der
Champignon mit 7.26 Prozent, was einem Eiweißgehalt von ^-37 Proze t en^
S.^!-^
der Zubereitung zugrunde legen, in denen sie als Nahrung verwandt werden. Bei
den Speisepilzen ist dies der frische Zustand, wie bei den grünen Gemüsen:
den Kohlarten, den Rüben, dem Blumenkohl usw.; getrocknet sind sie als Nahrungs¬
mittel nicht brauchbar. Auch die an der Luft getrockneten Pilze sind nach dem
Wiederaufquellen mit Ausnahme der Morchel, die aber auch nur in kleinen Mengen
als Zutat zu andern Speisen genossen wird, nicht als eigentliche Nahrungsmittel
brauchbar und kommen nur als Würze des Fleisches beim Braten und Kochen oder
als Einlage in Suppen in ganz geringen Mengen zur Verwendung. Die Speise¬
pilze in frischem Zustande, wie sie fast ausschließlich als Nahrung in Gebrauch
kommen, haben aber einen Wassergehalt von 90 bis 94,25 Prozent, ihr Gehalt an
eiweißartigen Stoffen betrügt demnach nicht 22,82 bis 45,37 Prozent, sondern nur
2,28 bis 4,53 Prozent, ist also nicht wesentlich höher als der der grünen Bohnen,
des Blumenkohls und der Kohlrübe (2,5 bis 3 Prozent). Das Pilzmerkblatt des
Kaiserlichen Gesundheitsamts sagt darüber: „Im allgemeinen bestehn Pilze zu Neun¬
zehnteln aus Wasser. Von dem verbleibenden Rest ist ungefähr ein Viertel für den
Menschen ausnutzbares Eiweiß. Zwei Pfund frische Pilze enthalten etwa so viel
verdauliches Eiweiß wie hundert Gramm frisches Fleisch."
Es ist aber außerdem noch zu berücksichtigen, daß große Mengen von Brot,
von Hülsenfrüchten und besonders von Pilzen eine schwer verdauliche Kost bilden,
und daß deren Eiweißgehalt nicht vollkommen ausgenutzt wird; beim Brot ver¬
bleiben je nach der Sorte 20 bis 42 Prozent Eiweiß im Kot (G. Meyer, Er¬
nährungsversuche), mindestens die gleiche Menge bei den Hülsenfrüchten und bei
den Pilzen.
Als Volksnahrungsmittel könnten die Pilze aber ferner nur in Betracht kommen
in den räumlich beschränkten und meist dünn bevölkerten Bezirken ihrer Standorte,
und wenn sie von den Verbrauchern selbst eingesammelt werden. Als Marktware
in den Städten ist ihr Preis so hoch, daß er zu dem geringen Nährwert in keinem
entsprechenden Verhältnis steht, denn hundert Gramm Fleisch kosten etwa 15 Pfennige,
zwei Pfund Eierschwämme, die den gleichen Eiweißgehalt, aber bei geringerer Ver¬
daulichkeit haben, kosten 40 bis 50 Pfennige, Steinpilze sind noch viel teurer. Für
die dichte Arbeiterbevölkerung der mittlern und der großen Industriestädte können
deshalb Pilze als Volksucchrungsmittel nur eine unbedeutende Rolle spielen. Die
Schlußfolgerung des Verfassers: „daß unter allen Nahrungsmitteln pflanzlicher
Natur die Speisepilze mit die allernahrhaftesten und in dieser Eigenschaft von ganz
besonders großer volkswirtschaftlicher Bedeutung sind", muß als ein Irrtum be¬
zeichnet werden.
Der sinnreiche Junker von der Mancha von Miguel de
Cervantes Snavedra, übersetzt, eingeleitet und mit Erläuterungen versehen von
Ludwig Braunfels. Neue, revidierte Jubiläumsausgabe, Straßburg, Trübner; vier
Bände Großoktav, 10 Mark. Der Übersetzer ist ein längst verstorbner Frankfurter
Jurist, dessen Nibelungenlied einst unter die beliebten Bücher meiner Kinderzeit
gehörte. Die Revision hat der Professor der romanischen Sprachen Heinrich Mors,
früher in Bern, übernommen; von ihm rühren auch die Bemerkungen über Aus¬
sprache und Literaturgeschichtliches her. Die Übersetzung verdient den Vorzug vor der
Tieckschen. Die Ausstattung ist sehr schön und der Preis ungewöhnlich niedrig.
nde der neunziger Jahre unternahm die Regierung des Brasil¬
staates Rio Grande do Sui eine sogenannte Landbercinigung,
deren Zweck ursprünglich dahin verstanden wurde, daß die in
vielen Teilen des Staates sehr unsichern und unklaren länd¬
lichen Besitzverhültnisse geregelt werden sollten. Die Nachrichten,
!e über das Ergebnis dieser Landbereinigung eintrafen, ließen aber bald ern¬
ennen, daß es sich nicht um eine Regelung unklarer Verhältnisse gehandelt
)"t, sondern um einen offiziell organisierten Raubzug gegen den deutsch-
eoenden Teil der Kolonisten. Es sind Rechtsverletzungen begangen worden,
^le jedem fast unbegreiflich erscheinen werden, der an die gesicherten Grund-
esitzverhältnisse in den europäischen und den nordamerikanischen Kulturländern
gewöhnt ist. Die Negierung begann ihre Arbeit damit, daß sie Land-
Immissionen nach den deutschen Kolonien sandte. Schon das war auffüllig.
^cum gerade in den Kolonien lebte man allgemein der Überzeugung, einen
durch rechtskräftige Dokumente gesicherten Besitzstand zu haben. Denn sie
waren ja teils von der Zentralregierung zu Rio de Janeiro, teils von der
Provinzial- und spätern Staatsregierung von Rio Grande do Suk und
teils von Privatleuten unter der Oberaufsicht der Regierung gegründet und
besiedelt worden. Auch besaßen die Kolonisten rechtskräftig ausgestellte und
von der Provinzial- oder der Staatsregierung unterzeichnete und legalisierte
Besitztitel.
Grenzstreitigkeiten waren zwar in allen drei Arten von Kolonien häusig
genug vorgekommen, weil manche brasilianischen Feldmesser leichtsinnig und
unzuverlässig gearbeitet und die Grenzen falsch gelegt hatten. Aber dergleichen
ärgerliche Vorkommnisse waren regelmäßig durch Neuvermessungen beigelegt
worden. Und war es dabei auch selten ohne unliebsame Grenzverschiebungen
abgegangen, so war doch das Landeigentum als solches niemals von irgend¬
einer Behörde angezweifelt worden, einige Fälle ausgenommen, wo bei Privat¬
kolonisation außer dem Landverkäufer noch andre Personen auf ein besiedeltes
Gebiet Besitzansprüche geltend zu machen in der Lage waren. Der Verkäufer
hatte in solchem Falle einen scheinbar unanfechtbaren Besitztitel vorweisen
können; nachdem das Land besiedelt worden war, meldete sich aber unver¬
mutet ein andrer Eigentümer mit ältern Besitzrechten. Der Fiskus hatte
oft Land vergeben, das schon früher einmal vergeben worden war. Die ersten
Landerwerber hatten ihr Grundstück nicht bewohnt oder die Grenzen nicht
festgelegt gehabt. Kataster gab es nicht, und so kam leicht der Irrtum vor, daß
schon vergebne Latifundien nach Jahren nochmals ganz oder teilweise vergeben
wurden. Diesen Wirrwarr zu regeln, das wäre sicher ein löbliches Unternehmen
gewesen. Und diesen Zweck schrieb man darum der Landbereinigung zu.
Man war deshalb zunächst sehr überrascht, als die Landkommissionen
ausgedehnte Landgebiete mit Tausenden von Kolonistengrundstücken für Staats¬
eigentum erklärten, das die deutschen Bauern dem Fiskus gestohlen Hütten.
Es handelte sich um Privatkolonien, die im Laufe der letzten Jahrzehnte be¬
siedelt worden waren. Daß dabei mancher Landschwindel getrieben worden
war, konnte Kennern der Verhältnisse kaum zweifelhaft sein. Aber die
deutschen Bauern hatten beim Kaufe ihr gutes Geld in gutem Glauben her¬
gegeben. Auch waren sie gewitzigt genug, kein Land zu kaufen, für das die
Regierungsorgane nicht rechtskräftige Besitztitel aufstellten. Diese waren in
jedem Falle vorhanden. Die Regierung konnte unmöglich Land für Staats¬
eigentum erklären, für das sie selbst den Inhabern Besitztitel ausgefertigt
hatte. War ein Betrug, ein Landdiebstahl vorgekommen, so konnte er nur
von den Verkäufern und den Regierungsbeamten begangen worden sein, die
den Kolonisten den Landpreis abgenommen und den Landkauf legalisiert
hatten. Das lag so klar zutage, daß ein Zweifel gar nicht aufkommen konnte;
aber die Negierung blieb dabei, daß die Kolonisten die Betrüger seien, und
stellte es als einen besondern Akt der Gnade und Nachsicht hin, daß sie
ihnen erlauben wolle, die okkupierten Grundstücke nochmals von ihr, der Re¬
gierung, käuflich zu erwerben. Wer nicht zahle, solle ausgetrieben werden.
Da nur gegen Deutschbrasiliauer in dieser Form vorgegangen wurde, so stellte
sich das Ganze mehr und mehr als ein Ausfluß der stark nativistischen deutsch¬
feindlichen Strömung dar, die gerade in den obern Verwaltungskreisen herrschte.
Daneben spielte auch Raubsucht eine Rolle. Man wußte, daß die meisten
Kolonisten Ersparnisse aufgesammelt hatten und lieber ihre Grundstücke nochmals
bezahlen als sich austreiben lassen würden. Es handelte sich um ein ganz ge¬
wöhnliches Erpressungsmanöver, und konnte jemand nicht den vollen Kaufpreis
auf einmal erlegen, so nahm man auch mit Abschlagszahlungen vorlieb.
Viele durch Drohungen eingeschüchterte Kolonisten zahlten, andre wollten
oder konnten das nicht und wurden aus ihrem Besitz vertrieben. Und damit
ersteht die erste Rechtsfrage: mußte die Regierung, falls sie überzeugt war,
daß ihr Staatsland entfremdet sei, nicht angesichts der von den Kolonisten
eingereichten rechtskräftigen Bcsitzdolumente eine Untersuchung darüber ein¬
leiten, auf welche Weise unter diese Dokumente Siegel und Unterschrift der
Regierungsorgane gekommen sei? In einem modernen Rechts- und Kultur¬
staate wäre dies sicher die erste Maßregel gewesen. Die riograndenjer Re¬
gierung aber hat gerade über diesen skandalösen Vorgang auch nicht die ge¬
ringste Untersuchung eingeleitet. Die Landschwindler, die im Verein mit
Regierungsbeamten den Kolonisten ihr Geld abgenommen hatten, sind voll¬
ständig unbehelligt geblieben. Dieses sehr verdächtige Verhalten bestätigt, daß
es sich um eine offiziell eingeleitete systematische Erpressung handelte, bei der
man es auf die Ersparnisse der Kolonisten abgesehen hatte.
Und nun eine andre Frage. Konnten die Kolonisten nicht den Schutz
der Gerichte gegen den Fiskus anrufen? Ja und nein, wie man will. Ge¬
nützt hätte es nichts, aber viel, vielleicht mehr gekostet, als die meisten
immerhin nur sehr müßig begüterten Kolonisten hätten bezahlen können. Wenn
man die Rechtszustände in Rio Grande do Sui verstehn will, muß man sich
die Verfassung und Gesetzgebung des Staates in den Hauptzügen vergegen¬
wärtigen. In Widerspruch zu der brasilianischen Bundesverfassung wird Rio
Grande do Sui von seinem Staatspräsidenten diktatorisch regiert. Die Tat¬
sache ist noch kürzlich im Nationalkongreß zu Rio de Janeiro klar dargetan
worden und hat nicht widerlegt werden können. Es gibt zwar für Rio Grande
do Sui eine staatliche Volksvertretung, asssinblsa genannt, aber diese hat
verfassungsgemüß nicht das Recht der eignen Initiative. Sie kann ans eigner
Machtvollkommenheit keine Beschlüsse fassen, nach denen sich die Staats¬
regierung zu richten hätte, sondern ist vielmehr eine rein beratende, ja oder
nein (bisher immer ja) sagende Körperschaft. Die Regierung legt die Gesetz¬
entwürfe vor, an denen ohne ihre Zustimmung nichts geändert wird. Ähnlich ist
das Gerichtswesen im Staate auf das diktatorische Bedürfnis zugeschnitten.
Es entbehrt der Grundlagen zu freier unabhängiger Entscheidung von Rechts¬
fragen, denen die Regierung irgendeine bestimmte Lösung geben will.
Um diesen Rechtszustand an einem Beispiele zu kennzeichnen, sei der
folgende Fall kurz dargelegt. Es gibt wie in andern Ländern eine staatliche
Depositenkasse, die Geldeinlagen in Empfang nimmt, die Privatpersonen nach
Gesetzesvorschrift bei bestimmten Gelegenheiten zu machen haben. Nun wohl,
der vom Staat ernannte und angestellte Leiter dieser Depositenkasse zu Porto
Alegre entnahm ihr eine Summe von mehr als 100000 Mark, gab sie zu
Privatzwecken aus und nahm sich schließlich das Leben. Nun entstand die
schon an sich eigentümliche Frage: wem hatte er den Betrag entwende. dem
Staate oder den Hinterlegern des Geldes? Diese sagten natürlich entrüstet:
wir haben das Geld der staatlichen Depositenkasse anvertraut und folglich von
dieser zurückzuverlangen. Die Regierung entschied: der Depositar hat die
Hinterleger bestohlen, folglich haben diese den Verlust proportionell zu tragen
Diese überraschende Entscheidung wurde von den betroffnen natürlich zunächst
nicht angenommen. Es wurden die Gerichte angerufen, und diese entschieden
kaltblütig im Sinne der staatlichen Autorität: wenn der Depositär stiehlt, so
geht das den Staat nichts an; denn er hat nicht Staatsgelder gestohlen,
sondern Beträge, die Privatpersonen bei ihm eingezahlt hatten. Diese haben
also den Verlust zu tragen. Welches Vertrauen kann ein so vom Staate
abhängiges Gerichtswesen einflößen? Der Wille der Negierung genügte,
einen Diebstahl an der staatlichen Depositenkasse auf die abzuwälzen, die ge¬
setzlich genötigt waren, ihr Geld dieser Kasse anzuvertrauen. Dabei genügt
es, einen Blick auf frühere Budgetabschlüsse zu werfen, wenn man erkennen
will, daß bare Depositeneingünge wie -ausgänge unter den Einnahmen und
den Ausgaben des Staates verzeichnet stehn. Die Depositengelder wurden der
Staatshauptkasse zugeführt.
Die Anführung dieses Beispiels tut dar, wie wenig Aussichten die ge¬
schädigten Kolonisten hatten, in einem Prozesse gegen den Fiskus zu ihrem
Rechte zu kommen. Dieser Weg wurde also kaum ernstlich von ihnen erwogen,
geschweige denn betreten. Die Landkommissionen hatten sich in acht genommen,
irgendeinen Ausländer seines Grundeigentums für verlustig zu erklären, denn
konsulare Intervention hätte einen öffentlichen Skandal verursacht. Die deutsch¬
brasilianischen Bauern fingen sowieso an, über Vergewaltigung zu schreien,
und um den Lärm zu übertönen, wurde im nativistischen Lager ein noch viel
lauteres Geschrei über die deutsche Gefahr in Gang erhalten. Dieses Thema
war in ganz Brasilien Mode geworden, es fiel also nicht auf, daß es in Rio
Grande do Sui besonders lebhaft erörtert wurde. Auch wurden nativistische
Zeitungen in deutscher Sprache gegründet und von der Regierung unterstützt,
die keinen andern Zweck hatten als den, gegen die Interessen des Deutschtums
zu schreiben und die Landbereinignngsfrage nach Möglichkeit zu verwirren und
in falschem Lichte zu zeigen.
Im Jahre 1902 begann der Landbereinigungsskandal nach Europa hinüber
zu dringen und die Presse Deutschlands zu beschäftigen. Das war der rio-
grcmdcnser Negierung unangenehm. Sie wollte gerade wegen Aufnahme einer
20 Millionen-Anleihe mit Auslandmürkten Unterhandlungen anknüpfen, und
da wäre ihr eine Aufdeckung der in Rio Grande do Sui herrschenden Rechts-
zustände sehr ungelegen gekommen. Damit erklärt sich ihr plötzliches Einlenken
zu Anfang des Jahres 1903. Es erschienen Erlasse, die scheinbar, d. i. dem
Wortlaute nach die ganze Landbereinigung rückgängig machten. Die Kolonisten
sollten ihr Land behalten, und wer es zum zweitenmal bezahlt hatte, sollte
zwar nicht sein Geld, aber doch eine Entschädigung in devolutem Lande be¬
kommen. Die erpreßten Summen zurückzuzahlen — das fiel der Regierung
nicht ein, deren Presse trotzdem die Milde und die Langmut der Staatsbehörde
pries. Die ausgeplünderten Kolonisten aber waren schließlich meist froh, daß
die Sache so glimpflich ablaufe. Denn schließlich war es ja von alters her
Sitte bei den deutschbrasilianischen Bauern, gemachte Ersparnisse, sobald diese
eine gewisse Höhe erreicht hatten, in Landläufer anzulegen, die zu Nieder¬
lassungen für die meist zahlreiche Nachkommenschaft dienen konnten.
Die Regierung hat aber ihre Erlasse unausgeführt gelassen und die darin
enthaltnen Versprechungen nicht erfüllt. Vom Rio Guapore bei Montenegro
wird gemeldet, daß achthundert Koloniegrundstücke, die deutschen Bauern weg¬
genommen worden waren, nicht nur nicht den rechtmäßigen Eigentümern zurück¬
gegeben, sondern im Gegenteil mit italienischen Ansiedlern besetzt worden sind.
Gerade in der letzten Zeit aber ist das Geschrei über die deutsche Gefahr so
übertrieben von Rio Grande do Sui her ertönt, daß der Zusammenhang
Wischer diesem Lärm und der systematischen Ausplünderung deutscher Kolonisten
greifbar wird. Herr von Holleben, der Vizepräsident der Deutschen Kolonial¬
gesellschaft, der kürzlich die Absicht hatte, Südbrasilien zu bereisen, sah sich, noch
bevor er den Fuß auf riograndenser Boden gesetzt hatte, Äußerungen einer
Deutschfeindlichkeit gegenüber, die ihm verrieten, daß eine Bereisung der deutschen
Kolonien zwecklos sei. Wenn der Nativismus solche Blüten trieb, so hörte
Rio Grande do Sui sowieso auf. ein empfehlenswertes Auswanderungsziel zu
sein, und hatte kein kolonisatorisches Interesse mehr für ihn.
Es ist ohne weiteres klar, daß angesichts der in Rio Grande do Sui
herrschenden Rechtsunsicherheit von der Ablenkung eines Teiles der deutschen
Auswanderung dorthin nicht weiter die Rede sein kann. Auf den in ganz
Brasilien blühenden Nativismus haben zudem die auswandernden Scharen
selbst schon die richtige Antwort gegeben, indem sie einfach das Land mieden.
Die Einwanderungsstatistik Brasiliens redet nach dieser Richtung hin eme so
deutliche Sprache, daß hier der zahlenmäßige Beweis folgen mag, wie zugleich
""t der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit in der zweiten Hülste der neunziger
Tahre die Einwanderung mehr und mehr einschrumpfte.
Die Gesamteinwanderung ist also von 216659 Personen im Jahre 1891
auf 12447 im Jahre 1904 herabgegangen, und der Hauptteil sind Südeuropäer,
die auf Kosten des Staates Sav Paulo als Plantagenarbeiter nach der Kaffee¬
zone von Santos gingen. Die deutsche Einwanderung sank von 5285 Seelen
im Jahre 1891 auf 88 Seelen im Jahre 1900 und wäre so geringfügig geblieben,
wenn nicht Herr Dr. Herrmann Meyer in Rio Grande do Sui und ganz be¬
sonders die Hanseatische Kolonisationsgesellschaft in Santa Catharina durch ihre
Unternehmungen und Siedlungen dem gänzlichen Versiegen der Einwanderung
vorgebeugt hätten. Die Arbeit dieser beiden kolonisatorischen Unternehmungen
ist gleichwohl undankbar genug geblieben, denn die Zahl der Personen, die
sich wirklich in deren Siedlungen niedergelassen haben, ist noch geringer als
die schon so geringe Zahl der deutschen Einwandrer.
Übrigens ist es interessant, zu vernehmen, daß sich allen vorliegenden Be¬
richten zufolge eine feindselige Stimmung der riogrcmdenser Bevölkerung gegen
das Deutschtum nicht feststellen läßt. Die ganze Landbereinigung und die sie
begleitende Deutschenhetze sind also auf Rechnung einer Anzahl Nativisten zu
setzen, die in den Nepartitionen der Staatsregierung maßgebenden Einfluß aus¬
üben. Die ausgeraubten Kolonisten sind, wie schon erwähnt worden ist,
durchweg Deutschbrasilianer, d. i. meist geborne, teilweise naturalisierte Landes¬
bürger. Das Deutsche Reich, die deutschen Konsulate konnten und können
also nichts für die Leute tun. Die reichsdeutsche Presse aber wird nicht ver¬
fehlen, sich der geschädigten Sprach- und Stammgenossen anzunehmen und
das raubsüchtige Beamtengelichter, das sie um ihre sauer erworbnen Ersparnisse
bringt, der Verachtung der Welt preiszugeben.
7)^^Q?!is die russischen Waffen jüngst in der Mandschurei fortwährend
vom Unglück verfolgt wurden, sind mit Recht neben vielem andern
auch die fehlerhaften Anschauungen über Kriegführung im großen
und die veraltete Taktik als Ursachen bezeichnet worden, die den
I Niedergang der stolzen Kriegsmacht des Zarenreichs verschuldet
haben. Wo immer eine Armee auf den Schlachtfeldern unterlag, ist die Ursache
neben fehlenden moralischen Eigenschaften, innern Schäden und schlechter Be¬
waffnung in der mangelhaften Schulung der Führer und der Truppe zu suchen,
so 1870 bei den Franzosen, 1866 und zum Teil auch 1859 bei den Österreichern,
so vor allem 1806 bei der preußischen Armee. Über diesen ihren einzigen un¬
glücklichen Wassergang, der jetzt um hundert Jahre zurückliegt, sind kürzlich zwei
Veröffentlichungen von großer Bedeutung erschienen. General der Infanterie
Freiherr von der Goltz hat eine Neubearbeitung seiner 1883 erschienenen
Schrift: „Roßbach und Jena" herausgegeben, und die Kriegsgeschichtliche Ab¬
teilung II des Großen Generalstabs hat unter dem Titel: „1806. Das
preußische Offizierkorps und die Untersuchung der Kriegsereignisse" die wichtigsten
Akten der nach dem Kriege eingesetzten Jmmediatuntersuchungskommission ver¬
öffentlicht.
Die Skizze „Roßbach und Jena" ist von ihrem Verfasser nunmehr zu
einem Buche ausgestaltet worden, das unter dem Titel: „Von Roßbach bis
Jena und Auerstedt" eine Darstellung der gesamten hierin einbegriffnen Zeit
enthält. Das Bild der alten preußischen Armee ist durch einen Überblick über
die Feldzüge zwischen dem siegreichen siebenjährigen und dem unglücklichen
Kriege vervollständigt worden. Die Armee und alle Gebildeten unsers Volkes
schulden dem General von der Goltz Dank dafür, denn die geschichtlich treue
erweiterte Studie gewährt dem Leser in weit höherm Maße einen Einblick
in die Verhältnisse des alten Staats und seiner Armee, als es ehedem die
^app gehaltne Skizze vermochte. Das Buch enthält eine ernste Mahnung°und für unsre ^eit. indem es nachweist, daß die ganze Entwicklung des ge¬
samten preußischen Staats- und Volkslebens gegen Ende des achtzehntenJahr¬
hunderts und nicht eine einzelne Erscheinung, nicht der Zustand der Armee
das Unheil heraufbeschworen hat. Möchten wir davor bewahrt bleiben, daß
die Worte des Verfassers auch auf uns einmal Anwendung finden: „Em altes
erschütternder Schlag mußte kommen, um Negierung und Volk aus einem
Dämmerzustande aufzurütteln und dem Staatswesen ein neues «eben einzu¬
hauchen." Die Gründe, die zu der Katastrophe von Jena führten, faßt General
v°n der Goltz zum Schluß in die nicht minder beherzigenswerten Worte zu¬
sammen: „Nicht junkerlicher Übermut und aristokratische Verstocktheit führten
Preußen von Roßbach nach Jena und Auerstedt. sondern die schwächliche Politik
^nes Friedens um jeden Preis, selbst um den der nationalen Ehre, die ver¬
ästelte Auffassung der Kriegführung, die Einwirkung des sachter Au-
Gärung, falscher Humanität. Genuß- und Selbstsucht entarteten
°s Heer, das des Kriegsfeuers entbehrte und nedensselig geworden war
dessen gedrückte Lage und die Schen. im Kriege die sich ^elenden Mit l
rücksichtslos zu gebrauchen, ferner die Zurückhaltung des Königs, die Sorge
em Lande zu mißfallen oder es zu belasten, die aus angMcher G w sser
haftigkeit entsprungne übertriebne Sparsamkeit ^lich eine ^Vergangenheit die sich auf Äußerlichkeiten richtete, nicht auf das Wesen der
^ache, und die allmählich das Urteil trübte."
Die Veröffentlichung des Generalstabs gewährt uns "n^die Stimmung eines geschlagner Heeres und die bli^ Wirwn
der Massensuggestion. Keine andre Armee besitzt auf ^eher Ge^ähnliches. Ma muß die ergreifenden Schilderungen der Aiuzen engen der
großen Katastrophe, insbesondr des damaligen Majors von der Marwitz. nach-
lesen, wenn man die Kriegsereignisse von 1806 mit ihren unheilvollen Folgen
verstehn will. Sowohl aus dem in knapper und schöner Sprache geschriebnen
Text, der den Urkunden vorangestellt ist, wie aus den abgedruckten Akten der
Tribunale erkennt man, welche Tüchtigkeit und welcher sittliche Ernst dem viel-
geschmähten Offizierkorps des Unglücksjahres eigen waren. Es konnte ja auch
nicht anders sein, denn nur so erklären sich die Siege von 1813, zu denen
dasselbe Offizierkorps wenig Jahre später Preußens Heer und Volk geführt
hat. Nur echte deutsche Gewissenhaftigkeit, wenn man will, preußische Pedanterie
konnte in solcher Weise, wie es hier geschehen ist, den Ursachen des Mißgeschicks
bis ins einzelne nachgehn. Es ist bei den Untersuchungen unter den er¬
schwerendsten äußern Umständen in verhältnismäßig kurzer Zeit eine ungeheure
Arbeitslast bewältigt worden. Allen voran bewies König Friedrich Wilhelm
der Dritte in seiner gewissenhaften Weise, wie ernst es ihm um die Sache war.
Würdiger und zugleich gewichtiger als es durch dieses Werk des General¬
stabs geschieht, konnte den Verdächtigungen, die, anknüpfend an die Ereignisse
des Jahres 1806, von der Armee feindlichen Kreisen auch jetzt geflissentlich
ausgestreut werden, nicht begegnet werden. Daß diese Kreise eines bessern
belehrt werden könnten, glauben wir freilich nicht, denn sie widersetzen sich
dem absichtlich. Die beiden erwähnten Werke ergänzen einander vortrefflich,
sie geben uns vereint ein Bild der alten Armee, wie es getreuer nach hundert
Jahren nicht gezeichnet werden kann. Sie zeigen andrerseits den Zusammen¬
hang zwischen der friderizianischen und der durch Scharnhorst reorganisierten
Armee. Ein Gegensatz zwischen beiden ist in so hohem Maße, wie vielfach
behauptet worden ist, gar nicht vorhanden gewesen. Ganz abgesehen davon,
daß das Offizierkorps von 1813 dasselbe war wie das von 1806, ist Scharnhorst,
so gewiß er der Organisator des Volkes in Waffen war, keineswegs der
Milizschwärmer gewesen, als der er von der sozialdemokratischen Seite immer
ausgegeben wird. Scharnhorst hat immer nur eine Miliz neben dem stehenden
Heere, zu dessen Verstärkung und für Kriegszwecke zweiter Ordnung, nicht an
Stelle des stehenden Heeres befürwortet. Auch die Landwehrorganisationen
von 1813 waren in diesem Sinne gedacht. Sie entsprangen dem Gebote der
Not ebenso wie die Einrichtung der Krümper, der nach flüchtiger Ausbildung
beurlaubten Mannschaften. Dieses sogenannte Krümpersystem hat übrigens in
den fünf Jahren von 1808 bis 1812 die Kriegsreserve von 100000 Mann,
mit deren Hilfe es 1813 möglich wurde, die Armee mit einem Schlage zu
verdreifachen, nicht schaffen können, sondern die Kricgsreserve bestand über¬
wiegend aus Mannschaften, die ihre Ausbildung noch in der alten Armee er¬
halten hatten.
Die beiden neuesten Veröffentlichungen über den unglücklichen Krieg vor
hundert Jahren bestätigen durchaus die Auffassung, daß der Hauptgrund der
Niederlagen im freien Felde doch eigentlich darin zu suchen ist, daß die über¬
kommene Kriegsweise des achtzehnten Jahrhunderts vor der neuen Napoleons,
des Schöpfers des modernen Krieges, versagte. Es ist immer viel von der
Verblendung des damaligen preußischen Offizierkorps die Rede gewesen, und
sie wird auch dem heutigen immerfort noch vorgehalten, nicht um es zu ernst¬
hafter Selbstprüfung aufzufordern, sondern um es zu schmähen. Eine gewisse
Verblendung ist damals allerdings vorhanden gewesen, aber will man gerecht
sein, so muß man das im Menschen vorhandne Beharrungsvermögen gebührend
berücksichtigen. Die Lehre, die das Beispiel von 1806 bietet, liegt denn auch
weniger in der Warnung vor Überhebung als in der Mahnung. ,ich dauernd
une gesunde Anpassungsfähigkeit zu erhalten. Welchen Nutzen solche gewahrt,
haben uns neuerdings die Japaner bewiesen. Es ist gewiß em schone» Ding
um gute Traditionen, und sie sind unentbehrlich für das feste Gefüge. dessen
eine Armee bedarf; auch die Japaner halten die Überlieferungen ihrer ritter¬
lichen Samuraigeschlechter hoch, aber dort, wo die Tradition nicht lebendig
fortgebildet wird, wo sie, wie in der preußischen Armee von 1806. der
Starrheit verfällt, ist sie vom Übel.
Diese Starrheit stand damals jedoch in engem Zusammenhange mit dem
ganzen Aufbau des Staats und mit der Art der Heeresergünzung. General
von der Goltz zeigt, wie diese Armee nicht nur äußerlich glänzend war. sondern
d°ß auch reges geistiges Leben in ihrem Offizierkorps herrschte Er beton.
daß gerade in der Verborgenheit der Ursachen des Zusammenbruchs eme ernste
Warnung liege Geistige Schulung war tatsächlich im damaligen preußischen
Offizierkorps weit mehr vorhanden als im französischen. Dort aber hatte sich
das schöpferische Genie Napoleons zur Geltung gebracht, dessen ganze Große
»se dann hervortritt, wenn man bedenkt, was die Revolutionsarmeen bisher
gleistet hatten. Ihre Erfolge hatten sie wesentlich der Uneinigkeit der Ver¬
bündeten zu danken gehabt. Eigentliche Offensivkraft im großen, die Fähigkeit,
den Feind im eignen Lande aufzusuchen und dort dauernde Erfolge zu erringen
hatten sie nicht gezeigt. Die Niederlande hatte ihnen die österreichische Politik
schließlich halb freiwillig preisgegeben. Die Beweglichkeit der französischen
Armeen war durch den Wegfall des Trosses, mit dem sich die alten Minen
beluden. sowie die Gliederung in gemischte Divisionen mis allen Waffen
wesentlich erhöht worden; diese Einrichtung aber führte bei den ungeübten
Führern auch wieder .ur Zersplitterung der Kräfte, zu übertrieben großen
Ausdehnungen und venit zu r!in frontalen, entscheidungslosen Kämpfen In
solchen hatten sich denn anch die Preußen, wo sie am Rhein -me den Re^publikanern zusammenstießen, diesen durchaus gewachsen gezeigt und e t^as nicht zur wenigsten dazu bei. den Glauben der Armee an ihre innere
ondaß Napoleon dahin über doch der ^genugsam Gelegenheit gegeben hatte, seine Fe dherrneigen chaften und e
neuen Antriebe in der Kriegführung. die von ihm "Usgm^Es darf aber nicht übersehen werden, daß er seine Erfolge von 1796 und
G
1800 in Italien, so glänzend sie waren, doch nur an der Spitze von ver¬
hältnismäßig kleinen Armeen gegen ebensolche auf einem entsprechend be¬
schränkten Kriegsschauplatz errungen hatte. Der Charakter der neuern Krieg¬
führung offenbarte sich recht eigentlich erst im Jahre 1805. Hier finden wir
zuerst unsre modernen großen Schlachtenkörper in den aus mehreren Divisionen
bestehenden Armeekorps und den Kavalleriedivisionen, deren Masse Napoleon,
bei voller Wahrung der Flüssigkeit der Organisation, in das große Korps der
Kavalleriereserve zusammenfaßte. Damit war unter Beibehalt der vollen Be¬
weglichkeit, die die Armeen der Republik ausgezeichnet hatte, bei geschickter
Führung der Zusammenhalt der Massen und deren Einsatz an der ent¬
scheidenden Stelle ermöglicht.
Schon diese Organisation verlieh Napoleon ein großes Übergewicht wie
1805 den Österreichern, so 1806 den Preußen gegenüber, da diese noch an
der alten starren linearen Kampfform festhielten. Wohl bestand sie nicht mehr
unbedingt, vielmehr hatte die Fechtweise der Franzosen auch ihre Gegner ge¬
zwungen, sich mehrfach zu teilen. Diese suchten dem aber durch Entsendungen
zu entsprechen, gaben damit ihre Kräfte zum Teil aus der Hand und büßten
das Schlagartige ein, das die alte Taktik der eng geschlossen gehaltnen Armee
an sich gehabt hatte, ohne den Vorteil organisch gegliederter Schlachtenkörper
dafür einzutauschen. Allerdings war auch bei der preußischen Armee eine Ein¬
teilung in gemischte Divisionen getroffen, sie konnte sich jedoch, da sie erst
während des Aufmarsches in Thüringen vorgenommen wurde, nicht mehr ein¬
leben. Die Generale waren in der Führung dieser großen Schlachtenkörper
nicht geübt, und solche hatten nebenbei den Nachteil, daß die zahlreiche und
tüchtige Kavallerie auf die einzelnen Divisionen zersplittert wurde.
Nicht nur auf diesem Gebiete waren jedoch die Preußen ihren Gegnern
unterlegen. Ihre Führer waren — und das ist durchaus natürlich — noch
völlig befangen in den Vorstellungen der gelehrten Strategie, wie sie nach
dem siebenjährigen Kriege aufgekommen war, die sich in selbstgefälligen
Theorien voll mathematischer Abstraktionen sowie gekünstelter Überschätzung
des Geländes erging und darüber den Blick für das Einfache und Natürliche,
das allein im Kriege Wert hat, verlor. Bei den Franzosen aber hatte die
langjährige Kriegspraxis in hohem Maße die Fähigkeit entwickelt, sich mit
Schwierigkeiten aller Art abzufinden. Sie verstanden es, sich geschickt dem
Gelände anzupassen, sie waren an rasche Entwicklungen, wie sie der Bewegungs¬
krieg fordert, gewöhnt. Abgesehen von der Anwendung der Kolonnen auch
im Gefecht, war aber die niedere Taktik bei den Franzosen der preußischen
keineswegs so sehr überlegen, wie es meist dargestellt worden ist. Gewiß,
ihre Tirailleurs waren den schwerfälligen geschlossenen Linien der Preußen
sehr lästig, das Schützengefecht wurde bei der Masse der preußischen Truppen
zu wenig angewandt, aber entscheidend war das auf dem Schlachtfelde nicht.
Man muß sich immer vorhalten, daß das Plüntlerfeuer zur Zeit des glatten
Vorderladergewehrs kein Schützengefecht im heutigen Sinne war, in dem die
Schlachten durchgefochten werden. Bei vermehrter Energie auf der preußischen
Seite wäre sowohl bei Vierzehnheiligen als bei Auerstedt sehr wohl noch ein
augenblicklicher Erfolg zu erringen gewesen. Man denke nur an den sieben¬
jährigen Krieg, an die Erstürmung des Dorfes Leuthen durch Möllendorff.
Auch die Bewaffnung war 1806 auf beiden Seiten fast gleich. Die Ursache
der napoleonischen Siege lag sonach nicht auf diesem Gebiet, auf dem in den
Kriegen der neusten Zeit weit häufiger große Unterschiede zwischen den Gegnern
Zu verzeichnen gewesen sind. Im Jahre 1859 in Oberitalien verfügten die
Österreicher über ein dem französischen überlegnes Gewehr, die Franzosen führten
jedoch schon gezogne Geschütze, die Österreicher noch glatte. Im Jahre 186b
war dagegen die österreichische Artillerie mit ihren durchweg gezognen Rohren
gegenüber der erst zum Teil mit solchen ausgestatteten preußischen sehr im
Vorteil. Dafür zeigte sich auf den böhmischen Gefechtsfeldern zuerst der große
Vorteil des Hiuterladergewehrs. so wenig das damalige preußische Zündnadel¬
gewehr auch heutigen Anforderungen an eine gute Infanteriewaffe entsprach.
Wenn sich das Zündnadelfener als so verheerend erwies, so hat dabei freilich
die österreichische Taktik nicht unwesentlich angesprochen. Die Erfolge, die
den Franzosen 1859. begünstigt durch die Beschaffenheit des obentakem chen
Kriegsschauplatzes, im ungestümen Draufgehn zugefallen warm hatten aus der
österreichischen Seite zur Annahme einer vollkommnen Stoßtaktik geführt, ^hre
dichten Kolonnenanqriffe brachen dann 1866 sämtlich im Feuer der preußischen
Hinterladergewehre zusammen, sodaß der nach der Schlacht von Kömggrätz im
preußischen großen Hauptquartier als Parlamentär eintreffende Feldmarschall¬
leutnant von Gablcnz äußerte: ..Wer einmal im Feuer gegen euer Zünd-
nadelgewehr gewesen, ist nicht wieder hineinzubringen." Und derselbe tapfere
General mußte noch drei Wochen nach der Niederlage bekennen, daß sem in¬
zwischen völlig ausgeruhtes Korps wohl noch in der Verteidigung zu brauchen
sein würde, daß ihm aber jede Offensivkraft fehle. Umgekehrt hat die preußische
und mit ihr die gesamte deutsche Infanterie 1870/71 zu empfinden gehab .
was es bedeutet, mit einem unterlegnen Gewehr von geringer Schußweite
gegen ein an Ladeschnelligkeit und Tragweite überlegnes zu fechten. Zu ihrem
Glück glich die bessere Artilleriebewaffnung und deren bessere Verwendung auf
der deutschen Seite den schweren Nachteil wenigstens zum Teil aus.
In allen diesen Kriegen hat die Bewaffnung wesentlich mi^esprochen
und es wäre ein schwerer Fehler, wollte man den Einfluß den d:e T esu
unsrer Zeit an die Kriegführung gewonnen hat. ""^^1^^. nee
Ausschlag geben doch andre Dinge. Das hat noch Mg t der r ssisch-
japanische Krieg, in dem die Mittel moderner Technik in weitem Maße An-
wendun fanden schlagend bewiesen. Wie zu König Fnewchs und Napoleons
Zeit entscheiden noch lente: die Güte der Organisation f H^. d^ Ge¬
schick der Führung und vor allem die moralischen Eigenschaften in Volk und
Heer. Diese Mittel sind das eigentlich Bleibende einer erfolgreichen Krieg¬
führung. Clausewitz sagt (Vom Kriege. Skizzen zum L.Buch, 3. Kapitel L):
„Jede Zeit hat ihre eignen Kriege, ihre eignen beschränkenden Bedingungen,
ihre eigne Befangenheit", und an andrer Stelle (Vom Kriege, 2. Buch,
3. Kapitel): „Der Krieg ist ein Akt des menschlichen Verkehrs, er gehört nicht
in das Gebiet der Künste und Wissenschaften, sondern in das Gebiet des
gesellschaftlichen Lebens. Er ist ein Konflikt großer Interessen, der sich blutig
löst." Solche Konflikte großer Interessen sind im Laufe der Zeiten aus sehr
verschiednen Anlässen entstanden und haben sich dementsprechend sehr ver¬
schiedenartig geäußert. Auf die Kabinettskriege des achtzehnten Jahrhunderts
folgten solche, die vorzugsweise in nationalen Ausdehnungsbestrebungen und
in ihrer Abwehr sowie in dem Streben nach nationaler Einigung ihren'Grund
hatten. An ihre Stelle traten in der neusten Zeit Kriege, in denen die nationalen
Leidenschaften durch das Vorhandensein wirtschaftlicher Gegensätze entflammt
waren. Schon der große amerikanische Sezessionskrieg hatte seine eigentliche
Wurzel in dem wirtschaftlichen Gegensatz zwischen dem Norden und dem
Süden der Union. Die Frage der Sklavenemanzipation diente nur als Aus¬
hängeschild. Will man darum das Bleibende und Vergängliche in der Führung
eines einzelnen Krieges richtig würdigen, so muß man, um mit Clausewitz an
der zuerst angeführten Stelle zu sprechen, „die Begebenheiten jeder Zeit mit
Rücksicht auf ihre Eigentümlichkeiten beurteilen, und nur der, welcher nicht
sowohl durch ein ängstliches Studium aller kleinen Verhältnisse als durch
einen treffenden Blick auf die großen sich in jede Zeit versetzt, ist imstande,
die Feldherren derselben zu verstehn und zu würdigen".
Darum müssen wir uns hüten, nicht durch „ein ängstliches Studium aller
kleinen Verhältnisse" des Krieges in der Mandschurei falsche Schlüsse aus dem
eigentümlichen Verlauf dieses Krieges, der sich als ein fortgesetzter großer
Stellungskampf kennzeichnet, auf den voraussichtlichen Verlauf künftiger euro¬
päischer Kriege zu ziehen. Es gilt das auch für die Bedeutung, die der Seemacht
in einem solchen zukommen wird. Daß sie in dem Kampfe um die Vorherrschaft
in Ostasien von ausschlaggebender Bedeutung war, ergab sich einfach daraus, daß
die Operationen zu Lande von Japan nur durchführbar waren, solange es die
nnbestrittne Herrschaft zur See besaß, und daß andrerseits die Vernichtung seiner
letzten Flotte den Kampf für Rußland im Grunde gegenstandlos machte, denn
die Vorherrschaft in Ostasien war ohne Seegeltung nicht aufrecht zu erhalten.
Gewiß ist jeder Staat, der Welthandel treibt, und der eine Weltmachtstellung
erstrebt, zu einer Achtung gebietenden Rüstung zur See genötigt; er darf auf
diesem Gebiet nicht völlig ausscheiden; aber nur England ist vermöge seiner
besondern Verhältnisse in der Lage, fast allein seiner Flottenrüstung zu ver¬
trauen. Ganz abgesehen von der Möglichkeit, daß für die übrigen europäischen
Großmächte immer Verwicklungen rein kontinentaler Natur eintreten können,
ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß überseeische Jnteressengegen-
Sätze auf europäischem Boden ausgetragen werden. Wenn schon der sieben¬
jährige Krieg, so sehr er seinen Ursprung von dem Gegensatze zwischen Preußen
und Österreich nahm, doch eigentlich dadurch angefacht wurde, daß die Funken
des englisch-französischen Seekrieges um Amerika nach Europa übersprangen,
wie viel eher lassen sich ähnliche Lagen zu unsrer Zeit denken, wo uns auch
die fernsten Länder so viel näher gerückt sind, sodaß ein Torpedoschuß, der
in einer Winternacht vor Port Arthur abgefeuert wurde, sich in allen Zentren
des europäischen Verkehrs fühlbar machte.
Weder in der Bedeutung der Seemacht noch in den Formen des Land¬
krieges scheint uns sonach der russisch-japanische Krieg eine neue Ära in der
Kriegführung zu eröffnen. Die Grundsätze Napoleons, die Moltke fortent¬
wickelt hat, behalten nach wie vor ihre Geltung, nur bedürfen sie der Anpassung
an die Stärkeverhältnisse heutiger Heere und an die Wirkung heutiger Feuer¬
waffen. Dieselben Grundbedingungen des Erfolges wie im Kriege 1806 sind
auch noch heute maßgebend. Zwar ein Genie wie Napoleon können, wir nicht
suchten, aber auch hier gilt ein Wort von Clausewitz: ..Was das Genie tut,
muß gerade die schönste Regel sein, und die Theorie kann nichts besseres tun.
"is zu zeigen, wie und warum es so ist." (Vom Kriege, 2. Buch. 2. Kapitel.)
Moltke aber äußerte 1862 (Der italienische Feldzug des Jahres 1859): „Es
gibt Feldherren, die keines Rates bedürfen, die in sich selbst erwägen und
beschließen; ihre Umgebung hat nur auszuführen. Aber das sind Sterne
erster Größe deren kaum jedes Jahrhundert aufzuweisen hat. ^n den aller¬
meisten Fällen wird der Führer eines Heeres des Beirath nicht entbehren
wollen. Dieser kann sehr wohl das Resultat gemeinsamer Erwägung einer
kleinern oder größern Zahl von Männern sein, deren Bildung und Erfahrung
sie vorzugsweise zu einer richtigen Beurteilung befähigt."
Nach diesem Grundsatz ist der Feldmarschall auch später im Kriege ver¬
fahren. Er war sich bewußt, daß sich in den großen Heeren unsrer Zeit die
Einheit des leitenden Gedankens nur bei voller Wahrung der Selbständigkeit
der Unterführer durchsetzen ließ. Diesen Schritt hat Napoleon nicht getan
und daran ist er mit gescheitert. Armeen von der Größe, wie er sie 1812
und 1813 im Felde stehn hatte, ließen sich von einer Stelle Nicht mehr leiten.
Auch dem Genie ist hier eine Grenze seines unmittelbaren Einflusses gesetzt
Nur mittelbar vermag die oberste Heeresleitung einzuwirken, und dafür, daß
sie das mit Erfolg kann, bürgt allein eine einheitliche tüchtige Schulung der
Stäbe, ein Durchdringen aller Führerstellen mit derselben gesunden und großen
Anschauung vom Kriege, wie sie die Japaner nach ihrem eignen Geständnis
von uns entlehnt und nach unsrer Art zur Geltung gebracht haben.
Ein Geschlecht, das sich solchen gesunden Anschauungen abgewandt hatte,
das. wie es 1806 der Fall war. um mit Fichte zu spreche.,. ..den wahrhaftigen
Krieg" verlernt hatte, mußte unterliegen. ..Vielfach haben die Zeitgenossen
- sagt General von der Goltz (a. a. O. S. 7. 8) - die Schuld an der
Niederlage lediglich den Befehlshabern aufbürden wollen. Man spricht so
oft von den tüchtigen Heeren, die nur schlecht geführt waren. Das mag zu¬
treffen unter Verhältnissen, wo im ganzen Heerwesen ein ursprünglicher
Naturalismus herrscht, also bei wilden oder halbwilden Völkern. Dort kann
eine angeborne Tapferkeit von fehlerhafter oder verständnisloser Leitung falsch
verwandt werden. Nicht so bei Kulturstaaten. Dieselben Kräfte, die hier
gute Truppen heranbilden, bringen auch brauchbare Führer an die Spitze.
Das eine ist ohne das andre nicht zu denken. Das Genie macht wohl insofern
eine Ausnahme, als es auch mit schlechten Mitteln Bedeutendes zu leisten
versteht. Im allgemeinen aber darf die Regel gelten, daß eine gute Armee
und gute Führung etwas Unzertrennliches sind, und daß sich die Verantwort¬
lichkeit des einen Teils von der des andern nicht sondern läßt."
In der Zeit der allgemeinen Wehrpflicht, wo im Kriege die Armee das
Volk in Waffen darstellt, aber möge die ganze Nation der Worte von
Clausewitz eingedenk sein, die General von der Goltz als Motto seinem Buche
voranstellt, und die demnächst auf dem Breslauer Clausewitzdenkmal ihren
Platz finden werden: „Nur wenn Volkscharakter und Kriegsgewohnheit in
bestündiger Wechselwirkung sich gegenseitig tragen, darf ein Volk hoffen, einen
festen Stand in der politischen Welt zu haben."
as Unterhaus gibt seine Willensmeinung kund in Oräsrs und
Kösollltions. Die Resolution wird durch die Zustimmung des
Oberhauses Gesetz <Ave ok ?s.r1ig,iri6iir. Die Zustimmung des
Königs ist selbstverständlich und reine Form. Das Oberhaus
hat nur noch die Macht, durch Verweigerung seiner Zustimmung
zu hemmen, seitdem, wie Redlich es ausdrückt, die Whigoligarchie, nachdem sie
in der zweiten Revolution eine neue Dynastie eingesetzt hatte, es zweckmäßig
gefunden habe, ihre politische Macht nicht im Oberhause, sondern im Houss ot
Lominons zu betätigen). Durch die Gesetze, die das Haus aus diese Weise
erläßt, wirkt es nach außen. Orders, Befehle, erteilt es seinen Mitgliedern,
seinen Kommissionen und sich selbst zu dem Zwecke, den Geschäftsgang so zu
ordnen, daß es seine Arbeit ungestört und glatt zu verrichten vermag. Die
Orders sind teils Lössiorml Oräsrs, die für die eröffnete Sitzung Komitees ein¬
setzen, den Termin von Nachwahlen anordnen usw., teils 0r6ör8 ok tus as^,
die das Arbeitspensum des Tages bestimmen, teils 8tanäix>hö Oräsrs, die für
alle Zukunft gelten, so lange sie nicht abgeändert werden. Die bei verschiednen
Anlässen im Laufe des vorigen Jahrhunderts beschlossenen Swnäwss 0r<1srs
machen uun eben das aus, was wir Geschäftsordnung nennen. Eunge davou
enthalten Disziplinarvorschriften. Die Disziplin des Unterhauses aber wurzelt
nicht in ihnen, sondern sie sind selbst nur Folgerungen aus der dem englischen
Naturell und der Natur des Hauses angemessenen und auf dem Wege des
Gewohnheitsrechts seit Jahrhunderten ausgebildeten Disziplin. Das Unterhaus
war bis vor wenig Jahren „der feinste Kind"; damit war - stürmische Aus¬
tritte in großen Krisen abgerechnet - für gewöhnlich ein ruhiger Verkehr in
aristokratischen Umgangsformen gesichert. Die Beschaffenheit und die Ein¬
richtungen des Sitzungssaals und die festgewurzelten Bräuche erleichterten die
Aufrechterhaltung einer guten Ordnung. Der Saal, ein Rechteck, enthalt nur
ungefähr vierhundert Sitzplätze, sodasz also eine vollzählige Sitzung gar nicht
'"vglich ist. Die Abgeordneten sitzen auf sechzehn Reihen von Bänken, die so
gestellt sind, daß die Opposition, die links vom speaker sitzt, den Herren der
rechten, der Negiernngsseite. ins Gesicht sieht. Getrennt werden die beiden
Parteien durch den Mittelgang, der vom Eingange zum Tische des Hauses
führt, hinter dem der speaker thront, und der immer frei bleiben muß. (Das
einzige, was wir in Nedlichs Buch vermissen, ist ein Plan des Sitzungssaals,
der für das vollkommne Verständnis mancher Einzelheiten notwendig ist. Die
Leser finden einen in dem Buche „England" von G. Wendt. zweite Auflage.
1898. das wir seinerzeit empfohlen haben. Es enthält auch das Notwendigste
über den Geschäftsgang der Parlamentsverhandlungen, kann aber seiner ganzen
Anlage uach weder vollständiges bieten noch tiefere Einsicht erschließen.) Die
Abgeordneten haben keine Pulte vor sich, können also nicht schreiben und anch
kein Lesematerial anhäufen, haben übrigens keine festen Plätze (bis vor kurzem
mußte, wer sich einen für den Tag sichern wollte, ihn vor Beginn der Sitzung
nur einem Hute belegen, und zwar mit dem voila Las-Hute, d. h. mit dem,
den das Mitglied wirklich als Kopfbedeckung auf dem Kopfe getragen hatte,
nicht etwa mit einem zweiten, bloß zum Platzhalten mitgebrachten). Lesen
während der Sitzung ist als unanständig verpönt. Der Sitzungssaal und die
Verhmidluugszeir können also nicht zu Verrichtungen gemißbraucht werden, die
N"'t dem Zwecke der Versammlung nichts zu schaffen haben und die an steh
'et)°n die Verhandlung stören. Fremde werden natürlich im Schungsramne
uicht geduldet, und die Galerien fassen nur eine sehr geringe Zahl von Z -
Hörern. Die Öffentlichkeit ist grundsätzlich ausgeschlossen und auch nach
die Veröffentlichung von Auszügen der Park°in-ntsverhan klingen nach ^Streit darüber erlaubt wordeu ist, hat man Mer Grundsatz n ^ ° "^l -
ändert. Bis zum Jahre 1875 mußten die Galerien genuine werden, wenn
ein Mitglied erklärte, es habe „Fremde im Hause erspäht". Bei den Ver¬
handlungen herrscht das strengste Zeremoniell. Es existiert keine Rednerliste.
Wer sprechen will, steht auf und sucht w LateK ins s^s ok los LvsaKsr.
Dieser benennt den, den er zuerst hat aufstehn sehen, und läßt immer ab¬
wechselnd einen für und einen gegen den Antrag sprechen. Der Redner spricht
von seinem Platze, zum speaker gewandt, den er anredet. Zwischen ihm und
dem speaker — etwa im Quergange, der die Bankreihen in eine obere und
eine untere Abteilung scheidet — darf sich niemand bewegen. Jeder Abgeordnete
darf nur einmal sprechen und darf nicht unterbrochen werden. Weder ein
Zwiegespräch ist möglich noch Anhäufung der Abgeordneten in Gruppen. Das
feierliche altmodische Zeremoniell verleiht der Verhandlung Würde. Vor dem
speaker, wenn er aus und ein geht, wird das Zepter einhergetragen, das, so¬
lange er seinen Thron einnimmt, auf dem Tische des Hauses liegt. Wer dem
speaker naht, hat sich ehrfurchtsvoll vor ihm zu verbeugen, und auch die
Einbringung eines Antrags, der vorher angemeldet und dann als Schriftstück
auf den Tisch des Hauses niedergelegt werden muß, vollzieht sich mit zeremoniöser
Feierlichkeit. Das Mitglied, das den Antrag auf Erwiderung der Thronrede
durch eine Adresse stellt, und das zweite, das ihn unterstützt, erscheinen beide
in Hoftracht. Für den Schriftwechsel der beiden Häuser und für die Formeln,
in denen der König mit dem Parlament verkehrt, ist die anglonormännische
Hofsprache gebräuchlich. ^ osseo bills g-vssMö ass amönclölliöiits los ssiAnsurs
saut Ässsnws, schreiben die Lords den Commons. Die Redefreiheit der Ab¬
geordneten ist keine Schimpffreiheit, und ihr Privileg, im Hause frei ihre
Meinung auszusprechen, schützt sie nicht, wenn sie Anfechtbares durch den Druck
außer dem Hause verbreiten. Gegen beleidigende oder gar hochverräterische
Äußerungen schreitet der speaker mit Rügen und Strafen ein. Doch bemerkt
Redlich: „Wer Entscheidungen aus den letzten drei bis vier Jahrzehnten im Zu¬
sammenhange liest, wird den Eindruck gewinnen, daß die Judikatur des Speakers
zwar sehr sorgfältig im Sinne des Schutzes persönlicher Ehre wirkt, daß aber
dennoch dem scharfen Worte, dem kräftigen Ausdruck der Überzeugung und der
für die parlamentarische Polemik bis zu einem gewissen Grade unentbehrlichen
persönlichen Aggression genügend Raum gelassen wird. Die neuere Praxis
des deutschen Neichstagspräsidiums, die sozusagen jeder kräftigen sprachlichen
Lebensäußerung im Hause mit dem Ordnungsruf entgegentritt, sticht dagegen
deutlich ab." Und läßt der Redner eine Rede, die Beleidigungen enthält,
drucken, so gilt diese Druckschrift als Ilidsl und kann als solches verfolgt
werden. Vollends unmöglich ist in England die Praxis österreichischer Ab¬
geordneter, konfiszierte Schmähschriften im Reichstage zur Begründung einer
Jnterpellation vorzulesen und sie dann als Bestandteil eines Parlamentsberichts
in die Öffentlichkeit zu bringen. Der speaker, dessen Amt seit 1377 urkundlich
bezeugt ist, nimmt eine Stellung ein, die ihm zwar außerordentlich schwierige
Verpflichtungen auferlegt, zugleich aber die Erfüllung dieser Pflichten durch
Unangreifbarkeit, Sicherheit und eine Fülle von Machtvollkommenheiten er¬
möglicht und erleichtert. Einmal gewählt, wird er in jeder folgenden Sitzung
wieder gewählt, so lauge, bis er aus Müdigkeit sein Amt niederlegt, worauf
")in 4000 Pfund Ruhegehalt und gewöhnlich die Peerswürdc als Belohnung
Zufallen. (Sein Gehalt beträgt 5000 Pfund; außerdem hat er Nebeneinnahmen
und Amtswohnung im Westminsterpalaste — nicht etwa bloß während der
'Parlamentssitzung. Besoldete Beamte sind außer ihm der LluürwÄn ok vom
untres, der zugleich als sein Stellvertreter fungiert, und ein zweiter Stell¬
vertreter, der voxut^ Lxsslcsr, dann die Clerks — deren oberster 2000 Pfund
ezieht —, der Kaplan, der täglich zum Beginn der Sitzung ein Gebet zu
sprechen hat, und der Exekutivbeamte des Speakers, der SsiZsant-At-^rins, der
N ^ voranträgt und auf seinen Befehl etwaige Widerspenstige mit
^rachialgewalt aus dem Saale entfernt oder verhaftet, auch außer dem Hause
erHaftungen vornimmt, und dessen Unterbeamte dem Hause als Boten zur
^erfügung stehn.) Der speaker leitet die Verhandlungen mit absoluter Un¬
parteilichkeit. Er darf niemals über den Inhalt eines Antrags oder eines
Mendements sprechen, sondern nur über das Formelle, was zur Erledigung
es Antrags gehört. Er darf nicht abstimmen, außer im Falle von Stimmen-
Weichheit, wo er den Ausschlag zu geben verpflichtet ist. Gleichviel, welcher
Partei er ursprünglich angehört hat und im Herzen noch angehört, seit seiner
-Hebung zum speaker ist er kein Parteimann mehr. Auch außer dem Hause
wuß er sich jeder parteipolitischer Kundgebung enthalten, darf z. B. nicht
mundlich in seinem Wahlkreise kandidieren. Dieser ist gleich ihm selbst während
Wner Amtsdauer dem politischen Tode verfallen. Er hat die Ehrenpflicht,
^u speaker wieder zu wählen, gleichviel, ob die Regierungsmehrheit, deren
ltglied ihr Abgeordneter bei seiner Erhebung gewesen ist, bleibt oder der
PPosition weicht. In den Grenzen seiner Befugnisse nun, die durch Gewöhn¬
et, 8tan<ZinA Oräsis und Präzedenzfälle gezogen sind, waltet der speaker mit
unumschränkter Machtvollkommenheit. Seine Entscheidungen sind inappellabel.
'gehorsame straft er mit Suspension, Ausstoßung und Gefängnis. Selbst-
erstündlich ist es im weniger gewalttätiger neunzehnten Jahrhundert nur sehr
?^"en zum Äußersten gekommen. Schwere Strafen darf der speaker zwar
wuner nur nach Befragung des Hauses verhängen, aber dessen Zustimmung
U ihm gewiß. Die Ablehnung eines Antrags, den er stellt, durch die Mehrheit
würde seine Absetzung bedeuten.
Seine Machtvollkommenheit ist bedeutend erhöht worden durch die Se-uKZivA
M ?^' denen Obstruktionsversuche den Anlaß und die der jetzt geltenden
Geschäftsordnung ihre Gestalt gegeben haben. Die Geschäftsordnung hat, wie
Name besagt, den Zweck, die glatte und ungestörte Erledigung der Ge-
chäste zu ermöglichen. Das Hauptgeschäft besteht in der Fassung von Be¬
schlüssen über Vorlagen, die als angenommen gelten, wenn die Mehrheit dafür
gestimmt hat. Der Wille der Mehrheit ist der Wille des Hauses, und der
G
Wille des Hauses ist der Wille des Volkes. Die Minderheit klagt nicht über
Vergewaltigung, denn die Meinungsnnterschiede reichen, mit Guizot zu sprechen,
nicht bis ins Herz der Staatsverfassung oder des Volkslebens, und die Minder¬
heit braucht sich nur in Mehrheit zu verwandeln, so kann sie das Gesetz, das
ihr nicht gefällt, wieder abschaffen oder ändern. Überdies ist für tair xlg.^
gesorgt. Die Leader beider Parteien verständigen sich über das bei der Ver¬
handlung einzuschlagende Verfahren, und Zufälle bei der Abstimmung sind
beinahe ausgeschlossen. Die Verhandlungen sind zwar immer schlecht besucht,
aber vor Abstimmungen wird durch kairinZ (Abpaarung) dafür gesorgt, daß
die Parteien im richtigen Verhältnis zu ihrer Stärke vertreten sind; für jedes
Mitglied der einen Seite, das in der entscheidenden Sitzung zu fehlen gedenkt,
muß sich ein Mitglied der Gegenseite zum Ausbleiben verpflichten. Auf
diese Weise wird der Zweck, in der fortlaufenden Gesetzgebung dem mit den
Bedürfnissen wechselnden Volkswilleu Ausdruck zu verleihen, so vollkommen
erreicht, als es auf dieser unvollkommnen Erde möglich ist. Voraussetzung
ist dabei, daß es einen solchen Volkswillen gibt. Und das ist in England
der Fall, bei der Masse wenigstens irnxlioite, d. h. die Masse würde jedem
einzelnen Akt zustimmen, wenn sie seinen Sinn verstünde; denn sie hat das
Vertrauen zu den leitenden Gesellschaftsschichten, daß diese des Landes Geschäfte
im ganzen vernünftig und gut erledigen, was alles in den kontinentalen Staaten
nicht der Fall ist, wo die Beschlüsse einer der Minderheit, die noch dazu eine
Zufallsminderheit sein kann, in Todfeindschaft gegenüberstehenden Mehrheit
unerträgliche Tyrannei für die Minderheit der Kammer und vielleicht für die
Mehrheit des Volkes bedeuten, und wo von einem Volkswillen (ausgenommen
etwa bei einem feindlichen Angriff von außen) keine Rede sein kann, weil
das Volk in Parteien zerfüllt, von denen jede etwas andres will. Hier ist
eine über den Parteien stehende starke Regierung nötig, die dafür sorgt, daß
nicht ein Teil des Volkes durch den andern vergewaltigt wird. Das englische
Unterhaus hat nun ebenfalls ein Element in sich, das in die mehrfach be¬
schriebe Parteiorganisation nicht eingegliedert ist, das beiden Parteien, ja
dem ganzen englischen Parlament und Volk in Todfeindschaft gegenübersteht.
Wir haben hier nicht zu untersuchen, wie weit die Engländer diese Feindschaft
verdient haben, und ob sie noch sittlich berechtigt, ob ihre Kundgebung noch
politisch klug war, als das englische Parlament schon begonnen hatte, früher
begangnes Unrecht durch Reformen in Irland nach Möglichkeit zu sühnen.
Hier haben wir uns nur klar zu machen, daß es die größte politische Torheit
gewesen sein würde, wenn sich das englische Unterhaus in seiner Tätigkeit
durch die Vertreter eines dem Staate zwar angegliederten, aber volksfremden
Teiles der Staatsangehörigen hätte lahm legen lassen, wenn sich der Wille
'des herrschenden Volkes dem des beherrschten gebeugt hätte. Nachdem schon
1833 O'Connell obstruiert hatte, versuchte es Ende der siebziger und Anfang
der achtziger Jahre die Home-Rule-Partei unter Parnells Führung. Montag
den 31, Januar 1881 wurde eine Zwangsbill für das rebellische Irland ein¬
gebracht. Die Iren zogen die Beratung bis Mittwoch Vormittag neun Uhr
hin. Da erhob sich der speaker Brand, nachdem er das einzuschlagende Ver¬
fahren mit dem Premier verabredet hatte, und sprach:
„Der Antrag auf Einbringung der Bill zur Beschützung von Leben und
Eigentum in Irland ist nun durch fünf Tage diskutiert worden. Die gegen¬
wärtige Sitzung hat am Montag um vier Uhr begonnen und bis heute, Mitt¬
woch, 41 Stunden lang gedauert, indem das Haus hauptsächlich mit Diskussionen
über dilatorische Vertagungsanträge hingehalten worden ist. So ist el« Krisis
entstanden, die das schleunige Eingreifen des Hauses erheischt. Die hergebrachten
Regeln der Geschäftsordnung haben sich als untauglich erwiesen, eine ordnungs¬
gemäße und sachliche Debatte zu sichern. Eine wichtige Regierungsmaßregel,
w der Thronrede vor beinahe einem Monat empfohlen und von der Mehrheit
des Hauses als dringend notwendig bezeichnet, ist durch die Tätigkeit einer
unbeträchtlichen Minderheit aufgehalten worden, deren Mitglieder zu den
Mitteln der sogenannten Obstruktion gegriffen haben, die vom Hause aus¬
drücklich als ein parlamentarisches Delikt bezeichnet worden ist. So wird die
legislative Kraft des Hauses gelähmt; ein neues Verfahren wird gebieterisch
gefordert. Demnach bin ich überzeugt, daß ich den Willen des Hauses zum
Ausdruck bringe, wenn ich kein Mitglied mehr zum Worte kommen lasse un»
sogleich über die Vorlage abstimmen lasse. Künftige Maßregeln zur Sicherung
einer ordnungsmäßigen Debatte muß ich dem Befinden des Hauses überlassen,
aber ich möchte hinzufügen, daß es notwendig ist. daß das Haus selbst eine
wirksamere Oberaufsicht über seine Debatten sich angelegen sem lasse oder dem
Vorsitzenden größere Machtbefugnisse einräume."
Am folgenden Tage wurden die 28 Iren, die sich den Entscheidungen des
Speakers widersetzten, mit Brachialgewalt aus dem Saale entfernt, und hierauf
eine Notstandsorder angenommen, wonach der speaker, wenn eine Regiernngs-
l'ni als dringend bezeichnet worden ist, darüber abstimmen lassen und weder
Debatten darüber noch Amendements oder einen Vertngungsantrag gestatten
soll. In den folgenden Tagen wurden sechzehn weitere Nules eingebracht und
angenommen, deren wichtigste die Clöture oder, wie die Engländer sagen. Closure
SU einer stehenden Einrichtung macht: der speaker kann jederzeit die Debatte
schließen, wenn eine Dreiviertelmehrheit dafür ist (nach einem spätern Beschluß:
wenn hundert Abgeordnete dafür stimmen). Dieselbe Einrichtung, auch parla¬
mentarische Guillotine genannt, wird für Committeesitzungen beschlossen Sie
wurde zu einer automatisch arbeitenden gemacht, indem noch bestimmt wurde
daß jede Sitzung um ein Uhr Nachts zu schließen sei, und d°ß T° Mit
Stunde festgesetzt werden könnten, an denen die Beratung einer Bill zu Ende
sein muß. ..
^..
Überhaupt wurde eine so genaue Zeiteinteilung beschlossen, daß ur willkür¬
liches Eingreifen einzelner Abgeordneten in den Gang der Beratungen fast
gar kein Raum mehr bleibt. Das Endergebnis der neuen Geschäftsordnung
besteht darin, daß nicht allein jeder Obstruktion, jeder ernstlichen Störung der
ruhigen Arbeit des Hauses vorgebeugt ist, sondern auch, „daß die Gesetzgebung,
sowohl was Initiative und Vorbereitung als auch die Durchdringung der Ge¬
setze betrifft, nahezu vollständig von der Regierung monopolisiert wird". Da
„die Regierung" nur der Vollzugsausschuß des Unterhauses ist, so liegt die
Zeit weit zurück, wo „Mißtrauen gegen die Regierung als die konstitutionelle
Kardinaltugend" galt. Mit der letzten Reform der Geschäftsordnung hat, wie
ein Redner in der Debatte die Änderung richtig bezeichnete, das Haus seine
Geschäfte vollständig in die Hand der Regierung gelegt. Die Geschäftsordnung
ist „aus einem Rüstzeuge der Volksvertretung gegen Krone und Regierung
zum politischen Rüstzeuge des Ministeriums geworden". Diese Geschäftsordnung
hat die Macht des Ministeriums und des Speakers außerordentlich gestärkt
und „dem einzelnen Abgeordneten, damit aber dem ganzen Unterhause von
seiner historischen Bedeutung und seiner Initiative viel genommen". Der Ne¬
gierung stellt die Reform erstens die meisten Sitzungen der Woche zur Ver¬
fügung. Das Haus hält Montags, Dienstags, Mittwochs und Donnerstags
je zwei Sitzungen ab: die Mittagsitzuug von 2 bis 7 Uhr 15 Minuten und
eine Abendsitzung von 9 bis 1 Uhr; Freitags eine sogenannte Morgensitzung
von 12 Uhr Mittags bis 6. Von diesen neun Sitzungen gehören sechs der
Regierung und nur drei (die Freitagsitzung und die Dienstag- und Mittwoch¬
abendsitzung) den Antrügen der Mitglieder und den krivats Lills. Nach
Ostern wird den Mitgliedern auch die Dienstagabendsitzung, nach Pfingsten
vollends die Freitagsitzung genommen. Zweitens ist die Erledigung des Budgets
an bestimmte Fristen gebunden, die als Guillotine wirken. „Früher, sprach der
Abgeordnete Gibson Bootes in einer Kommissionssitzung des Jahres 1902,
solange für die Beratung des Budgets keine Zeitschranke gesetzt war, konnten
der Regierung allerlei Zugeständnisse abgepreßt werden. Seit der neuen
Budgetordnung, die die Zahl der Budgetsitzungen bestimmt, stehn die Dinge
ganz anders. Jetzt kümmert sich die Regierung nicht darum, ob die Debatte
über einzelne Kapitel lange dauert oder nicht, denn am Ende der zwanzig
oder dreiundzwanzig Tage füllt die Guillotine automatisch, und die Minister
bekommen alle ihre noch ausstehenden Budgetforderungen bewilligt, gleichviel
ob sie diskutiert sind oder nicht; und dabei sind denn auch viele Budgetposten,
die einer Diskussion dringend bedurft hätten, aber keine erlangt haben-"
Drittens ist „dem Chef der Regierung als Leader des Hauses gewohuheits-
rechtlich die volle Verfügung über die Anordnung der im Laufe der Session
zu beobachtenden Reihenfolge der Parlamentsgeschäfte in die Hand gegeben,
und gerade in dieser Befugnis drückt sich die ganze Session hindurch das Ver¬
trauen der Mehrheit des Hauses aus". Wird die Mehrheit zur Minderheit,
dann erkiest eben die neue Mehrheit wiederum ihre Vertrauensmänner. Die
Frage ist nur, ob bei den Arbeitervertretern das Vertrauen zu den doch immer
der Aristokratie entnommnen Ministern (Ausnahmen bestätigen die Regel) ebenso
fest sitzen und wie hoch im Laufe der Zeit die Zahl dieser Arbeitervertreter an¬
schwellen wird. Einen Hemmschuh für das Anschwellen bilden allerdings die
Wahlkosten (nicht zu reden von der Diätenlosigkeit). Sie sind nicht mehr so
hoch wie früher, sind von 1.4 Millionen -F im Jahre 1869 auf etwas über
eine Million im Jahre 1885 gesunken. Aber noch muß der Kandidat nach
Vorschrift des Wahlgesetzes einen Betrag von 800 bis 1150 -F bei dem die
Wahl leitenden Beamten hinterlegen, ehe er rcchtsgiltig nominiert werden kann.
Vorläufig ist der jeweilige Premier noch der ungekrönte König Englands.
Man könnte sagen, daß es zwei ungekrönte Könige habe, denn der Souverän
im engern Sinne, das Unterhaus, läßt sich vom speaker beherrschen. Dieses
englische Unterhaus ist die glänzendste Illustration der Wahrheit, daß eme
Körperschaft, ebenso wie der einzelne Mensch, nur in dem Grade, wie sie sich
selbst beherrscht, befähigt ist. andre zu beherrschen.) ..Die Freiheit der Krone
in der Berufung des Premierministers »le jedoch keine unbeschränkte Freiheit
ist, da der Premier der Mehrheit entnommen und deren Vertrauensmann sem
wußt, die Teilnahme von Peers an der Zusammensetzung des Kabinetts sind
vielleicht die einzigen positiven, staatsrechtlich definierbaren Funktionen.^ mit
denen Lords und Krone den Commons gleichwertig an die Seite treten."
Nachdem wir uns so bemüht haben, den Sinn der Geschäftsordnung des
Unterhauses und damit ein gutes Stück vom Wesen des englischen Staates
klar zu machen, können wir nicht noch einen Abriß des Geschäftsganges und
der Arbeitsweise des Hauses zu geben versuchen, wie sich beide nach dieser
Geschäftsordnung gestalten. (Redlich widmet diesem Gegenstande 240 Zeiten
Wer nicht Zeit hat. sie durchzustudieren, dem können S. 121 bis 160 des
Buches von Wendt wenigstens einen Begriff davon geben. Allerdings ist
dessen Darstellung nicht ganz frei von Ungenauigkeiten. wie solche sich denn
überhaupt bei solcher Kürze nicht vermeiden lassen.) Doch wollen wir einige
Züge, die die Arbeit des englischen Unterhauses charakterisieren, wenigstens an¬
deuten. Wenn oben gesagt wurde, es dürfe ein Mitglied in derselben Sitzung
n«r einmal zu einer Vorlage sprechen, so gilt das nur von den Sitzungen,
die das Haus als Haus abhält. Aber von Zeit zu Zeit - eine höchst wunder¬
liche Einrichtung - konstituiert es sich als Ausschuß, als vommittse °k tue
"not. Ho^e. Der speaker verläßt seinen Thron, das Zepter wird unter den
Tisch gelegt, der Chairman übernimmt, ohne Amtstracht und an Tische sitzend,
den Vorsitz, und das Haus heißt um nicht mehr House, sondern Oommittse.
In.-.riethen Mitgliedern besteht wie das Haus,n dieser Kommission, die aus " ^ ergreifen darf,wird ordentlich debattiert, wobei tetes ^"gi ! vorgeschrieben.Diese Form ist zum Beispiel für die zwert Lesung ^ ^ommissions-die sich auf Steuern und Finanzen bezieh - durchberaten. Dasselbe ge-sitzung" werden solche Antrüge P^t »r H ^gM sind. EsWeht in den Loinmitwss. die Kommisstonen n ,
gibt zwei (Z-raunt LwucliiiZ Liommittöss, acht Lössicmal (üoinmittöss und eine
unbestimmte Zahl von Zslsot Loinrnittsss, die zur Vorberatung der einzelnen
Brivats Bills gewählt werden. Eines der 8sssioug,1 Lomniittsss, das Lominittse-
ok Lölövtion, hat diese Spezialansschüsse zu organisieren.
Die Verhandlungsgegenstände gliedern sich in die zwei großen Gruppen
der Budlio und der Brivs-es Bills. Die Bublicz Bills besorgen das Buhuo
Buswsss, schaffen das allgemeine Recht, die Briva-es Bills schaffen Partikular¬
rechte. Budli« Bills können auch von einzelnen Mitgliedern eingebracht werden,
aber seit der Umgestaltung der Geschäftsordnung geschieht das nur noch selten,
sodaß heute Buhlin? Bill beinahe gleichbedeutend ist mit Regierungsvorlage.
Das wichtigste Budlio Business ist natürlich das Budget. In die sehr ver¬
wickelten Einzelheiten der Budgeterledigung können wir nicht eingehn und er¬
wähnen nur zweierlei: daß die Mitglieder zwar die Herabsetzung, aber niemals
eine Erhöhung von Budgetposten beantragen dürfen, und daß nach Redlichs
Darstellung Gneist in keinem Punkte die englische Verfassung gründlicher mi߬
verstanden hat als in Beziehung auf das Budgetrecht des Unterhauses. Gneist
hat herausgefunden, daß ein selbständiges Ausgabenbewilligungsrecht der Volks¬
vertretung nicht bestehe, daß das Budget kein Gesetz, sondern dem Gesetze
untergeordnet sei, und daß die Finanzgebarung der Minister auf königlichem
Auftrage beruhe, nicht auf einer vom Parlament erteilten Vollmacht. Redlich
widerlegt diese drei Behauptungen und schließt seine Polemik mit den Sätzen:
„Seit 1688 hat die englische Krone mit den Staatsfinanzen nichts mehr zu
schaffen. Wenn Gneist immer wieder auf die großen Vollmachten hinweist,
die das Ministerium in Hinsicht auf das Budget besitzt, so ist ja die Erklärung
dafür gegeben worden: sie liegt in der fundamentalen Tatsache der parla¬
mentarischen Regierung. Aus diesem Grunde jweil die Regierung bloß der
Vollzugsausschuß des Hauses W ist ein Budgetkonflikt in England undenkbar;
aus diesem Grunde ist eine Vudgetverweigerung niemals vorgekommen, und
eben deshalb ist auch, wie Gneist unermüdlich und mit Recht betont, die Zahl
der von den Commons am Staatsvoranschlag vorgenommnen Abstriche seit
Jahrzehnten so gering, daß sie geradezu eine Seltenheit geworden sind. Das
ist eine sehr wichtige Tatsache, die auch immer wieder in England scharf
kritisiert wird. Aber nichts ist irriger, als wenn man diese Tatsachen dazu
benützt, die Grundlagen des englischen Staatsrechts zu leugnen, anstatt in
ihnen die Wirkungen der Parlamentssouveränität und deren Bestätigung zu
sehen. Budgetfragen sind in England längst keine Verfassungsfragen mehr."
Die Brivatö Bills, nicht zu verwechseln mit Bnvlio Bills, die von Brivaw
Nsindsrs eingebracht werden, haben Petitionen von natürlichen und juristischen
Personen: Gemeinden, Aktiengesellschaften, Genossenschaften zum Gegenstande.
Früher überwogen die Petitionen von natürlichen Personen. Die moderne
Entwicklung hat diese zurückgedrängt und dem Unterhause eine ungeheure
Arbeitslast aufgebürdet, indem es durch?rivg.es Bills genötigt wird, die immer
zahlreicher und verwickelter werdenden Gemeinde- und Verkehrsbedürfnisse zu
befriedigen. Man scheidet demnach diese Privatbills in solche, die das Verkehrs¬
wesen betreffen (Eisenbahnen, Kanüle, Häfen. Tramways, Wasserwerke usw.),
und in Lokal-, wir würden sagen Kommunalbills. Diese haben Friedhof¬
anlagen. Pflasterung, Beleuchtung, Polizei, Assanierung, Stadt- und Graf-
Ichaftsverwaltung, Verkuppelung, Drainierung und viel andres zu Gegenständen,
^e Arbeitslast ruht aber uicht auf dem Plenum des Hauses, das nur die
Formalitäten erledigt und dazu im Jahre 1902 z. B. von der ganzen Ver-
landlnngszeit nur 28 Stunden zu opfern brauchte, sondern auf den Mitgliedern
^ Spezialausschüsse. Von dieser Arbeitslast, die nicht allein eine Unmasse
an technischem Wissen, sondern auch richterliche Praxis erfordere und richter-
Verantwortung auferlege, mache man sich, meint Redlich, auf dem
ontinent kaum einen Begriff. Darin müsse aber auch eine der unzerstörbaren
wurzeln der politischen Kraft und der realen Macht des englischen Parla¬
mentarismus erkannt werden. In der verantwortlichen und mühevollen ^und
nvesoldeten!^ Tätigkeit des ?rivg.es LuswöW liege auch ein den kontinentalen
^olksvertretungen völlig fremdes ethisches Element des Parlamentarismus,
cum gerade diese im allgemeinen Staatsinteresse geübte Tätigkeit bringe dein
ageordneten das Gefühl seiner persönlichen Verpflichtung und Verantwortung
Zum Bewußtsein, das den innersten Kern des Verfassungslebens ausmachen
w^ß, „wenn die Verfassung nicht zur leeren Phrase, das Parlament nicht zu
!ner Arena ohnmächtiger Wichtigtuerei oder kleinlichen Gezänks werden soll."
Die Privatbillgesetzgebung ist etwas, das unser Verfassungsleben gar nicht
eure; sie ist nichts weniger und nichts andres als die Zentralverwaltung, die
er uns von den Fachministerien geübt wird. Gesetzgebung und Verwaltung
^"o in England nicht getrennt;"') die gesetzgebende Versammlung ist zugleich
e höchste Verwaltungsbehörde. Die Privatbillgesetzgebung wurzelt in der
y ^adanschanung des englischen Staatsrechts, „in der Grundregel von der
Alleinherrschaft des Rechts auf dem ganzen Gebiet alles öffentlichen Tuns,
er Lulg ok los 1^. Diese besagt, daß jede Anwendung öffentlicher Gewalt,
ö eichviel von welchem Staatsorgan sie geübt wird, auf spezieller gesetzlicher
^'"ächtigung beruhen muß. Diese Anschauung führte schon auf den frühern
utwicklungsstufen der englischen Rechtsbildung dazu, daß auch jeder einzelne,
er in Verfolgung seines Sonderinteresses über die Sphäre des ihm durch das
Mammon Law zugewiesnen privaten Rechtskreises hinausstrebte, zur Legali-
Uernng Tuns einer besondern Erlaubnis des Gesetzgebers bedürfte. . . .
Durch die Tätigkeit der Abgeordneten in den Lsloot Lominittses ein ?rio^t6
Lills erscheint ein großer Teil der Zentralverwaltung sowohl nach der rein
administrativen wie nach der verwaltungsrechtlichen Seite hin unmittelbar in
die Hände der Volksvertretung gelegt. Und auch dort, wo das moderne
Institut der provisorischen Verordnungen von Zentralbehörden konkurriert,
geschieht dies unter der unangetasteten Oberaufsicht der beiden Häuser des
Parlaments." Teils zur Verminderung der Kosten nämlich, die das Privat¬
billverfahren verursacht (durch lungern Aufenthalt der Interessenten, der Zeugen,
der Advokaten in London), teils zur Entlastung des Parlaments sind in der
zweiten Hülste des neunzehnten Jahrhunderts Zentralbehörden eingesetzt worden,
die unsern Fachministerien entsprechen, wie Le>g,rc1 okIracls, ?vor I>a,vo Le>g.ra,
kloiriö Ol'sol, I/oval Hope-rniQöiit Loarä. Diese Behörden werden vom Unter¬
hause ermächtigt, gewisse Verwaltungsgeschäfte durch ^rovisioiml Orctsrs zu
erledigen, d. h. durch Verordnungen, deren Rechtskraft innerhalb einer be¬
stimmten Frist durch eine Petition an das Parlament angefochten werden kann,
oder die einer ausdrücklichen Bestätigung durch einen ?rovi8icmÄl Oräsr
Lontirllu>.tioll ^ot bedürfen. Je zahlreicher die Einwohnerschaft eines Staates
und je verwickelter bei fortschreitender Kultur sein Getriebe wird, desto weniger
ist Verwaltung durch eine aus fachmännisch gebildeten Beamten bestehende
Bureaukratie zu entbehren. Redlich hat es nun in seinen beiden Werken mit
Recht als eine wunderbare Leistung der Anpassungskraft des englischen Staats¬
organismus bezeichnet, daß er durch die Einrichtung der ?rc>öl8loua,I Orclsrs
ein Stück Bureaukratie in seine Selbstregierung einzubauen vermocht hat, ohne
diese zu zerstören.
l ährend die Golfe von Gaeta und Neapel in der Mannigfaltigkeit
ihrer Bildungen und Formen, in den bald steil, bald sanft an¬
steigenden Berghalden, den engen, von tief eingeschnittenen Wasser¬
rinnen durchbrochnen Felsschluchten, den schroffen Vorsprüngen
>und den weit ins Meer hinausragenden Erdzungen eine Fülle
von unvergleichlichen Landschaftsbildern zeigen, stellt sich der Ostrand Italiens
in derselben Breite als ein flacher, niedriger, wenig gegliederter Küstensaum dar,
dessen eintönige Linien nur durch ein sich lang hinziehendes Vorgebirge, den
berühmten Wallfahrtsberg Monte Gargano, den Gargcmus der Alten, zeitweise
unterbrochen werden. In dieser baumlosen, von der Sonne verbrannten Ebene,
die landeinwärts wellige, von tiefen Erdfurchen durchrissene Höhenzüge begrenzen,
erscheint selten ein größerer Ort; dagegen tauchen häufig einzelne, burgartig mit
Mauern umfriedete Gehöfte auf, aus denen spitze, pyramidenähnliche Schorn¬
steine emporstreben. Im weiten Umkreise jedoch liegt die Steppe menschenleer.
Nur da, wo die braune, von den gelben Blütenbüscheln des Ginsters durchsetzte
Fläche ein bald vierzig, bald achtzig, bald hundertzwanzig Meter breiter grüner
Streif durchschneidet, wandeln Herden von Rindern, Büffeln, Pferden, dick¬
haarigen Eseln, Ziegen und Schafen dahin, von schwer bepackten Maultieren
und von Hirten, hoch zu Roß, begleitet, die in ihren langen Mänteln, die ver¬
rostete Lanze in der Rechten, einen gar seltsamen, altertümlichen Eindruck ge¬
währen. Auf diesen von alters her benutzten Weidetriften haben die Jahrhunderte
nichts an den Gewohnheiten der Menschen zu ändern vermocht. Wie schon zur
Römerzeit steigt auch heute noch im Herbst, wenn das Futter im Apennin
sparsam wird, der Hirte mit seinem Vieh von den Bergen in die Niederung
herab, um während des Winters auf diesen grasreichen Steppenstraßen, den
sogenannten Tratturi, die sich vom Gran Sasso bis tief hinein nach Kalabrien
Ziehn, mit seinen Herden ein unstetes Wanderleben zu führen. Aber auch da,
Wo diese grünen, durch Meilensteine abgesteckten Pfade die weite Ebene der
..Tavoliere ti Puglia" verlassend, in ein üppiges Gelände von Reben- und
Mandelgärten, von Öl- und Baumwollenpflanzungen einbiegen, und weiß
schimmernde Städte, nahe aneinander geschmiegt, am blauen Meeresufer auf¬
tauchen, drücken sie dem ganzen Landschaftsbilde ihren einförmigen Charakter
auf. Wer Neapels elysische Gefilde, die grotesken Formen der zerklüfteten
Felsenküste Kalabriens. Siziliens tropische Pflanzenpracht, die Orangenhaine und
Palmengärten Palermos kennt, wird deshalb nur schwer verstehn. daß em
Herrscher, der alle diese Herrlichkeit sein eigen nannte, sich gerade den so ein¬
tönigen Küstensaum Apuliens zum Lieblingssitz auserkor.
Die Fürsorge, die Friedrich der Zweite, der große Hohenstaufe. diesem
sonnigen Erdstrich angedeihen ließ, hat in jenen Tagen, wo Kaiser und Papst
im erschöpfenden Todeskampfe miteinander um die Weltherrschaft rangen und
Italiens Boden ringsum von Waffen- und Kriegslürm erdröhnte, dieser sonst
s° stiefmütterlich behandelten Gegend eine Zeit der Blüte und des Aufschwungs
gebracht, die in der Geschichte dieses Landes einzig dasteht. Kein Wunder, daß
hier das Andenken an den gewaltigen Kaiser in der Volksüberlieferung bis
heute lebendig geblieben ist. Auch mahnen noch Zeugen seiner Herrschermacht
da oder dort an jene glänzende, für immer entschwundne Vergangenheit. So
t^ge das älteste Stadttor von Andria. die Port« Sant' Andrea, zum ewigen
Gedächtnis die Anfangsworte der Verse ^maria Mslis °o8tri8 aMxu msautw.
die Friedrich bei seiner Rückkehr aus dem Morgenlande 1230 der ihm treu
gebliebner Bürgerschaft gewidmet hatte. Zu Foggia erinnert ein Torbogen,
der. mit dem kaiserlichen Adler auf dem Kapitellgesims geschmückt, heute in em
niederes Haus der Via Peschiera eingebaut ist. an die ehemalige Kaiserpfalz;
°°n dem Palast selbst, worin der Staufer mit Vorliebe weilte, hat noch, wie
della Valle berichtet, im Jahre 1764 eine stattliche Mauer aus Travertm-
quadern gestanden. Dagegen ist das Grabmal am Hauptportal der Kathedrale,
ein von vier antiken Säulen getragner Bogen mit der Urne, die Friedrichs
Herz und Eingeweide barg, schon bei dem Erdbeben am 31. März 1731 zu¬
grunde gegangen. Auch das stärkste Bollwerk, das der Kaiser in Unteritalien
errichten, und worin er im Jahre 1233 die aufständigen Sarazenen Siziliens
unterbringen ließ, die etwa zwei Stunden von Foggia entfernte Feste Lucera,
ist zerstört. Wohl ragt noch trutzig das braunrote Mauerwerk mit seinen Turm¬
resten auf einer die Tavoliere ti Puglia weithin beherrschenden Anhöhe in die
Landschaft hinein. Im Innern aber ist die Burg heute nur noch ein un¬
geheurer Trümmerhaufen. Allerdings hat man in dem Viereck eines Gebäudes
noch den kaiserlichen Palas und daneben sogar die ehemalige Schatzkammer
erkennen wollen. Tatsächlich sind auch hier von Schatzgräbern eine Menge
Gold- und Silbermünzen zutage gefördert worden. Dagegen dürfte es schwer
halten, in dem Ruinenfeld die Lage der Arsenale, Kasernen und Waffenfabriken
zu bestimmen, die einst der Mittelpunkt des blühenden Gemeinwesens waren,
das inmitten der Völker des Abendlandes treu an seinen orientalischen Sitten
und Gewohnheiten hing. Ja es wird berichtet, daß Friedrich diesem zähen
Festhalten an der Väter Brauch und der glühenden Sehnsucht seiner Sarazenen
nach der Heimat ihres Stammes so weit Rechnung getragen habe, daß er zu
ihrer Belustigung wilde Tiere aus Asien verschrieb, die er dann seinen übrigen
Untertanen zur Belehrung in ganz Italien herumführen ließ.
Aber auch sonst ist die Gegend ringsum erfüllt von Erinnerungen an des
großen Staufen Regentenzeit. Dort, wo der umflorte Blick nordwärts den aus
der Ebene aufsteigenden, niedrigen Hügel streift, stehn noch wenige Reste des
Kastells Fiorentino, worin am 13. Dezember 1250 der Kaiser gebrochnen
Herzens, aber ungebrochnen Mutes in den Armen des geliebten Sohnes Manfred
den Geist aufgab, „unter Blumen (liori) sterbend", wie ihm der Spruch der
Sterndeuter einst gelautet hatte. Südwärts aber, da, wo die Straße über den
Apennin weg nach Melfi und Potenza führt, liegt noch wohlerhalten in den
Bergen versteckt das Normannenschloß am Lago Pesole, das er im Jahre 1242
erweitern ließ, und das er um seiner gesunden Lage und der herrlichen Wälder
willen Sommers liber gern besuchte. Spricht sich hierin ein fein entwickeltes
Gefühl für die Schönheiten der Natur aus, das auch häufig in Friedrichs Ge-
dichten zum Durchbruch kommt, so zieht er doch als leidenschaftlicher Falkner
zu lungern Aufenthalt Gegenden vor, wo er diesem edelsten Weidwerk obliegen
konnte. Dort läßt er kleinere Lustsitze erbauen, richtet wie sein Großvater
Friedrich Barbarossa selbst Falken ab, nach deren Schicksal er sich wohl auch,
wenn er in der Ferne weilt, eingehend erkundigt, oder zu deren Behandlung
er scharfsinnige Anweisungen gibt. War er doch überhaupt, was Beobachtung
und liebevolles Versenken in die Lebensgewohnheiten der Tierwelt anlangt,
seinen Zeitgenossen weit voraus. Das beweist uns nicht nur ein in seinem
Auftrag geschriebnes, wenig bekanntes Werk über die Natur und die Behandlung
der Pferde, sondern vor allem der in der Vatikanischen Bibliothek aufbewahrte
berühmte Kodex arte vers-mal c-um, g,vibu8 Suber die Kunst, mit Vögeln zu
jagen), worin sich Friedrich selbst mit einer der heutigen Wissenschaft verwandten
Sachkenntnis über die äußern und die innern Organe der Vögel, die Stellung
der Federn, die Art des Fluges usw. verbreitet. Man weiß, daß er dieses
Buch, dessen Handschrift, mit Anmerkungen von König Manfred versehen, erst
un Jahre 1596 zu Augsburg dem Druck übergeben wurde, in den Muße¬
stunden auf einem seiner Jagdschlösser verfaßte. Die Überlieferung ist geschäftig
gewesen, als Ort der Entstehung dieses Werkes gerade jenes Schloß zu be¬
zeichnen, das als der einzige Bau Friedrichs wohlerhalten bis in unsre Tage
herüberragt.
Etwa drei Stunden von Andria entfernt liegt auf der höchsten Spitze der
^'den, langgestreckten Hügelgruppe 1.6 NurZiö weithin sichtbar ein gelblich
schimmerndes Gebäude, das jedoch viel eher einer Trutzburg als einem heitern,
Wftigen Lustsitze gleicht. Jahrhundertelang hat es da oben verschollen und
^rgessen auf der Höhe gestanden, eine Herberge für Hirten und ihre Herden,
^ friedlich unter den duftenden Kräutern üppig wuchernder Asphodeloswiesen
^u Abhang weideten, aber auch im Verruf als Schlupfwinkel zweifelhaften
^esindels, zu dessen lichtscheuen Handwerk der einsame Ort, seine die Gegend
nngsum beherrschende Lage gar wohl taugen mochte.
Diesem Umstände, viel mehr aber noch der weiten Entfernung andrer mersch-
>cher Ansiedlungen mag das Schloß seine relativ gute Erhaltung verdanken;
cum wer ist dem von Menschenhand Geschaffnen ein schlimmerer Feind als der
Mensch selbst, wenn er gedankenlos und träge aus den großen Ruinen der
Urzeit seine dürftige Hütte errichtet? Im Jahre 1875 hat dann die italienische
Legierung, dem weitern Verfall des einzigartigen Bauwerks zu steuern, es den
ganzlich verarmten Besitzern, der einst in Andria herrschenden Familie Carasfa
für 25000 Lire abgekauft und es zum „Nationaldenkmal" erklärt. Im Jahre
«79 begann man die baufälligen Teile des Schlosses in den ehemaligen
formen so getreu wie möglich wiederherzustellen. Diese Arbeiten haben erst vor
^nig Jahren durch den Architekten Bernich ihre Vollendung gefunden. Als
^>rz darauf Kaiser Wilhelm der Zweite auf einer Mittelmeerreise den einstigen
Prunksitz seines großen Vorgängers besuchte, da wandte sich das Interesse von
äanz Europa dem halb verschollnen Schlosse zu. Man erkannte mit Staunen,
daß Apulien in ihm ein Denkmal des Mittelalters habe, dem weder das übrige
Italien noch Deutschland oder Frankreich aus derselben Zeit etwas ähnliches
an die Seite zu setzen vermöchte.
Aus einem an den Justitiar der Provinz Capitcmata gerichteten Dekret
Friedrichs des Zweiten geht hervor, daß mit der Errichtung des Schlosses
Haftet del Monte, später nach einer kleinen Benediktinerkirche am Fuße des
Berges (^strum Lanotas Uariao cksl Route genannt, im Januar 1240 be¬
gonnen wurde. Trotzdem hält man in dem benachbarten Andria an der alten
Überlieferung fest, daß hier schon im Jahre 1228 Jolcmthe von Jerusalem,
Friedrichs zweite Gemahlin, den spätern Kaiser Konrad den Vierten geboren
hätte. Ja man behauptet sogar, schon während der Langobardenherrschaft habe
dort oben ein Wartturm und später in den Tagen Robert Guiskards eine feste
Burg namens Bellamonte gestanden, an der der Kaiser nur dem Geschmack
seiner Zeit entsprechende Änderungen habe vornehmen lassen. Mit aller Ent¬
schiedenheit trat schon Heinrich Wilhelm Schulz in seinen „Denkmälern der
Kunst des Mittelalters in Unteritalien" (Dresden, 1860) dieser Annahme ent¬
gegen, indem er auf den durchaus einheitlichen Charakter des Baues hinwies.
Und in der Tat gibt es kaum eine Schöpfung des Mittelalters, die so aus
einem Gusse erscheint wie diese Burg. Die Architektur Apuliens, die im Anschluß
an die byzantinische Kunstweise schon im elften und im zwölften Jahrhundert
ihren Höhepunkt erreichte, hat hier noch einmal eine ihrer erhabensten Blüten
gezeitigt. Leider ist uns der Name des Baumeisters nicht erhalten. Doch läßt
die meisterhafte Durchführung des einheitlich entworfnen Planes, mehr noch die
Herübernahme antiker Bauformen auf eine ihrer Zeit weit vorauseilende
Persönlichkeit schließen. Der Gedanke liegt nahe, in dem idealen Schöpfer des
Ganzen den Kaiser selbst, den feinsinnigen Kenner des Altertums, der Werke
antiker Kunst aufkaufen und sie einem römischen Cäsaren gleich in seinen
Schlössern aufstellen ließ, zu vermuten. Wir wissen, daß Friedrich umfassende
Kenntnisse im Baufach hatte. Wurde doch nach seinen Angaben im Jahre 1223
durch Meister Bartholomäus zu Foggia die Kaiserpfalz aufgeführt, und ist doch
seinen Ideen der Palast an der Volturnusbrücke in Capua entsprungen, dessen
Anblick im Jahre 1266 die Bewunderung der Begleiter Karl von Anjous er¬
regte. Leider ist dieser Palast im Jahre 1557 durch den spanischen Vizekönig
del Fiore niedergerissen worden, wobei auch Friedrichs wertvolle Kunstsammlung,
kostbar gebundne Bücher, Statuen und antike Reliefs zugrunde gegangen sind.
Nur die Bildsäule des Kaisers, deren drohender Ausdruck das Gefolge Karls
von Anjou erschreckte, und an der noch im achtzehnten Jahrhundert Guglielmo
della Balle das majestätische Aussehen rühmte, wurde damals verschont und
seit dem Jahre 1584 in einer Nische unter dem römischen Tor in Capua auf¬
gestellt, bis die rohe Faust Muratscher Soldaten auch dieses unschätzbare Denkmal,
das die Züge des großen Staufers der Nachwelt übermittelte, völlig ver¬
stümmelt hat.
Uns Deutschen, die wir mit dem Begriff einer mittelalterlichen Burg ge¬
wöhnlich den spitzgiebligen Palas und einen ihn mächtig überragenden Bergfried
verbinden, füllt schon von weitem das ungewöhnliche Aussehen von Castel del
Monte auf. Wie ein gewaltiger, an den Seiten abgestumpfter Würfel krönt
es die höchste Spitze der eintönigen Hügelgruppe. Erst beim Näherkommen
tritt die wahre Gestalt, ein Achteck, vor, dessen Kanten acht stumpfe, runde
Türme flankieren. Sie sind kaum größer als das Gebäude selbst und gleich
diesem nnr mit einem flachen Dache, das gänzlich hinter der Mauer verschwindet,
Versehen. Es ist möglich, daß dem Erbauer dabei das Prinzip des normannischen
Donjons vorgeschwebt hat. Im Charakter dem deutschen Bergfried verwandt,
sind diese Donjons bedeutend weiträumiger und größer augelegt, weil sie den
Normannen zugleich als Wohnstätte und als Schutz gegen aufständische Unter¬
tanen dienen mußten. Wir finden sie noch heute in allen von ihnen beherrschten
Ländern, so z. B. zu Domfront, Beaugency, Arques und Chcimbois in Frankreich,
Zu Colchester und Heddingham in England und auch auf Sizilien vor. Ursprünglich
ein einfacher, gedrungner, flachgedeckter, viereckiger Bau, an dessen Kanten die
Wände turmartig vorspringen, wurden sie später in reicherer Gliederung, mit
rundem oder auch achteckigen Grundriß und mit Ecktürmen versehen aufgeführt.
Gerade die achteckige Form kehrt auf Sizilien an der von Friedrich häufig be¬
suchten Feste Castrogiovanni, dem Enna der Alten, wieder, deren Donjon auch
im Innern große Ähnlichkeit mit den Türmen von Castel del Monte in der
Anordnung der Gewölbe zeigt. Läßt sich so auch zwischen diesem und dem
normannischen Bergfried ein gewisser Zusammenhang nachweisen, so hat doch
Schöpfer von Castel del Monte das schwerfällige seines mittelalterlichen
Vorbildes in einer Weise überwunden, daß mau fast glauben könnte, ein Werk
Frührenaissance vor sich zu sehen. Im Geiste der spätern Florentiner
Paläste, die ein Markstein in der Geschichte der Kunst sind, ist der starke Quader¬
bau nur im obern Geschoß durch ein einfaches Gesims gegliedert. Allerdings
sitzt auf diesem in den Mauern zwischen den Türmen je ein gotisches Fenster
""t zierlichem Maßwerk auf, dem im Untergeschoß kleinere Rundbogenfenster
entsprechen, während die Türme schießschartenartige Öffnungen zeigen. Auch
prachtvolle Portal mit dem spitzen Giebel an der Südostseite hat schou
"durch, daß bei ihm roter Marmor im Gegensatz zu dem Gelb des Mauer¬
werks in Anwendung kam, etwas vom Geiste der Frührenaissance an sich;
"och mehr aber macht sich der Einfluß eines Studiums der Antike in der An-
^'dnung des Ganzen, das einer römischen Triumphpforte nachgebildet erscheint,
an den Pfeilern, Halbsäulen, Kapitellen und in den Gesimsen geltend. Doch
l^ud alle diese Bauglieder in ihrer Ausführung noch durchaus in gotischen
formen befangen. Besonders können die auf den Säulenschäften über dem
Eingang ruhenden Löwen ihre Verwandtschaft mit den Löwenportalen nicht ver¬
leugnen, die eine Hauptzierde nicht nur der Kirchenbauten Apuliens, sondern
"und der Oberitaliens und Deutschlands im elften und im zwölften Jahrhundert
Sewesen sind.
Dagegen hat Bernich bei den letzten Nachgrabungen gerade hier eine Büste
gefunden, die, obgleich des Kopfes beraubt, in der togaartigen Anordnung der
Gewandung wieder den engen Anschluß an antike Vorbilder verrät. Da sich
daran aber auch eine gewisse Ähnlichkeit der Arbeit mit dem zu Capua auf¬
bewahrten Torso Friedrichs von der Voltnrnusbrücke nachweisen läßt, so glaubt
'"an in ihr, die im Provinzialmuseum zu Bari Aufstellung gefunden hat, ein
leider bis zur Unkenntlichkeit verstümmeltes Bild des kaiserlichen Schloßherrn
zu haben. Vermutlich hat es, uach noch sichtbaren Spuren im Giebelfelde des
Portals zu schließen, einst über zwei andern, vielleicht gleichwie zu Capua, über
den Büsten seiner beiden vertrautesten Rate, Thaddüus von Suessa und Peter
von Vinca, gethront. Wenigstens wurde früher, wie Gregorovius berichtet, eine
Büste des letzten in Castel del Monte gezeigt.
Heute hält man das gewaltige Tor, das der einzige Zugang zu dem wie
verzaubert auf einsamer Hohe liegenden Schlosse ist, verschlossen, um es vor
unberufner Besuchern zu schützen. Da der Bau aber so unmittelbar und so
lebendig auf die Einbildungskraft wirkt, wird fast der Gedanke erweckt, als habe
der Besitzer selbst, ehe er in die Ferne ritt, dem Wächter, der in einer kleinen
Hütte weiter unten haust, die Schlüssel zur Aufbewahrung übergeben. Laut
ächzend weicht das Schloß unter der kundigen Hand, deren langsamen Be¬
wegungen wir mit Ungeduld folgen. Unsicher fällt das Tageslicht in einen
hohen, gewölbten, sich nach innen fächerartig verengenden Raum, der statt eines
Torwegs ganz das Aussehen eines Wohngemachs hat. Dieser Eindruck wird
noch dadurch verstärkt, daß kein größerer, dem Eingangsportal entsprechender
Zugang nach dem Innern vorhanden ist, sondern nur eine kleinere Pforte zur
Rechten in ein zweites Gelaß von denselben Verhältnissen wie das erste führt.
Erst von diesem aus gelangt man durch ein reich verziertes gotisches Marmor¬
tor in den geräumigen Hof, der dadurch, daß sich um ihn im geometrischen
Ebenmaße der Linien des Baues Achteck gruppiert, leicht als der Kernpunkt
der ganzen Anlage zu erkennen ist. Hierin spricht sich zweifellos eine Anlehnung
an orientalische Vorbilder aus. Muß doch dem Beherrscher Siziliens, dem
scharfschauenden Forscher auf dem Gebiete der exakten Wissenschaften, der Grund¬
gedanke der orientalischen Baukunst, den Hof zum Zentrum zu machen und um
ihn nach streng mathematischen Gesetzen die Gebäude zu konstruieren, eindrucks¬
voll schon in früher Jugend an den sicher damals noch bedeutenden Resten aus
der Sarazenenzeit Palermos entgegengetreten sein. Wie aber wurde das der Kunst
des Islams entlehnte Prinzip, das in der einfachen Betonung mathematischer
Formen, in der graziösen Durchbildung der Einzelheiten sein Genüge fand, hier
bei der Anlage von Castel del Monte durch ihre gedankenvolle Gliederung der
einzelnen Teile zu einem organischen Ganzen im abendländischen Sinne umgebildet!
Allerdings ging das Leichte und Luftige, das den orientalischen Bauwerken eigen
ist, dabei verloren. Schon das schwere Steinmaterial, das an die Stelle des
Holzes oder der leicht gebrannten Ziegeln tritt, verleiht der ganzen Hofansicht
etwas Zwingburgenartiges, ein Eindruck, der vielleicht dadurch noch verschärft
wird, daß die Galerie, die einst am obern Stockwerk hinlief, verschwunden ist.
Nur die rote Marmorverkleidung dreier Türen, die einst aus den Gemächern
des Obergeschosses auf diese Galerie hinausgingen, hat sich erhalten. Ganz
antik unter uns an ihnen die zierlichen Säulen der Einfassung, vor allem aber
der sich über diesen wölbende, mit Eierstab und Blattornament geschmückte Rund¬
bogen an. Dagegen tritt der Einfluß der Gotik bei der Gliederung der Hof-
Wände vor, an den mächtigen Eckpfeilern und den daraufruhendm Spitzbogen¬
blenden, die in Anlehnung an die arabische Scheinarchitektur so häusig an
Normannenbauten Siziliens und Unteritaliens im elften und im zwölften Jahr¬
hundert wiederkehren.
Die untern Partien des nach alter Römerweise kunstvoll gefügten Mauer¬
werks werden einzig durch drei Zugänge unterbrochen, die vom Hof in das
Erdgeschoß führen. Sie sind außen bedeutend einfacher als an der Innenseite
gehalten, lassen aber immer noch die eigentümliche Mischung von Gotik und
Antike erkennen. Über einem von diesen Toren, das ein Spitzbögiger. baldachm-
«rtiger Aufsatz krönt, find an der Wand noch Spuren eines Reliefs, Teile der
Schultern, der Beine und des Vorderarms einer geharnischten Gestalt sichtbar.
Auch in ihr will man wie in der vor dem Eingang gefundnen togabekleideten
Büste eine Darstellung des kaiserlichen Besitzers, vielleicht den letzten Rest der
kleinen Neliefstatue erblicken, von der noch Demetrio Salazaro in seinen Noel-is
storiokg äal ?a1k220 al?säsrioo II a Laste! äol nono (Neapel, 1875) ohne
genauere Angabe der Örtlichkeit berichtet.
Treten wir nun in das Innere des Gebäudes zurück, so gewahren wir,
daß sich die Anordnung der Gemächer dem achteckigen Grundriß des Schlosses
genau anschließt. Wie die Speichen eines Rades lagern sich die acht inein¬
ander gehenden Räume in den beiden Stockwerken um den Hof als ihren
gemeinsamen Mittelpunkt. Im Erdgeschoß sind die Wände dieser Gelasse durch
je vier starke Porphyrsüulen gegliedert, auf denen die Spitzbogennppen der
Gewölbe aufsitzen. Matt nur fällt das Licht durch hoch in der Mauer ange¬
brachte Rundbogenfenster. Von der einstigen Ausstattung sind noch glatte,
^ige Marmoraufsätze über den Türen. Spuren von Porphyrverkleidung an
den Wänden vorhanden, anch sind auf einem der Fußböden noch die Reste
eines schachbrettartigen Steinbelags in grünlichen, weißen und schwarzen Farben¬
tönen zu erkennen. Desgleichen hat sich in einem der vier von den acht
Türmen, die zu sechseckigen Kammern ausgebaut sind, die marmorne Decken¬
konstruktion wunderbar erhalten. Gleich einem Stern spannen sich hier die
strahlenförmig aneinander gereihten, scharfkantigen Rippen von der Mlle nach
allen Richtungen aus. in ihrer Anordnung und Gestalt deutlich den Einfluß
sarazenisch-normannischer Kunstweise verratend. Wir finden sie in ähnlicher
Form an den Ruinen des einst von König Roger erbauten Lustschlosses
Minenio oder Menani bei Baida und in der Favara bei Palermo an den
Seitennischen eines Gemachs wieder, wo sie allerdings, der halbkugelförmigen
Einwölbung entsprechend, vom gemeinsamen Scheitelpunkt aus abwärts lausen.
An diesen Turmgelassen, die nur von den Zimmern des Erdgeschosses
°us zugänglich sind, vorüber führen Wendeltreppen, aus gelben Quadern
kunstvoll gearbeitet, in den ersten Stock. Er entspricht in der Anordnung der
einzelnen Räume genan dem Untergeschoß, ist jedoch mit bedeutend größerer
Eleganz ausgestattet. Gregorovius vermutet hier wohl mit Recht die Wohn-
gemacher des Kaisers selbst. Schon die Lichtfülle, die durch die großen gotischen,
säulengeschmückten Fenster über die Wände und die hohen Spitzbogengewölbe
gleitet, verleiht dem Ganzen ein vornehmeres Ansehen. Aber auch die Gewölbe
selbst und ihre Stützpfeiler zeigen eine viel sorgfältigere und zierlichere Durch¬
bildung als im Erdgeschoß. Diese, drei zusammengekoppelte Halbsäulen aus
Cipollin, dürften Wohl überhaupt einem antiken Bauwerk der Umgegend ent¬
nommen sein. Denn daß sich Friedrich trotz seiner Verehrung für das Alter¬
tum nicht scheute, die verfallenden Reste antiker Architektur für seine Zwecke zu
verwenden, zeigen uns die Hafenbauten von Brindisi, die er aus deu vielen
in der Stadt vorhandnen römischen Ruinen aufführen ließ. Ebenso reich und
kostbar wie diese Pfeiler ist die geschliffne Marmoreinfassung der Türme und
der Rest weißen Marmorbelags, der noch an Fußböden und den mit marmornen
Bänken ausgestatteten Wandflächen haftet. An der Hofseite einzelner Gemächer
sind die Stellen kenntlich, wo einst die Kamine aus Porphyr gestanden haben.
Mit Porphyr sind auch die hochliegenden Fensterbrüstnngen ausgelegt, zu
deren Marmorsitzen breite Stufen hinaufführen, von wo aus der Blick wie
träumend über das weitausgebreitete Relief einer unsagbar stimmungsvollen
Landschaft schweift.
In der neusten Zeit hat der französische Forscher Bertaux in seinem Werk
1,'^.re äa-us I/IW1is NöriäwiMö Seite 719 ff. bei allen diesen Baugliedern,
den Spitzbogenrippen, der Art, wie diese auf den Pfeilern aufsitzen, an der
Gestalt und Form dieser Pfeiler selbst, vor allem aber bei der Gewölbekon¬
struktion einen Einfluß der französischen Baukunst des dreizehnten Jahrhunderts
betont; ja er hat den Nachweis zu führen versucht, daß das Gebäude über¬
haupt der französischen Gotik damaliger Zeit, vor allem der in der Bourgogne
und der Champagne herrschenden Stilrichtung entspräche, und daß die antiken
Bauglieder dem französischen Kern nur wie ein gutsitzendes Gewand übergeworfen
seien. Seine Darlegungen haben in Italien, vor allem bei dem Architekten
Bernich, der die Wiederherstellungsarbeiten an Castel del Monte geleitet hat
und in diesem ein frühes Denkmal der Renaissance im Sinne Bramcmtischer
Kunst sieht, lebhaften Widerspruch gefunden. In der Tat steht das Schloß
als ein Fremdling unter den damaligen Bauten Apuliens da; andrerseits aber
ist nicht zu leugnen, daß es eine gewisse Ähnlichkeit mit sizilianischen Burgen
Friedrichs zu Syrcckus, Catania und Castrogiovanni aufweist, an denen sich
ebenfalls der Einfluß französischer Gotik geltend macht. In dieser Hinsicht
seien besonders die Pfeilerkapitelle mit den fenchelartig gebildeten Blattreihen
genannt, die in Italien nur zu Castel del Monte, an dem von Friedrich wieder¬
hergestellten Castell des Mcmiaces zu Syrakus und an einzelnen Säulen des
Klosterhofes von Santa Sofia zu Benevent, in Frankreich dagegen in ähnlicher
Form häufig an Kirchen der Bourgogne und der Champagne wiederkehren-
Allerdings wird dieser Einfluß kaum direkt von Frankreich ausgegangen
sein. Die Kenntnis des neuen Baustils, der sich von dort aus in den ersten
Jahrzehnten des dreizehnten Jahrhunderts mit rasender Schnelligkeit über alle
die Nachbarländer mit Ausnahme Italiens verbreitet hat, wird Friedrich wohl
seinem Aufenthalt in Deutschland im Jahre 1235 oder vielleicht schon seiner
Fahrt nach dem Heiligen Lande 1223 verdanken. Hier hatte Frankreich da¬
durch, daß es fast ein Jahrhundert lang allein die Lasten für die Behauptung
Palästinas getragen hatte, ein bedeutendes Übergewicht über alle andern Völker
errungen. Es ist deshalb begreiflich, daß gerade der in Frankreich ausgebildete
Stil bei den Bauten der Kreuzfahrer, so vor allem bei ihrem Hauptbollwerk
gegen die sich immer drohender gestaltende mohammedanische Gefahr, bei der
Feste Samt Jean d'Acre. dem alten Wa. schon frühzeitig Verwendung fand.
Wenn also der Kaiser, von der kühn emporstrebenden Macht der neuen
Bauart ergriffen, diese bei der Anlage von Castel del Monte neben der Antike
zu Worte kommen ließ, so ist sie ihm doch nur ein Mittel zur Befriedigung
seiner Prachtliebe gewesen, wie dies allein schon die Ausschmückung der Innen-
räume beweist. Im Widerspruch mit dem strengen architektonischen Aufbau
des gotischen Stils sind sie zweifellos im orientalischen Geschmack ausgeführt
gewesen. Dafür spricht hauptsächlich die Verwendung verschiedenfarbigen Ge¬
steins, bekanntlich eine Eigentümlichkeit arabischer Bauweise. Auch sind noch
Reste von Vorrichtungen erhalten, die dartun, daß das auf der Terrasse des
Daches aufgefangne Regenwasser nicht nur nach der Zisterne im Hofe, sondern
°und in die Gemächer des ersten Stockwerks geleitet wurde. Wasserkünste haben
^o. gleichwie in den Palästen der arabischen Emire oder der Normaunenkömge
Siziliens, auch in diesen Räumen gespielt, goldfunkelnde Strahlen, deren
sprühende Tropfen für immer ihre Spuren auf den Marmorsttzen an den
Wänden zurückgelassen haben. Ferner sind an den Säulenbündeln noch Neste
v°n Purpurfarbe zu erkennen, was auf eine Ausmalung der Gemächer nach
orientalischer Weise hindeutet. Entsprach es doch am besten Friedrichs heitrer,
lebensfroher Natur, sich überall mit den Äußerungen einer auf feinsten, sinn¬
lichen Genuß berechneten Kunst zu umgeben, die in dem leuchtenden Schmelz
des Kolorits, in der phantasievollen Durchführung der Einzelheiten in der
geschmackvollen Anordnung der Dekoration nicht ihresgleichen hat. Möglich,
daß die Verkleidung der Wände den märchenhaften Normannenbauten Palermos
glich, über die Ihr Gjobair und Hugo Falcandus am Ende des zwölften
Jahrhunderts mit Begeisterung berichten, und von denen uns glänzende Reste
w der Capella Palatin«, dem Rogerzimmer des könig ichen Mastes Zu
Palermo und in dem Brunnengemach der Zisa erhalten geblieben M- All -
tags fehlt an dem Mauerwerk jede Spur der geometrisch angeordneten Mosen -
streifen und Arabesken, der auf leuchtendem Goldgrund prangenden D°r
Mungen von Vogeljagden. Gazellen. Kamelen. "n^hener^Tieren, von üppigen Mädchen bei Tanz. Saiten- und N°w^el^an das orientalische Leben Ausgeburten einer fremdartigen Phanta e dem
Anschauungskreis eines die Wüste durchstreifenden Nomadenvolkes entsprossen.
Wie sehr sich aber Friedrich in solche Darstellungen vertiefte, wie er ihr Wesen
durchdrang, beweisen die Federzeichnungen zu seinem Buch über die Vogeljagd,
bei dem sich leicht die Vorbilder an einem im Kirchenschätze der Capella
Palatins aufbewahrten Kästchen arabischer Arbeit erkennen lassen. Aus der
Anordnung der noch vorhandnen Architekturteile in den Gemächern des Schlosses
geht jedoch hervor, daß sich dieser bunte Schmuck, dem ernsten Charakter
abendländischer Kunstweise gemäß, der Struktur der einzelnen Bauglieder unter¬
geordnet haben muß. Jedenfalls aber hat Friedrich auch hier wie anderwärts
regen Anteil an der Ausführung des Ganzen genommen. Ist es doch bekannt,
wie sehr er sich nicht nur um die Entstehung seiner Bauten, sondern auch um
die dort notwendig werdenden Reparaturen bekümmerte. So ist uns zum
Beispiel eine an den Sekretus von Messina, Major de Plancatone, gerichtete
Urkunde erhalten, worin er befiehlt, an dem Schloß Noseto in Kalabrien die
Dachestriche höher legen zu lassen, damit das Regenwasser nicht mehr ein¬
dringen und Holzwerk und Gemälde zerstören könne. Überhaupt müssen wir
uns den in allen ritterlichen Übungen erfahrnen, kühnen Kriegsherrn, den
weitschauenden Gelehrten, der erfolgreich auf dem Gebiete der exakten Wissen¬
schaften tätig war, den sprachkundigen, der neben dem Griechischen und dem
Lateinischen das Deutsche, das Französische und das Arabische beherrschte, den
gefeierten Sänger, dessen Dichterhof die Wiege für das spätere Schriftitalienisch
wurde, den scharfsinnigen Gesetzgeber, der die Bewunderung aller vorurteils¬
loser Zeitgenossen erregte: wir müssen uns diesen gewaltigen, einzigartigen
Mann in Castel del Monte, wie überall auf seinen Schlössern, als den mit
allen wirtschaftlichen Sorgen vertrauten Gebieter denken. Wie er mitten im
gefährlichsten Ringen mit dem Papste darüber nachdenkt, auf welche Art die
Ertragsfähigkeit seiner Güter durch Anpflanzung von Palmen, Indigo und
andern Färbekräutern zu steigern wäre, so interessiert er sich ein andermal für
die Errichtung eines Taubenschlags oder für das Futter, das den Stuten zu
reichen sei, damit sie mehr Milch geben. Auch die Entscheidung über neu zu
schaffende Anzüge des Gesindes behält er sich vor und verschmäht es nicht,
sich sogar um das Reinigen der Weinfässer, die Verwendung der Gänsefedern
und das Stopfen der Betten zu kümmern. Trotz dieser kleinen Schwächen,
die übrigens durchaus seinem Wesen, alles mit ganzer Seele zu erfassen, ent¬
sprechen, galt er seinen Zeitgenossen als ein großdenkender, freigebiger Mann,
wie sogar der guelfisch gesinnte Malaspini bezeugt. Auch die osnto novöUo
g-ntions, eine aus dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts stammende Novellen¬
sammlung, die in fabelhafter Weise die Persönlichkeiten der nahen Vergangen¬
heit behandeln, nennen ihn „in Wahrheit einen Spiegel der Welt in Reden
und Sitten". Sein Hof wurde als die Vorschule des reinsten Ritterwesens,
als der üppigste der damaligen Zeit angesehen. Die dort herrschende Pracht
setzte sogar die Gesandten des Sultans von Ägypten in Erstaunen, als sie zu
Neapel Friedrich ein kostbar gearbeitetes Zelt überreichten, worin in genau be-
messenen Zeiträumen die Abbilder von Sonne und Mond auf und unter gingen.
Sie erzählen von dem glänzenden Gefolge der Pcigen und der Edeln, der
Spielleute und der fahrenden Sänger, den zahlreichen Knappen und Dienern,
von prächtig gekleideten Mohren, die mit großer Kunstfertigkeit auf silbernen
Trompeten und Posaunen bliesen, von sarazenischen Tänzern und Tänzerinnen,
aber auch von dem Kreis ernster Männer, von Gelehrten. Philosophen,
Künstlern und Dichtern, deren Umgang der auf Großes und Edles gerichtete
Sinn des Kaisers nicht zu entbehren vermochte.
In ähnlicher Weise werden wir uns wohl die Hofhaltung auf Castel del
Monte zu denken haben, wenn auch die beschränkten Räumlichkeiten die Ent¬
faltung eines solchen Prunkes kaum erlaubten. Das Schloß mit je acht
größern Gelassen oben und unten war wohl überhaupt nie für einen längern
Aufenthalt in Aussicht genommen, worauf das Fehlen einer Kapelle, vor allem
aber der Umstand hindeutet, daß wir keine von Friedrich dort ausgestellte
Urkunde haben. Auf dem einsamen Schlosse mochte er sich jeder Sorge ent¬
sagen und sich zwanglos, der Fröhlichste unter den Fröhlichen, dem edeln
Weidwerk, der Falkenjagd ergeben, wozu das mit Eichenwald und Gestrüpp
bedeckte Hügelland im Norden und im Osten des Berges das denkbar günstigste
Gelände darbot. Wir wissen, daß ihn auch auf diesen Zügen ein stattliches
Gefolge von Jägern. Falken. Pferden und gezähmten, zur Jagd abgerichteten
Leoparden begleitete. Es erscheint deshalb befremdend, daß keinerlei Vor¬
kehrungen im Schlosse zu deren Unterkommen getroffen sind. Schulz hat
deshalb mit Recht vermutet, daß ehedem unterhalb der Burg Stallungen und
vielleicht auch Gärten gewesen seien. Der Kaiser hat. so scheint es, das Schloß
überhaupt nur zu Fuß betreten oder ist auf seinem feurigen Renner die zwölf
Stufen emporgesprengt, die einst zu diesem prächtigsten aller Fürstensttze des
Abendlandes hinangeführt haben müssen. Spuren dieser Freitreppe sind vor
dem Hauptportal zutage gefördert worden. An dessen Innenseite treten deutlich
Rinnen an der Wand hervor, in denen einst das Fallgatter heruntergelassen
wurde. Demselben Bestreben, die Bewohner, vor allem die Person des Kaisers
vor unvorhergesehenen Überfüllen zu schützen, entspricht es wohl auch, daß
das Gemach hinter dem Portal keinen Ausgang nach dem Hofe zu hat.
ändern bloß durch eine einzige, leicht zu verteidigende enge Tur mit dem
Nebenraum in Verbindung steht.
..^Trotz «lieben aber ist Castel del Monte niemals eine kriegerische Feste
gleich den Burgen zu Tram. Bari und Brindisi gewesen. Auch in den Tage^w° es neben dem sich immer aussichtsloser gestaltenden Kampf mit dem Papst
"ut den italienischen Städten auch deu Aufstand der apulischen Großen nieder¬
zuschlagen galt, hat der alternde, von mancherlei Schicksalsschlagen heimgesuchte
Herrsche hier nur Erholung und Zerstreuung gesucht. Und als em schmerzendes
Fußleiden die mittelgroße, festqebaute Gestalt des Kaisers, dem die Sturme
des Lebens frühzeitig den Scheitel gelichtet hatten, zur Untätigkeit zwang, da
konnte sein Blick von der ragenden Höhe aus noch ungehemmt weithin über
das sonnige Land zu seinen Füßen schweifen. Da vermochte er noch den
Schiffen am funkelnden Meeresstrande zu folgen, wie sie kamen und gingen,
um auf sein Geheiß Waffen, Kriegswerkzeuge und kostbare Stoffe aus dem
fernen Morgenlande heimzuholen; da überschaute er die Stätten, die unter seiner
weisen Fürsorge so rasch und so glänzend emporgeblüht waren, vor allem sein
getreues Andria, in dessen Dom neben Jolcmthe von Jerusalem die heißgeliebte
dritte Gemahlin Jsabella von England seit 1240 ruhte. Heute kann man
von diesen Grabmälern keine sichere Spur mehr nachweisen. Wohl hat man
dort im Dome, angeregt durch das lebhafte Interesse, das unser Kaiser den
Denkmälern des staufischen Hauses entgegenbringt, in der neusten Zeit Nach¬
forschungen darüber angestellt, doch haben sie zu keinem befriedigenden Resultat
geführt. Arthur Haseloff hat in seinen „Kaiserinnengräbern in Andria" (ein
Beitrag zur Apulischen Kunstgeschichte unter Friedrich H., Rom, 1905) das
Ergebnis dieser Forschungen dargelegt, nach denen nur das eine festzustehn
scheint, daß die Grüber nicht, wie früher angenommen wurde, am Hauptportal,
sondern in der Unterkirche des Domes gewesen sind.
Wie über diesen Grabstätten, so waltet auch ein undurchdringliches Dunkel
über dem Ausgang der letzten Träger des staufischen Namens, der drei Söhne
König Manfreds, der 1266 in der Schlacht bei Benevent gegen Karl von Anjou
fiel. In der Vorhalle der Kathedrale zu Canosa werden zwar noch zwei
Steine gezeigt, die nach einer bis in den Anfang des sechzehnten Jahrhunderts
hinaufreichenden Sage die Überreste von zweien jener Unglücklichen bergen.
Fest steht jedoch nur, daß sie durch das grausame Gebot des Anjous im
zarten Kindesalter schon aus dem liebenden Arm der Mutter gerissen, jahr¬
zehntelang auf Castel del Monte in enger Kerkerhaft gehalten worden sind,
und daß sie niemals ihre Freiheit erlangt haben. Wie ein riesiges Grabmal
erschien uns plötzlich der Bau mit seinen verödeten Gemächern, worin der letzte
Akt der Tragödie von dem Untergang eines der gewaltigsten Herrschergeschlechter
Deutschlands wahrscheinlich seinen traurigen Abschluß gefunden hat.
Von den Anjous mit Wällen und Gruben versehen, von denen heute jede
Spur verschwunden ist, mag das Schloß selbst bis tief in das siebzehnte Jahr¬
hundert hinein in bewohnbarem Zustande gewesen sein. Aus dem Besitz der
französischen Herrscherfamilie ging es in den der jeweiligen Herren von Andria,
der Balzi und dann der Caraffa, über, die sich nach ihm sogar Prinzen von
Castel del Monte nannten. Auch Ferdinand der Erste, der zweite König
Neapels aus dem Hause Aragon, dessen despotischer, aber streng geordneter
Negierung Unteritalien noch einmal ein kurzes Aufblühen verdankte, hielt sich,
ehe er sich zu Barletta krönen ließ, in dem Schlosse, von der prachtvollen
Lage begeistert, einige Zeit auf. Und in der Tat läßt sich kaum eine weitere,
freiere Aussicht denken in die Lande ringsum, als man sie von dem platten
Dache des hügelabschließenden Baues genießt. Mit einem Blick überschaut
das Auge das weite, flache Uferland der Terra ti Bari und der Capitcmata
mit ihren marmorgleich schimmernden Städten und dem mauerartigen Vor¬
gebirge des Monte Gargano, gleitet dann unbeirrt weiter über die blau¬
schimmernde Meeresflut bis zu jenen blassen Linien am äußersten Horizont,
die Dalmatiens schroff aufsteigende Bergwelt bezeichnen. Uns im Rücken aber
zieht sich die schwellende, braunrote Hügelkette, bald lang gedehnt wie ein Hoch-
Plateau, bald lieblich gerundet, bald in steilen Abstürzen und wildzerrissenen
Klüften bis zu jenen stattlichen Höhen der Basilicata hin. über denen, mächtig
aufragend, des Vulturs waldige Pyramide erscheint. Und wenn dann des
Abends bläuliche Schatten über den Tälern ruhn, und nur noch flimmerndes
Sonnengold die einsame Höhe überflutet, dann sieht die Burg fast wie ver¬
zaubert aus, und die alte Sage vom bergentrückten Kaiser, von dem ver¬
wünschen Schloß, aus dem er einst wiederkommen sollte, des Reiches Herrlich¬
keit neu zu gründen, wird wach. Denn nicht um Barbarossa, um die gewaltige
Gestalt des letzten großen Staufers hat ursprünglich die Sage ihre blühenden
Ranken von der einstigen Wiederkehr des Kaisers geschlungen.
n London fand Henry ein einfaches aber gutes Logis für sich selbst,
seine Waffen und Bücher und sein übriges weniges Hab und Gut
bei einer gottesfürchtigen und wohlhabenden Seilermeisterwitwe, die
ein kleines Haus zwischen Strand und Covent Garden besaß. Im
übrigen war er nur selten zuhause. Wenn der Dienst seine Zeit
^ nicht mit Beschlag belegte, streifte er in London umher, das jetzt,
'achten es nach dem großen Brande im Jahre 1666 wieder aufgebaut worden
ar, eine ganz neue Stadt für ihn war und sein lebhaftes Interesse erweckte. Die
^yeater besuchte er fleißig und kam oft des Abends nach Whitehall, wo er als
sstzier freien Zutritt hatte; namentlich aber hatte er viel Vergnügen an den neu-
rruhteten Kaffeehäusern, von denen es fast in jeder Straße eins gab. Hier bekam
w - "Seiten zu hören: Seiner Majestät oder Mylord Halifax letztes Bonmot;
as der M^g. von Frankreich konfidentiell der Herzogin von Portsmouth geschrieben
^"e; wie es um die Chancen des jungen Monmouth, als Prinz von Wales an-
^kunnt zu werden, stand; wie sie sich unten in Venedig oder in Wien mit den
Gurken schlugen; welcher Straßenräuber zuerst gehenkt werden sollte — das letzte
^nett — die letzte Entführung ...
K, In der Nähe seines Logis lag, dicht bei Covent Garden, Wilts bekanntes
affeehaus. wo die Dichter und die klugen Köpfe der Stadt zu verkehren pflegten;
'ut Harry, der sich ja immer sehr von Büchergelehrsamkeit angezogen gefühlt hatte,
"no der vielleicht in mehr als einer Hinsicht seinem Großvater, „dem Zauber-
jarl" nachartete, ging des Abends gern dorthin, rauchte seine Pfeife, trank sein
Glas und spielte eine Partie Schach oder Brettspiel mit einem der kleinern
literarischen Sterne. In der Ofenecke pflegte der Dichterkönig, John Dryden,
selbst zu sitzen, und oft saß ein Jarl oder ein Herzog oder sonst irgendein hoher
Herr vom Hofe neben ihm am Tisch und hörte andächtig sein neuestes satirisches
Gedicht.
Hier war es auch, daß Kapitän Percy zum erstenmal von der fortgesetzten
skandalösen Courmacherei des schwedischen Grafen Königsmark der Lady Ogle gegen¬
über hörte. Wie man ihn beständig mit ihr zusammensah, wie er an der einen
Seite ihres Wagens ritt, während der Bräutigam an der andern ritt. Man er¬
zählte sich, daß die junge Dame, die ein ganz ausgelassenes und leichtsinniges
Mädchen wäre, ihn auf alle Weise ermutigte, aber die alte Gräfin — be¬
hauptete man dahingegen — begegne selbstverständlich dem ausländischen Herrn mit
großer Kälte.
Natürlich konnte Harry —- wie tapfer er auch der Versuchung widerstand,
sie aufzusuchen — es auf die Dauer nicht vermeiden, zufällig mit Lady Elizabeth
zusammenzutreffen. Das erstemal sah er sie in einem der Theater wieder. Er
saß in der Nähe der Bühne und sah, als sie zusammen mit Lady Sophia Wright
und dem jungen Fräulein Jeunings in ihre Loge kam. Es befanden sich zwei
Herren in ihrer Gesellschaft — John Churchill, den Harry Percy von der Garde¬
kaserne her kannte, und der vielbesprochne schwedische Graf. Lady Elizabeth schien
fröhlich und munter zu sein; sie war voller geworden, seit er sie zuletzt gesehen hatte,
und das sehr moderne „transparente" Kleid aus Spitzenstoff über großgemustertem,
blauem Brokat hob ihren weißen Hals und ihre Schultern schön hervor. Das
Stück war ganz neu — von Shadwells hieß es — und ziemlich anzüglich, aber
doch nicht so derb wie viele andre. Es schien, daß Lady Elizabeth sich königlich
amüsierte, sie folgte aufmerksam dem Gang der Komödie und wurde ärgerlich,
wenn jemand von der Gesellschaft sie störte, hin und wieder biß sie sich in die
Lippe, lächelte und führte den Fächer leicht über die Lippen und das Kinn. Wenn
Harry erwartet hatte, in ihrem Antlitz die geringste Spur von Sehnsucht oder
geheimem Kummer zu sehen, war er wahrlich enttäuscht.
Ohne Herz! sagte er bitter zu sich selbst, ohne Herz — sie ist nicht anders
als sie alle! Eine leichtfertige Dirne, die sich nie das Geringste bei allen ihren
Reden, ihren Küssen und ihren Tollheiten gedacht hat . . .
Er saß da und starrte sie an, plötzlich warm am ganzen Körper, wütend auf
sie, gehässig und überlegen verächtlich und die ganze Zeit im innersten Innern
gequält von dem Bewußtsein seiner eignen wahnsinnigen hoffnungslosen Sehnsucht.
Gegen Ende des Stückes wurde sie müde. Sie stützte den Kopf auf die ge¬
ballten Hände und beugte sich vor — sah zerstreut mit ihren klaren, freundlichen
Augen auf die Zuschauer hinab. Plötzlich zog sie sich ein wenig zurück — sie
wechselte die Farbe. Ihr Blick war dem Henry Percys begegnet.
Sie fühlte selbst, und er sah es — wie rot sie wurde. Die Augen strahlten —
senkten sich — hoben sich von neuem. Sie war bisher fröhlich gewesen, heiter
und sorglos, so wie ihre Natur nun einmal war, leicht zu belustigen — jetzt sah
er, wie der Ausdruck in ihrem heitern Antlitz wechseln konnte, sah Zärtlichkeit, Wärme,
eine halb ängstliche, halb wonnevolle Erwartung sich in ihren lächelnden, nicht mehr
so klaren Blick schleichen.
Henry Percy beantwortete ihren Blick — wo war all sein Zorn, sein über¬
legner und berechtigter Hohn geblieben? Er vergaß alles und alle um sich her,
wie er bleich dasaß und sie mit den Augen verschlang. Als Graf Königsmark
hinter ihr mit ihr sprach, und sie sich einen Augenblick umwandte, erhob er sich
und ging.
In dieser Nacht schlief Kapitän Percy nicht viel. Den Hut tief in die Stirn
gedrückt, die Arme in seinen weiten Mantel gehüllt, streifte er im Mondschein in
dem Stadtviertel umher, wo Lady Northumberlands Haus in der Se. Jnmes' Street
^g. Und schon am nächsten Vormittag stand er unter den Lieferanten und Bitt-
Uellern in Lady Ogles Vorgemach.
. Der Herr Kapitän! rief Amelia halb entsetzt, halb neugierig aus. Sie
Mg mit einem Schlüsselbund in der Hand durch das Zimmer und machte ihm
einen Knicks.
Ja, sagte er überlegen abweisend. Ist Mylady schon aufgestanden?
Schon längst! antwortete Amelia bereitwillig. Sie sitzt dem Grafen Königs-
"art, der beschäftigt ist, ihr Bild zu malen — fügte sie redselig maliziös hinzu
und konnte es nicht lassen, Kapitän Percy ins Gesicht zu sehen, während sie das
'"gte. Aber jetzt will ich James sagen, daß er den Herrn Kapitän meldet . . .
Nein, ich danke! murmelte Harry kurz, sinnlos erbittert auf Lady Elizabeth
und ebenso sinnlos gedemütigt durch Amelias freundliches Entgegenkommen. Ich
M Mylady nicht stören. Ich komme wieder . . . Ein andresmal, wenn es ihr
°Mer paßt . . . Dann grüßte er das Mädchen flüchtig, drehte sich auf dem Absatz
u», und ging.
Ohne Mylady auch nur seinen untertänigen Gruß zu vermelden, sagte Amelia
"ewdigt zu ihrer Herrin, als sie ihr pflichtschuldigst den Besuch mitteilte.
Warum hast du es mir nicht sofort gesagt? rief Lady Elizabeth mit heftigem
^orwurf und purpurrotem Antlitzes aus. Wozu mußtest du auch von dem dummen
'Porträt des Grafen reden? Weshalb kamst du nicht sofort herein und ließest mich""sser. daß er hier war?
Aber Mylady . . .! sagte Amelia ganz vernichtet vor tugendhafter Scham über
Heftigkeit ihrer Dame.
^ Ja, sagte Elizabeth und atmete tief auf. Ich meine, was ich sage. Aber du
>t dumm, eine richtige Gans — weißt nie, wie du dich benehmen sollst ... Sie
Mg und schlug die Tür heftig hinter sich zu.
... So — er wollte also nicht auf mich warten, Monsieur Harry, keine
^ Mte — nicht eine Sekunde! dachte sie, während sie empört, erzürnt und
^ tauscht in ihrem Kabinett auf und nieder ging. Er stand vor meiner Tür
^ nur ein Zimmer trennte uns —, und er hatte das Herz zu gehn, ohne auch
ur meine Stimme gehört zu haben . . . nach alledem, was er diesen Somme>
^" wir gesagt hat und . . . Sie blieb vor dem Fenster stehn, stand da und
Narrte finster in den Herbstnebel hinaus und biß mutlos auf den Zipfel ihres
^chenwchs. Er glaubt immer, daß er über mich zu Gericht sitzen kann, und dabei
ces er doch nichts, gar nichts. Sie stampfte mehrmals erregt mit dem Fuß auf.
Aber ich will ihn lehren! rief sie laut, verbissen rachgierig aus. Ich will
")n lehren ...
Sie stand noch immer da und starrte auf die Straße hinaus, niedergeschlagen,
verzweifelt, sich selbst in bitterer Stimmung alles das ausmalend, dessen sie ver¬
fug gegangen war.
. Und jetzt hätte er bei mir sein können, dachte sie — dort auf dem Sofa
könn" ^ Susannen sitzen können, und ich hätte seine Hände in den meinen halten
Plötzlich fing sie an zu weinen — weinte, bis sie zitterte und keine schluchzte,
^"nz wie ein Kind konnte sie gar nicht wieder aufhören.
Mehrere Tage blieb sie im Hause — wagte nicht auszugehn — nicht einmal
bis in den Se. James' Park — aus Furcht, seinen Besuch abermals zu verfehlen. Und
jeden Morgen, wenn Amelia in ihr Zimmer kam, begegnete diese demselben eifrig
fragenden Blick in den Augen ihrer jungen Herrin. Sie wußte, was er bedeutete,
aber sie wollte zeigen, daß sie durch Myladys unpassende Heftigkeit und unge¬
rechten Vorwürfe beleidigt war — ist das eine Art, so gegen ein ehrbares Frauen¬
zimmer aufzubrausen, das seine Pflicht tut? räsonierte sie —, und sie beant¬
wortete niemals Lady Elizabeths stumme Fragen mit etwas anderm als mit einem
kühl untertänigen:
Wünschen Mylady etwas?
Ach, seufzte Lady Elizabeth ungeduldig und kroch wieder betrübt in ihrem
Bett zusammen, den Kopf auf den Arm gelegt, in den zu beißen, bis die Haut
Spuren davon trug, ihr eine gewisse Befriedigung gewährte.
Ganz wie ein wütendes junges Kätzchen, brummte Amelia, wenn sie zuni
Zimmer hinausging. Weshalb schickt sie nicht nach ihm, wenn sie doch nicht ohne
ihn leben kann, statt andern Tag für Tag das Leben zu vergällen? . . .
Das war es ja, woran Lady Elizabeth immerwährend dachte: ob es angehe,
nach ihm zu schicken. Das hatte sie daheim in Alnwick ja oft getan, aber ... Nein,
sie konnte sich nicht dazu bequemen — jetzt nicht.
Er kam nicht wieder. Und der Gedanke, daß er sich in London befand, ihr
so nahe, machte sie fast krank vor Sehnsucht und Ungeduld. Ihre sonst so frohe
und frische Laune wurde reizbar und unberechenbar, sie wurde ungleich in ihrem
Benehmen ihrer Umgebung gegenüber, so launenhaft, daß der beständig gleich
sanguinisch beharrliche Königsmark, der an ihre lächelnde Ermunterung und
schelmische Koketterie gewöhnt war, sich ihr verändertes Benehmen nicht erklären
konnte. Aber er war nicht der Mann, der sich auf die Dauer von einer Frau
auf der Nase spielen ließ.
Zum Teufel auch, Madame — sagte er eines Tags brutal —, geben Sie
mir ein für allemal reinen Bescheid! Bin ich hier im Hause as trox, so sagen
Sie nur ein Wort, und ich gehe augenblicklich.
Sie erschrak, konnte den Gedanken nicht ertragen, daß jemand, der ihr Freund¬
lichkeit oder Liebe erzeigt hatte, erzürnt auf sie sein könne.
Nein nein, Monsieur . . . murmelte sie entschuldigend, ganz unglücklich, und
sah ihn scheu versichernd an. Dann mit einer rücksichtslosen Aufrichtigkeit, die er
mißverstand:
Ach Gott — jetzt müßt Ihr doch nicht auch von mir gehn. Was in aller
Welt sollte ich wohl ohne Euch anfangen? ... ,
Sie sah seinen durchsichtig blonden Teint erröten, sah das Aufblitzen in den
blauen Augen und sah, wie er sich in die blutreiche, zitternde Lippe biß. Dies
bewegliche Gesicht, dieses tiefe, schöne Erröten waren von jeher Königsmarks beste
Bundesgenossen den Frauen gegenüber gewesen. Seine augenscheinliche Gemüts¬
bewegung machte auch auf Lady Elizabeth Eindruck.
Meint Ihr? . . . murmelte er, sein Antlitz dem ihren nähernd — darf ich
wirklich glauben? ...
Ich meine, daß Ihr mein Freund seid, sagte sie gefühlvoll. Mein einziger
Freund . . . und sie brach in Tränen aus.
Königsmark ergriff ihre beiden Hände und hielt sie sehr fest. Weshalb habt
Ihr mir nicht früher gesagt, daß Ihr unglücklich seid? fragte er flüsternd. Ich
wußte ja, daß Ihr den verfressenen Lümmel, mit dem man Euch zusammenschmieden
will, nicht leiden konntet — Ihr, die Ihr die Feinste, die Schönste seid ... Er
beugte das Haupt auf ihre Hände hinab, küßte sie einmal über das andre, indem
er neben ihr auf das Knie glitt, vergaß, den Satz zu beenden, murmelte Worte,
die sie nur halb verstand . . .
Lady Elizabeth war bewegt. Sie, die allen Liebkosungen gegenüber schwach
war, empfand jetzt, wo sie selber von ihrem eignen, unbefriedigten Sehnen gepeinigt
wurde, das doppelte Bedürfnis danach. Noch mit Tränen in den Augen legte sie
UM beiden Hände auf Königsmarks Schultern, beugte sich nieder und küßte ihn
auf die Stirn.
Ach, mein Freund, murmelte sie. Mein guter Freund, der mich so lieb hat...
So lieb hat, wiederholte er — so lieb hat! Was für ein lauer, jammer¬
voller Ausdruck ist das, meine Rubia. Ich könnte mein Leben für Euch opfern,
5-ady Elizabeth — er sah ihr feurig in die tränengefüllten Augen. Tausend Leben,
wenn ich sie hätte . . . Ach, Ihr glaubt mir nicht? . ..
. Freilich, mein guter Freund. Ich glaube Euch. Gutwillig ließ sie ihn sich
wieder ihrer Hände bemächtigen, sie drücken und küssen.
Ich will es Euch beweisen, Madame — ich will es Euch beweisen, daß ich
es ernsthaft meine. In Spanien, wo man sich besser darauf versteht zu lieben
als in irgendeinem andern Lande, pflegt man zu sagen, daß der Mann, der nicht
einmal in seinem Leben alles für die Frau wagt, die er gewinnen will: Zukunft,
^üben und Leben — alles, der ist ein Feigling, ein Sklave . . . Versteht Ihr
Mich? ... IIr lÄens, Ng,äa,ins. IIr IKelw, inäissns an nom ä'ainiiut . . .
Ich weiß, daß Ihr es tun würdet, sagte Lady Elizabeth, bemüht zu zeigen,
Wie fest six ihn glaubte. Ich weiß, daß Ihr es nicht übers Herz bringen
vurdet, mich zu verlassen, wenn auch alle andern mich vergäßen . . .
Dergleichen sentimentale Szenen zerstreuten und trösteten sie. Wie sie offen¬
herzig zu Köntgsmark sagte: Es täte ihr so gut zu weinen . . .
Eines Abends, als sich Lady Elizabeth auf dem Wege zu ihrer Mutter, jetzt
^ady Montagu, befand, sah sie auf dem Se. James' Platz — wo der Wagen einen
Augenblick halten mußte — Harry Percy in Gesellschaft einiger andrer Offiziere
und eines schönen Weibes. Er sah sie ebenfalls — blieb einen Augenblick stehn.
^We Sekunde begegneten sich ihre Blicke.
^. Dann wandte er sich hastig um und ging mit seiner Gesellschaft weiter. Lady
"zabeth konnte noch aus weiter Ferne seine Stimme hören.
Auf dem Fest im Montagu-House war sie ausgelassener und herausfordernder
,>^?u je zuvor, sie ermunterte Graf Könismark in dem Maße und gab ihre Vor¬
gebe für ihn so deutlich zu erkennen, daß sie ihre Mutter, die sonst nicht viel
^°diz von ihr zu nehmen pflegte, ganz erschreckte und es fast erreichte, diese frivole
Gesellschaft, die sonst das Unglaubliche hingehn ließ, zu chokieren. Und als sie
am. Abend nach Hause kam, war sie so reizbar und unwirsch gegen ihre Zofen,
diese sie fast unerträglich fanden. Allein in ihrem Bett, in der Dunkelheit,
weinte sie sich in Schlaf.
, . , Ons til'as kuhl's of,s, g, kauloon eins to visv,
VKz? drmäsrsä thes etat aigle dö lor tsi-s,
'Wiws 1>,g,i'to to lliino, init mirs to Iisi's, that trsv? ...
... Lady Elizabeth lag halb aufgerichtet in ihrem großen Bett — lag und warf
Reh hin und her und seufzte und stöhnte leise. Es war gegen Abend, einen Tag
"ach Weihnachten, und der winterliche Mondschein fiel durch die schmalen Fenster
Zwei langen Streifen über Fußboden und Möbel.
Es war kein Licht im Zimmer angezündet. Amelia stand am Fenster und
summte leise — zerstreut und gedankenabwesend, während sie den Kopf im Takte
hin und her wiegte — die Melodie des Liedes vor sich hin, das sie eben ihrer
Herrin vorgesungen hatte. Auf dem Fensterbrette lag ihre Näharbeit: ein gestickter
Leinwandkragen und ein Bündel Spitzen; sie beugte sich hinab, um es zusammen¬
zusuchen — noch immer summend —, hielt Plötzlich inne und näherte ihr Gesicht
der Fensterscheibe, indem sie den Tau mit der Stickerei abtrocknete.
Das ist doch sonderbar, sagte sie halblaut zu sich selbst.
Was ist da? fragte Lady Elizabeth vom Bette her.
Sie richtete sich gleichgiltig auf und strich sich mit beiden Händen über ihr
ungeordnetes Haar.
Nichts, antwortete Amelia schnell, blieb aber stehn, den Rücken nach dem Zimmer
hinein, gefesselt von dem, was sie sah. Lady Elizabeth stand auf und guckte ihr
neugierig über die Schulter.
Er kann es nicht sein, sagte Amelia schnell. Lady Elizabeth antwortete nicht
sofort, beugte sich nur weiter nach dem Fenster vor.
Doch! sagte sie endlich, ihrer Sache ganz sicher.
Im Garten vor dem Hause, auf der weißen Steinbank unter den entlaubte»
Linden, hatten sie beide Henry Percy erkannt, der, den Hut neben sich, vornüber¬
gebeugt, die beiden Ellenbogen auf den Knien, dasaß und gedankenlos die Spitze
seines Schwertes durch ein welkes Blatt am Boden bohrte.
Lady Elizabeth wandte sich um, hakte mechanisch, ohne ein Wort zu sagen, ihren
Pelzkragen zu und sah sich nach etwas um, was sie um den Kopf binden konnte.
Mylady denkt doch Wohl nicht daran, hinauszugehn? rief Amelia erschreckt,
empört, mißbilligend aus.
Lady Elizabeth antwortete ihr nicht. Sie nahm eine breite, weiche seidne
Schärpe — so wie sie die Damen zu jener Zeit zuweilen um die Taille zu binden
pflegten — und warf sie über den Kopf. Sie war schon an der Tür.
Mylady! Amelia griff fest nach ihrem Kleide.
Halte den Mund! sagte Lady Elizabeth nur. Laß mich gehn!
Wenn ich Lady Elizabeth Percy wäre, würde ich wahrhaftig stolzer sein —
sagte Amelia sittlich entrüstet. Sie ließ das Kleid los und richtete sich auf. Lady
Elizabeth war schon halbwegs die kleine Treppe hinab, die in den Garten führte.
Sie lief sie schnell hinunter, tacher während der ganzen Zeit nur daran, ob
die Gartentür wohl verschlossen sei —- nein, sie ging auf! Sie blieb auf der Tür¬
schwelle stehn: der Mond beschien hell den ganzen entlaubten Garten, der ein¬
geklemmt zwischen hohen, dunkeln Ziegelsteinmauern lag.
Dann ging sie schnell den Gartenpfad entlang auf die Steinbank zu — der
Kies knirschte unter ihren dünnen Schuhen. Der Mann auf der Bank richtete sich
auf und sprang schnell in die Höhe.
Sie blieb ein paar Schritte entfernt von ihm stehn, plötzlich unsicher, verlegen,
hilflos. Er räusperte sich, stammelte etwas — ging ihr entgegen und verbeugte sich
formell.
Ich bitte um Verzeihung, begann er unbeholfen, ungewandt. Die Pforte zum
Garten stand zufällig offen, und da . . . Es tut mir leid ... Ich begreife selbst
nicht, wie es zuging, daß ich so lange sitzen blieb ...
Ach, das macht nichts, sagte Lady Elizabeth schnell, versöhnlich, ebenso unbe¬
holfen. Und dann, als er Miene machte, sich rückwärts zu entfernen — flehend,
ganz unglücklich: Ach nein . . . Aber Harry — so geh doch nicht.
Es ist spät, murmelte er ausweichend — später, als ich glaubte —
Sie blieb mitten auf dem Gartenpfade stehn — schlank und schmächtig in
ihrem langen, nachlässigen Gewände, barhäuptig, die herabfallende Schärpe über den
Schultern und mit hilflos herabhängenden Händen.
Ich gehe, Lady Elizabeth — Und er zögerte.
So geh denn! Sie wandte sich von ihm ab — aber nicht dem Hause zu.
-Mndlings, heftig, sich einen Weg durch das dichte, welke Rosengestrüpp jenseits
des Pfades bahnend.
Lady Elizabeth . . . Elizabeth . . .
Mit einem einzigen Sprung war er schon an ihrer Seite, trat die welken
Zweige nieder. Er ergriff ihre Hand, die sie ihm sofort erzürnt zu entzieh» suchte,
die er aber festhielt.
Lady Elizabeth, sei jetzt vernünftig — seine Stimme klang bestimmt, fast be-
'ehlerisch. Geh hinauf, sage ich . . . Es ist bald Schlafenszeit.
Geht! Geht! rief sie außer sich, tödlich gekränkt durch die Art und Weise,
wie er sie empfangen hatte. Um Himmels willen, Kapitän Percy — haltet Euch
meinetwegen nicht auf. Geht zu ihr — der Dirne mit dem gelben Haar ... Sie
und zerrte an ihrer Hand, um sie zu befreien, er aber hielt sie fest. Und da
"engte sie sich herab und biß ihn in die Hand über dem Daumen.
An! ... Er fluchte. Er griff ihre andre Hand und lachte laut. Sie brach in
Trauer aus. Plötzlich geknickt, widerstandlos, bitterlich bereuend.
. Du dumme Wildkatze du! war alles, was er sagte. Sie weinte immer noch,
emütig, glückselig, während sie ihre Schärpe um seine blutende Hand wickelte.
Weshalb wolltest du mich nicht sehen, Harry? schluchzte sie, über die Hand
gebeugt.
Es war am besten so, Lady Elizabeth.
Du machst dir nichts aus mir.
Nein. Er lächelte.
5, Ich weiß sehr wohl, daß du dir nur etwas aus dem gelbhaarigen Affen machst,
^es habe sie gesehen. Sie war kalkig und rot angemalt wie eine Hauswart. Pfui!
weiß es.
Ja.
Harry! Wenn du noch einmal „ja" sagst, springe ich in den Fluß.
. Ach, schweig du nur still ... Du kommst hierher und willst mir den Text
d ^ ^ der ich . . . Er lachte hart und ironisch. Meinst du etwa, daß ich
ich nicht im Auge behalten habe? Meinst dn, ich wüßte nicht, was du vorgenommen
hast, mein Püppchen? All dein Herumscharwenzeln mit dem schwedischen Aben-
eurer — auch jetzt, in diesem Herbst ... Meinst du. ich wüßte nicht, daß du genau
w toll und leichtfertig und schamlos bist wie die andern feinen Damen, mit denen
°u hier in London verkehrst?
Viel schlimmer. Harry, sagte sie leise. Ich bin viel schlimmer als die andern.
Das ist nicht wahr! rief er heftig, ängstlich aus.
Ja, flüsterte Lady Elizabeth. Keine von allen, die ich kenne, würde am Abend
aus ihrer Kammer, aus ihrem Bette gesprungen sein — denn ich lag da oben und
Mte Kopfschmerzen —, nur weil sie vom Fenster aus einen Mantel schimmern sah.
^ sie kennen zu müssen glaubte, und eine schwarze Haarmähne, die. ..
Ist es wahr? murmelte er leise, bewegt, noch mißtrauisch.
Ja. Sie legte die Wange gegen seine verwundete Hand, die sie noch in der
'yren hielt, und küßte sie langsam.
r. Er zog sie mit seinem linken Arm an sich, sah ihr in die Augen, die sie halb
^->en, halb lächelnd zu ihm erhob.
Gott Verzeih mir, Elizabeth, flüsterte er undeutlich, aber, aber ... die Hand,
die sie frei hatte, legte sie auf seinen Mund, und die Worte wurden in Küssen
erstickt — auf die Hand, auf den Arm, überall, wo es ihm möglich war zu küssen.
Harry — bist du mir noch böse? Das letztemal, als wir miteinander sprachen
— weißt du noch? —, warst du schrecklich unverschämt gegen mich —
Das nahmst du ziemlich leicht, sagte er bitter, vorwurfsvoll.
Was weißt du davon? Ach, du weißt nichts. Nichts weißt du — nichts —
gar nichts. ,
Nein . . . nicht mehr als ein gewöhnlicher Mann ...
Nein, nicht mehr als ein gewöhnlicher Mann, äffte sie ihm nach mit ein Paar
Augen voller Lachen, dicht unter den seinen. Ach Gott, Harry! ... Es ist beinahe
ein halbes Jahr oder so ungefähr her, als wir zuletzt miteinander sprachen, und
du weißt nicht, wieviel ich weiß. Über mich selbst und über dich.
Du, die du nur ein Kind bist . . .
Nicht mehr, Harry. Nicht mehr. Kannst du denn das nicht sehen — ach nein,
es ist hier so dunkel . . . Aber kannst du es nicht fühlen . . . Mit den Lippen,
mit den Fingerspitzen ...
Sie fuhr liebkosend mit ihren Händen die Kreuz und die Quer über sein
Gesicht. Ich kann es fühlen, daß du kleine Runzeln um die Augen herum bekommen
hast und eine Falte auf der Stirn, die du früher nicht hattest. ... Mein armer Harry!
Sie hob sich auf die Zehenspitzen und küßte sanft seine Augenwinkel und Lider.
Und du kannst nicht einmal fühlen, wie groß und erwachsen ich geworden bin.
Dumme Hände! ... Du hast dumme Hände, Harry. Und auch nicht gerade sehr ge¬
witzte Lippen ... aber warm sind sie.
Nach einer Weile wiederholte sie: Aber warm sind sie, und lachte dabei leise
und glücklich.
Sie waren zwischen den großen Bäumen in der Ecke an der Mauer angelangt,
deren Schatten sie jetzt ganz umhüllte. Auf einen Haufen herabgefallner Zweige,
die der Gärtner zu einem großen Reisigbündel zusammengefügt hatte, setzte sich
Henry Percy nieder, den einen Fuß auf dem Boden ruhend. Sie stand neben ihm,
die Arme um seinen Hals.
Harry ... kannst du nichts für uns tun, für uns beide?
Ich? sagte er bitter. Ich? wiederholte er noch einmal mit einem kurzen, klang¬
losen Lachen. Was kann ich tuu? Ich kann vielleicht Sir Thomas Thynne nieder¬
schießen — schon mehr als einmal habe ich mich dazu versucht gefühlt —, aber
deswegen würde unsre Stellung ja nicht besser werden — vielmehr schlimmer. Was
hat es uns genützt, daß der arme Ogle starb? ... Wenn du wieder frei wirst, so
mischt sich nur der König hinein und zwingt dich, einen seiner Mignons oder Bastarde
zu heiraten. Das hat er ja schon einmal versucht, und das ist ja Sitte und Gebrauch,
wenn es sich um eine reiche Erbin handelt.
Ach ja, ich weiß wohl ...
Sie seufzte und versuchte nicht mehr über die Sache zu reden. Ihre Lage
war hoffnungslos, das wußte sie ja ebensogut wie er. Sie sprachen überhaupt nicht
mehr. Er hatte sie dichter an sich gezogen und seinen Kopf gegen ihre Schulter
und Brust gelehnt; sie beugte sich herab und preßte ihre Wange zärtlich gegen sein
langes, lockiges Haar, das sie liebte.
Harry — flüsterte sie plötzlich, und er konnte es ihrer Stimme anhören, wie
ungern sie es sagte —, mich friert so schrecklich an meine Füße. Meine Schuhe
sind so dünn, und der eine hat ein Loch ...
Er fuhr zusammen und richtete sich auf, ohne sie aber freizulassen.
Du mußt hineingehn — sofort. Natürlich mußt du hineingehn. Es ist auch
schon spät.
Aber ich will nicht. Ich will lieber frieren. Nimm mich auf deinen Schoß,
dann kann ich die Füße unter das Kleid hinaufziehn ...
Nein, sagte er und setzte sie bestimmt nieder. Ich will nicht, daß du krank
werden sollst, und ... Er zog sie noch einmal an sich — es wurde ihm schwer,
ste wieder zu lassen. Die Arme um ihre Taille sah er ihr tief in die Augen mit
einem starken und feurig fragenden Blick, vor dem sie, nachdem sie ihm erst be¬
gegnet war, langsam den Kopf abwandte.
. Nein, murmelte er und schob sie sanft von sich. Ich . . . Ich - . . Er führte
die Hand über die Stirn. Geht hinein, Lady Eltzabeth!
... sagte sie leise — plötzlich nachgebend und gehorsam, die Wangen mit
neferm Rot gefüllt als bisher.
Oben auf der dunkeln Treppe saß Amelia, die Knie fast unter das Kinn ge¬
igen, und wartete auf sie. Lady Elizabeth, die auf ihren dünnen Schuhen daherkam,
i^se so leicht, als flöge sie, war nahe daran, über sie zu fallen.
Amelia führte sie hinein — atemlos, mit heißen Wangen, eiskalt an Händen
und Füßen.
Es wird sich schon geben ... mit einem kleinen, verlegner, halb entschuldigenden
^chen sah Lady Elizabeth auf Amelia hinab, die — schweigend, beleidigt — vor
auf den Knien lag und ihr die Füße rieb.
. Die Frau Gräfin hat geschickt — bequemte sich Amelia endlich zu sagen. Ich
>"gte, Mylady schlafe.
Lady Elizabeth beugte sich hinab und streichelte scheu Amelias Wange. Aber
i^e sagte nichts weiter als: Es ist mir ganz einerlei, was man glaubt.
Lady Elizabeth lag im Bette, vor Kälte zitternd. Amelia ging hin und her
und räumte auf beim Scheine einer ungeputzten Kerze auf der Truhe. Sie war
höchlich beleidigt, weil ihre Herrin, die in jeder andern Richtung so offenherzig war,
M nie das Geringste anvertraute, sobald es sich um Kapitän Percy handelte. Als
°b sie das Ganze nicht ohnedies wüßte, und als ob Mylady sich nicht auf sie ver¬
fassen könnte!
Sen > Elizabeth, die trotz aller ihrer stolzen Selbständigkeit und ihrer vornehmen
Allüren jammervoll abhängig war von der Stimmung ihrer Umgebung, lag da und
folgte ihr verstohlen mit den Augen.
Schließlich kam das Mädchen, nachdem es die Kleider geordnet hatte, an das
^ete heran und fing an, das große, scharlachrote Oberbett um ihre Herrin einzu-
Uopfen. Lady Elizabeth tat, als schliefe sie.
w Plötzlich aber zuckte sie auf, streckte die Arme aus und zog mit einem Kuß
"metiers Kopf an sich.
Soll das ein Dank sein? flüsterte Amelia, noch über ihre Dame gebeugt, mit
euiem kleinen, gedämpften Lachen. Die Liebkosung hatte sie sofort milder gestimmt,
^der. . . oder . . . war es mir vielleicht gar nicht zugedacht? . . .
(Fortsetzung folgt)
So wenig in unsrer an Festlichkeiten überreichen Zeit ein Bedürfnis nach
solchen für den arbeitenden Teil der Nation vorhanden sein kaun, so ist es doch
erfreulich, daß die festliche Stimmung, die anläßlich der Jubiläen im großherzoglichen
Hause das badische Land ergriffen hat, im übrigen Deutschland und zumal im
Norden aufrichtig geteilt und mitempfunden wird. In der Person des Großherzogs
Friedrich verkörpert sich die deutsche Geschichte der letzten fünfzig Jahre, in denen
das Großherzogtum an allem, was an Freud und Leid über Deutschland dahin¬
gezogen ist, seinen vollen Anteil gehabt hat. Von den Bewegungen der Revolutions¬
jahre an bis zur Wiederaufrichtung des Reichs ist kein Ereignis gewesen im alten
bundestäglichen Deutschland, das nicht auch Baden berührt hätte. Im Gegenteil
darf man sagen, daß sowohl am Anfang wie am Schluß jener Periode Baden
nächst Preußen im Vordergrunde gestanden hat! im geeinten Reich hat dann das
Großherzogtnm durch die Persönlichkeit seines Landesfürsten einen über seine Ein¬
wohnerzahl weit hinausreichenden Einfluß behauptet. In allen kritischen Zeiten
war es der Großherzog von Baden vor allen deutschen Fürsten, ans den sich die
allgemeine Aufmerksamkeit richtete, und dessen vermittelnde Tätigkeit im Kreise der
deutscheu Bundesglieder wiederholt zur Geltung kam. Es ist in diesen Tagen in
der Presse an die erste Begegnung erinnert worden, die im Jahre 1854 der
damalige preußische Bundestagsgesandte von Bismarck mit dem jungen Prinz¬
regenten von Baden gelegentlich einer ihm von seiner Regierung übertragnen Mission
nach Karlsruhe gehabt hat, und von dem sehr günstigen Eindruck, den der Preußische
Staatsmann bet dieser Gelegenheit von dem jungen Fürsten gewonnen hat, der
damals dem preußischen Königshause noch nicht näher getreten war. Bismarck hat
bekanntlich in einem Briefe an seine Gattin hervorgehoben, daß seine Anerkennungs-
fähigkeit nicht groß sei, man darf vielleicht hinzufügen, daß, was er an Anerkennungs¬
fähigkeit ursprünglich gehabt haben mochte, ihm gerade in Frankfurt am Main
verloren gegangen sein wird. Denn in seinen zahlreichen diplomatischen Briefen
und Berichten ans jener Zeit, die schon an die Öffentlichkeit gelangt sind, findet
sich wohl viel scharfe und ätzende Kritik, aber selten ein Wort der Anerkennung
über Personen und Zustände. Um so bemerkenswerter ist das günstige Urteil, das
er in einem Schreiben vom 31. Januar 1854 an den Minister von Manteuffel
über den Regenten von Baden fällt, und wenn es im Laufe der spätern Zeit an Ver¬
schiedenheit der Anschauungen zwischen beiden uicht gefehlt hat, und wenn namentlich
später im Reichsverhältnis König Ludwig der Zweite von Bayern für den Reichs¬
kanzler, zumal im Bundesrat, die sicherste Stütze war, so bleibt es doch eine historisch
feststehende Tatsache, daß in allen schwierigen Augenblicken bis in die jüngste Zeit
der Großherzog von Baden der Reichspolitik ein einsichtiger und kluger Berater,
ein treuer Helfer geblieben ist. In Versailles hat es Bismarck anerkannt, daß der
Großherzog von Baden fast der einzige gewesen sei, der ihm treu und wirksam
geholfen habe, wobei in Betracht zu ziehen ist, daß sich der Großherzog bei seinem
königlichen Schwiegervater eines viel größern Maßes von Ansehen und Einfluß
erfreute als der eigne Sohn. Sicherlich sind ja die nahen verwandtschaftlichen
Beziehungen des Großherzogs zu dem König und Kaiser Wilhelm dem Ersten
'"ehe ohne Bedeutung für sein Ansehen in Deutschland, bei den deutschen und den
Minden Fürsten, aber es wäre ungerecht, behaupten zu wollen, daß Großherzog
»nedrichs hervorragende Rolle nur eine Folge seiner verwandtschaftlichen Be¬
gehungen zum preußischen Köntgshause sei. Auch wenn seine Gemahlin nicht eine
preußische Prinzessin wäre, würde er durch seine kluge und einsichtige Politik, durch
>em Verständnis für nationale Bedürfnisse und internationale Situationen, durch
patriotischen Sinn, seine feste und opfermutige Entschlossenheit, durch die
eHheit, mit der er sein Land regiert, immer zu einer angesehenen und einflu߬
reichen Stellung im Kreise der deutschen Fürsten berufen gewesen sein. Gewiß
eben seine Haltung in allen nationalen Fragen sehr erleichtert worden durch
Umstand, daß alle politischen Opfer, die zu bringen er sich freudig ent-
^wß. dem von ihm hochverehrten Schwiegervater und dessen Machtstellung zu¬
gute kamen. Aber er konnte in seinen Zugeständnissen freudig erheblich weiter
als andre deutsche Fürsten, weil er wie kein zweiter mit dem Charakter
» Königs und mit dessen innerstem Gedankenkreise vertraut war. Wenn
^ ""^ Wilhelm schon im September 1867, ein Jahr nach den Kämpfen in Sub-
r.in ^' ^ denen ja auch Baden zu den Gegnern Preußens hatte gehören
to t ^ Karlsruhe die Parade der badischen Division in einer Weise abnehmen
M ^"er feierlichen Unterstellung unter den preußischen Oberbefehl in
emäßheit der Augustverträge für den Kriegsfall gleich kam, ja gewissermaßen
in bedeutsamer militärischer Schritt in die Zukunft, dieser vorgreifend, war,
N> ein solcher Vorgang allerdings nur durch die vertrauensvollen persönlichen
^eziehungen beider Fürsten möglich. Baden war bei dem Konflikt der beiden
roßmiichte zum Teil durch seine geographische Lage, zum Teil durch eine Reihe
g, ^er Umstände und da Preußen einer preußenfreundlichen badischen Politik bei
usbruch des Krieges keinen Rückhalt zu gewähren vermochte, aus seinem Gleise
surfen worden. Nach Wiederherstellung des Friedens hat es dann in Süddeutsch-
d " schnell die Führerrolle gewonnen, für die es bezeichnend war, daß Bismarck
Laskerschen Antrage auf Eintritt Badens in den Norddeutschen Bund das
entgegensetzte, er könne nicht den Milchtopf abfahren und das übrige sauer
werden lassen.
^ Man hat in den folgenden Jahrzehnten wohl öfter in politischen Kreisen die
^rage erörtert, weshalb Bismarck in seiner Rechnung Bayern meist immer Baden
en voranstellte, obwohl er durch seinen eignen Souverän doch des Großherzogs,
»"AZ abgesehen von dessen weiser Einsicht, leicht hatte sicher sein dürfen. Aber be-
1'"leich waren die politischen Anschauungen und Einflüsse in der königlichen Familie
/ At immer nach Bismarcks Wunsch. Außer dem König selbst war es in Karlsruhe
> wohl die Königin als der Kronprinz, deren Stimme dort in das Gewicht fiel,
^el Bayern dagegen lag die Sache so, daß in der Regel ein Brief Bismarcks an
en König genügte, sich sogar abweichenden Stimmen bayrischer Minister gegen-
Zustimmung der Krone für schwerwiegende Maßnahmen der Reichspolitik
SU sichern, denen der Großherzog unter dem Einfluß königlicher Familienstimmungen,
^oburger und andrer Anschauungen, vielleicht kritisierend und keineswegs immer
sUMinmend gegenüberstand. Im Gegenteil ist das selbständige Urteil, das sich der
^"Herzog bewahrte und bei seinem königlichen Schwiegervater zur Geltung brachte,
°°» Bismarck wohl mitunter als eine der Erschwerungen seiner amtlichen Tätigkeit
empfunden worden, über die er im engern Kreise und auch in seinen Familienbriefen
>° oft und bitter geklagt hat. Mit auf diesen Umstand mag es zurückzuführen sein,
daß bei der Märzkatastrophe von 1890 dem Großherzog von Baden ein hervor¬
ragender Anteil an dem Sturze Bismarcks zugeschrieben worden ist. Durchaus mit
Unrecht. Der verstorbne Professor scholl (Jena), der um diese Zeit in Berlin
weilte und gerade am entscheidenden Tage vom Großherzog empfangen wurde, auf
den er, weil dieser im Schloß zurückgehalten worden war, längere Zeit im Nieder¬
ländischen Palais warten mußte, hat nach den eignen erregten Äußerungen des
Großherzogs bezeugt, wie wenig dieser mit dem Ausgange einverstanden war, auch
wenn er mit der damals von Bismarck beabsichtigten Richtung der innern Politik
nicht übereinstimmte. Mag immerhin das Maß der persönlichen Sympathie zwischen dem
Großherzog Friedrich und dem ersten Reichskanzler nicht auf der wünschenswerten
Höhe gestanden haben, so würde dieser Umstand den Großherzog doch nie haben
bewegen können, eine Entschließung zu befürworten, deren Ergebnis er als einen
großen Verlust für Deutschland betrachtete. Gerade in der kritischen Zeit des Drei-
Kaiserjahres hat die Reichspolitik wiederholt der Hilfe des Großherzogs bedurft,
und dieser wiederum hatte sie dem Reichskanzler gern und willig geleistet, weil er
in ihm eine Tradition verkörpert sah, die zu stützen er als seine Bundespflicht
betrachtete. Heute, wo diese Zeiten weit zurückliegen, tut es der dankbaren Ver¬
ehrung für den Großherzog Friedrich keinen Abbruch, mit den zahlreichen Diensten,
die er Deutschland geleistet, auch sein Verhältnis zum Fürsten Bismarck zu berühren.
Denn für die Größe und die Bedeutung Bismarcks hat Badens Weiser Landesfürst
jederzeit die volle Anerkennung gehabt, auch dann, wenn er mit ihm nicht überein¬
stimmte oder Bismarck es ihm persönlich erschwerte.
In der englischen Presse dauern die überwiegend unfreundlichen Erörterungen
des Verhältnisses zu Deutschland fort. Es ist das an sich nicht unerwartet, denn
es hat wohl niemand angenommen, daß die Cromberger Begegnung und der Aufent¬
halt Mr. Haldanes in Berlin ausreichen würden, die englische Presse Plötzlich um¬
zustimmen. Dazu ist auch gar keine Veranlassung vorhanden, denn neue Tatsachen
in den Beziehungen beider Nationen zueinander liegen nicht vor. Die englische
Publizistik bleibt auf ihren seit Jahren breitgetretnen Wegen, und nachdem in
jüngster Zeit genug Veranlassung gewesen ist, die deutsche Auffassung des Verhält¬
nisses zu England klarzustellen, darf man um so ruhiger darauf verzichten, die zahl¬
reichen Irrtümer, Übertreibungen und Entstellungen zu berichtigen, die den Aus¬
führungen der englischen Blätter zugrunde liegen. Die Times wärmen zum sound¬
sovielten male die Behauptung auf, im Jahre 1875 (die Times schreiben wohl
infolge eines Druckfehlers 1874) habe es der Intervention der Königin Viktoria
und des Kaisers Alexander bedurft, Deutschland von einem Überfall auf Frankreich
abzuhalten. Der Briefwechsel zwischen Kaiser Wilhelm dem Ersten und dem Fürsten
Bismarck, der doch auch in der Bibliothek der Times zu finden sein sollte, gibt
hinreichend Aufschluß darüber, daß die Königin Viktoria damals offne Türen ein¬
gestoßen hat, und daß es sich von russischer Seite nur um eine vom Kaiser Alexander
selbst sehr schroff beurteilte Intrigue des Fürsten Gortschakow gehandelt hat. Kaum
weniger seltsam berührt der historische Schnitzer der Times, wonach England der
Hegemonie Deutschlands ebenso entgegen sein müsse, wie es die Hegemonie Karls
des Fünften bekämpft habe.
Wie liegt dieser historische Hergang? Franz der Erste von Frankreich
1526 zu Cognac mit Papst Clemens dem Siebenten, Heinrich dem Achten von
England und einigen italienischen Fürsten die „Heilige Ligue" abgeschlossen, die
den Fortschritten der kaiserlichen Macht entgegenwirken sollte. Wenn den Times
die Erinnerung an diese Entente als erwünschtes Vorbild für die heutige britische
Politik vorschwebt, so ist vom deutschen Standpunkt dagegen um so weniger ein-
zuwenden, als sich derselbe Heinrich der Achte 1543 — siebzehn Jahre spater — mit
dem Kaiser zur gänzlichen Eroberung Frankreichs verband. Ja während der Kaiser
schon im Herbst 1544 seinen Frieden von Crepy mit Frankreich schloß, dauerte der
Krieg mit England bis zum Juni 1546. Man sieht daraus, daß auch in alter
vorparlamentarischer Zeit die „Erdeulen" Englands recht wechselnder Natur gewesen
sind, und daß sür die Times gerade kein Anlaß vorliegt, jene Politik als eine
Ruhmestradition für England in Anspruch zu nehmen.
Im großen und ganzen wird bei der deutschen Presse zurzeit wenig Neigung
vorhanden sein, in die durch die englische Publizistik fortgesponnene Polemik einzu¬
treten; man wird sich darauf beschränken dürfen, die publizistischen Wetterzelchen
von der englischen Küste zu registrieren und im übrigen zu warten, bis bestimmte
Fragen zwischen Deutschland und England vorliegen. Sollte England in der Tat
gewillt sein, auf der Haager Konferenz positive Abrüstungsvorschläge zu machen,
so werden ja schon diese hinreichenden Stoff zu Erörterungen bieten, auch wenn
die Herrn Campbell-Bannermcm neuerdings in den Mund gelegten Äußerungen
über Deutschland und die Gründe unsrer angeblichen Isolierung tatsächlich gefallen
sein sollten. Gegenwärtig scheinen die englischen Blätter bei Deutschland ein An¬
näherungsbedürfnis vorauszusetzen, das entweder gar nicht oder doch nur in sehr
geringem Umfange vorhanden ist. Am allerwenigsten besteht irgendwo in Deutsch¬
land der Wunsch, England eine Freundschaft aufzudrängen oder Frankreich aus
dieser Freundschaft zu verdrängen. Jede Politik ist immer in» besten daran wenn
W mit klaren Verhältnissen zu rechnen vermag; es ist deshalb für Deu schland gar
kein Grund vorhanden, ein so klares Verhältnis wie das der engli,es-französischen
Entente zu stören Die Pakt Malt Gazette ist der Ansicht, daß der Schwerpunkt
der englischen Politik weit mehr in der Anwesenheit des Generals French beiden
französischen Manövern zum Ausdruck gekommen sei als in der des Herrn Ha d°ne
in Berlin. Diese Auffassung, die von einigen Blättern als sehr grob bezeichnet
wird, ist durchaus richtig, wir haben vom deutschen Standpunkt aus dagegen gar
nichts einzuwenden, auch wenn mit einigem Recht bezweifelt werden darf, daß die
Ansicht des britischen Kabinetts darin zum Ausdruck gelangt i t. Herr Haldcme
hat in Berlin, wie von englischer Seite bezeugt wird, das denkbar weiteste Ent¬
gegenkommen gefunden. Deutsche Blätter haben sogar Besorgnisse geäußert, ob das
w gegenwärtigen Zeitläuften einem englischen Kriegsminister gegenüber am Platze
Wäre. Man darf aber vielleicht doch der Ansicht sein, daß ,e gründlicher ein eng¬
ischer Kriegsminister die deutschen Heeresinstitutionen kennen lernt er desto mehr
selbst Bedenken haben wird, das französisch-englische Einvernehmen um Sinne eines
Kriegsbündnisses auszubauen. . ^ .
^
, Die wenig erfreulichen kolonialpolitischen Erörterungen in der deutschen Press¬
end neuerdings um einen häßlichen Zuwachs bereichert worden, der sich zedoch zum
Glück mehr als w Z itungsgezänk denn als ein kolonialpolitischer Vorgang ken,i-
Kchnet und durch das eingeleitete gerichtliche Nachspiel seinen Austrag senden
Die Erregung. die einige Tage hindurch in einem Teil der Pr s e weg n ^B°du Kubub-Keetmanshop bestand oder si'^ert wurde ist eb^Weben man sich überzeug! hat. daß der Reichskanzler auf die Antrage des Oberst n
v°n Deimling wenn auch vielleicht ungern, nicht eingegangen ist und d w ^Einwendungen von militärischer Seite durch das Gutachten des G oß n General
Stabes. und dessen Übereinstimmung, vollkommen gedeckt ist D°alt ff n ehe aus
gesprochen, daß auch die Vorbereitungen für diesen B°in'ba.. s wei sie ^Festlegung der Richtung, die genauen Berechnungen des Materi^ »ut sonstigen
technischen Festlegungen betreffen, ebenfalls zu unterbleiben haben. Das korrekte
Verhalten der obersten Reichsbehörde berechtigt wohl zu der Erwartung, daß der
Reichstag, wenn ihm bald nach seinem Zusammentritt eine hinreichend substantiierte
Vorlage gemacht werden sollte, dieser die Genehmigung nicht versagen wird. Es
würde jedenfalls nützlicher sein, einige Monate später mit der Erbauung einer Voll¬
bahn vorzugehn, als jetzt um den Preis, wenn auch nicht eines großen Konflikts,
so jedoch jedenfalls tiefgehender Verstimmungen, ein Jnterimistikum zu schaffen, das
nachher wieder beseitigt werden müßte. In Südwestafrika ist mit und ohne Schuld
des Reichstags so viel verfahren worden, daß die bedauerlichen Folgen, die mit
dem Unterbleiben des Bahnbaues verknüpft sind, mit in den Kauf genommen werden
können. Augenblicklich aus den Bahnbau eingehn oder ihn zulassen hieße, die
Stellung des neuen Kolonialleiters von vornherein außerordentlich erschweren, und
dazu kann bei der Regierung selbstverständlich kein Interesse vorhanden sein.
Der Erbprinz von Hohenlohe, der bis zum Eintritt seines Nachfolgers die Ge¬
schäfte fortgeführt hat, ist nicht ohne Bedauern von einem Amte geschieden, das er
seinerzeit mit wirklichem Enthusiasmus angetreten hatte, in der Hoffnung, dem Deutschen
Reiche dort ersprießliche Dienste leisten zu können. Wären ihm die Verhältnisse schon
damals so bekannt gewesen, wie sie seitdem aufgedeckt worden sind, so würde er sich
wahrscheinlich besonnen haben, die Stellung anzunehmen, und auch auf maßgebender
Seite würde man sich wohl gleich nach dem eisernen Besen umgesehen haben, eine Rolle,
für die der Prinz allerdings nicht geschaffen war. Wenn sich jetzt einzelne Blätter
beeilen, andre Posten für ihn auszusuchen, so greifen sie damit den Tatsachen bedenk¬
lich vor. Von der Nachfolgerschaft in Elsaß-Lothringen zu reden, ist schon an sich
eine Taktlosigkeit gegenüber dem jetzigen Statthalter, dem Vater, die dem Prinzen
schwerlich erwünscht sein kann, ganz abgesehen von mancherlei Bedenken, die gegen
eine erbliche Statthalterschaft vorliegen mögen. Auch in bezug auf Botschafter¬
posten sollten die Blätter nicht so freigebig sein; meist sind es dieselben Zeitungen,
die bei andern Gelegenheiten darüber wettern, daß die hohen diplomatischen
Stellungen nur mit Angehörigen des Adels besetzt werden. Was den Nachfolger,
Herrn Dernburg, anlangt, so läge für seine Berufung der Vergleich mit dem ehe¬
maligen preußischen Finanzminister August von der Heydt am nächsten, der ja
ebenfalls aus dem Bankkontor auf einen Ministerposten berufen wurde. Allerdings
auf den ihm naheliegenden des Ministers für Handel, Gewerbe und öffentliche
Arbeiten, für den er aber immerhin als Mitglied des Elberfelder Handelsgerichts,
des rheinischen Provinziallnndtags, des vereinigten Landtags von 1847 und der
preußischen Nationalversammlung eine gewisse Vorbereitung mitbrachte, während
Herr Dernburg sowohl ohne jede parlamentarische Vergangenheit als auch ohne
jede nähere Kenntnis der Kolonialangelegenheiten ist. Von der Heydt hat sich als
Handelsminister vierzehn Jahre hindurch große Verdienste erworben. Ihm unter¬
standen das Eisenbahn-, Post- und Telegraphenwesen; Preußen hat ihm unter
anderm die Einführung des elektrischen Telegraphen zu danken. Im Jahre 186"
wurde er auf kurze Zeit Finanzminister und trat als solcher im Juni 1866 wieder
ein, als der Minister von Bodelschwingh beim Herannahen des Krieges die Flinte
ins Korn warf. Der Minister von der Heydt hat damals sowohl vor wie nach
dem Kriege als Leiter des preußischen Finanzwesens große Dienste geleistet, er
hat diesen Posten bis 1869 bekleidet, ist also im ganzen siebzehn Jahre Minister
gewesen, viel länger als das heutzutage der Fall zu sein pflegt. Freilich mag
das Elberfelder Bankhaus, aus dem er hervorgegangen war, mit der heutigen
Entwicklung des modernen Bankwesens durch die großen Aktienunternehmungen
kaum zu vergleichen sein, aber ein so unerhörtes Novum, wie es von mancher Seite
dargestellt wird, ist die Berufung eines Kaufmanns doch durchaus nicht. Aus den
Keudellschen Aufzeichnungen ist überdies bekannt geworden, daß Bismarck im Jahre
1866 an die Berufung von Finanzmännern und Industriellen an den Bundesrats¬
tisch gedacht hatte.
Von der Heste am nächsten kommt Ludolph Camphausen, der Ministerpräsident
der Märztage, der ebenfalls aus dem rheinischen Provinziallandtage und dem ver¬
einigten Landtage von 1847 hervorgegangen war. Seine Ministerschaft dauerte aber
nur drei Monate, dann wurde er Vertreter Preußens bei der deutscheu Zentralgewalt
w Frankfurt am Main, einem Posten, von dem er schied, als Friedrich Wilhelm der
Vierte die Kaiserkrone ablehnte. Später ist er dann nur noch als parlamentarischer
Politiker hervorgetreten. Sein Bruder Otto Camphausen. Heydts Nachfolger als
Finanzminister, ist nicht aus dem Bankfach, wie manche Blätter annehmen, sondern
°us der regelrechten Beamtenkarriere hervorgegangen, die er als Referendar bei
der Regierung in Köln begonnen hatte. Eine „neue Ära" ist demnach in der Be¬
rufung des Herrn Dernburg wohl kaum zu sehen, es ist auch kein „Amerikcimsmus",
sondern es ist damit ein Weg wieder betreten worden, der sich schon in der vor-
bisrnarckischen Zeit als gangbar und nützlich erwiesen hat.
Jüngst ist daran erinnert worden das
«in 9. August dieses Jahres fünfzig Jahre seit dem Kampfe des Prinzen Adalbert
v°n Preußen gegen die Nisfpiraten am Kap Tres Foreas verflossen waren, und dre
Grenzboten haben auch noch in Erinnerung gebracht, daß damals von einer preuM)en
Truppensendung gegen diese Piraten die Rede war. Von Interesse ist em Brie
Bismarcks ans jenen Tagen. Er schreibt im Urlaub aus Stolpmunde 25. August
1856 an den General von Gerlach: ..Werden wir denn die Riffpiraten ausräuchern?
Ich kann in die vielseitige humane Verurteilung des Prinzen-Admirals nicht ein¬
stimmen. Einige Tropfen Königliches Blut befruchten die Ehre der Armee, und es
ist besser, d ? unsre ungfräuliche N mit Anstand, wenn auch alt
Pulver gerochen hat. Unsre Marine muß von sich h»ren ^ d^den kleine» und langsamen Anfang verzeiht. Die Gelegenheit scheint sehr günstig.
einen eklatanten kleinen Coup zu machen: die Menschen, die er kostet sterben doch
ehe vierzig Jahre veraehn, und die Taler wird Botel chwingh auch schwerlich besser
als in der Ehr der Ä anlegen können. Noch heute spricht jeder Preuße in.t
Stolz davon daß unsre Flagge unter dem Großen Kurfürsten in Guinea von sich
reden machte und es sind bald zweihundert Jahre; dergleichen Erinnerungen send
wertvoller für die nati male Kraft als so manche Staatseisenbahn und andre zivi¬
lisierte Geldfresser » Es sei hierzu bemerkt, daß Bismarck dieselbe Ansicht hin¬
sichtlich der Truppensendung noch am späten Abend seines Lebens gehabt hat, als
wie ism die ve a^ der Entsendung von geM° s^" DruP^en-
te im des Landheeres nach Afrika besprochen wurde, die er unbedingt b ^ Wer
die S
Rudolf Wustmann, den unsre Leser aus mancherlei feinen Aufsätzen
über Gegenstände der Kunst und der geistigen Kultur kennen, hat kürzlich ein kleines
-iwch über Albrecht Dürer veröffentlicht, das in gedrängter und höchst lebendiger,
persönlich gehaltner Darstellung auf 100 Seiten eigentlich alles berührt, was heute
co gebildeter Mensch von Dürer wissen möchte. Er setzt nicht nur eine ver¬
traute Kenntnis, sondern auch die sorgfältigste Durcharbeitung voraus, und weil
das äußerlich bescheidne, zu der B. G. Teubuerschen Sammlung „Aus Natur- und
Geisteswelt" gehörende Bändchen (1,25 Mark) in seiner Umgebung leicht unterschätzt
oder gar übersehen werden könnte, so soll ausdrücklich hervorgehoben werden, daß
es eine Menge eigner Beobachtungen enthält, neue Erklärungen, Hinweise auf
mögliche Anspielungen, Beziehungen ans wenig bekannte Literatnrstellen und der¬
gleichen. Kein zweites Buch führt den Leser so mühelos und angenehm auch in
die Tiefen der Dürerschen Kunst. Wer es sich zu eigen gemacht hat, dem wird
dann auch Heinrich Wölfflins neustes großes Werk: „Die Kunst Albrecht Dürers"
mit 132 vorzüglichen Abbildungen (München, F. Bruckmann, 12 Mark) nicht zu
schwer sein. Es behandelt die formale Seite der Dürerschen Kunst in eindringender
Analyse bis in alle Details, mit dem scharfen Blick, der den Verfasser auszeichnet.
Es ist ein Buch von großen Ansprüchen, nicht so freundlich im Ton wie des Ver¬
fassers „Klassische Kunst", apodiktisch und dogmatisierend, manchmal sehr von oben
herab, was sich ja nicht jeder erlauben kann. In einer so edeln und prächtigen
Ausstattung ist wohl noch kein Kunstbuch dieser niedrigen Preislage erschienen.
roßherzvg Friedrich hatte es bei der Aufrichtung des Nord¬
deutschen Bundes mit tiefem Schmerz empfunden, daß Baden
draußen blieb. Die Erfahrungen des Jahres 1866 hatten ihn
überzeugt, daß Badens Zukunft nur durch eine organische Ver¬
bindung mit Preußen, möglichst zugleich durch eine territoriale
.mung zu sichern sei, bei der ein abermaliges Versagen des preußischen
Schutzes, wie im Juni 1866, ausgeschlossen wäre. Dieser Wunsch, die Zu-
unft Badens gleichsam „unter preußischen Kanonen" sicher zu stellen, mag
damals auch, wie es sehr naheliegend war, zu einer Anregung verdichtet
Mben, durch eine anderweite Verteilung südwestdeutscher Ländergebiete eine
unmittelbare nachbarliche Umgrenzung Badens an Preußen herzustellen. Bis-
warck lM, wie er im zweiten Bande seiner „Gedanken und Erinnerungen"
^elend, diese durch Roggenbach beim Friedensschluß mit Baden an ihn heran-
äetretne Anregung „g, Aulus abgelehnt", weil er darin „einen Mangel an
Augenmaß für die Zukunft und eine Verdunkelung des Blicks durch badische
Hauspolitik" gefunden habe. Ob Noggenbach diese Sondierung des preußischen
"nisters im Auftrage und mit Wissen seines Souveräns vorgenommen oder
"ur seiner eignen Eingebung dabei gefolgt ist, läßt Bismarck selbst zweifelhaft;
"ach den Erfahrungen bei dem Ausbruch des Krieges und bei der Aussicht
auf einen Südbund unter österreichisch-französischem Protektorat waren solche
Wunsche auf badischer Seite, wo man damals befürchtete, das Opfer einer
"hrisch-österreichischen Verständigung zu werden (Vertrag von Ried!), durchaus
. ^reiflich. Im übrigen aber war nicht Roggenbach, sondern der am 27. Juli
U! das Amt getretne Ministerialpräsident von Freydorf der amtliche Unterhändler
Friedens mit Preußen, dem der zum Ministerpräsidenten ernannte praktische
und kluge Mathy, dessen Name immer in hohen Ehren genannt werden muß,
wenn es sich um die Geschichte des deutscheu Werdens handelt, kaum einen
Eichen Auftrag erteilt haben würde. Roggenbach der im Frühjahr, nach dem
Beschluß der badischen Regierung, ihre Truppen zum achten Bundeskorps stoßen
zu lassen, seinen Sitz in der Kammer und Baden selbst verlassen hatte, indem er
seinem Freunde Mathy erklärte: ich gehe zu den Volskern, hatte damals wohl nur
die Mission, der amtlichen Verhandlung die Wege zu ebnen, wobei ihm seine guten
persönlichen Beziehungen in Berlin zustatten kamen. Er hatte am 8. August
eine Unterredung mit Bismarck, während der amtliche Unterhändler von Frey¬
dorf, begleitet vom Staatsrat Gelzer, erst am folgenden Tage vom Kanzler
empfangen wurde. Gelzer, seit dem Jahre 1845 ein in Berlin gern gesehener
vertrauter Freund des preußischen Königshauses, war, damit er für diese Ver¬
handlungen einen amtlichen Charakter erhielte, vom Großherzog zum badischen
Staatsrat ernannt worden, die Gegenzeichnung war eine der ersten Unterschriften
Mathys nach seiner Übernahme des Ministeriums am 27. Juli gewesen.
Wenn irgend etwas in Berlin zu erreichen war, mußte es Gelzer
gelingen, der dort noch fast im Augenblicke des Kriegsausbruchs als ver¬
trauter Abgesandter des Großherzogs mit dem höchsten Vertrauen empfangen
worden war. Er überbrachte damals dem König ein Schreiben Großherzog
Friedrichs über das negative Ergebnis der Reise nach Pillnitz zum König
Johann und über die letzten Möglichkeiten, den Krieg zu vermeiden. Der
Großherzog empfahl zu diesem Zwecke die energische Durchführung der Bundes-
reform und eine direkte Verhandlung mit dem Herzog von Augustenburg, der
bereit sei, gegen das Versprechen sofortiger Einsetzung auf die preußischen
Februarbedingungen einzugehn. Damit scheide die Schleswig-holsteinische Frage
als Kriegsursache aus. Es ist nicht zu verkennen, daß die Verwirklichung
beider Vorschläge auf die Stimmung in Deutschland, des zweiten Vorschlags
wenigstens auf die Stimmung außerhalb Preußens, einen großen Eindruck
gemacht haben würde. Die Verwirklichung des einen verhinderten der öster¬
reichische Antrag vom 11. und der Bundesbeschluß vom 14. Juni, die des
andern die Unentschlossenheit des Herzogs, der vielleicht unter fremdem Einfluß
von einem Siege der österreichischen Waffen mehr erwartete oder den ihm noch
am 12. Juni dnrch ein Telegramm Bismarcks an den preußischen Gesandten
in Karlsruhe nahegelegten Weg zum Könige nicht finden konnte. Am Vor¬
mittage des 10. Juni 1866, desselben Tages, an dem der preußische Bundes-
reformplan allen deutschen Regierungen telegraphisch übermittelt wurde, war
Gelzer vom König empfangen worden, dem er in langer Unterredung die
badischen Borschläge entwickeln durfte, während er vom Könige selbst eine ein¬
gehende Darlegung der preußischen Politik empfing, zugleich forderte der Monarch
ihn in der huldvollsten Weise zum Aussprechen seiner eignen Ansichten auf.
Die Vorschläge des Großherzogs wurden nicht von der Hand gewiesen,
vom Herzog von Augustenburg wurde nur noch verlangt, daß er sich in dem
bevorstehenden Konflikt mit Österreich rasch und entschlossen auf die Seite
Preußens stelle. In diesem Sinne schrieb der König noch am 14. Juni an
den Großherzog einen Brief, den er Gelzer offen übergeben ließ. Am Abend
dieses denkwürdigen Tages, als die Nachricht von dem verhängnisvollen Bundes¬
tagsbeschluß, den als Kriegserklärung betrachten zu müssen Preußen vorher allen
deutschen Staaten modifiziert hatte, schon vorlag, wurde Gelzer noch von Bismarck
empfangen, der sich im Sinne seiner telegraphischen Weisung nach Karlsruhe
eingehend und wohlwollend aussprach, dann aber in der eindrucksvollsten Weise
die Notwendigkeit des Krieges und einer gewaltsamen Lösung der deutschen
Frage darlegte. Friedrich Curtius berichtet in seiner leider nur allzu kurzen
Biographie Gelzers: „Es war einer der Momente, wo die ganze einzige Größe
des damals von aller Welt verkannten Mannes zur Erscheinung kam: die
beherrschende Klarheit seines genialen Blicks und die elementare Kraft seines
gewaltigen Willens. Für Gelzer war dieser Eindruck von entscheidender Be¬
deutung. Es war ihm von diesem Augenblick an klar, daß die Ziele, denen
^ und sein fürstlicher Freund nachstrebten, nur durch diesen Mann erreicht
werden könnten." Und nun das Wiedersehen im August!
Diese Episode mußte hier eingeschaltet werden, nicht nur weil Gelzer
auch in den Herbstmonaten 1870 ein treuer Helfer gewesen ist, sondern well
sie auch für die heutige Generation deutlich erkennbar die Sphäre umschreibt,
die Großherzog Friedrichs Handeln in jenen wehevollen Geburtsstunden unsers
Deutschen Reichs bestimmt hat.
Der Aufenthalt Gelzers in Berlin im August 1866 hatte noch wettere
Folgen, die sich in den nächsten Jahren und namentlich im Herbst 1370 in
glücklicher Weise geltend machten. Er trat damals auch in Beziehungen zum
kronprinzlichen Paare. Curtius berichtet darüber: „In beiden fand er das
vollste Verständnis dafür, daß nicht ein vergrößertes Preußen, sondern em
einiges Deutschland das Ziel der Arbeit sein müsse, und das Wort der Kron¬
prinzessin, daß den beiden Friedrichen, nördlich und südlich des Maus. bei der
Arbeit für dessen Überbrückung eine Hauptaufgabe zufalle, stimmte alt Gelzers
freudigsten Hoffnungen zusammen." Nachdem am 6. Februar 1867 der Gro߬
herzog mit dem neu ernannten bayrischen Ministerpräsidenten Fürsten Hohenlohe
une Besprechung in Mühlacker gehabt hatte, ging Gelzer in besondrer Msston
"°es München, um Verhandlungen über eine Annäherung der süddeutschen
Staaten an den Norddeutschen Bund anzuknüpfen. Für die Erweiterung des
Norddeutschen Bundes zum Deutschen Bundesstaat, dem Ziele des Großherzogs,
war die öffentliche Meinung in Bayern noch nicht reif aber es ^arg euie
Verständigung über die Grundlagen einer dauerndem Verbindung der süddeutschen
Staaten mit Norddeutschland und über die Herstellung eines materiell gemein¬
samen Rechts in den politisch wichtigsten Aufgabe» der Gesetzgebung Die-
Ergebnisse der Verhandlungen erlangten in sechs Punktionen ^bindenden Abschluß doch konnte das Projekt im Hinblick auf die auswärt s«"ge nicht weiter verfolgt werden. Nachdem bei der Luxemburger Angelegen--
heit die Gefahr einer Friedensstörung mit Mühe beschworen worden war woll e
Bismarck nach der damals erfolgten Veröffentlichung der Schutz- und Trutz.
bündnisse alles vermieden wissen, was Frankreichs Mißtrauen reizen könnte.
Weder der vom Fürsten Hohenlohe angebotne Bund noch die schon damals
vom Großherzog gewünschte Militärkonvention fand deshalb die Zustimmung des
preußischen Staatsmannes. Der Großherzog mußte sich begnügen, das gesamte
Heerwesen Badens nach preußischem Muster zu reformieren, Preußen lieferte
ihm in der Person des Generals von Beyer einen geeigneten Kriegsminister,
und im Herbst hatte er die Genugtuung, die neugestaltete badische Division
dem sorgfältig prüfenden Blicke des Oberfeldherrn in Karlsruhe vorzuführen.
Ein wichtiger Schritt war damit gelungen. Schon am 5. September hatte der
Großherzog bei Eröffnung der Ständeversammlung ausgesprochen: „. . . Mein
Entschluß steht fest, dieser nationalen Einigung unausgesetzt nachzustreben, und
gern werde ich, und wird mit mir mein getreues Volk die Opfer bringen, die
mit dem Eintritt in dieselbe unzertrennlich verbunden sind. . . . Ist auch die
Form der nationalen Einigung Süddeutschlands mit dem Norddeutschen Bunde
noch nicht gefunden, so sind doch schon bedeutungsvolle Schritte zu diesem
Ziele getan. ..." Zwei Tage darauf erging Bismarcks berühmte, durch die
Salzburger Kaiserbegegnung hervorgerufne Zirkulardepesche in ihrer ernsten
entschlossenen Sprache. Still und unermüdlich arbeiteten Großherzog Friedrich
und das badische Ministerium ihrem Ziele zu, und nichts ist bezeichnender
als die zwar resignierte, aber dennoch feste patriotische Zuversicht, mit der
Mathy nach Mitteilung der ablehnenden Antwort Bismarcks auf seinen Antrag,
Baden in den Norddeutschen Bund aufzunehmen, tiefbewegt zum Großherzog
in die Worte ausbrach: „Und wir tun doch unsre Pflicht." Im Februar 1870
fand dann die an den bekannten Laskerschen Antrag anknüpfende Reichstags¬
debatte statt, in der sich Bismarck mit großer Schärfe gegen einen verfrühten
Eintritt Badens aussprach und dabei das Gleichnis brauchte, er könne nicht
den Milchtopf abfahren und den Rest sauer werden lassen. Die Lebhaftig¬
keit der Debatte hatte zu einem Schriftwechsel zwischen den beiden Regierungen
Anlaß gegeben, doch wurde die hervorgerufne Verstimmung erst bei der An¬
wesenheit des Großherzogs in Berlin gelegentlich des Geburtstags des Königs
beseitigt. Bismarck war auf dem Standpunkt geblieben, den er in einer Note
vom 15. September 1867 nach Karlsruhe und im folgenden Monat dem
badischen Gesandten in Berlin gegenüber in mündlicher Aussprache festgehalten
hatte, daß der gegenwärtige Zustand nicht das Ziel, aber eine ganz annehm¬
bare Wartestation sei, wo durch die Bündnisverträge die Sicherheit gegen
fremde Einmischungen, durch den verbesserten Zollverein die Befriedigung
materieller Interessen gesichert scheine. Der Bundeskanzler sah es als die
geschichtliche Mission Badens an, im Süden Deutschlands der zuverlässige
nationale Kern zu sein, und die Gestaltung, die die Verhältnisse damals in
Bayern nahmen, war freilich nicht geeignet, ihn in dieser Auffassung zu er¬
schüttern. War Baden zu nationalen Opfern bereit, so sollte es zunächst das
Opfer des Ausharrens bringen. Neben diesem amtlichen ging zugleich ein sehr
reger fürstlicher Familienverkehr, bei dem der König wiederholt sein Bedauern
aussprach, gegen Baden so zurückhaltend sein zu müssen. Außerdem wurden
von der badischen Seite durch Roggenbach und Gelzer persönlich und schrift¬
lich eine größere Menge von Beziehungen in Berlin unterhalten. Im Winter
1869/70 war Gelzer — wie auch in den nächsten Jahren wiederholt — vom
König in aller Stille nach Rom gesandt worden, um als Vertrauensmann des
Monarchen und zu dessen Information die Vorgänge beim vatikanischen Konzil
ZU beobachten? in den Folgejahren die Situation im Vatikan selbst. Er hat
dann 1872 dem Kaiser in Gegenwart des Großherzogs und des Kronprinzen
eine Reihe von Vorträgen über die „Entwicklung der katholischen Frage :in
Laufe des Jahrhunderts" gehalten. Für Kaiser Wilhelms gewissenhafte Methode
w der Regierung ist auch dieser Umstand charakteristisch.
Als die große Sturmflut im Juli 1870 heranbrauste, stand der Süden
Deutschlands dem Norden gegenüber politisch noch auf dem alten Fleck.
Militärisch war jedoch manches geschehen, den Schutz- und Trutzbündnissen auch
von süddeutscher Seite Inhalt zu verleihen, namentlich auch durch zahlreiche
Kommandierungen nach Berlin. Am weitesten in der militärischen Bereitschaft
war Baden Als nach dem ersten Drittel des Julis die Ereignisse eine drohende
Gestalt annahmen, begann die badische Regierung schon vom 12. Juli ab das
Herannahen der Mobilmachung vorbereitend ins Auge zu fassen. Ergingen
d°es schon am 10 und 11. Juli von Ems aus die ersten königlichen Be¬
fehle wegen der Sicherung von Mainz, am Nachmittag des wurde
Moltke aus dem Urlaub nach Berlin zurückbeordert, während das Knegs-
'ministerium seine gesamten Mobilmachungsvorschriften einer nochmaligen Durch¬
sicht und Prüfung unterzog. Da wird denn auch wohl ein Wink nach Karls¬
ruhe gegangen sein. Am 15. Juli Nachmittags erhielten die Garnisonen
Freiburg und Konstanz den Befehl, nach Rastatt abzurücken. Abends 9 /, Uhr
War von Berlin an alle Generalkommandos die telegraphische Mitteilung er¬
gangen, daß in wenig Stunden der Mobilmachungsbefehl eintreffen werde.
Demgemäß hatte der Großherzog Abends 11^ Uhr die Mobilmachung be¬
fohlen, nachdem schon ewige Stunden vorher der Befehl nach Rastatt ergangen
war. den Rhein durch Kavallerie beobachten zu lassen und sich in der Nach
mit der qrößten Vorsicht sichern. Nach Erlaß des Mobilmachungsbefehls traf
bei dem Vreu^ in Karlsruhe die um 11 Uhr 35 Mieter vom
Bundeskanzler abgesandte Depesche ein. die die Mobtlnmchung des n°^deutschen Heeres meldete und das Ersuchen aussprach. >e adffche Ser ^kr°ste zur Verteidigung Deutschlands auszurüsten". Der Großherzog ha ces
schon am 13. Juli dem Könige brieflich nach Ems hin 5» led r^sur Verfügung gestellt, am 14. Juli war von preumscher Se e das Erstich n
eingetroffen, sogleich das Festungsartilleriebata lion nach Nasta zu nehm
alle Vorbereitungen gegen den gewaltsamen Angriff auch ^r
Kehler Brücke an. am Rhein zu treffen; ..mehr vorerst nicht-. Graf Flemnung
konnte noch an demselben Tage dem Bllndeskanzler melden, daß diesen Wünschen
von'badischer Seite entsprochen werde, doch wünsche General Beyer eine
preußische Pionierkompagnie nebst einigen Jngenieurvffizieren nach Rastatt
sowie die Verstärkung der Besatzung durch ein preußisches Infanterieregiment.
Infolgedessen rückten am 16. und 17. Juli das Fttsilierregiment Ur. 34 aus
Frankfurt am Main, dem seine Reserven geschlossen nachgeführt wurden,
sowie die Mineurkompagnie des Pionierbataillons Ur. 8 mit der Bahn
nach Rastatt ab, sieben Jngenieuroffiziere und einige Artillerieoffiziere
folgten. Dies war die erste Hilfe, die Preußen Süddeutschland brachte. Am
23. Juli stand die badische Division westlich von Karlsruhe konzentriert, bis
auf die Trains marschfähig, eine Avantgarde war bis zur Murg vorgeschoben.
Tags zuvor waren auf Anordnung Moltkes zehn württembergische Reiter¬
eskadrons mit der Eisenbahn von Stuttgart nach Durlach transportiert worden
und hatten bei Ettlingen Kantonnements bezogen; die württembergische Feld¬
division wurde in den folgenden Tagen bei Graben versammelt. Bemerkens¬
wert ist, daß sowohl die badische als die württembergische Division den Wunsch
aussprachen, nicht gemeinschaftlich, sondern jede mit einer preußischen Division
zu einem Armeekorps verbunden zu werden. Am 30. Juli erging durch Moltke
der Befehl des Königs, am linken Rheinufer vorzugehn, den Feind aufzusuchen
und anzugreifen, ein feindlicher Brückenschlag bei Lauterburg werde dadurch ver¬
hindert, ganz Süddeutschland dadurch am wirksamsten geschützt. Da die dritte
Armee in ihrer Gesamtheit noch nicht vereinigt war, viele Trains noch zurück
waren, so meldete der Kronprinz am nächsten Tage, daß er von der sofortigen
Ausführung dieser Operation noch Abstand nehme und die badischen und die
württembergischen Truppen noch auf dem rechten Rheinufer belasse. Vom
Großen Hauptquartier wurde darauf der 3. August als der Termin für die
Operationsbereitschaft festgesetzt.
Der Kronprinz war aus seiner Reise an die süddeutschen Höfe am 29. Juli
in Karlsruhe angekommen und hatte am 30. sein Hauptquartier in Speyer
genommen. Der Großherzog war hoch erfreut, seinen Schwager als Heerführer
zu begrüßen; zum Empfang war auch die Großherzogin, die am 22. Juli mit
den Kindern nach Heidelberg übergesiedelt war, wieder nach Karlsruhe ge¬
kommen. Baden war von den süddeutschen Staaten der einzige, der ohne Prüfung
eines Casus tosÄeris zu den Waffen gegriffen und mit Preußen gleichen
Schritt gehalten hatte, schon am 13. Juli, zwei Tage vor der Mobilmachung,
hatte sich der Großherzog dem Könige zu jeder Verwendung im Dienste des
Vaterlandes zur Verfügung gestellt, der erste von allen deutschen Fürsten.
Es entsprach dies seiner ganzen bisherigen Haltung. Dennoch war für die
politische Stellung Badens zunächst nichts geändert, es blieb der treue Verbündete,,
der seine Pflicht tat. Im mündlichen Gespräch mit dem Kronprinzen konnte wohl
manches Zukunftsbild entrollt, manche Hoffnung besprochen werden, einstweilen
fehlte aber noch jede Grundlage. Der Großherzog beschloß, bis zur völligen
Beendigung der Mobilmachung, bei der Baden an Felddivision, Besatzungs- und
^rsatztruppm 35181 Mann und 8038 Pferde aufstellte, in Karlsruhe zu bleiben
und hier die ersten militärischen Entscheidungen abzuwarten. Ein günstiger Ver¬
ruf mußte sich in seinen unmittelbaren Folgen gegen Straßburg richten.
le Liebestätigkeit, Hilfe für leibliche und sittliche Not der ver¬
schiedensten Art steht in der heutigen Zeit, man kann sagen, fort¬
während auf der Tagesordnung. Von den verschiedensten Seiten
wird dazu aufgerufen, oft genug mit einem stürmischen Drang
und mit herben Vorwürfen über bisherige Versäumnisse. Nicht
»anz selten aber kann man bei solchen, die ihrerseits eine Hilfsarbeit beginnen,
eine überraschende Unkenntnis beobachten über das, was schon getan ist,
^ Deiche sogar auf demselben Gebiet, das sie neu zu beackern meinen — nur
sie selbst von dem Gelärm und Erreichten nichts wissen. Bei dem Reich-
. w und der Vielgestaltigkeit des modernen Lebens darf es aber auch nicht
^ninal wundernehmen, daß von dem Umfang der Liebestätigkeit vielleicht die
eingsten im Volk auch nur annähernd eine Kenntnis und lebendige Vor-
^ellung haben. Es gehört in der Tat ein eingehendes und liebevolles
udium dazu, mit dieser Großmacht unsers modernen Lebens — denn das
I sie — einigermaßen vertraut zu sein. So ists vielleicht manchem will-
nunen, wenn hier einmal versucht wird, nur kurz und in einzelnen lebens-
^n Zügen darzustellen, was bisher getan, was erreicht ist, und es werden
raus von selbst bedeutsame Lehren und Aufgaben für die Gegenwart hervor¬
treten.
Erreicht ist erstens: eine unzählbare Menge von Einzelhilfen.
Als der Kandidat Wiehern am 12. September 1833 zur Gründung des
putzen Hauses aufrief, schloß er seine Rede: „Gewiß, wer jemals ein armes
kuies Kind gesehen, wie jenes eines war, das zu mir, dem damals ihm
"°es gänzlich Unbekannten, auf offner Straße herzulief und mit ausgestreckten
fanden und bittenden Blicken, weinend zu mir hinauf sich wand und
warum sollte ich es nicht erzählen? — die Hände, die ihm noch nie eine
Wohltat erwiesen, küssen wollte und rief: Komm mit! komm mit! und siehe,
""e mir es geht! — Wer solch ein Kind jemals gesehen, der würde die Angst
und die Tiefe des Bedürfnisses in den Seelen dieser Kinder begreifen und
onnte dem heiligen Triebe zu retten nicht widerstehen." Mit zwölf Kindern
eröffnete Wiehern in demselben Jahre das Rauhe Haus. Aber denken wir
nur an jenes eine Kind, das dort Hilfe fand, und denken wir an ein aus
dem Gefängnis entlassenes Mädchen, das vor der Rückkehr auf Wege der
Sünde und des Verderbens behütet worden ist, oder an eine hilflose arme
Kranke oder an einen Heiden, wie sie ohne die barmherzige christliche Liebe
elend zugrunde gegangen wären und durch diese Liebe gerettet sind! Und
denken wir nun an die großen Zahlen derer, die sich haben helfen lassen, dann
werden all die Mühen, die darauf verwandt worden sind, alle die Opfer, die
dafür gebracht worden sind, schon hierdurch allein reich belohnt erscheinen.
Aber bei der „innern Mission", deren Herold ja Wiehern geworden ist, hat
es sich von Anfang an keineswegs bloß um Einzelhilfen gehandelt. Erreicht
ist vielmehr zweitens: eine die weitesten Gebiete menschlichen Lebens um¬
fassende Organisation zur Hilfe. Es ist nicht meine Aufgabe, diese Organisation
hier auch nur auszugsweise darzustellen. Es kann dazu verwiesen werden
auf die „Statistik der Innern Mission der deutschen evangelischen Kirche",
bearbeitet und herausgegeben vom Zentralausschuß für innere Mission (im
Buchhandel 4 Mark). Dieses Werk, das auf 452 Seiten eine Fülle des
reichsten Stoffes in höchst übersichtlicher Form darbietet, gibt allein schon
Zeugnis genug von der Leistungsfähigkeit der innern Mission. Hier sei nur
auf einzelnes hingewiesen: auf die Diakonissenhüuser des Kaiserswerther Ver¬
bandes mit ihren 14000 Schwestern, der Kerntruppe der innern Mission; auf
die vielverzweigte und breite Schichten des Volkes heranziehende Arbeit der
vaterländischen Frauenvereine, die aus den Anregungen der Kriege und aus
den Bestrebungen unsers Königlichen Hauses die stärkste Förderung empfangen
hat, wie denn die Mitarbeit preußischer Königinnen an diesem Gebiet noch
eine besondre Würdigung verdiente. Mit den sonstigen an Zahl ebenfalls
sehr bedeutenden Schwesternschaften, die nicht zum Kaiserswerther Verband
gehören, nenne ich den Diakvnieverein, dessen Hauptgedanke ist, Gelegenheit
und Ausbildung zu schaffen für weibliche Berufstätigkeit und Berufstüchtig¬
keit. Es ist hier eine Beantwortung der Frage angestrebt, an die beim
Beginn der christlichen Liebestätigkeit Amalie Sieveking in Hamburg ihr Leben
gesetzt hat: „Muß das Leben eines Mädchens, das sich nicht verheiratet,
wirklich ein verfehltes und armes sein?" Möge nur diese Frage auch in der
Gegenwart immer so tüchtig, so weiblich, so christlich-sittlich beantwortet
werden, wie es bei dieser Bahnbrecherin christlicher Frauenfreiheit geschah,
und nie beschränkt werden auf die Erlangung eines Diploms und bloßen Brot¬
erwerbs.
Neben diesen Anstalten und Vereinen aber steht die ganze Fülle der
freien Liebestätigkeit, zu der insbesondre die Diakonissenhäuser immer wieder
in einer wahrhaft großartigen und hochherzigen Weise die Hand gereicht haben
zum Beispiel in der Ausbildung „freier Hilfsschwestern", die für die empfangn«
Ausbildung keine andre Verpflichtung übernehmen als die, irgendwie in ihrem
Kreise Liebestätigkeit zu üben. Auf die Jungfrauenvereine mit 84000, d:e
Jünglingsvereine mit 104000 Mitgliedern, die 465 Herbergen zur Heimat, die
320 Rettungshäuser mit 12000 Zöglingen weise ich nur kurz hin, ebenso auf die
Kindergottesdienste mit einer Hilfstruppe von 20000 Helfern und Helferinnen
und übergehe, um nicht mit Zahlen zu ermüden, die Fülle segensreicher Ver¬
anstaltungen.
Aber nennen muß ich als eine Großmacht christlicher Liebestätigkeit acht
bloß, sondern als eine Großmacht modernen Geistes- und Weltlebens die
evangelische Heidenmission mit ihren 6500 Missionaren, ihren 450000 Herden¬
christen, ihrer Jahreseinnahme von 65 Millionen Mark, die allem aus frei¬
willigen Gaben zusammenströmen, mit ihren Taterweisungen, was Liebe lst
und was Liebe kann — ich nenne Livingstone und Alexander Mackay. Chalmers
und John Paton. die heldenmütigen Frauen wie Christiane Kahler und Frau
Coillard und die Früchte der Liebesarbeit, die die geistige Welt Indiens und
Chinas und Japans bewegt und den geknechteten Koth und vertierten Papuas
^n Zugang zu menschlichem Dasein geöffnet hat.
Ich nenne neben den fünfzig bis hundert Jahre in stiller Geduld und
uun hervorbrechenden Ertrag arbeitenden Gesellschaften die neu entstandnen
°der,ieu aufgeblühten großen Liebesbewegungeu: das Rettungswerk in Armenien,
die Liebestätigkeit im Heiligen Lande, das evangelische Liebeswerk in Osterreich,
w Italien (die Waldenser). in Spanien, wo Theodor Fliedners des Kaisers¬
werther Diakonissenvaters Sohn und Enkel in des Vaters und des Großvater.
Sinn und Geist wirkten und wirken. Ich nenne, um aus der Ferne wieder
W die Heimat zurückzukehren, als den jüngsten und stark aufstrebenden Zweig
die Triukerrettuna. Mäßigkeitsverein und Blaues Kreuz, die vor wenig wahren
n°es unbekannt oder verspottet, sich die öffentliche Achtung erzwungen haben.
Damit komme ich auf ein drittes, was erreicht ist. Indem man anfing
on helfen, gewann man den Blick dafür, wieviel Hilfe nötig ist. Und wo
dieser Blick einmal da ist, da sieht man immer neue Nöte. Es ist acht
Spielerei oder ein gewisser Sport, wenn immer neues begonnen wird. Sicher¬
lich wird hier und da von Einzelnen wirklich etwas als em Sport, als ihr
Steckenpferd unternommen. Das diskreditiert die Sache un soll auf das
se-engste vermiede» werden. Aber in den meisten Fallen steht es n ehe ^Es wird vielmehr deshalb immer neues begonnen, weil die Augen geoffne
sind für Nöte, die immer da waren, aber die man entweder acht sah oder
°n die man sich nicht hinanwagte, weil man keine Möglichkeit der Hilfe sah.
^se beim Helfen wMt der
der Äko^n^ ^vlrt
Äln
^unde sie nicht aufnehmen Sie wgm e end ^ ^em"^n Familien, die auch denn redlichsten ^>^n "»o ! in^i^kalbert von der Recke wars, der in Craschmtz zuerst eingriff u d r Provinz
Sachsen die Nathusius und Pastor Kobelt in Nemstedt, dann
Gr
in großem Maßstabe Pastor von Bodelschwingh in Bielefeld. Und jetzt ist
die Versorgung dieser Unglücklichen, durch Gesetz geregelt, eine Sache der Ver¬
waltung der einzelnen Provinzen geworden. Und wie in diesem unbeschreib¬
lichen Jammer doch geholfen und getröstet werden kann, das kann der sehen
und spüren, der einmal in Bielefeld den Chor der Epileptischen hat anstimmen
hören: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden
wir sein wie die Träumender." Etwas ähnliches ist in allerjüngster Zeit
geschehen mit der Krüppelpflege. Das Oberlinhaus in Nowawes bei Potsdam
hat erst seit dem Jahre 1898 darin bahnbrechend in Deutschland gewirkt, und
es wird bekannt sein, welche Ausdehnung das noch so junge Krüppelhaus
unsrer Provinz Sachsen in Krakau bei Magdeburg gewonnen hat.
Noch einige Beispiele. Wie lange ists her, seit man zuerst von Lungen¬
heilstätten hörte? Daß man anfing, sich nach den Heimarbeiterinnen umzu¬
sehen? Und jeder Kundige weiß doch, wie sich in diesen Kreisen oft genug
bitterste Not und dabei manchesmal ein wahres Heldentum ausharrender
Arbeitstreue findet. Aber ich will nicht eingehn auf die Fürsorge für
Ladnerinnen, für Fabrikarbeiterinnen, den christlichen Verein junger Männer
und ähnliches. Ich meine, mit dem Gesagten ist der Beweis erbracht: Es
sind in weiten Kreisen unsers Volkes und keineswegs nur in den kirchlichen
Kreisen die Augen geöffnet, daß man die Schäden zu sehen wagt und sich
mit tatkräftiger Liebe an ihre Überwindung heran macht. Als ein lebendiges
Beispiel dafür, dem aber gewiß andre Städte ähnliches zur Seite zu stellen
haben, nenne ich die sehr nützlichen Arbeiten des „Vereins für Volkswohl"
in Halle. Als einen besondern Fortschritt der Arbeit möchte ich es bezeichnen,
daß man sich längst nicht mehr darauf beschränkt, das schon Verlorne oder
Versunkne wieder herauszuholen, sondern vielmehr, wie in den letztgenannten
Bestrebungen, zu bewahren, zu stärken bemüht ist, damit es erst gar nicht zu
einem Versinken komme. Also man hat auch die drohenden Gefahren, ehe sie
noch hereinbrechen, sehen gelernt.
Was über die Fürsorge für die Epileptischen gesagt wurde, führt uns
auf den vierten Punkt. Erreicht ist durch jene Liebesarbeit eine weitgehende
Beeinflussung unsrer Gesetzgebung, unsrer staatlichen und städtischen Ordnungen.
Fliedner hat in dieser Beziehung in Gemeinschaft mit dem Oberpräsidenten
von Vincke, unterstützt von dem Kronprinzen, daun König Friedrich Wilhelm
dem Vierten in dem preußischen Gefüngniswesen eine völlige Umgestaltung, ja
Neuordnung der Dinge erreicht. Die Berichte der Zustände, die er vorfand,
klingen uns wie Märchen. Wiehern wurde — bis dahin nichts weiter als
Kandidat — 1857 als Oberkonsistorialrat und Mitglied des Evangelischen
Oberkirchenrath zugleich als Vortragender Rat ins Ministerium berufen und
hat da, wenn auch in mühseliger, aufreibender Arbeit, manchen hochbedeutsamen
Fortschritt der Gesetzgebung errungen. Der neuste Gewinn auf diesem Gebiet
ist das wichtige Fürsorgeerziehungsgesetz. Es muß in der Tat immer wieder
diesen Weg gehn, daß sich zuerst die aufopfernde glaubensmutige Tat einzelner
Christen in die Bresche wirft, den Tatbeweis liefert, daß zu helfen ist, mit
diesem Tatbeweis weitere Kreise des Volkes von der Notwendigkeit und prak¬
tischen Möglichkeit eben dieser Hilfe überzeugt, und dann erst kann und muß
die Gesetzgebung eintreten, um nun durch staatliche Ordnung das Bewährte
dem Volksganzen zugute kommen zu lassen. Hierbei kann freilich der Staat
nur die Gesetze geben, die Ausführung der Gesetze und die geisterfüllten
Personen für diese Ausführung zu beschaffen, steht nicht in seiner Gewalt.
Das kann wiederum nur durch die geistigen Mächte des Glaubens und der
Liebe geschehen.
Als ein Ereignis, wenn nicht von weltgeschichtlicher Bedeutung, so jeden¬
falls von entscheidender Bedeutung für die Geschicke unsers Vaterlands muß
ich aber bezeichnen die soziale Gesetzgebung, die Krankenkassen-, Unfall- und
Jnvalidengesetze vom Anfange der achtziger Jahre. Es sei mir erlaubt, an
diesem Punkte um seiner hohen Bedeutung willen einen Augenblick zu ver¬
weilen. — Das Unerhörte war geschehen. Nach der geradezu wunderbaren
Erhebung unsers Volkes in den großen Kriegsjahren, nach dem riesenhaften
Aufschwung unsers wirtschaftlichen Lebens hatte eine verbrecherische Hand
nach dem Haupte des Mannes gezielt, der dem deutscheu Volke als die Ver¬
körperung seiner gottgeschenkten Einheit und Größe in hoher Demut und
Güte vor Augen stand. Nicht einmal ist das geschehen, der mißlungne
Versuch wird nach wenig Wochen wiederholt. Der greise Held bleibt trotz
seiner schweren Verwundung, trotz seines hohen Alters durch wunderbare
Fügung bewahrt. Und was ist nun seine und seiner Regierung Antwort auf
die Wunden, die man seinem Herzen geschlagen hat? Neben der energischen
und furchtlosen Behauptung der staatlichen Ordnung und Gewalt, die keinen
Gedanken von Schwäche oder Furcht aufkommen läßt, zugleich jene Gesetze,
wie sie vorher kein Volk, kein Staat gewagt hat, die damals als ein Sprung
ins Dunkle insofern mit Recht bezeichnet wurden, als in keiner Gesetzgebung
ein Vorbild und Anhalt dafür gegeben war. Diese Gesetzgebung, eine Tat
mutig wägenden Glaubens und kühn opferfreudiger und zugleich weisheitsvoll
besonnener Liebe ist seither eine Grundlage geworden zur Gesundung unsrer
sozialen Zustünde. Es ist dem greisen Kaiser und seinem großen Kanzler
gegeben worden, durch keine Verbitterung geblendet, die Schäden im Volks¬
leben zu sehen und den kühnen Versuch zur Hilfe zu wagen, auf dem denn
weiter gebaut werden konnte. Denken wir einmal diese Gesetzgebung weg aus
der vaterländischen Geschichte! Ist es zu viel gesagt, daß in ihr der Geist
der innern Mission unser Volk von dem unmittelbar drohenden Abgrund hat
retten helfen?
Es wäre eine überaus lohnende, freilich auch sehr umfangreiche Aufgabe,
im einzelnen den Nachweis zu führen, wie im vergangnen Jahrhundert unsre
Gesetzgebung und dadurch die andrer Völker durch die Gedanken und Arbeiten
der christlichen Liebestätigkeit beeinflußt worden ist. Ich erinnere jetzt nur noch
beispielsweise daran, was für eine Förderung die städtische Armenpflege durch
die Bestrebungen der innern Mission empfangen hat. Das Zusammenwirken
einer warmherzigen, einsichtigen, energischen städtischen Armenverwaltung mit
freien Vereinen und kirchlicher Liebestätigkeit, das den übergroßen und außer¬
ordentlich verwickelten Aufgaben in einer schnell wachsenden Großstadt gegen¬
über nicht ratlos und hilflos ist, sondern den Platz behauptet, wenn auch im
Bewußtsein der großen Schwierigkeit der Sache — das ist wahrlich etwas
Erreichtes.
Aber ich gehe auf einen fünften, verwandten und nicht minder wichtigen
Punkt über. Erreicht ist, daß in einer Zeit der schwersten Krisen die evan¬
gelische Kirche ihren Platz behauptet hat in unserm Volke, ja daß ihr aus
diesen Krisen eine wesentliche Umgestaltung und Erneuerung zuteil geworden
ist, die uns trotz allem auch in die schweren Aufgaben der Zukunft mit
freudigem Vertrauen sehen läßt. Krisen, sage ich, sinds gewesen. Sie sind
uns vielleicht nicht so stark zum Bewußtsein gekommen, weil sie glücklich ab¬
gelaufen sind. Ist man genesen, so vergißt man leicht, wie krank man war.
Aber war das nicht eine Krise, als man bald nach dem 1. Oktober 1874,
nach der Einführung der Zivilstandsgesetzgebung, nicht etwa in sozialdemo¬
kratischen, sondern in liberalen Zeitungen jubelte: „Es sei eine Lust zu
leben", nun „außerhalb des Schattens der Kirche leben und sterben" zu
können. Als man in Berlin jubelte: „Hurra, die ersten 10000 Heiden in
Berlin", als noch nicht zwanzig Prozent der Ehen kirchlich getraut wurden,
nicht die Hälfte der Kinder getauft wurden, und als angesichts dieser Tat¬
sachen kirchliche Körperschaften in Berlin, die doch wohl zur Pflege kirchlichen,
christlichen Lebens berufen waren, dem Generalsuperintendenten Bruckner gegen¬
über das Wirken der Stadtmission in der Gemeinde verboten! Ja, damals
handelte es sich um die Existenz der evangelischen Kirche in Berlin in ihrem
bisherigen Bestände. Und in dieser Krisis ist es neben der Lebensnacht des
gepredigten Evangeliums die Tat der Liebe, die innere Mission gewesen, die
heraushalf. Dem Hofprediger Adolf Stöcker, der vorher in Metz die Herberge
zur Heimat und die Diakonissenanstalt ins Leben rief, wars gegeben, Wieherns
Anregungen in Berlin in die Tat umzusetzen, und vergessen wir nicht, daß
aus dieser Liebesarbeit, aus der Berliner Stadtmission zu einem guten Teile
die Anregungen hervorgegangen sind, die in der oben besprochnen sozialen
Gesetzgebung Gestalt gewonnen haben.
In dieser Zeit hat unsre Kirche begonnen, sich aus der Staatskirche, die
sie bis zum 1. Oktober 1874 war, in eine Volkskirche umzuwandeln, die ihren
Rückhalt nicht mehr an polizeilichem Zwang, sondern an der Arbeit seelsorger¬
licher, dienender, helfender Liebe hat.
Es wäre wiederum eine reiche Aufgabe für sich, nachzuweisen, wie sich
der ganze Betrieb des geistlichen Amts, wie sich das Gemeindeleben gänzlich
umgestaltet hat, umgestaltet, indem Pfarramt und Gemeinde längst in weitesten
Maße die Arbeit der innern Mission in Kindergottesdiensten, Jünglings- und
Jnngfrauenvereinen, Blättern und Besuchsvereinen in sich aufgenommen haben.
Und ich meine, das dürfen wir sagen: jwenn je durch irgendwelche Kata¬
strophen unsre Landeskirche in ihrer äußern Organisation zerstört werden
sollte, hilflos stünde jetzt die Kirche nicht mehr da; sie hat in den Arbeitern
und Arbeiterinnen der innern Mission, in den Mitarbeitenden in den Gemeinden
einen geübten Unteroffizier- und Offizierstand, der unter der Wucht der Not
mit Gottes Hilfe wohl fähig sein würde, eine im Volk wurzelnde Kirche ohne
Anlehnung an staatliche Stützen zu behaupten.
Sechstens ist durch die Liebesarbeit eins erreicht, was auf keinem andern
Wege erreicht werden kann: die Konföderation der verschiednen evangelischen
Bekenntnisse. Die staatlich eingeführte Union in Preußen hatte den alten
unheilvollen Zwist zwischen lutherisch und reformiert wieder heraufbeschworen
und statt der Einigung eine dritte Partei, die von den beiden andern am
meisten gehaßte „Union" geschaffen. Der Liebesarbeit ists gelungen, die
Konföderation, das gemeinsame Wirken und damit das gegenseitige Sichver-
stehn ins Werk zu setzen. So schroff ablehnend sich der streng-lutherische
Löhe in Neuendettelsau stellen mochte, längst wirken im Kaiserswerther Ver¬
bände — nur als ein Beispiel sei das genannt — streng lutherische Häuser
wie Dresden, Hannover zusammen mit reformierten und unierten. Längst ist
auf dem ganzen Gebiet der Heidenmission die praktische Konföderation und
die brüderliche Unterstützung aller evangelischen Missionen untereinander (mit
alleiniger Ausnahme der romanisierenden Ausbreituugsgesellschaft) eine Tat¬
sache geworden. Und hören wir nicht in unsern Tagen von einem Zusammen¬
schluß aller deutsch-evangelischen Landeskirchen? Und ihr erstes ganz kleines
gemeinsames Wirkungsgebiet, was ists? Eine Liebesarbeit: die Unterstützung
der schwachen deutsch-evangelischen Gemeinden im Auslande.
Und nun zum letzten und wichtigsten Punkt: Was ist erreicht mit der
christlichen Liebesarbeit? Das ist erreicht, daß in unsrer realistischen Zeit, die an
keine Wunder glauben mag, die nur will gelten lassen, was sie mit Augen sehen
und mit Händen greifen kann, daß in dieser realistischen Zeit die reale Macht
des Christentums vor den Augen des modernen Menschen erwiesen ist. Ein
Grundgesetz des modernen Denkens ist das Kausalitätsgesetz: keine Wirkung
kann da sein, wenn nicht eine Ursache dagewesen ist. Die Wirkungen sind
da, so sehr man sie anfänglich bezweifelte und verspottete: die Diakonissen¬
häuser mit ihren Schwesternscharen und die das ganze Volksleben durch¬
ziehende vielgestaltete Tat der innern Mission und dazu die Scharen der be¬
kehrten Heiden, die aus den höchststehenden Kulturvölkern, wie der Be¬
gründer der christlichen Hochschule in Japan Joseph Nisima und ihr jetziger
Direktor, der zugleich der Präsident des japanischen Reichstags ist, und ebenso
die Bekehrten aus den am tiefsten stehenden Völkern, denen eine vorschnelle
und ungründliche Wissenschaft die unterscheidenden Merkmale des Menschen
abzusprechen geneigt war, und die nun durch die Botschaft von der ver¬
gehenden und rettenden Liebe Gottes in Jesu und durch die Tat der Liebe
in ihrem Gewissen getroffen mit ihrem gesamten Wandel den Tatbeweis geben,
daß an ihnen ein Neues geschehen ist. Die Wirkungen sind da. Keine
Wirkung ohne Ursache. Dann ist also die Liebe, die diese Wirkungen hervor¬
brachte, dann ist das, was allen diesen Menschen die Liebeskraft gab, die er¬
fahrne Liebe Gottes in Christus nicht ein Hirngespinst oder ein totes Dogma,
sondern eine Realität, denn von nichts wird nichts. Was aber hier geworden
ist, trägt nicht die Art des selbstsüchtigen und ehrsüchtigen Menschengeistes an
sich, sondern das Wesen und die Art Jesu und der in ihm erschienenen gött¬
lichen Liebe.
Zwei unverdächtige Zeugen will ich zum Schlüsse anführen: Professor
Haeckel in Jena und Professor Ladenburg, der auf der Kasseler Naturforscher¬
versammlung das Christentum als durch die Naturforschung überwunden be¬
zeichnete. Beide erklären, ihr Ideal sei die werktätige Liebe. Nun muß jeder,
der die Ausführungen dieser beiden Männer liest, über diese Schlußfolgerung
auf das höchste erstaunt sein. Denn wenn der Mensch, wie Haeckel lehrt,
einen freien Willen überhaupt nicht hat, was ist dann Nächstenliebe? Haeckel
versteht darunter den Herdeninstinkt der Tiere. Er spricht dann allerdings
seine starke Verwunderung darüber aus, daß diese so einfache Sache sowohl
in der Theorie wie in der Praxis noch so wenig Anerkennung gefunden hat.
Also ein Naturgesetz, das nur ausnahmsweise wirkt? Was ist das? Wenn
aber aller Fortschritt, wie diese Naturwissenschaft lehrt, auf dem Kampf ums
Dasein beruht, wo bleibt denn da noch Raum und Berechtigung für die
werktätige Nächstenliebe? Die konsequente Schlußfolgerung hieraus ist allein
Nietzsches Herrenmoral, die jede Unterstützung des Schwachen für Unsinn und
Heuchelei erklärt.
Wir haben also hier einen von den geradezu verblüffenden Gedanken¬
sprüngen vor uns, an denen Haeckels Buch so reich ist. Und wenn Laden¬
burg behauptet, alle humanen Bestrebungen der letzten Jahrhunderte seien auf
die Aufklärung zurückzuführen, so ist der Herr Professor eben in gänzlicher
Unkenntnis über die unbestreitbaren geschichtlichen Tatsachen, insbesondre auch
darüber, wie unfruchtbar die Aufklärung an humanen Taten gewesen ist —
an Worten nicht. Aber das nur nebenbei. Uns interessiert hier diese merk¬
würdige Erscheinung, daß Männer, deren ganze Anschauung auf eine Gleich¬
stellung des Menschen mit dem Tier, auf die bloße Entfaltung der Natur¬
triebe hinausläuft, in einer glücklichen Inkonsequenz, die ihrem Herzen, freilich
nicht ihrer Theorie Ehre macht, sich zur werktätigen Nächstenliebe als zu
ihrem Ideal bekennen.
Woher kommt denn dieses logisch ganz Widerspruchsvolle? Offenbar
daher, daß diese Männer, die gewohnt sind, nur gelten zu lassen, was sie
beobachten können, durch die Wucht der Tatsachen von der Bedeutung der
Werktätigen Nächstenliebe überführt worden sind, und vielleicht auch daher,
daß sie allzu gut wissen: wenn sie sich an den Instinkt der Menschen wenden,
wie es ja Haeckel reichlich tut, so dürfen sie sich in der heutigen Zeit nicht
gegen die werktätige Nächstenliebe wenden. So beweist also diese Seite des
Christentums ihre Macht auch über die Gemüter derer, die man für dem
Christentum ganz fernstehend halten möchte, wenn nicht die Heftigkeit und
Gehässigkeit ihrer Angriffe anzeigte, daß sie auch sonst vom Christentum ge¬
troffen worden sind. Fragen möchte man aber wohl, ob auch ein Leser des
Haeckelschen Buches, das in der Erregung sinnlicher Triebe und in der
Schmähung des Heiligen wenigstens für jugendliche Gemüter großes leistet,
durch das Buch zur werktätigen Nächstenliebe angeregt worden sei. Der
Beweis aber ist geschichtlich unanfechtbar gewiß, daß die Volks- und welt¬
bewegenden Errungenschaften der Liebestätigkeit, wie wir sie vor uns haben,
aus dem christlichen Glauben geboren sind.
Das ist erreicht.
Aber wenn wir nun dankbar und gehobnen Herzens auf das Erreichte
sehen, so fühlen wir auch, daß uns damit große Aufgaben für die Gegenwart
gestellt sind. Darum beantworten wir die zweite Frage:
Alles Erreichte kann, wie es durch Liebe geschaffen ist, nur durch Liebe
erhalten und vollendet werden. Es gilt also für uns. die wir diese geschicht¬
liche Grundlage hinter uns haben, erst recht nicht auszuruhen, sondern Liebe
zu üben.
Ich möchte da wohl erinnern an drei Beispiele, die Amalie Sieveking
erzählt: „Eine Dame von gewiß nicht schwachem Verstände beglückwünschte
mich zu meinem Buch (das den Beruf der Frauen und jungen Mädchen zur
Liebestütigkeit darlegt) und versicherte, lange nichts gelesen zu haben, was
sie so sehr erbaute. Und dieselbe Dame versagte ihrer Tochter die Erlaubnis,
gelegentlich einem armen Manne vorzulesen! — Eine meiner Schülerinnen
trägt ernstliches Verlangen nach andrer Beschäftigung als Handarbeiten, welche
jetzt den größten Teil ihrer Zeit ausfüllen. Es bietet sich ihr eine günstige
Gelegenheit dar: sie kann im elterlichen Hause bleiben und nur viermal
wöchentlich beim Unterricht helfen, wobei ihr noch überflüssig Zeit bleibt für
ihre kleinen häuslichen Pflichten; die Aussicht beglückt sie lebhaft, ihre eigne
Mutter erklärt, nichts besseres für sie wünschen zu können, da sie selber drei
erwachsene Töchter kaum zu beschäftigen weiß, und dennoch ist der ganze Plan
gescheitert an dem hartnäckigen Widerstande des Vaters, der den Gedanken, daß
sein Kind sich an eine geregelte Wirksamkeit außer dem Hause binden soll,
nicht zu ertragen vermag! — Ein Bekannter will seiner Frau nicht er¬
lauben, des Morgens Arme zu besuchen aus Furcht, es möchte dem Dienst¬
mädchen an der nötigen Aufsicht fehlen, nicht bei ihrer Arbeit (darin ist sie
tüchtig genug), sondern rücksichtlich der Moralität. Wenn er aber mit seiner
Frau Gesellschaften besucht und das Haus auf mehrere Stunden verläßt,
so weiß er sich seiner zärtlichen Sorge um die Moralität der Mädchen zu
entschlagen."
Amalie Sieveking fügt dem hinzu: Meine Augen werden längst geschlossen
sein, ehe das anders geworden sein wird, und diese Inkonsequenz zwischen
Worten und Taten überwunden sein wird. Nun, anders ist es geworden.
Viele Töchter und Mütter und sogar Väter haben gelernt, welches Glück es
ist, die Liebe zur Tat werden zu lassen. Aber ob deshalb diese drei Beispiele
heute nicht mehr angebracht sind? Ich fürchte, noch sehr! Ja es gilt: Liebe
tun, Liebe üben, und in der Übung Liebe lernen. Diese Übung muß an¬
fangen bei den nächsten Pflichten. Wir dürfen nicht vergessen, daß Livingstone
ein tüchtiger Baumwvllenspinner und dabei ein ungeheuer fleißiger Schüler
war, ehe er der für Afrika bahnbrechende Missionar wurde; daß Alexander
Mackay, der spätere Pionier der Mission in Uganda, vorher ein sehr tüchtiger
Ingenieur war, der übrigens in Berlin Sonntags Morgens diesen oder jenen
fernstehenden Kollegen zur Kirche abholte. Ich erinnere an Wieherns schwere
Jugend und eisernen Fleiß, an Fliedners Treue, als seine Gemeinde in den
Bankerott kam.' Also Treue im Kleinen, im Nächsten, das ist unsre erste
Aufgabe in der Gegenwart.
Ich sage mit Fleiß die erste, die grundlegende. Denn es gibt, nun die
Liebestütigkeit in die Breite gegangen und volkstümlich geworden ist, über¬
genug solche, die ein wenig „mitspielen" möchten, aber nur nicht gebunden
sein! Nur nicht durch Pflichten beschränkt sein, zu tun, was einem beliebt!
Das ist nicht Liebe, sondern Liebhaberei und Spielerei. (Als zwei besondre
Hindernisse wirklicher Liebesarbeit bezeichnet Amalie Sieveking „die ungezähmte
Schwatzlust" und „die interessanten Fälle".) Wehe dem armen Kranken, der
etwa von solcher Krankenschwester verpflegt würde. Mag eine Schwester ge¬
hören, zu welchem Verbände es sei, ob Diakonisse oder im Diakonieverein oder
im Roten Kreuz, oder mag sie ganz für sich arbeiten, oder magh ein Helfer,
eine Helferin sein, welcher Art immer, wer nicht an die Pflicht sich treu im
Kleinen binden will, der übt nicht Liebe. „Das ist die Liebe zu Gott, daß
wir seine Gebote halten."
Dieser Gehorsam, diese Treue verpflichtet uns aber zweitens dazu, das
Gewordne zu pflegen und das Geschichtliche zu achten und davon zu lernen.
Es ist untreu und pflichtvergessen, das, was aus hingebender Liebe geschaffen
und so uns übergeben ist, Not leiden zu lassen und statt dessen lieber etwas
ganz neues nach unserm eignen Geschmack zu beginnen. Wir berauben uns
dadurch des großen Segens der Geschichte, denn die Geschichte ist für den, der
lernen will und nicht mit dem Fehler der unvergornen Jugend alles besser
zu wissen glaubt, die große Lehrmeisterin, die uns vor Fehlern, vor Schwärmerei
wie vor Entmutigung bewahren kann.
Aber gerade wenn wir uns in das Leben der Geschichte vertiefen, die
ja doch nichts abgeschloßnes, nichts fertiges ist, sondern ein bestündiges
Werden, so können uns die Augen geöffnet werden für das, was jetzt werden
will und soll. Und offne Augen, einen mutigen, opferfreudigen Sinn für die
jetzt gebotnen Aufgaben, das müssen wir uns besonders erbitten. Das war
doch das Geheimnis in Fliedners, in Wieherns, in Amalie Sievekings, in
William Careys und andrer Persönlichkeit: sie erkannten, was ihrer Zeit
Vol tat.
Ich will hier für die Gegenwart nur auf einige Punkte aufmerksam
machen. Ich habe auf die hohe Bedeutung unsrer sozialen Gesetzgebung hin¬
gewiesen. Aber damit, daß diese vortrefflichen Gesetze gegeben sind, ist ja die
Sache nicht getan. Es kommt (ebenso wie bei dem Fürsorgegesetz, bei der
Armenpflege usw.) schließlich doch alles auf die Handhabung an, auf die
Personen, die es machen, und wie sie es machen. Da liegen noch große
Aufgaben. Wenn jene Gesetze nicht viel mehr Anerkennung gefunden haben,
so liegt das zum Teil an der Undankbarkeit der menschlichen Natur und an
feindseliger Hetzerei, aber ob nicht zum guten Teil auch an schwerfälliger
Handhabung ohne den Geist des Verständnisses für das, was die Gesetze
sollen?
Von hoher Wichtigkeit aber ist die Klage, die ich aus dem Munde eines
mit Unfallkranken viel beschäftigten Arztes oft gehört habe: die Kranken werden
unter der Wochen- und monatelangen Beobachtung und rein körperlichen Be¬
handlung (Massage usw.) in der unbeschäftigten Gemeinschaft vieler, auch „er¬
fahrner" Leidensgefährten in die schwere Gefahr gebracht, aus fleißigen und
tüchtigen Leuten wenn nicht zu Simulanten so doch zu weichlichen Grüblern
zu werden. Und wird in den segensreichen Lungenheilstätten die Wochen und
Monate dauernde Anleitung, nur der Beobachtung gesundheitlicher Vorschriften
zu leben, den Kranken, der ohnehin schon dazu neigt, nicht vollends dazu er¬
ziehn, ganz dem Egoismus seines Krankseins zu leben und damit sich und
andern zur Last zu werden? Ich möchte hierbei nicht mißverstanden werden,
als erhöbe ich damit Klage gegen den Arzt, ich habe geflissentlich darauf
hingewiesen, wie gerade der einsichtige Arzt diese Schwierigkeit erkennt, aber
er wird allein in den seltensten Fällen in der Lage sein, sie zu heben. Da
liegen also für die Gegenwart große, noch nicht einmal angefaßte Aufgaben
der innern Mission, die doch angefaßt werden müssen, wenn jene großen
körperlichen Hilfen nicht eine sittliche Schwächung unsers Volkes mit sich
bringen sollen.
Ein weiteres Gebiet, das in seiner Wichtigkeit nur erst in ganz kleinen
Kreisen gewürdigt wird, ist der Kampf gegen die in Bild und Schrift, in
Roman und Zeitung ins Volk flutende unzüchtige Sinnlichkeit. Hat doch
sogar der Verfasser des Jörn Abt, dessen urwüchsig kraftvollen Zug man gern
als einen Vorboten einer bessern, sittlich gesundem Bewegung in unsrer
Literatur ansehen möchte, nicht bloß die derbe Sinnlichkeit des Volkes zur
Darstellung gebracht, was sein Recht war, sondern es für nötig gefunden, eine
besondre Sorgfalt darauf zu verwenden, fast bei jeder einzelnen Figur des
Romans bis in die feinsten Einzelheiten hinein nachzuweisen, in welcher Weise
eben sie der Sinnlichkeit verfüllt, bis hin zu dem perversen Abenteuer des
Liebespaares in Amerika, das sonst ganz außer Zusammenhang mit seiner
Erzählung und seinem Stoff steht. Wer nun das Buch liest, muß diese Ver¬
fehlung des Verfassers mit in Kauf nehmen, und wer es ohne deutlichen
Vorbehalt empfiehlt, läuft damit Gefahr, zum mindesten jungen Leuten schweren
Schaden zuzufügen. Ich nenne als Beispiel eben dieses weit verbreitete, viele
andre weit überragende Buch, weil eben darin klar wird, bei wie wenigen
diese furchtbaren Gefahren richtig erkannt werden. Da hat die Frauenwelt
mit ihrem unmittelbaren Gefühl für das, was rein und was unrein ist, ihre
große Aufgabe, jede Mutter, jede Schwester, jede Braut, jede Frau. Viel
mehr als öffentliche Agitation wirkt gerade auf diesem Gebiete die einzelne
reine, mutige und barmherzige Persönlichkeit im häuslichen Kreise wie in der
Geselligkeit.
Ich weise ferner auf ein andres Gebiet hin, das sich freilich damit nahe
berührt: die Pflege der Konfirmierten. Wir haben die Zeit gehabt, wo die
Zuchtlosigkeit der heranwachsenden Jugend überHand nahm, weil bei ihrer Er¬
ziehung die Kirche und die staatliche Ordnung ganz ausgeschaltet waren, und
infolgedessen die Eltern und die Lehrmeister in der Erziehung einfach erlahmten
und überhaupt nichts mehr zu sagen wagten. Das ist schon anders geworden.
Die Fortbildungsschule greift schon stark erziehend bei den Heranwachsenden
ein, und auf die festzuordnende kirchliche Pflege der Konfirmierten hat die
letzte Generalsynode kräftig hingewiesen. Es ist da gerade noch ein Stück von
dem Erbe Wieherns zu heben, dessen besondres Schmerzenskind bekanntlich die
Konfirmation war. Endlich noch ein ganz andres. Vor die Füße gelegt hat
Gott uns durch die unaufhaltsame geschichtliche Entwicklung die riesengroßen
Aufgaben der Heidenmission. Es fehlt noch viel, daß das Christenvolk die
Größe und Wichtigkeit dieser Aufgabe annähernd verstanden und ihrer Größe
entsprechend angegriffen hätte. Doch genug mit diesen Hinweisen. Belone
sei nur noch einmal dieser dritte Punkt: Mutig die Augen auf für die neuen
Aufgaben der Gegenwart!
Darum aber viertens: Arbeitsteilung in Gemeinschaft des Geistes. Wolle
nicht alles machen, sondern mache das deine treu! Aber was du nicht
machen kannst, das laß andre machen und freue dich, wenn sie es tun. Und
wenn sie andres Handwerkszeug gebrauchen als du und andre Baupläne, wie
du sie denken wurdest, so sei nicht kleinlich, sondern halte die innere Liebes-
und Geistesgemeinschaft mit allen, die helfen. Unsre Zeit steht in Gefahr,
ein ungebildetes Spezialistentum zu züchten, wo der Einzelne nur seine be¬
stimmte Schraube drehen kann und sonst von dem, was seine Zeit bewegt,
nichts versteht. Das darf in der christlichen Liebestätigkeit nimmer aufkommen.
Es ist schon früher darauf hingewiesen worden, wie gerade die Mitarbeit an
der weltweiten Heidenmission so besonders geeignet ist, vor Engherzigkeit und
Kirchturmspolitik in der Liebesarbeit zu bewahren. Man darf wohl sagen,
daß alle Erweckungsbewegungen, die nicht die Heidenmission in den Kreis
ihrer Arbeit gezogen haben, sektiererisch und krank geworden sind. Die
echte christliche Liebe macht ihr Stück Arbeit treu und hat doch auf dem
Herzen das ganze Reich Gottes, die gesamte Rettung für Leib und Seele, die
Gott dem Menschen zugedacht hat, sie freut sich deshalb alles dessen, was
Liebe tut.
Die echte christliche Liebe — das ist der fünfte Punkt, den ich betone.
Wir haben ängstlich und gewissenhaft zu wachen über die Lauterkeit unsrer
Beweggründe! Wenn man sich zum wohltätigen Zweck amüsieren will, so ist
das nicht Liebestätigkeit. Man darf ganz überzeugt sein, daß dadurch nicht
der Sinn für Liebestätigkeit, sondern der Sinn für das Amüsement gepflegt
wird — und das sind Gegensätze. Wie sich aber junge Männer, die zu
solchen Wohltätigkeitsamüsements genötigt und darin ausgepreßt worden sind,
hinterher darüber zu äußern pflegen, will ich nicht wiedergeben, es ist auch
für jeden, der hören will, bekannt genug. Ebenso aber können wir wissen,
wie sehr die Beimengung jeglichen Strebens nach eigner Ehre den wachs¬
tümlichen Segen der Liebesarbeit hindert. An allen den gesegneten Männern
und Frauen, Franz Härter, Karoline Fliedner, Goßner u. a., kann man
sehen, wie sie tauglich wurden erst in gründlicher Demütigung vor Gott, wie
aber Gott die grunddemütigen Menschen auch gesegnet hat. Friedrich Nietzsche
bezeichnet die Liebestätigkeit als ein schlaues Manöver der Schwachen, die
andern zu beherrschen. Sorgen wir dafür, daß er bei uns damit auch nicht
im allergeringsten Recht habe!
Darum sei in diesem Zusammenhang noch einmal hingewiesen auf den
eigentümlichen Zusammenhang zwischen Liebestätigkeit und Staatsleben, den
wir schon kennen gelernt haben. Niemals wird sich die Liebe das politische
Gebiet verbieten lassen. Sie kann nicht darauf verzichten, auch die Gesetz¬
gebung, das staatliche und wirtschaftliche Leben zu beeinflussen; sie wäre feige
geworden und Hütte aufgehört, die mutige, selbstvergeßne Liebe zu sein, wenn
sie sich von allem Politischen zurückhielte. Überall, wo wirkliche Kraftbeweisung
der helfenden Liebe ist, wirkt sie auch auf dieses Gebiet, und zwar mächtiger
als die mächtigste politische Partei, sie wirkt auf den Geist der Parteien.
Aber eben damit dieses geschehe, ist hier ganz besondre Achtsamkeit nötig auf
die Lauterkeit der Beweggründe. Wo sich — vielleicht ohne daß man sich
selbst darüber klar Rechenschaft gibt — die Beweggründe so verschieben, daß
nicht mehr die politischen Mächte ein Hilfsmittel sind zur Volkshilfe, sondern
die Liebesarbeit ein Hilfsmittel sein soll, zur politischen Macht zu gelangen
— vielleicht in dem Wahn: „Haben wir nur erst die Macht, so wollen wir
schon alles aufs beste ordnen" —, da geschieht der Sache eine schwere
Schädigung. Denn wenn die Liebesarbeit nicht Selbstzweck ist, ist sie nicht
Liebe und hat ihre wesentliche innere Kraft verloren.
Ich kann ja hier nicht an der großen brennenden Frage unsrer Zeit
vorbei, an dem klaffenden Riß der Stände untereinander, an dem Haß und
Neid der einen, an der Unkenntnis und dem unbekümmerten Genußleben der
andern. „Die höhern Stände werden nicht eher lernen in den persönlichen
Verkehr und die persönliche Bekanntschaft mit den niedern Ständen zu treten,
bis sie ihnen die Fenster einschmeißen", so wurde jüngst von ernst wohl¬
meinender Seite grob aber — wenn auch mit Einschränkung — wahr gesagt.
In dieser persönlichen Verständigung der Stände — nicht bloß in der Ab¬
stellung einzelner Notstände, so wichtig neben vielem andern zum Beispiel die
Wohnungsfrage ist — sehe ich den Kernpunkt der sozialen Frage und glaube,
daß die Arbeiter ihn darin sehen. Wie sehr die Sozialdemokratie diese Ver¬
ständigung erschwert hat, sodaß manche aus den höhern Ständen nach vieler
vergeblicher Mühe und Geduld die Lust verloren haben, das soll nicht ver¬
schwiegen sein. Nun aber scheint in der Arbeiterschaft etwas aufgehn zu
wollen von der mühsamen Saat, die in unbeachteter stiller Arbeit jahrzehnte¬
lang getan worden ist. In Frankfurt hat der erste deutsche Arbeiterkongreß
getagt, der von den evangelischen und den katholischen Arbeitervereinen, den
christlichen Gewerkschaften und andern Organisationen beschickt 622000 organi¬
sierte Arbeiter vertrat, die der Sozialdemokratie nicht folgen, die nichts vom
Umsturz hoffen und wollen, sondern auf dem Boden des Gesetzes, der be¬
stehenden Staatsordnung und des Christentums die Interessen der Arbeiter¬
schaft vertreten wollen. So ist es also doch zu einem Teile schon gelungen,
die Arbeiterschaft von der unheilvollen Führung blinder Parteifanatiker frei
zu machen. Und — bezeichnend genug — dieser erste kleine Schritt, der ja
freilich erst noch künftige große Aufgaben und heißes Ringen anzeigt, das
noch wird getan werden müssen, er ist errungen nicht durch politische Macht¬
mittel, wie Naumann und Goehre wollten, sondern durch die Pflege christ¬
licher Charaktere, christlicher Überzeugungen, lebendigen christlichen Glaubens.
Sind die Personen erst gewonnen, dann gehn auch die Taten voran, dann
gelingen auch die Neuordnungen. Im letzten Grunde kommt alle Hilfe
nicht durch äußere Machtmittel, nicht von außen nach innen, sondern von innen
nach außen.
So bleibt es also doch klar als die größte, die erste und letzte Aufgabe
bestehn auch für unsre Zeit, was Elisabeth Fry mit dem Wort ausgedrückt
hat: „Die Barmherzigkeit mit der Seele ist die Seele der Barmherzigkeit."
Aller Liebesarbeit einiger Meister bleibt darum der, der als die Offenbarung
der Liebe Gottes sich selbst hingegeben hat, Sünder selig zu machen, der allein
die Menschenherzen von innen heraus beeinflussen kann durch den Geist aus
Gott. Vor ihm soll alle christliche Liebesarbeit die Palme niederlegen, von
ihm neuen Mut und neue lautere demütige Liebeskraft erbitten.
! el der Station Rion, wo die Zweigbahn (acht Werst) nach Kutais,
der alten Hauptstadt von Jmeretien, nach Norden abführt, wird
der Rion zum letztenmal auf einer niedrigen Brücke überschritten,
neben der ein neuer eiserner Bau, nahezu vollendet, demnächst
Idem Verkehr übergeben wird. Kutais, an dem der vom Mamisson-
Paß kommende Rion vorbeiströmt, erscheint uns in geringer Entfernung als eine
blühende Gartenstadt, reich an geschichtlichen Erinnerungen. Leider war es nicht
möglich, unsre Reisepläne mit den unruhigen Zeitläuften und den uns noch
übrig bleibenden Tagen so in Übereinstimmung zu bringen, daß wir einen Aus¬
flug dahin und auf andern Seitenbahnen, zum Beispiel nach Borshom, unter¬
nehmen konnten. Wenngleich auch der ruhige Reisende als solcher erkannt
wird und wenigstens bisher an allen diesen Orten nichts ernstliches zu fürchten
hatte, so mußten wir doch mit unerwünschten Aufenthalt und den von der Be¬
hörde bereiteten Schwierigkeiten rechnen und taten besser, das unruhige Treiben
vom sichern Zug aus zu betrachten, anstatt uns hinein zu begeben. Unser
fernes Reiseziel wäre sonst vielleicht unerreichbar geworden. Auch auf den
Bahnhöfen war ja mancherlei zu bemerken. Ssamtredi, wo die Linie nach
Poli abzweigt, und Rion waren gedrängt voll Kaukasier und stark besetzt mit
Posten. Die ganze zwanzigste Division war auf dieser Strecke aufgeboten
worden und in stärkern und schwächern Abteilungen mit dem Bahnschutze be¬
traut. Verstärkte Gendarmerieposten — diese übrigens dauernd eine sehr nütz¬
liche und für die asiatischen Strecken geradezu unentbehrliche Einrichtung der
russischen Eisenbahnen — patrouillierten ans der Plattform, und Sappeure des
ersten kaukasischen Sappeurbataillons waren im Stationsdienst tätig, Offiziere
des zuletzt genannten Truppenteils schienen die Aufsicht auf den Bahnhöfen
übernommen zu haben. Das Publikum bestand natürlich größtenteils aus
Jmeretinzen, ärmern und wohlhabenden, meist in der charakteristischen Burka,
darunter die Tscherkeßka, aus deren Halsausschnitt das bunte seidne Beschmet
heraussieht. Die hohe Lammfellmütze, elegante lange Stiefel und ein ganzes
Waffenarsenal: Säbel, Dolch, Pistolen und Patronen, diese in metallnen Hülsen
an dem Brustteil der Tscherkeßka, vervollständigen den Anzug, der sich im ganzen
Kaukasus allgemein so sehr eingebürgert hat, daß auch die kaukasischen und die
sonstigen asiatischen Kosakentruppen ihn als Uniform, natürlich mit einigen Ab¬
zeichen, tragen. Der elegante Kaukasier kleidet sich in Weiß und paßt mit seiner
schlanken Figur und dem kühnen Schnitt seines Gesichts allerdings tadellos in
die reiche, etwas phantastische Kleidung. Der mittlere Jmeretinze zieht, wie
der Gurier, schwarze Stoffe vor. Man will im Jmeretinzen einen weniger
edeln Typ sehen. Mit seinem dunkeln Gesicht, schwarzen Bart lind Brauen
soll er dem Juden im Ausdruck ähneln und nichts gutes verheißen und nach
seiner ganzen Anlage dem naivem aber rechtlichen und mutigen Gurier und
dem stolzen Grusinier nicht zu vergleichen sein. Das Bild vervollständigte eine
Anzahl dunkeläugiger, brünetter, verschmitzt aussehender Armenier, sodann die
verschiedenartigsten russischen Uniformträger, Eisenbahn- und Steuerbeamte sowie
Angehörige der seit Jahresfrist geschlossenen russischen höhern Bildungsanstalten.
Manche von ihnen sähen zum Lachen aus: mit engen, zu kurzen Hosen, ver¬
schlissenen Anzügen, abgetragnen, schmierigen, viel zu kleinen Uniformmützen auf
der mächtigen ungebändigten Lockenfülle, dazu irgendeinem Teilchen schäbiger
Eleganz in der Kleidung, südlich lebhaft gestikulierend. Wenig weibliche Be¬
völkerung war unterwegs. Doch war der Kopfputz der christlichen Kcmkasierin,
eine Stoffdraperie über breitem Stirnreif, einigemal, auch in Verbindung mit sonst
europäischer Kleidung vertreten. Eine Vertreterin kaukasischer Anmut imponierte
durch die Ungeniertheit, mit der sie, in lebhafter Unterhaltung mit Freunden
ihres Mannes auf dem Bahnsteig stehend, ihrem Säugling die Brust reichte.
Dem Menschengedränge entsprach der Lärm, der fremdartig an unser Ohr schlug,
fremdartig wie die krausen Schriftzeichen, die als Warnungen in grusischer,
armenischer und persischer Sprache neben der offiziellen Ankündigung in russischer
Sprache verschiedne Übeltäter in den Eisenbahnwagen verbieten.
Von Rion aus läuft die Eisenbahn im Tal der Quirila, das noch einige
Zeit den Charakter verhältnismäßig hoher Kultur beibehält und sich nur all¬
mählich verengert. In kurzen Abstünden folgen sich die Stationen, darunter
Quirila, ein ziemlich großes, malerisches Städtchen mit alten zweistöckigen, von
Galerien umzogner, auch säulengeschmückten Häusern, die in ihrem untern Stock¬
werk eine Anzahl Läden beherbergen und entschieden Wohlstand erkennen lassen.
Dicht an die Stadt hinan schieben sich dunkel bewachsne, nicht unbedeutende
Höhen in schönen Formen lind künden den Eintritt in das Ssuramgebirge an,
zu dessen Höhe die Eisenbahn nunmehr in dem engen und tiefen Einschnitt der
Quirilatalschlucht emporsteigt. Bald hinter der Station Quirila folgt noch der
stattliche, wohleingerichtete und in Erweiterung begriffne Bahnhof Scharopan,
von dem sich eine Zweigbahn nach Tschiatura und Ssatschchery in ein Tal des
Großen Kaukasus hinaufwindet, wo reiche Mangancrzlager ausgebeutet werden.
Von jetzt an fährt der Zug immer langsamer, von der Station Marelissy
sogar mit zwei Zug- und einer Druckmaschine, um die bedeutende Steigung
zur Kammhöhe zu bewältigen. Immer kühner wird die Linienführung der
Strecke. Aus Kurven unmittelbar in Gegenkurven übergehend, unzählig oft
das brausende Gebirgswasser überschreitend, bald rechts bald links an den Berg¬
hang angeschmiegt oder wie „ein dunkler Korridor in die Talwände einge¬
schnitten", ist diese Bahn eine der kühnsten und schönsten Verkehrsanlagen und
eröffnet vielfach wechselnde, oft überraschende Einblicke in die Gebirgslandschaft.
Schmelzwasser in graugrünlicher Färbung führend braust der Fluß gegen seine
Ufer, die an der Außenseite seiner scharfen Krümmungen mit Quadermauerwerk
bekleidet sind. An manchen Stellen hat die Eisenbahn das Flußbett verengern
und überbauen müssen. Über den Trachyt-, Schiefer- und Alabasterbrüchen der
Einschnitte werden auf der von der Sonne bestrahlten Talseite Alpenweiden,
hier und da Hütten und Höfe, auch Weinberge sichtbar, und stellenweise be¬
ginnt der Jmerete auf schmalen Flächen den Boden für die Aufnahme der
Saat zu bearbeiten. Hier und da lösen dichter Efeu und tief herabhängender
Baumwuchs die buntfarbigen, weißlich-gelben, blutrot geäderten Flächen ab.
Zunächst noch dunkelgrün erscheinend und eine üppige Frühlingsblumenpracht
versprechend, sind höher hinauf die Hänge und Wände auf ihrer Nordseite
immer mehr mit Schnee bedeckt, den die stark wärmende Frühlingssonne noch
nicht hat bezwingen können. Reiner und klarer wird die Luft, aber auch
empfindlich kühler. Winterlich wird die Landschaft, winterlich die Gewandung
der Bewohner und der Eisenbahnbeamten auf der Strecke. Mancherlei Bau¬
werk zeugt von alter und neuer Kultur: in den Öffnungen enger Seitentäler
die Ruinen alter Festen, dann wieder gutgehaltne Anwesen, Landhäuser und
Bauernhöfe, Straßenbauten und Telegraphenlinien. Außer dem Eisenbahn- und
Staatstelegraphen begleitet der englisch-indische Überlandtelegraph mit zwei sehr
starken Drähten auf eignem Gestänge die Eisenbahn; zu ihrem Schaden und
jetzt wohl großen Bedauern haben ihn die Russen durch ihr Reich über die
Krim und am Schwarzen Meer entlang, weiter über Ssamtredi und Tiflis
nach Persien hinein führen lassen.
Um nichts zu verlieren, haben wir schon längst im Nestaurationswcigen
Platz genommen und durch dessen Glasfenster rechts und links geschaut, dazu
uns zum erstenmal in russischem Stil, d. h. mit Sakußka, Wodka und Schtschi
genährt und nebenbei auf die Unterhaltung der Mitreisenden zu achten versucht.
Es war eine Anzahl Offiziere, ein General, dessen Brigade auf dieser Strecke
verteilt war, Generalstäbler und Kosaken, die natürlich die Ereignisse des Tages
besprachen. Auch die technische Seite der Bahnanlage mußte unser Interesse
fesseln. Eingleisig, wie die allermeisten russischen Eisenbahnen, ist sie auf der
eben durchfahrnen Strecke durch die schon erwähnten kurzen Stationsabstünde
für einen verhältnismüßig hoch zu steigernden Betrieb eingerichtet. Dennoch
kaun sie nnr sehr langsam befahren werden, da sie auf der kurzen Entfernung
von Scharopan bis zum Tunnel von Zipa-Warwarino immerhin mindestens
vierhundert Meter ansteigt und zu einem großen Teil auf Kunstbauten läuft.
Deshalb leicht zu sperren, verlangt sie in unruhigen Zeiten eine sehr sorgfältige
Streckenbewachung und vorsichtigen Betrieb. Auffällig ist die Vermeidung ab¬
kürzender Tunnelbauten, die vor allen Dingen dadurch ihre Erklärung findet,
daß die Bahnlinien werstweise bezahlt werden und der Baufirma durch Umwege
mehr einbringen als durch schwierig herzustellende gerade Strecken, wobei
vielleicht auch berücksichtigt worden ist, daß viele Tunnelbauten seinerzeit die
Fertigstellung erschwert und zunächst verlangsamt hätten. Die Wasserableitung
hat an manchen Orten ziemliche Mühe verursacht — besondre Kanäle, zeit¬
weise in brückenartig die Seitentäler überschreitende Tröge eingeführt, leiten
bedeutende Wassermengen zu Tal; eine größere Anlage dieser Art wird sogar
zur Talflößung von Bau- und Grubenholz benutzt. Hinter Maina wird das
bedeutendste Bauwerk im Zuge der Bahn erreicht, ein Viadukt für zwei Geleise,
auf dem das Tal der Quirila hoch oben zum letztenmal überschritten wird.
Bald dahinter passiert der Zug die grusinische Niederlassung Staraja Zipa
und ihre eigentümliche uralte verteidigungsfähige, mit Schießscharten an Stelle
der Fenster versehene Kirche; fast unmittelbar aus der Dorfstraße läuft er in
den die Kammhöhe des Ssuramgebirges durchsetzenden vier Kilometer laugen
Tunnel von Warwarino ein. Angenehm ist die fast zehn Minuten währende
Durchfahrt keineswegs, denn der Rauch der Masutheizung der Maschine dringt,
in dem engen Querschnitt des Tunnels zusammengehalten, durch alle Ventilations-
öffnnngen und verpestet mit seinem ekeln Geruch die Luft im Zuge.
Das Ssuramgebirge verbindet wie eine Brücke das gewaltige Massiv des
Großen mit dem Kleinen Kaukasus. Es ist die Wasserscheide zwischen dem
Rion und der Kura und hindert die vom Schwarzen Meer kommenden feuchten
westlichen Winde, weiter vorzudringen. So teilt es im Verein mit den an¬
schließenden Bergketten Transkaukasien in zwei nach Klima, Boden und Wachs¬
tum ganz verschiedne, ungleich große Teile. Aber der Austritt aus dem den
Reisenden mit einem Denkmal des Erbauers bewillkommnenden Tunnel bietet
darum doch nichts besonders effektvolles. Im Gegenteil, die Landschaft in der
nächsten Nähe der Eisenbahn wird verhältnismäßig einförmig und prosaischer
als die ebeu verlassene. An Stelle des engen Gebirgstals tritt eine breite
Ebne, auf der der Zug bequem der Station Michailowo entgegen rollt. Aller¬
dings in der Ferne begrenzen Gebirge die hier oben noch unter Schnee be-
grabne Fläche, links hinter einer Reihe prächtig geformter sonnenbestrahlter
Berge der gewaltige Stock des Kasbek und seiner Ausläufer und nächsten
Vettern, rechts die Parallelketten des Kleinen Kaukasus, der mit der Achalzich-
kette bisher die Täter der Quirila und der Kura getrennt hatte und jenseits
der aus der Talschlucht von Borshom kommenden Kura wieder ansteigt. Dieser
Fluß begleitet uns nun bald links, bald rechts von der Bahn bis Tiflis. Bevor
wir noch Michailowo erreichen, bietet sich uns ein wunderschöner Ausblick in
das Borshomtal und seine waldbedeckten Abhänge. Dort liegt in nicht allzu
großer Entfernung das Bad und die Schlösser der Großfürsten Michail
Nikolajewitsch und Nikolai Michailowitsch, von denen der eine aus seinen
Wäldern bedeutende Holzmengen in den Handel bringen läßt.
Michailowo, der Knotenpunkt der Abzweigungen der Eisenbahnen nach
Vorshom und Ssuram, ist durch den Holzhandel sowie durch die Entwicklung
seiner Eisenbahnreparaturwerkstätten und der Naphthawerke zu einem gewerb-
fleißigen Städtchen geworden. Entsprechend rührig war das Leben und Treiben
auf dem Bahnhofe. In dessen unmittelbarer Nähe stehn eine große Anzahl
Naphthatanks. Zur Zeit unsrer Fahrt war von der 1898 begonnenen trans¬
kaukasischen Naphthaleitung, von der wir unterwegs an manchen Stellen die
gußeisernen Röhren von zwanzig Zentimetern Durchmesser hatten zutage treten
selben, erst die Strecke Michailowo-Batna in Betrieb. Sie gewährte schon
damals den großen Vorteil, die unproduktive Rückfahrt der Zisternenwagen auf
der steigenden Strecke entbehrlich zu machen, indem das Raphtha von Baku
aus auf der Achse angefahren, hier in die Tanks übernommen und in die
Leitung getrieben wurde. Von der Paßhöhe ab führte das Gefälle der der
Eisenbahn folgenden Leitung das Naphtha in die Petroleumstadt von Batna,
wo es zur Ausfuhr in viereckige Blechkannen ungefüllt wird. Inzwischen ist
die Leitungsstrecke bis Baku in einer Gesamtlänge von 902 Kilometern fertig¬
gestellt worden, und die Betriebseröffnung auf ihr sollte in kurzer Zeit erfolgen,
sodaß die Füllung der Vatumer Tanks unmittelbar von Baku aus geschehen
kann. Es wird Wohl möglich gewesen sein, zur Beschaffung des nötigen Drucks
die vorhandnen Wasserkräfte auszunutzen, sodaß die Beförderung bis Batna
billiger zu stehn kommt als der Eisenbahntransport. Die jährliche Leistung
der Leitung ist in Höhe des bisherigen Ausfuhrquantums, nämlich 60 Millionen
Pud (982800 Tonnen) berechnet. Die Leitung, die den Staaten 14 Millionen
Rubel gekostet hat, gibt also die Möglichkeit, den Preis des Petroleums direkt
herabzusetzen sowie auch unter Fortsetzung der Eisenbahnabführ das Ausfuhr-
qucmtum zu verdoppeln, bei vermehrtem Gewinn geringern Verdienst zu nehmen
und dadurch das amerikanische Produkt im Preise zu drücken. Auch dem ört¬
lichen Bedürfnis ist durch die Einrichtung von neunzehn Entnahmestellen an
der Eisenbahn gedient.
Die Fahrt von Michailowo, auf der von größern Orten nur das unruhige
Gori und das historisch erwähnenswerte Mzchet berührt werden, wo die gru¬
sinische Heerstraße, vom Kasbek kommend, an die Bahn heranführt, war trotz
der Flachheit der fruchtbaren Talsohle so lange schön, als wir bei der sinkenden
Nachmittagssonne Ausblick auf die Gebirge hatten. Das Alpenglühen, worin
die zackigen Spitzen zuletzt rosig erstrahlten, kann ich mir auch da, wo es so
getauft ist, nicht herrlicher denken. Aber als es dunkler wurde, und die
miserable, vorsintflutliche Kerzenbeleuchtung russischer Züge, die auch hier im
Lande des Petroleums beibehalten wird, nicht einmal zu lesen erlaubte, machte
sich die Abspannung geltend. Auch das lebhaftere Getriebe im Waggon, das
Plappern und das Geschrei des fluchtartigen Zustroms auf den Stationen
fesselte weniger. Soviel war ihm zu entnehmen, daß es überall gärte. Nervo¬
sität war auch das Kennzeichen des Dienstes auf dem Bahnhofe Tiflis, den
wir nach etwa fünfzehnstündiger Fahrt — sonst dauert sie zwölf Stunden —
bei völliger Dunkelheit erreichten. Der Stationsvorsteher weigerte sich, was er
sonst sicher nicht getan hätte, unsern bis Baku gelösten Fahrkarten die Giltigkeits-
dauer zu verlängern. Die beschränkte, für die 842 Werst von Batna bis Baku
auf vier Tage festgesetzte Giltigkeit ist das Korrelat gegen die große Verbilligung
der Fahrpreise durch den Zonentarif. Das Billett erster Klasse hatte nur
18,50 Rubel (also etwa Pfennige für den Kilometer) gekostet. Die Rück¬
zahlung des Preises für die nicht abgefcihrne Strecke wurde unter Hinweis auf
die Vorschriften ebenso glatt abgelehnt.
Aber wir waren glücklich in Tiflis und rollten schleunigst vom Bahnhof
bei ziemlicher Kälte durch die nächtlich dunkeln, von vielen Gorodowois be¬
wachten Straßen dem in der russischen Stadt liegenden Hotel London zu. Hier
waren wir von Se. sehnlichst erwartet worden und waren durch unser ver¬
spätetes Eintreffen verschiedner Gelegenheiten verlustig gegangen, von Land und
Leuten außerhalb der Stadt einiges kennen zu lernen. Wir erfuhren genaueres
über die Ermordung des Großfürsten Sergius und die Metzeleien in Baku,
während deren Se. die Stadt gerade passiert hatte. Angesichts der Bestimmt¬
heit, mit der dieses Ereignis ganz allgemein vorausgesagt worden war, schien
es geraten, dem mit ebensolcher Bestimmtheit verbreiteten Gerücht von der am
Sonnabend, den 4. März, bevorstehenden Erneuerung der Unordnungen in Baku
Beachtung zu schenken, weil dadurch die Überfahrt nach Transkaspien in Frage
gestellt werden konnte. Wir einigten uns darum in einem sofort abgehaltnen
Kriegsrat zum Verzicht auf weiteres Bleiben in Kaukasien sowie auf Fahrten
nach Eriwcm, Kars und Mzchet und beschlossen, nach zwei Tagen weiterzurcisen.
Zunächst jedoch genossen wir mit unendlichem Behagen die ganz deutsche Ordnung
und Sauberkeit des von Frau Richter regierten Hotels, lernten ihre Küche und
ihren Keller schätzen und sammelten in den vorzüglichen Betten in traumlosen
Schlafe neue Kräfte zur Aufnahme weiterer Eindrücke.
er „Landfriedensbruch" wird begangen durch öffentliche Gewalttat
mit bewaffneter Hand vereinter Personen. Was als Waffe an¬
zusehen und wieviel Personen sich zusammengerottet haben müssen,
wenn das Begriffsmerkmal erfüllt werden soll, ist Sache des
I richterlichen Ermessens. Das Verbrechen kann von Privaten wie
!von Reichsständen begangen werden. Es ist nicht nötig, daß es
zur Anrichtung eines Schadens gekommen ist. Wird der Landfrieden dadurch
gebrochen, daß eine gewalttätige bewehrte Menge einen Gefangnen befreit, so
soll der Landfriedensbrecher mit der Strafe belegt werden, die der befreite Ge¬
fangne verdient hatte. Sonst steht im allgemeinen auf dies Verbrechen die
Strafe des Schwertes, auch soll der Körper des Gerichteten auf das Rad gelegt
werden. Zu unterscheiden ist das Delikt der „öffentlichen Gewalttat" ohne
Brechung des Landfriedens. Es wird mit bewehrter Hand von oder gegen
Amtspersonen begangen, wodurch das öffentliche Recht verletzt wird. Hierunter
fällt beispielsweise schon das verdächtige Zusammenbringen von Gewehr und
Waffen „in zimblicher Anzahl" ohne herrschaftliche Erlaubnis. Ferner wenn
jemand bewaffnete Leute zur Vorbereitung eines Aufruhrs unterhält, der sich
gegen Privatpersonen richtet; würde Aufruhr gegen den Kaiser oder Landes¬
fürsten bezweckt, fo läge Majestätsverletzung vor. Vis publica ist auch „die
gewalttätige Entführung der Mägdlen oder Buben". Unbefugte Errichtung
einer Zollerhebung, vorsätzliche Vornahme unzuständiger Amtshandlungen, ge¬
walttätige Ausrandung von Häusern, Dörfern, Schlössern oder Einbruch zur
Bernburg von Beleidigungen in ein Haus, „seytemalen einem Jedwedcren seine
Behausung die beste Ruhstatt seyn sollte", böswillige Ersteigung der Stadt¬
mauern, „Auffsteckung von Brandbriefen und dergleichen, <ZMäatiou08" einzelner
Personen."
Verwandt hiermit ist das „Laster der Bedrohung, Bevehdung, Abscigerey,
vriinsu äiKäMcmis, das sich gegen Personengesamtheiten, Stadt- oder Dorf¬
gemeinden richtet, denen die äußerste feindliche Verfolgung an Leib und Leben
oder Gut angekündigt wird. Es genügt nicht, daß das mit bloßen Worten
geschieht, sondern es muß zum Zeichen der Feindseligkeit ein „Brand- oder
Vestes-Briefs, Brandzeichen, Fieber-Wisch, schwarz gepulvertes Papier" das
feindliche Vorhaben bestätigt haben. Es steht darauf die Strafe des Schwertes,
gegen Abwesende die Verhängung der Reichsacht.
"
Die „Mordbrennerei wird mit der Feuerstrafe geahndet ohne Unterschied,
ob der Verbrecher gemeinen Standes oder von Adel ist. Liegen erschwerende
Umstände vor, soll der Delinquent zuvor „mit glühenden Zangen-Zwicken gerissen",
auch sollen „die Glieder mit dem Rad zerstoßen" werden. Bei mildernden
Umständen (reuige Beteiligung an der Brandlöschung) kann die Feuerstrafe in
die des Schwertes umgewandelt werden, „denn eine späte aber wahre Reu ist
auch einer Gnad würdig".
Bei fahrlässiger Verursachung einer Feuersbrunst ist die Strafe nach Ver¬
hältnis des Verschuldens zu bemessen. Es gilt zwar nicht für erlaubt, den,
den man für schuldig an einem Brande hält, in das Feuer zu werfen, aber
die Obrigkeit pflegt in solchem Falle „durch die Finger zu sehen". Wird ein
Nachbarhaus, um dem weitem Umsichgreifen des Brandes zu steuern, nieder¬
gerissen, so ist die interessierte Gemeinde verpflichtet, es aus ihrem Säckel wieder
aufzubauen."
Die Besprechung der den „Todtschlag begreiffenden völlvts. wird mit der
Bemerkung eingeleitet: „Unter anderen menschlichen Unglückseeligkeiten ist nicht
die mindeste, daß die unvernünfftige Thier in einer Gattung und Geschlecht
einander nicht verfolgen oder umbbringen, herentgegen der Mensch seinen neben
Menschen auß geringfügiger Ursach schlechter Dings vilfültig umbbringt, da es
doch ein Greuel vor Gott und in Göttlichen Rechten schwer verbotten ist." Der
vorsätzliche Totschlag kann in viererlei Weise geschehen, nämlich als Komlviäiuro.
äolosuin siinxlex, Qomioiäiuili ex insiäiis eommissurn, Qoiniviäium xrociitorinin
und nomioiäinnr s-Lsassinwin. Die strengere Meinung rechnet auch die vorsätz¬
liche Körperverletzung mit tödlichem Ausgang dem Totschläge gleich, „weil
sonst viele Todtschläge nicht abgestrafft werden könnten" und „jedweder sich
öXLusirön würde, er hätte keine Meynung gehabt, umbzubringen, sondern nur
zu beschädigen". Die mildere Meinung hält diese Begründung aber nicht für
überzeugend. Als ein „absonderlicher Lig-sus" wird hervorgehoben, wenn jemand
einer „Weibs-Persohn zu Erweckung einer Gegenliebe ein verliebtes Gekrümel"
gibt, an dem sie stirbt, der soll, „alldieweilen die Sach sehr schlimmer Folgen
und Exempels ist , mit „dem Schwerdt" gestraft werden. Wurde aber mit
dem einem Weibe gegebnen Tränke, an dem sie stirbt, bezweckt, sie zur Kon¬
zeption zu bringen, so soll der Täter nur mit Relegation bestraft werden,
„alldieweilen die Sach keines so üblen Exempels, noch was ungebührendes
damit gesucht worden".
„Der einfache Todtschlag hat mehristinteils sein Ursprung in dem jählingen
Zorn und übermcissig erhitztem kuriosisensn Gemüth." Gewisse aus „billigem
Zorn" verübte Totschläge werden für erlaubt und straffrei oder minder strafbar
erklärt, so wenn jemand in Notwehr handelte, wenn ein Vater den Ehebrecher
seines Schwiegersohns auf frischer Tat trifft und sowohl den Ehebrecher als
seine eigne Tochter im Zorn entleibt, wobei angenommen wird, der Vater werde
eher den Ehebrecher verschonen, als die eigne Tochter zugleich töten. Dem
Ehemann ist im selben Falle nur die Tötung des Ehebrechers, nicht auch die
der Ehefrau erlaubt. Jedoch würde er wegen ihrer Tötung nur mit willkür¬
licher Strafe zu belegen sein. Ein Vater oder Ehemann kann den Bedienten,
der mit der Tochter, Ehefrau „unverschambt schertzet", nach erweisbarer drei¬
maliger Verwarnung straflos im jähen Zorn töten. Dies wird auch auf Ver¬
lobte ausgedehnt. Kinder unter sieben Jahren sind der Strafverfolgung fähig,
aber nur mit einer willkürlichen Strafe zu belegen. „Dann hat der Allmächtige
Gott nach Zeugnus LK'öAorü ein fünffjähriges Gottlästerndes Kind durch den
Teuffel aus des Vaters Händen blutarm reissen lassen, worumb soll man nicht
glauben, daß die jetzigen Kinder, so vit gescheydter als in vorigen Welt-Zeiten
gewesen, seynd mit einer Hxtraor<ling.ri zu belegen?" „Mißgeburten, so völlig
Von menschlicher sxöeiö und Gestalt abweichen", dürfen straflos ertränkt werden.
Straffrei bleiben auch „die Marx- und Lux-Brüder, Federfechter, die wehrenden
zulässlichen spil einen tödtlichen Straich unversehns zufügen, seytemahlen selbe
nicht auß Rachgürigkeit, sondern zur Erlangung Ehr und Ruhm auff ein ander
waidlich zu schlagen".
Die „oulxoss Entleibung" soll nach dem Grade der Fahrlässigkeit ver¬
schieden gestraft und von dem straflosen nomioieZain oasuAle und torwiwin
wohl unterschieden werden.
Das Laster des „Vatermordes" (varrieiäiuui), das die Tötung der nächsten
Verwandten, Verschwägerten und Ehegatten zum Gegenstande hat, ist mit der
Strafe des Ertränkens in einem ledernen Sacke bedroht, weil in diesen das
Wasser langsamer eindringe wie in einen leinenen. Beigegeben sollen werden
ein Hund, „weil man einen solchen Delinquenten eiuen Hund zu schelten pflegt",
ein Hahn und eine Viper, „weil beide eine ^ntixatniain gegeneinander tragen
und den Delinquenten um so mehr peinigen", und ein Affe. Die Viper wird
nach Angabe andrer auch gewählt, „weil sie bei ihrer Geburt den Leib der
eigenen Mutter aufbeist und dadurch diese tödtet"; der Affe soll andeuten, daß
der Delinquent „außer der Formb und Gestalt eines Menschens nichts Mensch¬
liches an ihme" hat. In Ermanglung eines lebenden Affen wird eine Katze
verwandt, die lebende Viper ist auch oft nicht zu erlangen und wird dann
vielfach „durch eine auf Pappier gemalte" ersetzt. Nach der Tiroler Landes¬
ordnung wird der Vatermörder je nach Umständen mit dem Tode durch das
Rad oder durch das Schwert nach vorgüngigem Zangenreißen oder mit nach¬
folgendem Aufstecken des Gerichteten aufs Rad bestraft.
"
Bei der Erörterung des „Kinder-Mords wird nicht unterschieden, ob es
sich um eheliche oder uneheliche Kinder handelt, ob die Täterin die leibliche
Mutter oder ein andrer Verwandter in aufsteigender Linie ist, und ob die Tötung
in oder gleich nach der Geburt oder erst in späterer Zeit erfolgt ist. Wohl
aber soll die Mutter, die ihr leibliches Kind „wegen verzweifflcter Scham, so
doch vor der Sünde Hütte beobachtet werden sollen", vorsätzlich umbringt, nach
Tirolischer Landesordnung besonders schwer gestraft werden, weil es sich um
ein sehr verbreitetes Laster dabei handle. Man soll sie „lebendig in das Erd¬
reich begraben und ein Pfahl durch sie hindurch schlagen". Hat die Mutter
mehr als eins ihrer Kinder umgebracht oder das Kind grausam behandelt,
zum Beispiel es lebendig den Schweinen vorgeworfen, so soll sie (im Salz¬
burgischen) zum Richtplatz geschleift und vor der Enthauptung mit glühenden
Zangen gerissen werden. Im allgemeinen steht auf Kindesmord die Strafe,
die aus Vatermord angedroht ist, also die xosns. oulsi. Gegen Stiefeltern und
Verschwägerte wird sie nicht angewandt, wohl aber kann hier neben der Strafe
des Schwertes auch auf „Schleiffung zur Richtstatt und Einflechtung des Rades"
erkannt werden.
Die „Hinwecklegnng der Kinder, öxxositio iutanwiu", wird mit dem Schwert,
auch der Strafe des Sackes (Ertränkens) oder nur mit „Ruthen außhauen"
und „ewiger Lands-Vernicisung und Zahlung eines halben oder ganzen Stadt¬
schillings bestraft", je nachdem bei der Aussetzung das Zugrundegehn des Kindes
beabsichtigt worden ist oder nicht. Es wird bemerkt, daß das Laster sogar dem
wilden Vieh nicht gebräuchig sei, das die Jungen auf das äußerste beschützt
und uühret."
Der gegen Geld oder Geldeswert „bestellte Mord (äsliowm ^sssssinAtus)
wird sowohl an dem Besteller als an dem Bestellten mit dem Rade bestraft.
eine Strafe, die mit vorgehenden „Schlaipffen, Zollen oder Riemenschneider
geschärpfft werden" kann. Auch kann der Körper auf das Rad geflochten
werden.
Die Strafe des „Straßen- und Meuchelmords" ist das Rad, die „ode sie
gleich ohne daß sehr schwär und abscheulich" in besondern Fällen „nit unbillig
geschärpffet" wird durch „schlciipffen zur Richtstatt", Zangenreißen und Riemen¬
schneider. Die Zangenrisse sind so oft zu wiederholen, als der Delinquent
mehr als eine Person umgebracht hat, „seytemalen die erste Mordthat vor sich
selbsten mit dem Rad abgestrafft, die nachfolgenden aber die Schürpfs und Er¬
holung des Zangenreißens verdienen". Die Zahl der Zangenrisse darf aber
nicht bloß auf das Geständnis des Delinquenten hin erkannt werden. „Wenn
der Mörder von 7 Persohnen den Mord bekennt, jedoch nur von 4 in Wahr¬
heit umbgebrachten Persohnen die Gewißheit am Tag wäre, könnte selber nicht
mehr als dreymahlen mit Zangen gerissen werden." Ähnlich liegt es, wenn
der zu Richtende wegen verschiedenartiger Straftaten neben der Hauptstrafe mit
Zangen zu reißen ist. (Die Strafe für geringe Straftaten wird durch die
schwerste Strafe aufgehoben.) Carpzow lehrt zwar, „daß über sechsmal in
Sächsischen Landen kein Mörder, wenn er gleich zwantzig oder noch mehr Per¬
sohnen ermordet hätte, mit Zangen gerissen werde: weilen die Schürpffung der
Strasse zu abscheuhen anderer angesehen, so durch sechsmalige Erholung genug-
samb eingejagt wird", auch wird erwogen, daß der Täter durch zu zahlreiche
Zangenrisse „unfehlbar vor der Todesstraff absterben wurde". „Neben deme
aber ist zu wissen, daß kein Gericht an das andere verbunden, sondern jed-
wederem Gericht bevorstehe, nach Außweiß der Umbstände die Zangenriß zu
vervilfältigen, zu mindern, oder da die That sehr abscheulich, das Nadbrechen
von unten auff zu erkennen", zur Entehrung des Delinquenten „ein Schcmd-
Säul" aufzurichten, seine Tat daran zu schreiben, neben dem auf das Rad ge-
stochenen Körper einen Galgen aufzurichten, oder auch das Rad samt dem
Körper oben auf dem Galgen zu befestigen. „Ja, es kann auch das Viertle»
zuerkennt werden und jedes Theil auff besondern Straßen öffentlich auffgehenckt
werden, oder sovil Knitel auff das Rad neben dem Körper cmffgesteckt werden,
sovil er Persohnen umbgebracht hat."
"
Das „Laster der Vergifftung, Oriinsn verietioii, ist zwar „jeweils mit der
Schwartzkunst und Zauberet) befreund", es wird aber spsoillos tmotirst, „da
kein schwache Kunst oder Zauberet) mitlauffet". In Sachsen werden die Täter
ohne Unterschied des Geschlechts „geradbrecht", in Niederösterreich und Tirol
wird der Mann mit dem Rade, die Frau mit dem Schwert gestraft. Die Strafe
kann durch Schleifen zur Richtstatt und „etliche Griff mit glühenden Zangen"
verschärft werden. Wer ganze Weiden vergiftet und dadurch Schaden angerichtet
hat, soll (in Sachsen) lebendig verbrannt werden. Ist „teufflische Hexerei mit
einlauffen", so wird allgemein Feuerstrafe verhängt.
Wenn ein „Nöäious, Qn^rür^us, Barbierer durch erweislichen Unverstand
oder Unfleiß wegen abgebener Medicin jemande umb's Leben bringet", so ist
er nach Beschaffenheit der Umstände willkürlich zu bestrafen, geschieht die Tat
aber „fürsetzlicher Weiße, so ist er wie ein Mörder mit dem Rad" zu strafe».
„Sonderlich aber ist auff die hin- und wider vaAlrenclö Artzt-Lenes, so sich der
Medicin-Übung unterstehen, jedoch nicht wissen, wie denen Sachen zu helffen,
und mcmchesmahl aus Plumpheit seur für süß eingeben, Acht zu haben, dann
dergleichen Lenes seynd als Land-Betrieger ernstlich am Leib oder Leben nach
Beschaffenheit der Umbständ abzustrasfen."
Bei Selbstentleibung muß unterschieden werden, „ob der Entleibte mit
schwttrer Wütig- und Tobsinnig- oder Uuveltläuffigkeit u. s, w. beladen" ge¬
wesen, oder ob er „aus purem Verdruß zeitlicher Sachen halber eigenwillig
und wissentlich" gehandelt hat. Im ersten Falle „wäre dergl. Körper der geist¬
lichen Begräbnuß nicht zu berauben, irdene die Katholische Kirchen von der¬
gleichen Persohn die gute Hoffnung führet, daß er nur ein Mörder seines
Leibes, nicht aber der Seelen gewesen". Im andern Falle wäre der Leichnam
„durch den Freymann mit Stricken durch das Hauß oder durch ein Fenster
hinab zu lassen und unter dem Galgen als wie ein Hund zu vergraben".
Denn „daß Niemand sein selbs Herr, oder Macht und Gewalt seines Lebens
oder Guter habe, sondern Alles Gott dem Allmächtigen eigenthümlich angehörig
sehe, ist in ^urg außgemacht". Zettel, „darinnen der Entleibte seine Seeligkeit
Gott dem Allmächtigen, der heiligen Jungfrau Maria oder den lieben Heiligen"
empfiehlt oder schreibt, er hoffe „hierdurch ehender in den Himmel zu kommen",
sollen dem Entleibten „wenig zu statten kommen". Seine letztwilligen Ver¬
fügungen sollen ungiltig sein bis auf die zu milden Zwecken getroffnen Be¬
stimmungen. Im übrigen wird das hinterlassene Vermögen in der Regel
konfisziert.
Der „Diebstahl ist eine betriegliche Gewinnsichtige Abnennung einer be¬
weglichen Sache oder dero Gebrauch oder auch ^osssssicm". Unter Abnahme
wird auch eine unredliche Vorenthaltung fremder Sachen und unter Sache auch
eine unter väterlicher oder herrschaftlicher Gewalt stehende Person verstanden.
Auch der begeht einen Diebstahl, der eine „geliehene Sache länger, oder zu
anderm Ende, als ihm geliehen, gebraucht, itsw, da einer die in clexosito oder
Verwahr habende Sach brauchet, oder da ein Schuldner dem Gläubiger das
Pfand vor der Bezahlung hinweck nimmt". „Viel und unterschidliche vootorss
seynd der Meynung gewesen, daß die Straff des Todes oder des Stranges
auff den Diebstahl nicht gesetzt werden möge, cmerwogen entzwischm denen zeit¬
lichen Güteren und dem Leben des Menschen kein Vergleichnuß, aber irdene
diese Straff zu Versicherung gemeinen Wesens einzuführen hochnöthig gewesen;
ja uneracht eingeführter schwürer Straff fast niemand von den Dieben sicher
lebet." Die Strafe des Stranges ist verordnet „auff den Dieb, so 5 Loliclos
oder darüber unter Brechung offenen Fridens gestohlen" haben, das sind nach
der varoling, art. 160 fünf Goldgulden, oder wie die Kriminalisten lehren,
5 ungarische Dukaten des besten Goldes, „sodaß die Dieb der Steiger- und
Erhöhung der Duggaten sich billich zu erfreuen haben". Die Niederösterreichische
Landesordnung fordert, damit der erste Diebstahl kapital werde, 25 Gulden, die
Tirolische über 25 Pfund Perner (Berner). Wenn der erste Diebstahl „nicht groß
noch mit andern Umständen beschwärt" ist, wird schon nach gemeiner Observanz
wie nach Landesstatuten „selten zu dem Todesurteil geschritten". „Denen Adels-
Persohnen, so gar zu lange Finger haben, wird die Straff deß Strangs in
das Schwert oder nach ?roxort,inen der Umbstände in ein sxtiÄoräin-z.ri-!straff
verändert." Dies gilt auch von den „Graduirten und anderwärtiger höheren
Stands und Diensts halber angesehenen" Leuten, „als welche der spöttlichsten
Straff des Galgens billich zu überheben seyn". Den Holzdieben soll, wenn
die gestohlnen Burne unter drei ungarische Dukaten wert waren, eine will¬
kürliche Strafe, wenn zwischen drei bis fünf Dukaten, Rutenaushauen, wenn
über fünf Dukaten, der Strang zuerkannt werden. Den Bäumen werden die
Weinstöcke gleich geachtet, vo Mre. soll „der AbHauer der Wein-Reben nicht
wie ein Dieb, sondern wie ein Mörder" gestraft werden. „Aber diese scharpffe
Wird nit beobacht, sondern der Thäter wird mit extraoMuM - Straff als
Keychen, Lands-Verweisung, oder auch mit Ruthen-Ausreichung gezüchtiget."
So auch ein Dieb, „so allerhand wohlschmeckende Blumen-Strüuch entfrembt,
als da seyen Nägele, Roßmarin, ?uoar. Kosg. u. s. w." „Die Frucht-Dieb von
den Bäumen oder auch Unteren als da seynd Weintrauben, verschiedene Getreide,
Piren (Birnen), Aepsfel, Kerfchen, Nüssen u. s. w., werden von dessentwegen nur
willkürlich abgestrafft," „Der aber zeytige (reife) Frucht in dem Vorübergehen
nur abbricht, umb solche im Wein-Garten auff dem Feld, oder auff dem Weeg
zu essen", der ist nicht strafrechtlich zu verfolgen, „wie wohler die Salter ihr
Gerechtigkeit darwider in Wein-Garten sich zu bedienen pflegen". Wer „in
rechter wahrhaffter Hungers-Noth essende Speisen oder andere Sachen ent¬
frembt, damit aus deren Verkauffung Gelt geleßt werde, Nahrungs-Mittel ein-
zukauffen", ist nur mit willkürlicher Strafe zu belegen."
Die „Beraubung der todten Körper, Todten-Grufften und Begrebnussen
wird nicht mit der ordentlichen Strafe des Diebstahls, sondern nur oxtr^oraivario
bestraft, „weilen der pure entseelte Leib kein Eygenthumb besitzet". „Diese sxtrg,-
oräiusriÄ mag auf stäupen sxtsnäirt" werden. Der die Toten mit bewaffneter
Hand ausgrast oder beraubt, der kann mit ewiger Landesverweisung bestraft,
„item zu einem Schanzwerk verfällt" werden. „Ja, die löFss sind den Todten
so freundlich, daß sie die Injurien und Unbilden an Statt der Todten zu
Gemüth ziehen, also, daß so gar keinen verstorbenen Juden zu berauben erlaubt
ist, als die für kein Feind, außer des Glaubens, zu halten seynd." „Die Be¬
raubung der Grufften unserer Feinde, der Banditen, öffentlicher und nicht ab¬
gebüßten Wucherer, Vatter-Mörder, item die sich selbst umbgebracht, wird von
Rechten nicht gestrafft, als die auch nach dem Todt keiner Ehre nicht würdig
seyn." Wer sich an den Leichen Hingerichteter auf der Richtstätte vergreift,
wird wegen der hierin liegenden Verletzung des Ansehens der Obrigkeit will¬
kürlich gestraft. Dem unterfallen auch die Angehörigen des Gerichteten, die
den Leichnam zum Zwecke der Beerdigung eigenmächtig entfernen. Geschieht
die Wegnahme der gerichteten Leiche oder einzelner Teile zum Zwecke teuflischen
Zaubers oder Unfugs, so kann Landesverweisung oder Rutenaushauen verhängt
werden. „Nach Proportion der Umbstünde" mag man auch zur Todesstrafe
schreiten, „gleichwie zu Pariß, allwo ein Zucker-Bök, der Pasteten auß der
Mtiüeiorten Körper Fleisch verkaufst, lebendig verbrennt und dessen Hauß ab¬
gebrochen worden ist". , .
Besonders behandelt werden die „Wildbrets- Fisch- und Krebs-DZbef
unter Würdigung aller ratiouks pro und contra ihrer Abstrafung. AussclMg-
gebend für die schwere Bestrafung an Leib und Leben ist, „daß die Lands-
Fürsten für das Hayk der Unterthanen Tag und Nacht bemühet, wer solle ihnen
dann ainichen geringen Abtrag ihrer vilfältigen Bemühungen und anständige
Nekreation mißgunnen: daß also für die Lands-Fürsten die Jagdbarkeit und
Wild-Baan, auß uralten unerdenklichen Jahren ihnen selbst zugeaignet, verjährt
und praosoridirt- haben, dergestalten, daß ein Unterthan, der wider die auß-
gelassene Forst-Mandat jagt, nicht allein ein Trutz und Ungehorsam erweiset,
sondern auch in dero Recht und Gerechtigkeit psrturdirst. Disen nach werden
die Wildbrets - Schützen sonderlich so woorri^ibiloL und das hohe rothe oder
schwartze Wildbrets füllen an Leib und Leben", nach Tirolischer Landesordnung
jedoch höchstens mit Galeerenstrafe bestraft. Wer „stiebendes und fliegendes
Wild" rechtswidrig jagt, als „Fux, Hasen, Federwild", wird willkürlich mit
Geld- oder Keychenstrafe belegt; dies gilt anch von den Fisch- und den Krebs-
bieder. An Leib und Leben sollen diese Wild- und Fischdiebe nur gestraft
werden, wenn das Wild aus „verheggten Thier-Gärten, die Fische oder Krebse
aus geschlossenen Weyeren, Raischen oder Kältern" gestohlen werden, wo die
Tiere ihre natürliche Freiheit nicht mehr haben.
Die „unthrue Andes-Verwaltung zur Verwahr vertrauter oder gefundener
Sachen" soll im allgemeinen nicht mit der Strafe des Diebstahls belegt werden.
„In Österreichischen Landen, weilen die Milde des Hauß Österreich Weldtkündig,
werden dergleichen unthreue Bediente von ihren Ämbtern entsetzet, die mehristen
aber, dafern sie den Rest zu ersetzen und umb das künffige Oaution zu geben
haben, wiederumben auß Gnaden restituieret. In Sächsischen aber werden die
eräing,ri Bollen, so 20 Gulden auffgegebenes Gelt oder Guth, es sehe ver-
petschirt oder nicht, dieblichen und mit Gefährde verunthreuen, mit dem Strang
gerichtet, mit 10 Gulden außgehauet, mit 9, 8 oder noch weniger deß Lands
verwisen."
Wer fremde Sachen findet, ist verpflichtet, den Fund „öffentlich verkünden"
zu lassen. Meidet sich darauf der Verlierer nicht, so darf er die Sache be¬
halten, wenn er „selbs arm und Nohtdürfftig" ist, sonsten aber ist er schuldig,
„das Erfundene zu Allmusen oder geistlichen Wercken" anzuwenden. Der
Zuwiderhandelnde ist willkürlich zu strafen. Dies gilt auch von dem, der einen
auf fremdem Boden gefundnen Schatz nicht mit dem Grundeigentümer teilt,
sondern heimlich für sich zu behalten sucht.
„Das Laster veruntreuter Erbschafft, exxi1g.eg,s KersclitÄtis, wird willkürlich
bestraft." Wenn der Tüter ein Miterbe ist, soll „dergleichen Mauser nicht un-
billich mit Lands-Verweisung, Keychen oder Gelt-Straff" angesehen werden.
Diese Strafen können unter Umständen mit Rutenaushauen verschärft werden.
Obwohl das?1g,Kwa oder die Entführung eines Menschen als ein wahrer
Diebstahl anzusehen ist, findet mit Rücksicht auf den Gegenstand des Verbrechens
nicht die Strafe des Stranges, sondern die des Schwertes statt. Die Nieder-
österreichische Landesordnung „vermehret die Straff des Schwerts, wann ein
Christ den Türcken, oder Christen-Kinder den Juden verkaufst, sonderlich aber,
wann solches von denen Eltern, Gerhaben (Vormündern), xi'Äkokxtoi-sit oder
dergleichen beschehete, oder wann durch Juden Christen-Kinder auffgefangen
werden".
Als „Lavrilesswm, Diebstahl geweyehter Sachen", verfolgt das gemeine
weltliche Recht nur die Entwertung geweihter Sachen aus einem geweihten
Orte. Nach geistlichem Recht wie auch nach dem Rechte der Osrolwg. genügt
es, daß auch nur die Sache oder der Ort Gott geweiht war. In Sachsen
werden solche Diebe mit dem Rade bestraft. Nach der Niederösterreichischen
Landesordnung aber sollen sie vorher mit dem Schwerte oder an einem über
dem Scheiterhaufen errichteten Galgen mit dem Strange gerichtet und alsdann
verbrannt werden. Dies wird auch auf Diebe ausgedehnt, die aus einer Schatz¬
kammer stehlen. Zur Strafschärfung ist vorgehende Abhauung der Hand oder
Zangenreißen gebräuchlich. Delinquenten, die „aus der entwendeten Monstranz
Nborio, oder Kelch, die H. Hostiam zu mehrmalen lasterhasftig berührt, ge-
nossen, oder sonsten verunehrt" oder „solche zu abergläubischen und zauberischen
Wercken den Zauberern oder Juden" verkauft haben, sollen vor der Feuerstrafe
mit Zangen gerissen oder geschleift, oder es sollen ihnen beide Hände abge¬
hauen werden.
Von abergläubischen Leuten werden zwar verschiedne Mittel angegeben,
wie ein Dieb erkannt werden könne, „und ist dessentwegen der Diebs-Seegen
starck in Ruff, aber auf dergleichen abergläubische und aus der Schul der
Zauberey herdarm genommene Inzuchten ist weniger als nichts zu halten".
Straßenräuber werden „gemeiniglich die Freybeuther, Taschen- und Busch-
klopffer, Beuthmacher" genannt, „die Hungarn haissen dise krotössion die grühne
Arbeit, als die zwischen Stauden und Hecken verricht wird". Das sächsische
Recht setzt darauf die Strafe des Schwerts mit dem Zusatz, daß der Körper
nach vollbrachter Exekution auf ein Rad geflochten und öffentlich ausgestellt
wird. Die niederösterreichische Landesordnung läßt die Wahl zwischen dem
Strang und dem Schwert, wenn nicht erschwerende Umstände vorliegen.
Das Laster ^.oig'öAwg oder Viehabtreibung, d. h. des Raubes von Vieh
aus dem Stalle, von der Weide oder aus offnem Walde wird schwerer als
ein gemeiner Diebstahl beurteilt und mit der geschärften Strafe eines solchen
belegt. Bei Großvieh genügt die Wegtreibung eines Stücks, bei Schweinen die
von vier oder fünf Stück, bei Schafen oder Lämmern und dergleichen die von
wenigstens zehn Stück, damit der Begriff erfüllt werden soll.
Dem Diebstahl verwandt soll auch die „gefährliche Veränderung und
Verrückung der Märchungen", das orirrwn tsrmini moti sein. Es wird jedoch
nur je nach der Wichtigkeit der veränderten Grenzmale, Grenzgräben und der¬
gleichen mit willkürlicher Strafe geahndet.
Das „Laster des Falschs oder erirnsn talsi wird gefunden „in der bös¬
willigen Schädigung eines Anderen durch eine in Worten oder Werken be-
tätigte Verkehrung der Wahrheit". Die Bestrafung ist willkürlich nach Lage
der Sache, insofern „die Falschheit abscheulich, lang gewährt und also beschaffen,
daß einer den Galgen, als wie ein anderer Dieb verdient Hütte, würde es dem
Rechten nach kein Bedenken haben, da die Straff auch auf den Tod gefüllt
wurde". Als Beispiele des Tatbestandes werden aufgeführt Kindesunter-
schiebuug, fälschliche Errichtung eines Testaments durch eine untergeschobne
Person, Fälschung von Namen, Wappen, Siegeln, Vorspiegelung einer fremden
Persönlichkeit zur Erlangung von Kredit oder sonstigen Vermögensvorteilen,
Erschwindeln mehrmaligen Goten- oder Patengeldes dadurch, daß man fälschlich
wiederholt getauft oder gesinnt wird, Gebrauch falscher Maße, Gewichte, Ur¬
kunden und andre Betrugsfälle, aber auch das unbefugte Öffnen verschlossener
fürstlicher Briefe und Befehle. Übeltäter dieser letzten Art sollen des Landes
verwiesen werden mit dem „trauervollen Lsnölleium, mixi-Moins", d. h. der
Festsetzung eines Termins, bis zu dem sie ihre Besitzungen verkaufen müssen.
"
Von „wunderlichen Kontrakten oder Ilsurarig, ?iÄvitg,es wird gelehrt, daß
„alle und jede mit dem Wucher und Juden-Spieß herumb lauffen, die über
jedes Landes gebräuchigen und zulässlichen jährlichen Zünß nud Intsrsssö noch
was anderes, auf was weiß es immer beschehen, abdringen und herdann merglen,
oder etwas in den Schuld-Brief zu beschwörde deß Entlehners eintragen, so
nicht wahr ist". Bei Würdigung der Überschreitung oder NichtÜberschreitung
des wahren Interesses soll der Richter allen besondern Umständen des einzelnen
Falles, insbesondre auch dem größern oder dem geringern Geschäftsrisiko des
Gläubigers, angemessen Rechnung tragen. Die Strafe besteht nach Reichsrecht
in der Konfiskation des vierten Teils des geliehenen Kapitals, worin sich die
Obrigkeit des Wucherers und die des Bewucherten, wenn diese eine andre ist,
teilen. Nach dem Tiroler Landesrecht unterliegt das Kapital seinem vollen Be¬
trage nach der Konfiskation. Der Wucher zieht Infamie und willkürliche Be¬
strafung nach sich, macht unfähig zur Testamentserrichtung, falls nicht genügende
Sicherheit wegen der Rückerstattung erwucherten Gewinns geleistet wird; er
macht des christlichen Begräbnisses nach geistlichen Rechten unwürdig, zieht bei
„ Beharrlichkeit in offner Sund" Exkommunikation, bei Geistlichen Entsetzung
von Amt und Würden nach sich. Der Wucherer wird nicht zum heiligen Abend¬
mahl zugelassen.
Wer geschickt wie eine Eidechse (stMio) zum Schaden Andrer durch das
Leben schlüpft, kann wegen des vrimen 8teUioimw8 verfolgt und mit will¬
kürlicher Strafe, die in schweren Fällen an Leib und Leben gehn kann, bestraft
werden. „Irdene bey diesem ärgerlichen Welt-Alter so viel Schalkheiten und
Lasterthaten begangen werden, daß in jedwedem Fall die gebührende gewisse
Straff nicht außgetruckt werden kan, als werden alle sträffliche (ÜÄ8us, worauff
kein gewisse Straff gesetzt, oder dessen eigentlicher Namen nit zu wissen, unter
dem Laster Le>sUiormw8 begriffen. Dergleichen Betrieger seynd, die falsche
Würffel und Karten führen, unter dem Schein des Geltwechßlens oder Zählens
das Geld unvermerckter Weiß in Ermel stecken in Versetzung der Pfand falsche
unterrücken, bezahlte Schulden nochmahlen gefährlicher Weiß einfordern, durch
ihren Namen falsche Loutraot schließen usw." „Item ein Sach doppelt ver¬
kaufen, versetzen, die darauff hafftende Beschwärde arglistiger Weiß verschweigen,
in Pestzeit mit Fleiß ein andres Hanß oder Dorfs zu inficiren suchen, schambare
grobe Bossen vor jungen Leuthen treiben, in die H. Gotts-Gab und Speisen
andern Wust einwerffen und was dergleichen Sachen noch mehr seyn mögen."
Injurien, Unbilden und Schmähen sollen von Amts wegen strafrechtlich nur
verfolgt werden, wenn ein öffentliches Interesse vorliegt. Das fehlt jedenfalls
bei geringen Schmähungen, wie zum Beispiel wenn einer den andern „ein Stock¬
fisch, Narr, Esel" genannt hat, und ist nach freiem richterlichen Ermessen zu
beurteilen. „Weilen durch die portal lujurisu selten der Ruhe-Stand deß
gemeinen Wesens Verstehret wird, steht einer Obrigkeit ohne Mackel stinckender
Gewinns-Sucht nit zu, in geringen schlechten Jnjurial-Sachen ein Inquisition
anzustellen, aber in ?rg,otivg. ist zwischen einer Obrigkeitlicher Straff aufs An¬
zeigung der Gerichts-Diener zu Erhaltung guter Mannszucht und zwischen
einer »«nöthigen Gelt-fressenden Inquisition, da die xriuoixsl-Straffe nit so
schwär, als die erloffne fiskalische Unkosten seyn, zu unterscheiden."
Der Jnjuriant ist neben willkürlicher Strafe auf Grund der Feststellung
der Unwahrheit der von ihm behaupteten beleidigenden Tatsache zu deren
Widerruf zu verurteilen. Verharrt er „halsstarrig auff der ausgegossenen
Schmach", so soll er durch Geld- und Keychenstrafe zum Widerruf angehalten
werden, und wenn er auch hierdurch „von seiner Stützigkeit nicht abzubringen ist,
soll der Gerichtsdiener den Widerruf anstatt des ungehorsamen und in dessen
Namen" erklären. Der „stockharte Injuriant" aber ist „wegen verachter Gericht¬
licher Aufferladung" als ein ungehorsamer Untertan des Gerichts, des Landes usw.
zu verweisen, ja wohl „mit noch schärpfferer Straff nach Proportion der Umb-
stünde anzusehen". Die Beleidigung Verstorbner kann von ihren Gatten, Eltern,
Kindern und Befreundeten durch Herbeiführung des Widerrufs verfolgt werden.
Das Verfahren kann sich aber nur gegen den Beleidiger selbst, nicht gegen
seine Erben richten. „Jene, die einem alle Teufel auff den Halß wünschen,
jedoch dessen Ehr und guten Namen geraden weegs nit angreiffen, seynd nach
Proportion der Umbstände mit willkürlicher Straff hierüber zu ziehen, denn durch
dergleichen pure Anwünschung wurde die aotio im'uriaruin nit erhebt."
"
Von den „Schmachschrifften oder?Ä8<zM<zu wird gelehrt, daß dies ehren¬
rührige unter Verschweigung des Taus- und Zunamens des Verfassers öffent¬
lich ausgestellte Schriften oder Karten sind. Nach der varolina steht hierauf
die Strafe der Übeltat, die ihr Pasquillant dem Beleidigten zum Vorwurf
macht, unter Umständen also die Todesstrafe, während es die Tiroler Landes¬
ordnung bei Strafe an Leib, Ehre. Geld, nicht aber am Leben, beläßt. Die
Buchdrucker, die dergleichen Schriften drucken, werden auch mit Wegnahme der
Druckerei gestraft, während sie wegen bloßer Umgehung der Zensur, versäumter
Angabe des Verfassers der von ihnen ausgegebnen Bücher nur mit Keychen
bestraft werden. Die Strafen sind zu schärfen, wenn durch das Pasquill viel
Unheil oder Totschlag im Lande, Unfrieden zwischen großen Herren verur¬
sacht, wenn hohe Personen oder die Justitia lig.äuoirt (verhöhnt, beschimpft)
worden ist.
Den Schluß machen die „L-ö^l-I^urisn und Verwundtungen". Sie können
sehr vielfältig sein, denn „alles, was ohne Stimm oder Red dem Andern zu
Trutz, Schimpfs und Spott geschieht, kan pro Ir^'uris, reali" gehalten werden.
Soweit es sich um ihre strafrechtliche Verfolgung handelt, „ist forderist zu sehen,
weine selbe zu beschehen, dann auch ein Ohrfeigen, so ein geringer Kerl einer
ansehnlichen hohen Person zufügt, kan mit Ruthen-Außhauen, Abhauung der
Hand u. s. w. abgestrafft werden, wie nicht weniger an was vor einem Orth selbe
verübt worden, dann auch rg-lions looi, als bey Gericht, in der Kirchen, in
öffentlicher Zusammenknifft, wird die IiiM'ig, abscheulich und atrox, ingleichen
in weine die Real-Injuria bestanden, ob die Verwundung auß boßhafftem Ge¬
müth den Dritten auff die Haut zu legen hervor kommen, ob es ein atwstirw
Entleibung, ob solche lebensgefährlich oder ein Krümppe zuziehen" usw. Es
folgt eine umstündliche Aufzählung aller Arten von Wunden. Danach sind
unter andern „Kämpffer-Wunden" solche, die die Weite des längsten Gliedes
des mittlern Fingers und die Tiefe des Nagels dieses Fingers haben. „Beinich-
röttige" Wunden sind solche, die über den Kopf oder „andere Geheimer des
Leibes" nageltief zugefügt werden, „allwo die Eröffnung deß Bains oder Fleisch
der Natur widerstehet". Wunden, so man „Lämbde" nennt, sind die, wodurch
ein Glied schwach und „verkrümppt" wird, „also daß der Verwundete solches
Gut zu der gewöhnlichen Arbeit und Gebrauch" nicht mehr anwenden kann.
Endlich „Wunden, die scheint-Mahl nach sich lassen, das ist, wordurch einer
masig, blinde, und an der Nasen, Finger, Ohren oder sonsten gestimblet wird".
Gemeiniglich tödlich sind Wunden, die „das Hirn, die Gurgl, Jngewaid, Hertz,
Lungen und Leber verletzen", Wunden, die „nur an die Arad, Füß, Hund,
Finger, an das Angesicht versetzt werden", sind in der Regel nicht für tödlich
zu halten. Die Entscheidung liegt zwar in luäioio Ne.äiooruni. Aber dem
vovwri, der den Verwundeten in der Kur gehabt hat, soll nicht immer ge¬
glaubt werden, daß dieser an seinen Wunden gestorben sei, „dann dieses kann
er zur Beschönigung seiner Unwissenheit und üblen Kur einziehn". Im allge¬
meinen wird „zween Gelehrten" (Sachverständigen) „mehr geglaubt als zween
Umgekehrten, wiewohlen in Verwundungsfällen denen erfahrenen Barbiereren
mehreres als denen sxsoulirsnäön vovtorn und Asäiois zu glauben ist und
verdienen bessern Glauben die alten als die jungen vovtorss". „Es werden
aber jeweils die Nkälvorum etwas finster abgeben, daß sie ein tödt-
liche nur ein gefährliche Wunden nennen: Item pflegen die Inquisitsn in ihren
äeke-nÄcmalivus zierlich hervor zu streichen, der Verstorbene sehe nit wegen der
Wunden, sondern wegen übler Kur, schlechter Warth- oder auß erwachsenen
anderen Zuständen und L^mxtoniÄtön abgestorben, damit aber man auch diß-
falls ein liecht habe, was in Sachen zu thun, ist zu wissen, wann erstens die
Tödtlichkeit der Wunden klar hervorscheinet und die Qualität ohne Scrupel von
denen Nsäivis attsstirt wird, alsdann wird der Verwundete wegen der Wunden
abgestorben zu seyn richtig gehalten." „Wann aber zu der nicht tödtlichen Wunden
Fieber geschlagen hätte äisttn^uirsri theils vovtorss, ob das Fieber seinen Ur¬
sprung von der Verwundung oder cmderwerts her genommen habe; ersten
Falls wollen sie sagen, daß der Abgeleibte wegen der Wunden verabgestorben
sehe, andere aber sagen, daß in dergleichen Fällen mehrers wahr sehe zu sagen,
der Abgeleibte sehe wegen des Fiebers, so die Wunden verändert, und gefähr¬
licher gemacht, verabgestorben.""
Die „Peinlich Gerichtsordnung Carls V. begnügt sich, als Schlußscheibe,
wie heutzutage der Eisenbahntechniker sagen würde, die Worte anzuhängen:
»Ende des peinlichen Halssgerichts." Unser Kommentar erreicht dasselbe sach¬
lich etwas seltsam, indem er den Titel von den Injurien und zugleich sein
ganzes Werk mit dem Satze schließt: „Die schwäriste InM-is, und Schmach aber
ist ein freywillige früventliche Todt-Sund, wordurch der liebreichiste Vatter,
unser Erschaffer und Erlöser verhört und verspottet wird, dero Straff bei unter¬
bleibender wahrer Reumüthigkeit kalter seyn wird ohne ENDE."
Lds bi'sooft, r-Msst, stAunods«t IviuH'In in
DuxlMÄ, IlN'i'^ ?V1'V^ ot Noi'tliuMdsi'Jana,
^Jon ohn vlüisä IlotsMr.
n Gesellschaft von Graf Königsmark, John Churchill und ein paar
andern Herren vom Hofe war Sir Thomas Thynne, den man sonst
gerade nicht in besonderm Maße beschuldigen konnte, ein Freund
der Gelehrsamkeit und schönen Literatur zu sein, in Wilts Kaffee¬
haus gelandet. Es war am achten Februar, und es herrschte bittere
Kälte. Das große Feuer auf dem Herde, neben dem John Dryden
wie gewöhnlich saß und präsidierte, mußte unaufhörlich genährt werden, wenn die,
die an dem andern Ende des großen Saales saßen, ihren eignen Atem nicht sehen
sollten. Die feinen Herren vom Hofe mit ihren hohen, breitrandigen plumagierten
Hüten auf den Köpfen drängten sich gleich ans Feuer, wo sie einen Tisch für sich
erhielten.
Henry Percy, der sich wie gewöhnlich des Abends bei Wilts aufhielt und
an diesem Abend zufällig die Ehre hatte, auf einem Platz ganz in der Nähe des
»Dichterkönigs" zu sitzen, sah sie, als sie vorübergingen, und Churchill, der ihn gern
hatte — er hatte jederzeit eine feine Nase, wo es sich um eine gute und zuver¬
lässige Klinge handelte! —, blieb stehn und forderte ihn auf, sich der Gesellschaft
anzuschließen. Hcirry besann sich ein wenig — sah Sir Thomas hochmütig und
übellaunig den Kopf geniert nach der andern Seite wenden — und erhob sich
dann, um Churchills Einladung anzunehmen. Graf Königsmark, mit dem er nicht
zusammengetroffen war, seit sie sich in Jork getrennt hatten, grüßte ihn höflich
und gleichgiltig nachlässig.
Es schneite draußen und stob fein durch die undichten Fenster, sodaß kleine
Schneewehen auf allen Fensterbrettern lagen und schmolzen. Der Talg lief an den
vielen Lichtern herab, die nur selten geputzt wurden, und die Luft im Saale war
schwer und dick von Tabaksrauch, dessen Gestank sich mit Kaffee- und Spiritus¬
dünsten vermischte. Es war schon spät, und die Stimmung war ziemlich geräusch¬
voll — um allen Tischen wurde geredet und geplaudert und aus vollem Halse
gelacht. Kapitän Percy saß zwischen Churchill und einem Marineoffizier in den
mittlern Jahren, der vor mehr als zwanzig Jahren an Bord der Flotte gewesen
war, als man den König aus Holland heimholte, und der später ein untergeordnetes
Kommando in Chatham gehabt hatte, damals, als Admiral Ruyter ihm die Docks
gerade vor der Nase verbrannte. Die Geschichte erzählte er mit Vorliebe — es
war ja jetzt schon lange her —, und er wußte auch verschiedne drastisch betrübliche
Geschichten von der Pest im darauffolgenden Jahre zu erzählen, als London so
völlig daniedergelegen hatte, daß das Gras unter den Treppenstufen der königlichen
Börse üppig wucherte, und sich wochenlang kein fremdes Schiff auf die Themse
gewagt hatte. Er steckte voll von Geschichten aus jenen Jahren, und in Anknüpfung
an eine Feuersbrunst in Holborn, der beizuwohnen die Herren gerade heute Nach¬
mittag belustigt hatte, fing er jetzt plötzlich an, sich weit und breit über die schreckliche
Feuersbrunst auszulassen, die im Jahre 1666 fast ganz London eingeäschert hatte.
Das waren die Papisten, sagte er und dämpfte die Stimme, damit Churchill,
der sich durch seine Schwester Mistreß Arabella so gut mit dem päpstlich gefilmten
Herzog von Jork stand, ihn nicht hören sollte. Es ist, wie Gott und alle Welt
weiß, bewiesen, daß die Papisten die Stadt angezündet haben, und außerdem wurde
ja in demselben Jahre, als Seine Majestät nach Hause kam, prophezeit, daß es ge¬
schehen würde, und es hätte also sehr leicht verhindert werden können, wenn nicht ...
Er zuckte die Achseln, um auszudrücken, wie unverzeihlich schwach sich die Regierung
immer gezeigt hatte, wenn es sich darum handelte, auf nachdrückliche Weise die
boshaften Anschläge der Katholiken abzuwehren.
Ich habe ganz dasselbe gehört, sagte Sir Thomas, der sich in seiner Eigen¬
schaft eines Freundes des Herzogs von Monauls schmeichelte, einer der Grundpfeiler
des protestantischen Thrones und der anglikanischen Kirche zu sein — die berüchtigte
Jenny auf dem Berge in Wales prophezeite es. „Im Laufe von sieben Jahren:
Krieg — das war der Krieg mit Holland —, Pest und verzehrendes Feuer."
Er nickte feierlich, als er die Prophezeiung wiederholte, trank und begann in demselben
Atem zu erzählen, daß besagte Jenny auch einen Liebestrank an eine seiner Muhmen
verkauft habe, einen Trank, der, als sie ihn versuchte, sich als ungewöhnlich wirkungs¬
voll erwies.
Nein, daran glaube ich bei meiner Seelen Seligkeit nicht, Sir Thomas, rief
der geschwätzige Führer Seiner Majestät Schiff „Fortuna". Das glaube ich nicht.
Er blinzelte und nickte Graf Königsmark quer über den Tisch zu. Glaubt Ihr
das, Herr Graf?
Nein, sagte Königsmark mit einem lauten, neckisch herausfordernden Lachen.
Aber ich wundre mich nicht, daß Sir Thomas es tut!
Warum denu? schrie Sir Thomas plötzlich erregt — er war an diesem Abend
ungewöhnlich nüchtern. Wenn er betrunken war — und das war er in der Regel —,
wurde er stumpfsinnig und ließ gewöhnlich alle groben Neckereien über sich ergehn.
Weil es sehr bequem für Euch ist, mein lieber Freund, sagte Königsmark grob
spottend und in beschützenden Tone. Wenn ich so geringe Aussichten hätte, wie
sie der reichste Mann in England hat, die Gunst meiner Schönen auf natürlichem
Wege zu gewinnen, so würde ich wahrhaftig auch meine Zuflucht zu Znuberkram
und Liebestränken und noch schlimmern Sachen nehmen.
Kapitän Percy hatte aufgehört, mit Oberst Churchill zu reden. Er saß
schweigend da, die eine Hand unter der Wange, und fühlte mit der andern unter
dem Tische nach seinem Degen. Nach Königsmarks Worten trat einen Augenblick
eine allgemeine Stille ein, und es herrschte eine gewisse Unruhe und Verlegenheit
im Kreise. Ein paar Herren flüsterten leise mit ihren Nachbarn. Einer von ihnen
stimmte plötzlich ein rohes Hohngelächter an.
Dieses Lachen brachte den sonst so geduldigen und gleichgiltigen Sir Thomas
ganz außer sich. Er erhob sich, beugte sich über den Tisch und richtete in hilfloser
Wut mit seinem langen Stock einen Schlag auf Königsmarks Hut. Kvnigsnmrk sprang
auf — geschmeidig wie ein Panther —, bereit, sich quer über den Tisch auf seinen
Feind zu stürzen. In diesen« Augenblick erhob sich Henry Percy. Er hatte
— niemand wußte, wie es zuging — schon blank gezogen und parierte mit seinem
Degen behende den Stoß, den Königsmark gegen Sir Thomas richtete. Die ganze
Gesellschaft war in demselben Augenblick auf den Beinen — der halbe Saal war
in wildem Tumult.
Kapitän Percy, sagte Königsmark stolz. Dnnkelrot im Gesicht, glühend vor
Kampfeifer, wandte er sich gegen ihn. Diese Sache geht Sie gar nichts an.
Das zu entscheiden, erlaube ich mir selbst, entgegnete Harry steif, aufrecht und
breit, ruhiger als der schwedische Herr. Aber die Augen, die denen des Grafen
begegneten, flammten von einem solchen Haß, daß Königsmark, der nie eine Ahnung
davon gehabt hatte, daß er etwas gegen ihn habe, ungefähr einen halben Schritt
zurückwich.
Kapitän Percy ist mein Verwandter, würdigte ihn Sir Thomas hochmütig
herablassend anzuerkennen. Er pflegte seine Zwistigkeiten nie selbst auszukämpfen.
Henry Percy wandte nicht einmal den Kopf nach der Seite, von der Sir
Thomas Stimme erscholl; er antwortete auch nicht. Alle in der Gesellschaft fanden
es aber völlig in der Ordnung, daß in diesem Streit, der, wie alle wußten, Lady
Elizabeth galt — wenn auch ihr Name natürlich nicht genannt wurde —, der
«Bastard von Alnwick" sich auf die Seite des anerkannten Bräutigams stellte.
Königsmark bahnte sich seinen Weg zu Kapitän Percy auf der andern Seite
des Tisches.
Ich verstehe dies nicht, sagte er vornehm überlegen, aber nicht verletzend.
Weshalb, in des Herrn Namen, seid Ihr, Kapitän, so darauf erpicht, Eure Klinge
wie der meinen zu kreuzen?
Geschehene Tat läßt sich nicht ändern, sagte Henry nur. Er sah nieder und
begegnete Königsmarks offen fragendem Blick nicht. Und ich bin bereit, jederzeit
^ wenn es sein muß, in diesem Augenblick — Euch Satisfaktion zu geben.
Aber ich will mich ja doch nur mit Tom von den Zehntausend schlagen! rief
Königsmark mit ärgerlichem Lachen.
Das steht Euch ja auch völlig frei, Herr Graf. Hinterher.
Dann laßt uns, zum Teufel auch, da Ihr ja nun einmal so halsstarrig seid,
die Sache auf der Stelle abmachen! schrie Königsmark und warf seinen Rock ab.
Henry Percy folgte in demselben Augenblick seinem Beispiel.
Der Wirt war aus den innern Gemächern geholt worden und stand nun da und
demonstrierte flehend mit der Mütze in der Hand. Nicht um vieles Geld, — ver¬
sicherte er — wollte er es, daß sein Haus wegen Totschlags in Übeln Ruf kommen,
so wie „das goldne Vlies" in der Yorkstraße hier ganz in der Nähe. Aber seine
Einwendungen halfen nicht — die ganze Gesellschaft hatte schon heftig Partei ergriffen;
das Volk wollte Blut sehen. Das einzige, was geschehen konnte, und das wurde
nur durch Oberst Churchills und Admiral Cockhams Autorität durchgesetzt, war,
daß die wenigen noch anwesenden Gäste, die nicht mit zu der Gesellschaft gehörten,
bewogen wurden, den Saal zu verlassen, dessen Türen abgeschlossen wurden.
Ein junger Offizier von der kürzlich errichteten Coldstream-Garde nahm den
weiten, hochroten Mantel, der über seinem Stuhl hing, und breitete ihn auf dem
Fußboden aus. So habe ich es sie in Spanien machen sehen, sagte er, dann hat
man nicht nötig, den Kampfplatz auszumessen.
Und es kommen keine Blutflecke auf den Fußboden, sagte ein andrer lachend.
Churchill stieß den Mantel mit dem Fuß beiseite — er wollte hier keine spanischen
Manieren haben, sagte er.
Als dem beleidigten Teil kam es Königsmark zu, anzugreifen. Er war einer
der glänzendsten und geübtesten Fechter seiner Zeit — hatte die Kunst von den
vorzüglichsten Meistern in Genua und in Florenz erlernt und Gelegenheit gehabt,
sie in Madrid und in Paris auszuüben. Henry Percy hatte nie einen andern
Lehrer gehabt als seinen Vetter Jocelyn und später einen alten Franzosen in
Berwick. Hier in London hatte er jedoch in der letzten Zeit oft zu seinem Ver¬
gnügen mit den Kameraden vom Regiment gefochten, und er war keineswegs ein
ungefährlicher Gegner — sein Handgelenk schien aus Eisen zu sein, und sein
wachsames Auge war nicht zu blenden oder zu täuschen. Aber er hatte großen
Respekt vor Kvnigsmarks italienischer Schule und hütete sich wohl, anzugreifen,
indem er sich nur auf seine Kaltblütigkeit und seine Kraft verließ. Der Schwede
war jedoch ebenso stark wie er und dazu behender und gründlich eingeweiht in
alle möglichen Finten und Kniffe, von denen sein Gegner wohl kaum eine Ahnung
gehabt hatte. Dank Henrys Vorsicht zog sich der Kampf sehr in die Länge, aber
mit jeder Minute fühlte er, wie die unermüdliche Verve seines Feindes ihn zugleich
erregte und ermattete. Schließlich vollführte Königsmark durch eine fingierte
Parade einen Meisterstoß, und seine Klinge drang quer durch Percys Schulter.
Das Blut färbte das weiße Hemd rot, er schwankte. In demselben Augenblick
trennte John Churchills flaches Schwert die Duellanten.
Voll»! blies Königsmark heraus. Er sank in den Schultern zusammen und
senkte die Degenspitze zu Boden. Dann richtete er sich auf, lächelte und warf das
erhitzte Gesicht hintenüber.
Sir Thomas Thynne! rief er. Kommt heran! Ich bin bereit für den Nächsten.
Aber der gute Sir Thomas war nicht mehr zu finden. Ohne daß seine
Gesellschaft es bemerkt hatte, mußte er sich aus dem Saal geschlichen haben, als
die übrigen Gäste ersucht wurden, ihn zu verlassen. Und die Bestürzung der
Herren, als sie entdeckten, wie die Sache zusammenhing! . . .
'
vozur äun enim! rief Königsmark, erst jetzt — als er merkte, daß sein Opfer
ihm entwischt war, ernstlich wütend. Nauäit eoquir.! Nicht so viel Mut hat er
im Leibe, daß er einen Hieb parieren kann!
Es ist nicht zu verwundern, daß er besorgt um sein Fell ist, meinte jemand.
Ich habe gehört, daß die Hochzeit in sechs Tagen stattfinden soll.
Henry Percy saß auf der in der Wand eingemauerten Bank — bleich, den
Kopf gegen die Mauer hinter sich gelehnt. Über dem zerrissenen, blutigen Hemd
suchten Cockham und der junge Riddel — der Coldstreamgardist —, so gut es ging,
einen Verband anzulegen.
Trinkt, Mensch . . .! Churchill stand mit dem Becher über ihn gebeugt. In
die Höhe mit dem Kopf! Trinkt nur, sonst klappt Ihr zusammen! . . .
Harry trank durstig. Er sah mit einem schwachen, glanzlosen Blick auf und
erhob sich schwankend, indem er sich, gleichsam verwirrt, mit der gesunden Hand
über die Stirn fuhr. Einen Augenblick wurde es ihm schwer, sich zu besinnen,
warum er sich auf dieses Abenteuer eingelassen hatte.
Er wohnt nicht weit von hier, hörte er Riddel sagen. Und halb fragend:
Ihr könnt doch wohl gehn? ...
Als er schließlich, schwer auf Riddels Arm gestützt, zum Zimmer hinausging,
kam ihm Königsmark völlig angekleidet, den großen Hut in der Hand, entgegen.
Kapitän Percy, sagte er lebhaft, mit der frischen Herzlichkeit, die ihm überall
Freunde gewann. Eure Hand, Kapitän! Er nahm sie und drückte sie warm. Sans
ranenns, n'oft-es xas?
Harry nickte. Laos remcuriö, wiederholte er mechanisch und erwiderte den
Händedruck, so gut er konnte.
Unter den Gästen, die sich auf Churchills Aufforderung — oder vielmehr
Verlangen — zurückgezogen hatten, als das Duell beginnen sollte, befand sich auch
ein Fremder, der den ganzen Abend für sich gesessen und sich nur in schlechtem
Französisch mit dem Küfer hatte verständigen können, der auch glaubte, daß es
mindestens ein Türke sein müsse. Er hatte während der ganzen Zeit Königsmarks
Gesellschaft beobachtet, von der er sehr in Anspruch genommen zu sein schien, und
stand nun da und wartete auf den Grafen, als dieser herauskam.
Königsmark stutzte, als er den Fremden sah, der in seinem langen, pelzverbrämten
Rock am meisten Ähnlichkeit mit einem Russen hatte.
Ein glückliches Zusammentreffen! sagte der Mann sofort ungestüm und ver¬
traulich in gebrochnem schwedisch. Ich bin vorgestern mit den Pferden aus Polen
angelangt. Aber es war mir nicht möglich, Euer Gnaden in diesem verdammten
Ameisenhaufen zu finden.
Königsmark entschuldigte sich bei seinen Freunden und erklärte ihnen, weshalb
er sie verlassen müsse — dieser arme Teufel von Landsmann habe zwei Tage nach
ihm gesucht und bringe ihm Botschaft von daheim . . . Zusammen mit dem neu-
angekommnen schlug er den Weg durch den Covent Garden nach Piccadilly ein,
wo er wohnte.
Der Fremde, der Leutnant Vracch hieß, von Geburt ein schwedisch-Pommeraner,
war ein guter alter Bekannter des Grafen und ein Protegs des Königsmarkschen
Hauses. Er war untersetzt und von grobknochigem Bau, mit einem Bart bis an
die Augen hinan und fing schon an zu altern. Als junger Bursche war er Ende
der fünfziger Jahre mit Karl Gustav in Dänemark gewesen und hatte seither unter
dem Prinzen von Oranien in Flandern gekämpft, wo er sich bei der Belagerung
von Mons als richtiger Wagehals bemerkbar gemacht hatte. Nachdem er aber am
Kopf schwer verwundet worden war und einen steifen linken Arm bekommen hatte,
hielt er sich meist in seiner Heimat in schwedisch-Pommern auf. Die Königsmarks
hatte er immer gekannt, und mit fast fanatischer Hingebung hatte er sich den jungen
Grafen Karl und Philipp angeschlossen. Man erzählte sogar, daß als Karl der
Elfte ihm nach der Affäre bei Mons ein schwedisches Kommando angeboten hatte,
er sich geweigert hatte, es anzunehmen, weil er nicht auf das Vergnügen verzichten
wollte, mit seinem „Patron" Graf Karl Johann, dessen Streitigkeiten und Ehren¬
händel er, wenn es ihm erlaubt wurde, zu seinen eignen zu machen Pflegte, in
der Welt umherzustreifen. Im übrigen war Christopher Vracch, trotz des Leutnant¬
titels, ein ziemlich roher und ungehobelter Bursche — keineswegs dazu geeignet,
der Kamerad und Mentor eines feinen jungen Herrn zu sein. Karl Königsmark
behandelte ihn denn auch, trotz einer gewissen Familiarität, gänzlich überlegen.
Ohne sich bei den nähern, recht eigentümlichen Umständen, von denen ihre
zufällige Begegnung begleitet war, aufzuhalten, begann er sofort ausführlich und
umständlich von der Überfahrt zu erzählen, die infolge von Sturm ganz verdammt
gewesen war, und von einem Hengst aus Oldenburg, dessen für Seine Gnaden
habhaft zu werden ihm dank verschiedner verwickelter und erfolgreicher kleiner Kniffe
gelungen war. Seine Gnaden sollten ihn nur sehen ... ein prächtigeres Tier hatte
er — das konnte er beschwören — nicht gesehen, seit er den seligen König in
Warschau einleiten sah.
Königsmark war aber zerstreut, unterbrach ziemlich kurz die Unterhaltung über
die Pferde und fragte nach Boroski, dem Polacken.
Ja, der Polack wäre auch hier. Er hätte die Pferde bis Bremen geritten
und wäre nun hier. Zu Seiner Gnaden Diensten. . .
Zu Diensten, sagte Königsmark, plötzlich ungeduldig über seines Landsmanns
familiäres und zugleich serviles Wesen und sein unablässiges „Euer Gnaden" —
„zu Diensten". Zum Teufel mit Euern Redensarten, Vraatz. Den Dienst, dessen
ich gerade in diesem Augenblick bedarf, kann mir doch niemand leisten als ich selber.
Leutnant Vraatz lachte und streckte seine langen Beine in den mächtigen Stiefeln
weit von sich. Sie saßen jetzt in Königsmarks Eßzimmer in Piccadilly, und der
Diener hatte dem Fremden reichlich Speise und Trank vorgesetzt.
Ich möchte darauf wetten, sagte er verschmitzt und kniff das eine Auge zu,
während er mit dem Rücken der Hand den Bierschaum aus seinem Bart wischte.
Ich möchte wetten, daß der Dienst, an den Ihr denkt, Graf Karl, jeden Tag mit
ein paar Zoll kalten Stahls ausgeführt werden kann.
Königsmark lachte. Er ging hin und her in dem großen Zimmer, das schwach
erleuchtet war von den Lichtern in einem zweiarmigen Leuchter auf dem Eßtisch.
Jetzt blieb er vor Vraatz stehn.
Richtig erraten, alter Freund! sagte er plötzlich munter, munterer und ver¬
traulicher, als er bisher gesprochen hatte. Das Unglück ist nur, daß der edle Herr,
um den es sich handelt, keine Geduld hat, solange still zu stehn, wie diese kleine
Operation es erfordert. Wenn er eine Degenspitze sieht — wie zum Beispiel heute
Abend —, so macht er Kehrt und wirft die Beine bis an den Nacken . . .
Heute Abend blieb er aber doch ganz geduldig stehn, sagte Vraatz. Und er
war auch, weiß Gott, genügend mitgenommen, als er herauskam.
Der war es ja gar nicht! sagte Königsmark ungeduldig. Er stand da und
spielte mit der Lichtschere, steckte die Spitze, die voller Talg war, in die Flamme
hinein, sodaß es spritzte. Der tut mir nichts, und ich begreife nicht, warum er
absolut für den andern in die Bresche treten wollte. Aber der andre ist ein Hase.
Wer ist „der andre", falls ein geringer Landsmann, der manches liebe mal
Euer Vertrauen besessen hat, so frei sein darf zu fragen, Graf Karl?
Das ist Sir Thomas Thynne, antwortete Königsmark ganz offen — Herr
auf Longleat und der reichste Mann des Landes, wie man sagt. Er empfand
plötzlich eine gewisse Erleichterung, indem er seine Schwierigkeiten diesem „geringen
Landsmann" anvertraute, auf dessen fast hündische Ergebenheit er sich seit seiner
frühesten Jugend zu verlassen gelernt hatte. Er — nun ja — in einer Woche ist Sir
Thomas Thynne, wenn ich mich nicht beeile, der Gatte der . . . Er unterbrach sich,
richtete sich auf und warf mit einer verächtlichen Bewegung die Lichtschere auf den
Tisch. Ein wie großes Bedürfnis er auch hatte zu reden, und wie offenherzig er
auch war — namentlich wenn ihm etwas zuwider ging —, gab es doch gewisse
Grenzen für das, was er zu sagen Lust hatte. Trotz all seines Leichtsinns war
er doch immer ein hoher und ritterlicher Herr, und er konnte sich nicht entschließen,
diesem Vraatz gegenüber, der ja doch eigentlich mehr seine Kreatur war als sein
Freund, über seine Gefühle für Lady Elizabeth zu äußern oder auch nur ihren
Namen zu nennen. In diesem Augenblick — wie schon so oft zuvor — empfand er
fast mit Bitterkeit, wie innig er sie liebte. Vraatz, der keinen Blick von ihm ver¬
wandte, sah, wie der Ausdruck in seinem beweglichen Gesicht wechselte.
Wann, sagtet Ihr, soll die Hochzeit des Herrn stattfinden? fragte er, indem
er direkt auf die Sache losging und die Unterbrechung nicht zu bemerken schien.
Den fünfzehnten, heißt es, antwortete Königsmarck leicht hinwerfend. Er hatte
angefangen, rastlos im Zimmer auf und nieder zu gehn.
Ja, dann hat es wahrhaftig Eile! meinte Vraatz mit einem bedeutungsvollen
und etwas rohen Lachen, indem er seinen Bierkrug leerte.
Sir Thomas Thynne, Herr auf Longleat, wiederholte er langsam mit starkem
Nachdruck. Und noch einmal — als ob er in seiner Erinnerung den unbekannten
Namen festzuhalten suchte: Sir Thomas Thynne, Herr auf Longleat.
Jetzt schlägt die Uhr zwei, sagte Königsmark und gähnte laut, indem er die
Hände ballte und sie über dem Kopf ausstreckte. Natürlich wohnt Ihr diese Nacht
bei mir, Vraatz. Für jemand, der London nicht kennt, ist es jetzt zu spät, sich
auf die Straßen und in die Gassen hinaus zu wagen. Hallo, Johann ... Er
klatschte laut in die Hände, um den Diener herbeizurufen.
Und morgen werde ich mit Boroski und einem andern alten Freunde, den ich
habe, reden . . . sagte Vraatz bedeutungsvoll, gleichsam gutmütig tröstend. Ich
werde auch mit Stjärna sprechen . . .
Königsmark, der schon an der Tür war, sah ihn fragend an, und Vraatz
fügte, naiv erklärend, hinzu: Boroski ist ja ein harthändiger Teufel, scheut sich vor
nichts in der Welt — weder unter der Erde noch über der Erde. Und wenn
jemand seiner Kugel im Wege steht. . .
Königsmark antwortete nicht sogleich, sah auch nicht zu Vraatz auf. Dann
wandte er sich nach ihm um — gleichsam ironisch — und lachte: Wenn ihm doch
Sir Thomas in den Weg kommen wollte! ... Er hat eine breite Brust und einen
noch breitern Rücken.
Vraatz begegnete seinem Blick.
Tollheiten! rief Königsmark plötzlich aus, sehr bestimmt. Wir sind in London,
alter Christopher — nicht in Riga. Ich scherzte — meinte nichts damit — nein,
so wahr ich lebe! nicht ein Wort. Aber ihn zwingen, sich mit mir zu schlagen,
den Hund, das will ich . . .
Vraatz sah ihn wieder die Farbe wechseln — das Blut stieg ihm bis an die
Stirn. Er nickte bedeutungsvoll.
Er verstehe Gras Karl so gut, sagte er, und Seine Gnaden sollten schon zu¬
frieden mit ihm sein, das schwur er. Hatte der alte Christopher ihm und dem
jungen Grafen Philipp nicht manches liebe mal aus der Patsche geholfen? Morgen
gleich wollte er hin und Graf Philipp begrüßen, falls Johann mit ihm kommen dürfe
nach der feinen Schule — Fauberts Akademie heiße sie ja wohl. . .
Königsmark nickte nur und klatschte noch einmal ungeduldig in die Hände. Er
wechselte ein paar Worte über den Bruder mit Vraatz, und als der schläfrige Diener
kam, befahl er ihm, den Gast in seine Kammer zu führen. Dann ging er mit
einem kurzen, gleichgiltigen Gute Nacht und einem: Morgen werde ich mir die Pferde
"»sehen. (Schluß folgt)
Das unerwartete schnelle Hinscheiden des Prinzen Albrecht von Preußen hat in
der abgelaufnen Woche das Reich jählings wieder vor die braunschweigische Frage
gestellt. Wenn es auch seit längerer Zeit an beunruhigenden Anzeichen im Befinden
des Prinzen nicht gefehlt hatte, so scheinen diese doch von ihm mehr als Mahnungen
zur Vorsicht denn als Symptome einer unmittelbaren Gefahr angesehen worden zu
sein. Der gänzliche Verzicht auf eine Beteiligung an den diesjährigen Truppen¬
übungen bewies, daß sich die Umgebung des hohen Herrn, und auch dieser selbst,
wohl mit der Notwendigkeit großer Zurückhaltung vertraut gemacht und eine wesent¬
liche Einschränkung der sonst mit peinlicher Sorgfalt geübten Pflichterfüllung für
notwendig erachtet hatte, leider war es aber zu spät, eine Entwicklung aufzuhalten,
die vielleicht durch die Anstrengungen der Madrider Reise und die damit infolge
des Attentats auf den König verbundne Aufregung noch einen beschleunigten Gang
angenommen hatte. Was der Prinz als Senior des königlichen Hauses von Preußen,
als Regent von Braunschweig, als Soldat und als Privatmann gewesen war, ist
nach seinem Hinscheiden durch die Kundgebungen des Kaisers, des braunschweigischen
Landes und durch die fast einstimmigen Äußerungen in der Presse bezeugt worden.
Ihm bleibt ein ehrenvolles Andenken gesichert, sein Schild weist keinen Flecken auf.
Es ist die schönste Frucht seiner zwanzigjährigen Pflichttreuen Regentschaft und
zugleich ein unwiderlegliches Zeugnis des Vertrauens in die Reichspolitik, wenn
die Lösung der braunschweigischen Rcgentschaftsfrage im nationalen Sinne außer
jedem Zweifel steht. An allen maßgebenden braunschweigischen Stellen bestand sofort
volle Einmütigkeit darüber, daß durch das Hinscheiden des Prinzregenten eine aber¬
malige Thronerledigung, wie dies im Jahre 1884 der Fall gewesen war, nicht ein¬
getreten sei, sondern daß, da alle Gründe unvermindert fortdauern, die der Zulässig-
keit einer Thronbesteigung des Hauses Cumberland entgegenstehn, sofort zu einer
Erneuerung der Regentschaft zu schreiten sei. Ebenso bestand Übereinstimmung
darüber, daß diese Erneuerung, wie es ja auch Paragraph 4 des Regentschafts¬
gesetzes von 1879 vorsieht, nur im Einvernehmen mit dem Kaiser möglich sei und
in diesem Sinne zu erfolgen habe. Die welfische Gegenströmung ist ohne Belang,
sie hat in Braunschweig selbst nur sehr geringen Boden. Ihr eigentlicher Sitz
ist in Hannover. Ein in Braunschweig regierender Welfischer Herzog ist deshalb
gar nicht in der Lage, Bürgschaften zu bieten, daß er, sein Hof und seine Regierung
nicht unter den Einfluß einer gegen die Integrität Preußens und die Einheit des
Reichs gerichteten Agitation gelangen. Nach dem Briefe des Herzogs von Cumberland
an die Königin Viktoria vom 18. September 1878 und dem Schreiben des Herzogs
vom Jahre 1885 an die deutschen Fürsten wäre es heute allein mit einer Verzicht¬
leistung des Cumberländischen Hauses auf Hannover nicht mehr getan. Das Reich
müßte andre Sicherheiten verlangen, die doch weder der Herzog noch einer seiner
Söhne zu gewähren vermag, schon aus dem Grunde nicht, weil die Thron¬
besteigung in Braunschweig an sich gleichbedeutend sein würde mit einer wesentlichen
Belebung der welfischen Agitation in Hannover. Denn dieser Agitation ist die
Braunschweiger Thronbesteigung nicht Zweck, sondern Mittel, und würde ihr demgemäß
nur einen weitern Schritt zur Erreichung dieses Zweckes bedeuten. Der Plan geht
doch darauf hinaus, das Welfentum durch die Thronbesteigung in Braunschweig
festen Fuß fassen zu lassen, um solchergestalt im fürstlichen Status einen Einfluß
auf Hannover zu gewinnen, der je nach Gunst der Umstände zu verwerten wäre.
Ist das Welfentum erst einmal im Kreise der deutschen Bundesfürsten und im
Bundesrat vertreten, ist es so in Kenntnis der Mühen und Sorgen der Reichspolitik,
so eröffnen sich ihm selbstverständlich ganz andre Aussichten, als sie in Gmunden
möglich sind.
Es gibt gut patriotische Männer, die der Ansicht sind, daß durch die Zu¬
lassung des cumberländischen Hauses in Braunschweig dem Welfentum der Boden
abgegraben und jede weitere Agitation gegenstandslos werden dürfte. Diese An¬
sicht ist doch wohl irrig. Das Welfentum wird niemals seine Ansprüche aufgeben.
Im Gegenteil. Ein in Braunschweig residierender Welfischer Herzog würde ganz
unvermeidlich seine Augen auf Hannover richten und in die Netze einer Agitation
geraten, die dann mehr als je seine Person zu ihrem Mittelpunkt machen würde.
Auch die Germania macht sich bei dieser Gelegenheit zum Organ angeblicher
dynastischer Interessen und versucht, für das Erbrecht des Welfischen Hauses eine
Lanze zu brechen. Aber die dynastischen Interessen des Hauses Cumberland müssen
Wohl oder übel vor dem Reichsinteresse und dem Interesse des braunschweigischen
Landes zurücktreten, die gefährdet wären, sobald der braunschweigische Thron zum
Zentrum der welfischen Agitation würde. Man könnte dem Plaidoyer der Ger¬
mania gegenüber viel eher die Frage aufwerfen, ob die Erbbehinderung des
Hauses Cumberland nicht eine dauernde, und der Erbvertrag zwischen Braunschweig
und Hannover nicht überhaupt hinfällig sei? Es handelt sich zunächst doch
nicht darum, in Braunschweig dynastische Rechte wahrzunehmen, sondern um die
Ausübung der Pflichten eines deutschen Reichsfürsten, Pflichten sowohl
gegen das Reichsoberhaupt und gegen das gemeinsame Vaterland wie gegen
Braunschweig und die Braunschweiger. Wer in einem deutschen, dem Reichsver¬
bande angehörenden Lande regieren will, hat seine Berechtigung, seine Erbes¬
legitimation nicht aus Papieren und Paragraphen zu führen, sondern er muß sie
aus der unbedingten, rückhaltlosen Ergebenheit und Treue für Kaiser und Reich
erbringen. Nur um diesen weder unbilligen noch unwürdigen, sondern in der
Natur der Dinge liegenden Preis darf ein Mitglied des Hauses Cumberland in
Braunschweig herrschen. Kann ein Prinz dieses Hauses eine solche freudige Hin¬
gebung und Ehrlichkeit für Kaiser und Reich, die jeden Zweifel ausschließt, ver¬
bürgen, so mag er dazu die Initiative ergreifen. Wer Rechte beansprucht, darf
sich den damit verbundnen Pflichten nicht entziehn. Das Reich und Preußen,
denn Preußen als solches hat auch ein Wort dabei mitzusprechen, haben bis jetzt
gewartet und werden vielleicht noch länger warten. Sollte aber für Braunschweig
die Notwendigkeit eintreten, der Sache eine dauernde Lösung zu geben, so würde
sich das wahrscheinlich viel einfacher vollziehn, als die Welfenpartet heute annimmt.
Der Bundesrat und Preußen stehn heute noch auf dem Boden des preußischen
Antrags vom 21. Mai 1885, der dahin ging: „Die Überzeugung der Verbündeten
Regierungen dahin auszusprechen, daß die Regierung des Herzogs von Cumberland
in Braunschweig mit dem innern Frieden und der Sicherheit des Reichs nicht ver¬
träglich sei, und zu beschließen, daß die braunschweigische Landesregierung hiervon
verständigt werde." Da gegenwärtig nicht die Thronfolge, sondern nur eine Er¬
neuerung der Regentschaft in Frage steht, so bedarf es der Herbeiführung eines
Bundesratsbeschlusses nicht. In dem Antrage von 1885 heißt es wörtlich: „Wenn
die Landeshoheit in Braunschweig mit allen ihren Rechten an der Neichsregierung
in die Hände eines Fürsten gelegt würde, der einem Teil der Bevölkerung von
Hannover als Prätendent auf die gesamte preußische Provinz dieses Namens gilt.
so würde Seine Majestät der König von Preußen die Fürsorge für die Sicherheit
im Lande selbst in die Hand nehmen, wenn nicht die Institutionen des Reiches
die Mittel zur Verhütung unmöglicher Zustände darböten. Unter diesen Umständen
würde, auch wenn das Recht des Herzogs zur Succession ein prinzipiell unbe¬
strittenes wäre, die Regierung des Herzogs von Cumberland in Braunschweig und
die damit verbundne Beteiligung an der Reichsregierung politisch ungilttg sein,
weil die innere Sicherheit des Reiches dadurch gefährdet würde."
In der Presse ist unter andern auch Prinz Eitel Friedrich von Preußen als
Regentschaftskandidat genannt worden; es darf mit Sicherheit angenommen werden,
daß die Söhne des Kaisers bei dieser Wahl nicht in Betracht kommen.
Die glatte Erledigung der braunschweigischen Angelegenheit darf den Deutschen
wie dem Auslande als ein neuer Beweis dafür gelten, daß sich die Ordnungen
des Reiches in das Bewußtsein der Bevölkerungen eingelebt haben, und daß nament¬
lich der Wunsch, mit dem Reichsoberhaupt und der Reichspolitik in vollem Ein¬
vernehmen zu bleiben, allen deutschen Regierungen zum Grundsatz geworden ist.
Der ruhige Gang der Regentschaftsfrage in Braunschweig spricht ebenso gegen
alle Behauptungen von Reichsmüdigkeit wie der herzliche, ungekünstelte Empfang,
den der Kaiser in Schlesien gefunden und der die unverminderte Anhänglichkeit
zu erneutem Ausdruck gebracht hat, die diese Provinz von jeher in guten und
bösen Tagen mit ihren Königen verbindet. Die dem Husarenregiment Graf Götzen
vom Kaiser verliehene Auszeichnung beweist, daß der Monarch, wie er in seinen
öffentlichen Kundgebungen die Treue der Schlesier im Unglücksjahr 1806 und im
Jahre der glorreichen Erhebung von 1813 wiederholt rühmend geehrt, so auch
der wackern Verteidiger von Glatz und des Glatzer Gebirges im Jahre 1807 nicht
vergessen hat. In die Kategorie dieser Auszeichnungen gehört es Wohl auch, daß
dem Husarenregiment von Schill die Ehre zuteil wurde, der Kaiserin das Geleit
zu stellen. Den großen geschichtlichen Erinnerungen, die ihn auf schlesischen Boden
umgaben, entsprachen die erhebenden Eindrücke, die der Kaiser aus den herzlichen
Kundgebungen der Schlesier gewann, und die ihn in Gegenwart der zahlreichen
ausländischen Gäste doppelt wohltuend berühren mußten. Sollte ein König von
Preußen da nicht berechtigt sein, aus einer so großen geschichtlichen Vergangenheit
seines Landes und Hauses, über alle Verstimmungen der Gegenwart hinweg, volles
Vertrauen in die Zukunft zu schöpfen und das erhobnen Hauptes zu bekunden?
In der Tatsache, daß und wie der Kaiser die Katastrophe von 1306 fest ins Auge
faßt und die heutige, durch einen politischen und wirtschaftlichen Aufschwung sonder¬
gleichen gar leicht geblendete Generation immer wieder mahnend auf die Erschütterungen
von 1806 hinweist, liegt ein Zug, der in seinen psychologischen Ausgingen weit
weniger mit einer Reichsmüdigkeit als vielmehr mit einer gewissen Überhebung
rechnet, die die gebildeten Klassen der Nation zum nicht geringen Teile auf eine
negative Kritik beschränkt, während sie im übrigen die Hände in den Schoß legen,
und es der jeweiligen Regierung überlassen, für gutes Wetter zu sorgen, un¬
bekümmert darum, wie weit solche Kritik ihr im einzelnen Falle vor dem In- und
Auslande diese Aufgabe erleichtert. Man denke z. B. an die Marokkofrage.
Der Kaiser betrachtet sich nicht nur als Herrscher seines Volkes, sondern auch
als dessen obersten Repräsentanten, der — wie eine englische Monatsschrift jüngst
vom König Eduard sagte, daß er der englischste aller Engländer sei — vollbewußt der
deutscheste aller Deutschen sein will. Diese durchaus moderne Auffassung des König¬
tums und des Königsamts ist es, die der Monarchie in Deutschland sowohl wie
in England inmitten einer so stark nivellierenden Zeit ein steigendes Ansehen ver¬
leiht. Es ist kein Zweifel: durch die Bundesverfassung von 1867, die seitdem zur
Reichsverfassung geworden ist, hat sich zunächst das Königtum in Preußen, dann aber
auch das Kaisertum und das gesamte Fürstentum in Deutschland modernisiert und
sich dadurch in die Lage gebracht, den Zeitströmungen manche Zugeständnisse machen
zu können, ohne durch deren zersetzende Auswüchse in bedenklicher Weise berührt
zu werden. Sicherlich hat das allgemeine Stimmrecht den Massen einen ungeheuern
Einfluß auf die politische Entwicklung des Landes gegeben. Aber dieses Recht ist
in Deutschland der Monarchie nicht durch revolutionäre Bewegungen abgerungen
worden, sondern es ist eine Gabe, die der siegreiche König im Herbst 1866,
seiner Zeit vorauf, seinem Volke dargebracht hat, nachdem er sich schon drei Jahre
zuvor, nach dem Frankfurter Fürstentage, mit dem Prinzip einverstanden erklärt
hatte. Von dieser Seite gesehen gewinnt das allgemeine Stimmrecht eine Bedeutung,
die manchen Gegner damit versöhnen kann, solange die gesetzliche Macht des Staates
stark genug bleibt, den breit und gewaltig dahinfließenden Strom des Massenein¬
flusses auf das öffentliche Leben innerhalb fester Ufer zu halten. Das wird immer
möglich sein, solange sich das Königtum der mit dieser Gabe verknüpften Pflicht
bewußt bleibt, nicht nur Herrscherrechte auszuüben, sondern mit Hilfe gutgewählter
Berater die geistigen Strömungen, die innerhalb eines großen Volkes — aus den
verschiedensten Quellen fließend und bald da bald dort an die Oberfläche tretend —
in unaufhörlicher Bewegung sind, rechtzeitig zu erkennen, zu lenken und führend zu
gestalten. Über die damit verbundnen Schwierigkeiten darf man sich freilich keiner
Täuschung hingeben.
In diesem Zusammenhange gewinnt auch die viel angefochtene Äußerung des
Kaisers über die Schwarzseher ein andres Aussehen. Die Rede war, wie sich
schon aus ihrem Umfang ergibt, nicht vorher festgelegt, sondern wohl erst aus
den Eindrücken des Tages oder der letzten Tage hervorgegangen. Der be¬
geisterte Empfang, die naheliegenden Erinnerungen an Friedrich den Großen, an
das Jahr 1806, an den glorreichen Weg von Tilsit bis Versailles und dann der
Gedanke an den mächtigen Aufschwung innerhalb fünfundreißig Friedensjahren war
der Jdeenkreis, aus dem heraus, anknüpfend an die Rede des Oberpräsidenten, der
Kaiser seine Antwort schuf. Da ist es durchaus verständlich, wenn der kaiserliche
Redner aus dieser Vergangenheit die Zuversicht schöpfte, daß auch ungeachtet mancher
Fehler und Mißerfolge, von denen ja keine Regierung frei ist, eine Schwarzseherei
keinen Boden habe und nicht berechtigt sei. Auch Könige sind Kinder ihrer Zeit,
meist sind es nicht die schlechtesten Herrscher, denen man das nachsagen darf. Kaiser
Wilhelm der Zweite ist im Sonnenglanze dreier Siegesjahre herangewachsen. Er
hat als Primaner in Kassel bei der Sedanfeier mit Stolz die Fahne des Gymnasiums
getragen, der Zauber, der die ehrfurchtgebietende Gestalt seines Großvaters, die
Popularität, die die heldenhafte Erscheinung seines Vaters umgab, der gebietende Einfluß
der deutschen Politik in der Hand des ersten Reichskanzlers, dem er in jungen
Jahren so nahe trat, das sind die Einflüsse, die seine Jugendjahre umgaben und
ihn frühzeitig mit einem hohen Glauben an Deutschlands Zukunft erfüllten, eine
Zukunft, die dann durch den Ratschluß der Vorsehung eher als es nach mensch¬
licher Berechnung erwartet werden durfte, in seine Hände gelegt worden war. Will
wan den Kaiser in allem, was an ihm gefällt und mißfällt, recht versteh», so wird
"wu sich immer die Summe der Eindrücke, unter denen er herangewachsen ist, ver¬
gegenwärtigen müssen, Eindrücke, die den reichbegabten Prinzen frühzeitig mit einem
hohen Bewußtsein von seiner dereinstigen Aufgabe erfüllt haben. Nimm man
dazu den Ernst, mit dem er sich seinen militärischen Dienststellungen ordne e, die
Eigenart, die er darin bekundete, daß er sich frühzeitig und freiwillig mit Be¬
geisterung der Marine zuwandte, daß er zum Beispiel mit vieler Mühe beim Groß-
Vater die Erlaubnis erwirkte, die Überfahrt nach England zum Jubiläum der
Königin Viktoria mit einer Torpedodivision machen zu dürfen, die dann im Voll¬
dampf bei stürmischem Wetter durch die Nordsee jagte, unvermutet an der englischen
Küste auftauchte und — wie schon einmal in diesen Blättern erwähnt — dadurch
einen englischen Admiral zu der Äußerung an General von Winterfeld, den spätern
vertrauten Generaladjutanten Kaiser Friedrichs, veranlaßte: „Mit einer solchen
Leistung können wir nicht aufwarten", so bietet das ein Gesamtbild, das sich gewiß
viele andre Nationen für ihre Thronfolger wünschen möchten. Wachstum und Ge¬
deihen, Blüte und Frucht eines Baumes hängen von dem Boden ab, worin er
wurzelt, von der Sonne, die ihn bescheint, und dem Regen, der ihn befruchtet.
Sucht man nach allen diesen Lebensbedingungen beim Kaiser, so sind es jedenfalls
die besten, die man sich wünschen könnte. Wenn dennoch in seiner nun achtzehn¬
jährigen Regierung manches anders gegangen ist, als erhofft wurde, so darf man
nicht vergessen — und das ist ein großer Unterschied bei einer Vergleichung des
Kaisers mit seinem königlichen Onkel von Großbritannien —, daß die Lehren und die
Erfahrungen, die sonst einem Herrscher die Kronprinzenzeit liefert, die dem Gro߬
vater in so reichem Maße zustatten gekommen waren, und die auch bei Kaiser
Friedrich, wäre er als gesunder Mann zur Regierung gekommen, ihre Einwirkung
nicht verfehlt haben würden, von Kaiser Wilhelm dem Zweiten erst auf dem Throne
gesammelt werden konnten. Er selbst hat einmal in Bremen auf die Eindrücke hin¬
gewiesen, die er in seiner Jugend bei häufiger Anwesenheit in England dort von
Britanniens Größe und Weltstellung gewonnen hat. Sie haben ihm den Blick in
die Ferne geschärft und sind dem Deutschen Reiche schon in mancher Hinsicht zugute
gekommen.
Die Neigung, die Vergangenheit auf Kosten der Gegenwart zu erheben,
namentlich wenn sie von glänzenden weltgeschichtlichen Taten erfüllt war, während
die Gegenwart ausschließlich ein Zeitalter stiller wirtschaftlicher Arbeit ist, muß hier¬
nach modifiziert werden. Nach einem alten Sprichwort soll man den Tag nicht vor
dem Abend loben, ebensowenig aber soll man ihn vor dem Abend schelten. Die
Nation hat seit den Befreiungskriegen ein halbes Jahrhundert hindurch von der.
Sehnsucht nach schier unerreichbaren idealen Zielen gelebt. Als dieses Sehnen
dann endlich über Hoffen und Verstehn erfüllt und Deutschland auf eine ungeahnte
Höhe gehoben worden war, sind an die Stelle der idealen politischen Ziele die
materiellen wirtschaftlichen getreten. Die politischen waren eine interne Angelegen¬
heit Deutschlands, die wir zunächst mit uns selbst auszumachen hatten, die wirtschaft¬
lichen bringen uns in enge Berührung mit den andern Nationen, zwischen denen
wir uns Platz suchen und ihn halten müssen. Daraus erwachsen Reibungen, aus
den Reibungen Verstimmungen bet uns und bei den andern, je nachdem sie oder
wir den Platz behaupten. Die zunehmende Verstimmung im Auslande zeigt in
Übereinstimmung mit unsern Statistiker, daß Deutschland in Industrie, Handel und
Schiffahrt auf dem Weltmarkt im starken Aufsteigen ist. Aber dieses Aussteigen
hat zwei Nachteile. Zunächst ein starkes nachdrängen der arbeitenden Klassen, die
für ihrer Hände Arbeit fort und fort einen reichern Anteil am Gewinn begehren,
sich in starke Organisationen formen und diese ebenso für ihre politischen wie für
ihre wirtschaftlichen Bestrebungen einsetzen. Dieses starke nachdrängen spricht einst¬
weilen gegen jede weitere Ausdehnung des allgemeinen Stimmrechts auf das Gebiet
der Landtags- und der Gemetndewahlen. Die Dämme, die heute noch die Flut halten,
dürften sonst doch zu schwach werden. Der zweite Nachteil ist der, daß der glänz 'de
materielle Aufschwung der an Handel und Industrie beteiligten Kreise, zu denen
sich neuerdings auch noch ein großer Teil der Landwirtschaft gesellt, jene gebildeten
Schichten der Nation unbefriedigt läßt, deren Einkommen aus Gehalt und geistiger
Tätigkeit mit jenem Aufschwung nicht nur nicht S chritt zu halten vermag, sondern
deren Existenz im Gegenteil durch ihn in jeder Richtung verteuert wird. Zu dem
dadurch hervorgerufnen Mißbehagen gesellt sich d er Mangel idealer politischer Ziele,
denen nachzustreben ehemals für diese Kreise gleichsam der Lebensinhalt war.
Bismarck äußerte einmal am späten Abend seines Lebens, daß er sich nach großen
Bedenken zur Kolonialpolitik nur deshalb entschlossen habe, um der Nation wieder
ideale Ziele zu geben, die der Deutsche haben müsse, wenn er nicht auf Abwege
geraten solle. Auch damit ist ein wesentlicher Grund der heutigen Schwarzseherei
berührt.
Die Erkenntnis der Notwendigkeit, den Deutschen ideale Ziele zu geben, be¬
seelt auch den Kaiser. In diesem Sinne hat er den Ausbau der Flotte in die
Hand genommen und damit an eine Saite geschlagen, die im deutschen Volke immer
hellen Klang gibt; in diesem Sinne hat er einst von dem „größern Deutschland"
gesprochen, das er fest an das heimatliche Reich angliedern wolle. Damit waren aber
nicht Eroberungen jenseits der Meere gemeint, sondern es sollten nur auf jede
Weise die geistigen Bande gestärkt werden, die die zahlreichen Deutschen in andern
Weltteilen mit der Heimat verknüpfen, damit sie dieser dort nicht verloren gehen,
sondern dem Deutschtum erhalten bleiben. Wie weit Ideal und Leben auch auf
diesem Gebiete voneinander abweichen, zeigt die Tatsache, daß, obwohl seit jener
Kaiserlichen Rede mehr als zehn Jahre verflossen sind, es bis heute nicht möglich
gewesen ist, dem Reichstage ein Gesetz vorzulegen, das den Verlust der Reichsan¬
gehörigkeit in einer der Würde des Deutschen Reiches angemessenen Weise regelt!
Wenn die Parteien in unserm Reichstage mehr von ihren Pflichten für Staatsnot¬
wendigkeiten und weniger von parlamentarischen, fraktionellen und persönlichen Eitel¬
ketten durchdrungen und geleitet würden, in denen sich heute unser Parlamentaris¬
mus schier erschöpft, würde das nicht möglich sein. Und da kommen wir auf ein
weiteres Element der Schwarzseherei: das tiefe Mißfallen an der Volksvertretung,
das weite nationalgesinnte Kreise der Nation erfaßt hat. Das Jahr 1908 — wenn
nicht früher — soll uns einen neuen Reichstag bringen, die Parteien scheinen dieses-
mal sehr frühzeitig mit den Vorbereitungen zu beginnen. Ob daraus endlich ein auf
d
Man spricht soviel von Kunstverständnis heutzutage
und betreibt es mit so vielerlei Mitteln, als: kunstgeschichtlichen Unterricht, kunst¬
kritischen Vorträgen usw. meist ohne andern Nutzen als den, daß man Namen und
Werke lernt und Renaissance und Biedermeierstil geläufig unterscheiden kann. Was
aber hat das im Grunde mit Kunst zu tun, mit der Kunst, die den innern Menschen
bildet? Ein solches Wissen über Kunst und von Kunstwerken kann eine Hilfe — keine
übermäßig große! — zum Verständnis werden, aber nur unter der Voraussetzung,
daß man diese Mittel nicht mit dem Zweck verwechselt, sondern sich bewußt bleibt,
worauf es zuletzt ankommt. Nämlich nicht so sehr darauf, daß wir ein Kunstwerk
nach Stil, Geschichte, Inhalt begreifen, sondern weit mehr darauf, daß es uns
ergreift, daß es zu unsrer Seele sprechen kann.
Wer selbst zu viel spricht, der kaun nicht hören, was ihm die oftmals stummen
Werke der Kunst zu sagen haben. Allem Großen und Ernster gegenüber, und
dazu gehört ganz sicher auch jedes wahre Kunstwerk, bedarf es der Sammlung und
des Ernstes. Es ist ein großer Irrtum, die Worte „Ernst ist das Leben, heiter
P die Kunst" so aufzufassen, als stünde die Kunst abseits vom Leben und sei nur
und, müßige Stunden angenehm auszufüllen. Genuß im landläufigen Sinne des
Wortes — also Vergnügen, Annehmlichkeit — ist keineswegs ihr Wesen. Sie will
und kann den ganzen Menschen adeln und vertiefen — durch Freude zwar, aber
durch Freude, die in einem Gefühl der Andacht wurzelt. Dieses Gefühl ist nicht
mit kunstgeschichtlichen Wissen zu erlernen. Wer bescheiden, mit offnem Herzen
vor ein Kunstwerk treten kann, bei dem wird es sich einstellen und ihn auf sonnige
Höhen des wahren Genusses führen. Wer aber nicht los kann von persönlichen
Alltagsinteressen, wer erfüllt von künstlerischen Schlagwörtern herzukommt, dessen
Herz, fürchte ich, bleibt zu, die reine Freude am Schönen zieht nicht hinein. Man
muß still werden können der Kunst gegenüber. Erst dann, wenn alles andre in
uns schweigt, hören wir sie; denn „die Stimme der Schönheit redet leise".
Die Frage ist eigentlich die: „Wie lernt man es, sich auf ein Kunstwerk ein¬
zustellen?" Die Fähigkeit dazu muß als Anlage natürlich vorhanden sein, aber
sie fehlt auch keinem Menschen ganz, wenn sie auch in sehr verschiednen Grade
und nach allen möglichen Richtungen besteht. Was den meisten Laien fehlt, sind
nicht Daten und Namensverzeichnisse, sondern innere Unbefangenheit vor und Er¬
griffensein von der Kunst. Beides läßt sich direkt nicht lehren.
Trotzdem kann man es lernen und üben. Zunächst müssen wir versuchen, die
Grundstimmung zu erkennen, aus der das Werk entstanden ist. Erst von hier aus
kann es zum rechten nachfühlen kommen, zu dem, was die Ästhetiker das „Re¬
produzieren" des Hörers oder des Beschauers nennen. Das ist der Punkt, um
den es sich eigentlich handelt, und den das Schlagwort vom Kunstverständnis
etwas verschleiert. Die verständnisvolle Bewertung von Formen und von Farben
und Tönen ersetzt nicht das instinktive Ahnen dessen, was der Künstler empfunden
hat, ehe sein Werk entstand. Je stärker der Beschauer die Grundstimmung — ver¬
möge seiner eignen Stimmung und Erfahrung — fühlt, desto besser wird er sich
nachschaffend des Künstlers Vorstellungen und Gestalten zu eigen machen. Beispiels¬
weise ist es kaum möglich, daß jemand, der noch nie in persönlichem Schmerz der
Majestät des Todes gegenübergestanden hat, eine Niobe „verstehn" könnte — und
wenn er die ganze Kunstgeschichte der Griechen auswendig wüßte!
Die beste Hilfe — nächst der, die das Leben mit seinen Erfahrungen bietet —
leistet gewöhnlich eine Kunst der andern. Freude an Märchen bereitet zum Beispiel
zum Genuß Böcklinscher Bilder vor; ein Zeichner wie Chodowiecki befähigt uns,
die Gestalten aus einigen Dramen unsrer Klassiker in voller Lebendigkeit in ihrer
Zeit zu sehen usw. Ich möchte ein besondres Beispiel anführen. Es gibt ein
farbiges Madonnenrelief, wie man annimmt, von Luca della Robbia. In einem
Kranze bunter Blumen kniet eine junge Maria in weißem Gewände auf grünem
Rasen; der Grund ist blau. Ein paar Engelsköpfchen, ja das Christkind sogar
treten ganz und gar zurück vor dem Liebreiz der weiblichen Gestalt, für deren
frühlingsmäßige Schönheit die heitern Farben nur als Folie erscheinen. Es singt
und klingt hier dieselbe „Stimmung" wie in dem Frühlingsliede von Walther
von der Vogelweide:
Diese Stimmung aber können wir in dem Relief wie in dem Liede nur verstehn,
wenn wir dieses Frühlingsgefühl für alles junge und blühende erfahren haben und
im Kunstwerk durchfühlen. Danach oder daneben ist es ganz schön, auch zu wissen,
wer Walther von der Vogelweide war, und welcher Kunstperiode die Robbia an¬
gehörten.
Die Kunst ist eine gütige Göttin! Ist es nicht immer mühelos, ihr nahe zu
kommen, so lohnt sie die Mühe doch immer reich. Das Leben mit seinen Er¬
fahrungen und Schmerzen lehrt uns, die Kunst zu erfassen — die Kunst aber mit
ihren Freuden lehrt uns, das Leben immer tiefer zu verstehn und führt uns dadurch
immer näher zu der reinen Harmonie alles Daseins, von der die Kunst nur Spiegel
Auf Seite 565 ff. der Grenzboten I, 1903 ist
eine von dem Lehrerkollegium für das Gymnasium Augustum der Stadt Görlitz
herausgegebne Heimatkunde besprochen worden. Die damals als Manuskript ge¬
druckten zwei Hefte waren als Lehr- und Lesebuch für die Schüler gedacht und
sollten ein Versuch sein, ihnen damit die Heimatkunde nahe zu bringen. Der Versuch
ist gelungen, und kürzlich ist deshalb eine zweite, umgearbeitete Auflage unter
dem Titel erschienen: Görlitzer Heimatkunde. Unter Mitwirkung von Professor
Dr. Jecht, Landschaftsmaler und Zeichenlehrer Kühn, Professor Schmidt, Professor
Dr. Wetzold, Professor Dr. Zeitschel herausgegeben von Professor Dr. Stutzer, Direktor
des Gymnasiums in Görlitz. Zweite, umgearbeitete Auflage. Mit einer Tafel in
Lichtdruck und einem Bilderanhange. Breslau, Ferdinand Hirt, 1906. 136 Seiten.
1 Mark 60 Pfennige.
Die bisherigen zwei Hefte sind in eins zusammengefaßt worden, und zwar in
der Weise, daß die Einzelschilderungen des zweiten Heftes gekürzt und in den ge¬
schichtlichen Überblick verflochten worden sind. Im übrigen ist die Anordnung des
Stoffes dieselbe geblieben, und es ist überflüssig, nochmals auf den Inhalt näher
einzugehn. Das Buch verdient auch in der neuen Auflage eine besondre Beachtung:
es ist mustergiltig und vorbildlich für eine Heimatkunde, wie sie heutzutage gepflegt
und gelehrt werden soll, da sie von Mitgliedern des Kollegiums einer höhern Schule
bearbeitet worden ist, also von Fachmännern, die dazu berufen sind. Es gibt tat¬
sächlich kein geeigneteres Kollegium für die Bearbeitung einer Heimatkunde als die
Lehrer einer höhern Schule, an der alle Fächer gelehrt werden, die für die Heimat¬
kunde wichtig sind. Der Lehrer für Mathematik und Naturwissenschaft kennt die
Boden- und die klimatischen Verhältnisse, die Tier- und die Pflanzenwelt; der Ge¬
schichtslehrer weiß in der Ortsgeschichte Bescheid, befaßt sich wohl auch mit den Sagen
und dem Volksleben oder mit der Kunstgeschichte, und der Zeichenlehrer hat Ge¬
legenheit, durch Aufzeichnung hervorragender Bauten, Denkmäler, Straßenzüge und
Landschaftsbilder der Heimatkunde förderlich zu sein und ein solches Buch durch
Abbildungen zu beleben. Es ist deshalb wünschenswert, daß die deutschen Unterrichts¬
ministerien von dem Erscheinen dieser neuen Auflage Kenntnis nehmen und sie den
sämtlichen höhern Schulen als Muster und Vorbild für die Bearbeitung der eignen
Heimatkunde empfehlen. Zweifellos sind unter den achttausend Lehrern, die in
Preußen allein den Unterricht an höhern Schulen erteilen, viele zu finden, die mit
Freudigkeit und Eifer an die Arbeit herangehn und eine brauchbare Heimatkunde
liefern. Dabei ist nicht außer acht zu lassen, daß auch die Schüler selbst, für die
zunächst die Bearbeitung geschieht, mit herangezogen werden können; sie sind meist
aus der nähern Umgebung der betreffenden Stadt und können beispielsweise über
die Sagen, seltne Bäume, merkwürdige Haus- und Grabinschriften und dergleichen
aus ihrem Heimatorte Auskunft erteilen oder doch zur Herbeischaffung des Stoffes
Als im Frühling 1893 die griechischen Anleihen
plötzlich um Dutzende von Prozenten gefallen waren, und man bald darauf bei
uns in Deutschland seinen Besitz an Monopolanleihe, Piräus-Larisa usw. um ein
Drittel des Ankaufspreises losschlug, um nicht auch dieses noch auf den Altar von
Hellas legen zu müssen, damals — wo das alles freilich lange nicht so scherzhaft
war. wie es heute klingt, trug es sich auch zu, daß die französische Schule von
Athen unter der Leitung von THLophile Homolle auf dem Boden des alten Delphi
Ausgrabungen machte. Alsbald stießen die Forscher auf die Fundamente eines
Bauwerks, das ihnen nach seinem Grundriß ein Schatzhaus, und nach Pausanias
Beschreibung von Delphi das Schatzhaus der Athener zu sein schien. „Nach vier¬
undzwanzig Stunden reiflicher Überlegung, erzählt Homolle, glaubte ich als sicher
nach Paris telegraphieren zu dürfen, wir hätten Is trösor ass ^tbönisus gefunden.
Unsre Freude wurde in Paris geteilt, ebenso aber auch, obschon aus ganz andern
Gründen, von den griechischen Behörden und unsrer Bezirkshauptstadt Amphissa.
Schon am nächsten Tage erhielt ich eine Depesche vom dortigen Unterpräfekten,
der mir den Besuch seiner Kassenbeamten ankündigte, um »den Schatz« in Empfang
zu nehmen. Der griechische Staat war damals in einer nicht gerade glänzenden
Finanzlage; so war man auf das kleine Mißverständnis verfallen und bildete sich
in aller Unbefangenheit ein, es sei bares Geld, was da so zur rechten Zeit, um
die fälligen Zinsen zu bezahlen, aus dem Boden gestiegen sei." Diese Geschichte
steht in dem kürzlich erschienenen wertvollen Buche von Adolf Michaelis „Die
archäologischen Entdeckungen des neunzehnten Jahrhunderts" (Leipzig, E. A. Seemann,
6 Mary. Der Leser findet da in elf Abschnitten (Unsre Kenntnis antiker Kunst¬
werke bis zum Schlüsse des achtzehnten Jahrhunderts; Die napoleonische Zeit; Die
Wiedergewinnung Griechenlands usw.) beinahe den ganzen Kreis dessen, was ihm
sonst als vorchristliche Kunstgeschichte vorgeführt zu werden Pflegt, nur unter einem
andern Gesichtspunkt dargestellt. Er sieht, wie und wann diese oder jene ägyptische,
assyrische, etruskische Denkmälerklasse, dieses römische Bauwerk oder jene griechische
Skulptur zuerst in den Gesichtskreis des wissenschaftlich gebildeten und kunstliebenden
Nordens gekommen ist. Er erfährt, wie das alles anfangs aufgenommen und be¬
urteilt worden ist, welche Fortschritte dann die Erkenntnis gemacht, und wie sich
der Kunstgeschmack geändert hat. Jedes bedeutendere Kunstwerk wird in seiner
Erscheinung und in seiner Wirkung kurz und treffend geschildert, mit Erwähnung
seiner Entdecker und wissenschaftlichen Bearbeiter, sodaß der Leser eine vollständige
Übersicht über die archäologische Wissenschaft in ihrem Zusammenhang mit der
Philologie und der allgemeinen Kunstgeschichte bekommt. Ein Verzeichnis der
Namen vermittelt über jeden einzelnen Punkt schnelle Belehrung. Das Buch ist
nach Inhalt und Form das Werk eines Meisters, von einer schlichten Anmut der
Darstellung, die den Leser gewinnt und nicht wieder losläßt; keine Seite ist lang¬
weilig. Den Archäologen von Beruf habe er nicht viel Neues zu bieten, meint
der Verfasser. Seine Fachgenossen werden wohl anders denken. Wir setzen eine
Stelle aus den „Briefen von Julius Lange" (Straßburg, Heitz, 1903) hierher:
„Von neuen Bekanntschaften auf dieser Reise (1890) lege ich außerordentlich viel
Wert auf Professor Michaelis in Straßburg, vielleicht augenblicklich der beste klassische
Archäologe Europas."
in Septcmberheft der Londoner Dinxirs liövisv bespricht der
englische Schriftsteller Edward Dicey die Cromberger Begegnung
in einer für den Kaiser und für Dentschland so wohlwollenden
Weise, daß es uns der Mühe wert scheint, dem deutscheu Publi¬
kum die nähere Bekanntschaft dieses weißen Naben zu vermitteln,
den die Grenzboten in seiner bestimmten Stellungnahme gegen den nach seiner
Ansicht ebenso schädlichen als unnützen und grundlosen deutsch-englischen Gegen¬
satz schon wiederholt mit Vergnügen zitiert haben. Es ist dabei namentlich
von Interesse, wie Dicey den persönlichen Charakter der Cromberger Be¬
gegnung nachweist, um gerade darauf ihre politische Bedeutung zu begründen.
Er beginnt mit dem Satze, daß in England wie in Deutschland jede Sorgfalt
aufgewandt worden sei, auf den persönlichen Charakter dieser Begegnung
zwischen den beiden mächtigsten der europäischen Souveräne hinzuweisen und
sie damit ihrer politischen Bedeutung zu entkleiden. Der gewühlte Schauplatz
sei das Schloß von Friedrichshof gewesen, wo die Mutter des Kaisers und
Schwester des Königs, die Kaiserin Friedrich, vor fünf Jahren gestorben sei.
Die Wahl dieses Platzes anstatt irgend eines der andern Schlösser rundherum,
wo die königlichen Gäste des Deutschen Kaisers in der Regel empfangen
würden, scheine dazu bestimmt, die offizielle Lesart zu bestätigen, daß die
Persönlichen Beziehungen der beiden erlauchten Persönlichkeiten heute so freund¬
liche seien, wie sie seit fast einem Jahrhundert zwischen den königlichen Häuser»
von England und Preußen bestanden haben, wenngleich dieses freundschaftliche
Verhältnis, obschon es niemals aufgehoben war, infolge verschiedner Ursachen in
den letzten Jahren nach dem Tode der Königin Viktoria und der Kaiserin
Friedrich ein weniger cmsgesprochnes gewesen sei. Die Tatsache, daß der offiziellen
Ankündigung des Besuches die Nachricht folgte, daß der König eingewilligt
habe, die Patenschaft bei seinem Urgroßneffen, dem wahrscheinlichen Erben in
dritter Generation auf dem Throne von Deutschland, zu übernehmen, sei ein
weiterer Beweis, falls ein solcher nötig sei, daß die Begegnung dazu bestimmt
war, mehr einen persönlichen als einen politischen Charakter zu tragen.
Dicey weist nun darauf hin, daß sogar in unsern Tagen, wo jeder Vor¬
fall sofort an die Öffentlichkeit komme, die Geheimnisse der Höfe vor den
Nachrichtenlieferanten sorgfältig versiegelt blieben, und wenngleich behauptet
werde, daß der Interessengegensatz und die politischen Meinungsverschieden¬
heiten zwischen England und Deutschland dnrch persönliche Verstimmung zwischen
ihren Souveränen gesteigert worden seien, so sei er persönlich der Ansicht, daß
dem nur Geschwätz oder Vermutung zugrunde liege. Da nun aber doch
kein Leser deutscher oder englischer Zeitungen die Tatsache ablehnen könne,
daß die öffentliche Meinung beider Länder, was auch immer die Ursache sein
möge, an eine gewisse Entfremdung zwischen dem Könige von England und
dem Deutschen Kaiser geglaubt habe, so sei es von beiden Souveränen ein
weiser und politischer Akt gewesen, darzutun, daß, wenn eine solche Ent¬
fremdung in der Vergangenheit jemals existiert habe, sie für die Gegenwart
ausgelöscht sei und für die Zukunft nicht wieder erneuert werden würde.
Dicey erinnert nun daran, wie oft er in seinem Eintreten für die Er¬
haltung freundlicher Beziehungen zwischen den beiden großen Zweigen der
angelsächsischen Nasse, die durch Blut, Religion, gemeinsame Institutionen, ge¬
meinsame Geschichte und gemeinsame Interessen verschwistert seien, auf die
Nützlichkeit des Austausches von Besuchen der beiden Souveräne hingewiesen
habe, deren jeder das Land, über das er regiert, in einem Umfange per¬
sonifiziere, der in keinem andern Lande Europas seinesgleichen habe. Wenn
darum die Begegnung von Friedrichshof auch kein andres Ergebnis gehabt
hätte, als darzutun, daß die Gerüchte über eine Entfremdung zwischen dem
König und seinem kaiserlichen Neffen grundlos seien, so wäre das eine hin¬
reichende Ursache zur allgemeinen Befriedigung in England wie in Deutsch¬
land. So korrekt nun aber der offizielle Bericht über die Friedrichshofer
Begegnung auch gewesen sein möge, der sie ausschließlich in die Kategorie von
Hausbeziehungen verweist, so sei es doch schwierig zu glauben, daß der Be¬
gegnung der beiden Majestäten keine politische Bedeutung beiwohne. „Sie beide
repräsentieren, schreibt Dicey, in einem außerordentlichen Grade die beiden
Nationen, über die sie auf Grund ihrer Geburt herrschen. König Eduard der
Siebente ist seinen Landsleuten teuer nicht nur als Sohn und Erbe der größten
Königin, die auf dem Throne Englands seit den Tagen der 6ova Hufe«
gesessen, sondern als ein Fürst, der seine Pflichten als der erbliche Monarch eines
freien Landes mit gewissenhafter Loyalität erfüllt, der immer seine individuelle
Autorität den Grenzen der Verfassung untergeordnet, und der niemals ermangelt
hat, seinen Ministern den Vorteil seiner langen Erfahrung und seiner tiefen
Kenntnis der auswärtigen Angelegenheiten anzubieten, ein Anerbieten, das
seine Ratgeber, man muß ihnen diese Gerechtigkeit widerfahren lassen, selten
oder niemals abgelehnt haben. Während der vierzig Jahre, die zwischen seiner
Großjährigkeit und seiner Thronbesteigung verflossen sind, hat sich Seine
Majestät unverdrossen von jeder Einmischung in die Politik fern gehalten,
die seiner königlichen Mutter hätte Verdrießlichkeiten bereiten können. Er gab
niemals irgendeiner politischen Partei die geringste Ermutigung zu der An¬
nahme, als sei er mehr der Vertreter seiner eignen Ansichten als der der
regierenden Souveränin. Als er in einem reifen Alter den Thron bestieg,
gab er sofort den Beweis, wie sorgfältig er die Pflichten und die Rechte eines
englischen konstitutionellen Herrschers studiert habe, der eifersüchtig auf die Wohl¬
fahrt seines Volkes und auf die Würde seines Reiches sei. In der Tat, erst
als der Tod seiner verehrten Mutter ihm die Gelegenheit zur persönlichen Be-
tätigung gegeben hat, haben seine Untertanen die bemerkenswerte Geschicklichkeit,
die Weltkenntnis, den vollendeten Takt und den echten guten Menschenverstand
kennen lernen, die ihm so lange Zurückhaltung auferlegten, als er nach den
ungeschriebnen Gesetzen unsers Hofes in innern oder auswärtigen Angelegen¬
heiten keine Initiative aus sich selbst heraus nehmen konnte. Was vielleicht
noch wichtiger war, Seine Majestät hatte während seiner Abgeschlossenheit vom
öffentlichen Leben die Ideen, die Aspirationen, die Überzeugungen und auch die
Vorurteile des britischen Volkes genauer kennen gelernt als die verstorbne
Königin selbst oder irgendeiner ihrer welfischen Vorfahren. Engländer von
Geburt, von Erziehung und von Charakter, ist er von der englischen Nation
als ein König nach ihrem Herzen aufgenommen worden, als ein Monarch, wie
England ihn selten gekannt hat. Es darf daher aufrichtig ausgesprochen werden,
daß der König, wenn er eine Meinung äußert, ob zu Hause oder sonstwo,
das Mundstück ist, nicht allein von Großbritannien, sondern auch des Gröszern
Britanniens jenseits der Meere. Die Tatsache, daß er England hinter sich
hat, bekleidet ihn mit einer Autorität, die anzuerkennen die fremden Machte
sich beeilt haben.
Eine ähnliche Autorität, wenngleich auf etwas andern Ursachen beruhend,
knüpft sich an die Persönlichkeit Kaiser Wilhelms des Zweiten. Fremde in
Deutschland vermögen es sich oft nicht vorzustellen, daß der außerordentliche
Halt, den Seine Majestät bei dem deutschen Volke hat, auf der Tatsache
beruht, daß die Hvhenzollerndhnastie in den deutschen Herzen unauflöslich ver¬
bunden ist mit der Umwandlung des kleinen Herzogtums (sie) Brandenburg zum
großen Deutschen Reiche. Von den Zeiten des Herzogtums Brandenburg bis
zur Gegenwart ist nicht einer der Hohenzollernschen Fürsten, der nicht sein
Herz und seinen Verstand daran gesetzt Hütte, die Politik zu fördern, durch die
Preußen zur Suprematie in Deutschland emporgestiegen ist. Kein gerechter
Geschichtsforscher kann es in Abrede stellen, daß die Vergrößerung Preußens
und die konsequente Errichtung eines geeinten Deutschlands weit mehr der
Weisheit und dem Mute der Hohenzollern als den Anstrengungen ihrer
Staatsmänner und Politiker zu verdanken sind, mit der möglichen Ausnahme
des Fürsten Bismarck. Aber sogar der große Kanzler hat sein Leben lang seine
Politik auf den Grundsatz basiert, daß wenn das Deutsche Reich dazu gelangt
ist, eine vollendete Tatsache an Stelle eines idealen Traumes zu werde»,
dieses Ergebnis nur unter der Herrschaft der Hohenzollerndynastic erreicht
werden konnte. Mag nun diese Schlußfolgerung in der Abstraktion richtig
oder unrichtig sein, daran besteht kein Zweifel, daß sie vom deutschen Volke
als ein Glaubensartikel angenommen worden ist. Das Vorhandensein dieses
Glaubens bei der großen Mehrheit der deutschen Nation erklärt das unver¬
änderliche Scheitern jedes Versuchs der Verfechter eiues vollen parlamentarischen
Selfgovernment, in die Verfassung der preußischen Monarchie oder des
Deutschen Reiches Veränderungen einzuführen, die die Suprematie der Hohen¬
zollerndynastic in wesentlichem Umfange schwächen konnten. Wann auch immer
ein solcher Versuch gemacht worden ist, das deutsche Volk, zumal in den
preußischen Provinzen, hat immer Partei für die Krone und gegen das Par¬
lament genommen. Es muß also zugegeben werden, daß die bestehende Verfassung
Dentschlands, wie fern sie auch vou unsern britischen Idealen volkstümlicher
Selbstregierung sein mag, eine Art Kompromiß zwischen der demokratischen
und der autokratischen Herrschaft bildet, der von der regierenden Dynastie loyal
respektiert wird, und daß unter diesem Kompromiß die individuelle Freiheit
besteht, Gesetz und Ordnung aufrecht erhalten werden, Leben und Eigentum
gesichert sind gegen Eingriffe der Exekutive, parlamentarische Institutionen,
Freiheit der Presse und der politischen Diskussionen keine Fiktionen mehr, sondern
anerkannte Rechte sind, deren sich die deutsche Nation erfreut, mögen immer¬
hin diese Rechte nicht so voll entwickelt sein wie in andern konstitutionellen
Ländern.
So lange dieser Stand der Dinge andauert, hat kein Verlangen nach
revolutionären Umwälzungen Aussicht ans die Zustimmung des deutschen Volkes,
das auf die Hohenzollerndynastie als den besten Schutz seiner Freiheiten, seiner
Größe als Nation, seiner Wohlfahrt für die Gegenwart und seines Ehrgeizes
für die Zukunft vertraut. Wenn diese Ansicht richtig ist, ist es leicht ver¬
ständlich, daß sich Kaiser Wilhelm der Zweite der moralischen Suprematie er¬
freut, die ihm zukommt als dem Erben einer langen Linie von Souveränen,
die alle an der Vergrößerung Preußens und an der Einigung Deutschlands
unter Preußens Hegemonie gearbeitet haben. Jeder seiner Vorfahren auf
dem Throne, welcher Art seine Mängel oder Fehler auch gewesen sein mögen,
hat eine außerordentliche Fähigkeit an deu Tag gelegt, die Strömungen der
öffentlichen Meinung in seinem Volke zu erkennen und sich ihre Ideen, ihren
Ehrgeiz und sogar ihre Vorurteile anzueignen. In dieser Hinsicht hat Seine
Majestät wenigstens die Traditionen seines Hauses mehr als erfüllt. Es ist
uicht meine Absicht, eine allgemeine Billigung der Haltung auszusprechen,
die jeder der beiden Monarchen, die jüngst in Friedrichshof zusammentrafen,
bei verschiednen Gelegenheiten eingenommen hat. Was ich wünsche, ist zu
zeigen, daß wie Seine Majestät der König von England ein typischer Eng¬
länder ist, den englischen Herzen teuer, so Seine Majestät der Kaiser von
Deutschland ein typischer Deutscher, den deutschen Herzen teuer. Beide können
zur Welt nicht nur als Beherrscher ihrer Länder sprechen, sondern als die
wahren Repräsentanten ihrer Völker,
Es scheint mir, daß der repräsentative Charakter der beiden Monarchen
von Politikern und Kritikern in England sowohl als in Deutschland häufig
übersehen wird. Es ist eine unumstößliche Tatsache, daß wenn König Eduard
der Siebente eine Meinung in auswärtigen Angelegenheiten ausspricht, dies
nicht nur seine persönliche Meinung ist, sondern die Meinung Englands. In
ähnlicher Weise sind die von Kaiser Wilhelm dem Zweiten ausgesprochnen
Ansichten über öffentliche Angelegenheiten auch die Ansichten Deutschlands.
Nach meiner Ansicht neigen unsre britischen Publizisten dazu, den Umfang, bis
zu dem die Äußerungen des Kaisers durch seine persönlichen Empfindungen und
Ideen beeinflußt werden, zu übertreiben. Als Engländer könnte ich vielleicht
wünschen, daß diese Theorie richtig wäre, und daß mit Bezug auf gewisse
Fragen, die unser eignes Land betreffen, die Äußerungen Seiner Majestät
einfache persönliche Ansichten wären, die von seinen Landsleuten nicht geteilt
werden. Ein Blick auf die wirklichen Verhältnisse zwingt mich jedoch, diese
Theorie als unhaltbar aufzugeben. Ich habe vou allen meinen Freunden
und Bekannten, die den Vorzug persönlicher Vertrautheit mit Seiner Majestät
gehabt haben, uuterschiedlos gelernt, daß er auf sie den Eindruck eines
Mannes von ungewöhnlicher Befähigung, eines Staatsmannes von außer¬
ordentlicher Kenntnis der deutschen und der fremden politischen Angelegen¬
heiten, eines Mannes von einer einzigen Macht des Ausdrucks und eines
bemerkenswerten Reizes seiner Umgangsformen ist. Ich entnehme aus allen
Berichten, daß er fähig ist, schnell entschiedne Ansichten zu formen, sie
wirksam zum Ausdruck zu bringen und sie dann und wann unerwartet zu
modifizieren.
Aber wenn das so ist, so bestätigt es nur meine Ansicht, daß er ein
Deutscher ist nach dem Herzen der Deutschen. Das Schicksal hat mir be-
schieden, manche deutsche Bekannten zu haben und verschiedne deutsche Freunde,
und ich habe immer bemerkt, daß sie kopfüber zu endgiltigen Schlüssen über
Fragen kamen, für die ihre Kenntnis und Erfahrung, wenngleich reichliche,
so doch unvollständige waren, und daß sie bestimmte Behauptungen auf un¬
zureichender Grundlage aussprachen. Zugleich entdeckte ich, daß sie sehr bereit
waren, ans Einwendungen zu hören, die Stärke der Argumente ihrer Oppo¬
nenten anzuerkennen und ihre Ansichten nach erhaltner Information ohne über¬
müßige Rücksicht auf logische Folgerichtigkeit zu ändern. Es mag wohl sein,
daß diese Neigung auch vom Kaiser geteilt wird. Ist das so, so kann von ihm
auch vorausgesetzt werden, daß er gemeinsam mit seinen Landsleuten denselben
klugen gesunden Menschenverstand hat, der sie veranlaßt, Tatsachen vor
Theorien zu bevorzugen und Ansichten zu modifizieren, sobald ihnen die Un¬
richtigkeit dargetan ist."
Dicey geht nun auf die Lage der europäischen Angelegenheiten ein, soweit
sie durch die Unterhaltungen in Friedrichshof berührt sein möchten: Rußland,
die Türkei, der Balkan, Japan, der muselmännische Fanatismus, die angebliche
panislnmitische Agitation usw. Wir haben hier keinen Anlaß, ihm auf diese
Gebiete zu folgen. Während England ein Interesse habe, Deutschlands An¬
sichten in dieser Beziehung kennen zu lernen, mußte Deutschland vernünftiger¬
weise ein Interesse haben, die Ansicht der britischen Regierung über die Inter¬
pretation des durch die Konferenz von Algeciras aufgestellten Prinzips kennen
zu lernen, namentlich wie weit sie anerkenne, daß dieses Prinzip in irgendeiner
Weise der freien Hand widerstreite, die England in Ägypten durch das anglo-
französische Abkommen garantiert sei. Es sei da eine Anzahl kleinerer Streit¬
punkte vorhanden, die unter entsprechenden Umständen Anlaß zu internationalen
Schwierigkeiten geben könnten. Namentlich sei darunter die Frage, wie weit
England und Deutschland vorbereitet seien, den Entscheidungen des Haager
Tribunals eine gleiche Autorität zuzuerkennen, auch diese Frage habe vernünftiger¬
weise wohl in Friedrichshof zur Erörterung gestanden. Selbstverständlich könne
niemand, der mit der britischen Verfassung oder mit dem persönlichen Charakter
des Königs vertraut sei, annehmen, daß eine Verständigung in Friedrichshof
abgeschlossen worden sei, die in irgendeiner Weise England zur Annahme ver¬
pflichte, bevor sie von den Ministern gebilligt worden sei. Das äußerste un¬
mittelbare Resultat, das, soweit England in Betracht kommt, von der Be¬
gegnung erwartet werden dürfe, sei, daß König Ednard dem Premierminister
und seinen Kollegen gewisse Anregungen unterbreite, die für die Erhaltung des
europäischen Friedens und der internationalen Freundschaft gemacht worden
sein mögen, ebenso wie irgendeine Anregung, die Seine Majestät persönlich
empfangen, und die Gründe, die Seine Majestät bestimmt haben, die Anregung
zu billigen oder zu mißbilligen. Erweise sich das alles als zutreffend, so sei
darin ein wichtiger Schritt für die Ausdehnung der Politik geschehen, zu der
der König in der lZntsuts ooräiÄs mit Frankreich die Initiative ergriffen habe.
„Es ist einleuchtend, führt Dicey fort, daß die Meinung des Königs, besonders
wenn sie mit der Meinung des Deutschen Kaisers zusammentrifft, von großem
Gewicht für jedes britische Ministerium sein muß. Es kann nicht geleugnet
werden, daß es bis zu einem gewissen Grade eine Neuerung im Geiste wenn nicht
im Buchstaben unsrer Verfassung war, wenn die Pourparlers für das englisch¬
französische Abkommen vom König persönlich und nicht, wie es früher ge¬
bräuchlich war, durch den vom Staatssekretär des Auswärtigen direkt instruierten
britische» Botschafter in Paris geführt worden sind. Eine zweite und ernstlichere
Neuerung würde es sein, wenn die Pourparlers für ein herzliches Einvernehmen
zwischen England und Deutschland durch König Eduard als Repräsentanten
Englands und durch Kaiser Wilhelm als Repräsentanten Deutschlands ohne
Begleitung ihrer Minister des Auswärtigen abgeschlossen worden wären. Zum
Glück für uns ist der gute Sinn der Engländer bereit, jede Neuerung zu-
zugestehn, die nach ihrem Urteil nützlich und wohltätig ist, auch wenn sie mit
genanen Präzedenzen oder der Stcmtsetikettc nicht übereinstimmt. Die Neuerung
würde jedoch nicht ohne ernste Proteste geblieben sein, wenn nicht auf dem
Throne von England ein Souverän säße, der sich so durch und durch mit
seinem Volke identifiziert hat, und der sein absolutes Vertrauen genießt, bei
seiner hohen Befähigung, seinem unverfälschten Patriotismus, seiner Treue für
die Verfassung, seiner tiefen Sympathie mit uusern britischen Ideen und seinem
außerordentlichen Blick für die Interessen unsers britischen Reiches. Was
Deutschland anlangt, so kann ich natürlich da nicht mit derselben Sicherheit
sprechen, aber nach allem, was ich höre, komme ich zu dem Schluß, daß,
wenngleich die direkte Intervention des Souveräns bei auswärtigen Ver¬
handlungen dort weniger eine Neuerung sein mag als bei uns, doch die Tat¬
sache, daß der Kaiser sein Volk fast in derselben Weise personifiziert, wie sein
Onkel das britische, viel dazu beitragen wird, die Zustimmung der deutschen
Nation jedem auswärtigen Programm zu gewinnen, das von Seiner Kaiserlichen
Majestät angenommen worden ist."
Dicey hält es nun für nützlich, nachzuweisen, gerade an der Hand der
Begegnung von Friedrichshof, wie sehr sich die öffentliche Meinung in Europa
gewandelt habe. Das Jahr 1851, das Jahr der ersten internationalen Aus-
stellung, sei die Hochwassermarke der politischen Ideen gewesen, die während
der letzten vierzig Friedensjahre in England Einfluß gewonnen hatten.
Konstitutionelle Negierung unter parlamentarischen Institutionen wurde damals
als eine Art Panazee für alle Übel dieser Welt angesehen. Freihandel, Triumph
der Feder über das Schwert, erziehende Aufklärung, Herrschaft des Volkes
durch das Volk für das Volk, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, das Bevor¬
stehen einer internationalen Ära wurden der öffentlichen Bewunderung nicht
als Traum einer fernen Zukunft, sondern als Tatsache dargestellt, die im
Begriff sei, sich zu vollziehen. Als notwendige Ergänzung dazu wurde die
Monarchie als überlebte Einrichtung bezeichnet, die von denkenden Wesen nur
unter der Bedingung geduldet werden könne, daß die Monarchen nur die
Hauptfiguren des souveränen Volkes seien. Nun sei aber der Glaube an das
frühzeitige Verschwinden der Monarchien und an die Reduzierung der Monarchen
zu einer untergeordneten Stellung durch die Ereignisse während des letzten
halben Jahrhunderts absolut widerlegt worden. Die Könige sind nicht nur
so zahlreich wie immer in der europäischen Welt, sondern sie sind auch persönlich
machtvoller. Die Politiker der Bright- oder Cobden-Ära hatten Recht, wenn
sie voraussetzten, daß vor Ablauf des neunzehnten Jahrhunderts die Demokratie
an die Spitze gekommen sein würde, aber sie hatten Unrecht in der Annahme,
daß die Demokratie notwendigerweise mehr und mehr der Liebling der parla¬
mentarischen Institutionen sein würde. Das Gegenteil ist erwiesen. In der
Alten Welt hat sich als Ideal der Demokratie die „Regierung eines Mannes"
herausgestellt, und in allen monarchischen Ländern ist eben der eine Mann
fast immer der Monarch. In allen Ländern hat der regierende Souverän
einen stärkern Einfluß und eine größere Autorität als die Minister und die
Parlamente. Der Glaube an das politische Selfgovernment, der vor fünfzig
Jahren dnrch ganz Europa verbreitet war, hat seinen Halt in allen kontinentalen
Ländern verloren. Kollektivismus in der einen Form oder in der andern ist
die einzige Regierungsform, die die Menge anzieht. Möglicherweise kann eines
Tages die Pöbelherrschaft durch Akklamation Platz greifen, aber bis jetzt ist
es das einzige Resultat der sozialistischen Propaganda gewesen, die Vorliebe
für eines Mannes Herrschaft zu fördern.
Soweit als das Proletariat in Betracht kommt, ist die konstitutionelle
Negierung versucht und für mangelhaft befunden worden, und die arbeitenden
Klassen sind mit Recht oder Unrecht zu der bestimmten Überzeugung gekommen,
daß ihre Ideen und Aspirationen besser unter eines Mannes Herrschaft als unter
einer parlamentarischen Regierung gesichert sind, die notwendigerweise die Ideen
und Interessen der mittlern Klassen repräsentieren muß. Ist die Voraussetzung
richtig, daß das „Einmannsystem" zugunsten der Monarchien gegen die Parla¬
mente spricht, besonders in Ländern, deren Monarchie seit Generationen be¬
standen hat, so repräsentiert ein König treuer, als irgendein parlamentarischer
Staatsmann es möglicherweise tun kann, die Traditionen seines Volkes. Jeder
Mann in einem Lande, das „Mannesstimmrecht" hat, kennt den König dem
Namen nach oder von Angesicht, ein nicht geringer Vorteil bei Volkswahlen. Und
mehr noch. Durch die Massen geht die keineswegs unbegründete Überzeugung,
daß ein König kraft seiner Geburt, Abstammung und Stellung den Klassen¬
einflüssen weniger zugänglich ist als irgendein andrer Mann des öffentlichen
Lebens, so hervorragend er anch sein möge, der nicht im Purpur geboren ist. „Es
liegt mir fern zu behaupten, daß die allgemeine Verstimmung über die Resultate
der parlamentarischen Regierung schon zu einem überlegten Wunsche nach ihrer
Beseitigung geführt habe, aber in Anbetracht der in Kürze von mir ange¬
deuteten Ursachen ist die Tendenz des letzten halben Jahrhunderts dahin ge¬
richtet gewesen, die Autorität der Souveräne zu vermehren und die der Par¬
lamente abzuschwächen."
Dicey erklärt zum Schluß, daß die Ursachen dieser Erscheinung zu kompliziert
seien, als daß sie im Rahmen eines Artikels erörtert werden könnten, der einem
diplomatischen Zwischenfall gewidmet sei. Er werfe die Idee eines allgemeinen
Rückgangs der Autorität der Parlamente mehr als einen Eindruck denn als
definitive Behauptung hin. Er müsse aber die Aufmerksamkeit doch auf die Tat¬
sache lenken, daß in dem Lande der Welt, in dem Selbstregierung des Volkes
durch eine freigewählte Legislatur bisher als unantastbare Einrichtung betrachtet
worden ist, in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, das „Einmannsystem"
für den Augenblick alles andre zu überwiegen scheine. In dem Konflikt zwischen
dem Präsidenten und dem Kongreß sei der erste bei weitem durch die Masse seiner
Landsleute unterstützt worden, man habe ihn als den starken Regenten anerkannt,
der die Wohlfahrt des Landes auf dem Herzen habe, und der entschlossen sei,
seine Politik auch ohne die Zustimmung des Kongresses durchzusetzen. Bei
seiner Wiederwahl zur Präsidentschaft habe Noosevelt zwar erklärt, daß er
eine dritte Wahl niemals annehmen werde, aber es sei jetzt aller Grund z»
der Voraussetzung vorhanden, daß, wenn er nach Ablauf seiner zweiten Wahl
wieder gewühlt werden sollte, er über die Unterstützung einer sehr großen
Minorität der Wühler, wenn nicht einer absoluten Majorität, aus dem Grunde
verfügen würde, weil er den Willen des Volkes tatsächlich weit mehr repräsen¬
tiert als der Senat oder das Repräsentantenhaus. Es sei unwesentlich, ob
dieser Glaube mehr oder weniger begründet sei, es komme nur darauf an zu
zeigen, wie weit sich die Volksströmnng in den Vereinigten Staaten gewandelt
habe seit den Tagen, als Washingtons Erklärung, daß eine dritte Wieder¬
wahl zur Präsidentschaft eine Gefahr für die Verfassung sein würde, als
göttliche Offenbarung angesehen wurde. In der Neuen wie in der Alten Welt
scheine das „Einmannsystem" als ein der parlamentarischen Regierung vor¬
zuziehendes an Boden zu gewinnen. Es sei das um so bemerkenswerter, als
es in Amerika keine arbeitslose oder arme Klasse gebe, wie sie fast in allen
europäischen Ländern gefunden werde, und daß in dieser Hinsicht Amerika viel
weniger Ursache habe als Europa, zu wünschen, daß die oberste Autorität
lieber in einer einzelnen Hand als in mehreren Händen liegen solle. Er für
seine Person sehe keinen Grund zu einer revolutionären Wendung bei seinen
eignen Lebzeiten oder bei der jetzigen Generation. Er vermöge nur zu er¬
kennen, daß die allgemeine Tendenz der Volksströmung in der ganzen Welt
auf Vermehrung der Autorität der persönlichen Herrscher gerichtet sei, gleich¬
viel ob sie Präsidenten, Diktatoren, Könige oder Kaiser genannt werden, und
daß sich infolgedessen das Ansehen der konstitutionellen Parlamente vermindre,
die bis jetzt als politische Vermittler zwischen dem Thron und dem Volk ge¬
dient haben, und die tatsächlich, wenn nicht dem Namen nach, die oberste
Gewalt ausübten. Es könne für diese Tendenz keine bessere Illustration bei¬
gebracht werden als die Tatsache, daß die beiden befähigtsten der europäischen
Souveräne, die über die führenden Länder Europas regieren, eine Unterredung
abgehalten haben, in der Fragen der wichtigsten Interessen ihrer beiden Länder,
wie mit oder ohne Grund anzunehmen sei, zur Erwägung gestanden haben, und
daß eine solche Unterredung von ihren eignen Untertanen nicht nur ohne Mi߬
trauen, sondern mit ausgesprochner Befriedigung angesehen worden sei.
So weit Dicey.
Der deutsche Leser wird ihm vielleicht nicht in allen seinen Abstraktionen
zu folgen vermögen und ihm namentlich die Tatsache entgegenhalten, daß der
antimonarchische Charakter der deutschen Sozialdemokratie, wenigstens soweit
die Führerschaft in Betracht komme, als erwiesen gelten müsse, ebenso daß die
deutsche Sozialdemokratie das parlamentarische System durchaus nicht verwirft,
solange sie Aussicht hat, wenn auch nur durch eine starke Minorität einen
Einfluß auf die Gesetzgebung zu üben. Aber ebenso ist unbestreitbar, daß sich
innerhalb der deutschen Sozialdemokratie in der zweiten Generation die Elemente
mehren, die zwar an der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung manches
ändern möchten, sich aber doch innerhalb dieses Nahmens zurechtzufinden wissen.
In allen Kulturperioden der Menschheit sind nicht die Institutionen, sondern
die Persönlichkeiten die Trüger und Führer der fortschreitenden Entwicklung
ihrer Zeit gewesen. Völker wollen geführt sein, und sie werden diese Führung
immer viel lieber in der Hand eines machtvollen Staatsoberhauptes sehen, das
nicht nur von den Ideen seiner Zeit und seines Volkes durchdrungen ist, sondern
sie auch führend zu gestalten weiß, als in der Hand von Parlamenten mit
wechselnden Majoritäten, aber niemals aufhörenden Eifersüchteleien, Eitelkeiten
und Parteiinteressen. In jedem aufsteigenden Lande wird es immer das Königtum
sein, das im Wechsel der Dinge und der Mehrheiten das Bleibende des natio¬
W
Meben allen Sorgen und Spannungen, die der Kriegsausbruch mit
sich brachte, wandte der Großherzog doch von Anfang an sein
Augenmerk den möglichen politischen Folgen zu. Ganz Deutsch¬
land stand vereint unter König Wilhelms Oberbefehl in Waffen,
^eine gewaltige nationale Bewegung durchzitterte die weiten Ge¬
biete von Memel bis zum Bodensee, die solange angestrebte einheitliche Zu¬
sammenfassung aller nationalen Kräfte, die Einigung in der Stimmung des
deutschen Volkes war urplötzlich vorhanden, im Sturm geboren. Entsprachen
die militärischen Ergebnisse des Krieges den berechtigten Erwartungen, so war
mit Sicherheit anzunehmen, daß die politischen nicht dahinter zurückbleiben
würden; der führende Staatsmann gehörte nicht zu denen, deren Feder verdarb,
was das Schwert gewann. Um so mehr hielt es Großherzog Friedrich für
seine Pflicht, an seinem Teile mitzuarbeiten, daß der nationale Strom recht¬
zeitig in ein entsprechend breites, festes und sicheres Bett geleitet würde, und
daß die politische Arbeit in der Heimat mit der kriegerischen im Felde gleichen
Schritt hielte. Um die Kriegsbegeisterung lebendig zu erhalten, mußten ihr
hohe Ziele jenseits des Schlachtfeldes gegeben, Bürgschaften geschaffen werden,
daß die elementare Kraft der aus den Wogen des bedrohten Rheinstroms über¬
raschend emporgesticgnen deutschen Einheit nicht mit dem letzten Kanonenschüsse
verrauschte.
Das Gefüge des Norddeutschen Bundes mußte in einem siegreichen Kriege
voraussichtlich eine Festigung gewinnen, die den innern Werdeprozeß um Jahr¬
zehnte beschleunigte; ganz anders als durch parlamentarische und politische Arbeit
mußte das Zusammenschweißen in der Glut der Schlachten gelingen. Es war
mithin vorauszusehen, daß der siegreiche, erzgepanzerte norddeutsche Bund
wenig geneigt sein werde, seine in solchen Stürmen erprobte Verfassung auf¬
zugeben oder auch nur zugunsten süddeutscher Wünsche erheblich zu modifizieren.
Eine künftige staatsrechtliche Zusammenfassung Gesamtdeutschlands mußte sich
deshalb unvermeidlich im Wege der Ausdehnung der norddeutschen Verfassung
auf den Süden vollziehen. Baden war dazu bereit, von Hessen waren Bedenken
oder Schwierigkeiten kaum zu gewärtigen. Es konnte sich mithin nur um die
Haltung und die künftige Stellung von Württemberg und Bayern handeln.
Zweifellos mußte dabei der militärische Anteil beider, namentlich Bayerns,
an den kriegerischen Erfolgen in das Gewicht fallen. Je größer und ehren¬
voller er war, desto mehr blieb wohl mit der Neigung Bayerns zu rechnen,
den militärischen und politischen Wert seiner Bundesgenossenschaft bei künftigen
Verhandlungen in militärische und politische Konzessionen umzusetzen, über die
Linie der norddeutschen Verfassung hinaus eine Sonderstellung einzunehmen,
Gebietserweiterungen anzustreben. Für eine vorschauende Staatskunst mußte
es deshalb als ausgemacht gelten, daß die politische Ernte des Krieges noch
während seiner Anbauer einzusammeln war. So lange die deutschen Staaten
in Reih und Glied, Schulter an Schulter, vor dem Feinde standen, mußte es
viel leichter sein, mit ihnen auch zu einem den nationalen Wünschen ent¬
sprechenden politischen Abschluß zu gelangen als nach der Heimkehr, wo ungleich
mehr mit dem Vollgefühl des Siegers, einem dadurch sehr gesteigerten Sou-
veränitütsgefühl und der Einmischung des Auslands zu rechnen sein würde.
Dazu trat als weitere Erwägung die staatsrechtliche Zukunft der im
Siegesfalle wieder mit Deutschland zu vereinenden alten Reichsmarken Elsaß
und Lothringen. Nicht zum zweitenmal sollten sie für Deutschland verloren
gehn. Jeden Anteil an diesem Gewinn lehnte Baden sofort ab, Elsaß und
Lothringen konnten nur mit Preußen vereinigt oder als gemeinsamer Besitz der
neuen deutschen Bundesgemeinschaft zugeführt werden. Aber um sie in eine
künftige deutsche Verfassung einzugliedern, mußte diese Verfassung vorher ge¬
schaffen werden. Auch erschien es als eine völkerrechtliche Notwendigkeit, die
politische Einigung der deutschen Stämme vor dem Friedensschlüsse zu voll-
ziehn, damit Frankreich diesen Frieden, mit allen seinen Folgen, mit einem
einheitlichen deutschen Staatsgebilde, nicht mit einer Anzahl von Verbündeten
zu schließen habe, deren Diplomatie durch ausländische Intrigue und partikulare
Bestrebungen leicht zum Nachteil Gesamtdeutschlands beeinflußt werden konnte.
Schließlich war auch von einem Mitreden oder einem Einspruch fremder Mächte
zugunsten Frankreichs bei den Friedensverhandlungen weit weniger zu besorgen,
sobald sie es mit einem Staats- und völkerrechtlich geeinten Deutschland zu
tun hatten.
Für den Großherzog stand es unerschütterlich fest, daß der Siegespreis
in erster Linie nicht in den Leistungen des besiegten Frankreichs als vielmehr
in der politischen Einigung Deutschlands zu bestehn habe, in der vollen
Ausnutzung einer großen Gelegenheit, wie sie dem deutschen Volke durch die
Gnade der Vorsehung geboten worden und wie sie zum zweitenmal sicherlich
sobald nicht wieder zu erwarten war.
Konnte auch nicht vorausgesetzt werden, daß der Verlauf des Krieges
ein so rapider sein werde wie der von 1866, wo zwischen der Kriegserklärung
und der Vollziehung des Präliminarfriedens nicht vier Wochen lagen, so schien
es doch geboten, keine Zeit zu verlieren, sondern das Eisen zu schmieden, so
lange es heiß blieb. Da der Großherzog kein militärisches Kommando führte,
die Eigenschaft Badens als unmittelbar den Kriegsschauplatz berührendes Grenz¬
land es ihm doppelt wünschenswert machen mußte, die nächsten Entscheidungen
in der Mitte seines Volkes abzuwarten, so wandte er neben allen vermehrten
Regierungssorgen des Augenblicks seine Aufmerksamkeit um so mehr der künftigen
Gestaltung Deutschlands zu. Zumal seit der Aussprache, die er im März in
Berlin mit Bismarck gehabt hatte, war der Großherzog über die schließlichen
Ziele der Politik des Bundeskanzlers wohl hinreichend beruhigt, aber er sowohl
wie die badische Regierung empfanden es doch als eine Unterlassung, daß die
innere Neugestaltung Deutschlands nicht gleich beim Kriegsausbruch in erkenn¬
barer Weise von dem Bundeskanzler begonnen worden war. Es mag sogar
Augenblicke der Befürchtung gegeben haben, daß eine nie wiederkehrende Gelegen-
heit vielleicht unbenutzt bleiben könnte. In den Tagen, die zwischen der Kriegs¬
erklärung und dem Ausbruch des Hauptquartiers aus Berlin lagen, bot jedoch
die internationale Politik Bismarck hinlänglich Sorge und Arbeit, sodaß er sich
nicht auch noch den Fragen der künftigen deutschen Verfassung zuwenden konnte,
auch blieb er nach wie vor von dem Grundsatze beseelt, daß die Initiative in
der deutschen Frage nicht von Preußen ausgehn dürfe, so lange als die Mög¬
lichkeit vorhanden sei, daß dies im Süden als eine Art Zwang empfunden
werden könnte. Wäre Preußen gleich beim Kriegsausbruch in München und in
Stuttgart der deutschen Verfassungsangelegenheit mit Vorschlägen nähergetreten,
so hätte es sehr wohl geschehen können, daß die Erfüllung des Bundes¬
vertrages auf der Wage von Leistung und Gegenleistung abgewogen, oder daß
die Schnelligkeit und Entschlossenheit des Handelns durch diplomatische Ver¬
handlungen ungünstig beeinflußt worden wäre. Selbstverständlich hegte Bis¬
marck nicht den allergeringsten Zweifel, daß wenn erst einmal die süddeutschen
Truppen mit dem preußischen Heere vereint siegreich auf französischen Schlacht¬
feldern standen, die Frage der deutschen Einheit praktisch gelöst sei, und die
Auffindung der Form keine übermäßigen Schwierigkeiten bereiten könne. Zu¬
dem kam die Persönlichkeit des Königs in Betracht, der ebensowenig wie Bismarck
selbst dazu neigte, das Fell des Bären zu verteilen, bevor er erlegt war,
und den nach seiner ganzen Art in jenen ersten Wochen nicht die Einrichtungen
nach dem Siege, sondern die militärische Erreichung des Sieges selbst be¬
schäftigte. Wenngleich bei der Abreise aus Berlin und bei der auf den
3. August festgesetzten Operationsbereitschaft der drei deutschen Armeen der
Entschluß zu einer starken und nachhaltigen Initiative ebenso fest stand wie
die Gewißheit, daß der Gegner dazu nicht befähigt wäre, so war doch begreif¬
licherweise die Sorge um die ersten herbeizuführenden Entscheidungen die Haupt¬
sache. Nach den Siegestagen des 4. und 6. August erst trat die nationalpolitische
Seite des Krieges auch für die führenden Köpfe mehr in den Vordergrund.
Sogar der so konservativ gerichtete Moritz von Blankenburg bezeichnet in einem
Briefe vom 7. August an deu Kriegsminister von Roon, seinen Schwager,
„ein anstündiges Deutschland, das Frieden für die Welt gebietet, als Resultat
des Krieges". Es heißt am Schlüsse des Briefes wörtlich: „Daß die Bayern
unter unsers Kronprinzen Führung den ersten entscheidenden Schlag angetan
haben, ist die Lösung der deutschen Frage, die Einheit ist die beste."
Ottokar Lorenz in seinein Buche „Kaiser Wilhelm und die Begründung
des Deutschen Reiches", das ja mit Recht viel Anfechtung erfahren hat, be¬
richtet, daß noch am 6. August der Staatssekretär des Auswärtigen, Herr
von Thile, in Berlin dem bayrischen Gesandten Freiherrn von Perglas, freilich
ohne Auftrag, die feierlichsten Versicherungen gegeben habe, daß Preußen die
Selbständigkeit Bayerns und Süddeutschlands niemals schwächen oder schädigen
werde. Graf Bismarck habe mit Entrüstung gehört, daß die preußische Presse
neuerdings von einem deutschen Kaisertitel für den König Wilhelm spreche, er
habe Auftrag gegeben, solche Äußerungen zu unterdrücken. Lorenz nimmt diese
Sprache der Diplomatie, die doch nur deren innerste Gedanken verbergen sollte,
für bare Münze. Am 6. Angust war sich die Leitung der preußischen Politik
über die Haltung Österreichs bei dessen umfangreichen Rüstungen noch keines¬
wegs klar, eine und sogar zwei gewonnene Schlachten (die Nachrichten von
Worts und Spichern lagen noch nicht einmal vor) bedeuteten noch keine
Entscheidung des Krieges, und es darf nicht vergessen werden, daß noch durch
Kabinettsorder vom 22. August die Aufstellung zweier mobiler Korps bei
Berlin und Glogau gegen Österreich angeordnet werden mußte. Moltke
hatte während der Mobilmachung am 18. Juli dem Kriegsministerium auf
dessen Anfrage erwidert, „die Front gegen Österreich ist bis jetzt nicht bedroht.
Ich halte es vielmehr für das beste, alle demonstrativen Anordnungen in der
Grenzprovinz zu vermeiden, und es wird deshalb anch beabsichtigt, das sechste
Armeekorps nunmehr in Niederschlesien an der Bahnlinie zu echellonieren."
Vom 25. Juli an war das Korps in Marsch gesetzt worden, und es traf vom
4. Angust an bei Landau ein. Aber am 10. August brachte die Wiener
Abendpost eine halbamtliche Erklärung, daß „zu Zwecken der Selbstverteidigung"
die Wehrkraft der Monarchie auf einen Stand habe versetzt werden müssen,
der gestatte, mit Beruhigung möglichen Eventualitäten entgegenzusehen.
Bei der Artillerie waren Verstärkungen des Standes an Mannschaften und
Pferden, an Pferden der volle Kriegsstand, angeordnet, ebenso wurde unter
dem 5. August die Versetzung der gesamten Kavallerie auf den Kriegsstand,
die Aufstellung der Ergänzungseskadrons und der Regimentstrains befohlen,
was eine Beschaffung von beinahe 8500 Pferden nötig machte. Beim Fuhr¬
wesen wurden 36 Feldeskadrons auf den Kriegsfuß gesetzt, Offiziere aus dem
Pensionsstand einberufen, Maßnahmen, die nicht mehr und nicht weniger als
die Mobilmachung der österreichischen Kavallerie, der Artillerie und des Trains
bedeuteten. Da die österreichische Regierung durch den Abmarsch des schlesischen
Armeekorps an den Rhein die volle Gewißheit hatte, daß an einen Angriff
von preußischer Seite nicht zu denken sei, so konnte diese österreichische Mohn-
machung nur den Sinn haben, im gegebnen Falle, das heißt nach einer
preußischen Niederlage, in Waffengemeinschaft mit Frankreich den Frieden zu
diktieren. Zwar hatte, wie das Werk des preußischen Kriegsministeriums
über die Mobilmachung von 1870 wörtlich mitteilt, „Preußen eine verläßliche
Rückendeckung durch die Zusage Kaiser Alexanders, im Fall des Heraustretens
Österreichs aus der Neutralität eine Armee von 300000 Mann an der Grenze
aufstellen und erforderlichenfalls zur Besetzung von Galizien schreiten zu
wollen, um die österreichischen Streitkräfte zu paralysieren". Aber es war
immerhin zweifelhaft, ob Rußland diesen Vorsprung der österreichischen Mobil¬
machung noch rechtzeitig würde einholen können, und es ist darum nur zu
begreiflich, daß Bismarck jede politische Maßnahme ablehnte, die Österreich auch
nur die geringste Handhabe bieten konnte, zugunsten des Prager Friedens das
Wort zu nehmen, oder die geeignet gewesen wäre, Rußland die zugesagte Hilfe,
weil lediglich „der Vergrößerung Preußens" gewidmet, zu verleiden. Es war
deshalb selbstverständlich, daß der Staatssekretär von Thile noch am 6. August
einem bayrische« Gesandten gegenüber, dessen Gesinnungen gegen Preußen zu
mißtrauen man begründete Ursache zu haben glaubte, sich in bezug auf die
deutsche Frage nicht nur zurückhaltend, sondern direkt ablehnend verhielt.
Nach dem Fall von Paris telegraphierte Kaiser Wilhelm an Kaiser Alexander:
„Preußen wird niemals vergessen, daß es Ihnen zu verdanken ist, wenn der Krieg
nicht die äußersten Dimensionen angenommen hat" — es bedarf hiernach keiner
weitern Darlegung der Gründe, die die preußische Staatsleitung damals be¬
wogen, der deutschen Frage äußerlich und amtlich nicht eher näher zu treten, als
bis dies ohne Sorge um den weitern Verlauf des Krieges geschehen konnte- Wie
weit die damaligen Sorgen außerhalb eines sehr engen Kreises im einzelnen
bekannt waren, würde heute nur an der Hand von Akten festzustellen sei», aber
es ist immerhin erklärlich, daß das Zögern Bismarcks, die scheinbar schon reife
Frucht der deutschen Einheit zu pflücken, selbst von deutschen Fürsten und ihren
Regierungen nicht verstanden wurde, denen die schweigende zurückhaltende Sicher¬
heit, mit der der Bundeskanzler seine Schritte abmaß, unbegreiflich erschien.
Inzwischen war in der Woche nach der Schlacht bei Wörth das Be¬
lagerungskorps für Straßburg formiert worden. Der improvisierte Charakter
der Schlacht hatte dazu geführt, daß sie von deutscher Seite nicht mit vollem
Einsatz aller Kräfte geschlagen worden war, daß zum Beispiel die badische
Division daran nicht hatte teilnehmen können, und daß die Möglichkeit nicht
hatte in Betracht gezogen werden können, Straßburg im unmittelbaren Anschluß
an die Schlacht durch entschlossenes Zugreifen wegzunehmen. Man hatte sich
auf deutscher Seite allerdings nicht vorstellen können, daß bis zum Morgen
des 7. August ernste Verteidigungsmaßnahmen in Straßburg nicht bestanden. Der
Befehl zur Einschließung der Festung war dann unter dem 10. August ergangen.
Am 14. erhielt General von Werber den Befehl, sich möglichst bald des Platzes
zu bemächtigen. Der Großherzog beschloß nun, sich in die Mitte seiner Truppen
zu begeben, nachdem er zuvor noch einen Vorgeschmack von der geringen Neigung
der beiden andern süddeutschen Staaten empfangen hatte, sich den großen Zielen
des Krieges unterzuordnen. Es hatte sich herausgestellt, daß mit dem Augen¬
blick, wo die dritte Armee die Grenze Frankreichs überschritt, das Etappen¬
wesen in ihrem Rücken viel zu wünschen übrig ließ. Es fehlte an jeder
einheitlichen Organisation. Während der vorhergehenden Friedensjahre war
ungeachtet aller Besprechungen und Verhandlungen auch nicht der Schatten eines
Einverständnisses über die Organisation des Nachschubs, der Transporte, der
Bahnbenutzung, der Lieferungen usw. zustande gekommen. Moltke hatte daher
unterm 2. August die Kriegsministerien von Bayern, Württemberg und Baden um
die Aufstellung von Etappentruppen ersucht und zugleich empfohlen, der General¬
etappeninspektion der dritten Armee einige mit den heimatlichen Verhältnissen
vertraute Personen zu attachieren. Das Oberkommando war ersucht worden,
sich im Bedarfsfall mit den drei Kriegsministerien in direkte Verbindung zu
setzen. Der Großherzog hatte mit Recht erkannt, daß das zum mindesten ein
zeitraubendes, umstündliches und wenig zweckentsprechendes Verfahren sein
werde, und hatte den Vorschlag gemacht, einen gemeinschaftlichen General¬
gouvemeur für Bayern, Württemberg und Baden zu ernennen, der in die
militärischen Maßnahmen im Rücken der Armee Einheit und Ordnung zu
bringen hätte. Am 3. August telegraphierte er an den Kronprinzen, um ihm
die Dringlichkeit einer baldigen Erledigung dieser Angelegenheit zu empfehlen
und die Sache beim König zu befürworten, zugleich schrieb er an den Minister
Jolly: „Ich konnte dies um so mehr unternehmen, als ich mit dem Kron¬
prinzen eingehend mündlich die Fragen behandelte, und er von der politischen
wie militärischen Notwendigkeit derselben überzeugt ist. Ich darf einnehmen,
daß die an unser Kriegsministerium gestellte Frage schon eine Folge unsrer
Unterredung sein wird, und daß man mit dieser Frage nur bezweckte, zu er¬
fahren, ob Geneigheit vorhanden ist, darauf einzugehn, d. h. daß die gleiche
Frage nach München und Stuttgart gerichtet sein wird. Da nun aber wirklich
ein dringendes Bedürfnis vorliegt, die Bewegungen und Anordnungen im
Rücken der Armee einheitlich zu organisieren, so habe ich das anliegende
Telegramm an den König entworfen und würde es abgehn lassen, wenn Sie
damit einverstanden sind, daß ich diesen Schritt wagen soll." Der König
antwortet am 10. August aus dem Hauptquartier Saarbrücken, daß der Antrag
nur ausführbar sei, wenn sich der Großherzog mit beiden Südstaaten schleunigst
über Sache und Person verständige. Bei der Mitteilung dieses Telegramms
an Jolly bemerkte der Großherzog: „Es wäre also unsre Aufgabe, die Frage
eines Generalgouvernements in Antrag zu bringen." Das ist denn auch von
badischer Seite geschehen, aber mit dem einzigen Erfolge, daß der König von
Württemberg den General von Suckow zum Generalgouvemeur von Württem¬
berg ernannte, was für die allgemeine militärische Lage ohne Bedeutung blieb.
Der Großherzog sprach sich in einem Schreiben vom 23. August sehr mißmutig
über deu Verlauf der Sache aus, die von preußischer Seite ohne alleu Nach¬
druck behandelt worden sei, es scheine deshalb sehr nötig, der preußischen
Regierung mitzuteilen, welche Fortschritte im Interesse der Sache geschehen, und
auf welche Gesinnungen Baden dabei gestoßen sei. „Die preußische Negierung
muß durchaus wissen, daß ein großer Unterschied besteht zwischen dem Ver¬
halten der Truppen Bayerns und Württembergs im Felde und deren Re¬
gierungen zu Hause, wo der alte Partikularismus uuter der Asche glüht und
nur nicht zur Flamme sich aufzurichten wagt, da die Macht der Ereignisse dies
nicht gestattet."
Der Ausgang dieser Angelegenheit bot dem Großherzog den bestimmten
Anlaß, auf die Notwendigkeit der baldigen Regelung des Verhältnisses von
Süddeutschland zum Nordbund überzugehn und damit einen genau formulierten
Antrag zu begründen, zumal da der Minister von badischen Abgeordneten
dringend ersucht worden war, mit Bismarck in Unterhandlung zu treten. In
dem betreffenden Schreiben an Jolly heißt es: „Ihre Mitteilungen betreffs der
nationalen Frage sind mir äußerst wertvoll. Zunächst bin ich ganz mit Ihnen
einverstanden, daß die Abgeordneten in diesem Augenblick jeden Versuch einer
Einwirkung auf die großen politischen Entwicklungsfragen, wie sie aus dem
siegreichen Vorschreiten der deutschen Heere hervorgehn, sorgfältig vermeiden
müssen. Wir wissen zunächst noch gar nicht, mit welchen Absichten die preußische
Regierung der Zukunft entgegengeht, es liegen nur Andeutungen vor, welche
auf gewisse Richtungen schließen lassen. Was wir aber bestimmt wissen, das
ist, daß Graf Bismarck keine Einmischung in seine Pläne gestattet. . Die
Gründe dieses Verhaltens Bismarcks sind, wie oben dargetan worden ist, heute
hinlänglich klar. Man darf annehmen, daß in Berlin dem Bundeskanzler die
Äußerung bekannt war, die Kaiser Franz Joseph am 14. Juni zu dem als Unter¬
händler in Laxenburg anwesenden französischen General Lebrun getan hatte,
und die darin gipfelte, „daß wenn Kaiser Napoleon im Süden von Deutschland,
nicht sowohl als Feind, sondern als Befreier erscheine, der Kaiser Franz Joseph
gezwungen sein würde, von seiner Seite zu erklären, daß er mit ihm gemein¬
schaftliche Sache mache. Vor den Augen meiner Völker vermöchte ich nichts
andres zu tun, als meine Armee mit der französischen dann zu vereinen."
Dies war der Sinn und die Bedeutung der österreichischen Mobilmachung, hierin
lag der stärkste Grund für Bismarcks Zurückhaltung. Wäre nach einer Nieder¬
lage der deutschen Heere, die ja damals noch keineswegs außer Möglichkeit
war, die französische Armee in Süddeutschland erschienen und Frankreich hätte
Österreich mit fortgerissen, so wäre die deutsche Idee die wirksamste Waffe
geblieben, die Bismarck der österreichischen Politik noch entgegenzusetzen vermocht
hätte. Es ist begreiflich, daß er sie nicht vorzeitig aus der Hand geben wollte,
ebenso aber auch, daß er allen Grund hatte, über seine Absichten und Pläne
das tiefste Schweigen zu beobachten. Einig war er wohl nur mit dem Könige.
Minister Jolly arbeitete nun eine Denkschrift für den Bundeskanzler aus,
die er am 31. August dem Großherzog vorlegte, und die an den preußischen
Gesandten in Karlsruhe, aber auch an den Kronprinzen und den König ging-
Graf Flemming wurde gebeten, die Angelegenheit bei dem Bundeskanzler,
möglichst dringend zu behandeln. Die Denkschrift ist wiederholt veröffentlicht
worden. Sie berührt folgende drei Punkte: die Frage des Friedensschlusses
mit Frankreich und die zu erwartende Abtretung französischen Gebietes. Sie
lehnte vom Standpunkte Badens jede Gebietserwerbung für das Großherzogtum
ab und forderte die Einverleibung der eroberten Gebietsteile entweder in den
Preußischen Staat oder in der Form eines reichsunmittelbaren Landes direkt
in den Norddeutschen Bund. Zweitens wurde der Eintritt der Südstaaten in
den Norddeutschen Bund und dadurch dessen Erweiterung zu einem Deutschen
Bunde beantragt. Endlich wurde auf die Notwendigkeit der Wiederherstellung
der Kaiserwürde hingewiesen, wobei sich die großherzogliche Regierung die
dazu nötigen Schritte vorbehielt. Auf besondern Wunsch des Großherzogs
wurde betont, daß in diplomatischen und militärischen Angelegenheiten eine
Stürknng der Bundeszentralgewalt tunlich und wünschenswert sei. Die
Denkschrift wurde am 2. September, gerade am Sedantage, in Berlin und
in Karlsruhe übergeben, etwas später wird sie in die Hände des Königs und
des Kronprinzen gelangt sein.
Was war nun inzwischen auf preußischer Seite geschehn? Minister Del-
brück erzählt in seinen Lebenserinnerungen: „Am 1. September 1870 schickte
mir der Unterstaatssekretär von Thile ein Telegramm des Grafen Bismarck,
wenn ich nicht irre aus Vuzcmch, das mich beauftragte, in Dresden mit dem
Minister von Friesen die Zukunft der von uns eroberten und in dem künftigen
Frieden festzuhaltenden französischen Landesteile zu besprechen. Daß Preußen
sie nicht für sich begehre, konnte ich ausdrücklich erklären. Ich ging zu Herrn
von Thile, um über meine Reise und meine Anmeldung in Dresden das
Nähere zu verabreden. Graf Fritz Eulenburg (Minister des Innern) kam dazu,
wir unterhielten uns über den Gegenstand meines Auftrags. Wenn wir Elsaß
und Lothringen nicht nehmen wollen, sagte Graf Eulenburg, und da Baden
sie nicht nehmen kann, was sollen sie dann werden? Reichsland, erwiderte
ich- Ein Reichsland ohne Reich? war die Antwort. Vielleicht, meinte ich,
erwächst aus dem Reichslande das Reich." Delbrück berichtet weiter, daß er über
die Frage, die ihn nach Dresden geführt hatte, dort keine Meinungsverschieden¬
heiten gefunden habe. Sowohl Minister von Friesen als auch König Johann
waren der Meinung, daß die eroberten Landesteile nicht mit einem einzelnen
deutschen Staate, sondern mit der Gesamtheit der deutschen Staaten zu ver¬
einigen sein würden als ein eignes in Gesetzgebung und Verwaltung
von dieser Gesamtheit abhängiges Staatswesen. Da der Zollverein
als die einzige alle deutschen Staaten umfassende Gemeinschaft wegen seiner
Kündbarkeit zum Träger einer Souveränität nicht geeignet war, der nord¬
deutsche Bund sich nur auf einen Teil der Staaten beschränkte, deren ver¬
einigten Kräften die Eroberung zu verdanken war, so erschien die Ausdehnung
des Norddeutschen Bundes auf die süddeutschen Staaten die notwendige Vor¬
aussetzung für die Regelung des Verhältnisses der eroberten Gebiete. Zur
Anregung dieser Frage in Süddeutschland war Sachsen dnrch seine Stellung
und sein besondres Interesse berufen. Die Auffassung wurde in Dresden
geteilt, und Delbrück kehrte am 5. September nach Berlin zurück mit der Über¬
zeugung, daß bei der bayrischen Regierung die nötigen Schritte getan seien
und weiter getan würden.
Es muß als selbstverständlich angesehen werden, daß Preußen, bevor es
in der deutschen Frage den ersten amtlichen Schritt tat, sich zuvor mit dem
ersten Mitgliede des Norddeutschen Bundes, dem Könige von Sachsen, in
Verbindung setzte. Ebenso entsprach es durchaus einer klugen Politik, daß die
einleitenden Schritte in München durch Sachsen getan wurden. Von Sachsen
ausgehend, entbehrten sie jedes Anscheins irgendeines Druckes oder Zwanges,
und die Initiative des norddeutschen Mittelstaates bot dem Münchner Hofe
zugleich eine Gewähr, daß es sich in dem neuen Bundesverhältnis sehr wohl
leben lasse. Hatte doch der dem Prinzen Luitpold von Bayern, dem heutigen
Regenten, im Königlichen Hauptquartier beigegebne bayrische Ministerialsekretär
Graf Berchem unter dem 24. August aus Bar le Duc nach München berichtet:
„Ich habe im Auftrage Seiner Königlichen Hoheit des Prinzen Luitpold
weiter zu berichten, daß Graf Bismarck sich dahin äußerte, Preußen und der
Nordbund würden bereitwilligst diejenigen Vorschläge acceptieren, welche Seine
Majestät der König von Bayern nach Allerhöchstseiner Bequemlichkeit im
Interesse einer engern nationalen Einigung zu machen sich etwa veranlaßt
sehen würden. Preußen und der Nordbund verzichteten aber darauf, auf diese
Entschlüsse irgendwelche Pression zu üben, indem ein für Norddeutschland
günstig gestimmtes Bayern der nationalen Sache mehr nutze als ein wider¬
willig in nähere Beziehung gebrachtes Land." Man ersieht hieraus deutlich,
wie sehr das Verhalten Preußens psychologisch der Persönlichkeit des Königs
Ludwig angepaßt war. An die Sendung Delbrücks nach Dresden knüpfte sich
dann sofort die weitere Aktion. Am 5. September nach Berlin zurückgekehrt
empfing Delbrück wenig Stunden später abermals ein Telegramm Bismarcks,
das ihn in das Hauptquartier berief: „Der König wünscht, daß Sie auf
kurze Zeit in das Hauptquartier kommen, damit ich mit Ihnen erwäge, wie
wir einen schicklichen geschäftlichen Anlaß zur Berufung des Zollparlaments
finden und das Gewicht dieser Versammlung, einschließlich des Reichstags,
zur Wirkung auf die deutschen und europäischen Friedensverhandlungen ver¬
werten." Am 10. September war Delbrück in Rheims. Nach einer Audienz
beim Könige schritt er mit Bismarck in einstündiger Unterredung in der
Cour d'honneur des erzbischöflichen Palastes, des Quartiers des Königs, auf
und ab und erwog vor den Augen des dnrch das Gitter gaffenden Publikums
mit dem Bundeskanzler den Beitritt der süddeutschen Staaten zum Nord¬
deutschen Bunde, dessen Umgestaltung zu einem Deutschen Bunde und die
Herstellung des Kaisertums. Im militärischen Hauptquartier hielt mau nach
acht siegreichen Schlachten die Herstellung der deutschen Einheit mit Kaiser¬
licher Spitze für eine leichte Sache, bei der man „nur zu wollen brauche",
„der Zauber, den die Person des Königs auf Offiziere und Mannschaften des
ganzen Heeres ausübte, schien in der Kaiserkrone seinen natürlichen Ausdruck
zu finden". Am 12. September lief in Rheims als Folge der sächsischen
Anregung eine Mitteilung der bayrischen Negierung ein, worin sie die Über¬
zeugung aussprach, daß die Entwicklung der politischen Verhältnisse Deutsch¬
lands, wie sie durch die kriegerischen Ereignisse herbeigeführt sei, es bedinge,
von dem Boden völkerrechtlicher Verträge, die bisher die süddeutschen Staaten
mit dem Norddeutschen Bunde verbanden, zu einem Verfassungsbündnis über-
zugehn. Es wurde daran der Wunsch geknüpft, daß Delbrück nach München
entsandt werden möge, um über die zur Ausführung dieses Gedankens von
bayrischer Seite vorbereiteten Vorschläge in Verhandlung zu treten. (Es sind diese
Vorschläge, in einem Antrag vom 12. September vom bayrischen Ministerium
an den König formuliert, vom Ministerpräsidenten Grafen Otto Bray in
seinen Denkwürdigkeiten ^Leipzig, S. Hirzel, 1891^ mitgeteilt worden.) Delbrück
erhielt diesen Auftrag. Um der Zustimmung sowohl Bismarcks als des Königs
zu seinen Auffassungen sicher zu sein, arbeitete er in seinem Quartier zu
Rheims angesichts der alten Krönungskirche Frankreichs eine Denkschrift aus,
an deren Schluß er auch dem Gedanken der Kaiserwürde offiziellen Aus¬
druck verlieh. Bismarck war mit der Denkschrift einverstanden. Am 15. Sep¬
tember früh wurde Delbrück in Chateau-Thierry vor dem Aufbruch des Haupt¬
quartiers nach Meaux noch einmal vom König empfangen, der sich ebenfalls
im wesentlichen einverstanden erklärte. In der Kaiserfrage lehnte er eine
Äußerung ab, da diese erwogen sein wolle, aber Delbrücks Gründe für die
Bejahung fanden gnädige Aufnahme. Die Denkschrift entspricht im wesent¬
lichen dem Inhalt des auf dieser Grundlage ausgearbeiteten Wortlauts der
Versailler Vertrüge. Als Delbrück Ende September München verließ, wo er
die bayrischen Minister einig hinsichtlich der Notwendigkeit des Anschlusses,
aber in sehr verschiedner Meinung in den Einzelheiten gefunden hatte, nahm
er die Überzeugung mit, daß der Deutsche Bund gegründet sei. Der württem-
bergische Ministerpräsident von Mittnacht hatte an den Konferenzen teilgenommen,
der König mit Delbrück über den Zweck seiner Anwesenheit in einstündiger
Audienz mit darauffolgender Hoftafel kein Wort gesprochen. Das Kaisertum war
nicht Gegenstand der Verhandlungen gewesen, es kam neben diesen zustande.
Die Reisen Delbrücks nach Dresden. Rheims und München sind die
Achse für die geschäftliche Herstellung des deutschen Verfassungswerkes gewesen.
Wie unrichtig Ottokar Lorenz die damalige Situation beurteilt, beweist er auf
S. 336 durch die Wendung: „Der Staatsminister Delbrück nahm auf einer
Reise durch Süddeutschland Gelegenheit, auch in München vorzusprechen."
ins Jüngere berührt der Name Karl Schurz wie ein Klang aus
vergangnen Tagen. Nie wohl hat ein Jahrhundert seine Menschen
so von den Bürgern des vorausgegangnen getrennt wie das
zwanzigste. Die, deren Leben im neunzehnten Jahrhundert ver-
Ilief, gehören für uns einer abgelebten Zeit an. Wir stehn zu
ihnen nahezu schon, wie der Historiker der Zukunft zu ihnen stehn wird; so
groß ist der Abstand zwischen ihnen und uns, zwischen Vätern und Söhnen.
Karl Schurz war ein Achtundvierziger. Er hatte für schwarz-rot-gold
sein Leben dargeboten und hatte es noch einmal eingesetzt, als er seinen
Lehrer und Freund befreite. Dieselbe Regierung, ja dieselben Personen, die
er bekämpft hatte, schlössen nachher, so erschien es den hiesigen Deutschen,
mit ihm Frieden. Er hatte vor dem Kaiser gestanden, der als der „Kartütschen-
prinz" die „Söldnerknechte" befehligt hatte, und kraft des Oivis ainsrioWus
sum hatte ihn der eiserne Kanzler als seinesgleichen empfangen: der Bürger
und der Beamte trafen sich in menschlicher Achtung voreinander. Das erschien
dem Deutschamerikaner als das Höchste.
Karl Schurz war ein „lateinischer Ökonomiker". Im Westen, in Wisconsin
hatte er gefarmt. Büchse und Spaten ergriff er statt der Feder und des
Schwertes. Er gesellte sich zu den Trägern des nachmals viel geleugneten
und doch damals warm gehegten Traumes eines Deutschlands am Michigansee.
Den Akademiker hatte er mit dem Untertan im Meere versenkt, ehe er den
Boden des Landes der Freiheit betrat. Neu, von vorn fing er nun an,
und er hatte Erfolg — auch darin ein rechter Einwandrer. Aber er schuf
sich nicht ein Idyll, dort seine Tage zu verträumen und ein paar Heimweh¬
lieder zu hinterlassen, sondern trat mit der selbstverständlichen Sicherheit, die
wir wohl am Genie beobachten, in die rauhe öffentliche Wirklichkeit hinaus:
er wurde Politiker, im amerikanischen Sinne des Wortes, Parteimann, der
zuerst im engern Kreise seines Heimatstaats, dann im weitern der Nation den
Grundsätzen seiner Partei und den Männern, die sie vertreten, zum Siege
verhilft. Spielend und glänzend überwand er die Schranke, die den fremd¬
sprachlichen Einwandrer von der politischen Tätigkeit trennt, das Englische,
von dem man sagen darf, daß nur Auserlesne es zum öffentlichen Gebrauche
bemeistern lernen. Für die Masse der deutschen Einwandrer bedeutet es den
holprigen, steinichten Pfad, wo die Gefahr des bekannten Schrittes vom Er-
bahnen zum Lächerlichen auf den Armen ewig lauert. Das Herrschervolk der
Anglosachsen will den Fremdling nur ungern zu seiner Sprache zulassen.
Der ehemalige Studiosus der Rechte aber, der sich übrigens in der Heimat
schon mit Germanistik befaßt hatte, beherrschte schnell die schwere Sprache,
und am Ende seines Lebens zählte man ihn zu den Klassikern, der politischen
Rede nicht nur, sondern im besondern auch des biographischen Stils.
Ein Deutscher also war er, der, anders als die Mehrheit seiner Stammes-
genossen, am politischen Leben teilnahm, erfolgreich teilnahm. Washington
ist das Ziel des Ehrgeizes jedes Politikers. Er erreichte es, und er errang
dort für einen Ausländer unerhörte Ehren. War er es doch hauptsächlich
gewesen, der durch seine kräftige Unterstützung Lincolns die Frage entscheiden
half, an deren Beantwortung zu jener Zeit das Schicksal der Union hing,
die Frage: Wohin wird sich das Zünglein der Wage im Westen neigen? Die
Deutschen haben den Westen für die Union gerettet. Der deutsche Name
begann damals durch die Begeisterung, mit der Turner, Sänger und Schützen
zur Fahne eilten, einen guten Klang zu erhalten. Man wußte nun, daß es
noch andre Deutsche gab als die verschacherten Hessen.
Und als ob er dem Worte die Tat hinzufügen wollte, wurde Karl Schurz
ein Kämpfer im Bürgerkriege. Er hatte den Gesandtschaftsposten in Madrid
verlassen und erhielt nun ein Kommando im nördlichen Heere. Auch hier
erfolgreich. Sein Name ging in die Geschichte über. Daß er keiner von den
Großen war, die dem Kriege das Gepräge gaben, verschlägt dem Deutsch¬
amerikaner nichts. Das Große ist uns verschlossen und scheint uns vorerst
verschlossen zu bleiben. Wir müssen uns an der Kleinarbeit genügen lassen.
Wir haben es nachgerade gelernt, die Durchschnittstaten der Unsern zu be¬
wundern, und sind froh, wenn sich unter den Blinden der Einäugige findet,
den wir als König den unsern nennen dürfen. Vielleicht auch, daß die
deutsch-amerikanische Geschichtschreibung durch die ins einzelne und ins einzelste
gehende Darstellung der Kleinarbeit der Masse einen neuen Maßstab oder
doch einen eignen geschichtlicher Beurteilung schaffen will. Darin liegt eben
so sehr ein politischer Gedanke wie ein Stück Philosophie: das Volk ist der
Träger des geschichtlichen Geschehens. Haben wir, so etwa geht das Räsonne-
ment, auch nicht die Spitze gebildet, so setzt doch die Spitze logischerweise
die breite Grundlage voraus. Und wenn es sich während zweier Jahrhunderte
darum gehandelt hat, ein Volk zu schaffen, dann sind die, die eben das Volk
gebildet haben, nicht wegzudenken. So hat man zwischen den Führer, der
man nicht sein konnte, und zwischen den Geführten, den es natürlich im freien
Lande nicht gibt, den Helfer, Mithelfer, Gehilfen eingeschoben. Stender organi¬
sierte Washingtons Heer: das Urbild des Deutschen, der die Arbeit verrichtet
und den Siegern die Armeen schafft, damit sie Sieg und Ruhm erfechten.
Washingtons Leibgarde bestand aus Deutschen. Und so durch die Geschichte
der Vereinigten Staaten hin: ging es auch nicht durch den Deutschen, so
ging es doch auch nicht ohne ihn. Die Besiedlung der Ackerbauländer ist
sein Werk. Von ihm hat die Landschaft Pennsylvaniens, nicht weniger aber
auch die Nebraskas ihre Eigentümlichkeit. Und die nüchterne Sparsamkeit
des spargewöhnten Deutschen hat dem Bau des Ganzen die feste Grundlage
gegeben und erhalten. Bei der Schöpfung eines neuen Volkes leistete der
Deutsche deu größten Beitrag, er lieferte den Grundbestandteil, nämlich
das Volk.
Über den Deutschamerikanner zu schreiben ist schwer. Er ist ein höchst
empfindliches Gebilde. Gewöhnt an den Festrednerton des Jankees, der für
seinen Optimismus an sich selber das vorzüglichste Objekt hat, mag er es
nicht, daß man auf die Schwäche seiner Stellung, auf die Unterlassungssünden
seiner Vergangenheit hinweist, und meint schließlich: wir sind nicht schlechter
als die andern. Von seinem geschichtlichen Beruf, dem er Verantwortung
schuldet, weiß er nichts. Dazu kommt die berechtigte Empfindung, daß sich
seine Kritiker ihm nicht gleichstellen, ihn also nicht versteh» in der Tragik, die
in der Zugehörigkeit zu zwei Völkern begründet ist.
Karl Schurz wollte kein Deutscher sein; er war ein Amerikaner. So
hat er mit festem Hinübertreten in das andre Volkstum dem Zwiespalt ein
Ende gemacht. Und er mutete diesen Schritt jedem Ankömmling in derselben
Weise zu. Er konnte dann in etwas dürren, abgeblaßten Worten von
deutscher Sprache und von deutschem Wesen reden. Vielleicht sah das für
den Reichsdeutschen, der es hörte, nach etwas aus: für uns hier waren solche
Reden Urkunden eines mühsamen Ausgleichs zwischen Dingen, die gerade
einen Ausgleich nicht vertragen, zwischen angestammten und erwählten Volks-
tume. Unser Satz ist: an das Deutschtum muß geglaubt werden, ohne Aus¬
gleich. Die Lösung, die Karl Schurz für das in „Deutsch-amerikanisch" ent-
haltne Problem darbot, war, obgleich sie zumeist durch ihn allgemein giltig
geworden ist, keine Lösung. Sie war allerdings durch das Deutschland der
fünfziger und das Amerika der sechziger Jahre gegeben: hier war die Er¬
füllung der Hoffnung auf ein freies Volk. Teilzunehmen an dem Leben der
neuen Nation, aus einem Untertan ein Bürger zu werden, schien den Da¬
maligen ein Schritt zu sein, dem des großen Washington vergleichbar, der
mit seinem König gebrochen hatte. Es ist die „Revolution", deren unblutige
Wiederholung jeder Einwandrer vollziehen soll. Aber der große Virginier
warf nicht seine Kultur, seine Überzeugungen, seine Seele weg. Er blieb in
der Geschichte seines Volkes stehn. Er war kein Abgefallner. Und das ist
der amerikanisierte Deutsche immer.
Darin liegt nun auch der Grund seines Mangels an Bedeutung. Er
hat eine gebrochne Seele. Die Wirklichkeiten des Lebens sind ihm auf das
Stoffliche zusammengeschrumpft. In den idealen Gütern, in Kunst, Religion
und Staatsleben denkt er, wie der Bürger des Deutschlands vor 1866 dachte.
Bei diesen Dingen wundert er sich, wie „das Volk noch so etwas dulden"
könne, während doch um ihn die anglikanische und die römische Kirche zu¬
sehends erstarken, und sich die Republik zur Alleinherrschaft wandelt. Er
begreift weder das geschichtlich Gewordne noch das Werdende.
In diesem Sinne blieb auch Karl Schurz zeitlebens ein Liberaler. Er
hatte Angst vor dem Staate. Hatte er im Bürgerkriege für die Zentralgewalt
gegen die Lostrennung der Südstaaten gekämpft, und hatte er in den folgenden
Jahrzehnten der republikanischen Partei als der Partei der Zusammenfassung
der Regierungsgewalt in Washington gegenüber der Verselbständigung der
Einzelstaaten gedient, so trat er ohne Rücksicht aus ihren Reihen heraus, als
sie ihm die heiligen Rechte der Republik zu gefährden schien. Es war die
Zeit, wo die Union einen Arm nach Westindien und den andern nach Ost¬
asien streckte. Die Republik wurde zum Imperium, und er fürchtete den
Imperator, darin ein Republikaner von echtem Schrot und Korn. Aber auch
ein Deutscher, und zwar der doktrinären Art, die, sittlich höchst achtbar — wer
kann sich der Größe solcher Denkweise entziehen? —, praktisch versagt. Er
schrieb, redete und agitierte gegen die aufsteigende Macht, deren von der
Vorsehung bestimmte Sendung sogar darin erscheinen mußte, daß an die
Stelle des durch die Hand des Mörders gefallnen Mac Kinley der schärfste
und schneidigste Vertreter des Imperialismus gestellt wurde. Er stand abseits
und allein. Immer geachtet, aber ohnmächtig und vergrämt. Er erlebte, was
der deutsche Liberalismus an Bismarck erlebt hatte: die Macht der Tatsachen.
Er hatte die Partei verlassen. Damit gab er das einzige Werkzeug, mit
dem der Politiker arbeitet, aus der Hand. Denn Anschauungen leben bloß
in Parteien, und nur Mehrheiten, von Parteien getragen, setzen sie durch. Er
hatte der Partei nicht geringe Dienste geleistet, sie hatte ihn nicht kleinlich
belohnt. Nun verließ er sie. Es ist interessant, hier einen „Amerikaner" zu
sehen, der sich der Parteidisziplin entwindet. Weswegen man dem Deutschen so
gern Vorwürfe macht, daß er sich seinem Kopfe zuliebe dem Ganzen entziehe;
was man als Tugend am Amerikaner oder gemeinhin am Angelsachsen preist,
daß er sich dem Ganzen unterordne, darin versagt dieser „Amerikaner". Mit
feinem Verständnis und kaum wissend, wie Recht er hatte, legte denn auch ein
Freund Karl Schurzens den Finger auf diese Stelle und sagte, er sei ein
Schulmeister gewesen. Er hätte auch sagen können: er war ein Deutscher.
Es sind eben nicht alle Amerikaner, die sich so nennen.
Aber durch seinen Austritt aus der Partei hat Karl Schurz einen neuen,
jetzt häufiger werdenden Typus des amerikanischen Bürgers wenn nicht ge¬
schaffen, so doch mitschaffen helfen: den unabhängigen Wähler, den Mugwump
(bedeutend: Häuptling, aus einer der Jndianersprcichcn). Und während für
den Mechanismus des parlamentarischen Staates die Partei ihre alte Bedeutung
behält, sind die „Unabhängigen", besonders seit die Professoren der Universitäten
des Landes zahlreich unter ihnen das Wort ergriffen haben, ein Machtmittel
der öffentlichen Meinung geworden: sie vertreten die Bildung, sind also ein
Bestandteil der werdenden Ungleichheit, so wie der Besitz auf der andern Seite;
ein Neues, dessen das Alte zersprengende Art dem Manne, der nur das Alte zu
vertreten glaubte, nicht bewußt wurde. „Ein Mensch in seinem Widerspruch."
Auch darin, daß er der Vertreter des Begriffs des Beamten wurde.
Sonderbar, er, der den preußischen Staat in seinen Beamten bekämpft hatte,
er preist jetzt dem freien Volke als Heilmittel gegen die Verderbnis seines
Verwaltungssystems den Beamten an! Hatte er als praktischer Politiker, man
darf sagen, den Einfluß verloren, denn er predigte hinter der ungestüm vor¬
dringenden Macht her, so schuf er sich hier eine Stellung, die ebenso sehr, wie
sie ein Ärgernis den Parteigängern der Republikaner und eine Torheit den auf
die Demokratie Eiugeschworuen war, ihn in den Augen der Gebildeten des
Landes hob. Er war Präsident des Vereins für Zivildienstreform, er war
mit allen „ Reform"bestrebungen in der städtischen und der staatlichen Ver¬
waltung verdürbe». Die Zivildienstreform verlangt an Stelle der alten Partei¬
zugehörigkeit den Befähigungsnachweis bei Besetzung der Ämter. Es ist nicht
ohne Reiz, ihn dort mit dem Führer der Zivilreformer des Staates Newyork,
Theodor Roosevelt, zusammen zu sehen. Hier trafen sich die beiden im ge¬
meinsamen Ideale. Das aber wird als ein bleibendes Verdienst des Deutschen
Karl Schurz in die Geschichte der Vereinigten Staaten übergehn, daß er, der
sonst den Begriffen der Aufklärung und des Liberalismus huldigte, hier die
Doktrin fallen ließ und in das republikanische System der Wahl, die das
während der voraufgegangnen Wahlperiode Gewordne einfach wieder umstürzt,
den beharrenden Beamtenstand setzen half. Sachkenntnis, Ehrlichkeit und Hin¬
gebung an das Amt werden jetzt die Haupttugenden. So ist er ebensosehr
an der Umgestaltung des sittlichen Urteils beteiligt. Und kein schönerer Nach¬
ruf ist ihm gehalten worden als in den Worten unsers Kriegsministers Taft,
der es, ohne seinen Namen zu nennen, ohne vielleicht auch an ihn zu denken,
aussprach: Wir müssen unsre Nation und besonders unsre Jugend dazu er¬
ziehen, daß sie nicht nur die geschäftlichen Erfolge des kapitalhüufenden Kauf¬
manns, sondern auch die Treue und die Ausdauer des Beamten, der im
Dienste der Regierung seine Pflicht, unbeobachtet von der großen Welt, erfüllt,
als erstrebenswertes Ideal schützen lerne. Ein dem Deutschen Alltägliches,
Selbstverständliches wird hier neu entdeckt und mit Entdeckerfreude dem Volke
gezeigt. Ein später Sieg des preußischen Pflichtbegriffs.
Und auch auf die Gefahr hin, ins kleinliche zu geraten, sei noch erwähnt:
Karl Schurz war der Anwalt eines in der Union zu schaffenden Forstwesens.
Wieder ein Beamter, ein Förster, ein gebildeter Sachverständiger sollte es sein,
der hier das Land im eigentlichen Sinne, den Wald rettete. Nicht Raubbau
und AbHolzung durch den unverantwortlichen, schrankenlosen Einzelnen — der
Staat soll eingreifen. Wie ist das Leben immer stärker als alle Theorien!
Und wie klingt in dieses Feld der Tätigkeit des ersten Deutschamerikaners das
Rauschen des deutschen Waldes herein, grüßt das Bild des heimischen Försters
mit all seiner Poesie!
Am 6. Oktober 1904 sprach Karl Schurz auf dem Deutschen Tag in
Se. Louis, auf der Weltausstellung, zusammen mit seinem Freunde Dr. Pretorius:
Gesinnungsgenossen aus der Mitte des vergangnen Jahrhunderts, ergraute
Vertreter desselben Typus des Deutschamerikaners. Neben ihnen der Bot¬
schafter des Deutschen Reichs und der Reichskommissar der Weltausstellung.
Vor ihnen dehnte sich eine unabsehbare Menge, begierig zu hören. Hinter
ihnen erhob sich das Sinnbild des Reichs, das auf der Ausstellung die Palme
des Sieges davongetragen hatte, das deutsche Haus. Aber kalt, verständnislos,
allzu ehrlich und darum ungerecht standen die beiden Redner dem Reich und
seiner Schöpfung gegenüber. Karl Schurz hat hier das lösende, versöhnende
Wort nicht gesprochen, das Wort, um dessentwillen allein er an dieser Stelle
zu stehn berechtigt war: von der — meinetwegen auch nur teilweisen — Er¬
füllung der Hoffnungen einer — meinetwegen — vielverkannten Zeit im neuen
Reiche. Und or. Pretorius quittierte später für das mangelnde Verständnis,
das die andre Seite seiner Stellung entgegenbrachte, mit der öffentlichen Zurück¬
weisung einer Ordensauszeichnung. So rächte sich der Fehler, daß das Deutsche
Reich den Deutschen Tag der Deutschamerikaner hat mitfeiern wollen.
Traurig verließen wir die Feier: wenn das die Großen sind, wie will mans
den Kleinen verargen? Aber die Wundertöne des heimatlichen Geläutes, das
so wohlig und mächtig gerufen hatte, und die mannhaft selbstbewußten Worte
des Neichskommissars gewannen doch die Oberhand. Es wird ein neues
Geschlecht uuter den Deutschen Amerikas erstehn, das den Mut, das Ver¬
ständnis, die Gerechtigkeit, in allem die Freiheit hat, dem Reiche zu geben,
was des Reiches ist, und sich darin und dadurch eins weiß mit den Besten
des amerikanischen Volkes und geachtet von ihnen. Denn schon wissen wirs:
was sich am Deutschtum Amerikas noch entwickelt, das entwickelt sich im
kräftigen, engen Zusammenhang mit dem Vaterlande. Daß dort „die starken
Wurzeln seiner Kraft" sind, das ist mehr als ein schönes Bild.
lume man eine gute volkstümliche Sammclarbeit zur Hemd und
sucht sich einen Überblick zu verschaffen über alles, was das
Volksleben an Gestaltungen und Formen seit alters hervorgebracht
hat, dann ist der erste Eindruck der eines fast unübersehbaren
Reichtums. Welche Lebenskraft, welches Gestaltungsvermögen,
welcher schöpferische Reichtum an Ausdrucksmitteln für alle Beziehungen des
Lebens, die äußerlichsten und die innerlichsten; welche Sinnigkeit, welcher Humor,
wieviel sittliche Kraft steckt hinter diesen Formen volkstümlichen Lebens, und
wieviel charaktervolle Art, urwüchsiges Selbstbewußtsein und bodenständige Kraft
spricht ans ihnen! Und dabei kann auch die vollständigste Sammlung nnr
einen Teil von dem wiedergeben, was je lebendig war. Vieles ist unter¬
gegangen, sei es durch die Verständnislosigteit der Kirche, die die Äußerungen
des volkstümlichen Lebens als heidnisch zu vernichten suchte und in ungezählten
Fällen leider auch ihren Zweck erreicht hat, oder durch die Bestimmungen welt¬
licher Behörden"') und Herren, die jede Äußerung bäuerlicher Selbständigkeit
scheel ansahen und das charaktervolle Selbstbewußtsein zu brechen suchten, und
wieder mit Erfolg. Die tiefgreifenden Veränderungen politischer Natur, die
auch das ländliche Leben nicht unberührt ließen, wirtschaftliche Vorgänge, Ent¬
wicklungen in der Betriebsweise taten dann noch ein übriges, indem sie dem
Volkstum den Nährboden entzogen. Was noch lebendig war, verdorrte, ver¬
welkte, verkümmerte, erstarrte. Und wenn uns nicht in der Literatur, in den
volksmüßigen Weistümeru und ähnlichen schöpferischen Erzeugnissen des Volks-
tums, in Volkslied, Sagen und Märchen, Gut von höchstem Alter, oft nur
dnrch einen glücklichen Zufall erhalten geblieben wäre, ans dem, was im Volke
selbst noch lebt, ja was auch nur als unverstandnes, versteinertes Erbe der
Vergangenheit mitgeschleppt wird wie Geröll im Flußbett, könnten wir nur ein
sehr verschwommnes und undeutliches Bild gewinnen von dem Reichtum des
Lebens, das früher diese Formen ausfüllte.
Und der Verfall geht weiter, er scheint unaufhaltsam. Die Volkstracht
verschwindet, die Mundarten sind in starkem Rückgang begriffen; die Formen
ländlichen Gemeinschaftslebens haben unter der heutigen rein politischen Ver¬
fassung unsrer Dorfgemeinden keinen Sinn und keinen Halt mehr. Mit der
Tracht schwindet der Hausfleiß; mit dem Vordringen der Fabrikware und dem
Zurückweichen des Handwerks auch die Freude am selbstgemachten. Städtisches
Schablonenprodukt steht höher in der Geltung als ein Erzeugnis heimatlicher
Kunst. Sogar das Äußere der Dörfer zeigt dasselbe Bild. Nohgebaute, hä߬
liche, öde Ziegclsteinbantcn verdrängen das charaktervolle Bauernhaus. Lächerlich
anspruchsvolle Kopien von Stadtkirchen verirren sich überall auf das Land;
neben ihnen erscheint das schlichte Dvrftirchleiu mich den Einheimischen gar zu
bescheiden und einfach, so ohne Stil, ohne das schöne drum und dran, das
doch erst die wahre Höhe der Kunst ist. Unaufhaltsam entgleiten uns auch
noch die letzten Neste.
Kann man nichts tun, den Verfall aufzuhalten? Noch ist ja nicht alles
dahin. Noch sind vielleicht ganz stattliche Reste vorhanden. Soll man sie
nicht um jeden Preis vor dem Untergang schützen? Soll man nicht den Versuch
machen, sie zu halten, neu zu beleben? Und mag vieles für immer dahin sein,
soll man nicht um so eifriger dafür sorgen, daß das, was noch vorhanden ist
nicht auch noch entschwinde? Tracht, Mundart, Bauwesen — noch ist doch so
viel von ihnen da, daß man diese Bestandteile des Volkstums erhalten könnte,
ja ihnen vielleicht wieder einen stärker« Einfluß in einem größern Gebiete ver¬
schaffen könnte. Das sind Gedanken, die so nahe liegen, daß jeder, der die
Sachlage erkennt, auf sie gerät. Und doch sind sie nur halb richtig und wie
alle halben Wahrheiten zehnmal gefährlicher und verderblicher als ein faustdicker
Irrtum. Unklarheiten, Mißverständnisse, Romantik mit sentimentalen Einschlag,
ungenaue Kenntnisse. Oberflächlichkeit helfen an einem Schleier weben, der die
wahre Sachlage verdeckt und die Blicke auf ganz nebensächliche Punkte und von
der Hauptsache ablenkt.
Zunächst wird bei solcher Auffassung der eigentliche Sitz des Übels nicht
richtig erkannt. Gewiß, es ist richtig, daß von den Erzeugnissen volkstümlicher
Art schon ungeheuer viel nnwiderbringlich untergegangen ist, und daß auch das,
was heute noch vorhanden ist, schon deutliche Spuren des Verfalls zeigt.
Diese Tatsachen sind unleugbar, wir haben auch gar kein Interesse daran, die
Situation zu beschönigen und den Ernst der Lage zu verhüllen. Aber um die
richtige Beurteilung dieser Tatsache handelt es sich. Beruht die Bedeutung der
Vorgänge, die nur heute beobachten, darin, daß gewisse Formen volkstümlichen
Lebens zerbröckeln? Oder liegt die Sache nicht vielmehr so, daß man diese
Vorgänge auch schon in frühern Zeiten beobachten konnte? Es ist doch mir
ein verschwindend kleiner Teil alten und sehr alten volkstümlichen Gutes, der
sich bis in die Gegenwart erhalten hat. Wie vieles ist unterwegs verloren
gegangen, abgefallen, abgestoßen worden. Die Auflösung von Formen volks¬
tümlichen Lebens hat nie geruht. Das brachte schon die fortschreitende Ent¬
wicklung mit sich. Es ist doch uicht so, als wäre das Volkstum mit allen seinen
Gestaltungen und Formen ein fertiges Gebilde, in grauester Vorzeit entstanden
und unversehrt bis auf die Gegenwart gebracht, wo es nun zu zerbröckeln und
zu zerfallen begänne, gleich einer Mumie, die sich bei der Berührung mit der
Luft in Staub auflöst. Wäre es so, dann wäre das Volkstum auch nichts
weiter als eine Mumie. Es ist aber doch gerade darum so wertvoll, weil es
Leben ist, quellendes, frisches, sprudelndes Leben, Und Leben ist Entwicklung
und Wachstum; und Entwicklung ist Werden und Vergehn. Nie wird ein
Neues, ohne daß sich Altes auflöst. Und nicht wie eine leblose Mumie ist das
Volkstum auf uns gekommen; es war immer in der Entwicklung begriffen,
immer im Fluß. Und was erstarb und erstarrte, das wurde abgestoßen, und
Neues trat an seine Stelle. So ist es von jeher gewesen, und gerade je mehr
man sich mit der Volkskunde und ihren Ergebnissen vertraut macht, um so mehr
kommt man zu der Erkenntnis, daß hier das Neuschaffen nie aufgehört hat.
Nur der Dilettant, der sich oberflächlich mit der Sache befaßt, kann die Meinung
hegen, was wir heute noch an volkstümlichen Gut vorfinden, sei unterschiedslos
von dem höchsten Alter lind reiche in die graueste Vorzeit zurück. Neben wirklich
altem Gut findet sich eben so viel, das aus mittlerer Zeit stammt; ja sogar
Jüngstes und Allerjüngstes mischt sich in buntem Wechsel mit dem Alten und
Ältesten. Volkstum ist, um es zu wiederholen, Leben, und das Leben kann nie
aufhören, sich zu entwickeln und Neues zu schaffen.
Also die Tatsache, daß sich Formen volkstümlichen Lebens auflösen, ist
wahrlich nicht nen, sondern so alt wie das Volkstum selbst. Wäre es anders,
dann wäre die Sachlage wirklich trostlos und verzweifelt. Denn dann stünden
wir am Ende eines jahrhundertelangen Prozesses. Das Gebilde des Volks-
tums, das wir dann als einmal fertig und abgeschlossen voraussetzen müßten,
hätte im Laufe der Zeit ein Stück nach dem andern hingeben müssen, und was
sich bis in unsre Zeit hindurchgerettet hätte, ginge nun auch den Weg, den das
andre gegangen ist. Das wäre eine Tatsache, die einfach dazu zwänge, zu ver¬
zichten. Denn was sollte man tun? Aufhalten, was verfallen will? Daß es
versiele, wäre dann doch nur eine Frage der Zeit, vielleicht schon der aller¬
nächsten. Und da so viel schon untergegangen ist, welchen Wert hätte es, die
paar Neste um jeden Preis zu konservieren? Als Raritäten für ein Altertums-
museum, wo sie als unverstandne Zeugen grauer Vorzeit angestaunt werden
könnten? Mehr würde wohl nicht herauskommen. Und das Ergebnis für das
heutige Volksleben wäre gleich Null.
Aber glücklicherweise liegeu die Verhältnisse völlig anders! Nicht das gibt
den erwähnten Vorgängen die Bedeutung, nicht das fordert zur Arbeit auf, ehe
es zu spät ist, daß Formen, die eine frühere Zeit schuf, unter dein Luftzug
modernen Lebens in Staub zerfallen. Das ist ein Vorgang, den wir in der
Vergangenheit hundertfach beobachten können, und der doch die Entwicklung
volkstümlichen Lebens nicht aufgehalten hat. Die Gefahr liegt ganz wo anders.
Das muß klar erkannt werden. Sonst findet man den Sitz des Übels nicht
und verschwendet kostbare Zeit und wertvolle Arbeitskraft um nutzlose Versuche.
Wohlgemeinter, aber schlecht berntner Eifer kann viel Unheil anrichten, weil er
die Verhältnisse verschiebt, sich an ganz unwesentlichen Stellen vergeblich müht
und darüber die Arbeiten an Punkten ruhn laßt, die wirklich gefährdet sind.
Welches siud nun solche Punkte? Warum ist überhaupt heute Gefahr vor¬
handen, wenn sich doch nur wiederholt, was schou hundertmal in der Entwick¬
lung volksmäßigcr Formen dagewesen ist?
Warum heute Gefahr vorhanden ist, wenn nicht die Auflösung volkstüm¬
licher Formen an sich die Gefahr bedeutet? Weil diese Auflösung heute unter
ganz andern Bedingungen vor sich geht als früher. Was wir auf dem Gebiete
des Volkstums beobachten, ist nur ein kleiner Ausschnitt des gesamten geistigen
und wirtschaftlichen Lebens. Dort wiederholt sich genau dasselbe, was wir hier
vor sich gehn sehen. Das Charakteristische dieser Vorgänge ist dies: ein Ab¬
brechen der Tradition, ein Zerreißen der Faden, die Vergangenheit und Gegen¬
wart miteinander verknüpfen. Man sucht ein Neues, aber dieses Neue soll etwas
völlig Neues sein, wie es noch nie dagewesen ist. Es soll sich nicht in orga¬
nischer Entwicklung aus der Vergangenheit und dem, was sie schuf, heraus¬
bilden! es soll fertig dem schöpferischen Geiste entquellen, wie Minerva dem
Haupte des Zeus entsprang. Unmittelbar, ohne Vorstufen, ohne Vorbereitung,
ohne zeitliche Zusammenhange, ohne zeitliche Abhängigkeit soll es eines Tags
da sein, ein herrliches göttliches Wunder und in seiner Unabhängigkeit von
allen äußern und innern Vorbedingungen und allen kausalen Voraussetzungen
zugleich selbst ein Beweis seines höhern, übernatürlichen, göttlichen Ursprungs.
Daher dieses Suchen und Tasten, diese Nervosität und Unruhe auf allen Ge¬
bieten des geistigen Lebens, des künstlerischen zumal. Das ist nicht der sichere
Schritt der Entwicklung, die, sich an Vorhcmdnes anlehnend und vom Ge¬
wonnenen geleitet, nun eine Strecke weiter vordrängt, sondern das ist zumeist
ein gequältes Hinaufschrauben, eine rcklamesüchtige und sensationsbegierige
Neuerungssucht, ein schwächliches, in sich uneiniges und ungewisses Vorantappen
wie der Gang eines Blinden, der sich mit suchenden Händen und ängstlichem
Gesicht seinen Weg herausfühlen muß; und wenn es hoch kommt, ist es ein
kühner, gewagter Sprung ins Unbekannte, ein verwegner Vorstoß, der alle
Brücken hinter sich abbricht.
Das Volksleben zeigt dieselbe geistige Signatur. Auch hier eine Unruhe,
eine Hast, eine Überstürzung, mit der man ein altes Haus abbricht, ehe das
neue fertig ist, sodaß man obdachlos umherirrt. Die Gründe zu untersuchen,
würde hier zu weit abführen. Nur kurz sei angedeutet, daß der ungeheure
Umschwung und Aufschwung des Wirtschaftslebens, das Aufkommen neuer Wirt¬
schaftsbetriebe, das Anwachse» der Städte, das ja wieder nur eine Folge der
Ausbreitung des Verkehrswesens war, einen so ganz andern Boden schufen und
die geistige Atmosphäre so völlig veränderten, daß die Entwicklung über viele
Köpfe hinwcgraste und eines die Widerstrebenden mit sich riß. Wie von einem
Taumel ergriffen, stürzte sich alles in den großen Strudel. Dabei rissen dann
die oft so zarten Fäden, die sich ans der Vergangenheit herüberspannen, und
das geistige Leben wurde so unversehens in einen ganz neuen Boden verpflanzt,
daß manche erst zur Besinnung kamen, als schon alles geschehen und nichts
mehr zu ändern war. Der Zug in die Stadt und das Heransdrängen der
Stadt auf das Land verschoben das Weltbild, werteten alle Werte um und
zauberten glänzende Bilder vor, nach denen mau begierig griff, aber bald er¬
kannte man, daß es Trugbilder waren. Das Alte war inzwischen aufgegeben,
und man wollte und konnte nicht mehr zu ihm zurückkehren. Zwischen dem
„Heute" und dem „Gestern" klaffte ein tiefer Spalt. Den Sprung herüber
hatte man im Taumel gewagt; zu einem kleinen Schritt zurück konnte man den
Mut nicht finden.
So war die Entwicklung jäh, fast unvermittelt unterbrochen. Fast alle
Fäden waren abgerissen. Das Alte schien veraltet und wertlos; man versuchte
gar nicht erst, wieder an es anzuknüpfen. So, wie es war, paßte es tatsächlich
nicht mehr in die veränderten Verhältnisse. Grund genug, es kurzerhand ganz
aufzugeben und zu versuchen, ein Neues zu schaffen. Und hier ist der Punkt,
wo der Zustand anfängt gefährlich zu werden. Denn die Entwicklung macht
leine Sprünge. Und die völlige Ignorierung der Vergangenheit und alles dessen,
was sie geschaffen und hervorgebracht hat, muß sich bitter rächen. Zunächst
erzeugt sie Unruhe, nervöse Hast; und am Ende alles Suchens sieht man sich
doch wohl gezwungen, zum Alten zurückzukehren. Dann sind aber die Fäden
vielleicht nicht mehr aufzufinden; das Verständnis versagt, der Abstand ist immer
größer geworden, und zu spät erkennt man, daß man etwas bewährtes vorschnell
aufgegeben hat, ehe man gleichwertigen Ersatz geschaffen hatte. Noch ist es zum
Glück nicht ganz so weit, noch lassen sich die abgerissenen Fäden wieder auf¬
nehmen. Dadurch aber wird die Frage: Was ist zu tun? sehr klar und einfach. Es
kann nur eine Antwort darauf geben: den abgerissenen Faden wieder aufnehmen,
an das Vorhcmdne anknüpfen, nicht um es wie ein fertiges Kleid über das
werdende Leben zu werfen, sondern um aus ihm die Formen zu schaffen, die dem
Geiste des Alten entsprechen und doch den neuen Bedürfnissen gerecht werden.
Die Entwicklung läßt sich nicht aufhalten und nicht zurückschrauben. Drängt
man ihr Formen auf, die ihr nicht passen, so zersprengt sie sie. Das einzige,
was man tun kann, ist das, daß man sie in Bahnen leitet, in denen sie gesund
bleibt, daß man ihr Stoff bietet, aus dem sie sich neue Formen schafft. Und
diesen Dienst will die Volkskunde dem Volksleben leisten. Nur so faßt sie das
Übel an der Wurzel. Denn der gefahrdrohende Übelstand besteht darin, daß
unser Volksleben haltlos und führerlos geworden ist. Es ist wie ein Kind,
das sich plötzlich mutterseelenallein im dichten Walde wiederfindet. Wo soll es
sich hinwenden? Seit einem Menschenalter ist die Entwicklung jäh unterbrochen.
Der Umschwung und die Umgestaltung der Lebensbedingungen erfolgten zu
schnell; er benahm den Atem. Heute sehen wir das Ergebnis. Die alten
Lebensformen liegen zerbrochen, zersprengt am Boden. Eine nutzlose Mühe
wahrlich, die Scherben zu sammeln und aus ihnen ein brauchbares Gefäß
zusammenkitten zu wollen! Also sie wegkehren und auf den Schutthaufen
werfen? Das wäre das andre Extrem, das ebenso töricht wäre. Sie sind
doch noch zu etwas nütze. Und wenn man sie zusammenfügt und aufbewahrt,
sie geben kein brauchbares Gefäß mehr; aber sie können als Vorbild und
Muster dienen, um ein neues Gefäß zu schaffen, größer und weiter, das nun
den neuen Inhalt zu fassen vermag.
Nur in diesem Sinne wollen die volkskundlichen Bestrebungen verstanden
sein. Sie sammeln sorgfältig und mit liebevollem Bemühen, was sich an Resten
volkstümlichen Lebens zusammentragen läßt. Aber nur, um daraus ein Bild
der Vergangenheit zu entwerfen, um den Geist und die treibenden Kräfte zu
ergründen, die einst diesen wunderbaren Reichtum an Formen und Gestalten
schufen. Diesen Geist des volkstümlichen Wesens zu erfassen, ist allein Zweck
und Ziel. Und nur das verdient den Namen „Volkskunde", was so vom
Äußerlichen zum Innerlichen, von der Form zum Inhalt vorzudringen vermag.
Alle Form ist etwas sekundäres; alle Form ist Produkt der Entwicklung und
vergeht wieder, wenn ihre Zeit vorüber ist. Was aber bleibt, immer lebendig
und schöpferisch kräftig, das ist der Geist, der sich die Formen schuf. Und daß
dieser Geist sich selber treu bleibe, daß er sich nicht verblenden lasse und sich
nicht verirre, daß er die Bahn, aus der er herausgeschleudert wurde, wiederfinde
und nun selbstsicher und selbstbewußt weiter schreite, seiner Vergangenheit treu und
doch aufgeschlossen für das moderne Leben und seine Anforderungen, das will die
Volkskunde erreichen, und das ist auch ein Ziel, das sie erreichen kann.
Aus all der Mannigfaltigkeit und dem bunten Reichtum volksmäßigen
Gestaltens und Schaffens tritt uns als der innerste Kern, wieder erkennbar
trotz tausendfacher Verkleidung, entgegen: charaktervolles Selbstbewußtsein, boden¬
ständige Art, schöpferische Gestaltungskraft, stolzes Unabhängigkeitsgefühl, das
sich für zu schade hält, hinter andern herzulaufen, das wohl auch fremdes Gut
übernimmt, aber nicht ohne ihm den Stempel seines Wesens aufzudrücken und
es sich innerlich anzueignen. Und diese innerste Kraft des Voltstunis ist in
Gefahr, sich selbst zu vergessen. Sie ist von dem vielen Neuen, das auf sie
eindringt, geblendet; sie gibt ihr Eigenstes dahin und nimmt sich Fremdes,
Unverstcmdncs, Unbrauchbares. Sie hängt sich ein Kleid um, bunten Flitter
und Dutzendware und verachtet das selbstgewebte Gewand. Sie läßt sich Formen
aufdrängen, die ihrem innersten Wesen fremd sind, die nicht in ihrem Heimat-
boden gewachsen sind, die überhaupt nicht gewachsen, sondern zusammengeleimt
sind von solchen, die von volkstümlichen Wesen keine Ahnung haben. All diesen
Widersinn nimmt sie ruhig in den Kauf, weil das Unverstandne, Neue sie reizt,
lockt und blendet. Darum schwinden Tracht und Sitte, das Leben wird kahl
und ode. Darum schämt sich der Bauer seiner Mundart und radebrecht ein
unmögliches Hochdeutsch; darum läßt er sich Wohnhäuser und Kirchen bauen,
die seinem Gefühl so fremd sind wie ein chinesischer Tempel. Ihm ist der alt¬
gewohnte Boden unter den Füßen weggezogen worden; er findet sich in der
neuen Welt, die so plötzlich um ihn her emporschoß, noch nicht zurecht und
läßt alles willenlos mit sich geschehen. Die aber die ganze Bedeutung dieser
Lage übersehen, dürfen nicht müßig bleiben. Sie kommen und halten dem
Volke den Geist seiner eignen Vergangenheit vor: Sieh, wie selbstbewußt und
charaktervoll, wie stolz und sicher du früher warst; wie du dir die Lebens¬
formen selber Schusse und dir zu gut warst, andern nachzuäffen. Finde dich
selbst wieder! Laß den Geist charaktervoller Art und bodenständigen Heimat¬
gefühls wieder lebendig werden; lerne den verachten, der sein eignes Wesen
aufgibt, dann wirst du auch in dir die Kraft wiederfinden, dir selbst dein Leben
zu bauen und Formen zu schaffen, die deinem Wesen entsprechen als ein Aus¬
druck deiner selbst. Brauchst du Anleitung und Vorbild, so suche sie nirgend
anders als in deiner eignen Vergangenheit. Denn da allein findest dn dein
eignes Wesen wieder, aber nicht in dein, was andre dir als Fertiges auf¬
drängen wollen!
Wenn man die Aufgabe der Volkskunde so auffaßt, wie kleinlich und
töricht, oft geradezu albern erscheinen dann die Versuche, die das Übel meinen
heilen zu können, wenn sie wahllos irgendeinen Zipfel erfassen und rufen: Das
müssen wir festhalten! Nur in diesem großen Zusammenhang sind Einzel¬
bestrebungen, wie etwa die zur Erhaltung der Volkstracht u. a. in., berechtigt.
Erheben sie den Anspruch, an sich etwas wertvolles erreichen zu können, losen
sie sich aus dem großen Zusammenhang los, verlieren sie die leitende Perspektive
auf eine Erneuerung volkstümlichen Wesens von Grund aus aus den Augen,
dann sind sie nicht nur zur Erfolglosigkeit verurteilt; sie wirken direkt schädlich,
weil sie mit ihrer oberflächlichen Auffassung jeden tiefer schauenden Menschen
abstoßen und die Aufmerksamkeit auf Nebendinge ablenken, während der Schaden
am Mark weiterfrißt. Solche Einzelbestrebungen dürfen nie Selbstzweck werden,
ebensowenig wie die Volkskunde überhaupt, wenn man von ihrer wissenschaft¬
lichen Bedeutung für die Aufhellung vergangner Zustände absieht, Selbstzweck
ist. Sie ist ein Lebendigmacher der Vergangenheit, ein farbenreiches Gemälde,
das den Geist volkstümlichen Wesens, der in der Vergangenheit so Wunder¬
bares schuf, zu neuer Tätigkeit antreiben möchte. Als Führerin, Beraterin
bietet sie ihre Dienste an. Wehe ihr, wenn sie zum Schulmeister würde oder
zum engherzigen Pedanten, der einfach dekretieren wollte: Das muß so bleiben.
Das Volksleben würde ihr dann bald völlig entgleiten. Weist sie aber aus
der Vergangenheit nach, wie sich ein lebendiges Volkstum beendigte, sucht sie
das Volk wieder stolz zu machen auf seine Art und den Geist des Selbst¬
bewußtseins und urwüchsiger Kraft in ihm zu wecken und zu stärken, dann
kann sie unendlich segensreiches leisten, dann ist sie unentbehrlich, um die Ent¬
wicklung gesund zu erhalten. Dann darf sie sich auch ehrlich frei wissen von
sentimental-romantischen Anwandlungen, die man ihr so oft vorwirft. Dann
ist sie nüchtern und praktisch wie das Leben selbst und darf auch hoffen, auf
das Leben Einfluß zu gewinnen.
Heinrich Svhnrey. dem die Pflege des Volkstums so viel verdankt, sagt in
seinem „Wegweiser für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege" (Berlin, 1900):
„Bei den einzelnen Versuchen, welche hier und da in bester Absicht zur Neu¬
belebung des Volkstums gemacht sind, z. V. durch die Vereine zur Erhaltung
der Volkstrachten, ist man insofern in einem schweren Irrtum befangen, als
man das Volksleben von einem einzelnen äußern Bestandteil aus glaubt wieder¬
beleben zu können und annimmt, daß es darauf ankäme, diesen Bestandteil genau
so zu erhalten, wie er einstmals war. Wollen wir einen kranken Baum wieder
gesund machen, so würde es wohl niemand einfallen, beim Wipfel oder einem
einzelnen Zweige anzufangen, sondern wir suchen ihn vor allem am Wurzel-
bvden zu behandeln, und gelingt es uns, ihn von der Wurzel aufwärts gesund
zu machen, so werden die Zweige hernach ganz von selbst wieder grünen und
blühen. So muß auch das Volkstum bei der Wurzel erfaßt und von Grund
auf kuriert werden. Ein Verein, der nur die Volkstracht Pflegen will, ist unsers
Trachtens ein Unding und trügt nur dazu bei, die Volkstumspflege in Mi߬
kredit zu bringen. Wir dürfen bei alledem nicht vergessen, daß alles Gewordne
durch die Entwicklung geworden ist, und daß auch das Volkstum diesem Natur¬
gesetz untergeordnet ist. Ein Beispiel dafür bietet gerade die Volkstracht, die
da, wo sie noch besteht, gewiß nicht etwas vor hundert Jahren erstarrtes,
sondern etwas sich stets fortentwickelndes ist. In Wahrheit können wir also
nichts andres tun, als diese Entwicklung im Volkstum Pflegen, dafür sorgen,
daß sie sich nicht überstürzt oder gar jäh unterbricht, daß die Entwicklung auch
nicht von außen gewaltsam herbeigeführt, sondern durch den Takt der gesunden
Volksseele geleitet wird. Kein jähes Abbrechen also durch Einführung fremder
städtischer Moden und Stile, sondern ein organisches Fortentwickeln der einzelnen
Zweige des Volkstums zu einem wahren volksgemnßen Neuen" (S. 260).
ußland steht jetzt im Vordergrunde des Interesses, große Umwälzungen
bereiten sich vor, und mit Spannung verfolgen wir die Vorgänge
im Osten. Das russische Volk schließt sich zusammen gegen das
Gewaltsystem der Bureaukratie und verlangt dringend sozialpolitische
Reformen. Die Entwicklung schreitet vorwärts, das Bolksbewußtsein
erwacht und beginnt sich zu regen. Es ist sonderbar, wie sich neben
diesen freiheitlichen Ideen im Volle noch ein zäher Konservatismus, ein Festhalten
am krassesten Aberglauben behauptet. Das zeigen mit am klarsten die eigentümlichen
Hochzeitsgebräuche, die oft noch bis in die ferne Heidenzeit zurückdatieren. Ich
will deshalb von einer Hochzeit erzählen, die sich in einem großen Dorfe des
Twerschen Gouvernements abspielte.
Still und friedlich liegt das Dorf, überflutet von silbernem Mondschein. Die
breite kotige Straße zieht sich zwischen den kleinen Hütten hindurch, große Pfützen
haben sich nach den vielen Regentagen gebildet. Der Weg senkt sich hinunter zum
Flusse hin, dessen Lauf man bis weit in die Wiesen hinaus verfolgen kann, bis
sich das glitzernde Band im schwarzen Walde draußen verliert. Über der ganzen
Natur webt ein geheimnisvolles Etwas, Nebel wallen, Dunstwolken schweben Geistern
gleich über den Wiesen, unbestimmte Laute ertönen dann und wann, ein Summen,
Singen — leise, ganz leise, so zart wie Elfenstimmen. Weit draußen Hunde¬
gebell — hört ein Dorfmädchen das in der Silvesternacht, so horcht sie auf¬
merksam hin, denn aus der Gegend, wo es hertönt, wird ihr Zukünftiger sein — dann
wieder Stille, unbestimmtes Wogen und Wallen.
Alle Hütten sind dunkel, nur eine, am Ende des Dorfes, ist erleuchtet —
diesesmal ist bei Iwan Matwejitsch Putilow die „Abendunterhaltung". Vom
September bis zu den großen Fasten, d. h. bis zum Februar, versammelt sich täglich
die Dorfjugend, Burschen und Mädchen, zu den sogenannten Abendunterhaltungen
„Bessedy". Die sind der Reihe nach bald bei diesem, bald bei jenem Bauer, der
eine heiratsfähige Tochter hat. Fällt bei irgendeiner, die gerade an der Reihe ist,
die Abendunterhaltung aus, so ist sie verpflichtet, wenigstens das Petroleum zu
stiften und die Diele in der Hütte zu scheuern, wo die Abendunterhaltung statt¬
finden wird. Also diesesmal ists bei Iwan Matwejitsch. Gegen hundert Personen
sitzen und stehn in dem nicht allzugroßen Zimmer, das von dem blauen Qualm der
billigen Zigarren erfüllt ist — eine dicke, stickige Luft. Viele stehn, andre sitzen
auf langen Holzbauten, die längs den Wänden hinlaufen. Lautes Stimmengewirr,
ab und zu kann man ein Paar Worte des breiten, eigentümlichen Dorfdialekts auf-
fangen, lantes Gepolter der tanzenden Paare und die etwas heisern Töne der
Harmonika, die ein schon halbbetrunkner Bursche in rotem Hemd, das über breite
Pumphosen herabfällt und von einem grünwollnen Gürtel gehalten wird, dem
Instrument entlockt. Die Stimmung ist animiert, was vor allem der Wodka
(Schnaps) zugeschrieben werden muß. Es werden Nationaltänze getanzt, haupt¬
sächlich Kasatschvk, bei dem der Mann der angestrengtere Teil ist; in halbsitzender
Stellung ist er in ständiger Bewegung, bald hockt er ganz an der Diele, bald
springt er mehr in die Höhe, streckt bald das eine, bald das andre Bein gerade
aus, während die Hände in die Hüften gestemmt sind. Die Frau, hochaufgerichtet,
eine Hand am Kleide, die andre, über dem geneigten Kopfe, hält ein Taschentuch;
der Tanz ist sehr einfach, langsam bewegt sich das Mädchen mit kleinen gleitenden
Schritten um den schnell tanzenden Burschen herum. Auch einige moderne Tänze
haben sich jetzt in den Dörfern eingebürgert, vielfach wird Lancier und Quadrille
getanzt. Auch heute ist das der Fall. Iwan Matwejitsch geht zwischen den Gästen
herum und fordert in seiner breiten, gutmütigen Art und Weise eifrig zum Trinken
und Tanzen auf. In der Pause wird „Nachbarn" gespielt: der Kavalier setzt sich
auf die Knie seiner Dame; einer geht herum und fragt jede: „Liebst dn deinen
Nachbarn?" — wenn sie „ja" sagt, so muß sich das Paar küssen, sagt sie „nein",
so wird ihr ein andrer Bursche auf die Knie gesetzt. Dann rufen alle im Chor:
„Die Schönen herauf!" Die Mädchen setzen sich auf die Knie der Burschen,
und das Spiel beginnt von neuem. Darauf wird „Mönch" gespielt. Ein Bursche
stellt sich in die Mitte des Zimmers und klopft mit einem Stock gegen die Diele,
darauf erkundigt man sich, was er wolle, „eine Nonne" lautet die Antwort; ein
Mädchen tritt heraus und küßt ihn, worauf er ihr den Stock überreicht, sie klopft,
Will einen „Mönch" usw. Das Spiel zieht sich endlos hin. Tief in der Nacht
verabschieden sich die Gäste und kehren in ihre Hütten zurück. Solche - Abende
finden in den meisten Dörfern statt, natürlich hat jedes Gouvernement seine eignen
Gebräuche, doch im wesentlichen ist es immer dasselbe. Besonders festliche Abende
gibt es nach Weihnachten — die Mädchen müssen da zu drei Abenden sechs Toiletten
haben; verfügen sie nicht über soviel, dann borgen sie sich das nötige. Beliebt
sind natürlich möglichst grelle Farben und unglaubliche Farbenkontraste. Von
weitem hört man die hell und fröhlich tönenden Schlittenglocken — es kommen
Burschen aus den Nachbardörfern angefahren, die die „große» Abende" mitmachen
wollen. Sie haben sich zum Teil festlich in bunte, seidne Hemden gekleidet. Auf
diesen Abenden werden häufig „Anträge" gemacht. Wenns drinnen in der Stube
zu heiß wird, gehn Burschen und Mädchen paarweise hinaus ins Freie. Draußen
glitzert der weiße Schuee — bergehoch liegt er oft —, die Äste der Tannen und
der Fichten neigen sich schwer uuter der Schneelast, und der Mond leuchtet friedlich
am flimmernden, blauschwarzen Himmel. Da sieht mau nun einzelne Paare sich
ergehn — schwarze Pünktchen auf der weiten, hellen Fläche. Ein Paar verliert
sich im Walde; der Bursche fragt nun das Mädchen, ob es seine Frau werden
wolle. Sie antwortet: „Wie der Vater es will." Dann fährt er nach Hause und
kommt am nächsten Tage mit seinen Eltern zur Werbung. Er logiert im Hause
des Nachbarn, und von diesem wird dann jemand ins Haus der Braut geschickt,
der erst an ihre Eltern die Frage richtet, ob sie den Bewerber anhören wollen
oder nicht, und im Falle einer bejahenden Antwort sagt, daß man die nötigen Vor¬
bereitungen treffen solle. Es wird nun ein Tisch gedeckt, auf dem der blanke
Samowar dampft und verschiednes zum Essen steht, wie z. B. saure und eingesalzne
Pilze, Fische usw. Der Bräutigam kommt nun mit seinen Eltern, alle setzen sich
an den Tisch. Die beiderseitigen Eltern unterhalten sich über Mitgift, das Haus
des Bräutigams usw. Währenddessen müssen die Brautleute schweigen, dürfen sich
nicht einmal ansehen. Nach einer Weile gehn die Brautleute hinaus, und der
Bräutigam stellt noch einmal die Frage, ob ihn die Braut heiraten wolle. Bejaht
sie es, gehn sie ins Zimmer zurück und teilen diesen Entschluß den Eltern mit.
Nun bestimmen diese einen Tag, an dem sie in das andre Dorf fahren Wollen, das
Haus des Bräutigams zu besehen. Die Braut fährt nicht mit. Gefällt den Eltern
der Braut alles, so haben sie nichts gegen die Hochzeit einzuwenden, dann kommt
um einem Tage der Bräutigam mit seinen Eltern wieder in das Haus seiner
Schwiegereltern „zu Gott beten". Es wird lange gebetet, dann ist großes Hände-
schütteln, und Braut und Bräutigam küssen sich zum erstenmal vor den Eltern.
Das ist nun das Verlöbnis. Von da an kommt der Bräutigam jeden Abend zur
Braut und bringt immer irgendein Geschenk mit. Nach einiger Zeit kommt der Tag
des „Handschlagens". Im Hause der Braut versammeln sich deren Verwandten
und die Eltern und Taufeltern des Bräutigams. Die beiden Väter, die immer
bei dieser Gelegenheit Pelze anhaben müssen, ergreifen den Saum ihres Mantels
— die Hand muß von diesem bedeckt sein — und reichen sich die Hand. Die
Braut selbst darf nicht zugegen sein. Dann überreicht der Vater der Braut dem
Vater des Bräutigams die Aussteuer. Nachdem das geschehen ist, setzen sie sich
an den gedeckten Tisch und rufen die Braut. Diese wird von den Freundinnen
hereingeführt. Der Schwiegervater überreicht ihr einen Spiegel, auf dem Geschenke
liegen — Seife, Kämme usw. Die Braut ergreift darauf ein Schnapsglas, verneigt
sich tief vor dem Schwiegervater und setzt es, ohne getrunken zu haben, wieder auf
den Tisch. Damit bezeugt sie ihm ihre Ehrerbietung und ihren Gehorsam. Wenn
sich die Braut wieder entfernt hat, beginnt ein großes Gelage. Sind die Gäste
weg, so fängt die Braut an, „mit der Stimme zu weinen". Vom Tage des Hände-
schlagens an dauert das eine bis zwei Wochen bis zur Hochzeit. Die Braut singt
in weinerlichen Ton Morgens und Abends und improvisiert dabei oft den Text.
Die Melodie ist sehr eintönig. Wenn die Braut zum erstenmal anfängt „zu weinen",
sagt sie z. B. folgendes:
Dabei „weint" sie unaufhörlich. Nach einiger Zeit tritt die älteste Freundin
auf sie zu und flicht ihr das Haar auf, während die Braut singt:
Das alles geschieht spät Abends, bis tief in die Nacht, hinein. Während die
Braut weint und singt, muß sie das Gesicht vollständig mit einem Tuch bedecken.
Den Tag über näht sie mit an der Aussteuer.
Am Tage vor der Hochzeit ist großes Reinemachen. Die Braut wird von
den Freundinnen in die Badestube geführt. Auf dem Wege dahin spricht sie, wenn
sie Waise ist:
In der Badestube angelangt wird sie von ihren Freundinnen gründlich ge¬
scheuert, worauf sie zu ihnen sagt:
Nähern sie sich dem Hause, singt sie:
Sie wendet sich zu den Geschwistern:
Sie deutet damit den Geschwistern an, daß sie anders aussieht als ihre Ge¬
spielinnen, daß für sie ein neues Leben beginnt. Darauf fällt sie wieder auf die
Knie und sagt:
Und ich arme Wmse sinke nun
Zu dem Mütterchen, der feuchten Erde,
Und laß hell erschallen meine helle Stinime
Übers Mütterchen, die feuchte Erde,
Und laß niederfallen eine heiße Träne,
Heiße Träne, eine treue Gefährtin,
Daß du heiße Träne fließen mögest
Über weite Felder, grüne Wiesen;
Halt dich nicht bei Fremden auf,
Sondern fließe bis zu Gottes Kirche,
Laß ertönen dort die große Glocke.
Ob dann nicht die starken Stürme brausen,
Dunkle Wolken plötzlich dann herausziehn,
Starke Regen nicht herniederfallen,
Die die feuchte Erde wohl durchnässen.
Ob dann nicht des Grabes Deckel springt,
Auseinanderfällt das weiße Leichentuch,
Und ersteht mein gutes Väterchen
Und du, mein geliebtes Mütterchen.
Dann bitt ich sie zu kommen auf die Hochzeit
Aus die junge, die so ganz verwaiste,
Damit mich jemand segnen kann.
In der Hütte weint sie weiter — es würde zu weit führen, all die Un¬
menge Verse wiederzugeben. Sie weint, daß sie zum letztenmal im Hause ist, daß
die Freundinnen bald nicht mehr bei ihr sind. Kommen dann die Gäste, so sitzt
sie mit ihnen am Tisch. Die Braut sitzt auf einem Kissen, das Gesicht die ganze
Zeit mit einem Tuche bedeckt. Wahrend die Gäste essen und trinken, weint die
Braut „mit der Stimme"; sie darf erst später mit den Freundinnen zusammen
etwas genießen. Da ihr Gesicht bedeckt ist, sieht sie natürlich nichts; da sagen ihr
die Freundinnen immer, wenn jemand neues hereintritt, den die Braut dann mit
Weinen empfängt. Nach einiger Zeit wird eine Bank in die Mitte des Zimmers
gerückt, worauf sich die Braut mit ihren Freundinnen setzt. Nun tritt ein Gast
nach dem andern — oft mehr als hundert — ans sie zu und kämmt ihr das
Haar. Auf die Knie legt er ihr Geschenke: Geld, Tücher, Stoff usw. Die ganze
Nacht durch gehts hoch her, da viel Logierbesuch im Hanse ist. Am andern
Morgen wird die Braut in Gegenwart der Gäste angezogen — das Kleid muß,
wenn die Braut keine Waise ist, möglichst grell sein, am beliebtesten ist feuerrot.
Die Gäste setzen sich in ihre Wagen, und ein langer Zug setzt sich in Bewegung.
Ein hübsches Bild! Die Pferde sind mit Glöckchen und bunten Bändern geschmückt,
an die Deichseln find gestickte Handtücher gebunden. Die Trauung wird feierlich
vom Dorfpopeu in der Kirche vollzogen, wobei der Kirchenchor die monotonen, aber
in ihren Harmonien wunderbaren Kirchenlieder singt. Nach der Trauung fahren
alle, begleitet von dem Konzert der hohen und der tiefen Glocken, zu deu Eltern
der Braut, .d. h. wenn es eine Braut „mit Mittagessen" ist. Alle werden reichlich
bewirtet, und es wird bis zum Abend getanzt. Darauf begeben sich alle in das
neue Heini, wo verschiedne Scherze inszeniert werden. Wenn die Braut hinkommt,
wird sie in dicke Plaids gehüllt, in denen sie so lange sitzen muß, bis ihr die
Schwiegermutter ein Brot auf den Kopf legt. Das ist eine Art Begrüßung im
neuen Heim. Die Scherze sind sehr harmloser Natur. Es werden zum Beispiel
Braut und Bräutigam in die Mitte des Zimmers gesetzt, und dann wird der Braut
zugerufen, ihr Liebster habe keine Ohren, keine Nase usw., dann muß sie ihm das
betreffende Glied küssen; er habe keine Füße, dann muß sie vor ihm nieder¬
fallen usw. Darauf bringen ihr die Bauernmädchen Holzscheite — jede soviel sie
tragen kann, die Braut ist verpflichtet, jedes Bündel mit einem Handtuch zu um¬
winden, das dann die Holzträgerin als Geschenk erhält. Schenken muß die Braut
den Gästen überhaupt viel, und die Geschenke werden eingehend und ungeniert
laut kritisiert. Die Scherze dauern bis tief in die Nacht und sind oft etwas derber
Natur. Der Hochzeitstrubel dauert eine ganze Woche. Es ist interessant, einen
Blick in das Volksleben der Russen zu werfen — eigentümlich sind ihre Sitten
und Gebräuche, die sich aus frühester Zeit her erhalte» haben. Ein kindliches,
gutmütiges Volk, dessen tiefste Kräfte aber noch schlummern, und das bange und
sehnsüchtig der Erlösung von seinen schweren Leiden harrt.
Dxoi'ont auxit Zu/^bstl^am, OvMitiWÄM as Ogis,
^.mein^uissimÄS ut se IIIufttrissiwÄS ^amilias als ?Mo^.
(Das ursprüngliche, jeht entfernte Epitaph auf Thomas Thynne
in der Westminsterabtei.)
^^^>ady Elizabeth Percy verneigte sich noch einmal vor Sir Thurms
Thynne, der sich in dunkelblauem Sammetrock, dessen kurze Ärmel
über ein Paar weiße leinene Unterärmel fielen, und mit einerneuen,
gelben Allongeperücke aus Paris, den Hut gegen die Brust gepreßt,
tief verneigte.
Es war in dem äußern Vorgemach in dem Hause der alten Gräfin
in Se. James' Street. Sie selbst in ihrer Haube und ihrer dunkeln Witweukleidung
stand hinter den Verlobten zwischen dem Herzog von Newcastle, Lady Elizabeths
Schwiegervater, und Seiner Gnaden dem Herzog von Monmouth, der seinem Freunde,
Sir Thomas, die Ehre erwiesen hatte, ihn auf dieser seiner letzten Höflichkeitsvisite
im Hause der Braut vor der Hochzeit zu begleiten. An der Tür standen vier
Pagen in Northumberlauds Livree, und die aufwartenden Frauen der beiden hohen
Damen sowie der übrige Hofstaat hielten sich mit den Kavalieren der drei fremden
Herren im Hintergrunde des großen, prächtigen Saales, durch dessen zahlreiche, nach
der Straße gehende Fenster der frostklare Sonnenschein des Februartages noch
hereinströmte.
Der Ehekontrakt war heute Nachmittag nach mehrmonatigen gewissenhaften
Verhandlungen endlich unterschrieben, und um Lady Elizabeths Hals strahlte jetzt
das kostbare Halsband aus großen Rubinen, das Seine Gnaden der Herzog von
Monmouth vorhin höchsteigenhändig darum zu befestigen sich erlaubt hatte.
Die äußerst zeremonielle Visite war jetzt beendet. Alle die Phrasen und alle
die Reverenzen, die die Etikette bei einer solchen Gelegenheit vorschrieb, waren
ausgesprochen und ausgeführt. Die Herren zogen sich, von ihrer Suite gefolgt,
über die große Treppe zurück, an der die alte Gräfin noch einmal ihr allerstatt-
lichstes Kompliment machte.
Lady Elizabeth stand am Fenster im Vorgemach mit einigen ihrer Zofen. Sie
war vollständig unberührt von all der Pracht und dem Pomp, sah aber in ihrem
seegrünen, silbergestickten Gewand ein klein wenig bleich und angestrengt aus.
Lady Northnmberlnnd kam wieder herein. Sie war erschöpft von dem langen
Stehen und setzte sich stöhnend auf den Stuhl zunächst der Tür. Lady Elizabeth
hatte ihr Halsband abgenommen und hielt, den Kopf auf die Seite geneigt, kritisch
die Steine gegen das Tageslicht.
Ja, sagte ihre Großmutter, das nimmt sich aus auf einem weißen Hals
— Seine Gnaden versteht sich auf so etwas! —, und es war sehr aufmerksam vou
ihm. Aber zu des seligen Königs Jakob Zeiten hätte man nicht gewagt, einer
Braut rote Steine zu schenken.
Warum nicht? fragte Lady Elizabeth gleichgiltig. Sie stand da und wog deu
Schmuck über dem Zeigefinger.
Weil sie Blut bedeuten, mein Kind. Steine haben immer eine gewisse Be¬
deutung, das weiß doch jedes Kind, und Rubinen bedeuten — in der Regel — Blut.
Kaum hatte sie das Wort ausgesprochen — und da waren viele, denen es
später einfiel, und die darüber sprachen —>, als Amelia, die während der ganzen
Zeit, die Stirn gegen die Fensterscheibe gepreßt, dagestanden und gewartet hatte,
daß die sechsspännigen Staatskarosfen der vornehmen Herren durch das Tor
gerollt kommen sollten, einen Schrei ausstieß und die Hände vor die Augen hielt.
Lady Elizabeth ließ das Halsband fallen und wandte sich nach dem Fenster um.
Was ist da? ... Was ist geschehen? . .. schrie die alte Gräfin. Sie erhob
sich sofort, auf ihren Kammerpagen gestützt.
Sie schießen, riefen Amelia und die andern vom Fenster her ... sie schießen
auf die Wagen.
Amelia hatte es alles gesehen. Sie hatte die Karossen der beiden Herzoge
flankiert von Lakaien und Pagen und gefolgt von berittnen „Gentlemen" schwer zum
Tor hinausfahren sehen, worauf der Herzog von Newcastle nach rechts abbog und
den Weg uach Piccadilly zu einschlug. Schließlich kam Sir Thomas Wagen, neu
gemalt und vergoldet, mit seinem Gespann von sechs schneeweißen Pferden und demi
kleinen Negerknaben auf dem Wagentritt. Er fuhr langsam bis an die Ecke von
Pakt Malt, und da . . .
Ein Mann auf einem großen Grauschimmmel tauchte plötzlich auf und griff
einem der vordem Pferde in die Zügel. Es bäumte, und die andern wurden
unruhig. Der ganze Zug stockte — Sir Thomas selbst steckte den Kopf zur
Wagentür heraus. Ein Mann — und »och zwei andre — hielten zu Pferd
ueben ihm . . . Amelia sah, vom Fenster aus, wie der eine von ihnen blitzschnell
seine Muskete erhob und auf den Herrn von Lvngleat zielte. In demselben Augen¬
blick schoß auch einer von den andern. Und da hatte sie geschrien und die Hände
vor die Augen gehalten.
Als sich Lady Elizabeth nach dem Fenster umwandte, war die ganze Straße
schon voll von Menschen. Sie sah, wie der Wagen den Versuch machte, die
Se. James' Street hinabzusahren, während Reiter und Fußgänger den Mördern
nachsetzten, die zu entkommen strebten.
Jemand riß die Wagentür auf — der Negerjunge war von seinem Platz
heruntergefallen und auf der Straße fast totgetreten worden —, während zwei
Männer bemüht waren, Sir Thomas Thynne herauszuheben: der Hut war ihm
abgefallen, die Perücke hing über dem einen Ohr herab, und die langen Arme mit
den weißen leinenen Ärmeln, mit Blut durchzogen, baumelten so sonderbar leblos
von den Schultern herab.
Mehr sah sie nicht — die Beine fingen an unter ihr zu zittern, und sie
sank taumelnd auf den Sessel in der Fensternische.
Im nächsten Augenblick stürzte ein Dutzend Pagen und Lakaien die Treppe
hinab und auf die Straße hinaus — barhaupt —, um zu sehen, wie die Sache
zusammenhing, um Neues zu hören. Die großen Türen zum Treppenaufgang
standen weit geöffnet. Das Zimmer füllte sich mit Zug und Kälte. Die alte
Lady Northumberland stand, noch immer auf die Schulter des Pagen gestützt,
hinter allen den andern — auf den Zehenspitzen — versuchte hinauszusehen und
sah nichts.
Aber Kind . . . Kind . . . sagte sie einmal über das andre. Was ist denn
das? Wer, sagst du, schießt? ... Und auf wen schießen sie?
Lady Elizabeth hatte sich wieder erhoben — sie war leichenblaß, und ihr
Gesicht war ganz starr. Sie antwortete ihrer Großmutter nicht, schien sie gar
nicht zu hören, faßte nur eins der Mädchen um den Arm und versuchte zu gehn.
Aber Mylady . . . sagte Amelia, die jetzt wieder zu sich gekommen war. Aber
Mylady ...
Sie legte ihren Arm um die Taille ihrer Herrin und führte sie durch das
Zimmer. Lady Elizabeth ging wie im Traum, konnte sich kaum weiterschleppen.
In dem Zimmer vor ihrer Schlafstube sank sie auf das lange Sofa nieder — und
brach endlich in Tränen aus.
Amelia stand ganz hilflos neben ihrer Dame. Sie war natürlich auch er¬
schüttert, aber trotzdem . . . Sie konnte nicht recht begreifen, daß sich Lady Eliza¬
beth Sir Thomas Schicksal so zu Herzen nehmen konnte. Und er war, wenn man
die Sache bei Lichte besah, doch nur verwundet . . .
Das sagte sie auch zu ihrer Herrin: er sei vielleicht nur verwundet. Aber
sie machte nur eine verzweifelte Bewegung mit der Hand und weinte dann ebenso
heftig wie vorher.
Plötzlich sah sie zu Amelia auf.
Hast du den Mann gesehen? fragte sie hastig, mitten in einem Schluchzen.
Ja, sagte Amelia, entsetzt über den Ausdruck in Myladys Gesicht. Aber —
das heißt, nicht so, daß ich ihn wieder erkennen würde . . .
Lady Elizabeth saß schweigend da und starrte ausdruckslos mit ihren roten,
geschwollnen Augen vor sich hin. Sie hielt das spitzenbesetzte Taschentuch vor den
Mund und biß in einen der Zipfel.
Amelia, sagte sie langsam, mit offenbarer Anstrengung, ohne das Mädchen
anzusehen . . . Und dann, sich unruhig erhebend: Nein, wir wollen in mein Schlaf¬
zimmer gehn und die Tür abschließen.
Da drinnen setzte sie sich mit dem Rücken gegen das Fenster, beugte sich
hinab und strich mit beiden Händen das Kleid über ihren Knien, als ob sie schlie߬
lich doch nicht mit sich einig werden könne, was sie sagen sollte.
Amelia sah, wie nervös, zermartert, voller Angst sie war — sie, die sonst
immer so ruhig und so gleichgiltig offenherzig zu sein Pflegte.
Mylady, flüsterte Amelia und kniete neben ihr nieder. Sagt es mir. Jetzt —
ehe jemand kommt.
Ach. Amelia, jammerte sie, und die Tränen fingen wieder an aus ihren Augen
zu strömen. Ich weiß nicht, was ich glauben oder denken soll . . . Ich glaube
es nicht . . . Nein nein . . . Das Würde ihm gar nicht ähnlich sehen . . .
Amelia lag auf den Knien und sah mit ihren klaren, runden Augen zu ihr
empor und konnte sie nicht verstehn.
Lady Elizabeth erhob sich und ging unruhig auf und nieder.
Wilfred, sagte sie plötzlich — der kleine Wilfred von daheim, aus Alnwick,
das ist der klügste und ergebenste von allen meinen Pagen . . . Nicht wahr? . . .
Glaubst du nicht auch? . . .
Ich weiß nicht, Mylady. Ich weiß nicht, was Mylady meint, sagte die arme
Amelia.
Schicke ihn mir hierher, befahl Elizabeth schnell, plötzlich sehr bestimmt. Laß
ihn hierher kommen. Gleich, Amelia.
Sie wartete nicht einmal, bis Amelia zur Tür hinaus war, sondern setzte
sich sofort an das Fensterbrett, wo ihr Schreibzeug stand, und fing schnell an zu
schreiben.
Als Amelia mit Wilfred zurückkehrte, hatte sie den Brief beendet und er¬
hob sich.
Geh, Amelia, sagte sie in ihrer alten einschmeichelnden und befehlenden Weise.
Der Ausdruck in ihrem Gesicht war jetzt ein ganz andrer als bisher, viel ruhiger.
Geh, mein Kind. Ich will mit Wilfred reden.
Und als sich Amelia gehorsam in eine Ecke des großen Zimmers zurückge¬
zogen hatte, legte Elizabeth den Arm um den Hals des Knaben und strich ihm
das Haar aus der Stirn. Hast du mich lieb? fragte sie einschmeichelnd und sah
ihm in die Augen. Willst du mir einen großen Gefallen tun?
Wilfred war ungefähr sechzehn Jahre alt. Er errötete bis an die Haar¬
wurzeln und schwur — was auch der Wahrheit entsprach —, daß er für Mylady
in den Tod gehn würde.
Und dann gab sie ihm den Brief, den er unter seinem Hemd barg, und sie
flüsterte lange mit ihm und sprach so leise, daß Amelia, die, und hätte es ihr Leben
gegolten, nicht lassen konnte zu lauschen, dennoch kein Wort hören konnte. Schlie߬
lich küßte sie ihn auf die Stirn und sagte laut:
Geh mit Gott, Wilfred, und komme bald wieder. Sobald du kannst. Bald.
Als er gegangen war, setzte sie sich wieder an das Fensterbrett und legte den
Kopf auf beide Arme. Amelia konnte sehen, daß sie zitterte, konnte sie seufzen
und schluchzen hören. Und obwohl sie sich beleidigt fühlte und eifersüchtig auf
Wilfred war, so schlich sie dennoch zu ihr heran.
Lady Elizabeth erhob den Kopf. Ach, Amelia, sagte sie und reichte ihr un¬
gekünstelt die Hand, mit Tränen in den Augen und mit ihrem schönen, sanften
Lächeln. Ich hatte dich ganz vergessen.
Da nahm Amelia sie in ihre Arme und sagte, sie verlange nicht die Ge¬
heimnisse ihrer Herrin zu wissen und bemühe sich auch nicht, sie zu erforschen.
Aber wenn Mylady nicht mehr glaube, daß sie sich auf sie verlassen könne, so ...
Ach, du dummes Mädchen . . . sagte Lady Elizabeth und strich ihr über das
Haar, wie sie es bei dem Knaben getan hätte. Es ist ja nur das, daß ... ich
es nicht sagen kann.
Und dann brach sie wieder in Tränen aus.
Spät am Nachmittag erfuhren sie, daß Sir Thomas, der durch den Hals
geschossen war, bei dem Bader an der Ecke von Pakt Malt, wohin man ihn sofort
gebracht hatte, gestorben war. Zwei von den Mördern waren entkommen, man
wußte nicht wohin; aber der dritte, der ein Ausländer zu sein schien, ein ganz
unwissender Kerl, war glücklicherweise ergriffen und in das Gefängnis von Newgate
gebracht worden. Am nächsten Morgen sollte er verhört werden.
?oogs I^on cet tds Rortlis . . .
Wilfred ging mit der Laterne voran — vorsichtig die Schilder an den Häusern
beleuchtend, deren phantastisch und primitiv geschnitzte oder gemalte Sterne Und
Tiergestalten in dem Schneegestöber und der unsichern Beleuchtung schwer zu unter¬
scheiden waren. Ihm folgte Lady Elizabeth, die eine Hand unterm Mantel, die
andre oben am Kinn,^ um die Kapuze zusammenzuhalten, die tief ins Gesicht hinein¬
gezogen war.
Ist es nicht hier, Willy? fragte sie ängstlich. Ist dies nicht der Marktplatz
bei Covent Garden?
Nein, Mylady, nein ... Wir sind bei Charing Croß.
Wie kannst du dessen so sicher fein, Willy? fragte sie ein wenig gereizt. Du
bist ja kaum solange wie ich in London gewesen.
Mylady kann selbst die Köpfe da oben sehen, sagte er und zeigte in die Höhe,
seiner Sache ganz sicher. Das sind ein paar von den Whigverrätern . . .
Lady Elizabeth sah sich um und guckte zu den abgeschlagnen Köpfen auf den
Pfählen empor. Das schien sie zu überzeugen, denn sie sagte nichts mehr, sondern
folgte gehorsam dem Knaben.
Willy . . . ich verliere meinen Schuh . . .
Sie waren jetzt nach dem Strand abgebogen, und er setzte die Laterne auf eine
schneebedeckte Treppe, während er ihr kniend half, den Schuh wieder zu befestigen.
Sie stützte die Hand gegen seine Schulter und lachte nervös — verlegen und be¬
schämt —, völlig darüber im klaren, daß sie dem armen Jungen durch ihre Un-
behilflichkeit und Ungeschicktheit mehr Mühe machte, als sie sollte.
Sind wir denn noch nicht bald da, Willy? fragte sie wieder.
Doch, Mylady . . . aber es schneit so stark.
Alle Häuser sehen gleich aus, finde ich.
Ja, und ich bin ja auch erst einmal dagewesen . . . mit dem Brief.
Lady Elizabeth trabte mutig dahin durch die nassen Schneewehen. Dann und
wann — wenn der Knabe unschlüssig wurde und dastand und an den Straßen¬
ecken auf und nieder leuchtete — seufzte sie ungeduldig.
Der Gedanke, daß Henry Percy einer von Sir Thomas Mördern war oder
wenigstens Mitwisser und in die Angelegenheit verwickelt, ließ ihr keine Ruhe.
Ihr war augenblicklich, sofort nach dem bedauerlichen und grauenhaften Ereignis,
von dem sie beinahe Augenzeuge gewesen war, der Gedanke gekommen, und je
mehr sie über die Sache nachdachte, um so sicherer fühlte sie, daß sie Recht hatte.
Daß Königsmark, den alle andern schon als den Urheber des Mordes bezeichneten,
es getan haben konnte, fiel ihr auch nicht einen Augenblick ein. Dahingegen
klangen ihr während dieser fürchterlichen vierundzwanzig Stunden fortwährend
Harrys Worte von jenem Abend im Garten: Ich könnte Sir Thomas erschießen,
in den Ohren und erfüllten sie mit einer Angst und Unruhe, die doppelt uner¬
träglich wurde, weil sie — aus Angst, daß andre ihren Verdacht teilen könnten —
begriff, daß sie ihn um jeden Preis verbergen mußte. Gleich gestern Nachmittag
hatte sie Wilfred mit einem Brief nach Kapitän Percys Wohnung (die zu erforschen
ihr schon längst gelungen war) entsandt und durch den Knaben, der mit ihm ge¬
sprochen hatte, erfahren, daß er verwundet war und seinen rechten Arm nicht ge¬
brauchen konnte. Er hatte auf seinem Bett gesessen — erzählte Wilfred, als er
von seiner Expedition nach Hause kam —, den Arm in der Binde, und hatte den
Brief gelesen ...
Und dann? hatte Lady Elizabeth gefragt. Was tat er dann?
Er lächelte ... Der Knabe schlug die Augen vor ihrem ängstlichen, beinahe
hungrigen Blick nieder. Und dann las er den Brief ein oder zweimal und steckte
ihn unter sein Wams. Und er bat mich, Mylady tausendmal zu danken und zu
sagen, sobald er seine Hand wieder gebrauchen könne, würde er schreiben . , .
Und nicht ein Wort konnte er dir mitgeben ... Nicht ein einziges Wort . . .
Nein, sagte Wilfred, kurz, verwirrt und wunderlich eifersüchtig bei dem Klang
dieser ungekünstelt klagenden, unruhigen und zärtlichen Stimme.
Und er wollte auch nicht sagen, wie — wann er verwundet worden war?
Danach habe ich nicht gefragt, Mylady.
Es war am Abend um elf Uhr, als Lady Elizabeth diesen Bescheid erhielt,
und sie konnte nicht schlafen. Sie lag still auf ihrem Bett, das Gesicht der
Wand zugekehrt, und wagte, zum erstenmal in ihrem Leben, nicht laut zu jammern,
obwohl niemand etwas Auffallendes darin gefunden haben würde, wenn man be¬
dachte, wie jammervoll sie vor kurzem ihren Bräutigam vor ihren Augen hatte um¬
kommen sehen.
Niemand im Hause dachte übrigens in den Stunden weiter an Lady Eliza¬
beth. Die alte Gräfin war nämlich — als sie endlich erfahren hatte, wie alles
zusammenhing, und welches entsetzliche Schicksal den Verlobten ihrer Enkelin fast
vor ihrer Tür betroffen hatte —- elend und angegriffen, wie sie war, sofort in
Krämpfe und dann in Ohnmacht gefallen. Die ganze Nacht war sie infolge der
Nervenerschütterung sehr krank und schwach und machte sowohl ihrer Umgebung
wie dem braven Doktor John Redcliffe viel zu schaffen. Früh am nächsten Morgen
kam Lady Sophia Wright nach Se. James' Street. Sie hatte den ganzen vorher¬
gehenden Tag in Chelsea zugebracht und hatte erst am Morgen im Bett von ihren
Dienerinnen die traurige Neuigkeit gehört. Natürlich war sie ganz außer sich vor
Entsetzen und Neugier und gab sich nicht zufrieden, bis sie beim Bader die Blut-
spuren, die von dem armen Sir Thomas herrührten, gesehen und von der Frau
des Baders selber den ausführlichen Bericht über seine letzten Augenblicke ver¬
nommen hatte. Da saß sie — erzählte später die gerührte Madame jedem, der
es hören wollte —, da auf dem Stuhl unterm Fenster, und sie hatte, so wahr
ich lebe, das Taschentuch keinen Augenblick von den Augen und weinte und
jammerte die ganze Zeit, als wenn sie und nicht Mylady Ogle mit dem guten,
seligen Herrn alle Freude und Lust verloren hätte. Bei dem Bader traf Lady
Sophia viele Menschen — auch von los Hualit.^ —, die aus demselben Anlaß
gekommen waren wie sie, und sie kehrte ganz erfrischt und neu belebt zurück von
diesem Besuch.
Lady Elizabeth wollte weder Base Sophia noch andre fremde Menschen sehen.
Sie fürchtete, auf irgendeine unbarmherzige Weise ihren eignen gräßlichen Ver¬
dacht bestätigt zu hören, und sie wußte nicht, daß man in ihren, eignen Heim
schon die Namen der verhafteten Ausländer nannte, die den Mord verübt hatten,
und darüber stritt, ob Graf Königsmark hinter der Untat stehe oder nicht.
Als es Abend wurde, konnte sie die Angst nicht länger ertragen — sie mußte
sich auf irgendeine Weise Gewißheit verschaffen. Ohne der treuen Amelia auch nur
ein Wort von ihrem Plan mitzuteilen, befahl sie ihr kurz und gut, unter keiner
Bedingung irgend jemand im Hanse Zutritt zu ihrem Schlafzimmer zu gewähren.
Dann ließ sie Wilfred rufen, und als er kam, stand sie — trotz Ameliens tränen¬
reichen Protesten —- schon in Mantel und Kapuze da, bereit, auszugehen.
Der junge Bursche aHute wohl, wohin sie wollte, als sie ihn hieß, ihr zu
folgen, er sagte aber nichts, und es gelang ihnen, aus dem Hause zu schlüpfen,
ohne daß jemand sie sah, und durch die Gartenpforte, die selten abgeschlossen war,
auf die Straße hinauszugelangcn. Es war schon dunkel und schneite stark.
Hier, sagte Wilfred unsicher. Er stand in einer schmalen Querstraße vor
einem kleinen Hause still, das den spitzen Giebel nach der Straße hinauskehrte.
Lady Elizabeth seufzte tief auf. — Glaubst du? fragte sie ängstlich — bist
du sicher, daß es hier ist?
Ja, sagte der Knabe mit mehr Zutrauen — er untersuchte mit der Laterne
die niedrige Eingangstür. Hier ist es.
Lady Elizabeth raffte ihr beschneites Kleid zusammen, schüttelte es leicht und
schickte sich an, die schmale Treppe hinauszulaufen.
Nein, Mylady . . . sagte Wilfred abwehrend und verlegen — das geht nicht
an. Sie ist eine sehr gottesfürchtige Person, die Witwe, der das Haus gehört,
und wenn sie ein junges Fräulein so zu nächtlicher Zeit kommen sähe, so . . .
Ein Fräulein, wiederholte Lady Elizabeth mechanisch, halb erstaunt. Nie bis
zu diesem Augenblick war es ihr richtig klar gewesen, daß Lady Elizabeth Percy
für Leute, die sie nicht kannten, nur ein gewöhnliches junges Fräulein war und
sich folglich nicht alles erlauben durfte.
Geh du hinein, sagte sie ungeduldig, und sprich mit dem Kapitän. Mich
sieht niemand, wenn ich still im Schatten der Treppe gegen die Mauer gelehnt
stehe ...
Wilfred entfernte sich widerstrebend mit der Laterne. Lady Elizabeth preßte
sich dicht an die Wand des Hauses und machte sich so dünn und schmal wie nur
möglich in ihrem langen Mantel. Zwei berauschte Männer schwankten aus einem
Keller auf der gegenüberliegenden Seite der Straße und gingen an ihr vorüber,
ohne nach der Ecke hinzusehen, wo sie stand. Aber sie war einen Augenblick ganz
kalt vor Angst.
Im nächsten Augenblick aber hörte sie drinnen im Hause Hcirrys Stimme,
empört und ängstlich; er und Wilfred kamen auf die Treppe heraus.
Mylady . . . flüsterte der Knabe und leuchtete mit der Laterne von der Treppe
herunter. Ach, still! sagte Lady Elizabeth ungeduldig. Sie hatte das Geländer
schon ergriffen und lief schnell die wenig Stufen hinan. Mit der linken Hand
griff Harry nach ihr und zog sie gleich in einen finstern Gang.
Sie konnte nichts sagen — ihr Herz pochte noch so stark — aber sie fühlte
sich ganz ruhig. Sonderbarerweise hatte sie in dem Augenblick, als sie seine Hand
berührte und seine Stimme hörte, ihren Verdacht und weshalb sie eigentlich ge¬
kommen war, vollständig vergessen.
Laß mich hinein, Harry, murmelte sie — noch ein wenig klagend und ängst¬
lich, aber mit einem schwachen, gleichsam entschuldigenden Zittern eines Lachens in
der Stimme. Wilfred kann wohl hier bleiben?
Nein, ich habe eine Kammer, in der Wilfred warten kann . . .
Er öffnete eine Tür, und sie kamen in ein kleines leeres Zimmer, in dem es
warm war und nach Torfrauch von der Feuerstätte roch. Henry Percy ging als
letzter hinein und verschloß die Tür hinter ihnen mit einem eisernen Riegel.
Da steht Wein im Krug, Junge, und du kannst die Laterne hier behalten,
sagte er kurz zu Wilfred. Er selber nahm das Licht vom Tisch. Um Himmels
willen öffne niemand — und sollte Feuer im Hause sein.
Während er noch sprach, stieß er mit der Schulter gegen eine andre wei߬
gemalte Tür, die angelehnt war. Er verneigte sich tief, als Lady Elizabeth leicht,
ein wenig verlegen an ihm vorüberglitt.
Das zweite Zimmer war viel größer. In der einen Ecke stand ein dunkles
geschnitztes Bett mit einem Betthimmel darüber, und in der Mitte ein großer,
viereckiger, mit Büchern bedeckter Tisch. Ein Hut, ein Paar Sporen und Harrys
lange Handschuhe lagen oben auf einem Haufen Papier, und daneben stand eine
Kanne mit Bier und lag eine lange Tonpfeife.
Die Laden vor den Fenstern waren schon geschlossen, und ein Stiefelknecht
stand unter dem langen blauen Rock, der an einem Haken an der Wand hing.
Bei dem Schein des Lichts in Harrys Hand sah Lady Elizabeth das alles mit
einem einzigen Blick. Das Zimmer glich seiner Stube in Alnwick, fand sie.
Keins Von beiden sprach. Harry kehrte nach der Tür zurück und drehte
mechanisch, der größern Sicherheit halber, den Schlüssel noch einmal um. Sie
begann unbeholfen ihren langen, beschneiten Mantel aufzuknöpfen, konnte aber das
Band nicht lösen, das die Kapuze unter dem Kinn zusammenhielt.
Kannst du mir nicht helfen, Harry? ... Sie hauchte auf die Finger, die
steif gefroren waren, und sah nicht auf.
Nein — er trat näher an sie heran — ich kann mit meiner rechten Hand
nichts machen ... .
Endlich gelang es ihr, den Knoten zu lösen. Sie warf Mantel und Kapuze
auf einen Stuhl und ging zu ihm hin — Plötzlich wieder erfüllt bon derselben
Angst, die sie den ganzen Tag gepeinigt hatte.
Ich mache mir nichts daraus — gar nichts —, wenn du es getan hast, aber
ich mußte zu dir .. . Ach, Harry ... , >
Sie hatte beide Hände auf seinen gesunden Arm gelegt und sah ihm un¬
ruhig, ängstlich betrübt, scheu forschend in die Augen. Wie jeder Mensch in London,
hatte er natürlich schon von der Ermordung Sir Thomas Thynnes gehört Und
wußte sofort — schon allein aus dem Ausdruck in ihrem Gesicht und aus dem
Klang ihrer Stimme, was sie von ihm glaubte.
Du glaubst, daß ich es getan habe? sagte er laut, langsam, erstaunt.
Jetzt nicht mehr — jetzt nicht mehr, Harry ... in ihrer Freude, in der
unfaßbarer Freude, die sie empfand, drückte sie seinen Arm fest und schmiegte sich
eng an ihn.
Aber ich dachte mir ... murmelte sie. Kannst du nicht verstehn, daß ich
es dachte?
Ja, sagte er ganz offen, ohne auch nur einen Augenblick entsetzt oder empört über
ihren Verdacht zu sein . . . Das kann ich sehr wohl verstehn . . . Und Gott weiß,
was ich hätte tun können, fügte er leiser hinzu, falls . . .
Er sah auf sie hinab — ihre Lippen bebten, und ihre Augen füllten sich mit
Tränen.
Sprechen wir nicht mehr davon, flüsterte sie. Es war ... es war schrecklich.
Jetzt aber, wo sie wußte, daß Henry Percy unschuldig war, dachte sie nicht
mehr daran und kümmerte sich nicht weiter darum, wer ihren Bräutigam ge¬
tötet hatte.
Und du hast gar nicht auf meinen Brief geantwortet, murmelte sie vorwurfs¬
voll. Er hatte jetzt den gesunden linken Arm um ihre Taille geschlungen, und
ihr Kopf ruhte an seiner Brust, dicht unter seinem Gesicht. Ihre Wangen hatten
wieder Farbe bekommen, und aus ihren Augen strahlte Zärtlichkeit und Wärme.
Ich konnte wirklich nicht! verteidigte er sich ernsthaft.
Konnte nicht, konnte nicht — sprach sie ihm nach. Nein, wirklich, er kann
nicht „Elizabeth" mit seiner linken Hand schreiben! Und dann sagt er, daß er
mich liebt!
Das tut er auch! sagte Henry Percy. Er lachte laut — konnte sich nicht
satt sehen an ihrem Gesicht.
Gott weiß! du hast mir nicht geschrieben — nicht eine Silbe. Und ich
habe — in diesen letzten Monaten — lange, lange Briefe an dich geschrieben,
über die ich geweint habe, und die ich dann zerrissen und verbrannt habe . . . Ach,
du weißt nichts — sie richtete sich auf und lehnte sich in seinen Arm zurück. Du
weißt nichts — nichts ...
Ja, Elizabeth, sagte er ernsthaft, so gedämpft, daß sie fast Mühe hatte,
die Worte aufzufangen, und seine Augen, die in diesem Augenblick den ihren
begegneten, hatten einen Ausdruck, der ihr plötzlich in seinem Arm noch wärmer
machte. Jetzt weiß ich, daß du die ganze Zeit Recht gehabt hast, und ich hatte
Unrecht. Ich habe versucht Mir alle Türen selbst zu verschließen, habe dir Hohn
und Härte gezeigt, habe andre Frauen zwischen uns gestellt, Sünde und Ver-
irrungen auf dem Wege aufgehäuft, der von mir zu dir führte. Weil ich zu stolz
war, weil du mehr zu geben hattest als ich, der ich doch ein Mann war ... Ich
Tor! — du bist gekommen — mit der Spitze deines Fußes hast du alle Hinder¬
nisse beiseite gestoßen; dein Hauch hat alle häßlichen Gedanken weggeweht, hat
die Luft um mich her rein gemacht. Meinen Stolz, den ich von Stahl und Eisen
glaubte, hast du zwischen deinen Fingern zerbröckelt, als sei er ein sprödes, ver¬
welktes Blatt. Sieh, meine Geliebte — er zog sie fester an sich und sprach leise,
fast in ihr Ohr hinein — ich glaube nun weder an Ehre oder Unehre, weder
an Reichtum noch an Armut. Ich glaube nur an dich — wie du hier bei mir
stehst — an dein Herz, das ich gegen meine Hand Pochen fühle, und an das Licht
deiner lieben Augen ... Er fiel vor ihr auf die Knie, schlang seinen starken Arm
fest um sie und barg sein Antlitz in ihrem Kleide. Bleibe bei mir, bettelte er.
Sie schwankte in seinem Arm, konnte sich nicht rühren, so fest hielt er sie —
stützte sich mit beiden Händen gegen seinen Kopf. Sie lachte vor Glück, war rot
und heiß, ihre Augen glänzten von Tränen.
Harry, sagte sie — und wie einen Kamm führte sie ihre Finger durch sein
langes Haar. Vorhin — damals, als ich kam — wollte ich wieder weggehn —
es war meine Absicht — ich wollte wieder gehn. Aber ich kann nicht . . . Meine
Füße sind wie Blei, es ist mir unmöglich, sie aufzuheben. Sieh — ich kann nicht
von dir gehn ...
Sie machte einen schwachen Versuch, sich loszureißen — er hielt sie noch fester
und hob sein dunkles, strahlendes Antlitz zu dem ihren empor.
Sie stand da, die Hände auf seine Schultern gelehnt, und lächelte auf ihn
hinab — ebenso entzückt, ebenso voller Wonne wie er, ohne alle Angst. Dann
seufzte sie leicht, wandte den Kopf halb über die Schulter und sah nach der Tür.
Sie ist geschlossen, sagte Henry Percy gedämpft. Wir sind allein.
Zu der an dieser Stelle und danach auch sonst in der Presse mehrfach erörterten
Frage, die Schutztruppen — um die so wenig sympathische und wenig sachliche Be¬
zeichnung beizubehalten — von der Kolonialverwaltung zu trennen und dem Kriegs¬
ministerium zu unterstellen, hat sich neuerdings eine Stimme im Berliner Lokal¬
anzeiger geäußert, die die Urtümlichkeit einer solchen Änderung darzutun sich bemüht
zeigt. Es wird unter anderm darin behauptet, eine solche Reform sei ohne Ver¬
fassungsänderung nicht durchführbar: die Schutztruppe sei eine Reichstruppe. Würde
ihr Oberkommando dem preußischen Kriegsministerium unterstellt, so läge darin ein
Eingriff in die Rechte der Bundesstaaten und eine Schmälerung ihrer Kompetenzen.
Auch könnte man in einer solchen Neuerung den Anfang zur Ausbildung eines
Reichskriegsministeriums und einer Reichsarmee ersehen. Die Berufung auf das ost¬
asiatische Expeditionskorps, das seinerzeit dem Kriegsministerium unterstellt worden sei,
(in seinen Resten bis auf den heutigen Tag unterstellt ist), sei nicht zutreffend; es
sei dies ein durch dringendste Eile gebotuer Ausnahmefall gewesen, die Schutztruppe
sei dagegen eine ständige Organisation und müsse auf andre gesetzliche Grundlage
gestellt werden.
Hierauf ließe sich Wohl erwidern, daß tatsächlich kein einziger Artikel der
Reichsverfassung vorhanden ist, der von Kolonien und Schutztruppen handelt und
folglich auch keiner, der geändert werden könnte oder müßte. Zur Zeit der Er¬
richtung der Reichsverfassung war von Kolonien und Schutztruppen noch keine
Rede. Alle Artikel der Verfassung dagegen, die sodann in Betracht kommen, das
heißt die Artikel 63 bis 66, sprechen im Gegenteil für die Unterstellung der ge¬
samten bewaffneten Macht, soweit sie nicht der Marine angehört, unter das preußische
Kriegsministerium als Organ des kaiserlichen Oberbefehls. Dieselbe kaiserliche Be¬
fugnis, die Kiautschou der Marine unterstellte, ist völlig ausreichend, die afrikanischen
Schutztruppen, denn um diese allein handelt es sich, dem Kriegsministerium zuzuweisen.
Ein Eingriff in die Rechte der Bundesstaaten und eine Schmälerung ihrer Kompetenzen
ist dabei um so weniger möglich, als in Etatsangelegenheiten das preußische Kriegs-
ministerium eine Nachgeordnete Behörde des Reichskanzlers ist und außerdem die
Bundesstaaten bei der Genehmigung des Etats durch den Bundesrat vollständig
Gelegenheit haben, ihre verfassungsmäßigen Rechte geltend zu machen. In welchem
Abschnitt des Gesamtreichshaushalts die betreffenden Etatstitel auch stehn mögen —
verantwortlich bleibt der Reichskanzler und zuständig der Bundesrat. Es genügt,
darauf hinzuweisen, daß sich im preußischen Teile des Militäretats die Posten für
die „kaiserlichen" Gouvernements und Kommandanturen von Metz, Straßburg und
Ma befinden, es ist aber noch niemand eingefallen, hierin Ansätze zu einem Reichs¬
kriegsministerium oder zu einer Reichsarmee zu sehen, obgleich das vielleicht viel
näher läge als bet der Einstellung der Kolonialtruppen in eine Anlage zum preußischen
Militäretat. Es würde das nur eine Art Personalunion in der obersten Verwaltung
sein, wie wir sie zum Beispiel bei den Reichscisenbahnen in Elsaß-Lothringen auch
haben. Der preußische Eisenbahnminister ist Chef der Verwaltung der Reichseisen¬
bahnen in Elsaß-Lothringen, und es ist bisher noch nicht bekannt geworden, daß
irgendeine der verbündeten Regierungen hierin einen Eingriff in ihre Kompetenz
gefunden hätte, obgleich diese Einrichtung nicht nur von großer Wichtigkeit für
Baden und die Pfalz, sondern auch verfassungsrechtlich von viel größerer Be¬
deutung ist als die etatsmäßige Verwaltung von 6000 bis 8000 Soldaten in Afrika
durch den preußischen Kriegsminister. Wollte man auf andre Anomalien im Reichs¬
dienste eingehn, so könnte man zum Beispiel darauf verweisen, daß während im
Postdienst allgemein der Reichsadler eingeführt ist, die PostVerwaltung überhaupt
verfassungsrechtlich „kaiserlich" ist, die Beamten die Landeskokarden tragen. Bei den
Truppen in China, um auf diese zurückzugreifen, ist überdies doch auch noch manches
geschehen, was über den eiligen Notbehelf hinausging. Sie haben kaiserliche Fahnen
erhalten, Fahnen mit dem Reichsabzeichen, und haben den kaiserlichen Adler getragen;
bei dem in Tientsin stehenden Rest ist das heute noch der Fall. Als das Ex¬
peditionskorps seinerzeit aufgeboten wurde, war keineswegs vorauszusehen, auf
welchen Zeitraum es beansprucht werden würde, oder ob es sich dabei nicht ganz
oder teilweise um eine längere, wenn nicht gar eine dauernde Einrichtung handeln
könnte. Wäre es zum Beispiel zu einer dauernden internationalen Besetzung
von Shanghai gekommen, wie es eine Zeit lang mit vollem Recht in den Ab¬
sichten der deutschen Politik lag, so würde der deutsche Garnisonanteil von Shanghai
doch eine dauernde Reichseinrichtung unter dem preußischen Kriegsministerium ge¬
worden sein. Im Sinne des Artikels im Lokalanzeiger aber müßten die Truppen,
die wir heute noch in China haben, eigentlich vom Auswärtigen Amt aus verwaltet
werden. In diesem Zusammenhange mag dann noch daran erinnert werden, daß
auch das Reichsmilitärgericht seine formelle Vertretung im Etat und vor dem Reichs¬
tage durch das preußische Kriegsministerium findet.
Die europäischen Truppen in unsern Schutzgebieten müssen in Deutschland
formiert, aufgestellt und ausgerüstet, von hier aus transportiert, mit Nachschub,
Proviant, Munition usw. versehen werden. Hierzu hat das Kriegsministerium alle
Einrichtungen, die Kolonialabteilung dagegen hat sich ihre Einrichtungen äußerst
mangelhaft und unter unermeßlichen Kosten nur durch Abschlüsse mit einzelnen
Firmen beschaffen können. Der Transport der Truppen ist z. B. ganz unverhältnis¬
mäßig teurer dadurch geworden, daß nicht die Seetransportabteilung des Kriegs¬
ministeriums, sondern eine Hamburger Firma für Rechnung der Kolonialabteilung
damit betraut war. Es ist aber auch sonst gar kein Grund vorhanden, weshalb
mit dem Militärwesen anders Verfahren werden soll als z. B. mit dem Post- und
Telegraphenwesen in den Kolonien, das ebenfalls nicht von der Kolonialabteilung,
sondern von seiner sachlich zuständigen Zentralstelle verwaltet wird. So lange es sich
in Südwestafrika um eine Handvoll Reiter handelte, denen zugleich alle möglichen
andern Dienstleistungen oblagen, mochte die Sache hingehen. Jetzt aber, seitdem
geschlossene größere Truppenverbände verschiedner Waffen bestehen, erscheint es nicht
länger tunlich, sie von der Armee, aus der sie hervorgehen, die ihre Lücken ausfüllen
muß und mit der sie durch ihre Offiziere verbunden bleiben, zu trennen. Das Kolonial¬
ressort ist ohnehin umfangreich genug und hat auf Jahrzehnte hinaus hinreichend
Aufgaben schwierigster Art zu bewältigen, irgendeine sachliche Notwendigkeit, es auch
noch mit einer rein militärischen Verwaltung zu belasten, bei der es schließlich doch
auf die Armee angewiesen und von ihr abhängig bleibt, ist nicht erkennbar. Man sollte
eigentlich meinen, daß die Kolonialverwaltung sehr froh sein müßte, wenn das Kriegs¬
ministerium ihr diese Aufgabe abnähme, schon deshalb, weil sich damit auch die Ver¬
tretung des Kolonialetats vor dem Reichstage wesentlich vereinfachen würde. Das
Kriegsministerium genießt, zumal unter der Leitung des jetzigen Kriegsministers, beim
Reichstage einen sehr guten Kredit, der sich dann auch wohl auf diesen Punkt
ausdehnen würde, während die militärischen Ausgaben der Kolonialverwaltung fast
unvermeidlich auf Mißtrauen stoßen werden, was dann leicht wieder von neuem
dazu führen würde, sie auf Kosten ihrer Zweckmäßigkeit zu verringern.
Es bleibt nun noch übrig, die Frage von entgegengesetztem Standpunkte, dem
des Kriegsministeriums, zu prüfen. Für den Kriegsminister oder für das Kriegs¬
ministerium würde die Aufnahme der Kolonialtruppen eine nicht geringe dauernde
Mehrbelastung an Arbeit und Verantwortlichkeit bedeuten, das würde für das
preußische Kriegsministerium selbstverständlich nicht maßgebend sein. Für die Er¬
gänzung der Schutztruppen hat es ja ohnehin sorgen müssen, und es wird das
auch in Zukunft tun, auch die Korrespondenz darüber mit den drei andern Kriegs¬
ministerien von Bayern, Sachsen und Württemberg hat es führen müssen. Auf weitere
Einzelheiten der letzten Jahre soll hier nicht eingegangen werden, aber sie fallen
alle in derselben Richtung ins Gewicht. Auch der Umstand, daß es sich bei den
Kolonialtrnppen um freiwillige, bei der ganzen übrigen Armee um ausgehöhlte
Mannschaft handelt, kann nicht als maßgebend in Betracht kommen. Erstens bleibt es
fraglich, ob wir uns in den Schutzgebieten auf die Dauer mit freiwilligen Mann¬
schaften behelfen können, oder ob bei plötzlich notwendig werdenden Verstärkungen
nicht schließlich doch geschlossene Truppenteile, vorbehaltlich der Untersuchung für
den Tropendienst, abkommandiert werden müssen. Irgendwelche verfassungsmäßige
Bedenken, von denen wiederholt in einzelnen Zeitungen die Rede war, stehn dem
durchaus nicht im Wege. Die Armee ist für die Verteidigung der Reichsinteressen
da, gleichviel wo diese Interessen gefährdet sind. Wenn es zum Beispiel notwendig
werden sollte, in einem Kriege mit Frankreich Algier zu besetzen, das jn bekanntlich
auch in Afrika liegt, so würde doch nicht der geringste Zweifel darüber entstehn
können, ob die Armee dazu verwendbar wäre oder nicht. Obendrein sind diese
freiwilligen Truppen doch durchweg Mannschaften, die dem Heere angehören, im
Heere ausgebildet sind, noch unter den Fahnen stehn und von der Armee erst ge¬
wissermaßen zu dem Kolonialdienst beurlaubt werden, bevor sie ihre gesetzliche Dienst¬
pflicht in der Armee erfüllt haben! Die beiden Kategorien der bewaffneten Macht
fließen so eng ineinander — die krank oder verwundet heimkehrenden müssen in
die Lazarette der Armee, die Arrestanten in die Gefängnisse der Armee aufgenommen
werden —, daß wirklich die ganze Haarspalterei, deren wir Deutsche sähig sind,
dazu gehört, unterscheidende Merkmale aufzustellen, die die Schutztruppen von der
Armee trennen. Und wie ist es mit der Militärjustiz? dem Militärmedizinalwesen?
Von dem Augenblick an, wo in Südwestafrika geschlossene Regimenter mit allen
Chargen aufgestellt werden, ist ihre Trennung von der übrigen Armee auf die
Dauer nicht aufrecht zu erhalten. Wie sollte es gar werden, wenn Kolonialtruppen
in Deutschland garnisonierten, um von hier aus nach Bedarf in die Kolonien zu
gehn und die sich dort befindenden Truppen zu verstärken oder abzulösen?
Eine weitere Einwendung, der man begegnet, ist die, daß die Gefahr vor¬
liege, diese Truppen auf die Gesamtstärke des Heeres angerechnet zu sehen, während
tatsächlich die Armee nicht frei darüber disponieren könne, und sie namentlich für
die heimatliche Kriegsgliederung nicht mit in Betracht gezogen werden dürfen. Das
Kriegsministerium würde sich aber Wohl einem solchen Beschlusse des Reichstags
gegenüber, falls er jemals zu befürchten sein sollte, was kaum glaublich ist, mit
gutem Recht abwehrend verhalten können, außerdem stünde ihm der Artikel 5 der
Reichsverfassung zur Seite, laut dem bei Gesetzvorschlägen über das Heerwesen dem
Kaiser ein Vetorecht zusteht, sobald er sich für die Aufrechthaltung der bestehenden
Einrichtungen ausspricht.
Jn dem erwähnten Artikel ist sodann noch darauf hingewiesen, daß auch die
Marine ihrer ganzen Organisation nach nicht ohne weiteres geeignet erscheine, das
Oberkommando der Schutztruppen in ihren Befehlsbereich aufzunehmen, „obwohl
ihr allerdings zurzeit schon die Marineinfanterie unterstellt ist". Diese letzte
Bemerkung zeigt, daß dem Verfasser des Artikels die eigentliche Bestimmung der
Marineinfanterie, der Seebataillone, nicht ohne weiteres klar ist. Die Seebataillone
sind keine Truppe für den Kolonialdienst, auch nicht für überseeischen Dienst, sondern
ihre Bestimmung ist, der Kern der infanteristischen Verteidigung von Kiel, Wilhelms-
hciven, der Küstenbatterien usw. zu sein, einen Zweck, für den sie im Kriegsfall die
notwendigen Formationen durch ihre starken Reserven leicht annehmen können.
Die Entsendung nach China war seinerzeit möglich, weil man in einem Augenblick
des Zusammenwirkens aller europäischen Mächte mit einem heimatlichen Kriegsfalle
nicht zu rechnen brauchte, trotzdem mußte für Ersatz in der Heimat gesorgt werden.
Dann hat man noch einmal zur Entsendung von Marineinfanterie nach Südwest¬
afrika gegriffen, aber auch das geschah nicht ohne Bedenken und unter Störung
des Mobilmachungsplanes der Marine für den Fall eines europäischen Krieges.
Kleinere Entsendungen haben nach Ostafrika und Kamerun stattgefunden. Jeden¬
falls können solche Notbehelfe nicht zu einer dauernden Institution gemacht werden,
die Marineinfanterie kann für den Kolonialdienst nur sehr vorübergehend und bei
ganz ausnahmsweise« Notfällen in Betracht kommen! Nun ließen sich ja aller-
dings die afrikanischen Truppen ebensogut wie die in Kiautschou als Marineteile
aufstellen, aber Kiautschou ist in erster Linie ein Flottenstützpunkt, in Afrika würde
die Marine mit Aufgaben belastet, die völlig außerhalb ihrer Sphäre liegen.
Es wird nun der Vorschlag gemacht, das Kolonialamt in zwei selbständige
Ressorts zu teilen, von denen das eine die eigentliche Kolonialverwaltung, das andre
das Oberkommando der Schutztruppen umfassen solle. Um ein eignes Ressort
zu bilden, ist dieses wie gesagt dauernd auf die Armee angewiesne „Ober¬
kommando" doch nicht selbständig genug. Es würde das den Eindruck machen, als
schaffe man etwas Unnatürliches, nur um im Kolonialressort eine militärische Macht¬
fülle zu erhalten, bereichere man die bewaffnete Macht des Reiches neben der
Armee und der Marine noch um eine dritte, nichts weniger als ebenbürtige und
völlig unselbständige Instanz. Selbstverständlich würde es sich bei der Unterstellung
unter das Kriegsministerium nur um die Organisation und die Verwaltung der
Truppen handeln können, ihre Dislokation und Verwendung in den Schutzgebieten
bliebe Sache der Gouverneure, in einzelnen Punkten würde wohl auch der Generalstab
der Armee mitzusprechen haben, abermals ein Grund mehr, der für die Erhaltung des
Zusammenhangs zwischen diesen Truppen und dem Heere spricht. Der leitende Grund¬
gedanke wird immer der sein und bleiben müssen, daß nach Abtrennung der Polizei
(Gendarmerie) die eigentliche Garnison einen rein militärischen Charakter erhält,
den sie bei der voraussichtlich nun zu erwartenden längern Friedenszeit im engen
Zusammenhang mit der Armee am besten bewahren wird. Nachdem die bisherige
Verwaltungseinrichtung so vollständig versagt hat, wohl mehr als in der Öffent¬
lichkeit bekannt geworden ist, steht zu hoffen, daß nunmehr etwas dauernd brauchbares
geschaffen werden wird.
Eine andre Frage ist die, ob das preußische Kriegsministerium diese neue Or¬
ganisation ohne weiteres derart in sich aufnehmen könnte, daß das „Oberkommando
der Schutztruppen" einfach in die Leipziger Straße zu Berlin verlegt wird. Bei der
Riesenansdehnung des Heeres und seiner Mobilmachungsvorbereitung ist das Kriegs¬
ministerium in allen seinen Teilen schon so überlastet, daß die afrikanischen Truppen
und ihr Oberkommando wahrscheinlich weder in die bestehenden Abteilungen des
Kriegsministeriums eingegliedert noch als besondre Abteilung einem Departement,
dem Allgemeinen Kriegsdepartement, zugewiesen werden könnten. Es würde sich
also wohl um ein neues Departement handeln, dessen Beziehungen zum Reichs¬
kanzler allerdings geordnet werden müßten. Dieses Departement würde aber
zu schaffen sein, gleichviel ob die Truppen unter Kolonialverwaltung bleiben oder
unter militärische Verwaltung treten. Das „Oberkommando" müßte sowieso auf¬
gelöst und in ein richtiges militärisches Verwaltungsdepartement umgewandelt
werden. Entweder bekommen wir also ein Kolonialamt mit einem Kolonialdepar¬
tement und einem militärischen Departement, an dem das Kriegsministerium beauf¬
sichtigend mitzuwirken hätte, oder es wird im Kriegsministerium ein neues Depar¬
tement für Kolonialtruppen errichtet, allerdings wohl unter wesentlicher persönlicher
Belastung des Kriegsministers. Im Interesse der Kolonialtruppen wie der Armee
ist diese Lösung jedoch bei weitem vorzuziehn. Die dienstlichen Beziehungen zwischen
dem Reichskanzler und dem Kriegsminister, die dabei in Frage kommen, werden sich
leicht ordnen lassen. Offiziere und Soldaten blieben dann aber auch in Afrika An¬
gehörige des Heeres.
Empfindliche Leute in Deutschland haben sich durch die gegenseitigen Kom¬
plimentierungen unangenehm berührt gefühlt, in denen sich die Mittelmeermächte,
Spanien mit eingeschlossen, soeben bei verschiednen Anlässen ergangen haben, und
namentlich ist der italienischen Presse angekreidet worden, daß sie dabei abermals
eine starke Hinneigung zu Frankreich, zur Mittelmeer-Entente, und Abneigung gegen
Deutschland an den Tag gelegt habe. Es besteht wirklich kein Grund, diese
Äußerlichkeiten sehr ernst zu nehmen. Die Italiener sind begreiflicherweise froh,
wenn sie möglichst lange vor einem Konflikt mit Frankreich bewahrt bleiben, ebenso
wie den Franzosen ein Konflikt mit England vorläufig außerordentlich unerwünscht
wäre, sie bekomplimentieren einander, toasten aufeinander und rüsten gegeneinander.
Champagnerstimmung kann eine ganze Zeit lang vorhalten, gegen die Macht der
Interessen kommt sie doch nicht auf.
Es hat ja zunächst etwas befremdliches, daß sich das uns formell Verbündete
Italien in so lebhaften Sympathien für zwei Mächte ergeht, die eine Militärkonvention
schon abgeschlossen haben sollen, nach andrer Lesart abzuschließen im Begriff stehen,
deren Spitze sich ausgesprochnermaßen nur gegen Deutschland richten könnte. Zur Zeit
der Anwesenheit des Königs Eduard in Marienbad sind dort privatim sehr bündige
Versicherungen im Umlauf gesetzt worden, daß England niemals daran denken werde,
militärische Abmachungen mit Frankreich gegen Deutschland zu treffen. Es ist nicht ganz
leicht, den wirklichen Goldgehalt dieser in Marienbad in Kurs gebrachten englischen
Münzen festzustellen. England hat den großen Herbstübungen in Deutschland und
Frankreich in diesem Jahre besondre Aufmerksamkeit gewidmet, in Deutschland aller¬
dings erst auf direkte Einladung des Kaisers an den Herzog von Connaught, nach
Frankreich aber hat es den General French, den Kommandierenden des Armeekorps
von Aldershot, und den General Grierson, den Direktor der militärischen Operations-
abteilung im britischen Kriegsministerium, entsandt. Französische Blätter haben darauf
hingewiesen, daß diese beiden englischen Generale vor allen übrigen fremden Offizteren
mit besondrer Bevorzugung aufgenommen worden seien, wie das ja in der Tat auch
bei den gewechselten Trinksprüchen erkennbar geworden ist. Da feststeht, daß Eng¬
land sein herzliches Einvernehmen mit Frankreich zur unerschütterlichen Basis seiner
Politik gemacht hat, kann es kaum noch darauf ankommen, ob dieses Einvernehmen,
wie französische Stimmen verlangen, eine Ergänzung durch eine militärische Kon¬
vention findet oder nicht. Von Bedeutung würde sie ja doch erst im Kriegsfalle
werden, und daß im Kriege beide Mächte zusammengehen wollen, ist seit dem ver¬
gangnen Jahre so oft ausgesprochen und so vielfach ventiliert worden, daß darin
nichts Aufregendes liegt. Bei der Aktionsunfähigkeit Rußlands ist es durchaus be¬
greiflich, daß Frankreich bei einer andern Großmacht Schutz gegen Deutschland
sucht. Dieses Allianzbedürfnis Frankreichs ist und bleibt ein Eingeständnis seiner
Schwäche, Frankreich bringt der Entente mit England eine ganze Summe von Inter¬
essen und Lieblingsideen zum Opfer. Nun ist ja sehr Wohl möglich, daß England
die beiden Generale nach Frankreich geschickt hat, um die französische Armee daraufhin
anzusehen und zu prüfen, was sie wirklich wert ist, soweit sich das bei einem
Manöver erkennen läßt. Sie sind begreiflicherweise aufgenommen worden wie die
Vertreter eines großen Hauses, mit dem man ein gutes Geschäft abschließen möchte,
und da in Frankreich dergleichen Dinge ohne Zeitungsgeräusch nicht abgehen, so
darf man sich nicht weiter wundern, wenn auch diese angebliche Militärkonvention
ebenso wie seinerzeit die französisch-russische als eine Reklame für Frankreichs Größe
und Bedeutung in alle vier Winde hinaustrompetet worden ist, während sie tat¬
sächlich für das Gegenteil spricht. In andern Ländern Pflegt man solche Dinge
mit einer gewissen Geheimhaltung zu umgeben, aber die französische Selbstverleug¬
nung geht in dieser Beziehung so weit, daß die Zeitungen sogar die Behauptung,
General French sei dazu ausersehen, „die französische Kavallerie an den Rhein
zu führen", als eine für Frankreich höchst schmeichelhafte Sache ohne jeden Wider¬
spruch abdrucken.
Einen eigentümlichen Ton in diese französisch-englische Allianzhymne bringt
jedoch die Londoner, ministerielle „Tribune" vom 19. September. Sie veröffentlicht
in einem „Allianzen und Freundschaften" überschriebnen Artikel eine Betrachtung
über die gegenwärtig bestehenden Bündnisse und meint, England müsse sich selbst
eine Theorie konstruieren über die Art der Verbindung, „die wir mit den Nationen
wünschen, die wir in gewissem Sinne als unsre Freunde betrachten". Das Ver¬
hältnis Italiens zu Österreich lege die Frage nahe: wann ist ein Verbündeter nicht
ein Freund? Italien und Österreich seien militärisch verbündet, aber es sei be¬
merkenswert, daß die Manöver dieser beiden Grenznachbarn nicht einen gemeinsamen
Feind zum Gegenstande hätten, gegen den sie sich gemeinschaftlich richteten, sondern
daß immer einer der Verbündeten für den andern den Feind darstelle. Während
die österreichische Flotte einen Angriff auf Ancona fingiert habe (der sich doch nicht
ohne weiteres gegen eine italienische Flotte gerichtet zu haben braucht, sondern
auch gegen eine dritte, die Ancona weggenommen oder sich dort versammelt hat
und dadurch Österreich in der Adria bedroht, gerichtet haben kann), sei die italienische
Flotte nach Marseille gegangen, um mit britischen und spanischen Schiffen gemeinsam
den Präsidenten FaMres zu begrüßen, völlig uneingedenk der Tatsache, daß Frank¬
reich der Feind sei, gegen den der Dreibund gerichtet ist. Ungeachtet der instink¬
tiven Überzeugung, daß hier der Feind der Freund und der Verbündete der Feind
sei, lebe der Dreibund dennoch weiter, kontrolliere die Rüstungen und in gewisser
Hinsicht die Diplomatie Italiens und werde, fern davon zu erlöschen, sicherlich
praktisch erneuert werden. Dieses widerspruchsvolle Problem sei keineswegs ver¬
einzelt. „Während des Krieges zwischen dem Verbündeten Englands, Japan, und
dem Verbündeten Frankreichs, Rußland — ein Krieg, bei dem England und
Frankreich in zweiter Reihe standen, verpflichtet uuter gewissen Bedingungen ihren
Vordermännern Beistand zu leisten —, wurde die natürliche Freundschaft zwischen
uns und unsern Nachbarn, der Lord Lansdowne die Form gegeben hat, gegen
alle Befürchtung eiues Bruches konsolidiert und befestigt." Das ministerielle Blatt
folgert daraus, daß der alte Typus der Allianzen allmählich obsolet geworden sei
und nur noch in Gedanken von Staatsmännern weiterlebe, die einen künftigen
europäischen Krieg als unvermeidlich betrachten. „Sie kontrahieren den neuen Typus
einer Freundschaft oder Entente, die auf einem populären Instinkt beruht, den sie
nur unvollkommen verstehn, und wenn sie dann eine solche Freundschaft geformt
haben, die doch so sehr auf dem Kultus des Friedens beruht, so wissen sie kein
besseres Mittel, sie zum Ausdruck zu bringen, als die altherkömmliche Fraternisierung
der Flotten und Heere." Die neuen Freundschaften seien nicht mehr so unnatürliche
Konvenienzheiraten wie die zwischen der französischen Republik und der russischen
Selbstherrschaft, der italienischen Regierung und der Tyrannei^!), die die Existenz
Italiens leugne; sie seien Verbindungen zwischen Völkern, die gemeinsame Ansprüche
und gemeinsame Meinungen anerkennend, nicht länger den Frieden durch Vor¬
bereitung des Krieges suchen. Es sei nicht eine neue Kombination, die alten
Allianzen zu ersetzen, die in diesem Augenblick durch die Freundschaft der demo¬
kratischen Völker gebildet werde, es handle sich vielmehr um eine europäische liberale
Partei. Für England entstehe die Frage, wie sei es anzufangen, diese Freund¬
schaften zur Realität werden zu lassen, ohne sie zu dem Niveau der alten dynastischen
Allianzen zu degradieren? In diesem Sinne würde eine militärische Konvention
mit Frankreich ein Rückgang für eine Freundschaft sein, die von einem höhern Ge¬
dankenniveau ausging, ebenso wie eine verfrühte Verbindung mit einem unfreien
Rußland die Gemeinsamkeit der Prinzipien zerstören würde, die die reale Grund¬
lage zur neuen Kombination bilde.
Ob sich diese ministerielle Absage an Strömungen in England oder an Frankreich
richtet, läßt sich für den Augenblick noch nicht entscheiden. Es ist auch sehr Wohl
zulässig, daß hierin nur die Anschauungen eines Teiles des britischen Kabinetts zum
Ausdruck kommen. Immerhin ist es möglich, daß militärische Abmachungen vorbereitet
werden, die erst in dem Augenblick, wo sie in Wirksamkeit zu treten hätten, den Par¬
lamenten beider Länder vorgelegt und dann auch wahrscheinlich unbesehen Annahme
finden würden. Jedenfalls ist Frankreich in die Linie der japanisch-englischen Be¬
ziehungen eingerückt. Wie es sich mit Rußland abfinden wird, kann nur die weitere
Entwicklung lehren. Immerhin soll nicht übersehen werden, daß sich auch in Frank¬
reich Stimmen geltend machen, wie im Eclair vom 18. September, worin auf die
historischen Präzedenzfälle englisch-französischer Waffenbrüderschaft in der Krim
und in China mit sehr bitterer Miene verwiesen wird. Der Eclair stellt dabei
Frankreich als das von England umworbne hin. Sollte diese Rollenverteilung in
d
Dr. Georg Schiele hat seiner im letzten
vorjährigen Heft angezeigten Schrift sehr rasch eine zweite folgen lassen: Über
den natürlichen Ursprung der Kategorien Rente, Zins und Arbeitlohn.
(Berlin und Leipzig, Hüpeden und Merzyn, 1906.) Nach einer guten historisch¬
philosophischen Einleitung wird gezeigt, daß die Rente einen natürlichen Ursprung
habe und vor dem Rentner da sei. Vollkommen berechtigt ist dabei die Polemik
gegen Marx. Wenn, wie dieser behauptet, der „Mehrwert" dem Arbeiter gehörte
und seine Aneignung durch den Kapitalisten ein zu verhindernder Raub wäre, so
würden niemals Kirchen, Museen, öffentliche Paläste, Eisenbahnen und Bahnhöfe
gebaut, es würde kein technischer Fortschritt gemacht worden sein, es gäbe weder
Fabriken noch Lohnarbeiter noch Kunst und Wissenschaft, sondern nur Primitiv
wirtschaftende Bauern von der Art der russischen. Dagegen geben wir Schiele
nicht Recht, wenn er Rente mit Reinertrag gleich setzt. Er definiert: „Rente ist
der Mehrwert, der bei einer örtlich bestimmten Arbeit mit einiger Sicherheit und
Regelmäßigkeit wiederkehrt." Etymologisch ist das richtig. Aber der Sprach¬
gebrauch beschränkt die Bezeichnung auf den Teil des „Mehrwerth" oder Rein¬
ertrags, der auf Grund eines Rechts oder Besitztitels einem weder an dem Unter
nehmen noch an der darin nötigen Handarbeit beteiligten zufließt. Nicht den
Fabrikanten nennen wir Rentner, sondern den Mann, dem er Hypothekenzins zahlt.
Nicht der Gutspächter ist Rentner, obwohl er einen Teil des Reinertrags als
Arbeitlohn und Unternehmergewinn für sich behält, sondern der Besitzer, dem er
Pacht zahlt. Für diese Art Einkommen muß es doch eine Bezeichnung geben.
Es bleibt also dabei: Rente ist arbeitloses Einkommen. Sie ist eine historisch¬
juristische Kategorie, während Reinertrag und Mehrwert natürliche wirtschaftliche
Kategorien sind. In der Definition: arbeitloses Einkommen liegt an sich noch
kein Vorwurf gegen den Rentner. Das jetzt ohne Arbeit bezogne Einkommen
kann die Frucht früherer Arbeit sein, wie wenn sich ein Handwerker oder Fabrikant
mit seinen Ersparnissen zur Ruhe setzt, oder auch ein Landwirt, der sein Gut durch
intelligenten Fleiß so weit in die Höhe gebracht hat, daß es Pachtzins abwirft.
Oder der Rentner verdient seine Rente, weil er, durch sie der Notwendigkeit des
Erwerbs überhoben, im Dienste von Vaterland, Provinz, Kreis und Gemeinde
Arbeiten verrichtet, die nicht bezahlt werden. So ein Rittergutsbesitzer, der Ehren¬
ämter der Selbstverwaltung übernimmt, eine Klosterbruderschaft, die arme Kranke
pflegt. Einer solchen ihren Kapital- oder Grundbesitz zu konfiszieren, würde
Barbarei und Unrecht sein. Dagegen ist der Staat vollauf berechtigt, einen be¬
schaulichen Orden zu säkularisieren und seine Güter für Staatszwecke zu verwenden,
denn wir Heutigen glauben nicht mehr, wie die mittelalterlichen Menschen, daß
Gebete und Zeremonien volkswirtschaftliche Leistungen seien, etwa gut Wetter be¬
sorgen und den Arzt ersetzen könnten. Aus dem letzten Beispiel ersieht man zu-
gleich, daß es für den Staat und das Recht von großer Wichtigkeit ist, an dem
hergebrachten Begriff des Rentners festzuhalten und ihn nicht durch neue Theorien
verdunkeln zu lassen. Auch in die Polemik gegen Dmnaschkes Bestrebungen können
wir nicht einstimmen. Schiele stellt den heutigen Kampf gegen gewisse Auswüchse
der städtischen Bodenspekulation auf eine Stufe mit dem Kampfe der Agrarier
gegen die Börse. Das ist grundfalsch. Die agrarischen Trugschlüsse haben wir
seinerzeit auf den ersten Blick durchschaut, beharrlich bekämpft und uns auch durch
Leute, die, wie Duimchen, in die Börsengeschäfte eingeweiht sind, nicht irre machen
lassen. Dagegen ist es sonnenklar, daß Bodenspekulanten, die städtische Gelände
ankaufen und sie trotz großer Wohnungsnot nicht bebauen lassen, um den Boden¬
preis ins ungemessene zu steigern, die Wohnungen verteuern. Solche Erfahrungen
sind es, die einen Stadtmagistrat nach dem andern bestimmen, die Ratschläge der
Bodenbesitzreformer zu befolgen. Verallgemeinerung, die durch Staatsgesetz allen
Gemeinden die gleiche Praxis aufzwänge, würde vom Übel sein, denn die be¬
klagten Schäden sind örtlicher Natur, beschränken sich auf eine verhältnismäßig
nicht gar große Anzahl von Orten (nach der Behauptung von Damaschkes Gegnern
soll die „Bodensperre" überhaupt noch nirgends vorgekommen sein), und für jeden
dieser Orte mag ein besondres Verfahren angezeigt sein. Aber warum offenkundige
örtliche Übelstände nicht durch angemessene Mittel bekämpft werden sollen, ist
nicht einzusehen. Den Erfolg dieser Mittel muß man abwarten und dann die
Lage der reformierenden großstädtischen Gemeinden mit denen der übrigen ver¬
gleichen. Die Betrachtungen über den Zins geben uns zu Bemerkungen keinen
Anlaß. Der natürliche Arbeitlohn wird nach Thüren entwickelt, und es wird
dann richtig und gut gezeigt, daß Lohnarbeiter zwar niemals an Kapital und
Rente teilnehmen können, Wohl aber die vaterländische Arbeitgelegenheit ausschlie߬
lich für sich in Anspruch nehmen dürfen. Damit kommt der Verfasser auf den
Gegenstand seiner vorhergehenden Broschüre zurück. Er findet es verwerflich, daß
man die deutschen Landarbeiter durch die höhern Löhne in die Industrie locken
läßt und die Lücken durch genügsame Slawen ausfüllt, anstatt die deutschen Ar¬
beiter durch Verbesserung der Lebensbedingungen auf dem Lande festzuhalten.
„Natürlicher Arbeitlohn heißt in Deutschland nicht der ausgeglichne Weltarbeitlohn,
Wer durch die Schweizer Alpen Fußwanderungen
macht, wird mit Bedauern und Unwillen bemerken, daß man überall da, wo Eisen¬
bahnen oder Zahnradbahnen auf die Gipfel führen, die Fußwege und Saumpfade
verfallen läßt. Seitdem die Lokomotive Vormittags und Nachmittags wiederholt
ganze Wagenladungen von Menschenmassen hinaufschleppt, die oben von den Hotel¬
dienern in Empfang genommen, von den befrackten Kellnern placiert und von den
Hotelbesitzern oder den Verwaltern gehörig ausgebeutelt werden, scheint man kein
rechtes Interesse mehr für den wandernden Touristen zu haben; man sieht den
Mann mit dem Rucksack ungern kommen, sucht ihn möglichst aus dem Bilde der
Alpenlandschaft zu entfernen und ihm klar zu machen, daß die idyllische Zeit, wo
der Bergsteiger oben auf dem Gebirgsgipfel der Herr war, längst vorüber ist.
Dieser bedauernswerte Zustand wird einem besonders klar, wenn man von Grindel¬
wald den alten prächtigen Gebirgspfad nach der Kleinen Scheidegg hinaufwandert
und oben vor dem Hotel, nachdem man sich mühsam auf dem aufgeweichten Wege
hinaufgearbeitet hat, auf eine Tafel stößt, wo eine Hand nach dem hintern Teil
des Hotels zeigt und die Aufschrift steht: „Für bescheidne Ansprüche." Es gibt
wohl keinen Touristen, der sich hier oben, wo ihn der Anblick der großartigen
Gebirgswelt vollständig gefangen nimmt, über dieses infame aufdringliche Schild
nicht geärgert hätte — es wirkt wie ein Schlag ins Gesicht: für bescheidne An¬
sprüche! Als ob man hier an die Gletscher des Eiger und der Jungfrau zwei¬
tausend Meter und höher hinaufstiege, um sich die Eingeweide vollzustopfen mit
Forellen und Kapaunenbraten. Aber es ist leider zu wahr, auf den wie ein
Koffer von Hotel zu Hotel geschleppten modernen Vergnügungsreisenden paßt das
Schillersche Wort: „Das muß immer saufen und fressen." Da sitzt denn da oben
die Gesellschaft zwischen dem Firnschnee und den Gletschern, die Herren in gelben
Schuhen und elegantem Gesellschaftsanzug, die Damen in den zartesten und kost¬
barsten Toiletten mit allem Schmuck beladen, schleppen hier in die weltentlegne,
urwüchsige Gebirgsszenerie den ganzen Kulturschwindel, die ganze Misere der
Gesellschaftslüge und verfälschen die ganze Natur — für ein echtes Touristenherz
ein Anblick nicht zum Jodeln. Es geht uns Touristen wie den Gemsen; wir
werden leider immer mehr in die entlegensten Täter und auf die unzugänglichsten
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Zur Beachtung
Mit dem nächsten Hefte beginnt diese Zeitschrift das 4. Uierteljo.hr ihres S6. Jahr-
ganges. Sie ist durch alle Buchhandlungen und Post-mstaltrn des In- und Auslandes zu be-
ziehen. Preis für das Vierteljahr ö Mark. Mir bitte», die Bestellung schleunig zu erneuern.
Unsre Krser machen wir noch besonders darauf aufmerksam, daß die Orenzvoten
regelmäßig jeden Donnerstag erscheine». Wenn Unregelmäßigkeiten in der Kieferung,
besonders beim Huartalwechsel, vorkommen, so bitten wir dringend, uns dies sofort
mitzuteilen, damit wir für Abhilfe sorgen Können.
Kripzig, im September 1W« Mx Verlagshandlung